Nothing Special   »   [go: up one dir, main page]

Textdaten
<<< >>>
Autor: Marie Bernhard
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Ein Götzenbild
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 36–49, 51–52, S. 597–602, 613–619, 630–636, 649–654, 669–677, 689–692, 710–715, 725–732, 741–748, 757–762, 773–779, 789–795, 805–811, 821–828, 857–864, 878–885
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[597]
Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.
Ein Götzenbild.
Roman von Marie Bernhard.
1.

„Wohin denn in solcher Eile? Brennt’s irgendwo?“

„Das nicht! Aber in der Via Sardegna soll ein Haus zusammengestürzt sein, eben jetzt, vor etwa zehn Minuten, mein Laufjunge hat mir’s erzählt – ich bin auf dem Weg dorthin!“

„Nehmen Sie mich mit! Via Sardegna? Es wird doch nicht – Dummheit! Was einem im ersten Schrecken für Gedanken aufsteigen … Wenn wir nur rasch hinkämen! Fährt dort nicht eine Droschke? Vetturino! Halt! Gottlob, er hat es gehört und kommt heran! Via Sardegna! Aber schnell, so schnell Ihr könnt!“

Die beiden Herren waren eingestiegen und rasselten nun durch die Straßen von Rom.

Sie waren nur oberflächlich mit einander bekannt, der behäbige Kaufmann und der bewegliche junge Maler; sie tauschten auch während der raschen Fahrt nur kurze Bemerkungen aus – [598] ob es wirklich wahr sein werde, ob sich der Laufbursche nicht geirrt haben könne – in dem Viertel am Monte Pincio werde so viel gebaut, das Unglück könne ebensogut in einer anderen Straße geschehen sein, als in der Via Sardegna. Aber bei alledem war der junge Maler von Unruhe erfüllt, er hob sich fast jede Minute von seinem Sitz empor, um die Straße entlang zu sehen, und feuerte den Vetturino in einem ziemlich fließenden Italienisch, dem man jedoch ohne jede Mühe die deutsche Zunge anhörte, zu einem noch schnelleren Tempo an.

Jetzt endlich! Sie bogen in die Via Sardegna ein.

Schon während ihrer Fahrt liefen aufgeregte Menschen aus verschiedenen Richtungen herbei. Sie riefen einander zu und zeigten besorgte Gesichter; von allen Seiten, vom Corso d’Italia, an der Via Sicilia und Via Boncompagni, strömten neue Gruppen herbei, sie stießen einander beiseite, sie liefen sich athemlos, jeder wollte zuerst an der Stätte des Unglücks sein.

Der Vetturino sah sich mit fragender Miene nach seinen beiden Fahrgästen um und wies auf eine brausende wimmelnde dunkle Menschenmasse, welche die halbe Straße einnahm und sich von Minute zu Minute vergrößerte.

„Vorwärts! Vorwärts!“ befahl der Maler ungeduldig.

Die Pferde gingen noch ein paar hundert Schritte, dann verbot sich das Weiterfahren von selbst.

Der junge Mann sprang hastig auf das Pflaster, ohne an die Bezahlung zu denken, ohne sich nach seinem Gefährten umzusehen. Seine Augen gingen nach der Richtung, die ihm die vielen erhobenen Arme wiesen, und sein Gesicht wurde fahl vor Schreck.

„Also doch! Um Gotteswillen!“

Er versuchte, vorwärts zu dringen. Aber wie ein brandendes Meer umgaben ihn diese wild durcheinanderschreienden, aufgeregten Menschen, die sich rückwärts stauten, ungestüm vorwärts drängten und den Einzelnen wie einen wehrlosen Strohhalm hin- und herschleuderten. Gestikulierende Hände, gen Himmel geballte Fäuste hoben sich zuweilen aus diesem Getümmel hervor – ein Jammern und Fluchen, daß die Lüfte schallten – kreischende Kinder, die fast zertreten wurden, und dazwischen die Schutzleute zu Fuß und zu Pferd, bis jetzt ohne jeden Erfolg bemüht, Ordnung zu schaffen.

„Welches Haus ist’s?“ stieß der junge Maler mit Anstrengung heraus und faßte seinen nächsten Nachbar unsanft am Aermel; er hoffte noch, er könne sich dennoch geirrt haben – der Lärm, das Getümmel hatte ihn betäubt, es war gewiß ein anderes Haus …

„Casa Bortenyi!“ Der Angeredete riß sich unwillig los und stieß mit den Ellbogen, um weiterzukommen.

„O über das Unglück, das Unglück!“ jammerte eine durchdringende Weiberstimme. „Mein Mann wird noch drin gewesen sein und ist nun auch verschüttet – o Jesus Christus! Er hat es immer zu mir gesagt, der Palazzo wird zu schnell gebaut, alles soll wie durch ein Wunder fertig werden, so hat’s der reiche ungarische Graf, der sich den Palazzo aufbauen ließ, bestimmt! Ja, die Reichen, die herzlosen Kreaturen! Was fragen die nach ein paar Dutzend Menschenleben, wenn sie nur ihre verrückten Einfälle erfüllen können!“

„Schämt Euch doch, Frau!“ sagte eine rauhe Baßstimme in ihrer Nähe. „Der Graf kann nichts dafür, was versteht der von einem Bau! Er ist eben verlobt mit einer schönen Sieneserin und hat deshalb mit der Hochzeit und mit der Fertigstellung des Hauses geeilt. Aber den Ciorboso von Mailand, den Schuft von einem Architekten, der schon mehr solcher Bauten ‚über Nacht‘ ausgeführt hat – den könnt Ihr verfluchen!“

Sie waren während dieser Reden, die in dem wüsten Lärm um sie her niemand hörte und beachtete, der Unglücksstätte näher gekommen – das arme Weib, der Maler und der dicke Bürgersmann, der den Grafen vertheidigte. Und jetzt sah man eine ungeheure Wolke von Schutt und Kalk, welche die Luft erfüllte und die Sonne verdunkelte, sah in dem trüben Licht eine große feste Masse in sich zusammengesunken daliegen und daraus einzelne Balken und Trümmerstücke hervorragen, die sich wie zeigende Finger emporhoben.

Bereits war die Feuerwehr zur Stelle. Die wackeren Männer arbeiteten nach Kräften, unbekümmert um die eigene Lebensgefahr, die das unaufhörlich nachstürzende Gebälk ihnen brachte, unbekümmert auch um den immer wachsenden Tumult der Volksmenge, die sie umtoste, um die angstvollen Fragen, die man ihnen zuschrie, die Jammerrufe, die zu ihnen drangen. Sie konnten aber mit dem Werk, das ihnen oblag, allein nicht fertig werden und riefen den das Publikum abhaltenden Polizeisoldaten zu, man möge ihnen so rasch als möglich Verstärkung schicken – Sachverständige – von den Pionieren.

Die Erregung im Volk wuchs bei dieser Kunde ins unendliche, man wollte selbst Hand anlegen, wollte helfen; sollte man hier unthätig zuschauen, wie die Leute da drinnen sich abmühten, während unten im Schutt die Väter, die Brüder, die Gatten ersticken mußten? Warum war man denn nicht sofort auf den Gedanken gekommen, die Pioniere zu Hilfe zu holen, weshalb mußten erst die Männer, die schon bei der Arbeit waren, um die nothwendige Unterstützung bitten?

Umsonst suchten die Polizeisoldaten den Leuten begreiflich zu machen, daß dies sofort geschehen sei, daß die verlangte Hilfe sich schon auf dem Wege zur Via Sardegna befinden und jeden Augenblick eintreffen müsse, umsonst trieben sie die vorwärtsstürzenden Massen mit der flachen Klinge zurück, während die berittenen Schutzleute mitten hinein in die Volkshaufen ritten – es half alles nichts! Das südliche heiße Blut litt es nicht, daß die römische Bevölkerung thatenlos ausharrte und Vernunft annahm, die Leute wollten weder hören noch fühlen! Die schützende Postenkette wurde durchgerissen, wie eine mächtige Meereswoge wälzte sich der Menschenstrom unaufhaltsam vorwärts und ein unabsehbares neues Unglück wäre eingetreten, wenn nicht plötzlich, schon aus nächster Nähe, der taktmäßige Schritt einer großen Soldatenabtheilung und der knappe, laute Kommandoton einer durchdringenden Stimme dem wilden Durcheinander Einhalt geboten hätte.

„Die Pioniere!“

Ebenso rasch wie zuvor das Sturmlaufen fand jetzt das Zurückweichen statt. In wildem Eifer, in überstürzender Hast fluthete die Riesenwelle rückwärts, alles mit sich reißend, was sie auf ihrem Wege fand.

„Platz für die Pioniere! Laßt sie durch, die braven Leute! Zurück – zurück!“

Brausender Lärm erfüllte die Luft, man schrie und beglückwünschte einander, als sei das Werk der Rettung bereits geschehen. Die Helfer in der Noth wurden beinahe geschoben bis zur Casa Bortenyi; sie hatten ihre Werkzeuge zur Hand genommen und verschwanden unter den betäubenden Zurufen des Volks in den beständig aufwirbelnden Schuttwolken.

Der junge blonde Maler war ein paarmal in Gefahr gewesen, erdrückt und zertreten zu werden. Man hatte ihm den Hut vom Kopf geworfen, hatte ihn niedergerissen, wieder aufgerafft und wie ein willenloses Ding an eine Mauer geschleudert. Hier stand er nun, ein wenig abseits, und spähte umher, ob er niemand finden könne, der ihm Rede stehe. Da fiel sein Blick zufällig auf den dicken römischen Bürger, der vor einer Weile den ungarischen Grafen gegen die Anklagen der weinenden Frau vertheidigt hatte. Der brave Mann hatte sich gleichfalls mühsam aus dem Getümmel gerettet, man hatte auch ihm übel mitgespielt, athemlos stand er da und trocknete sein schweißtriefendes Gesicht. Der Maler kannte ihn von Ansehen und trat auf ihn zu.

„Entschuldigung, Signore! Seid Ihr nicht der Besitzer der hübschen römischen Weinschenke da drüben, gerade gegenüber der Casa Bortenyi?“

„Der bin ich, zu dienen. Und der Signore hat mir sicher einmal die Ehre angethan, ein Gläschen Chianti bei mir zu trinken!“

„Gewiß, ganz gewiß! Aber ich wollte Sie fragen: Sie kennen doch sicher einen jungen Bildhauer, der täglich in die Casa Bortenyi kommt, um zu arbeiten, ein schöner junger Mensch mit schwarzen Angen – –“

„O, Signore Troost, Werner Troost! Ob ich ihn kenne! Meiner Frau und Tochter ganzer Liebling, und bei Gott der meinige auch! Immer heiter und freundlich und schön, wie ein Maientag! Wißt, er kommt jeden Morgen zu mir, ehe er da drüben arbeiten geht, und stärkt sich mit einem Glas herben Rothweins –“

„Aber heute, heute!“ unterbrach ihn der Andere, zitternd vor Ungeduld. „Ist er heute gekommen, um zu arbeiten?“

[599] „Ach, Signore, das ist es ja! Ich hasse jedes Gewühl, solch ein Stoßen und Drängen, das ist nichts für mich! Aber meine Luisella behauptet, sie habe unsern Signore Troost vor ein paar Stunden da hineingehen sehen –“ er wies nach der Dunstwolke hinüber – „und er sei nicht wieder herausgekommen, und sie hat scharfe Angen, die Luisa! Sie hat mir keine Ruhe gelassen und meine Frau auch nicht, und so bin ich herübergelaufen und beinah in Stücke gerissen worden und konnte doch nichts Genaues erfahren; denn natürlich von denen, die in der Casa Bortenyi drinnen sind, haben sie noch keinen gefunden!“

Da erschütterte ein neuer Lärm, stärker noch als zuvor, die Luft, und die beiden drängten näher hinzu und fragten, was es gebe.

„Sie haben einen herausgebracht – einen Maurer, dort bringen sie ihn!“

Es waren schon Tragbahren, Seile, gerollte Decken zur Stelle, auch ein paar Aerzte aus dem nächsten Hospital mit Heilgehilfen, die Verbandzeug bereit hielten. Die Soldaten und Feuerwehrleute arbeiteten mit Heldenmuth weiter. Zerschunden und blutend, von herabfallenden Trümmerstücken getroffen, geblendet von dem scharfen feinen Kalkstaub, der ihnen das Sehen erschwerte und den Athem nahm, gruben und hoben sie unaufhörlich; sie ließen sich an Seilen herab und krochen durch Spalten und Risse, sie schleppten die schwersten Lasten, wanden sich unter schief übereinandergethürmten Quadern und Deckentrümmern hindurch, die jeden Augenblick von neuem einzustürzen drohten, und retteten so mit eigener Lebensgefahr die leblos daliegenden Arbeiter aus dem noch immer nachstürzenden Hagel von Mauerstücken und Steinen.

Die achte Tragbahre wurde soeben fortgetragen. Der Arbeiter, dessen Leiche darauf ruhte, war ein fleißiger. tüchtiger Mann gewesen, Vater von fünf hilflosen Kindern. Seine Frau war an der Bahre in die Kniee gesunken und erfüllte mit ihrem Wehgeschrei die Luft, während ein anderes Weib stumpfsinnig auf die formlose, unkenntliche Masse starrte, die man zu ihren Füßen niedergelegt und die sie an den Kleidern als ihren Mann erkannt hatte.

Und über all diesen Jammerscenen lächelte der mildeste Himmel, athmete der holdeste Vorfrühlingstag. Weich fächelte ein lindes Märzlüftchen, das einen deutschen Maiwind hätte beschämen können, über die vielen erhitzten, verweinten Gesichter, spielte mit den Haaren der Kinder und suchte die schweren Thränen zu trocknen, die in zahllosen Augen standen. Wie so oft, so war auch diesmal die heiter lachende Natur im schroffsten Widerspruch zu dem Elend der Menschen.

Der dicke Weinwirth hatte sich von seinem Kellner, der sich das seltene Schauspiel ebenfalls ansehen wollte, einen Schemel aus seinem Hause herbeischleppen lassen, auf diesen war er mit einiger Mühe hinaufgestiegen und konnte nun von seinem erhöhten Standpunkt so ziemlich alles übersehen, was bei der zerstörten Casa Bortenyi geschah. Sowie ein neuer Toter oder Verwundeter herbeigetragen wurde, berichtete er dem neben ihm stehenden Maler: „Es ist wieder nicht Werner Troost!“

Endlich, bei der zehnten Tragbahre, stutzte er, reckte sich hoch empor, um noch besser zu sehen, und sprang dann mit dem Ausruf: „Eccolo!“ von seinem Schemel herunter, so gewandt wie ein Jüngling.

„Schnell, schnell, Signore!“ rief er und zog den Maler an der Hand mit sich. „Raum für uns! Nur ein wenig Raum für uns!“ fuhr er zu der Menge gewendet fort und suchte sich einen Weg zu bahnen. „Wir haben einen Freund dort entdeckt – man bringt ihn soeben!“

„Macht Platz!“ – „Sie haben einen Freund gefunden!“ – „Laßt sie durch!“ hieß es von allen Seiten, und der Menschenschwarm theilte sich wie durch ein Wunder.

Blaß und leblos hingestreckt, die eine Hand wie im Krampf geballt, die andere lässig geöffnet, lag der kaum fünfundzwanzigjährige Mann auf der Tragbahre. Sein flottes samtenes Künstlerröckchen war zerrissen und befleckt, der rechte Aermel aufgeschlitzt und blutgetränkt – das feingeschnittene Antlitz aber mit dem schwarzen Bärtchen und dem gelockten Haar ganz unversehrt und mit den friedlich geschlossenen Augen einem Schlummernden täuschend ähnlich.

Die Leute drängten von allen Seiten herzu. „O, der schöne junge Mann.“ – „Wie schade!“ – „O, Jammer!“ – „O, der arme Junge!“ – „Ist er tot?“ – „Lebt er?“

Sie klagten alle durcheinander, Weiber, Männer und Kinder, und einer erzählte es dem andern: das sei der deutsche Bildhauer, dem der Graf Bortenyi Auftrag gegeben habe, seinen Musiksaal und seine Bibliothek mit Bildwerken zu schmücken, wunderschön habe er alles gemacht und gewiß wäre der unbekannte junge Mensch bald ein berühmter Meister geworden – und nun?

Der blonde Maler kniete indessen neben der leblosen Gestalt nieder und sah ihr angstvoll ins Gesicht. Die Züge schienen sich zu bewegen. Ein ganz leises, zitterndes Seufzen, ein Zucken der Wimpern, dann ein kurzer Aufblick von zwei großen dunkeln Augen, verständnißlos, nebelumsponnen …

Auch das hundertstimmige Aufschreien: „Er lebt! Er lebt!“ mußte dem jungen Bildhauer nicht zum Bewußtsein kommen, seine Augen fielen von neuem zu, und aus der Wunde am Arm tröpfelte es roth und langsam auf den Boden und bildete dort eine kleine dunkle Lache.

„Ich vermag noch nichts zu sagen!“ erwiderte der Arzt, ein älterer Mann, auf die zahllosen aufgeregten Fragen. „Aeußerlich scheint er mir unverletzt, denn die Wunde am Arm ist nicht bedenkich – aber ich kann hier nicht feststellen, ob nicht innerliche Verletzungen stattgefunden haben, und welcher Art sie sind. Weiß jemand zufällig die Wohnung des jungen Mannes, oder soll ich ihn ins Hospital schicken?“

„Nein! Nicht ins Hospital!“ Der blonde Maler hob sich von den Knieen empor. „Via del Babuino! Dort wohnt er und hat eine sehr brave Wirthin, die gut für ihn sorgen wird, und wir alle, seine Freunde, werden helfen – er soll die beste Pflege haben!“

„Gut also!“ Der Arzt wandte sich einem andern Hilflosen zu.

„Ich leite den Transport!“ sagte der Maler und winkte ein paar Leute heran, die müßig herumstanden. „Dann muß ich aber zu Andree,“ fuhr er halblaut mit sich selbst sprechend fort. „Herrgott, was wird Andree sagen? Wie werde ich’s dem nur beibringen? – Hier faßt an – so! Langsam, vorsichtig! Ich komme mit Euch!“

Die Leute mit der Tragbahre schreiten langsam davon, zu Anfang noch von zehn, zwölf Neugierigen begleitet, die sehen möchten, wie es dem schönen jungen Menschen weiter ergeht, ob er noch einmal erwacht, ob das Bewußtsein ihm zurückkehrt. Da sie während einer ganzen Weile nichts anderes an ihm bemerken können, als daß er die Augen nach wie vor geschlossen hält und unbeweglich in derselben Lage bleibt, erlahmt ihre rasch aufgeflammte Theilnahme ebenso rasch, sie bleiben zurück und lassen den blonden Maler allein neben der Bahre.

Dessen offenes, ein wenig unbedeutendes Gesicht trägt einen sehr ernsten. nachdenklichen Ausdruck. Seitdem er in Rom ist – und das ist schon länger als zwei Jahre – kennt er niemand von der ganzen deutschen Künstlerkolonie, der ihm soviel Hochachtung als Mensch und soviel Bewunderung als Künstler abzugewinnen weiß als der Maler Andree. Alle, die ihn kennen, achten und loben ihn. Andree aber hat nur einen einzigen wahren Freund unter all den guten Bekannten, das ist Werner Troost, der hier durch die Straßen getragen wird, jedenfalls schwer, vielleicht tödlich verletzt! –

Die Freundschaft der beiden war sprichwörtlich geworden. Den jungen schwärmerischen Bildhauer verwöhnten sie alle, keiner jedoch trieb diesen stillen Kultus mehr mit ihm als Andree. Dieser äußerte sich zwar nie darüber, aber man hätte blind und taub sein müssen, um es nicht zu merken, wie er, der soviel ältere berühmte Maler, nicht ohne Werner Troost leben konnte, wie ihm der Bildhauer einfach unentbehrlich war. Kein Tag verging, ohne daß er Troost so oder so zu treffen wußte, sei es in der Casa Bortenyi, sei es in Werners Atelier in der Via del Babuino oder in dem Restaurant, das die deutschen Künstler sich zu ihren Zusammenkünften auserwählt hatten. Einer von ihnen, ein ausgelassener Oesterreicher, hatte den Witz gemacht, eine niedliche Tafel zu malen, auf deren einer Seite mit großen Goldbuchstaben zu lesen stand: „Ich bin bei Troost“, während die andere Seite die Worte wies: „Ich bin nicht bei Troost!“ Dies Täfelchen [600] wurde Andree eines Abends feierlich mit einer Ansprache überreicht und ihm gerathen, es jederzeit, so oder so, an seiner Atelierthür zu befestigen, damit man wisse, ob er „normal oder nicht normal“ sei. Er hatte den Scherz mit seinem herzlichen Lachen aufgenommen. Alle Neckereien und geflügelten Worte hatten übrigens nicht den geringsten Einfluß auf ihn, er lachte und fuhr fort, den jungen Bildhauer aufzusuchen, ihn in seinen Arbeiten nach Kräften zu fördern und vor schlechtem Umgang zu bewahren, dem eine so feurige Natur wie die Werners leicht hätte zum Opfer fallen können, zumal sich ihm bei seiner Schönheit und Liebenswürdigkeit Thür und Thor überall aufthaten.

Mit Recht sah es daher Paul Hartwich – allgemein der „kleine Hartwich“ genannt, obgleich er Mittelgröße hatte – als eine schwere Aufgabe an, Andree auf das Unglück vorzubereiten, das sich heute in der Via Sardegna zugetragen hatte. Um diese Zeit pflegte Werners Freund in seinem Atelier zu arbeiten; Hartwich wollte nur den Kranken nach Hause schaffen, ihn seiner Wirthin auf die Seele binden und dann zu Andree eilen.

Bis zur Via del Babuino ist’s kein weiter Weg, und die Träger kamen mit ihrer Last ungehindert zum Ziel. Hier und da stand jemand still und fragte, ob das auch ein Opfer des Unglücks in der Via Sardegna sei; andere wußten noch von nichts und wünschten Auskunft zu haben, aber im ganzen ging alles ohne Zeitverlust von statten.

Signora Marchini, Werner Troosts Wirthin, mit dem Körperumfang und dem Doppelkinn einer echten alternden Römerin, verließ ihren Risotto, den sie gerade zubereiten wollte, und eilte mit Geschrei auf die Straße, als ihre kleine Dienerin ihr mit aufgeregter Wichtigkeit die Kunde überbrachte, der Signore Tedesco werde soeben tot dahergetragen. Als die Matrone aber von dem kleinen Hartwich vernahm, wie es stand und was man von ihr erwartete, da hörte sie auf zu schreien und traf mit Umsicht ihre Maßregeln. Sie ließ das Bett ihres Miethers in sein Atelier bringen, einen großen luftigen Raum, sie holte alle ihre Vorräthe an altem weichen Leinen hervor, schickte das kleine Dienstmädchen zum nächsten Arzt und zu einem zuverlässigen Krankenwärter, den sie kannte, und schwor, ihren Posten nicht früher zu verlassen, als bis die beiden bei ihr eingetroffen seien. Dann verhängte sie mit allen möglichen Stoffen die breiten Fenster, daß die blendende Sonne keinen Zutritt hatte, rückte sich einen Stuhl neben das Krankenlager und flüsterte: „Mio povero! Carissimo!“ denn auch sie liebte Werner Troost, wie alle ihn liebten!

Er hatte ein paarmal geseufzt, als sie ihn betteten, und mit der linken Hand abzuwehren versucht – jetzt lag er wieder leblos da, geisterhaft bleich inmitten des weißen Linnens.

Und Hartwich bat noch einmal Signora Marchini, den Armen gut zu hüten, denn er müsse nun fort, und sie fragte: „Zu Signore Andree? Heilige Jungfrau, was wird der sagen, wenn er es hört?“ –




2.

Waldemar Andrees Atelier lag am Ende der Via Margutta – „ein beneidenswerthes Nest“ sagten die Künstler und mit vollem Recht, denn es war ein hoher, kühler, ausgedehnter Raum mit prachtvollem Oberlicht und einer einfachen gediegenen Ausstattung, die dem Geschmack des Besitzers alle Ehre machte. Andree war bekannt dafür, daß er mit unglaublicher Ausdauer und ebensoviel Glück allerlei Raritäten aufspürte und ankaufte, alte Bilder, Stickereien, Waffen, Gobelins – alles gut und echt.

Hartwich hatte seinen Gang in die Via Margutta im Sturmlauf begonnen, so stand er in kürzester Zeit vor Andrees Atelier. Er klopfte, alles still. Der Besucher ließ sich aber nicht irre machen und klopfte zum andern Mal. Andree mußte ja um diese Zeit zu Hause sein. Drinnen rührte sich nichts.

Jetzt fing Hartwich an, an der verschlossenen Thür zu rütteln, und bedachte sie sogar mit einem leichten Fußtritt.

Endlich ertönte eine tiefe Stimme von innen: „Ruhe, zum Teufel – ich komme schon!“

Die Thür wurde aufgerissen und ein auffallend hochgewachsener Mann, der einen grauen Malerkittel trug und einen nassen Pinsel in der Rechten hielt, sah unter ärgerlich zusammengezogenen Brauen auf den Eindringling herab, der ihm knapp bis an die Schulter reichte.

„Paolo Hartwich,“ sagte er strafend, „Ihr gehört doch wirklich zu der verruchten Menschengattung, der nichts auf Gottes Erdboden heilig ist, nicht einmal eine fruchtbare Malerstimmung. Warum in aller Welt sitzt Ihr um diese Stunde nicht in Eurer eigenen Klause und frevelt in Oel, anstatt hier andere Leute durch Euer Philistergesicht aus allen Himmeln zu reißen?“

Trotz des scherzenden Tons war Andree wirklich geärgert, das fühlte Hartwich heraus; um so schwerer fiel es ihm, sein Anliegen vorzubringen und eine passende Einleitung zu finden.

„Bitte, seid nicht böse …“ fing er an.

„Ich bin aber böse, zum Henker, warum soll ich lügen? Nun denn herein mit Euch, Ihr Störenfried!“

„Eine verbindliche Aufforderung!“ versuchte Hartwich zu scherzen, während er neben Andree ins Atelier trat.

Andree hatte indessen seinen Pinsel fortgelegt und kramte etwas verdrossen in einer Mappe herum. Endlich hob er ungeduldig den Kopf.

„Nun?“

Hartwich seufzte. „Lieber Freund, ich bin in einer ernsten Angelegenheit hergekommen!“

„Hm! Braucht Ihr Geld? Wieviel denn?“

„Diesmal nicht, danke, bin so noch in Eurer Schuld! Ich wollte, es wär’ bloß Geld, aber leider – ich komme eben aus der Via Sardegna!“

„Und?“

„Ja – es wird mir furchtbar schwer, so damit herauszuplatzen, doch am Ende – wie will ich es denn machen? Es hat ein Unglück gegeben, die Casa Bortenyi ist eingestürzt!“

Er wagte nicht aufzusehen, während er dies sagte; es blieb eine Zeitlang still in dem schönen freundlichen Atelier, nur draußen vor dem Fenster sang eine Amsel.

Hartwich hätte getrost aufblicken können – Andrees Züge waren unverändert, er war nicht einmal bleich geworden, nur seine dichten dunkeln Brauen waren noch näher aneinandergerückt, und das Sprechen schien ihm schwer zu werden. Erst nach einer Weile fragte er:

„Ist Werner tot?“

„Nein, der Arzt wußte nicht einmal, ob schwer verwundet; es konnte keine gründliche Untersuchung stattfinden. Er lebt, liegt aber ohne klares Bewußtsein da. Ich ließ ihn nach seiner Wohnung schaffen –“

„Warum nicht zu mir?“

„Erstens hätte ich zu Euch weiter gehabt und zweitens hättet Ihr ihm, bei aller Freundschaft, nicht die vortreffliche weibliche Pflege der braven Signora Marchini ersetzen können, die wie eine Mutter für ihn besorgt ist.“

Andree nickte ihm nur zu, was bedeuten sollte: Du hast recht gethan! Dabei riß er den Kittel herunter und suchte seine Sachen zum Ausgehen zusammen. Aus einem kleinen geschnitzten Schränkchen holte er eine handvoll Banknoten heraus und schob sie, ohne zu zählen, in seine Brieftasche, dann winkte er Hartwich, schloß anscheinend kaltblütig das Atelier ab und steckte den Schlüssel zu sich.

Draußen vor dem Hause kam ihnen eben eine Droschke in schläfrigem Trabe entgegen. Andree rief sie an und ein paar Worte von ihm belebten Kutscher und Pferde alsbald in merkwürdiger Weise, sodaß sie die Via del Babuino wie im Fluge erreichten.

Als sie an Troosts Wohnung ausgestiegen waren, merkte Hartwich, daß Andree gesonnen sei, allein hineinzugehen und ihn draußen zu lassen. Das befremdete ihn und er äußerte, er sei gespannt zu hören, was der Arzt inzwischen angeordnet habe und wie es stehe. Darauf nickte Andree nur, meinte: „Ich lasse Euch Bescheid heraus sagen – in spätestens fünf Minuten sollt Ihr ihn haben!“ und ging ins Haus, seinem Gefährten einfach die Thür verschließend. Der Andere hätte dies übel aufnehmen können, allein er ahnte, wie schwer dem Freund Werners die Unglücksnachricht auf der Seele lag, und so geduldete er sich.

Ja, Waldemar Andree hatte ein schweres Herz – drinnen in dem dämmerigen, mit Ziegelsteinen gepflasterten Flur lehnte er sich einen Augenblick gegen den Thürpfosten und drückte die Augen zu. Da nebenan, nur durch eine dünne Wand von ihm getrennt, sollte Werner Troost schwerkrank, vielleicht gar sterbend, [602] liegen. Sein Liebstes auf der Welt – er machte sich’s klar in dieser trostlosen Minute – sein Liebstes auf der Welt wollte ihm das Schicksal nehmen! Es war ja nicht möglich, es durfte nicht sein!“

Die gegenüberliegende Thür öflnete sich, und heraus schoß das kleine Bedienungsmädchen der Signora Marchini, ein flinkes braunes Ding mit unruhigen Augen.

„Mein Gott, der Signore! Ist das aber gut. Er hat nach dem Signore gefragt – ja – und ganz bei Besinnung ist er, und der Doktor hat ihn genau untersucht, und ich habe Eis holen müssen und jetzt laufe ich und bestelle noch mehr. Und der Wärter sitzt bei ihm, weil die Signora auch krank geworden ist vor Schreck, und aus der Apotheke habe ich etwas holen müssen, das hat ihm der Arzt eingegeben, damit er keine Schmerzen bekomme, denn Signore Troost hat gesagt, Schmerzen dürfe er für die nächsten Stunden nicht haben. Und in der Apotheke haben sie mir gesagt, das sei ein sehr scharfes Mittel und der Signore müsse sehr krank sein.“

Andree hört nicht weiter.

Er schiebt stumm das Kind beiseite, um vorbeizukommen, dann geht er leise an die hellgestrichene Thür. Die Hand zittert ihm. Er tritt ein.

In dem ziemlich geräumigen Atelier hat man alles, was umherstand, hart an die Wände gerückt, um möglichst viel Raum zu gewinnen. Gestalten und Köpfe von Gips und Marmor stehen aufgereiht nebeneinander. Hohe Gestelle, ein menschliches Gerippe, das einen Leuchter sammt Kerze in der Hand trägt, Nachbildungen menschlicher Arme und Beine aus Gips in verschiedenen Größen, Modellierhölzer, Zahneisen, hängende Bretter mit winzigen Köpfchen und kleinen Statuetten aus rothem Thon – dies bildet die Umgebung für den Kranken, dessen breites Bett man in die Mitte des Raumes gebracht hat, sodaß er das große, mit leichten Stoffen verhängte Fenster vor Augen hat.

Neben dem Bett sitzt auf einem Strohsessel ein hagerer, muskulöser, still vor sich hinblickender Mann, zu seinen Füßen einen großen Eimer voll Eis, über dessen Rand feuchte Tücher hängen.

In den weißen Decken und Kissen liegt Werner Troost, ein Bild von Kraft und Jugendschönheit; alles leuchtet und lebt an ihm, vor allem die feuchtglänzenden dunkeln Augen, die ihm schon so viele Herzen gewonnen haben, die Augen, die nichts von Uebersättigung wissen, sondern jung und freudig erwartungsvoll in die Welt hineinsehen, als wollten sie fragen: was wird es mir bringen, das Leben?

Wie Andree ihn so sieht, blühend und rosig und schön, will er aufathmen aus tiefster Brust, allein es liegt ihm wie ein Alp auf dem Herzen, und er kann es nicht!

„Nun, gottlob, da wärst Du ja!“

Troosts Stimme klingt ein wenig matter als sonst, oder kommt es seinem Freunde nur so vor?

„Wart’, ich will meine linke Hand heraussuchen und Dir reichen, die rechte ist verwundet – nur eine ganz leichte Schramme! Sie haben mich in Binden gewickelt wie eine ägyptische Mumie und ganz in Eis gepackt, daß ich mich kaum rühren kann. Setz’ Dich da auf den Stuhl zu mir! Der gute Freund dort, der mich pflegt, geht derweilen zu Signora Marchini hinüber, sie sind alle schon verständigt. Ich hab’s dem Arzt gesagt, ich müsse Dich sprechen – – so bloß für alle Fälle, weißt Du!“

Er lachte leichthin, aber es ist sein altes Lachen nicht und es ist auch nicht sein früheres Gesicht. Etwas ist fremd darin, irgend ein Zug, der sonst nicht da war; Andree hat keine Muße, darüber nachzusinnen, was es sein kann, doch er fühlt die Veränderung ganz deutlich. Er hat die feine, biegsame Linke seines Freundes behutsam in seine beiden nervigen Hände genommen und sitzt stumm am Bett, bis der Wärter, der noch dies und jenes ordnet, zur Thür hinaus ist. Nun beugt er sich tief über den Kranken, sieht ihm liebevoll ins Gesicht und fragt mit gedämpfter Stimme:

„Um Gotteswillen, Werner, wie hat solch ein Unglück geschehen können?“

„Du meinst, daß die Casa Bortenyi zusammengestürzt ist? Ja, mein Alter, sie haben es ja alle gesagt, die etwas davon verstanden, das Ding werde viel zu rasch und leicht aufgebaut und müsse uns eines schönen Tages über dem Kopf zusammenkrachen. Wer jedoch ein Bruder Leichtsinn und ein Glückskind dazu ist, der glaubt solchen Unglückspropheten nicht – nun, und ich bin beides gewesen!“

„Wie kam es denn – ich meine, wie meldete sich’s an? Aber darfst Du auch so viel sprechen?“

„Soviel ich will – zwei, drei Stunden in einem Zug, solange das Mittel vorhält! Die Brust ist übrigens ganz frei, am Oberkörper kann mir jedenfalls nichts geschehen sein. Freilich, alles andere ist wie tot, als gehörte es nicht mir, ich habe auch nicht das geringste Gefühl darin. Das mag alles von dem Gebräu kommen, das mir Weber – unser deutscher Arzt, den Du ja auch kennst – eingegeben hat. Doch es hat nichts zu bedeuten. Ich möchte nur wissen, ob von meinen Arbeiten in der Casa Bortenyi irgend etwas gerettet ist; mein Kinderfries – er schritt so unglaublich rasch vorwärts und ist mir auch geglückt, ich weiß es –“

„Rege Dich nicht auf! Ich gehe noch heute hin, um mich zu erkundigen, und lasse Dir Bescheid sagen oder bringe ihn Dir selbst!“

„Vielen Dank! Gottlob, die Statuen für die Bibliothek habe ich hier bei mir, sie sind ein Stück gediehen, seit Du sie zuletzt gesehen hast. O, ich war so froh, als Graf Bortenyi mir durch Deine Vermittlung die Bildhauerarbeit in seinem Palazzo übertrug, endlich einmal ein Auftrag, bei dem etwas zu gewinnen war, Anerkennung und Geld, vielleicht ein Name! Und nun baut dieser Mailänder Pfuscher ein solches Papierhaus hin!“

„Wie ging es denn zu, daß – aber nein, denke jetzt nicht mehr daran!“

„Keine Sorge! Ich bin ganz ruhig, will Dir alles erzählen! Also ich stehe oben auf meiner handfesten Leiter und arbeite, bin so im Eifer, daß ich mir nicht ’mal Zeit nehme, den Sammetrock auszuziehen, mag er verderben, denk’ ich, Sammetröcke findest du mehr in der Welt, aber sobald nicht wieder diese günstige Stimmung. Und ich putze liebevoll herum an so einem pausbackigen Kindchen, das mit vollem Athem in seine Trompete stößt, während vor meinen Fenstern die gewaltige Winde auf und niedergeht, welche die eisernen Träger, Säulen und Stützen in die Höhe befördert. Mit einem Male hör’ ich dicht neben mir in der Mauer ein eigenthümlich rieselndes Geräusch wie von rinnendem Sand, wie ich aber genauer zuhorche, ist’s auch schon wieder still. Ich also wieder an meinen blasenden keinen Schlingel heran … da kommt es wieder, diesmal jedoch mit einem dumpfen, scharrenden Ton, dem ein lauter Knall folgt, etwa als wenn eine Kanone abgeschossen wird. Entsetzt dreh’ ich mich herum und werde gewahr, daß die gegenüberliegende Mauer schräg durchgespalten ist; und nun kommt mir zum Bewußtsein, was geschieht, und ich will von der Leiter herunter, so schnell als möglich! Allein das Zerstörungswerk ist noch rascher als ich, es ist mir, als rücke die ganze Mauer mir entgegen. Ich werfe mein Werkzeug fort und hebe meine Arme hoch querüber, zum Schutz für das Gesicht – alles ganz mechanisch natürlich – dann schlägt die Leiter um, und die Masse stürzt über mich hin. Den einen Gedanken, den ich noch hatte, den letzten, wie ich glaubte, denn ich dachte natürlich, es sei alles für immer zu Ende, den will ich Dir später sagen. – Die Leute, die mich fanden, haben meiner Wirthin gesagt, die schwere Arbeitsleiter und ein paar herabgestürzte Dachbalken hätten hohl über mir gelegen und mich auf diese Weise geschützt, ich wäre sonst unfehlbar von dem massenhaft nachstürzenden Trümmerwerk erschlagen worden!“

Andree hatte mit erregten Zügen zugehört, er sah das Ganze vor sich. Er versuchte zu reden, aber seine Stimme gehorchte ihm nicht; wie ärgerlich über seine Weichherzigkeit schüttelte er den Kopf und wandte sich ab.

Der Bildhauer verstand ihn und tastete mit seiner Linken nach Andrees Hand. „Mein guter Alter!“ murmelte er gerührt. Nach einer kleinen Pause raffte er sich auf.

„Du siehst, da bin ich noch, im Jenseits wissen sie entschieden noch nichts mit einem solchen Taugenichts anzufangen – die Erde hat mich wieder! Allein da man nie wissen kann, wie lange sie einen noch behält, so möcht’ ich Dir Einiges sagen, Dich um Einiges bitten. Ich weiß ja, Du gehörst zu den wenigen Menschen, auf die man sich fest verlassen kann!“

[613] Als Werner, der seine letzten Worte mit einer gewissen Feierlichkeit gesprochen hatte, wie in tiefem Nachsinnen innehielt, heftete Andree einen erstaunten Blick auf ihn. Da er jedoch den schmerzlichen Zug im Gesicht des Kranken bemerkte, unterdrückte er die Frage, die ihm auf den Lippen schwebte, und sagte beruhigend: „Ich einer der wenigen, auf die Du Dich verlassen kannst? Du hast hier viele Freunde, Troost!“

„Freunde? Ja, sie haben mich alle gern; weiß Gott, die Menschen sind gut zu mir gewesen, so lange ich denken kann, und ich bin dankbar dafür! Aber was meinst Du wohl – wie [614] viele von denen, die mir, wenn ich heute sterbe, einen Kranz von Frühlingsblumen stiften und mir in ehrlicher Trauer das Geleit zur Pyramide des Cestius geben, werden nach einem Jahr noch mehr von mir wissen als den Namen? Ein lustiger Gesell, ein flotter Kumpan, kein Spielverderber – das ersetzt sich leicht! Ja, wenn ich wenigstens in meinen Werken fortleben würde! – Ich hab’ mich noch nie überwinden können,“ fuhr er nach einer kurzen Pause fort, „Dich zu fragen, weil ich Deine Antwort scheute, indessen heute – – Glaubst Du, Andree, daß ich jemals ein bedeutender Bildhauer sein, mir einen Namen machen werde?“

Andree rückte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. „Wie kannst Du nur so fragen? Du weißt doch, wie sehr ich Deine Begabung schätze. Aber laß jetzt solche Gespräche, Du brauchst vor allem Ruhe.“

„Nein, lieber Freund, ich bitte Dich, daß Du meine Frage ernsthaft, gründlich beantwortest, ich werde keine Ruhe haben, bevor Du das gethan hast, und ich verlange von Dir, wenn Du mich wirklich liebst, daß Du mir die Wahrheit sagst, die volle, rückhaltlose Wahrheit – hörst Du?“

Andree blickte mit ernster Sorge auf den jungen Freund, dessen Augen verlangend auf ihn gerichtet waren.

„Du bist sehr gut beanlagt, lieber Troost,“ sagte er endlich, „Du hast ein blühendes Talent! Dir keimen die reizvollen Ideen leicht auf, und Dir fehlt nicht die glückliche Hand, sie zu verwirklichen. Was Deinen Werken – in meinen Augen wenigstens – noch abgeht, das ist eine gewisse Strenge, welche die Kunst, Deine Kunst zumal, nicht entbehren darf. Es ist mir zu viel zierliche Anmuth in Deinen Arbeiten, zu viel leichtes Spiel! Ich will mir das gewiß nicht hinwegwünschen, denn es gehört zu Deinem ganzen Wesen, ist ein Theil Deiner Eigenart, und das, was Du jetzt schaffst, wird immer willige Käufer finden, immer den Beifall des Publikums haben.“

„Du weißt, daß es das nicht ist, was ich will,“ unterbrach ihn Werner mit fieberischer Lebhaftigkeit. „Vor allem will ich ein echter Künstler sein. Du hast recht in jedem Wort, das Du mir sagtest, ich fühl’ es ja selbst. Bis jetzt hab’ ich mir erst in einem einzigen Werk Genüge gethan – da hat es aber die Sache gewollt! – in einem Werk, das bis heute niemand zu sehen bekommen hat. Du sollst es jetzt sehen und urtheilen! Was etwa daran noch zu vollenden ist, das sind unbedeutende Nebendinge, nicht der Rede werth, im großen und ganzen ist’s fertig.“

„Das verschleierte Bild zu Sais, an dem Du immer bei verschlossenen Thüren gearbeitet hast? Das Du stets sorgsam in Deine Geräthkammer trugst, ehe Du irgend einen Besuch zu Dir hereinließest?“

„Ja, das! Hast Du eine Ahnung davon, was es vorstellen könnte?“

Andree lächelte.

„Nun, mein Sohn, das ist nicht so schwer. Wer täglich mit Dir zusammenkam, wie ich, wer nicht ganz auf den Kopf gefallen war und Dein ganzes Wesen, Deine oft sehr durchsichtigen Anspielungen beachtete, den raschen Wechsel von weicher Träumerei und glühender Thatkraft, das glückselige Augenspiel heute und den schwärmerischen Sehnsuchtsblick morgen – der konnte keine Minute lang im Zweifel sein, daß eine große Liebe Deinem ganzen Wesen die Richtung giebt.“

„Hol’ es jetzt, hol’ es, ich bitte Dich!“ Troost ließ seinen Freund nicht ausreden, seine dunkeln Augen schwammen in feuchtem Glanz, eine fliegende Röthe tauchte sein ganzes Gesicht in plötzliche Gluth. „Du hättest es ohnehin bald erfahren, ich hätte Deinen Rath, vielleicht Deinen Beistand erbeten; jetzt möchte ich noch mehr als das! Man kann nie wissen – – Also in der Geräthkammer rechts steht es; eine Büste! So verdeckt wie sie da ist, bring’ sie herein!“

Andree gehorchte; in die halbdunkle Geräthkammer, wo allerlei altes Gerümpel übereinander gehäuft lag, fielen durch ein paar hoch angebrachte Fensterklappen lustige Sonnenlichter auf die graue Hülle, die in weichen Falten über eine Büste hinfloß und auch deren Sockel noch zur Hälfte verdeckte. Eine schräge Säule von Sonnenstäubchen flimmerte in der schweren abgesperrten Luft, und aus der Ferne war der eintönige Klang einer Kirchenglocke deutlich vernehmbar.

Behutsam hob er die Büste sammt der Hülle herunter; fast schien es, als sei der Kopf lebendig, denn die Decke bewegte sich und wollte herabfallen.

„Bring’ auch den Sockel hierher!“ kommandierte Werner Troost und machte eine Bewegung, wie wenn er sich im Bett aufrichten wollte, um sofort mit einem unmuthigen Kopfschütteln zurückzusinken. „Hier rechts von mir stelle beides hin, daß ich auch gut sehen kann – noch weiter rechts – halt – jetzt halt! Nun rasch die Decke herunter, und komm’ her zu mir.“

Andree gehorchte; mit einem raschen Griff warf er die Hülle beiseite und trat ein paar Schritte rückwärts. So schauten sie beide empor, Werner Troost mit dem glücklichen Blick des Liebenden, sein Freund sprachlos, erstaunt.

Das, was er hier sah, war ein leicht aufwärts gewendetes Mädchenköpfchen, von einer Feinheit der Form, einer Anmuth der Bewegung, einer Leichtigkeit der Wiedergabe, daß man das spröde Material ganz vergaß. War’s nicht, als rege sich leise der entzückende kleine Kopf auf dem feinen Nacken, als öffneten sich die süß geschwellten Lippen, als senkten sich die Lider über die schönen Augen? Welch edle, schlichte Linien, welch unaussprechlich zarte Frauenblüthe – mit einem Wort: welch ein Meisterwerk der Natur und der Kunst!

Andree stand da wie in den Boden gewurzelt, schaute und schaute. In ihm wurde der Maler wach und belebte den weißen Marmor, hauchte zartes Roth auf die Wangen, vergoldete das üppig gewellte Haar, ließ die Augen in tiefem Blau erstrahlen, setzte an die zart abfallenden Schultern die Arme an, baute die ganze schlanke weiße Gestalt auf, daß sie sich leuchtend emporhob, das Haupt der Sonne zugewendet – dem Licht!

Dem Licht! Er drückt die Augen zu, es keimt ein Gedanke in ihm auf, gewinnt Leben – ein glücklicher Gedanke, sein bestes Bild! Das Herz wird ihm groß in der Brust, es klopft in wilden Schlägen, sein Blut strömt rascher, zu seiner ganzen Höhe richtet er sich empor und sein Athem geht beschleunigt aus und ein – Licht!!

„Andree! Ich hab’ Dich lange schweigen lassen, jetzt rede! Du hast Dich hineingesehen – ich will Deine Kritik haben!“

„Kritik!“ Der Maler faßte die schmale Linke, die auf der Bettbecke lag, und preßte sie selbstvergessen in seiner starken Hand, daß es schmerzen mußte. „Die kannst Du mir erlassen! Man kann nicht kritisieren, wenn man bewundern muß.“

Ein strahlendes Lächeln ging über Werners Züge hin, aus denen die vorige Röthe rasch gewichen war – sein Gesicht war ganz entfärbt.

„Du machst mich glücklich – Du machst mich stolz!“ murmelte er abgebrochen. „Ich sagte Dir’s ja – mein bestes Werk, das einzige, in dem ich mir Genüge that bis jetzt!“

Werner Troosts Augen, die unnatürlich klar waren, hafteten auf Andree, aber dieser merkte nichts davon. Seine Blicke hingen wie festgezaubert an der Büste.

„Und das lebt, das athmet wirklich?“ fragte er nach einer Weile halblaut. „Das ist nicht nur Deiner Einbildung entsprungen?“

Der junge Künstler lächelte halb schmerzlich, halb spöttisch.

Du thust mir viel Ehre an, wenn Du meinst, ich sei genial genug, ein solches Gesicht aus meiner Einbildung heraus zu erfinden. Wie oft hab’ ich meinen Meißel verwünscht, daß er mir nicht gehorchen, das nicht schaffen wollte, was die Natur doch schuf, was ich mit dem Auge des Geistes zum Verzweifeln und zum Entzücken deutlich vor mir sah! Sie lebt und ich liebe sie mehr als mein Leben, und sie ist eines reichen Hamburger Senators und Börsenkönigs Tochter – und ich bin nichts als ein kleiner unbekannter Bildhauer und darf nicht eher öffentlich um sie werben, als bis ich ein berühmter Mann geworden bin und ein reicher dazu! Hörst Du, Andree? Auch ein reicher! Denn sie ist das Kronjuwel, das Kleinod der ganzen Familie, sie schwimmt in märchenhaftem Glanz und Luxus, und ihr Vater träumt von einer Fürstenkrone für sie. Die Lorbeeren allein thun es nicht bei den praktischen Hamburger Kaufherren, der Lorbeer ist ja nur grün, und für sie muß er massiv golden sein, sonst lachen sie darüber! Von ihrer Familie ahnt keine Seele (sehr seelenvoll ist sie übrigens nicht, diese Familie!) etwas von unsern Beziehungen. Denn vor einem Jahr und drei Monaten, eh’ ich hierher nach Rom kam, hab’ ich mich mit dem bestrickenden siebzehnjährigen Kinde verlobt, und seither schreiben wir einander auch – das heißt, sie antwortet mir auf meine langen, langen, tollen Episteln, in denen mein ganzes Herz liegt, mein grenzenloses Sehnen, [615] meine wahnwitzige Angst, daß sie mir fortgenommen werden könnte – da, sag’ ich, antwortet sie mir hin und wieder mit kleinen schüchternen Zettelchen, solch’ hilflosen Mädchenbriefen; das ist, als hättest Du den rasendsten Durst von der Welt, und sie bieten Dir dafür ein paar spärlich versprengte Tröpfchen Blumenthau!“

„Aber Troost, wenn sie Dich liebt –“

„Liebt? Ja doch, ja, sie glaubte es damals wenigstens – oder hatte ich sie nur mit meiner gewaltigen Leidenschaft mitgerissen? Aber nun dies Wunderbild und das brausende Hamburger Leben und sie mitten in diesem Strom von Gold und Glanz, alles auf den Knieen vor ihr in Bewunderung und Begehren, – und ich nicht da, niemals da, sie zu behüten, festzuhalten! Hier in Rom muß ich arbeiten, arbeiten, um groß und reich zu werden – und doch müßte sie bald, bald aus diesem Taumel der Vergötterung herausgerissen werden durch eine feste und starke Hand, denn in ihrer Umgebung ist niemand, der einen hohen Sinn und eine vornehme Denkweise hat – ich wenigstens habe dort keinen gefunden. Und sie ist so jung, so leicht zu verwirren, zu beeinflussen! Andree, wenn ich sterbe, mußt Du mir mein Kleinod retten!“

Der Maler zuckte leicht zusammen und wandte seine Augen von der Büste fort auf seinen Freund.

„Red’ nicht solch’ dummes Zeug zusammen, lieber Sohn! Du hast wohl Fieber bekommen und fängst zu phantasieren an? Sterben! Du, bei Deiner Jugend und Lebenskraft!“

Werner Troost lächelte.

„Ich denke ja nicht d’ran, sterben zu wollen, nur für alle Fälle – auch junge, kerngesunde Leute machen ihr Testament, und ich – zu hinterlassen hab’ ich nicht viel, meine Ateliereinrichtung bekämest Du und das einzige werthvolle Stück darin wäre diese Marmorbüste.“

„Du sprichst zuviel, Troost, das kann Dir nicht gut sein.“

Andree sah mit Besorgniß, wie seines Freundes Gesicht sich verändert hatte – eine wächserne Blässe lag darüber ausgebreitet.

„Thorheit! Wer weiß, wie lange ich noch reden kann! Sieh nicht so bös aus, ich red’ ja nicht vom Tode, nur ist es nicht unmöglich, daß ich wirklich anfange, zu fiebern, und dann erfährst Du nichts! ’s ist doch nur, weil ich denke, Du müßtest nach Hamburg, meine Stelle vertreten, wenn … dummes Zeug! Also, vor zwanzig Monaten etwa kam ich nach Hamburg zum Besuch meines Onkels, des einzigen Verwandten, den ich noch habe. Er ist ein wohlhabender Schiffsreeder, hat mir viel Gutes erwiesen und fand diesmal mehr Wohlgefallen an mir als je; er hält mich, da er von der Kunst ungefähr soviel versteht, wie ich von seinen Schiffswerften, für ein Genie ersten Ranges, für so eine Art Michelangelo, dazu bestimmt, die Welt mit unsterblichen Werken außer Athem zu setzen. Durch seine Frau, die aus einer alten Hamburger Familie stammt, hatte er Zutritt in den stolzesten Patrizierhäusern, so verkehrte ich überall, wurde viel eingeladen, und bei einer jener glänzenden Hamburger Gesellschaften, die einem Fürsten von Geblüt keine Schande gemacht hätte, traf ich Senator Brühl nebst Gattin und Tochter.“

Troost that einen tiefen Athemzug, der wie ein Seufzer klang, und heftete seine weitgeöffneten Augen auf das Marmorbildniß. Die Sonne stand schon bedeutend tiefer, schräge Goldstreifen glitten durch die Gehänge am Fenster und zitterten um Stirn und Lippen der Büste.

„Stella heißt sie – ein Name wie für sie erfunden – der ‚Stern‘! Sie verblaßten alle neben ihr wie Schatten, die vielen hübschen Mädchen, die dort waren.“

„Nun – und Du?“

„Ich sah den ganzen Abend nur sie, und andern Tags hab’ ich dort meinen Besuch gemacht. Ich fand ein prachtvoll eingerichtetes Haus, einen Vater und eine Mutter, die mit ihrer Tochter Abgötterei trieben – wer kann es ihnen verdenken?“

„Ist sie die einzige Tochter?“

„Nein, sie hat eine Schwester und einen Bruder, beides noch Kinder!“

„Und sie selbst – ihr Wesen?“

„Ach!“ Werner Troost athmete tief und schloß halb die Augen. „Es ist alles im Werden bei ihr, ich sagte Dir ja, sie muß erzogen, behütet, veredelt werden – wer thut das bei ihr zu Hause? Ob ich fest und stark genug wäre, sie oben zu halten – ich weiß es nicht! Ich liebe sie so abgöttisch, da überlegt man nichts! Wenn ich aber sterbe, mußt Du ihr alles sein. Du wirst ihr nicht nur Liebe und Anbetung, sondern auch Energie zeigen – versprich mir!“

Er sank tiefer zurück in die Kissen! Andree beugte sich beunruhigt über ihn. Das Gesicht seines Freundes war seltsam verändert; die Pupillen schienen sich erweitert zu haben und strahlten einen bläulichen Glanz aus; ein eigenthümliches Lächeln, das nichts Freundliches, sondern etwas befremdend Starres hatte, zog die Oberlippe ganz zurück und legte die schönen weißen Zähne bloß. Die freie linke Hand dehnte sich mehrmals aus und schloß sich langsam wieder zusammen.

„Rede nicht mehr, Werner,“ sagte Andree und strich ihm die Haare aus der Stirn, wie einem kranken Kind, „es greift Dich doch an. Ich verspreche Dir alles, was Du willst!“

„Dank, Dank – doch nun – mich fröstelt, ich möchte schlafen – nimm doch die Büste weg – die Sonne ist ja auch schon fort – Du mußt sie aber bedecken!“

Andree hob das Tuch vom Boden auf. Vorsichtig, als habe er ein lebendes Wesen vor sich, hüllte er das schöne Köpfchen in die Decke ein und trug es nach dem entlegensten Winkel des Ateliers; dann trat er auf den Fußspitzen wieder an das Bett.

Werner hatte die Augen geschlossen, allein die Lider deckten sie nicht ganz zu, ein dunkler Spalt schimmerte darunter hervor. Immer noch theilte das starre Lächeln, das kein Lächeln war, die Lippen, und die linke Hand suchte und tastete auf der Bettdecke.




3.

Leise that sich die Thür auf, und Signora Marchini steckte vorsichtig den Kopf herein, sie hatte verweinte Augen und winkte Andree zu sich heran.

„Die Herren Aerzte sind drüben bei mir – wenn Signor Andree auch kommen wollte – Frolo kann solange hier bleiben!“

Der hagere Wärter schob sich hinter ihr herein und setzte sich mit seiner unbeweglichen Miene sofort neben das Bett.

In dem kahlen Flur blieb Signora Marchini, nachdem sie die Thür des Ateliers leise hinter sich geschlossen hatte, plötzlich stehen, ergriff Andrees Hand und preßte ihr verweintes Gesicht dagegen.

„Ich kann’s nicht glauben, Signore, ich kann’s nicht! Meinen eigenen Sohn, wenn mir die Muttergottes statt meiner drei Töchter einen gegeben hätte, könnt’ ich nicht lieber haben! Heute früh ist er fortgegangen mit Lachen und einem Liedchen auf den Lippen – und nun – nun –“

Andree erwiderte kein Wort. Sie traten in das Zimmer der Witwe, ein freundliches Stübchen mit einem behäbigen Ledersessel, auf welchem ein zusammengekauertes Kätzchen schnurrte; bunte Heiligenbilder hingen über dem Bett und als Prunkstück stand auf einem Schränkchen ein betendes Kind aus Gips, ein Geschenk des Miethers.

Die beiden Herren, Doktor Weber, der deutsche Arzt, ein untersetzter wohlwollend aussehender Herr, und sein römischer Kollege, stattlich, brünett, mit einem glattrasierten Gesicht, erhoben sich von ihren Stühlen, als Andree eintrat. Der fremde Arzt fragte: „Ein Bruder des Kranken?“

„Ein Freund!“ erwiderte Doktor Weber.

Andree verbeugte sich stumm.

„Herr Doktor Weber hat mir seine Diagnose mitgeteilt,“ begann der stattliche Herr von neuem. „Sonach hat Ihr Freund bei dem Unglücksfall in der Casa Bortenyi schwere innere Verletzungen davongetragen, die nach menschlichem Ermessen unfehlbar den Tod nach sich ziehen. Um dem Kranken die Möglichkeit zu gewähren, einige Verfügungen zu treffen, und um den unausbleiblichen qualvollen Schmerzen vorzubeugen, hat Herr Doktor Weber sich veranlaßt gesehen, ein sehr scharfes Mittel anzuwenden, dessen Wirkung jetzt bald beendet sein dürfte. Mein Herr Kollege wünscht ausdrücklich, daß ich den Verunglückten sehe und, wenn möglich, nochmals untersuche. Ich füge mich diesem Wunsch, obgleich ich der unumstößlichen Ueberzeugung bin, daß Herr Doktor Weber, mit welchem ich bereits mehrfach im ärztlichen Berufe zusammen thätig war, mit seiner Diagnose hier, wie bisher stets, das Richtige getroffen hat!“

Dokor Weber verneigte sich in Anerkennung dieser wohlgesetzten Rede, die seinem Können so volle Achtung zollte, und wendete sich dann zu Andree.

[616] „Ihr Freund, unser armer Werner Troost, hat Ihnen Mittheilungen von Wichtigkeit gemacht?“

„Ja, – einige!“ Des Malers Stimme klang heiser und trocken, seine Augen blickten ausdruckslos gerade vor sich hin.

„Das ist mir lieb zu hören! Wenn es jetzt gefällig wäre, Herr Kollege!“

Er öffnete die Thür und bemühte sich, Signora Marchini zurückzuhalten, die ihnen folgen wollte. Als sie die gefalteten Hände zu ihm aufhob und ihm schwur, sie wolle stumm wie ein Bild sein, gab er achselzuckend nach.

Als sie in Troosts Atelier eintraten, sahen sie Frolo, den Wärter, weitab von dem Bett des Kranken, an der Hinterwand des großen Raumes stehen und mit vieler Aufmerksamkeit die dort aufgestellten Statuen betrachten, als ginge ihn sein Pflegling nichts mehr an.

Der römische Arzt trat dicht an das Lager, blickte dem darauf Liegenden scharf ins Gesicht, legte leicht die Hände übereinander und blieb so stehen, ohne auch nur die geringsten Anstalten zu der beabsichtigten Untersuchung zu treffen. Doktor Weber bog sich nahe über den Kranken, zuckte fast unmerklich zusammen und ging mit wenigen Schritten bis an das Fußende des Bettes zurück. Dort blieb auch er regungslos stehen, die Hände in einander gefügt, den Kopf gesenkt.

Waldemar Andree schaute von dem einen zum andern. Sein Begriffsvermögen war wie vernichtet, er verstand noch immer nicht. Erst als er bemerkte, wie Signora Marchini ein kleines silbernes Kruzifix aus ihrem Busen zog, es andächtig küßte und dann neben dem Bett in die Kniee sank, kam ihm die ganze Wahrheit zum Bewußtsein.

Er war mit drei Schritten neben dem Bett und starrte mit großen Augen auf die hingestreckte Gestalt.

„Werner! Werner!“ rief er zweimal mit lauter Stimme.

Aber Doktor Weber machte ihm rasch ein abwehrendes Zeichen mit der Hand, und der römische Arzt neben ihm flüsterte:

„Lassen Sie ihn! Sehen Sie nicht?“

Unter den halb zugesunkenen Augen zeigten sich breite blaue Schatten; die Schläfen schienen plötzlich eingefallen, und die Lockenhaare hatten sich fest um die Stirn geklebt. Der Athem ging keuchend, die linke Hand bewegte immer noch mühsam tastend die Finger hin und her. Dann öffneten sich Werners Augen plötzlich unnatürlich weit. Unendlich kläglich war es anzusehen, wie er mit aller Gewalt danach strebte, sich auf etwas zu besinnen, den fliehenden Geist zurückzuzwingen, umsonst –

Er richtete seinen starren, hilflosen Blick nach dem Fenster, als würde er von dorther irgend welchen Beistand erwarten. Doktor Weber gab dem Wärter einen Wink; Frolo eilte zum Fenster und nahm hastig und geräuschlos die Vorhänge herunter.

Drüben über der Straße lehnte ein kleines, grün umsponnenes Häuschen an einer halbzerfallenen Mauer, voll und goldig lag dort noch der scheidende Sonnenschein. Wie ein Lichtbild stand das kleine Haus da, und ein paar lustig jubelnde Kinderstimmen drangen durch die tiefe Stille bis herein in den schweigenden Kreis der Männer.

Die Augen des Sterbenden schauten groß und ungeblendet in den sonnigen Glanz, – ob sie ihn noch empfanden? Signora Marchini schluchzte leise und versuchte, mit gebrochener Stimme Gebete zu murmeln. Andree zitterte wie im Fieberfrost, aber keine erlösende Thräne wollte ihm kommen, er hätte sich ihrer wahrlich nicht geschämt! Tief zu seinem Freunde niedergebeugt, schien er dem Tode wehren zu wollen, dem starken Tode, dem Mächtigsten unter den Mächtigen, dem niemand seine Beute abringt!

Ob Werner Troost ihn noch einmal erkannte? Er setzte zweimal zum Sprechen an, endlich beim dritten Mal gelang es ihm.

„Mein Erbe!“ sagte er laut und vernehmlich, mit einer klaren feierlichen Stimme, dann zuckte es durch seinen ganzen Körper, und er streckte sich langsam aus.

Signora Marchini richtete sich von ihren Knieen empor und legte ihm das Kruzifix, das ihre lebenswarmen Hände bisher umschlossen hatten, in die erkaltende Linke. Seine Finger umklammerten es krampfhaft, die Zähne setzten sich knirschend aufeinander, und die glanzlosen Augen kehrten sich nach oben.

Der italienische Arzt und der Wärter bekreuzten sich. Doktor Weber trat zu dem Toten und legte seine Hand fest über die gebrochenen Augen.

Auf dem kleinen Häuschen und der halbverfallenen Mauer lag kein Sonnenstrahl mehr. –

*               *
*

„Was meinst Du wohl? Wie viele von denen, die mir, wenn ich heute sterbe, einen Kranz von Frühlingsblumen stiften und mir in ehrlicher Trauer das Geleit zur Pyramide des Cestius geben, werden nach einem Jahr noch mehr von mir wissen als den Namen? Ein lustiger Gesell, ein flotter Kumpan, kein Spielverderber – das ersetzt sich leicht!“ Waldemar Andree wiederholte sich diese Worte, während das Trauergefolge sich anschickte, Werner Troost zu Grabe zu geleiten.

Es war eine sehr stattliche Schar dazu versammelt, ehrlich ergriffen waren sie alle und Frühlingsblumen gab es in Massen, süß duftend und rosig, daß auch nicht ein Fleckchen des Sarges hindurchschimmerte. Konnte es sein? Würden sie ihn, der so jäh, so plötzlich dahingesunken war, wirklich so rasch vergessen?

Nicht nur die deutschen Künstler waren zahlreich erschienen; die einheimischen Maler und Bildhauer, eine ganze Anzahl jüngerer Beamter, sie alle hatten sich eingestellt, um dem allgemein beliebten Manne die letzte Ehre zu erweisen. Der ungarische Graf Bortenyi war aus Siena, wo er bei seiner Braut weilte, nach Rom gekommen und wohnte der Bestattung bei, sichtlich bewegt. Namentlich aber war der Zudrang aus dem Volke groß.

Andree sah das alles wie im Traume; er erinnerte sich genau an das Geschehene, er wußte jede Einzelheit, o ja, er hatte auch das Begräbniß angeordnet und den Nachlaß vorläufig übernommen, – aber er konnte den Gedanken nicht loswerden, was da vorgehe, sei doch nicht Wirklichkeit, es müsse sich noch abklären, anders entwickeln, – er sei nicht er selbst, sondern ein ganz anderer, der dabeistehe und zusehe, und auf sein eigenes Ich müsse er sich erst besinnen.

Der Friedhof der Protestanten! Die vielen fremden Namen! Die unzähligen Deutschen auch, die hier ruhen! Aber es schläft sich gut zu Füßen des Cypressenhains, der die Gräber bewacht!

Der protestantische Geistliche hält eine kurze Grabrede; er sagt, was er verantworten kann, und lobt den Heimgegangenen in warmen Worten und nennt Gottes Wege unerforschlich, da er dieses blühende Leben mitten in voller Kraft und Frische abberufen habe, und bittet die Freunde des Verstorbenen, seiner nicht zu vergessen.

Der Sarg schwebt über der offenen, dunkel aufgähnenden Gruft und gleitet langsam abwärts, wie von Geisterhänden in die Tiefe gezogen. Noch einmal nicken die lachenden, hellen Frühlingsblumen, die man auf den Sarg gehäuft hat, den Ueberlebenden einen Abschiedsgruß zu, dann sind auch sie verschwunden, und man hat der Erde gegeben, was der Erde gehört.




4.

In Hamburg gab es um die Mitte des April das berühmte oder vielmehr berüchtigte Hamburger „Weltuntergangswetter“.

Der Reisende, der soeben auf dem Berliner Bahnhof angekommen war und im Begriff stand, sich selbst sowie einen Theil seines Gepäcks in eine von Nässe triefende Droschke zu zwängen, duckte sich fröstelnd in den aufgeschlagenen Kragen seines Reisemantels hinein und schleuderte die Cigarette, die trotz aller seiner Bemühungen nicht brennen wollte, mit einer unwilligen Bewegung auf das Straßenpflaster.

„Wohin?“ fragte der Kutscher und breitete die von Nebeldampf rauchende Pferdedecke über seine Kniee.

„Hamburger Hof!“ Holpernd setzte sich das Gefährt in Bewegung, der Insasse desselben seufzte und starrte mit einem trüben Blick durch die angelaufenen Scheiben des Wagenfensters auf die verdrießlich im Regen dastehenden Häuser, auf die Menschengruppen, die sich unter ihren Schirmen ungeduldig weiterschoben, und auf die Bäume, die ihr schwarzes Geäst kläglich in die graue Luft hineinstreckten.

O Rom, herrliches, schönes Rom trotz aller Verunstaltungen und Verzerrungen, die man dir angethan! Wie er es geschaut hatte am Tage seiner Abreise, so sah er es wieder jetzt vor sich: zu seinen Füßen hingebreitet die ewige Stadt, von den flammenden Strahlen der untergehenden Sonne mit allen Farben vom dunkelglühenden [618] Gold bis zum zartesten Lichtgrün übergossen. Fern inblaßgoldenem Duft schwamm Sankt Peters Dom, und hier, dort, überall, wohin das Auge nur blickte, traf es auf die stummen gewaltigen Zeugen einer großen Vergangenheit, die in ernstem Schweigen das Gewimmel der hastigen lärmenden Gegenwart überragte. Wie lenzdurchsonnt war die Luft, wie blau und klar der Himmel! O Rom, einzig schönes, wie schwer für den, der jahrelang in dir gelebt, dich zu verlassen! –

Und doch war Waldemar Andree gern gegangen! All die Leute, mit denen er in Rom verkehrt, hatten es gewußt, daß Werner Troost sein liebster, sein einziger Freund sei. So sah man ihn, wohin er kam, unwillkürlich forschend an, um festzustellen, wie er seinen Kummer trage. Dies machte ihn zornig und ungeduldig. Selbst mit Signora Marchini, die den Verstorbenen auf ihre Weise aufrichtig geliebt hatte, verhandelte er nicht gern. Es blieb in Werners Atelier fürs erste alles so stehen und liegen, wie es war; Andree hatte die Miethe für ein volles Jahr vorausbezahlt und angeordnet, daß nichts angerührt werden solle. Die Witwe hatte ihm geschworen, die Sachen wie ein Heiligthum zu behüten, wenn auch vielleicht nicht immer in eigener Person, da sie möglicherweise zu ihrer verheiratheten Tochter nach Pisa reisen müsse. Nur eine Mappe mit Skizzen und das marmorne Köpfchen von Werner Troosts Braut hatte der Maler mit sich genommen; er wollte in Hamburg den Onkel des Verstorbenen, dessen Namen er nicht einmal kannte, ausfindig zu machen suchen und sich dann mit ihm über den Nachlaß verständigen.

Wie lange er in Hamburg bleiben wollte, wußte er noch nicht. Mit Unbehagen und Bangen dachte er an das, was ihm bevorstand: der Braut seines toten Freundes Mittheilung von ihrem Verlust zu machen. Wahrlich keine leichte Aufgabe! Er konnte einem jungen, glücklich liebenden und ahnungslosen Geschöpf, das vom Leben bisher nur verwöhnt worden war, nicht ohne weiteres in dürren Worten melden, was geschehen war; sie war sicher reizbar und nervös – er mußte sie vorbereiten – aber wie? Ueberdies war es eine heimliche Verlobung gewesen, niemand ahnte etwas davon, er mußte daher suchen, Stella Brühl allein zu sprechen, und das würde sich bei einem ersten und zweiten Begegnen sicher nicht ohne Schwierigkeiten machen lassen!

Andree hatte in Rom gehört, daß einer seiner ehemaligen Münchener Studiengenossen, ein gewisser Hilt, seit ein paar Jahren in Hamburg lebe. Er hatte zwar nie große Zuneigung zu ihm empfunden, wußte auch gar nicht, wie er sich inzwischen entwickelt habe, indessen, da er der einzige Mensch war, dessen sich Andree in der großen, ihm fremden Stadt entsann und den er zur Erreichung seines Ziels in Anspruch nehmen konnte, so hatte er beschlossen, ihn aufzusuchen.

Er sah Hilt im Geist ganz deutlich vor sich, ein schmächtiges Männchen mit dünnem Haar und pfiffigen, unruhigen Aeuglein. Hilt war sehr begabt, arbeitete ungeheuer rasch und verdiente viel Geld, das ihm ebenso schnell, wie es zu ihm kam, wieder unter den Händen zerrann. Als Andree ihn kennenlernte, beschäftigte er sich vorwiegend mit Stillleben, die er mit fabelhafter Naturtreue auf Holz und Leinwand wiedergab. Er dekorierte nach und nach beinah alle Münchener Speisezimmer, sofern sie reichen Leuten angehörten, mit seinen berühmten Frucht- und Thierstücken. Seine Gläubiger, die ihn oft hart bedrängten, pflegte er lachend zu vertrösten: „Nur ruhig! Ich male einen Teller mit Radieschen oder ein paar halbzerbrochene Hummerschalen mit einem umgestürzten Rheinweinglas daneben oder einen Tischtuchzipfel, auf dem ein paar tote Drosseln und eine Hand voll frischer Wachholderbeeren liegen – und aller Jammer hat ein Ende!“ Noch naß, von der Staffelei weg, wanderten diese Sachen zu ihren Käufern, und Hilt steckte sich das Geld, ohne es zu zählen, in die Tasche, dachte nicht daran, seine Gläubiger zu bezahlen, und führte selbst durchaus kein „Stillleben“. Alles in allem war Hilt damals ein unterhaltender, aber grundsatzloser und selbstischer Genußmensch; man nannte ihn wegen seiner großen Zungenfertigkeit „die Klapper“.

Ob „die Klapper“ noch immer den riesenhaften Rembrandthut wie in der Münchener Zeit trug, unter dem seine kleine Gestalt sich ausnahm wie ein wandelnder Pilz?

Indessen trottete die Droschke langsam durch den Regen weiter, und Andree schauerte abermals zusammen und dachte für sich: „Das also wäre Hamburg! Gerade kein vielversprechender Anfang!“

In seinem Innern wunderte er sich, daß er so ruhig war, gar nicht so aus dem Geleise gerissen durch Werner Troosts Tod, wie er es sich gedacht hatte! Andree hatte seine Eltern früh verloren, der Kummer um sie lag weit hinter ihm, so war ihm die Erfahrung fremd, daß nicht die Zeit unmittelbar nach dem Tode eines geliebten Menschen für tiefer empfindende Naturen die schlimmste ist: wir gehen einher wie unter einem schweren Druck, wir sehen uns in der Welt mit einer gewissen Verwunderung um; die Menschen beklagen, bemitleiden uns, und es ist wahr, wir haben einen großen Verlust erlitten, aber wir sind merkwürdig ruhig! Wir warten auf etwas, es ist uns, als müsse nothwendig noch irgend etwas kommen – was es ist, vermögen wir nicht zu sagen, allein wir fühlen es bestimmt, so kann es nicht bleiben! Und es bleibt auch nicht so! Nach dem dumpfen Halbschlaf, in dem unsere Seele gelegen hat, empfinden wir mit einmal eine ungeheure Oede, die Seele ist erwacht und sieht sich allein, und im Sturm und Drang des Lebens hat keiner Zeit, sich um sie zu bekümmern und sich ihren Jammer sagen zu lassen. „Der erste Schmerz ist ja vorüber!“ Und jetzt beginnt das Sehnen, das Zurückblicken auf die Vergangenheit, das leidvolle Erinnern, und der Schmerz schlägt seinen schweren Trauermantel um uns und hält uns darin gefangen! –

„Hamburger Hof!“

Ein paar barhäuptige Kellner stürzten, trotz des Regens, im vollen Lauf heraus und wurden noch höflicher, als sie den großen Herrn mit dem zerstreuten Lächeln und dem nachdenklichen Blick gewahrten.

„Befehlen Aufzug?“ „Befehlen Zimmer im zweiten, dritten Stock?“ „Erster Stock alles besetzt!“

„Gut also! Im zweiten!“

„Adolf, das Gepäck!“ „Belieben hierher!“

Andree ließ sich von dem Aufzug gemächlich in die Höhe befördern und von „Adolf“ zwei nebeneinanderliegende Zimmer zeigen. „Nummer sechzehn und siebzehn, zwei schöne Räume – Blick auf die Binnen-Alster – belieben table d'hôte? Um fünf Uhr!“

„Ja, bis dahin werde ich schlafen. Schicken Sie mir eine halbe Flasche Sherry her und lassen Sie mich ein Viertel vor fünf Uhr wecken!“

„Sehr wohl! Belieben sonst noch?“

„Nein, danke!“

Der Maler leerte in kleinen Zügen sein Glas Sherry und sah gedankenvoll zum Fenster hinaus. Der gerühmte Blick auf die Binnen-Alster mußte bei gutem Wetter wunderhübsch sein.

Andree fühlte sich abgespannt und hatte doch zugleich die Ueberzeugung, daß er nicht werde schlafen können. Er hatte in Berlin einige Tage Rast gemacht, mithin nur wenige Reisestunden hinter sich, aber die lange Strecke von Rom aufwärts mochte ihm noch in den Gliedern stecken. Er war der Eisenbahnfahrten fast gänzlich entwöhnt, seitdem er seinen Wohnsitz in Rom aufgeschlagen. Von dort aus hatte er nur kurze Sommerausflüge unternommen, die ewige Stadt bot ihm alles, was er bedurfte. Vollends seitdem er Werner Troost dort kennengelernt hatte!

Er seufzte und wandte sich vom Fenster ab. Der Salon, in dem er sich befand, war hübsch und geschmackvoll ausgestattet, ebenso das anstoßende Schlafzimmer. Langsam begann er seine Sachen auszupacken und einzuräumen, dabei fiel ihm etwas ein, er drückte heftig auf den Knopf der eletrischen Leitung.

„Befehlen?“

„Ist eine Kiste von der Bahn für mich da? Maler Andree aus Rom! Ich ließ sie hierher adressieren! Erkundigen Sie sich!“

„Sofort nachsehen!“

Nach einer kleinen Weile kamen bedächtige Schritte den Flur entlang. Zwei Leute trugen vorsichtig die kleine, aber schwere Kiste in Andrees Salon und hoben geschickt mit einem Stemmeisen den Deckel ab.

Der Maler nahm, als er wieder allein war, behutsam die Marmorbüste aus ihren vielen Hüllen heraus und stellte sie an die Stelle einer schweren Bronzelampe auf einen hohen Sockel.

Selbst hier, in der trüben Beleuchtung des grauen Hamburger Regentages, kam die unvergleichliche Schönheit des Köpfchens zur vollen Geltung. Andree, der das Kunstwerk lange Zeit hatte entbehren müssen, versenkte sich mit durstigen Blicken in das Vermächtniß seines toten Freundes, und wieder belebte er den klaren Marmor mit Farben, wieder hob und senkte sich seine Brust in stürmischem Athmen, und das Bild, das er im ersten Umriß in Troosts Atelier geschaut, das sich ihm inzwischen immer wieder [619] in die Seele gedrängt hatte, es wuchs lebendig, farbenschön und freudig vor ihm empor, deutlich bis ins Kleinste.

Unwillig sah er sich in den Hotelzimmern um und zuckte mit den Händen. Wenn er jetzt eine große aufgespannte Leinwand vor sich gehabt hätte! Daß er jetzt, gerade jetzt nicht malen konnte! Freilich – die Beleuchtung! Aber – –

Er wühlte aus einem seiner Koffer ein Reißbrett und einen Kohlenstift hervor und fuhr mit dem letzteren emsig auf dem weißen Grunde hin und her. Eine so kleine Fläche! Und es sollte ein so großes Bild werden! Seine Augen fingen an, zu leuchten, er mußte sich einen großen Karton anschaffen – bald! Und er mußte auch Hilt aufsuchen, der konnte ihm dabei behilflich sein! Natürlich würde er hier im Hotel nicht arbeiten können, er würde sich eine Wohnung miethen. Wunderlich, auf der Durchreise, hier in einer ihm ganz neuen Stadt, eine so große Arbeit zu beginnen! Gleichviel! Wenn die Stimmung da war, mußte sich alles andere finden!

Das Reißbrett wurde in eine Ecke gestellt, so ging es nicht! Seine Hand war gewöhnt, in großen kühnen Umrissen vorzugehen, der kleine Raum beengte ihn! Er warf sich auf die Ruhebank und schloß die Augen.

Als der Zimmerkellner bald nach halb fünf Uhr vorsichtig klopfte und auf ein schlaftrunkenes „Herein!“ den Salon betrat, blieb er mit offenem Munde im Rahmen der Thür stehen: dort auf dem schwarzen Postament, wo bisher die Lampe gewesen war, stand jetzt eine Büste, ein weiblicher Kopf, leicht aufwärts gewendet, wie erwartungsvoll …

„Nun? Was denn?“ – Andree war erst vor einer guten halben Stunde eingeschlafen und hatte gänzlich vergessen, wo er sich befand und was er eigentlich wollte.

„Belieben zu verzeihen! Mir war befohlen worden, um diese Zeit zu wecken.“

„Schon gut!“ Des Malers Blick fiel auf die Büste, die der Kellner immer noch wie verzaubert anstarrte, und er ärgerte sich, daß er sie nicht mit irgend einem Tuch bedeckt hatte, ehe er einschlief. „Sie können gehen!“

Adolf ging auch. Aber es war schon zu spät. Denn ehe eine Stunde verging, wußte bereits das gesammte Bedienungspersonal des „Hamburger Hofes“, der Herr auf Nr. 16 und 17, ein Maler Andree aus Rom, habe in einer Kiste eine Marmorbüste mitgebracht und frank und frei in seinem Zimmer aufgestellt – und diese Büste stelle niemand anders dar, als des Senatars Brühl entzückende Tochter, die stadtbekannte Schönheit Hamburgs.

[630]
5.

Die table d’hôte, welche mit aller Gewandtheit großstädtischer Verhältnisse von statten ging und eine Reihe vortrefflich bereiteter Speisen aufwies, gewährte Andree eine wohlthuende Zerstreuung. Er war einer guten Tafel nicht abgeneigt, war in diesem Punkt in Rom durchaus nicht verwöhnt worden, und die berühmte Hamburger Küche sagte ihm ausnehmend zu. An viele Ausländer war er von Rom her freilich gewöhnt, doch hatte er sie nur gesehen, kaum gelegentlich einmal mit ihnen gesprochen, da er im ganzen sehr eingezogen lebte und sich auf den Verkehr mit seinen Freunden und ein paar römischen Familien beschränkte. Hier nun saß er mitten in einem Gemisch von Vertretern der verschiedensten Nationalitäten, ein angeregtes Gespräch kam in Gang, und Andree unterhielt sich vortrefflich. Als er nach aufgehobener Tafel in bester Stimmung die Treppe emporstieg, beschloß er, diese gute Laune zu benutzen, und sogleich Hilt aufzusuchen. Die Marmorbüste hatte er sorgfältig in seinen Kleiderschrank eingeschlossen, und er hoffte, der Zimmerkellner werde sie sich nicht gar zu genau betrachtet haben.

Als der Maler vor die Thür seines Gasthofs trat, hatte der Regen nachgelassen, und eine weiche, feuchte Lenzluft wehte ihn an. Er hatte gar keine Lust, sich wieder in einen dumpfigen Wagen zu setzen, und beschloß, den Weg zu Hilt, dessen Wohnung er aus dem Adreßbuch erfahren hatte, zu Fuß zurückzulegen.

Dies sollte ihm nicht so ganz leicht gemacht werden, denn es war ein ziemlich verwickelter Weg, der zur Katharinenstraße führte, und Andree hatte das Vergnügen, an jeder Straßenecke still zu stehen und sich nach seiner Marschrichtung zu erkundigen. Es fing inzwischen an zu dämmern, und mit erstaunten Augen blickte der Suchende jetzt um sich. Bisher war ihm Hamburg ungefähr wie jede andere Großstadt erschienen, nun aber, da er sich dem Gebiet des Hafens näherte, mußte er sich gestehen, daß diese Stadt denn doch ihr ganz eigenartiges und höchst anziehendes Gepräge habe. Welch ein buntes Drängen und Treiben! Als hätte ein gewaltiger Würfelbecher alle Völker der Welt durcheinandergerüttelt, so wechselten in verblüffender Schnelligkeit die Trachten, die Gesichter und die Sprachen. Neger, Spanier, Franzosen, Amerikaner, Russen, Deutsche – alles bei einander! Und Matrosen … Matrosen, wohin das Auge sah! Vierschrötige Holländer, den Kautabak im Munde, lange Schweden mit breiten, blonden Gesichtern, phlegmatische Engländer und kleine dunkle Spanier – sie alle schlenderten mit ihrem wiegenden Gang, meist die Hände in den Hosentaschen und das Pfeifchen zwischen den Lippen haltend, durch das Gewühl, und beinah jeder hatte denselben sichern selbstbewußten Ausdruck, der sagen wollte: hier bin ich der Herr! Hier ist der Seemann zu Hause und die andern sind nur geduldet!

Staunend hatte Andree sich treiben lassen und fand sich plötzlich am Kehrwieder-Quai, ziemlich weit von seinem Ziel entfernt. Doch kümmerte es ihn wenig, er ließ sich von einem Hafenpolizisten genau den Weg nach der Katharinenstraße beschreiben und war nach einer geraumen Weile an Ort und Stelle.

Man hatte mittlerweile die Gasflammen, da und dort auch elektrisches Licht, entzündet; das Haus, vor welchem der Maler jetzt stand, ein hohes etwas engbrüstig aussehendes Gebäude von vier Stockwerken, war ebenfalls fast durchweg hell erleuchtet. Im dritten Stock war neben einer dichtverhängten Glasthür ein kleines Porzellanschild angebracht: „F. Hilt.“ Weiter nichts.

Andree besann sich, während er die Glocke zog, ob Hilt und er sich damals in München – fünf oder sechs Jahre mochten seitdem vergangen sein! – mit Du oder Sie angeredet hätten, allein er konnte zu keinem Ergebniß kommen und beschloß, Hilts Anrede abzuwarten und sich danach zu richten.

Er hätte noch viel mehr beschließen können, man ließ ihm reichlich Zeit dazu! Die Glocke hatte schrill und vernehmlich angeschlagen, dennoch mußte er ein zweites und drittes Mal läuten, ehe ihm endlich aufgethan wurde.

Ein junger Mensch mit hoch emporstrebendem Haarwuchs erschien endlich und führte den Besucher in ein kleines, spärlich möbliertes Vorzimmer, in dem eine helle Lampe brannte. An der dem Eintretenden gegenüberliegenden Wand hing nur ein einziges Bild: der Kopf eines Mannes, fast in Lebensgröße, der dem Beschauer mit höhnischem Blick die Zunge entgegenstreckte. Dem Maler schien es, als sehe der Kopf Hilt ähnlich; jedenfalls entsprach diese höfliche Art der Begrüßung seinem früheren Wesen, er schien sich also nicht sehr geändert zu haben.

Nach ein paar Minuten that sich die Thür des Nebenzimmers auf, und Hilt zeigte sich auf der Schwelle. Ganz der Alte! Dieselbe kleine unansehnliche Figur, der ruhelose kluge Blick, die beweglichen Lippen unter einem dürftigen Bärtchen. Das Haar war noch mehr gelichtet als vorher, und die frühen Runzeln um Augen und Wangen hatten sich vermehrt. Er trug ein fadenscheiniges Röckchen von dunklem Stoff und gelbe Lederschuhe an den Füßen.

„Wer ist denn dieser Riese Goliath?“ murmelte er leise vor sich hin und blinzelte zu Andree herüber, dann schlug er sich mit der Hand auf den Schenkel.

„Hallo! Nun hab’ ich’s! Der lange Andree, Waldemar mit dem Taufnamen, nicht wahr, Waldemar? Aber was ich [631] für ein Gedächtniß habe! Reich mir die Biederhand, aber zermalme mir die meinige nicht, sie soll nach einiges leisten! Was führt Dich denn hierher zur freien Hansa? Ja so, ich bin Dir noch hundert oder zweihundert Mark schuldig, die willst Du wohl wieder haben?“

„Warst Du mir wirklich Geld schuldig, Hilt? Das hatte ich ganz vergessen!“

Hilt sah seinen Besuch von der Seite an und schnitt eine höhnische Grimasse.

„Das mach’ weis, wem Du willst, Kunde! So was vergißt kein Mensch!“

„Glaub’ es oder glaub es nicht – das halte, wie Du willst!“ entgegnete Andree kurz. „Ich führe nicht Buch über –“

„Aber ich!“ rief der andere eifrig. „Wart’ mal, oder lieber, komm’ mit mir da herein!“ Er riß die Thür zum Nebenzimmer vollends auf und lief an einen hohen Schrank, der im Hintergrunde dieses anscheinend als Wohn- und Speisezimmer dienenden Raumes stand.

„Hier drinen muß es stehen – Jahrgang 1879 – das ist’s nicht – 1882 – da haben wir’s! München – hier – komm’ her – von Andree 200 Mark! Leider sind es 200! Was sagst Du nun?“

Er hob sich auf die Fußspitzen, um seinem Gast genau ins Gesicht sehen zu können, und setzte eine so triumphierende Miene auf, als habe er ihm die 200 Mark soeben bei Heller und Pfennig auf den Tisch gezählt!

„Nichts!“ erwiderte Andree trocken. „Es mag so sein, wenn es da steht. Weshalb ich Dich aufsuche? Ich bin ganz fremd hier in Hamburg, will ein paar Monate, ein halbes Jahr oder so herum, dableiben, und da ich niemand in der ganzen großen Stadt kenne als Dich, so kam ich, Dich um Rath zu fragen. Wie richtet man sich’s am besten hier ein? Wo wohnt man – natürlich mit Atelier! – wo speist man, wo besorgt man sich Leinwand u. s. w.? Möchtest Du mir das sagen?“

„Setz’ Dich zuerst!“ Hilt nöthigte ihn auf eine mit dunkeln Wollstoffen überhangene Ruhebank und setzte sich dicht neben ihn. „Du siehst gut aus, Waldemar Andree! Ich hatte Dich gar nicht so stolz und stattlich in meinem sonst vortrefflichen Gedächtniß! Diese Figur! Steh’ noch einmal auf! Fabelhaft! Dich hätte der große Soldatenkönig ganz unfehlbar unter die Potsdamer Riesengarde gesteckt! Neben Dir seh’ ich aus wie’n Schwefelhölzchen! Was schaust Du mich so durchbohrend an? Du bist wohl bloß zu mir gekommen, weil Du sonst keine Seele hier kennst?“

„Laß das,“ sagte Andree und rückte etwas unbehaglich auf seinem Sitz umher, „wir wollen die Dinge nicht auf das persönliche Gebiet hinüberspielen. Wenn ich Dir irgendwie ungelegen komme –“

„Mir ungelegen? Mir?“ Hilt lachte mit einer Selbstgefälligkeit, die ihm komisch genug zu Gesicht stand. „Schöne Begriffe machst Du Dir von meinem Verkehr und Leben! Leute von meinem Schlag sind überall gesattelt, die kennen kein ‚Gelegen‘ und ‚Ungelegen‘. – Also Wohnung mit Atelier! Hier herum, wie?“

„Ja!“, kam es etwas zögernd heraus.

„Nicht zu nahe bei mir, wie?“

„Nein!“ klang es jetzt kurz und bündig.

Hilt lachte wieder und schrieb eine Bemerkung in sein Taschenbuch. „Leinwand und alles sonstige hier ganz in der Nähe, ich schreib’ Dir die Adresse auf, sehr gute Quelle, aber theuer, theuer, wie alles in dieser edlen freien Reichsstadt! Mittagstisch – wenn die Wirthin, die ich im Auge habe, Dich annimmt, dann bist Du wohl geborgen. Eine Hamburger Aalsuppe bereitet Dir dies Weib, und gebackene Seezungen und ein Roastbeef, es ist einfach –“

„Schön! Wo wohnt sie?“

„Fürs erste noch mein Geheimniß! Laß Dir nur vorläufig meine Führerschaft gefallen, ich weiß ja noch nicht, ob sie Dich aufnimmt! Ein paar Tage bleibst Du doch noch im Gasthof. Wo bist Du denn abgestiegen? ‚Hamburger Hof‘? So feudal? Na, da besuch’ ich Dich einmal, man bekommt dort großartige Austern! Eine Liebe ist der andern werth! Ich bin ja mütterlich besorgt um Dich! Ja, wenn ich Dir nicht noch diese 200 Mark schuldig wäre! Und nicht zu sehr in meiner Nähe will er wohnen! Kostbar! Der Duckmäuser! Will nicht, daß man ihm in die Karten sieht! Na, das hält bei mir heillos schwer!“

Andree nickte nur so vor sich hin; Hilts Auffassung war ihm ganz lieb, und er ließ ihn dabei, denn er konnte doch nicht sagen, wie wenig angenehm ihm dessen Persönlichkeit sei und wie er aus diesem Grunde einen näheren Verkehr nicht wünsche.

Hilt unterbrach das Schweigen. „Du kommst geradeswegs von Rom?“

„Geradeswegs!“

„Wie lange hast Du da gelebt?“

„Vier Jahre, vorher reiste ich!“

„Ja, ja, ich weiß! Bin ganz auf dem Laufenden! Habe ein paar von Deinen Bildern gesehen! Du hast sehr viel Begabung, ’s ist schade um Dich! Ihr alle da unten in der ewigen Stadt richtet Euch selbst zu Grunde mit Eurem himmelblauen Idealismus und abgedroschenen Schönheitskultus!“

„Ah so!“ machte Andree gelassen. „Du bist einer von den ‚Neuen‘?“

„Und ob ich es bin! Und bin stolz darauf! Stolz, sag’ ich Dir!“

„Ich will Dir’s gern glauben, Hilt! Aber wechseln wir lieber das Thema, oder laß mich nach meinem ‚Hamburger Hof‘ zurückgehen. Eher kommen Feuer und Wasser zusammen als die überzeugten Anhänger zweier Schulen. Wir hatten bei uns in Rom auch so ein paar übereifrige Neuerer, es war nicht mit ihnen zu reden –“

„In Rom! Guter Gott! Die paar armen versprengten Schäflein inmitten einer Rotte von Rafaelanbetern. Hierher müßt Ihr kommen, hierher!“ Und Hilt schlug mit der geballten Faust auf den Tisch, daß es dröhnte. „Hierher nach Norddeutschland, wenn Ihr wissen wollt, was die neue Richtung will und kann! München, das ist zu international, die Amerikaner kaufen da zu viel und machen ihren Yankee-Geschmack geltend, aber wir in Hamburg, und namentlich in Berlin – o Berlin! Nie im Leben wär’ ich von dort fort, wenn ich nicht hier einige sehr vortheilhafte Aufträge bekommen hätte; allein mich hält’s in Hamburg nicht auf die Dauer und ich bin drüben, so oft ich nur kann. Berlin ist die wahre Welt, der Sitz aller Intelligenz – aller, auf was sie sich immer beziehen mag! Jede andere Stadt, wenn sie etwas leistet, ist doch nichts als eine Filiale von Berlin! Das ist der Sitz, das Centrum, der Ausgangspunkt! Wer das nicht kennt, kann überhaupt den Mund nicht aufthun!“

„Erlaube, daß ich den meinigen dennoch aufthue! Erstens habe ich viel gesehen, was von dorther gekommen ist –“

„Nichts hast Du gesehen! Rom hat keine Ahnung, keinen blauen Dunst von Berlin!“

„Ich bin mehrere Tage in Berlin gewesen –“

„Die Ausstellung besucht? Eingehend?“

„Natürlich! Meinst Du, ich weiß nicht, was ich lobe oder verwerfe und weshalb?“

„Und weiter! Was hast Du dort gesehen?“

„Nun … die peinlich genau gemalte Innenansicht von Spitälern und Sezierstuben, halb entkleidete Lungenschwindsüchtige, Morphiumkranke mit stieren Blicken und Amputierte auf dem Operationstisch – das habe ich gesehen!“

„Aber wie gemalt, wie gemalt – was?“

„Ja, bei einigen war’s wirklich schade um die fleißig geübte, virtuose Technik, die an solche Motive verschwendet wurde, bei andern, bei den meisten sogar, war es ein stumpfer kalter Ton, der auf mich häßlich und unnatürlich gewirkt hat“ –

„Aha! Du bist in Deinem Rom in den ewigen Farbenrausch, in den Koloristendusel gerathen, der nichts anderes anerkennt als satte Goldtöne und glühende Tinten!“

Andree erhob sich.

„Ich bitte Dich noch einmal, Hilt: endigen wir doch dies Gespräch! Ich möchte wirklich gehen – wo hast Du denn meinen Hut gelassen? Ich will Dir durchaus den alleinseligmachenden Kultus Deiner neuen Lehre nicht rauben, aber laß’ Du mir dafür meine Ueberzeugungen!“

„Die will ich Dir aber nicht lassen, zum Teufel, nein!“ schrie Hilt, sprang ebenfalls auf und reckte seine kleine Gestalt empor, so hoch er konnte. „Das ist’s ja eben! Soll es einem nicht das Blut empören, wenn man einen begabten Menschen vor [634] sich sieht, der Gutes leisten könnte, der alles Zeug zu einem tüchtigen Maler von der Natur mitbekommen hat – und er geht hin und setzt unmögliche Bilder in die Welt und führt den Geschmack des Volkes, auf den es jetzt ja allein ankommt, in die Irre!“

„So, so!“ unterbrach Waldemar ihn trocken, „also die gebildeten Klassen zählen einfach gar nicht mehr mit!“

„Nein! Thun sie auch nicht! Oder doch wenigstens nur bis zu einem gewissen, sehr gering bemessenen Grade. Wir, mein Lieber, wollen von unten auf regenerieren, versteh mich wohl: von unten auf! Das ist das Stichwort aller neueren Dichter, Maler, Bildhauer und Schriftsteller. Wir setzen unsern Stolz und unsere Ehre drein, all’ unser Können, unsere besten Mittel für das Volk, und nur für das Volk, zu entfalten, mit dem alten Kram aufzuräumen und der neuen Zeit ein neues Evangelium zu verkünden!“

„Ich gratuliere dazu!“ Andree legte seine langen Beine übereinander und sah phlegmatisch unter halb zugesunkenen Lidern, nach dem kleinen heftig zappelnden und gestikulierenden Männchen hin – die Sache fing an, ihm Spaß zu machen. „Wenn nur die neue Zeit dies neue Evangelium ebenso gläubig aufnehmen wird, wie Ihr, seine Verkündiger, es predigt! Ich hege die feste Zuversicht, daß der gesunde Geist unseres Volkes – da doch das Volk allein es ist, an das Ihr appelliert! – alle krankhaften und häßlichen Elemente in dieser neuen Richtung solange abstoßen, verleugnen wird, bis sie von selbst verschwinden oder bis aus der widerwärtigen Raupe ein lebensfähiger Schmetterling kriecht. So ist es, gottlob, immer gewesen, so wird es auch diesmal kommen, und ich werde meine Freude daran haben! Wie sagt unser alter Lessing: ‚die Kunst soll –‘“

„Unsinn!“ Hilt schrie so laut, daß Andree, der sehr ruhig gesprochen hatte, nothwendig verstummen mußte. „Was heißt Lessing? Das heißt gar nichts mehr heutzutage. Seinerzeit war er ein bedeutender Mann, das muß man zugeben, aber seine Zeit ist gewesen, und das heutige Geschlecht steht in anderen Schuhen als er. Wer mißt jetzt noch mit dem veralteten Maßstab? Die Kunst soll überhaupt nichts! Sie ist ein Ausfluß aus dem Gehirn des Künstlers, als solcher die natürliche Wirkung der von diesem aufgenommenen Eindrücke aus der realen Welt. Die Kunst soll also weder erheben, noch erfreuen, noch bilden ober warnen oder irgend eine sittliche oder ästhetische Wirkung ausüben!“

„Und wenn sie sich nun untersteht und es dennoch thut? Ist sie dann in Euren Augen keine Kunst mehr? Du hast soeben so deutlich das Recht des Individuums betont: was der Künstler in seinem Innern schaut, gleichviel, welche Wirkung er sich davon verspricht, das ist er berechtigt zu schaffen, falls er die Mittel dazu hat! Nicht wahr, so hieß es doch? Nun gut: sind denn nur die Individuen dazu berechtigt, die der neuen Schule und Richtung angehören? Wer will mir mein Recht als denkendes und produzierendes Individuum streitig machen, wenn ich in mein Inneres schaue und darin nicht nur Scenen aus dem Operationssaal, aus der Verbrecherwelt und Lasterhöhle sehe, sondern andere Bilder, die gleichfalls ihre sehr nahen Beziehungen zur Menschheit, sagen wir zum Volk haben? Wer will mir, wer darf mir wehren, sie zu malen, und wer darf andern verbieten, sie wahr zu finden, nur weil sie nichts Abstoßendes und Scheußliches darstellen?“

Hilt lächelte sarkastisch.

„Mein Guter, Du wirst immer ein großes Publikum und bereitwillige Käufer finden, weil – leider! – die Zahl derer nie aussterben wird, die sich lieber reizende Unwahrheiten als traurige Wahrheiten sagen lassen wollen.“

„Nun – weshalb zum Beispiel mein letztes Bild ‚Tombola in Rom‘ reizende Unwahrheiten enthalten soll, das sehe ich nicht ein. Ein großes Volksgruppengemälde –“

„Hat sich natürlich glänzend verkauft!“ fiel Hilt höhnisch ein.

„Allerdings glänzend! Ach so – das ist wohl auch ein untrügliches Merkzeichen von Euch: alles, was sich gut verkauft, ist veralteter Schwindel und enthält Unwahrheiten. Was übrig bleibt, was keiner will und keiner kauft, das sind die Perlen, welche die Wahrheit enthalten. Leider muß ich bekennen, daß Berlin, ‚das Centrum, der Sitz der Intelligenz‘, meine ‚Tombola‘ angekauft hat.“ Andree erhob sich bei den letzten Worten.

„So! Na, da werd’ ich’s ja sehen! – Du willst wirklich gehen, in allem Ernst?“

„Ja, in allem Ernst!“

„Und Du willst keinen Likör haben, keinen Cognac?“

„Danke, nein! Ich – ich wollte Dich nur noch etwas fragen.“

„Frag’ immerzu, Schönheitsapostel!“

„Du hast doch hier in Hamburg auch gewiß Verkehr mit Privatleuten?“

„Ob ich habe! Mehr als mir lieb ist! Soll ich Dich irgendwo einführen?“

„Vielleicht – später einmal – das heißt –“ Andree war es unbehaglich zu Muth, er hätte gern eine Ausflucht gebraucht, fand aber keine. „also man hat mir in Rom von einer Hamburger Familie gesprochen, Senator Brühl –“

„Ah so! Das glaub’ ich!“ Hilt pfiff durch die Nase und sah unglaublich unternehmend und impertinent aus. „Das heißt, der Senator kam wohl nicht weiter in Betracht, das ist ein aufgeblasener Patron und weiter nichts! Aber sein Töchterlein!“ Er küßte seine Fingerspitzen, schloß die Augen und schnalzte mit der Zunge.

„Also da willst Du hin!“ fuhr er nach einer Weile fort, als Andree still blieb. „Die ist es allerdings werth, daß ihr Ruf und Name bis nach Rom dringt! Wer hat Dir denn aber von ihr erzählt?“

„O – gleichviel!“ Waldemar wollte vor Hilt um alles nicht Werner Troosts Namen nennen.

„Ja, siehst Du, hier hat die Natur allerdings etwas geschaffen, was wohl keiner ungeschehen machen möchte. Für einen Schönheitspriester ist das einfach ein Ideal. Für Leute unseres Schlages … hm! … ist sie zum Fürchten schön!“

„Zum Fürchten?“

„Wie willst Du denn, daß man die Empfindung erklärt, die bei ihrem Anblick geweckt wird? Ich kann nur sagen, ich habe Angst vor Stella Brühl, und wenn ich das sage – ich muß morgen dorthin, gebe dem nichtsnutzigen Schlingel von Sohn Zeichenstunde, werde horrend bezahlt – willst Du mit mir kommen?“

„Morgen? Nein, das ist mir zu rasch!“

„Also. gut, dann melde ich Dich für einen der nächsten Tage an: Freund aus Rom, hier fremd, Anhänger Rafaels, vielgesuchter und vielgekaufter Maler – daraufhin kannst Du ruhig Deinen Besuch machen. Gastfrei sind die Leute, es gehen bei ihnen allerlei Menschen ein und aus, sehr viel Kunst dabei – der Alte spielt sich gern auf den Mäcen – na, lassen wir ihn! Da ging vor Jahr und Tag auch ein Bildhauer um, schöner Kerl, hieß Troost, wollte auch nach Rom – hast Du ihn da irgendwo zu Gesicht bekommen?“

„Was war’s denn mit ihm?“ fragte Andree statt der Antwort.

„Nun, den hatten sie alle ungeheuer gern, war Liebling im ganzen Haus, aber die schöne Stella, o – ja, werde einmal einer aus der klug! Der Satan weiß, was in ihr steckt!“

Hilt lachte wieder sein schneidendes, kaltes Lachen, an dem der Humor keinen Antheil hatte.

„Adieu!“ sagte Andree kühl und ließ die kleine feuchtkalte Hand Hilts rasch fallen. „Du wirst mich besuchen?“

„Natürlich! Der ‚Hamburger Hof‘ ist mir in reizender Erinnerung, ich hab’ da mal früher schöne Stunden verlebt. Uebrigens, Brühls wohnen ganz in Deiner Nähe, Alsterdamm, haben eine Villa für den Sommer in Uhlenhorst, alles großer Zuschnitt! Denn man kann seine Perle nicht in Talmigold fassen, sagt der alte Senator, und ’s ist noch nicht sein dümmster Ausspruch! Also adieu, Andree! ’s ist doch was Fremdes in Deinem Gesicht, was kann es sein? War dieser länglich zugespitzte kleine Backenbart schon immer da? Trugst Du nicht in München nur den Schnurrbart? Richtig! Fabelhaftes Gedächtniß von mir, was?“

Andree nickte schweigend und stand fünf Minuten später auf der Straße. Das Wiedersehen mit Hilt hatte ihn weder erfreut noch angeregt, der Gedanke, oft mit ihm zusammenzutreffen, war ihm unangenehm. Wenn das hier sein vertrautester Umgang werden sollte! –

Er blieb mitten auf der dunkeln Straße stehen und sah zum Himmel hinauf. Durch eilig ziehende Wolken schimmerte dann und wann mit mattem Goldlicht ein einzelner Stern, der weiche feuchte Frühlingswind war schwül und strich wie mit heimlichem [635] Seufzen um die Häuser. Wehte derselbe seufzende Wind auch über das Grab am Fuß der Pyramide des Cestius und schienen auch dort die mattleuchtenden Sterne durch schnellziehendes Gewölk herab?

Und mit voller Schmerzensgewalt kam die Erinnerung an den toten Freund über den Einsamen.




6.

Nach ein paar Tagen hatte der Frühling auch in der alten Hansastadt seinen Einzug gehalten.

Ist er auch ein launenhafter Gesell, auf den man sich nicht verlassen kann, weil er heute lacht und morgen plötzlich wieder weint, so bleibt er doch immer der beste Freund und Tröster der Menschen; er schmeichelt erwachendes Hoffen in müde Seelen und singt allen zu Grabe getragenen Träumen sein verlockendes Auferstehungslied.

Heute war er in seiner rosigsten Stimmung, er lachte über das ganze Gesicht, hatte weit, weit den tiefblauen Himmel über der norddeutschen Hafenstadt ausgespannt, ließ ein lindes weiches Lüftchen wehen und tauchte die Straßen in freudigen Sonnenglanz, auch das große graue Patrizierhaus auf dem Alsterdamm, das, von zwei Eckthürmen flankiert, einen hohen Glaspavillon und einige Balkons zeigte und eine mächtige, herrlich geschnitzte Eichenthür aufwies, ein wahres Kunstwerk, dessen Entstehung ein paar Jahrhunderte zurückreichen mußte.

Vor dieser nachgedunkelten Eichenthür stand jetzt Waldemar Andree und bewunderte sie mit kundigem Auge. Er hatte einige Tage hingehen lassen, ehe er seinen beabsichtigten Besuch beim Senatar Brühl abstattete. Inzwischen hatte er sich die Stadt ein wenig angesehen, ein paar Theater besucht, war nach Blankenese und Altona hinübergefahren, hatte die Außen-Alster („Buten-Alster“ sagt der richtige Hamburger) beschaut und den Eindruck gewonnen, daß die Gegend bei vorgerückter Vegetation einen schönen und malerischen Anblick gewähren müsse, obwohl jetzt alles noch ein wenig kahl wirke. Auch war ihm ein höfliches Schreiben einer Witwe Wiedekamp aus der Admiralitätstraße zugegangen, in welchem sich diese auf die Empfehlung des Malers Hilt hin anheischig machte, Herrn Andree eine Wohnung von drei Zimmern mit Atelier zu überlassen, falls er bei näherer Besichtigung finde, daß ihm das Logis passe. Das war nun allerdings der Fall: das Atelier war groß und hatte ausgezeichnetes Licht, die Zimmer waren elegant und wohnlich ausgestattet, und die Lage, dicht beim Binnenhafen und der Norder-Elbe, besonders verlockend. Andree fand großes Wohlgefallen an dem Leben und Treiben im Hafengebiet. Weit weniger Wohlgefallen lockte ihm Frau Wiedekamp ab, die Witwe eines ertrunkenen Obersteuermanns. Sie schien nicht ungebildet, aber durch ihre wortreiche Freundlichkeit schimmerte ein Zug von Verschlagenheit, der den Maler unangenehm berührte. Auch war der Preis, den die Witwe forderte, ein unverhältnißmäßig hoher. Indessen, Andree war gut situiert, die Wohnung sagte ihm zu, mit Frau Wiedekamp brauchte er keine Freundschaft zu schließen und so versprach er denn, am ersten Mai nach der Admiralitätstraße überzusiedeln, bis dahin, etwa noch acht Tage, gedachte er in seinem Gasthof zu bleiben. –

Ungewiß, ob er sich bei Fräulein Stella Brühl oder bei ihrer Mutter melden lassen solle – der Senator würde um diese Zeit, halb ein Uhr mittags, ohnehin nicht daheim sein – stand der Maler vor der geschnitzten Thür mit einem nicht ganz ungetheiltem Gefühl: wie würde er Gelegenheit und Worte finden, das junge Mädchen mit dem bekannt zu machen, was sie doch erfahren mußte? Um allem Zögern und fruchtlosen Nachsinnen ein Ende zu bereiten, drückte er kräftig auf den Knauf der Glocke, ein heller Ton lief alarmierend durch die Stille, und sogleich sprang die schwere Eichenthür auf; aber in dem kleinen, seitwärts angebrachten Fenster tauchte kein Gesicht auf, sodaß Andree ohne weiteres das Haus betrat.

Der Treppenflur, in großartigen Verhältnissen und mit vornehmer Nichtachtung der in unserer Zeit überall vorwaltenden Raumersparniß angelegt, empfing ein sanftes bläulichrosiges Licht durch hohe, schmale Glasfenster, was dem Ganzen etwas Feierliches verlieh. Sechs graue Marmorstufen, welche die ganze Breite beanspruchten, führten in das Innere des schönen Raumes, in dessen Hintergrunde eine große Doppeltreppe mit breitem Geländer emporstieg.

Von dieser Doppeltreppe her kam ein starker Lärm, der die stille Weihe, welche diesem Raum sonst innewohnen mußte, auffallend beeinträchtigte. Noch konnte Andree nicht gewahr werden, von wem dieser Lärm ausging; da weit und breit kein Diener zu sehen war, an den er sich mit seiner bereitgehaltenen Karte hätte wenden können, ging er entschlossen auf die Doppeltreppe zu und erstieg einige Stufen.

Nun hörte er allerdings besser und sah auch!

Anfangs hatte er geglaubt, es müsse eine ganze Gesellschaft da oben versammelt sein, die aufgeregt durcheinander schreie, jetzt überzeugte er sich, daß es nur eine Gruppe von drei Personen war, die sich hier tummelte, und daß die Akustik des ungewöhnlich großen und hohen Raumes den Schall der Stimmen so erheblich verstärkte. Auf den obersten Stufen rangen zwei halbwüchsige Jungen miteinander. Der eine kniete dem andern auf der Brust, aber der zu unterst liegende hatte den Kopf des Knieenden zu sich herabgezogen und riß ihn bald abwechselnd bei den Haaren, bald bearbeitete er ihn mit den Fäusten; dabei schrieen und schimpften beide durcheinander, und jetzt rollten sie, immer noch unlöslich verbunden, zwei oder drei Stufen hinab.

Die dritte Persönlichkeit im Bunde war ein junges, hoch emporgeschossenes Mädchen, das für seine Größe etwas zu kurze Kleider trug und einen mächtigen dunkelfarbigen Zopf über den Rücken herabhängen hatte. Mehr war nicht von ihr zu sehen, da sie sich tief zu den Ringern hinabgebeugt hatte, offenbar bemüht, sie zu trennen. Ihre Stimme, die einen tieferen Klang hatte als die der Knaben, mischte sich in deren Geschrei, und Andree konnte einzelne Worte verstehen.

„Loslassen! Auf der Stelle! Wolfgang, Du Taugenichts, Du drückst ihm den Brustkasten ein. Heinz, Du schlägst jetzt nicht mehr! Ruhe, Jungen! Loslassen! Hört Ihr nicht? Dann werdet Ihr’s fühlen – Ihr sollt es erleben, daß ich Euch auseinander bringe!“

Und sie erlebten es wirklich. Mit einer Körperkraft, die gewiß niemand in dem schmächtigen jungen Geschöpf geahnt hätte, riß sie den Knieenden mit beiden Händen in die Höhe, daß er taumelnd auf die Füße zu stehen kam, und dann raffte sie den andern, der laut keuchte, von der Erde auf und hielt ihn fest, bis er sich an das Geländer gelehnt hatte. Athemlos von ihrer Anstrengung stand sie da und musterte mit zornigen Blicken die Jungen, die einander wie zwei erboste Kampfhähne anstarrten und nicht übel Lust zu haben schienen, noch einmal anzufangen.

„Wie Ihr ausseht! Wolfgang, das ist die neue Hose, die kannst Du nicht mehr tragen! Und Heinz, Du hast ihm ein ganzes Büschel Haare ausgerissen, mach’ die Hand auf. ich hab’ es ja gesehen! Ihr dummen Bengel! Was? Noch einmal wollt Ihr anfangen? Untersteht Euch!“ Sie langte nach ihrem schweren, langen Zopf und gab damit jedem der Jungen ein paar scharfe Hiebe über den Rücken. „Jetzt marsch!“

„Das ist recht, gnädiges Fräulein!“ ließ sich eine breite Männerstimme vernehmen, und ein großer dicker Portier in voller Gala stand, wie aus der Erde gewachsen, neben der Gruppe. „Heinz, Schlingel, wie kannst Du Dich unterstehen und dem jungen Herrn die Haare vom Kopf reißen?“

„Ach, Unsinn! Der junge Herr ist nichts besseres als Ihr Heinz, Oehmke, und hat außerdem angefangen. Wenn einer auf mir knieet und mich bald abwürgt, dem werd’ ich wohl eine Hand voll Haare ausrupfen dürfen. Die Jungen taugen alle beide nichts! Heinz, mach’, daß Du wegkommst, und Wolf kommt mit mir!“

Es war keine anmuthige Scene gewesen, die Andree da mit angesehen hatte: eine regelrechte Prügelei, in die sich ein Mädchen gemischt hatte – ein Mädchen, das Kraftausdrücke gebrauchte und mit einem langen Zopf um sich schlug, und doch mißfiel ihm das Ganze durchaus nicht, wenn es ihn auch stark befremdete. Er war auf etwas Derartiges im Hause des Senators Brühl nicht gefaßt gewesen. Ob dies seine jüngeren Kinder sein konnten? Und wenn sie es waren – wie kam es, daß sie so unbeaufsichtigt hier im Treppenflur umhertoben durften?

Der Portier zog mit seinem Sprößling nach der andern Hälfte der Doppeltreppe ab, und das junge Mädchen versuchte Wolfgangs Anzug etwas in stand zu setzen. Sie rückte an seinem Schlips und Hemdkragen, glättete ihm mit einem Taschenkämmchen [636] das zerraufte Haar und sagte halblaut: „Was war denn los?“

„Ach, der Esel der! Meinen Pfiff hat er nachgemacht, und Fritz Brocksdorff ist drauf ’reingefallen – na – das konnt’ ich mir doch nicht gefallen lassen!“

Hier drehte sich das junge Mädchen mit einer ganz unerwarteten Wendung herum, da ihr der kleine Kamm aus der Hand gefallen war, und bekam Andree zu sehen, der, unschlüssig, ob er bleiben oder gehen sollte, in zögernder Haltung dastand. Ihr blasses und schmales Gesicht röthete sich leicht, als sie den fremden Herrn gewahrte, augenscheinlich aber war sie nicht sonderlich verlegen, eher innerlich belustigt. Ihre ausdrucksvollen großen grauen Augen musterten ihn rasch, und die Lippen zuckten leise von verhaltenem Lachen.

„Was wünschen Sie, mein Herr?“ fragte sie dann.

„Ist Fräulein Stella Brühl zu sprechen?“ erwiderte Andree und ärgerte sich in demselben Augenblick, daß er sich nicht lieber nach ihren Eltern erkundigt hatte.

Das junge Fräulein zog nachdenklich die Brauen zusammen.

„Ich weiß nicht – ich glaube nicht – ich will aber nachfragen. Frau Willmers!“ rief sie mit lautschallender Stimme nach oben. „Ist die Prinzessin zu Hause?“

Ein Weilchen blieb es still, dann kam ein breites Organ von oben aus irgend einer geheimnißvollen Thür.

„Nein! Die Prinzessin ist mit Dudu ausgefahren, Papa ist zur Börse und Mama beim Photographen!“

„Da haben wir’s! Alle fort! Von den Eltern wußte ich’s übrigens, sonst wär’ es hier nicht so zugegangen! Wo aber unsere Diener stecken, das wissen die Götter! Darf ich –“ mit einem Blick auf das Elfenbeinetui in Andrees Hand – „Ihre Karte abgeben?“

„Zu gütig, mein Fräulein! Sie wollen sich selbst bemühen … indessen, wenn Sie die Freundlichkeit haben wollten! In den nächsten Tagen bin ich so frei, meinen Besuch zu wiederholen!“

„Bitte!“ Sie warf einen Blick auf die Karte. „Ach – Herr Andree, von dem Herr Hilt uns schon gesagt hat! Bitte, verrathen Sie Herrn Hilt nicht, wie Sie meinen Bruder und mich heut’ hier angetroffen haben – dieser Herr erzählt meinen Eltern nämlich alles wieder!“ Auf den beweglichen Zügen stand deutlich eine offene Abneigung gegen Herrn Hilt sowohl als auch gegen seine Gewohnheit des Wiedererzählens zu lesen.

„Mein Wort darauf!“ Andree verneigte sich feierlich und faßte nun auch Wolfgang näher ins Auge – ein kräftig gebauter blonder Junge mit offenem Gesicht, nicht hübsch und nicht häßlich.

„Danke!“ nickte das Mädchen. „Und entschuldigen Sie, daß ich das alles hier auf der Treppe mit Ihnen verhandle, aber ich darf außer meinen Freundinnen noch keine Besuche empfangen – Mama erlaubt das nicht!“ Wieder übten die grauen Augen ausdrucksvolle Kritik an diesem mütterlichen Verbot.

„Jedenfalls habe ich das am meisten zu bedauern,“ entgegnete Andree zuvorkommend und reichte Wolfgang die Hand zum Abschied. „Adieu, junger Freund! Als ich in Ihrem Alter war, hätt’ ich ohne Frage auch den niedergeworfen, der sich unterstanden haben würde, meinen Pfiff nachzuahmen und einen guten Freund zum Narren zu halten.“

Der Junge wurde roth und kicherte, schlug jedoch mit Vergnügen in die dargereichte Hand ein und sah mit seinen hellen Augen wohlgefällig an Andree in die Höhe. „Solche Figur möchte ich auch einmal bekommen!“ stand in dem Blick zu lesen.

„Auf Wiedersehen, mein Fräulein – hoffentlich darf ich so sagen!“ Der Maler verneigte sich nochmals und bekam als Gegengruß jenes komische Zwitterding zwischen Knix und Kompliment, das unausgewachsene Mädchen, die noch keine langen Kleider tragen, mit unfehlbarem Ungeschick zustande bringen. Vor sich hinlächelnd und kopfschüttelnd verließ er das Haus. Das also waren Senator Brühls jüngere Kinder! Wie mochte die älteste Tochter sein, die „Prinzessin“, wie man sie dort im Hause nannte?

Nachdenklich wanderte Andree über den Alsterdamm. Im Grunde fühlte er sich wenig gemüthlich in Hamburg. Er hatte in Rom viel Verkehr mit seinesgleichen gehabt, anregenden interessanten Verkehr, der fehlte ihm hier bis jetzt gänzlich. So überkam es ihn jetzt fast wie Sehnsucht nach den Bekannten in Rom. Nachrichten von dort waren ihm nur einmal zugegangen. Der kleine Hartwich hatte ihm mit ein paar freundlichen treuen Worten mitgetheilt, daß Signora Marchini ihr Haus zugeschlossen habe und nach Pisa gereist sei, ihre dortige Adresse sei unbekannt! Und da war auch wieder jenes dumpfe leere Gefühl, das ihn an den kürzlich erlittenen Verlust mahnte. Es war kein eigentlicher Schmerz, eher eine warnende Stimme, die ihm zuflüsterte: in der Tiefe Deines Herzens ruht etwas – daran rühre nicht! Thust Du es dennoch, so kommt es Dir mit übermächtigem Weh zum Bewußtsein, wie innerlich verarmt, wie einsam Du dastehst, darum hüte Dich, das, was in Dir schlummert, zu wecken! –

In seinem ziellosen Weiterwandern war der Maler auf den Weg an der Außen-Alster geraten, der bei dem schönen Wetter außerordentlich belebt war. Wie bei einer Korsofahrt zog Wagen auf Wagen an ihm vorüber, und die meisten Gefährte und Rosse bewiesen deutlich genug, daß der vielgerühmte Reichthum der Hamburger Patrizier und Handelsleute noch immer in voller Blüthe stand.

So auch eben jetzt! Zwei arabische Schimmel kamen heran, langmähnig, seidenhaarig, mit zierlichen Köpfen und kleinen Hufen, ihre silbernen Gebißketten flimmerten im Sonnenschein. Sie waren vor einen niedrigen Wagen mit auffallend großen Rädern gespannt, auf dessen Vordersitz eine junge Dame saß, welche die Zügel straff in den Händen hielt. Sie fuhr gerade jetzt langsam, denn sie hatte einen älteren Herrn entdeckt, der bedächtig auf dem Wege für Fußgänger einherwandelte, aber anscheinend tief in Gedanken verloren war und auf seine Umgebung nicht achtete. Das Fräulein machte umsonst mit der Peitsche allerlei Zeichen, um die Aufmerksamkeit des Herrn zu erregen, endlich wandte sie sich um, sprach ein paar Worte rückwärts und zog die Leine an. Die Araber standen, und Andree blieb gleichfalls stehen und sah sich die Scene an.

Auf dem Rücksitz des Wagens, der wie ein Vogelkäfig an breiten Riemen in der Luft hing, balancierte ein Negerknabe, kohlrabenschwarz, mit wulstigen Lippen und einer kolossalen Wucht wirrer Kraushaare, auf denen ein kleiner, brennendrother Fez saß. Gewiß besaß der Junge auch herrliche Zähne, die zeigte er aber jetzt nicht – seine weit vorliegenden dunklen Augensterne, die in glänzendem Blauweiß schwammen, blickten blöde und traurig zugleich um sich, und seine Herrin mußte zweimal zu ihm sprechen und lebhafte Gebärden machen, ehe er sie verstand und von seinem luftigen Sitze herab auf die Straße sprang.

Andree bemerke, daß er nicht der einzige war, der stehen blieb oder langsamer ging, um das Gefährt zu betrachten – vielmehr nicht dieses selbst, denn bizarre Wagen und schöne Pferde und vollends Neger gab es übergenug in Hamburg zu sehen, darum brauchte man sich nicht aufzuhalten. Aber die Rosselenkerin! Nein, gottlob, die Schönheit war noch nicht ausgestorben in der Welt, die Natur fand immer noch Lust und Gelegenheit, sie zu schaffen. Wie üppig war diese frei und scheinbar ganz kunstlos herabrollende Lockenpracht vom schönsten Tizianischen Rothbraun, das man sich denken konnte! Die Sonnenstrahlen nisteten sich darin ein und trieben ein wundervolles Spiel mit goldigen, braunen und metallisch rothen Lichtern, es leuchtete förmlich um das kleine rosigweiße Gesicht mit den zarten Zügen und den lächelnden Lippen. Lange dunkle Wimpern und Brauen schienen sich mühen zu wollen, die Augen zu verstecken, aber das war umsonst – groß aufgeschlagen und strahlend blau sahen sie in die Welt hinein. Das Reizvollste an dem entzückenden Geschöpf war die völlige Unbefangenheit, mit der es sich benahm. Nicht als befinde es sich mitten auf der belebtesten Promenade einer Großstadt, angestaunt und begafft von vielen, sondern so zwanglos, als sei es allein und unbeachtet, rückte sich das schöne Mädchen auf seinem Sitz zurecht, tastete mit der Rechten nach dem dunkelblauen Sammetmützchen, das sich bei der Fahrt ein wenig verschoben haben mochte, und blickte über die Menschen weg, als wären sie leere Luft, dem Negerknaben nach, der im Begriff war, seinen Auftrag auszurichten. Ein schönes verwöhntes Mädchen nimmt es als etwas Natürliches an, daß ihm die Welt gehört mitsammt dem pflichtschuldigen Tribut von Anbetung und Erstaunen, daher hält es sich nicht weiter damit auf, geschmeichelt zu lächeln oder triumphierend umherzublicken – es weiß genau, wieviel es auch ohne das erreicht!

Andree fühlte sein Herz so heftig schlagen, daß es ihm die Kehle mit hartem Druck zusammenpreßte: er hatte Werner Troosts Braut gefunden und zugleich sein Ideal – nicht das seines Mannesherzens, wohl aber das seiner begeisterungsvollen Künstlerseele! Ob das eine das andere nach sich zog?

[649] Mittlerweile hatte der kleine Neger, der in eine phantastische blau und rothe Tracht gesteckt war, schüchtern den Arm des in sich versunkenen Herrn berührt, der unwillig zusammenfuhr, aber nach einem Blick in der von dem Knaben bezeichneten Richtung sofort seinen Gesichtsausdruck änderte. Er hob lebhaft den Hut und winkte strahlenden Auges mit der freien Hand zu der jungen Dame herüber.

„Guten Morgen, Papa! Ich komme von Uhlenhorst – war in der Villa, ’s ist schon wunderhübsch im Park! Kommst Du mit mir? Darf ich Dich nach Hause fahren?“

Wieder, auch im Ton, dieselbe glückliche Unbefangenheit! Stella Brühl traf ihren Vater und unterhielt sich mit ihm, wer sonst noch zufällig dabei war, das blieb ihr ganz gleichgültig! Desto weniger ihrem Vater. Der tadellos gekleidete, mittelgroße Herr mit den graugesprenkelten Bartkoteletten drehte den Kopf nach allen Seiten! Seht Ihr auch? Wißt Ihr auch? Das ist die schöne reizende Stella Brühl, und ich bin ihr Vater, ihr stolzer und glücklicher Vater! Er zögerte absichtlich ein Weilchen, um den Genuß des Augenblicks zu verlängern.

„Ich – wirklich, mein liebes Kind – ich wollte eigentlich noch bei einem Geschäftsfreund vorsprechen –“

„Ich fahre Dich hin, steig’ nur ein, Papa! Dudu, hierher!“

[650] Papa spiegelte seine Eigenliebe noch einmal nach rechts und links, dann folgte er dem kleinen Neger, der ihm den Wagenschlag öffnete, um dann mit unveränderter trübseliger Miene in seinen schwebenden Hühnerkorb zu steigen.

Vater Brühl setzte sich mit selbstgefälligem Lächeln im Wagen seiner schönen Tochter zurecht und ließ seinen Triumph in Hamburg spazierenfahren.

Andree mußte an Werner Troosts Aeußerung denken, daß dem Senator für dieses Kind ein Fürst gerade gut genug wäre. Ob der junge Bildhauer, wäre er am Leben geblieben, jemals dazu gekommen sein würde, dies Wunder sein eigen zu nennen? Wer weiß, welcher grausamen Enttäuschung er aus dem Wege gegangen war! Der Maler seufzte tief auf und machte Kehrt. Vor ihm her, in immer weiterer Ferne, flatterte es wie ein goldbrauner Schmetterling – flatterte – verschwand – tauchte wieder auf und hielt seinen Blick gefesselt, bis das Gewühl der Straße das Bild verschlang. –

Gegen Abend desselben Tages saß Andree im Wohnzimmer seines Gasthofs, in Lessings „Laokoon“ vertieft, den er freilich halb auswendig wußte, als er vor seiner Thür einen lebhaften Wortwechsel hörte; eine der Stimmen kam ihm bekannt vor, er sprang auf, öffnete und sah im Flur seinen „Freund“ Hilt stehen, mit seinem riesengroßen grauen Filzhut auf dem Kopf, in dem er beinahe ertrank – neben ihm den Zimmerkellner Adolf, sichtlich erfreut und geschmeichelt lächelnd.

„Tag, Andree!“ nickte Hilt. „Eben hab’ ich hier einen alten Bekannten entdeckt aus der goldenen Berliner Zeit, damals im ‚Hörselberg‘! Wonniges Lokal, kommt auch bloß in der Reichshauptstadt vor, nicht wahr, Adolf? Sie haben sich eigentlich nicht besonders verändert, noch immer die nüchterne Geschäftsmiene, hinter der kein Mensch sonst etwas ahnt! O, wenn Adolf seine Erinnerungen schreiben wollte, ich wette, er fände Verleger, auch Publikum. Na, na“ – Adolf hatte eine bittende Gebärde gemacht – „ich schweige schon in allen Sprachen. Hier sind Sie einfach bloß Kellner, nicht wahr?“

„Jawohl, Herr Hilt! Kellner – nichts weiter!“

„Schade, Ihre schönen Anlagen berechtigen Sie entschieden zu vielseitigerem Wirken im Dienst der Menschheit!“

„Willst Du nicht hereinkommen, Hilt?“ unterbrach ihn Andree, dem dies Gespräch unangenehm war. „Adolf, bringen Sie ein paar Dutzend Austern und eine Flasche Yqúem herauf!“

„Schön!“ sagte Hilt und schnalzte mit der Zunge. „Das läßt sich hören. Nun sage, Du Riese Goliath“ – er zog die Thür hinter sich zu und warf sich aufs Sofa – „was treibst Du? Mit der alten Wiedekamp bist Du im Reinen, sie hat mir’s erzählt, und ein hübsches Preischen hat sie Dir gemacht! Nun, Du hast es ja dazu! Malst Du etwas?“

„Malen? Hier im Gasthof? Wie sollte ich wohl?“

„Na, ich meine nur so! Welches ist denn Dein neuestes Sujet?“

„Ich bin noch nicht so ganz klar – oder doch! Aber ich rede noch nicht darüber – eine Art Allegorie!“

„Mensch, ums Himmelswillen! Eine Art Allegorie! Heißt das Vernunft? Und liest den Lessing! Den alten ‚Laokoon‘! Sehr brav gemeint ohne Zweifel, allein die Zeiten sind gewesen!“

„Meinst Du nicht, daß es Regeln und Begriffe giebt, die für alle Zeiten gelten?“

„Bewahre, Du großes Kind! ‚Vorwärts, vorwärts!‘ heißt der Wahlspruch. Weg mit allem alten Plunder! Komm’ nur nächstens zu mir und sieh Dir mein neuestes Bild an, ich thue nicht so geheimnißvoll damit wie gewisse Leute, da wirst Du ein Stück lebendiger Wirklichkeit sehen, nichts von einer Art Allegorie!“

„Du malst keine Stillleben mehr, Hilt?“

„Daß sich Gott erbarme! Stillleben! Was soll unsereins, der in jedem Bilde doch eine deutlich redende That hinstellen will, denn wohl durch Kohlstrünke, abgewelkte Salatstauden und rothe Rüben ausdrücken? Nein, ich mache Studien aus dem Volk und für das Volk – das ist mein Wahlspruch!“

„Und weiß das Volk Deine Werke zu würdigen?“

„Ich sagte Dir ja schon neulich, daß wir noch lange nicht durch sind, daß dreiviertel von den Leuten sich immer noch lieber hübsch gemalte Lügen vorflunkern läßt und kaum der vierte Theil die herbe Wahrheit verträgt. Aber da kommt Adolf mit seinen Schätzen! Ersäufen wir einstweilen den alten Schlendrian und den neuen Feuergeist in diesem lieblichen Tropfen und schlucken wir unsere gegensätzlichen Empfindungen mit Austern hinab!“

Während Andree die Gläser vollschenkte, machte Adolf dem kleinen Maler ein Zeichen mit den Augen, das dieser mit einem raschen Kopfnicken erwiderte. Die beiden verstanden einander noch vortrefflich vom „Hörselberge“ her.

„Prosit!“ Hilt sog den Wein durch die Zähne ein und prüfte ihn auf der Zunge. „Entschieden trinkbar! Wie hast Du es denn bei Brühls gefunden?“

„Ich traf das Ehepaar und die erwachsene Tochter nicht daheim.“

„Pech!“

„Ja – ich ließ meine Karte da! Für einen Augenblick sah ich die beiden jüngeren Kinder.“

„Ach so, die! Die wachsen neben der ‚Prinzessin‘ wie das liebe Unkraut auf! Kein Mensch bekümmert sich um sie! Die Herren Eltern sind daran verzweifelt, daß einer von diesen Sprossen auch bloß eine Spur von der Schönheit ihrer älteren Schwester aufweisen könnte, darum lassen sie die beiden Wildfänge ihren eigenen Weg gehen, wenigstens so lange er sich nicht mit den Pfaden kreuzt, die sie mit dem Krondiamanten der Familie verfolgen.“

„Ja, aber gilt denn bei diesen Leuten durchaus nichts anderes als die Schönheit?“

„Du sagst es! Und Dir müßte diese Thatsache doch ungeheuer begreiflich sein, da Du selbst knietief im Schönheitskultus steckst!“

„Da irrst Du Dich! Ich lasse die Häßlichkeit auch in der Kunst gelten, dafern sie irgendwie charakeristisch ist und einen bestimmten Zweck hat. Denke nicht, daß ich nur schöne Menschen auf meinen Bildern habe; allerdings sehe und male ich sie lieber als die garstigen, erlebe auch, daß sie mehr Wirkung erzielen, selbst im Volk, und verlege mich nicht darauf, Häßlichkeiten auszuklügeln, bloß weil sie häßlich sind und nichts weiter. Doch beiseit’ damit! Möchtest Du mir etwas Näheres über die Brühlsche Familie sagen – falls Du nämlich etwas weißt?“

Hilt zuckte nur geringschätzig die Achseln. Wissen! Ich! Aber naturlich! Und aus guter Quelle! Da ist so ’n kurioses Geschichtchen dabei, vielleicht macht Dir das Spaß! Also vor ungefähr zwanzig Jahren lebten hier in Hamburg drei Kaufleute, die sich zu einer Firma zusammengethan hatten. Offiziell lautete sie: Brühl und Compagnie. Die Compagnie bestand aus einem gewissen Grimm, einem richtigen Original – leidenschaftlicher Blumenfreund und Katzenliebhaber, dabei ein schneidiger Geschäftsmann, eine Autorität in Oel und Getreide. Der dritte war ein flotter Kunde, Gerhard Winzer mit Namen, lustig, leichtlebig – der vertrat das Geschäft nach außen hin, ging an die Börse, saß in den Lokalen herum und sah zu, wo es etwas zu verdienen gab. Ich glaube, der Gute hat dabei mehr auf sein eigenes Vergnügen geachtet, was ich ihm weiter nicht übelnehmen will; kurz, die Karre ging eine Zeitlang bedenklich schief. Brühl, der sich als ganz junger Mensch mit einer blutarmen Schönheit verlobte, hatte sich inzwischen mit dieser, trotzdem sie rasch verblüht war, verheirathet, Grimm hatte eine solche Dummheit nicht begangen; er hatte nur für seine Blumen- und Katzengesellschaft zu sorgen und ist bis heute Junggeselle geblieben. Winzer hatte Liebschaften an allen Ecken und Enden. Das Triumvirat stand also schlecht, schon fing der Kredit an, verfänglich zu wackeln, die Wechsel auf Brühl und Compagnie wurden mit langen Gesichtern begrüßt, und man prophezeite allgemein einen greulichen Krach. Aber siehe da, die Sache machte sich auf ganz unerwartete Weise! Winzer wurde von den beiden solideren Herren, wohl nicht mit Unrecht, als Stein des Anstoßes betrachtet; sie fanden, er sei kein Geschäftsmann, sie fanden, er treibe sich umher, er führe ein unsolides Leben, schade dem Ruf der Firma, sie fanden endlich, er habe sich zu drücken – und der brave Kerl war damit einverstanden. Geld hatte er lange keins mehr im Geschäft stehen, unbehaglich war ihm zumuthe, und Amerika war ihm immer als eine nette Gegend erschienen, wo für Leute seines Schlages noch etwas zu machen sei. Von seinen bisherigen Freunden Grimm und Brühl ließ er sich die Reisekosten und noch etwas darüber für den Anfang gehen – ‚auf Abschlag‘, wie er sagte. ‚Denn, Kinder, wenn ich dort zu etwas komme, geb’ ich es Euch wieder, wenn nicht, seid schön bedankt!‘ – und weg war er! Na, er muß wohl [651] zu nichts gekommen sein, denn man hat seit all den Jahren kein Wort von ihm gehört; wohl aber kam Brühl, der immer mehr Glück wie Verstand gehabt hat, zu etwas, und zwar durch einen großen Lotteriegewinn, der ihm kurze Zeit nach dem Weggang Winzers zufiel. Nun war er wieder obenauf, allein jetzt kommt das Komische von der Geschichte. Jedermann glaubte, nun werde die Firma den wahren Aufschwung nehmen, denn Brühl und Grimm hatten miteinander auf der Schulbank gesessen und galten für geschworene Freunde, obschon der eine klug und der andere etwas einfältig war. Da mußte also wohl Brühls frisch gespickter Geldbeutel und Grimms anschlägiger Kopf etwas Ausgezeichnetes zusammen abgeben. Aber nein! An dem Tage, da Brühl den riesigen Gewinn einheimst, sagt Grimm sich von der Theilnahme am Geschäft los, ist durch kein Bitten, kein Zureden zu bewegen, Compagnon zu bleiben, erklärt rund heraus, es gebe nichts Gutes ab, wenn einer mit einem großen Kapital wirthschafte und der andere mit nichts, und zieht seine Einlage ohne weiteres aus dem Geschäft heraus. Nicht einmal stiller Theilhaber will er bleiben, und nur mit Mühe und Noth kann Brühl ihn bewegen, seine Wohnung zu behalten, im oberen linken Flügel des Brühlschen Hauses, wo er sich ein kostbares Glashaus für seine Blumen hatte einrichten lassen. Er blieb denn in der Wohnung, zahlte pünktlich seine Miethe, war aber von Stund’ an nur noch ein seltener Gast in der Brühlschen Familie, nur bei feierlichen Gelegenheiten. Er hat für sich selbst in Getreide und Oel weiter spekuliert, wie man meint, mit großem Glück, und sein guter Rath soll Brühl oft in schwierigen Geschäftslagen über Wasser gehalten haben. Kurioser Kauz, nicht wahr? Nimmt es seinem Freunde buchstäblich übel, daß er reich geworden ist, und zieht sich deshalb von ihm zurück! – Aber sei so gut und laß mich nicht alle Austern allein aufessen, sondern halt’ auch mit!“

„Ich danke, iß nur – freut mich, wenn Dir’s schmeckt! Ich habe keinen Appetit.“

Andree saß, den Kopf in die Hand gestützt, am Tische und sah zu, wie Hilt die Austern aß. Etwas in der eben gehörten Erzählung berührte ihn nicht angenehm, so leicht hingeplaudert auch das Ganze war.

Die leeren Austerschalen thürmten sich wie ein kleines Gebirge übereinander, Hilt schlürfte und schluckte und sprach dem Yquem fleißig zu.

„Und Brühl ist ein reicher Mann geblieben seit jener Zeit, nicht wahr?“

„Wie man’s nimmt! Die Frau und die Kronprinzessin kosten ihn gewaltig, er muß ganz ungeheure Summen verdienen, wenn er das aus dem Geschäft herausziehen kann. Jetzt angelt er nach einem Schwiegersohn von Rang und Stand, das kostet noch extra. Hier lebt seit einiger Zeit ein moldauischer Fürst Riantzew mit Familie. Dessen jüngerer Bruder, Prinz Riantzew also, hat sich stark in die schöne Stella Brühl verliebt, höchst wahrscheinlich ohne Erlaubniß seines fürstlichen Herrn Bruders, und der biedere Senator hätte nichts dagegen, Vater einer Prinzessin Riantzew zu werden. Nach Geld fragt er nicht soviel, ihn prickelt der Ehrgeiz. Du wirst übrigens wohl alle, von denen ich gesprochen habe, Senator und Gemahlin, Grimm und Prinzen, in Bälde kennenlernen; Brühls werden in den nächsten Tagen ein großes Zauberfest veranstalten, vermuthlich, um den Prinzen etwas fester zu schmieden! Und da Du dort Deinen Besuch gemacht und Deine Karte zurückgelassen hast, da ich zudem mit der anspruchsvollen Frau Mama von Dir gesprochen habe, so hoffe ich, daß die Leute den guten Einfall haben werden, Dich einzuladen. Wir würden dann dort zusammentreffen, man kann da über Hamburger Feste in großem Stile Studien betreiben! – Beiläufig, mein Guter: könntest Du mir vielleicht mit dreihundert Mark unter die sogenannten Arme greifen? ’s ist bloß, damit das halbe Tausend voll wird! Ja? Du bist wirklich ein nobler Kerl, und ich freue mich aufrichtig, daß Du nach Hamburg gekommen bist. Willst Du einen Schuldschein? Nicht? Nun, eigentlich ist’s auch Unsinn, ich schreibe mir alles genau auf, jeden Jahrgang für sich, Du hast’s ja gesehen! – Die Austern sind zu Ende – nein, nein, Du brauchst nicht zu läuten, ich esse nichts weiter. Machen wir ein Ende mit dem Wein! So, adieu! Auf Wiedersehen im Hause Brühl!“

Damit knöpfte sich Hilt kaltblütig den Ueberrock zu, klopfte sich schmunzelnd auf die Tasche, in die er die Kassenscheine geschoben hatte, und reichte Andree die Hand zum Abschied. Dieser gab ihm nur bis zu seiner Zimmerthür das Geleit, konnte daher nicht sehen, daß Hilt im Hausflur vom Zimmerkellner Adolf erwartet und alsbald in eine eifrige, mit vorsichtig gedämpfter Stimme geführte Unterredung verwickelt wurde.

Am nächsten Morgen lud eine große, steife, goldgeränderte Karte Herrn Waldemar Andree zu einem Souper mit nachfolgendem Tanz auf den achtundzwanzigsten April abends neun Uhr in das Haus des Senator Brühl auf dem Alsterdamme! –




7.

Fürst Emmerik Riantzew hatte seine Güter in der Moldau verlassen, wo er sich einen ganzen Hofstaat von Haushofmeistern, Erziehern, Gouvernanten, Bonnen, Kammerdienern und Jägern hielt, und hatte mit seiner Gemahlin, einer georgischen Prinzessin, und seinen fünf Kindern, sowie einem Theil des eben erwähnten Hofstaates eine „Tour durch Europa“ unternommen. Das war ein weiter Begriff, aber Fürst Emmerik war der Mann dazu und besaß die Mittel, sich diesen Begriff nach seiner Neigung auszugestalten.

Er hatte einen Kurier aus Brüssel in seinen Dienst genommen, ein Juwel von einem Kurier, der fünf Sprachen redete und schon rund um den ganzen Erdball gewesen war. Diesen bezahlte er mit fürstlicher Freigebigkeit, und das wußte der Mann zu schätzen. Er führte seine aristokratische halbasiatische Gesellschaft so gewandt, daß sich das Reisen glatt wie am Fädchen abrollte. Man hatte den ganzen Spätherbst und Winter im Süden zugebracht, Taormina gefiel dem Fürsten besonders gut, und seine Gemahlin hatte wiederum eine Vorliebe für die Riviera, insbesondere für Bordighera, das ihren etwas abgespannten Nerven mehr wohlthat als San Remo und Nizza.

Allmählich, durch einen ungewöhnlich warmen Vorfrühling in Italien verführt, war man weiter nach Norden gegangen, trotzdem der Kurier sehr höfliche Warnungen ausgesprochen hatte. In Venedig war des Fürsten einziger jüngerer Bruder, Prinz Alexander Riantzew, in Oesterreich erzogen und augenblicklich beschäftigungsloser Legationssekretär, zu der Familie gestoßen, um sich ihr fortan anzuschließen und sich von den Anstrengungen des römischen Karnevals zu erholen.

Eine Zeit lang vergnügte man sich in Wien, dann ging es nach Berlin. Hier aber erlaubte sich der deutsche Frühling die Ungezogenheit, einen Rückfall in den Winter zu bekommen. Es fror über Nacht, es schneite, es regnete, es gab schneidenden Nordostwind und milchweiße feuchkalte Nebel; die jungen Triebe und Sprossen, die im Thiergarten an Busch und Baum hervorgekommen waren, verkümmerten beinahe und wagten sich nicht weiter.

Die Gesellschaft aus der Moldau war empört; man hatte eine ganze Flucht der schönsten Zimmer im Central-Hotel gemiethet und in diesen entfachten geschäftige Hände unaufhörlich knatternde Kaminfeuer – umsonst! Die Fürstin war verzweifelt und der Fürst entrüstet: man hatte doch Frühling im Kalender, wie wonnig war’s im Süden gewesen, und in diesem barbarischen Lande schneite man nun wie im Winter ein und fror förmlich an. Dazu die überlegen spöttische Miene des Kuriers, der beständig mit einem Gesicht herumging, das ziemlich deutlich sagte: „Ich habe das alles im voraus gewußt, aber man wollte sich ja nicht rathen lassen! – Wer nicht hören will, muß fühlen!“

Ohne weiteres würden die beleidigten Halbasiaten diesem schrecklichen Deutschland den Rücken gekehrt haben und wieder nach dem Süden gegangen sein, wenn nicht des Fürsten Lieblingstöchterchen, die kleine fünfjährige Mascha, eine gefährliche innere Entzündung bekommen hätte, die ein längeres Krankenlager im Gefolge hatte. Unmöglich, mit dem schwerkranken Kinde eine weite Fahrt zu machen! Als die Kleine endlich außer Lebensgefahr war, stellte es sich heraus. daß ein innerer Absceß eingetreten war, der die sorgsame Behandlung eines Spezialisten erforderte. Ein guter Bekannter des Fürsten, der zufällig in Berlin war, rühmte einen bedeutenden Hamburger Arzt, der in solchem Fall ein Sachverständiger ersten Ranges sei; sobald daher das kranke Kind die Reise ertragen konnte, siedelte die fürstliche Familie nach [652] Hamburg über, wo der unentbehrliche Kurier, da ein längerer Aufenthalt unerläßlich war, eine geräumige Villa nebst Garten auf dem neuen Jungfernstieg miethete. Hier wollte man die sehr langsam fortschreitende Genesung der kleinen Prinzessin gezwungenermaßen abwarten.

Mit Ausnahme der vier gesunden Kinder, die sich fröhlich im Garten tummelten und ihren Bonnen gehörig zu schaffen machten, fühlte die Familie des Fürsten sich unbehaglich. Die Fürstin, eine nicht besonders zärtliche Mutter, ging, sobald es sich nicht um ihre eigene Gesundheit handelte, von dem Grundsatz aus, der Mensch sei dazu da, sich selbst zu überwinden, und, sobald er nur richtig wolle, sei die Genesung fertig. Sie fand deshalb die Angst des Fürsten um die kleine Mascha übertrieben und nahm es dem fünfjährigen Kinde geradezu übel, daß es immer noch krank war und sie alle zwang, in dieser „horriblen“ Stadt so lange auszuhalten; sie zeigte die schlechteste Laune, wollte nichts sehen und hören, fand alles schon im voraus, ohne es zu kennen, „abominabel“, war kaum zu einer Ausfahrt zu bewegen und wies alle Versuche ihres Gemahls, sie zu zerstreuen, mit einem sehr ungnädigen Gesicht ab. Die Dame lag beinahe den ganzen Tag auf der Chaiselongue, natürlich im Negligée, denn wozu für Hamburg Toilette machen? Wenn sie nicht französische Bücher las – und das konnte sie nicht immer, denn sie ärgerte sich zu sehr, daß sie diese langweilige Wartezeit nicht in Paris verleben konnte, wo man sich doch immer amüsierte! – dann quälte sie ihre Dienstleute, welche die gefürchtete Herrin meistens im Bogen umgingen. Namentlich die georgische Kammerzofe (in Paris ausgelernt!) ging fast beständig mit verweinten Augen umher und schwor immer wieder, wenn Monsieur Falvier, der Kurier, nicht wäre, der die hübsche Kleine mit und ohne Französisch zu trösten wußte, dann würde sie längst fortgelaufen sein.

Fürst Emmerik war betrübt, daß sein Lieblingskind sich so wenig erholte und daß seine Gemahlin eine so sorglose Mutter war. Er ging oft ins Krankenzimmer und war jedesmal dabei, wenn der Arzt kam, aber die Mutter konnte er der Kleinen doch nicht ersetzen, er mußte sie bezahlten Pflegern überlassen. Zudem machte ihm sein Bruder, Prinz Alexander, ernstliche Sorge.

Diesen jungen Mann hatte die Natur mit einem gefährlich anziehenden, melancholischen Gesicht ausgestattet. Von Hause aus nichts weniger als düsteren Sinnes, verfehlte der Prinz doch nicht, von seinen äußeren Gaben Gebrauch zu machen; er liebte die Damen und wußte ganz genau, wenn er sie aus seinen mandelförmigen, tiefen Augen mit einem gewissen Aufblick traurig anschmachte, dann könne ihm sobald keine Frau widerstehen. Er sah daher meistens so sehnsüchtig und schmerzvoll aus, als habe er soeben einen schweren Herzenskummer hinter sich und schaue nun nach einem Trost in diesem seinem Leiden aus. Thatsächlich hatte er eigentlich nur Siege zu verzeichnen, aber wozu brauchten die Frauen das zu wissen? Sie waren so gern mitleidig, es war ihnen so süß, trösten zu können – und Prinz Riantzew ließ sich trösten und nahm dankbar alles entgegen, was sich ihm bot! Sein Bruder, der Fürst, wünschte lebhaft, der Prinz möge sich bald mit einer reichen Erbin – natürlich von Stand – verheirathen, denn als jüngerer Sohn besaß er kein besonders glänzendes Einkommen, und er, der ältere, mußte sehr oft aus seiner eigenen Kasse nachhelfen. Aber um die Ehe war es dem flotten Kavalier wahrlich nicht zu thun, er mußte lachen, wenn er nur daran dachte. Er – und ein Ehemann! Was würde da aus seinem Verkehr mit den Damen werden, die ihn allesammt verwöhnten! Da er gerade ohne Beschäftigung war – der Borschafter hatte ihm einen langen Urlaub gegeben und wollte ihn dann ganz weit fortschicken! – so hatte es ihm Spaß gemacht, sich der „Tournée durch Europa“ anzuschließen, die sein Bruder unternahm, er hatte überall irgend jemand oder irgend etwas zu seinem Vergnügen gefunden – und nun gar hier in Hamburg!

Das eben war’s, was den Fürsten, neben seines Töchterchens Krankheit und seiner Gattin schlechter Laune, so sehr verstimmte.

Prinz Alexander hatte sich verliebt – nun, das schadete zunächst nichts, das war schon öfter geschehen – in ein wunderschönes junges Mädchen … schadete gleichfalls nichts, sprach nur für seinen feinen Geschmack und war auch schon öfter dagewesen. Was aber bisher noch nie passiert war, das mußte sich hier in Hamburg begeben: das wunderschöne junge Mädchen nahm durchaus keine Notiz von dem Prinzen! Er machte seine schwermüthigsten Augen, er ritt, fuhr und ging an ihrem Hause vorüber – das entzückende Geschöpf ritt, fuhr und ging gleichfalls auf den belebtesten Promenaden an ihm vorüber, ohne ihn im geringsten zu beachten. So gelang es also nicht, er mußte sie persönlich kennenlernen, mußte versuchen, durch seine Nähe auf sie zu wirken! Er lernte sie kennen, aber er wirkte nicht! Er konnte sich’s nicht verhehlen, es war eine niederschmetternde Thatsache: sie tanzte, scherzte und lachte mit jedem andern ebenso unbefangen wie mit ihm; es war, um toll zu werden!

Und Prinz Alexander wurde auch wirklich toll, er verliebte sich ernstlich. Sein Bruder bekam davon zu hören und machte ihm Vorwürfe. Gegen eine Liaison hatte er nichts einzuwenden – lieber Himmel, er war ein verständiger Mann und Sascha war jung! Allein sich ernstlich verlieben in die Tochter eines Hamburger Kaufmanns, sie am Ende gar heirathen wollen, das ging nicht. Wahrhaftig, das ging nicht. „Thu’ meinetwegen, was Du willst!“ hatte der Fürst bei der letzten Unterredung mit seinem Bruder ausgerufen. „Aber mach, daß diese leidige Geschichte zu Ende kommt, ich will nichts weiter davon hören!“

Darauf war der Prinz, nachdem er seinem fürstlichen Bruder einen kurzen Abschiedsgruß zugenickt hatte, aus dem Zimmer gegangen und einige Tage unsichtbar geblieben.

Heute sollte er wieder sichtbar werden. An einem launischen Aprilvormittag war’s, der Himmel lachte und weinte in einem Athem – augenblicklich hatte er eine freundliche Miene aufgesetzt und schickte goldenen Sonnenschein auf die regenfeuchten Straßen und in das Lesezimmer des Fürsten Riantzew, der gleichfalls ein heiteres Gesicht zeigte, denn eben war der Arzt bei ihm gewesen und hatte ihm günstige Nachrichten über das Befinden der kleinen Prinzessin gebracht.

Der Fürst las in einer Hamburger Zeitung. Er handhabte die deutsche Sprache mit ziemlicher Leichtigkeit und hielt es für seine Pflicht, auf deutschem Boden die Sprache und die Verhältnisse des Landes zu studieren.

Janko, sein serbischer Kammerdiener, pochte leise an die Thür und meldete den Prinzen Alexander. Gleich darauf erschien dessen lichtblonder Kopf unter der blauen Sammetportiere. Der Fürst nickte ihm wohlgelaunt zu und legte das Blatt verkehrt vor sich auf den Tisch. Eigentlich hatte er Sascha sehr lieb, das kam ihm besonders dann zum Bewußtsein, wenn er ihn eine Zeit lang nicht gesehen hatte.

„Guten Morgen!“ sagte er heiter und reichte dem Bruder seine kräftige, große Hand. „Ich freue mich sehr, Dich endlich zu sehen, habe lange nicht das Vergnügen gehabt! Setz’ Dich her und erzähl’, wo Du gesteckt hast!“

Der Prinz zog mit dem Fuß einen Sessel herbei, ließ sich darauf nieder und seufzte.

„Nun?“

„Ja, wo werde ich denn gesteckt haben? Im Klub natürlich! Wohnsdorf ist hier – der aus Böhmen, weißt Du! – und Erwin Tosky und noch ein paar andere. Da haben wir denn gespielt, irgendwie muß man doch seine Zeit hinbringen.“

„Hm! Unglück gehabt?“

„Ja!“ Der Prinz kniff die Augen halb zu und unterdrückte ein Gähnen. Es trat eine kleine, unbehagliche Pause ein.

„Du hast noch mit keinem Wort gefragt, wie es Mascha geht!“ fing der Fürst endlich wieder an, als habe er Lust, die Unterhaltung von den Spielangelegenheiten abzulenken.

„Ach! Entschuldige mich, Emmerik! Nun – also – wie geht’s ihr?“

„Sie befindet sich viel besser, der Geheimrath äußerte sich heute vollkommen zufrieden über ihren Zustand; sie hat gut geschlafen, wie ihre Kammerfrau versichert, ist fieberfrei und zeigt Lust, mit Puppen zu spielen!“

„So! Ich wünsche Dir aufrichtig Glück. Das freut mich sehr!“

Der Prinz sah nicht aus, als ob ihn die Sache sehr freue. „Wie geht es denn Nadine, meiner verehrten Schwägerin?“

Des Fürsten freundliches Gesicht wurde ernst und nahm einen gleichgültigen Ausdruck an.

[654] „Sie ist gesund. Sie ist wie immer!“ sagte er kurz.

In die wiederum eintretende Stille hinein tickte die Standuhr auf dem Kaminsims mit aufdringlicher Deutlichkeit.

„Nun, so erklär’ Dich doch!“ meinte der Fürst endlich und lehnte sich mit der Miene eines Mannes, der sich auf alles Mögliche gefaßt machen will, in seinen Lehnsessel zurück. „Wieviel hast Du denn verloren?“

Prinz Sascha suchte sich das Aussehen eines Menschen zu geben, dem eine Sache vollständig gleichgültig ist, aber so ganz gelang ihm das doch nicht. Er griff in seine Brusttasche und holte ein ganzes Packet zerknitterter Zettelchen daraus hervor, die er vor seinen Bruder auf den Tisch legte. Dieser nahm eins nach dem andern und legte es, nachdem er es genau betrachtet hatte, mit unzufriedenem Kopfschütteln wieder hin.

„Was habt Ihr denn gespielt?“

„Trente et quarante!“

„Ich hatte Dich doch gebeten, Du solltest das Hazardspielen lassen, Sascha!“

Hierzu schwieg der Prinz still. Es war richtig, Emmerik hatte ihn darum gebeten, und er hatte es doch nicht lassen können.

Der ältere Bruder nahm ein Notizbuch und schrieb mit einem silbernen Stift von jedem Zettel die Zahl auf, immer eine unter die andere. Dann zog er einen kleinen Strich und zählte zusammen – es war eine hohe Summe!

„Hiervon,“ sagte er bedächtig und schichtete die kleinen Papierblätter säuberlich zu einem Häuflein zusammen, „hiervon könnten mehrere Bürgerfamilien jahrelang sorgenfrei leben, und Du gehst hin und verspielst es in wenigen Stunden. Wir haben auch unsere Pflichten, wir Hochgestellten, Pflichten gegen uns selbst, gegen den Staat, gegen das Volk. Jawohl! Wir leben nicht, wie wir sollten, wir geben kein gutes Beispiel für die, die unter uns stehen und ihre Augen auf uns richten, wir liefern selbst den Stoff zu all den Auslassungen, die uns so roh und widerlich erscheinen, die sich gegen den Adel, gegen die Kapitalisten, mit einem Wort gegen die oberen Zehntausend richten. In unserer Zeit hat jeder die Aufgabe, in erster Linie ein tüchtiger Bürger zu sein, einen wahrhaft hoben Sinn zu zeigen und damit dem Volk zu beweisen, daß es Vorurtheile nährt, wenn es dem Adel, dem Titel, dem Kapital von vornherein Mißtrauen entgegenbringt! Wir denken nicht nach, wir verschließen unseren Blick geflissentlich den Schäden unserer Zeit und gehen hin und genießen! Das ist ein großes Unrecht!“

Prinz Alexander hörte mit unbewegter Miene zu, in seinem Innern war er jedoch wenig erbaut von der Weisheit seines Bruders. „Wozu er mir das alles sagt!“ dachte er bei sich, „was soll ich damit?“ Unwillkürlich sah er nach der Zeitung hin, die umgekehrt auf dem Tisch lag. „Ob darin ein solcher Vortrag enthalten ist, ob er er ihn eben gelesen hat? Das Ganze klingt verzweifelt nach einem Leitartikel oder nach der Rede eines funkelnagelneuen Reichtagsabgeordneten, der mit dem Liberalismus liebäugelt und sogenannte Ideale im Busen trägt. So etwas steckt immer an! Der gute Emmerik vergißt ganz, daß er zwölf Jahre älter ist als ich und an meiner Stelle schwerlich anders handeln würde!“

In der That kümmerte sich der jüngere Abkömmling der Riantzews herzlich wenig um Volkswohl, gutes Beispiel, um die Forderungen der Zeit. Das alles lag ihm himmelfern, und er wünschte wirklich nur, „hinzugehen und zu genießen,“ wie sein Bruder strafend bemerkt hatte.

„Mein lieber Emmerik,“ sagte er nach einer kleinen Weile, „es mag viel Wahres in dem sein, was Du anführst, das aber macht die Thatsache nicht ungeschehen, daß ich dieses Geld verloren habe und bezahlen möchte. Willst Du das für mich thun?“

Der Fürst, vor diese nackte Thatsache gestellt, runzelte unmuthig die Stirn; er fand, er habe gut gesprochen, und hatte geglaubt, Eindruck mit seinen Grundsätzen zu machen; mit beiden Händen strich er jetzt an seinem mächtigen braunen Vollbart hinab.

„Ich habe Deine Spielschulden schon sehr oft bezahlt –“

„Sehr oft!“ schob Sascha bestätigend dazwischen.

„Und ich habe Pflichten gegen meine Kinder. Ich weiß nicht, ob ich Dir noch oft werde helfen können. Die Art, wie Du Deine Zeit hinbringst –“

„Wie soll ich sie anders verwerten? Du kannst Dich in den Schoß Deiner Familie flüchten, ich habe keine! Du interessierst Dich für Politik, für Nationalökonomie, für landwirthschaftliche Dinge; ich – Du wirst mich entschuldigen, wenn ich ganz aufrichtig bin! – interessiere mich nicht dafür! Als ich einen ernsthaften Anlauf nahm, hier in Hamburg solid zu werden und Anschluß an eine geachtete Familie zu suchen, da hast Du mir dies in den stärksten Ausdrücken verboten und hast gesagt: ‚Thu, was Du willst, aber laß mich von dieser leidigen Geschichte nichts weiter hören!‘“

Das waren im der That des Fürsten eigene Worte, – und der Prinz hatte nun gethan, was er wollte, er hatte hoch gespielt!

„Hast Du die – hm! die geachtete Familie, deren Du soeben erwähntest, seit jener Mahnung, die ich Dir zukommen ließ, nicht wieder aufgesucht? Auf Dein Wort und Deine Ehre nicht?“

„Auf mein Wort und meine Ehre nicht!“

Der Prinz richtete seinen etwas zusammengesunkenen Oberkörper stramm auf und sah seinem Bruder fest in die Augen. Es stimmte ja auch! Er hatte das Haus des Senator Brühl seit der bewußten Unterredung wirklich nicht betreten. Daß er eine Einladung zu einem morgen dort stattfindenden Souper in der Tasche trug und entschlossen war, ihr zu folgen, sagte er nicht. Warum bewegte sich Emmeriks feierliche Frage in der Vergangenheit? Hätte er die Gegenwart betont – der Prinz würde alles gestanden haben. So blieb seine gefährliche Absicht in der Tiefe seines Busens ruhen.

Der Fürst stand auf und schloß eine Kassette auf, deren kunstvoll gearbeiteten Schlüssel er stets bei sich trug. Er nahm einen Stoß Banknoten aus dem Behältniß hervor und reichte ihn dem Prinzen. „Nimm Dir!“ fügte er dazu.

Alexander „nahm sich“ und murmelte ein paar Dankesworte. Er war beinahe gerührt, er bereute beinahe, was er gethan hatte, und er war beinahe auf dem Punkt, seinem Bruder zu gestehen, daß er habe zu Brühls gehen wollen und es nun aufgebe.

Aber da sah er im Geiste Stella vor sich, Stella, wie er sie neulich in Wirklichkeit gesehen hatte, die schönste Amazone, die man sich träumen konnte, in einem knappen tiefgrünen Reitkleid, eine kleine Jockeymütze mit Silberborten auf dem Tizianhaar, auf ihrer in ganz Hamburg berühmten „Primrose“, einer arabischen Rappenstute, von vier, fünf Herren umgeben – und wie er sie ehrerbietig grüßte, ohne sich ihrem Gefolge anzuschließen, denn damals hatte er sich ’s im Ernst vorgenommen, „ein Ende zu machen“ – da hatte sie ihm zugenickt und ganz wohlgemuth gelächelt, daß all die weißen reizenden Zähnchen blitzten, nicht erzwungen, auch nicht übertrieben freundlich, nur eben ganz so heiter und unbefangen, als stehe ihr ein Prinz Riantzew jeden lieben Tag ihres Lebens zur Verfügung, und dann war sie hingesprengt. Dies sorglose Lächeln, diesen Blick, der sich sofort von ihm ab- und andern zugewandt hatte konnte ihr der verwöhnte Liebling der Frauen nicht verzeihen. Sie sollte ihn bald anders anlächeln, sie mußte, und dann, wenn er es dahin gebracht hatte … ja, dann würde der „kleine Roman“ eben zu Ende sein, und er würde Hamburg verlassen und sich ihr in tadelloser Haltung empfehlen: „Gnädiges Fräulein, ich habe die Ehre –.“

Und Prinz Alexander steckte die Kassenscheine in die Tasche, sagte noch einmal schönen Dank, tauschte einen Händedruck mit seinem Bruder und verließ dessen Zimmer. Der Zurückbleibende sah ihm befriedigt nach und dachte: „So, das wäre abgethan, zu diesen Brühls geht er nicht mehr!“ Der Davongehende sah befriedigt zurück und dachte. „So, das wäre abgethan, morgen also zu diesen Brühls!“

[669]
8.

Frau Willmers hatte im Brühlschen Hause den Befehl ausgegeben, es dürfe niemand, wer es auch sei, vorgelassen, kein Brief abgegeben, keine Frage laut werden – die „Prinzessin“ habe eben ein Bad genommen und schlafe jetzt, bevor sie Toilette mache.

Wer war Frau Willmers?

Der Schrecken des ganzen Hauses, der „Drache, der den Schatz behütet,“ wie ein alter Freund der Brühls sagte, eine sehr häßliche ältliche Person, Holsteinerin von Geburt, die Stella Brühls Amme gewesen war und jetzt ihre Kammerfrau, ihre Vertraute, mit einem Wort ihr Faktotum vorstellte und sich in dieser [670] Eigenschaft als Tyrannin des ganzen Hauses aufspielte. Stella regierte, das war Thatsache, aber Premierminister, stellvertretender Regent und oberster Berather war Frau Willmers, sie kannte die Prinzessin, wie kein anderer Mensch sie kannte, sie verstand jeden Augenwink, jede Handbewegung, jedes Zucken des schönen Mundes. Sie hätte für ihre junge Herrin jede Minute sterben können – wohlverstanden, nur für diese! Denn die anderen Mitglieder der Familie waren ihr theils gleichgültig, theils unangenehm. Gleichgültig war der alternden Frau mit dem finstern runzligen Gesicht der Vater Brühl, der ihr gerade gut genug war, das Geld zu verdienen, das ihrem Juwel dies üppige Dasein sicherte, gleichgültig auch die Mutter, die vor ihrer schönen Tochter auf den Knieen lag und keinen eigenen Willen kannte; unangenehm dagegen waren ihr die zwei jüngeren Kinder, Gerda und Wolfgang, namentlich das Mädchen, das sich gegen ihre Herrschaft hundertmal auflehnte, hundertmal dafür bestraft wurde, aber mit immer neu erwachendem Trotz und Muthwillen einen wahren „Guerillakrieg“ entfesselte und ihren um fünfzehn Monate jüngeren Bruder als ihren Generalfeldmarschall dazu heranzog. –

Tiefe feierliche Stille herrschte im zweiten Stockwerk rechter Hand – dort lagen die Gemächer der „Prinzessin“. Aus dem Badezimmer drang die laue parfümierte Luft trotz der geschlossenen Thür in den Raum nebenan, in welchem eine matte Dämmerung hergestellt war. Hier herrschte orientalischer Luxus, und Papa Brühl schmunzelte selbstgefällig, wenn man das Toilettenzimmer seiner Tochter pries; die ganze Einrichtung, wie sie dastand, stammte aus Konstantinopel und war die Nachahmung eines Gemaches der obersten rechtmäßigen Gemahlin des Sultans.

Auf der prachtvollen, in Gold und Purpursammet gewirkten Ottomane dehnte sich der Körper der schönen Stella Brühl in wohligem Schlummer. Das Köpfchen war ein wenig hintübergesunken, und das duftende Haar, das Frau Willmers nach dem Bade mit weichen erwärmten Tüchern sorgfältig trocken gerieben hatte, lief wie strömendes Gold um den weißen Nacken und die ruhig athmende Brust. Ein loses Gewand, das nur aus Stickereien und gelblichen Spitzen bestand, schmiegte sich leicht an die Glieder, die linke Hand hing schlaff herab, und die Lippen waren halb geöffnet, wie dieser weiche Kindermund es auch im Wachen oft zu sein pflegte. – Frau Willmers saß da, ohne sich zu regen, ihr Athem kam und ging unhörbar. Gottlob, nervös war ihr „Goldkind“ nicht, dafür hatte sie gesorgt in ihrer unausgesetzten Achtsamkeit, die ein förmliches Studium aus der Pflege dieser jungen Menschenblüthe machte. Aber „der Engel“ hatte einen sehr leisen Schlaf, hatte ihn immer gehabt, schon als kleines Kind, daher mußte dies kostbare Gut behutsam bewahrt werden, das machte Frau Willmers sich zur Aufgabe. Sie strickte deshalb jetzt auch nicht – die haarfeinen Seidenstrümpfe für ihren Pflegling fertigte sie immer eigenhändig an – das Klappern der Nadeln konnte die Schläferin wecken; sie las auch nicht, die Blätter konnten beim Umwenden knistern, es war ja auch nicht hell genug im Zimmer, da die schweren türkischen Vorhänge vor den Fensterscheiben zugezogen waren. Steif und würdevoll aufgerichtet wie eine ägyptische Statue, die Hände auf die Kniee gelegt, saß die dunkle Gestalt da, mit den scharfen, kleinen Augen gerade vor sich hinblickend, wo auf einem Gestell die Toilette für den heutigen Abend hing.

Da unterbrach ein Ton die tiefe Kirchenstille, ein lauter greller Ton, ein herzhaftes Niesen. Eben noch hatte Frau Willmers ihre Taschenuhr – ein Geschenk Stellas – zu Rath gezogen und festgestellt, daß der Schlummer noch gut fünfunddreißig Minuten währen durfte, und nun dies laute rücksichtslose Niesen auf dem Flur, und noch dazu dicht am Schlüsselloch!

Die alte Frau richtete sich höher empor und warf einen empörten Blick nach der Gegend, aus welcher das freche Geräusch gekommen war, sie wußte nur zu gut, wer allein eine solche Schandthat ausüben konnte.

Richtig! Die langen dunkeln Seidenwimpern auf den Wangen der Schlummernden fingen an, zu zucken, das Mündchen regte sich leise, dann hob sich das Haupt ein wenig empor und eine schlaftrunkene Stimme fragte: „Ist’s denn schon Zeit?“

„Nein, Herzenskind, nein!“ entgegnete Frau Willmers in vorsichtig gedämpftem Ton, als hoffe sie, dadurch den verscheuchten Schlummer wieder zurückzuzwingen. „Sie haben noch fünfunddreißig Minuten – wenn Sie noch einmal einschlafen könnten!“

„Du weißt, das kann ich nie mehr, wenn ich erst einmal wach bin!“ kam es unwillig zurück, und das schöne Geschöpf richtete sich halb auf.

Ach ja, die Willmers wußte! Wer im ganzen Hause kannte wohl Stella Brühls Gewohnheiten und Stimmungen so bis ins kleinste wie sie? Zornschnaubend erhob sie sich und ging zur Thür, die auf den Gang mündete.

Die Attentäterin hatte sich nicht nur damit begnügt, zu niesen, sie wollte sich auch noch überzeugen, ob es „gewirkt“ habe, daher stand sie jetzt an der Biegung der Treppe, den Kopf halb zurückgewendet, und lauschte. Sowie sie die Thür sich öffnen hörte, wollte sie blitzschnell davonhuschen, prallte aber gegen Wolfgang an, der sich herbeigeschlichen hatte, um ebenfalls seinen Spaß an der Geschichte zu haben. Gerda hielt nun Stand, mühte sich, möglichst unbefangen auszusehen, und ließ das „Hauskreuz“ herankommen. Die Willmers maß sie mit einem wuthfunkelnden Blick.

„Eine schöne Schwester, die der andern nicht einmal das Stündchen Schlaf gönnt!“

Gerda warf den Kopf zurück. „Eine schöne Schwester, die der andern nicht einmal ein Stündchen Tanzvergnügen gönnt!“

„Ah so! Also darum, weil Stella Deinen Eltern gesagt hat, Du seiest noch ein Kind und sollest heute nicht mittanzen!“

„Kein Mensch kann dafür, wenn er niesen muß! Der April begünstigt den Schnupfen, der Schnupfen begünstigt das Niesen.“

„Ja, besonders dicht am Schlüsselloch!“

Gerda blickte in das böse erregte Gesicht und sagte ruhig: „Auch das!“ Sie wußte ja, daß sie von dem heutigen Fest nichts haben durfte, weil ihre ältere Schwester, die bei jeder Gelegenheit ihr Stück durchsetzte, das so wünschte – warum sollte sie sich das einzige Vergnügen versagen, welches sie kannte: jeden, der sie hier im Hause ärgerte und quälte, wieder zu ärgern und zu quälen, so gut sie es vermochte?

Frau Willmers zog die Schultern empor. „Ich möchte wissen, warum Du so beleidigt bist, daß Du den Ball nicht mitmachen darfst? Ein fünfzehnjähriges Kind –“

„Stella hat in meinem Alter alles genossen, was ihr nur einfiel!“

„Ja – Stella!“ Ein geringschätziger Blick ging über das lang aufgeschossene, bleiche Mädchen hin, so sprechend, daß dieses jäh erröthete. Gerda hätte am liebsten geweint und mit dem Fuß aufgestampft, allein damit hätte sie dem „Drachen“ einen Triumph bereitet, und darum war es ihr nicht zu thun.

„Dich wird heute abend kein Mensch vermissen!“ fuhr die harte Stimme fort.

Das Kind senkte rasch die Wimpern, weil es fühlte, daß die Thränen nun doch kamen, sie hatte ein weiches und zugleich leidenschaftliches Gemüth, aber die Weichheit versteckte sie sorgfältig und zeigte nur die Leidenschaft. Im Hause hielt man sie allgemein für ein böses, trotziges und eigensinniges Mädchen.

„Onkel Grimm wird mich vermissen!“ sagte sie jetzt. Es sollte triumphierend klingen, allein die Stimme zitterte doch ein wenig.

„Ach, der!“ Die Willmers wollte spöttisch aussehen, aber auch das gelang nicht recht. Wider ihren Willen schien ihr „Onkel Grimm“ zu imponieren. „Wenn ich wüßte, was Der an Dir findet!“ Wieder dieser mitleidig messende Blick.

Gerda wurde der Antwort überhoben, denn ein scharfer Glockenzug ertönte und rief Frau Willmers zu ihrem Dienst. Sie warf noch in scharfem Tone hin: „Bleibt nicht auf der Treppe stehen, macht, daß Ihr fortkommt!“ und verschwand eiligst.

Wolfgang streckte hinter der Davongehenden die Zunge heraus und riß an Gerdas Zopf, sein gewöhnliches Mittel, wenn er ihre Aufmerksamkeit zu erregen wünschte.

„Du! Hör’ doch! Ist der Prinz heute auch gebeten?“

„Au! Laß los! Ja, der kommt! Ich kann ihn nicht leiden! So sieht er aus, paß auf!“

Sie ahmte die melancholische Leidensmiene und den Schmachtblick des Prinzen so täuschend nach, daß Wolfgang in ein lautes Gelächter ausbrach. Durch diesen Beifall ermuthigt, zeigte Gerda noch, wie „Riantzew“, so nannte sie ihn wegwerfend ohne Titel, sich verneigte – vornehm – nachlässig, und wie er Stella ansah, wenn er ihr gegenüber saß.

„Famos! Aber famos!“ jubelte der Junge. „Wenn ich das bloß machen könnte! Was Du für ’n Talent hast! Du [671] kannst gleich Schauspielerin werden. Und ich – ich gehe zur See!“

„Aber die höhere Karriere. Marine! Das bitte ich mir aus!“

Er seufzte.

„Man muß so scheußlich viel dazu lernen!“

„Dummer Junge, das muß man überall! Willst Du eine Rolle spielen wie Kuno, Ritter von Tillenbach?“

Die Erinnerung an die eben genannte Persönlichkeit mußte etwas sehr Erheiterndes haben, denn beide Geschwister brachen zugleich in ein lärmendes Lachen aus, wollten reden, konnten es nicht und lachten von neuem bis zu Thränen.

„Der kommt doch heute auch?“ fragte Wolfgang endlich.

„Aber gewiß. Das Zehnmillionen-Männchen kommt!“

„Zeig’, wie er aussieht, Gerda! Hörst Du?“ Wolf kniff sie ermunternd in den Arm.

Sie zwang sich mühsam zum Ernst und zerrte ihre dichten Stirnhaare so tief in die Augen, wie sie nur konnte, dann zog sie mit dem Taschenkamm einen Scheitel durch die Mitte, kniff die Augen so schmal zusammen, daß sie zwei Gedankenstrichen glichen, und öffnete den Mund erstaunlich weit. Die Füße einwärts gestellt, die Arme lose und ungeschickt herunterhängend, verbeugte sie sich drei-, viermal hintereinander vor Wolfgang und lispelte mit albernem Lächeln:

„Ich bin so glücklich, liebste S-tella – nein – Sie sind so frei – vielmehr ich bin so frei – Sie – ich –“

„Hurrah!“ schrie Wolf und packte seine begabte Schwester bei beiden Schultern, um sie derb zu schütteln. „Es ist einfach großartig! Man sieht den Kerl! Nein, daß Stella den heirathet, das ist doch unmöglich!“

„Hm! Weiß nicht! Bei der ist nichts unmöglich!“ meinte Gerda philosophisch. „Wenn sie der Prinz nicht nimmt –“

„Ob der auch eingeladen ist, der neulich hier Besuch machte? So ein schwarzbärtiger Großer – ich haute mich gerade mit Heinz Oehmke.“

„Ja, der ist auch gebeten! Maler Andree meinst Du!“

„So, der ist Maler? Weißt Du, mir hat der gut gefallen!“

„Ja, mir gefiel er auch! Jetzt komm aber nach unten, wir haben noch zu lernen!“

Wolfgang setzte sich quer auf das breite glatte Treppengeländer, Gerda packte ihn bei einem Fuß und lief im Galopp neben dem „Schlitten Fahrenden“ die Stufen hinunter.

Indessen ging in Stellas Zimmer das wichtige Werk der Toilette vor sich, schweigsam fürs erste, denn ein Blick in das Antlitz ihrer Herrin hatte die Alte überzeugt, daß der Liebling bei schlechter Laune war. Natürlich, warum hatte man seinen Schlaf gestört! Geräuschlos und flink hantierte die Holsteinerin um ihre Prinzessin herum. Sie hatte auch frisieren gelernt und behandelte jetzt das köstliche Haar, das in seidener Pracht über die Schultern floß, kunstgerecht mit einer sammetweichen Bürste, ehe sie es in den anscheinend so einfachen Lockenknoten zusammenfaßte, der dem feinen Köpfchen entzückend stand und den Stella Brühls Freundinnen sich vergeblich nachzuahmen bemühten, weil, wie die alte Willmers höhnisch bemerkte, „das Material dazu fehlte“, denn diese Frisur ließ sich nur aus so leichtem natürlich gewellten Haar herstellen.

Endlich – die Willmers kniete gerade vor der jungen Dame und streifte die blaßblauen, golddurchwirkten Seidenstrümpfe über die rosigen Füßchen – endlich that Stella den Mund auf, und die Unterhaltung entspann sich.

„Willmers!“

„Prinzeßchen!“

„Das war doch wieder Gerda, nicht wahr?“

„Natürlich, wer sonst?“

„Hast Du sie ausgescholten?“

„Tüchtig!“

„Nun – und sie?“

„Ungezogen, wie immer. Böse, daß sie heute nicht erscheinen und nicht mittanzen soll.“

„Das kann ich mir denken!“ Fräulein Stella lachte melodisch leise vor sich hin. Nach einer kurzen Pause:

„Sind Blumen für mich angekommen?“

„Selbstverständlich! Drei Bouquets: von Hauptmann Sternow, Konsul White und Herrn von Tillenbach!“

Das junge Mädchen hatte bei Nennung der beiden ersten Namen gleichgültig ausgesehen, beim letzten zuckte sie geringschätzig die Schultern.

„Aber das ist gerade das schönste!“ schmunzelte Frau Willmers. „Der Kuno kam vor drei Tagen eigens zu mir und erkundigte sich nach Ihrer Toilette!“

„So! Wenn das Bouquet sehr schön paßt, werde ich’s am Ende nehmen müssen! Also der Prinz hat sich nicht gemeldet?“

„Nein! Sie sind nicht ärgerlich darüber, Liebchen, nein?“

„Gar nicht! Ich habe ihn zu schlecht behandelt, als daß er es wagen dürfte, mir Blumen zu schicken.“

„Aber ich dachte, mein Prinzeßchen –“, die Alte stockte ein wenig.

„Du dachtest, Dein Phantasie-Prinzeßchen möchte gar nicht so ungern ein wirkliches Prinzeßchen werden, nicht wahr? Ja sieh, Willmers, dazu gehört etwas mehr als bloßes Courmachen! Die Art, wie dieser moldauische Prinz sich um mich herumbewegt, gefällt mir nicht; da ist viel zuviel vom großen Herrn dabei! Warten wir es in Ruhe ab, bis er sich selbst klein findet und mich großartig – dann wollen wir uns wieder sprechen. Warten wir es ab!“

Sie trat plötzlich vor den Spiegel und sah aufmerksam hinein, als habe sie noch nie ihr eigenes Bild erblickt. Die Alte stand hinter ihr und hielt mit ausgebreiteten Armen das Kleid hoch, um es ihr überzuwerfen. Das Fräulein duckte sich ein wenig, und mit einem leise rauschenden Ton glitt ihr das Kleid über den Kopf, der gleich darauf aus den bläulichen Wogen emportauchte wie der einer reizenden Nereïde.

„Was machst Du für ein unzufriedenes finsteres Gesicht, Willmers?“ fragte Stella in den Spiegel hinein. „Gefalle ich Dir heute nicht?“

„Was für ein Gedanke! Nein, mir geht die Geschichte mit Rom im Kopf herum, der Brief, den Sie dorthin geschrieben haben! Er war ein so leidenschaftlicher heißblütiger Mensch und so zum Sterben verliebt! Wenn er nun außer sich geräth und herkommt!“

„Hoffentlich nicht! Außer sich geraten – ja! Herkommen – nein! Ich hab’ es außerdem unbestimmt gelassen, ob ich jetzt daheim bin, hab’ ihm gesagt, ich gehe vielleicht nach dem Haag zu einer Freuudin, vielleicht mit Papa nach Paris –“

„Wenn auch, ihm traue ich alles zu!“

„Ja, verliebt war er rasend in mich – und ich hatte mich dazumal ebenfalls in ihn verliebt – kurios!“

Sie beugte sich vor und nahm mit vorsichtigen Händen aus einem hohen Koffer von schöner japanischer Arbeit einen Halbmond aus Brillanten, den sie hin und her drehte. Bunte feurige Blitze zuckten über die weißen Hände, die den Halbmond hielten.

„Er ist wirklich schön! Kostet Papa ein schweres Stück Geld, aber ist’s auch werth! Ja, was ihn anbetrifft – Werner Troost meine ich! – so wär’s noch nicht das schlimmste, wenn er herkäme! Habe ich ihn hier, dann kann ich mit ihm machen, was ich will! Ich sage ihm: so und so, ich sei ja noch ein Kind gewesen, als ich mir eingebildet hätte, ihn zu lieben, was denn ein Kind davon wissen könne, und übrigens – wo ist denn der große Name, die Berühmtheit, die er mir versprach? Von diesem Maler Andree hab’ ich schon allerlei gehört, er ist bekannt in der Kunstwelt. Wer aber weiß von einem Bildhauer Troost? – Nein, nicht so hoch, Du mußt ihn tiefer nach rechts stecken, daß er nicht so prahlerisch funkelt. Man muß seine Brillanten diskret zu tragen verstehen.“

Die Alte that ihr den Willen und nestelte dann das Kleid mit Goldspangen zu.

„Ist nicht dieser Maler Andree auch aus Rom?“ fragte sie dabei.

„Ja, gewiß! Vielleicht kennt er Werner – es ist sogar wahrscheinlich – und wird mir von ihm erzählen. Aber Werner hat nichts ausgeplaudert, selbst wenn er dort einen vertrauten Freund gefunden haben sollte, dessen bin ich sicher. Ich habe ihm gesagt: ‚Du schweigst gegen jedermann!‘ und er hat es mir versprochen!“

„Ich wundere mich nur –“, fing die Willmers an.

„Worüber? Ums Himmelswillen, doch nicht das Perlenhalsband! Welcher Mensch trägt denn Perlen zu Brillanten? Nun also – worüber wolltest Du Dich denn wundern?“

„Daß Ihre Eltern die ganze Zeit über von der Sache nichts bemerkt haben.“

„Wenn man eigenes Fuhrwerk besitzt und selbst fährt, in [674] Begleitung eines halb blödsinnigen Negerjungen, der damals noch kein deutsches Wort verstand, und wenn man überdies eine so verschwiegene und ergebene Beschützerin hat, wie Du es bist – gieb einmal meine Fächer her, ich will sehen, welcher von ihnen am besten paßt! – dann ist das nicht so schwer. Ich kann ja immer thun, was mir gefällt!“ Hiermit griff sie nach Handschuhen und Fächer und war fertig.

Auch im ersten Stock war man fertig. Senator Brühls gaben sehr viele Gesellschaften, große und kleine, Bälle, Soupers, Diners, große Routs, kleine „gemüthliche“ Zusammenkünfte und Gartenfeste drängten sich drüben in Uhlenhorst, wo sie die Villa hatten. Die Dienerschaft war trefflich geschult, es ging immer alles wie am Schnürchen.

Die prachtvolle Flucht der Gesellschaftsräume, die mit dem Wintergarten abschloß, war dank dem Schönheitssinn der Frau Senator und ihrer Tochter Stella nicht nur mit kostbaren, sondern auch mit geschmackvollen Dingen angefüllt. Der Hausherr verstand nichts davon, er hätte den Dekorateur uneingeschränkt schalten und walten lassen, aber es freute ihn doch, wenn vornehme weitgereiste Leute sich mit Wohlgefallen in den prunkvollen Gemächern umsahen; und wenn sie ihrer Bewunderung Ausdruck gaben, dann pflegte er, die Hand am Kinn, eine kurze Verbeugung zu machen: „Bitte sehr! Freut mich, daß es Ihnen bei mir gefällt! Der ganze Stil der Sache ist das Verdienst meiner Damen – der Wahrheit die Ehre!“

Frau Senator Brühl wußte eigentlich, streng genommen, sehr wenig. Sie interessierte sich nicht für Kunst und Litteratur, besuchte Theater und Konzerte nur, weil es zum guten Ton gehörte, und verwechselte alle Namen von Berühmtheiten, so daß sie Joachim für einen vorzüglichen Pianisten erklärte und für Klara Ziegler als Liedersängerin schwärmte. Lesen verursachte ihr Kopfweh, Politik verabscheute sie, und Malerei und Skulptur wurden von ihr nur nach den Preisen geschätzt, welche die betreffenden Werke eintrugen. Und doch wußte Frau Brühl auch wieder sehr viel, sie wußte ganz genau, was schön war, und das ist mehr, als die meisten Damen von sich sagen können. Welche Anordnung von Möbeln und Dekorationsstücken sich für dies oder jenes Zimmer am besten eigne, welche Toilette bei Tage und welche bei künstlicher Beleuchtung ihr oder Stella am vortheilhaftesten war, welche Mode von den vorhandenen man beachten oder vermeiden müsse – alles das wußte sie ganz genau, hier lag ihr eigenstes Gebiet, auf dem sie mustergültig war. Diesen feinen Formen- und Farbensinn, dies ausgesprochene Schönheitsgefühl hatte Stella von ihrer Mutter geerbt – freilich besaß die junge Dame auch noch andere Gaben, die sich in ihrer Anlage weder auf ihren Vater, noch auf ihre Mutter zurückführen ließen.

Frau Senator Brühl konnte es wie die meisten ehemaligen Schönheiten durchaus nicht vergessen, daß sie in ihrer Jugend reizend gewesen war, dagegen hatte sie vergessen, daß sie ungemein rasch verblüht war. Sie hatte spät geheirathet – sich jetzt in die Rolle einer alternden Frau zu schicken, das fiel ihr unendlich schwer, und erst seit Stella völlig erwachsen und in ihrer wunderbaren Pracht entfaltet war, hatte sich ihre Mutter einigermaßen zurückgezogen.

Jetzt saß sie, zart, blond, ätherisch, ganz in leuchtend blauen Sammet gekleidet, der in schwerer Fächerschleppe auf dem Boden um sie herum lag, in einem mit Goldbrokat bezogenen Lehnsessel und hielt ein Lorgnon vor die Augen, das an einem langen goldenen Stiel befestigt war.

„Was betrachtest Du Dir, liebe Molly?“ fragte der Herr Senator, der im tadellosen schwarzen Gesellschaftsanzug, ein Ordensbändchen im Knopfloch – ach, es war nur der Orden eines ganz kleinen Ländchens, dessen Herrscher er einmal einen finanziellen Dienst erwiesen hatte! – neben ihr stand.

„Diese japanischen Fächer dort über dem Silbertischchen! Ich kann mich noch nicht schlüssig machen, ob das wirklich hübsch aussieht!“

„Sehr hübsch, meine Liebe, sehr hübsch!“ bemerkte der Senator gönnerhaft, ohne seine Gemahlin ganz zu überzeugen. Sie schwenkte leicht mit der Hand, um anzudeuten, daß seine Meinung bei ihr gar nicht ins Gewicht falle.

„Ich werde Stella fragen – sie mag entscheiden!“

Nach einer Pause: „Keine Absage gekommen, Brühl?“

„Nichts von Belang. Der Prinz kommt – Konsul White kommt – Kuno –“

„Wie Du Kuno mit dem Prinzen und Konsul White in einem Athem nennen kannst!“

„Erlaube, liebe Molly –“

Aber die liebe Molly erlaubte nicht.

„Kuno, diesen lächerlichen Hanswurst –“

„Erlaube, er wiegt zehn Millionen schwer!“

„Ich dächte, wieviel er wiegt, käme gar nicht in Betracht, Du hegst doch hoffentlich nicht den Gedanken, Dein Kind – ein solches Kind wie Stella! – im Ernst an diesen Pavian zu verkaufen?“

„‚Pavian‘ ist stark!“

„Nicht zu stark für den jungen Tillenbach! Brühl, ich bitte Dich! Wir wollen doch eine glänzende Partie für Stella haben – auf das Geld kommt es ja nicht im mindesten an!“

Der Senator sah unbehaglich aus, wie wenn er sagen wollte: „Dir nicht – aber mir!“ Einstweilen schwieg er und murmelte nach einer Weile: „Es war ja eben nur ein Gedanke! Für alle Fälle muß man sich die Tillenbachs, Vater und Sohn, warm halten!“

„Nun, das kannst Du besorgen – mich und Stella laß aus dem Spiel! Apropos – gestern traf ich Grimm auf der Straße, und er sagte mir –“

„Doch nicht, daß er heute nicht erscheine?“ fiel der Senator hastig ein. „Das wäre mir mehr als unangenehm – würde mir den ganzen Abend verderben. Die Leute könnten denken –“

Frau Molly unterbrach seine aufgeregte Rede mit einem ungeduldigen Kopfschütteln.

„Brühl –“ sie hatte das R sehr scharf auf der Zunge, weshalb ihr Aussprechen dieses Namens immer wie eine Rüge klang – „Brühl – wenn ich wüßte, was Du an diesem Grimm findest! Seit langen Jahren schon ist er Dein Geschäftstheilhaber nicht mehr, hat sich sogar in unartiger Weise geweigert, Dein stiller Compagnon zu werden, woran Dir soviel lag, da er ja ein eminenter Börsianer sein soll – Du bestandest aber darauf, daß er seine Wohnung in unserem Hause behielt, für die er, nebenbei gesagt, einen Spottpreis bezahlt, als reicher Mann, für den man ihn hält – Du fährst fort, ihn all diese Jahre hindurch mit Handschuhen anzufassen, ihm Deine Einladungen und Liebenswürdigkeiten förmlich aufzudrängen, Dir alles von ihm bieten zu lassen – – und, wie benimmt er sich zu Dir? Er besucht uns fast nie, wozu ich Gott sei Dank sage, denn ich mag ihn nun einmal nicht – er hat Dir gegenüber einen kurz absprechenden, ich möchte sagen herrischen Ton, den sich sonst kein Mensch gegen Dich erlaubt – er behandelt mich mit einer Höflichkeit, hinter der ich eine starke Dosis Ironie wittere – er spottet ganz offenbar über unsere Stella – nun, fahre nur nicht so auf, ich meine natürlich nicht, daß er es wagt, über ihre Persönlichkeit zu spotten … aber er zieht unsere Vorliebe für dieses seltene Kind geradezu ins Lächerliche. Ich habe es aus guter, sicherer Quelle, daß Grimm den Ausspruch gethan hat, wir machten ein Götzenbild aus ihr und lägen anbetend davor auf den Knieen, und das würde dem Götzenbilde sowohl als auch uns mit der Zeit sehr schlecht bekommen. Endlich giebt er vor, an Gerda Gefallen zu finden – ich sage, er giebt es vor, uns zum Possen, da ich nicht annehmen kann, er habe den schlechten Geschmack, neben einem Wesen, wie Stella es ist, dies vorlaute, widerspenstige Kind zu beachten, das sich nur von unvortheilhafter Seite zeigt und an dem ich, die eigene Mutter, noch keine einzige liebenswürdige Eigenschaft habe entdecken können. Alles dies sind Thatsachen! Er hat das Mädchen stundenlang bei sich in seiner Blumen- und Katzenwirthschaft, er steckt ihr allerlei Geschenke zu, bestärkt sie in ihrem bubenhaften Wesen und wirkt auch auf Wolfgang entschieden ungünstig ein, denn kein anderer als Grimm hat dem Jungen den verrückten Unsinn mit der Marine eingeredet. Und nun frage ich Dich noch einmal, Brühl: was findest Du an dem Menschen?“

Der Senator sah während dieser nachdrücklichen Rede seiner Gemahlin, die sich in ihrer gerechten Entrüstung von ihrem Sitz erhoben hatte und nun wie eine zürnende Juno (in blauem Sammet!) vor ihm stand, verlegen und ungemüthlich aus. Sie hatte eigentlich recht, Frau Molly! Grimm that all das, dessen sie ihn beschuldigte, er war gar nicht zu vertheidigen! Aber im [675] tiefsten Innern wußte der Senator gewaltig viel, was für den ehemaligen Freund und Compagnon sprach, er hatte seine gewichtigen Gründe, ihm nichts übelzunehmen und sich mancherlei von ihm bieten zu lassen … nur schade, daß er diese Gründe seiner Gattin unmöglich zur Begutachtung unterbreiten konnte!

So wiegte er denn nur mißbilligend sein wohlfrisiertes Haupt – man hatte ihn einmal mit einem Sperber verglichen, der sein Gefieder sträubt! – und sagte nach einigem Räuspern:

„Ihr Frauen seid doch alle gleich! Weil Grimm Euch nicht genügend den Hof macht und manchmal etwas sorglos auftritt, muß er gleich spöttisch und verletzend und was sonst noch alles sein. Ein Mädchen wie unsere Stella, um das sich fürstliche Häupter bewerben (dies Wort des stolzen Vaters ging sehr ins große und galt eigentlich nur dem Prinzen Riantzew) braucht doch wahrlich nicht Grimms Anerkennung und Huldigung abzuwarten, sondern macht ihren Weg auch so. Das mit dem Götzenbild ist gewiß nicht wahr, ich werde Grimm einmal danach fragen. Und Gerda? Nun, das ist eine Grille, wie sie ältere unverheirathete Leute zuweilen haben – lassen wir ihn doch gewähren! Ich meinerseits wünsche sehr, das gute Einvernehmen mit Grimm aufrecht zu erhalten, wenigstens nach außen hin – hm! – damit – hm! – die Leute, die so leicht geneigt sind, falsche Deutungen unterzuschieben, nicht – hm! – mutmaßen können – –“

Hier hatte sich der Senator rettungslos „auf einer Sandbank festgesetzt“, auf welcher er unfehlbar gestrandet wäre, wenn sich nicht Hilfe gefunden hätte. Der Bediente hatte die Flügelthüren zurückgeschlagen, und Stella war erschienen.

Konnte man es den Eltern mit ihrem kleinen Horizont, mit ihrer rein äußerlichen Lebensauffassung verdenken, wenn sie dies herrliche junge Menschenbild vergötterten, wenn sie kühne Pläne bauten auf dies strahlende Wesen? Strahlend! Das war der passendste Ausdruck für Stella Brühl! Von ihrem Haar, von den Augen, dem Kolorit ihres Gesichtes, dem schimmernden Kleide, dem Lächeln ihrer Lippen ging jenes wunderbare Licht aus, das ihr im Alterthum unfehlbar den Beinamen „die Leuchtende“ eingetragen hätte. Sie trat heiter und fröhlich ein und nickte den Eltern einen lächelnden Gruß zu.

„Alles in schönster Ordnung?“ fragte sie mit ihrer klingenden Stimme. „Laß Dich ansehen, Mama! Gut, sehr gut – ich bin zufrieden. An Papa ist so wie so nichts auszusetzen, Herren haben es immer leicht mit der Toilette. Ah, wie das schön ist, wie ich das liebe – soviel Licht!“

Sie hob ein wenig die Arme und warf den Kopf zurück, als wolle sie den tausendfältigen Glanz, den die Gaskronen, Wandkandelaber und Kerzen ausstrahlten und den die bis zur Decke reichenden Riesenspiegel in funkelnden Garben zurückwarfen, an sich ziehen, in sich trinken.

„Brühl, wenn wir sie so malen ließen, sieh doch, sieh!“ raunte Frau Molly ihrem Gatten zu und hob das Lorgnon hastig vor die bewundernden Augen. „Hilt hat mir soviel von seinem Freunde Andree vorgeschwärmt, der ja heute auch gebeten ist – Hilt ist freilich nicht im mindesten mit dessen ganzer Kunstrichtung einverstanden, giebt aber zu, daß dieser Andree ein hervorragender Porträtmaler ist – was meinst Du, mein Herzblatt?“

„Malen? Mich? Ach Gott, Mama, meinetwegen! Ich hab’s zwar schon ein paarmal durchgekostet, allein warum nicht noch einmal? Sehen wir uns vor allen Dingen heute abend unsern Mann, den Maler Andree, darauf hin an; aber zurückhaltend, meine Lieben, wenn ich bitten darf! Ist er ein langweiliger Gesell, der mich bei den Sitzungen einschlafen ließe, dann wird nichts daraus, und wenn er den Pinsel eines Tizian führen würde!“

„Natürlich! Dann wird nichts daraus!“ stimmte die Mama bei, und der Papa, der Zahlende, gänzlich mit Stillschweigen Uebergangene, dessen Zustimmung als selbstverständlich galt, nickte mit dem Sperberhaupt und murmelte etwas Unverständliches.

Die Frau Senator drückte auf den Knopf der elektrischen Leitung.

„Fräulein Gerda und der junge Herr sollen kommen, uns gute Nacht zu sagen, ehe die Gäste erscheinen!“ befahl sie dem Diener.

Stella ging langsam von einem Raum zum andern, legte hier eine Falte um, rückte dort eine Vase, ein Dekorationsstück anders, jedesmal zum Vortheil des Gesammteindrucks, und kam endlich vom Wintergarten, den ein hohes, ganz mit Epheu und lebenden Blumen durchflochtenes Gitterwerk gegen die Zimmerreihe hin abschloß, zu ihren Eltern zurück. Sie fand dort nur Wolfgang vor, der, seine langen Glieder unbehilflich hin und her wendend, mitten im Zimmer vor seiner Mutter stand und auf dem spiegelnden Parkettboden gegenüber einem der mächtigen Spiegel, umgeben von soviel Glanz und Luxus, eine ziemlich unglückliche Figur abgab.

„Nun, Junge?“ Stella nahm ihn scherzhaft beim Ohrläppchen. „Und Gerda?“

Der Knabe entzog sich der sanften Berührung des rosigen Händchens seiner schönen Schwester mit auffallend unwilligem Gesicht und finsterer Gebärde. Seine offenblickenden Blauaugen sahen ganz ungerührt die feenhafte Erscheinung in der fürstlichen Toilette an.

„So antworte doch, Du Bär, wenn Deine Schwester Dich etwas fragt!“ rief der Senator aufgebracht. „Wenn Du uns, Deinen Eltern, Gerdas ungezogene Antwort bestellen konntest, dann darf Stella sie auch hören!“

„Gerda sagte, sie wisse ganz genau, wie unsere Gesellschaftszimmer bei Beleuchtung aussehen, und wenn sie nicht zum Fest erscheinen soll, dann will sie überhaupt nicht erscheinen!“ sagte der Junge mürrisch und duckte den Kopf, als wolle er ruhig alle Scheltreden über sich ergehen lassen.

Die blieben denn auch nicht aus. „Dies trotzige, unartige Mädchen – es ist empörend!“

„Sag’ ihr, Wolfgang, sie bekomme kein Konfekt und keinen Crême morgen, zur Strafe!“

„Ihren Eltern eine so unartige Bestellung machen zu lassen!“

„Und der Junge giebt sich auch dazu her, er hat keine Spur von Manieren!“

„Wenn ich nur wüßte, woher Gerda dies unausstehliche Wesen hat! Wenn man bedenkt, wie Stella in ihrem Alter war – ein fabelhafter Unterschied!“

„Ich bitte Dich, Brühl, Du wirst doch nicht etwa im Ernst die beiden miteinander vergleichen!“

Stella stand während dieses elterlichen Duetts stumm da und lächelte vor sich hin. Ihre jüngeren Geschwister in Schutz zu nehmen, fiel ihr nicht ein. Papas Entrüstung über die Schwester und sein Ausruf, wie anders sie selbst in Gerdas Alter gewesen sei, belustigte sie sehr. Der gute beschränkte Mann! Ja, wie konnte er denn die Erziehung und Behandlung seiner vergötterten Aeltesten mit dem Lose dieses vernachlässigten Kindes in einem Athem nennen! – Wolfgang trat von einem Fuß auf den andern, riß an seinen Fingern, daß die Gelenke knackten, und sah verlegen vor sich hin. Gerda hatte es ihm eingeschärft: „Daß Du ja wörtlich bestellst!“ und er hielt getreulich zu ihr und hatte sein Versprechen erfüllt.

„Und wie der Junge aussieht!“ Frau Molly, deren Augen schon seit einer Weile eine stumme, aber sehr beredte Kritik an Wolfgangs Erscheinung geübt hatten, lieh ihrem Aerger jetzt Worte. „So gewöhnlich wie der Sohn eines Tagelöhners! Woher er nur diese Nase hat, überhaupt sein ganzes Exterieur! Kein Mensch kann darauf kommen, daß eine solche Erscheinung zur guten Gesellschaft gehört. Ist das der Anzug, der für Dich bei Papas Schneider gemacht worden ist?“

Wolfgang sah schuldbewußt aus und mußte zugeben, daß es allerdings dieser Anzug war.

„Siehst Du!“ wandte sich die Dame strafend an ihren Gemahl. „Was sagte ich Dir? Ich rieth Dir gleich, Dir die Kosten zu sparen, denn an solchen Gliedmaßen, an einem solchen Knochenbau wird auch der tüchtigste Schneider verzweifeln müssen. Nein, mit dem Jungen ist nichts anzufangen, ebensowenig wie mit Gerda –“

„Warum denn nicht, meine Gnädigste?“ fragte eine etwas spöttisch klingende Männerstimme plötzlich dicht neben der Frau Senator. Der Herr hatte dem Diener, der ihn melden wollte, abgewinkt, mit einer Gebärde, die sagen zu wollen schien: „Lassen Sie nur, guter Freund, ich bin hier zu Hause!“, und stand nun wie aus der Erde gewachsen dicht neben der Gruppe.

Ein mittelgroßer schlanker Herr war’s, ein gut konservierter Fünfziger, den seine sehr frische Gesichtsfarbe und sein fast völlig weißes, leicht gewelltes Haupthaar wie ein hübsches Rokokobild erscheinen ließen. Er hatte ein kleines, beinah kokettes dunkles Schnurrbärtchen, kluge dunkle Augen, feine Züge – und die [676] ganze Erscheinung machte den Wunsch rege, sie in einem seidenen Frack, Kniehosen und Schnallenschuhen einhergehen zu sehen statt im alltäglichen schwarzen Gesellschaftsanzug, zu dem die unerbittliche Mode die Bürger des neunzehnten Jahrhunderts verpflichtet.

Das war Herr Bernhard Grimm, der ehemalige Geschäftstheilhaber und langjährige Hausgenosse des Senators Brühl, der häufige Zankapfel zwischen diesem und seiner Gattin.

Eben diese Gattin fuhr jetzt zurück wie von einer Viper gestochen und rief in wehklagendem Ton: „Um Gotteswillen – ich bin zum Tode erschrocken!“

„Hoffentlich doch nicht!“ entgegnete Herr Grimm kaltblütig und führte die Hand der Dame in die Nähe seines Schnurrbarts – der Kuß, den er hätte darauf drücken sollen, wurde in die leere Luft gehaucht. Dann rief er dem Senator ein etwas kühles: „Guten Abend, Brühl!“ zu und verneigte sich feierlich vor Stella: „Sie sehen Ihren Knecht geblendet, Prinzessin!“

Das war der ironische Ton, den Frau Molly tadelte, und sie war auch jetzt nicht erbaut davon.

„Warum hat man Sie denn nicht gemeldet? Meine Leute pflegen doch sonst der guten Sitte nicht ins Gesicht zu schlagen!“ sagte sie scharf.

„Sie entschuldigen gütigst – diesmal schlug ich!“ Herr Grimm lächelte vergnüglich und war keinen Augenblick außer Fassung gebracht. „Ihr Pierre wollte mich melden, ich litt es aber nicht. Einen so frühen Gast, der noch dazu das Glück hat, Ihr alter Bekannter zu sein und unter einem Dach mit Ihnen zu leben“ – eine neue tiefe Verbeugung – „den kündigt man nicht erst feierlich an. Ich bin absichtlich so früh gekommen – ich wollte der Erste sein und ich sehe mit Befriedigung, daß ich es wirklich bin – um meine kleine Gerda noch zu sehen, nachdem mir mein Diener die Trauerkunde überbracht hat, daß sie an dem heutigen Fest nicht theilnehmen werde.“

„Hielten Sie das im Ernst für möglich? Was sollte sie heute hier?“

„Nun – beispielsweise tanzen!“

Stella zuckte die Achseln, und Frau Brühl lachte bitter.

„Es gehört Ihre ganze – wunderliche Vorliebe für Gerda dazu, um diese Behauptung aufzustellen. Ein so ungeschicktes, reizloses Kind –“

„Verzeihung, meine Gnädigste! Gerda, beizeiten zu einem tüchtigen Tanzlehrer gebracht, und Gerda in kleidsamer Toilette – da wäre sie weder ungeschickt noch reizlos. Bis jetzt ist sie allerdings noch nicht hübsch, aber sie wird es ohne Zweifel werden. Warten wir doch ab, bis aus der grauen unscheinbaren Puppe der schöne Schmetterling hervorgeschlüpft ist! Blicken Sie nicht so verächtlich aus Ihren schönen Augen auf Ihren devotesten Diener, Fräulein Stella! Soll ich Dir einmal zeigen, Brühl, wie Deine Gerda in ein paar Jahren aussehen wird?“

„Nun? Ich wäre begierig!“

Herr Grimm faßte den Senator leicht unter den Arm und führte ihn durch einen der Säle in ein kleineres Seitenzimmer, in welchem Rauch- und Spieltische für die Herren aufgestellt waren. Hier hing über einem zierlichen bunten Divan das lebensgroße Brustbild einer jugendlichen Frau, in Oel gemalt, von einem dunkeln ovalen Rahmen umgeben. Sie war auffallend hübsch, diese Frau, mit ihrem reichen dunkeln Haar, den frischen Farben und den lächelnden Lippen. Geradezu schön aber waren die Augen mit ihrem klugen sprechenden Blick – tiefe, herrliche Frauenaugen, aus denen eine heiß empfindende Seele schaute.

Halb widerstrebend waren die beiden Damen den Voranschreitenden gefolgt – Wolfgang hatte sich unbemerkt nachgeschlichen und machte nun, hinter seiner Schwester Stella stehend, einen langen Hals.

„Die Mutter meines Mannes!“ rief die Senatorin verwundert. „Aber ich bitte Sie, Herr Grimm, das war eine anerkannte Schönheit.“

„Und Gerda wird ebenfalls eine solche werden, verlassen Sie sich fest darauf!“

Die Dame wandte sich mit einem sehr ungläubigen Gesicht ab, und Stella ging, als ob die ganze Sache sie gründlich langweile, in den Nebensaal zurück. Der Senator blieb, die Hände auf dem Rücken, vor dem Bilde stehen und sah so angelegentlich zu demselben in die Höhe, als erblicke er zum ersten Mal in seinem Leben ein Porträt seiner Mutter.

„Du weißt, Freundchen,“ begann er endlich und sah sich vorsichtig um, ob seine Damen noch in der Nähe wären, „daß ich ungeheuren Werth auf Dein Urtheil lege, und gar in künstlerischen Dingen bist Du mir weit überlegen; Du bist ja selbst Bildersammler, und Deine Gemälde werden als bedeutend gerühmt – aber hier – hm! Die Mutter war ja wirklich liebreizend, sogar ich weiß noch davon zu sagen; sie spielte eine Rolle und hätte noch als gar nicht mehr junge Witwe ein paar glänzende Partien machen können, allein Gerda! Keine Spur! Das Kind sieht nach gar nichts aus! Es ist der tägliche Kummer meiner armen Frau, daß die zwei Jüngsten so ganz aus der Art geschlagen sind.“

Grimm zog seine dunkeln Brauen mit einer ausdrucksvollen Miene empor, als scheine ihm dieser Mangel an Aehnlichkeit mit den Eltern gar kein besonderes Unglück zu sein.

„Wenn Gerda wirklich sich noch bessern sollte,“ fuhr der Senator sinnend fort und rieb sich das Kinn, „dann könnte sie am Ende einmal Kuno von Tillenbach heirathen, denn Stella wird den naturlich nicht nehmen!“

Grimms dunkle Augen funkelten seltsam.

„Ein reizender Gedanke, mein guter Brühl! Du bist ein liebevoller Vater!“

Die Betonung dieser Worte, die eigen klang, mußte dem Angeredeten wohl entgangen sein, denn er entgegnete ganz harmlos: „Ja, das bin ich auch!“




9.

Die Unterredung der beiden Herren wurde unterbrochen, da die ersten Gäste erschienen. Wolfgang war selbstverständlich bei dieser Kunde wie Spreu vor dem Winde davongestoben, und Frau Molly konnte beruhigt ihr Haupt erheben, da keines von ihren kompromittierenden Jüngsten mehr in der Nähe war.

Sie hob dies Haupt sehr hoch, als der Maler Hilt ihr entgegentrat – mein Gott, das war der Zeichenlehrer ihres Sohnes, ein Mensch, der durchaus keine Rolle spielte, ewig Schulden haben sollte und in dem Ruf stand, sehr frivol zu sein. Aber sie neigte dasselbe Haupt sehr tief, als Seine Durchlaucht Prinz Alexander Riantzew vor ihr stand und ihr aus den verschleierten Augen einen etwas müden Blick spendete. Die Dame hieß ihn in warmen Worten willkommen und wandte sich lebhaft um.

„Durchlaucht haben meine Tochter noch nicht begrüßt? Durchlaucht möchten sich eines Tanzes versichern? Stella! Sie stand doch eben noch in meiner Nähe! Stella! Wie ungeschickt! Wenn ich wüßte, wo sie geblieben ist. Sie wird jederzeit so von den Herren umringt – man verwöhnt mir die Kleine sehr, mein Prinz, es ist für mich als Mutter keine ganz leichte Aufgabe –“

„Ah, ich begreife sehr wohl!“ entgegnete der Prinz etwas gedehnt – er fand es langweilig, dieser verblühten, anspruchsvollen Schönheit Rede zu stehen, während er sich soviel bessere Unterhaltung versprechen durfte. Dieser Hamburger Senator machte ein hübsches Haus! Die Räume sammt ihrer Einrichtung konnten sich sehen lassen – des Prinzen verwöhnte Augen stießen nirgends auf ein Zuviel – alles harmonisch, geschmackvoll! Und wieviel reizende Mädchen! Hier ein blendender Nacken, dort ein edles Profil, ein anmuthiger Wuchs. „Hm!“, machte er halblaut in beifälligem Ton … wenn es die Senatorin hörte, schadete das nichts!

„Ach, lieber Hilt, bitte auf ein Wort! Ihr rasches Künstlerauge hat vielleicht entdeckt, wo meine Tochter sich befindet; Sie haben wohl die Güte, sie mir herzubringen.“

Hilt verbeugte sich und ging quer durch den Saal, einer Gruppe entgegen, in welcher er soeben Stella erblickt hatte. „Rasches Künstlerauge!“ brummte er für sich. „Hat sich was! Mich ihrem Prinzen vorzustellen, das fiel ihr nicht bei, dazu bin ich ihr nicht vornehm genug. Alte hochmüthige Gans, die!“ Laut fügte er hinzu:

„Mein allergnädigstes Fräulein, ich komme in höherem Auftrage, als Abgesandter Ihrer verehrungswürdigen Frau Mutter, um Sie zu ihr zu entbieten!“

„Ich komme!“ nickte das schöne Mädchen freundlich. Sie war gegen alle Welt freundlich, das fiel ihr ja leicht und konnte immer einmal gute Früchte tragen. Hilts dargebotenen Arm schien sie jedoch nicht zu sehen, wie sie neben ihm einherschritt. Er sah sie athemlos vor Bewunderung an – vor solcher Schönheit hielt selbst sein kaltblütiger Cynismus nicht Stand; er wollte [677] etwas zu ihr sagen, aber ihm fiel nichts Gescheites ein, und etwas Alltägliches konnte er doch nicht vorbringen! Ehe er sich auf eine passende Anrede besonnen hatte, waren sie bei der Dame des Hauses angelangt.

„Mein liebes Kind,“ begann diese mit einiger Feierlichkeit, „Seine Durchlaucht Prinz Riantzew wünschte, Dich zu begrüßen und sich eines Tanzes zu versichern!“

„Ah so!“ Stella neigte leicht ihr Köpfchen als Erwiderung auf des Prinzen Gruß. „Ich glaubte, eine der älteren Damen verlange nach mir, vielleicht meine Pathe, Frau Senator Heyn. Ich habe gar nicht gewußt, daß Durchlaucht so kurzsichtig ist, ein so hoher Herr – ich meine so hochgewachsen! – muß doch eine Dame immer zu finden wissen!“

„Sie strafen mich hart, gnädiges Fräulein!“ entgegnete der junge Mann in seinem liebenswürdig klingenden österreichischen Dialekt. „Ihre Frau Mutter war so überaus zuvorkommend, es nicht zu dulden, daß ich Sie selbst aufsuchte, wie es meine Pflicht und auch meine Absicht war. Darf ich dennoch den Muth haben, Sie um einen Tanz nach Tisch zu ersuchen?“

„Ich muß bedauern, meine Tänze sind schon alle vergeben!“

„Stella!“ sagte die Senatorin erschrocken, in mahnendem Ton.

„Bitte, sieh doch, Mama! Wollen Sie sich selbst überzeugen, mein Prinz!“ Sie nahm mit großem Ernst die Tanzkarte aus ihrem Bouquet und hielt sie dem Prinzen hin, sodaß ihr dieser nahe in die leuchtenden Augen blicken konnte.

„Sie hätten mich sehr glücklich gemacht, wenn Sie mir einen Tanz aufgehoben hätten!“ stieß er heraus.

„Aber warum hätte ich das sollen?“ gab sie unbefangen zurück und steckte die kleine Karte wieder sorgsam zwischen die Blumen. „Daran bin ich so gar nicht gewöhnt! Die Herren, die lange zuvor einen Tanz von mir zu haben wünschen, müssen auch lange zuvor darum bitten!“

Der Prinz warf hochmüthig den Kopf zurück und biß sich in seinen Schnurrbart. Wollte ihn denn dies schöne Bürgerkind behandeln wie den ersten besten Kaufmannslehrling, der vor ihres Vaters Pult den Comptoirsessel bestieg und Briefe über Getreide und Erbsen schrieb? Es schien in der That so! Oder war dies Koketterie? Kaum! Stella stand so harmlos da, als habe sie soeben die gewöhnlichste Sache von der Welt abgehandelt. Teufel noch eins, der Prinz konnte sich besinnen, solange er wollte, er hatte noch nie ein so tadellos schönes Mädchen gesehen! Er besaß eine Bildergalerie lebender Schönheiten, auf die er sich mit Recht etwas einbildete – aber eine Stella Brühl gab es nicht darin. Es half nichts! Man würde etwas von seinen durchlauchtigsten Allüren nachlassen, Mensch unter Menschen sein müssen – nicht Fürst unter Bürgerlichen!

Wie er sich indessen eben anschickte, so recht gemüthlich zu sein und das Gesicht in die allermenschenfreundlichsten Falten zu legen, da mußte er zu seinem ungeheuren Verdruß gewahr werden, daß die, um derentwillen er diese ungewöhnlichen Anstalten traf, gar nichts davon bemerkte; sie hatte sich abgewandt und blickte ihrem Vater entgegen, der sich ihr näherte mit einem großgewachsenen, brünetten Herrn an der Seite, den er seinen Damen ohne Zweifel vorzustellen gedachte.

Richtig kam es auch so! Der Senator lavierte geschickt um ein paar Schleppen herum und stand nun vor den Gesuchten.

„Ihr gestattet mir wohl, meine Lieben, daß ich Euch, und auch Ihnen, mein Prinz, Herrn Andree vorstelle, einen Künstler von bedeutendem Ruf, denselben Herrn, um dessen liebenswürdigen Besuch uns vor einigen Tagen ein ungünstiger Zufall gebracht hat!“ Hier setzte der Hausherr seiner Rede Schranken und schielte nach Stella hinüber, ob sie wohl zufrieden mit ihm sei. Ja, denn sie lächelte! Papa athmete erleichtert auf.

[689] Waldemar Andree war im ganzen kein Mann der Gesellschaft und hatte in Rom sehr selten im Salon verkehrt – nur hier und da im engeren Familienkreise. Aber eine Persönlichkeit wie die seine, fest in sich beruhend und, obgleich ohne jede Ueberhebung, dennoch von einem gewissen Selbstbewußtsein erfüllt, das dem begabten Künstler wohl anstand, konnte sich auch in der glanzvollen Atmosphäre eines reichen Hamburger Patrizierhauses nicht linkisch oder beklommen benehmen. Seine tiefliegenden Augen hatten bisher mit klugem, kühlem Blick die prachtvollen Räume, die auf- und abwogende Menge, die kostbaren Toiletten gemustert; es gefiel ihm ganz wohl, hier zu sein; Licht und Glanz und Farbenpracht umschmeichelten ihm angenehm den angeborenen und tief entwickelten Kunstsinn Mit sicherem Anstand verneigte er sich vor der Dame des Hauses, ihre verbindliche Begrüßung mit höflichen Worten erwidernd, und auch der Prinz aus der Moldau schüchterte ihn keineswegs ein.

Aber als er nun Stella Brühl so nahe vor sich hatte, da überkam ihn ein eigenthümliches Gefühl … „Ich habe Angst vor ihr!“ hatte ihm Hilt gesagt. „Sie ist zum Fürchten schön.“ Nun, Angst war es nicht gerade, was Andree jetzt so seltsam bewegte! Aber Stella war heute und hier soviel schöner noch als vor einigen Tagen, da er sie auf der Straße gesehen – schön wie eines Künstlers Traum, wie die Verkörperung alles dessen, was seine fruchtbare Phantasie, wenn sie ihren höchsten Schwung nahm, ihm vorgezaubert hatte – und all seine künstlerische Begeisterung drängte sich ihm wieder mit Macht zum Herzen. Und dazu kam noch das Bewußtsein, daß es ihm, gerade ihm vorbehalten sei, diesem herrlichen Geschöpf einen großen Schmerz zuzufügen – sie würde doch einen großen Schmerz empfinden? Kein Zweifel daran! Ihn durchzuckte eine sonderbare Eifersucht auf diesen Toten, der sein liebster Freund gewesen war und dem dies junge Wesen sich in Liebe hingegeben hatte, zugleich aber rührte ihn ein tiefes Mitleid, wenn er an Werner Troost dachte, wie er so still unter den Cypressen schlief, fern von seiner deutschen Heimath, fern von ihr, die er über alles geliebt!

Und all diese Empfindungen, ineinanderströmend und halb verworren, wie sie waren, ließen einen Ausdruck auf seinem Gesicht erscheinen, der Stella Brühl befremdete, als sie jetzt zu ihm emporsah. Das war nicht nur die Bewunderung, die sie in dem Antlitz [690] jedes Menschen, der ihr gegenübertrat, zu lesen gewöhnt war – in den Angen dieses fremden Mannes, den sie zum ersten Mal in ihrem Leben sah, stand etwas wie ein Schmerz und etwas wie Mitleid. Doch nicht etwa mit ihr selbst? Mitleid mit der schönen, gefeierten, sieghaften Stella Brühl?

Er hatte zu ihrem Vater, zu ihrer Mutter gesprochen, auch dem Prinzen, der ein paar herablassende Worte an ihn gewendet hatte, kurz und ruhig geantwortet – ihr allein stand er wortlos gegenüber! War das nur stumme Bewunderung?

Sie wartete noch einen Augenblick und fragte dann endlich, ein wenig unsicher: „Sie kommen direkt aus Rom?“

„Ja – direkt aus Rom!“ bestätigte er mit seiner tiefen, wohlthuenden Stimme und einem ganz sonderbaren Nachdruck, der ihr wiederum auffiel. Ihre Blicke trafen ineinander, es spann sich etwas wie ein geheimes Einverständniß zwischen ihnen …

„Ich hoffe,“ fuhr Andree fort, „Herr und Frau Senator, sowie Sie selbst, mein gnädiges Fräulein, gönnen mir die Ehre, auch künftig bei Ihnen vorzusprechen, um nach dem Gesellschafter auch den Menschen in mir zu Wort kommen zu lassen!“

Der Prinz fand im Stillen, dieser Maler sei ein anmaßender Mensch, und Stellas Eltern waren innerlich ein wenig erstaunt über den Fremden, der so ohne weiteres die Rolle eines Hausfreundes in Anspruch nahm. Aber Ton und Haltung waren durchaus ehrerbietig, und da der Künstler in Hamburg ganz unbekannt war, wie Hilt gesagt hatte, so bewies er schließlich Kühnheit und guten Geschmack, wenn er sich sofort in eines der besten Häuser, welche die alte Hansestadt aufzuweisen hatte, einzuführen wünschte.

So setzte die Dame des Hauses ihr verbindlichstes Lächeln auf, als sie entgegnete: „Ihr liebenswürdiger Wunsch kommt dem unsrigen zuvor, Herr Andree. Wir haben viel von Ihnen gehört, und es ist uns da in aller Stille ein Plan aufgestiegen, dem Sie vielleicht in einiger Zeit zum Leben verhelfen, falls er sich Ihres Beifalls erfreut!“

Sie blickte vielsagend auf die schöne Tochter, und Andree, der den „stillen Plan“ unschwer errieth, lächelte, während seine Augen begeistert aufleuchteten, dann versicherte er, sich jedem Plan zu fügen, in welcher Richtung er immer gehen möge.

Von links trat eine Gruppe neuer Gäste an die Damen heran, und Andree, der sich mit einer Verbeugung zurückzog, gewahrte unter ihnen einen jungen schmächtigen Herrn mit strohblondem, über den ganzen Kopf gescheiteltem Haar, das sorgsam in die Stirn hineinfrisiert war, mit offenem Munde und hellen Augen, die beständig zwinkerten und blitzschnell mit den Augenlidern klappten. Der Jüngling war mit Eleganz gekleidet und trug eine wunderschöne, auffallend große Perle als Schluß seines weit offenen Hemdkragens.

Stella nickte ihm zu wie einem alten Bekannten.

„Guten Abend, Kuno; vielen Dank für Ihr schönes Bouquet, das so gut zu meiner Toilette paßt – da, sehen Sie selbst!“ Sie hielt die Blumen an ihr Kleid und fragte: „Nun?“

„Gott – o Gott, liebste Stella!“ stammelte der blonde Herr und glich dabei Zug für Zug der Kopie, die Gerda vor zwei Stunden von ihm auf der Treppe geliefert hatte, „daß Sie meine Blumen genommen haben – das ist – Gott – das ist – eine Ehre für mich – und auch für sie – nein – du mein Himmel, ich meine nicht für Sie – sondern für sie, die Blumen.“

„Ja, ja, Kuno, ich weiß schon!“ nickte sie lachend, während der Jüngling, in ihren Anblick verloren, mehr denn je mit den Aeuglein zwinkerte, wie jemand, der zu lange in die Sonne gesehen hat. –

„Wer ist denn das?“ fragte Andree in leisem Ton den Maler Hilt, den er eben jetzt dicht neben sich bemerkte.

„Komm’ hierher, mein Sohn, dann erzähle ich Dir’s!“ Der kleine Maler zog ihn in eine der tiefen, von schwerer granatfarbiger Seide verhüllten Fensternischen, wo niemand sie belauschen konnte und von wo sie die ganze bunte Gesellschaft und ihr Treiben wie ein großes lebendes Panorama vor sich hatten.

„Zuerst einmal Deine Beichte, guter Freund!“ schmunzelte Hilt. „Wie findest Du sie?“

„Wen?“

„Kunststück! ‚Wen?‘ fragt er! Thu’ mir die Liebe, und spar’ Dir solche Witze, bei mir verfangen sie nicht und sie kosten uns unnütz Zeit. Du mußt sie ja früher schon gekannt haben –“

„Wer? Ich? Fräulein Stella Brühl? Denn von der wünschest Du doch wohl zu sprechen. Ich habe heute das erste Wort mit ihr gewechselt!“

„Du bist ungeheuer spaßig, mein Lieber! Dieser Duckmäuser, dieser Geheimnißkrämer! Geh’ und mach’ das alles einem andern weis als Deinem ergebenen Endesunterzeichneten! Um den an der Nase zu führen, mußt Du schon früher aufstehen.“

„Ich verstehe Dich gar nicht, Hilt!“ sagte Andree verwundert. „Es ist durchaus nicht meine Absicht, Dich zum besten zu halten. Was willst Du eigentlich von mir haben?“

„Ich will wissen, seit wie lange Du die Kronprinzessin dieses Hauses, Fräulein Stella Brühl, kennst.“

„Ich kenne sie seit heute abend, wo wir das erste Wort miteinander gewechselt haben!“

„Das ist stark, Freundchen! Auf Deine Ehre und Dein Gewissen?“

„Aber in des Teufels Namen: ja!“ Andree, der sich zu ärgern anfing, sprach leise, jedoch mit nachdrücklichster Betonung und ehrlicher überzeugender Stimme.

Hilt sah ihm starr in die Augen. „Wirklich kolossal!“ murmelte er mehr für sich. „Mit so einem Gesicht sich was abzuschwören! Mir soll gleich einer ’nen Storch braten, wenn ich aus der Geschichte klug werde! Ich, sonst kein übler Spürhund, wenn sich’s mir verlohnt! Na, also Du willst nicht heraus damit? Was war’s doch gleich, was Du von mir wissen wolltest?“

„Wer der junge blonde Mensch mit dem ungewöhnlich geistreichen Gesicht ist, der soeben kam. Er scheint hier gut bekannt zu sein.“

„Ist er auch! Sind klingende Gründe genug dafür da! ’s ist das Zehnmillionen-Männchen, Kuno, Ritter von Tillenbach. Ich will Dir kurz seine Geschichte berichten. Sieh, der Papa dieses hoffnungsvollen Jünglings ging noch vor kaum dreißig Jahren mit dem Probesäckchen voller Erbsen und Linsen zu den betreffenden Händlern und Maklern aufs Comptoir und freute sich ganz ungeheuer, wenn ihm einer etwas von diesen Früchten des Feldes abkaufte. Und so geschah es denn auch, daß er eines Tages durch sein gewandtes Wesen das Auge und das Wohlwollen eines reichen, dicken Maklers auf sich zog, der da fand, dieser strebsame junge Mensch sei zu gut, um mit Warenproben herumzulaufen, und ihm demzufolge Sitz und Stimme in seinem Comptoir anwies. Dieser Versuch glückte, und der Wohlthäter experimentierte weiter, indem er seinen Schützling in den Schoß seiner Familie einführte. In diesem sproßte und blühte ein einziges Töchterlein, vielmehr, um im Bilde zu bleiben, es sproßte und blühte nicht, sondern welkte und siechte – ein elendes Treibhauspflänzchen, gleich kümmerlich an Leib wie an Seele. Es war aber der junge Tillenbach von Ansehen ein hübscher Junge, frisch und stramm, und wohl geeignet, das Herz einer Jungfrau zu umstricken. Und siehe, es begab sich, daß das Mägdlein in Liebe zu seiner Persönlichkeit entbrannte, und als er dieses gewahrte, da entbrannte auch in ihm eine heiße und unbezwingliche Leidenschaft zu ihrem Portemonnaie – und der heilige Bund zweier Herzen war geschlossen. Der junge Tillenbach rückte siegreich als Compagnon ins väterliche Geschäft und träumte holde Zukunftsträume, denn die Gegenwart wurde ihm durch den Anblick seiner unlieblichen Lebensgefährtin nicht gerade versüßt. Aber die alte Mutter Natur läßt sich nicht spotten, das zeigte sich hier wieder einmal deutlich genug. Denn der Sohn und Erbe, der dem jungen Paar nach Jahresfrist geboren wurde und das einzige Kind ihrer Ehe blieb, war nicht so gut, dem Vater zu gleichen und ein hübscher, gescheiter Mensch zu werden, sondern er artete in allen Stücken seiner Frau Mama nach, ja, er übertrumpfte dieselbe noch und wurde ein blöder, stotternder, schafsdummer Trottel, zu nichts in der Welt nutz, als von aller Welt gehänselt, angepumpt, betrogen und ausgelacht zu werden, untauglich zu jeglichem Beruf, nicht ’mal imstande, sein Geld, das sich unter den Händen des umsichtigen Vaters ums Dreifache vermehrt hat, mit Anstand loszuwerden. Tillenbach senior ist zu Aemtern und Würden emporgestiegen, in den Adelstand erhoben und zum Ritter hoher Orden gemacht worden – Tillenbach junior ist ein kleiner Jammermann, eine lebendige Warnungstafel für alle die, so ihre freie Mannesseele um schnödes Geld verkaufen. Den ritterlichen Vater wurmt natürlich dieses Häufchen Unglück, welches er sich da als einzigen Sohn und Erben großgezogen hat, fürchterlich, er weiß nie recht, soll er diesen [691] Sprossen verachten oder bemitleiden, denn etwas aus ihm zu machen, das hat er längst aufgegeben. Sein einziges Dichten und Trachten geht nun dahin, dem Ritter Kuno von der traurigen Gestalt eine schöne und kluge Frau zu verschaffen, und zu diesem Posten ist dem klugen Rechner die schöne Stella Brühl gerade gut genug!"

Andree, der mit manchem Kopfschütteln zugehört hatte, fuhr empört zurück.

„Was?“ rief er laut – dann, da der Andere ihm die Hand auf den Arm legte, mäßigte er seine Stimme. „Ich denke, Du erlaubst Dir einen schlechten Witz mit mir!“

„Gar nicht!“ erwiderte Hilt kaltblütig. „Ich bitte Dich: zehn Millionen bedeuten eine schöne Ziffer, und wenn der geschäftskundige Ritter p. p. einmal seine Augen schließt, werden’s fünfzehn bis zwanzig sein.“

„Und wenn es hundert wären,“ sagte Andree hart, „so dürfte von solch einer Nichtswürdigkeit noch immer keine Rede sein!“

„Hm! Du sprichst die große Zahl gelassen aus, aber ihre Tragweite überlegst Du Dir entschieden nicht. Sie wäre doch die erste Titania nicht, die ihrem Zettel die langen Eselsohren zupfte. Und ob unser freundlicher Wirth, der brave Herr Senator, auf so festen vergoldeten Füßen steht, wie’s den Anschein hat, das kann auch niemand sagen – gemunkelt wird allerlei, ganz gelogen wird’s nicht sein, denn was treibt der Mann für einen Aufwand! Wieviel, meinst Du wohl, kostet solch ein Brokatkleid und solch ein Halbmond von Brillanten, wie sie heute die Prinzessin trägt? Glaub’ Du es mir dreist, so etwas könnte eine wirkliche Kronprinzessin unbeschadet bei einem Hoffest tragen – nur hätte sie dann noch lange nicht das Aussehen unserer Brühlschen Haustochter. – Wie ist mir denn: hat Dich der Senator schon seinem früheren Socius und Intimus Grimm vorgestellt?“

„Nein – er hat mich nur seiner Frau und Tochter zugeführt!“

„Tochter! Mit welchem Gesicht er das sagt! So unschuldig, so gut und tugendreich! O, diese stillen Wasser! Nun, dann verlaß Dich darauf, Grimm kommt bald an die Reihe, der Senator macht ihm ja förmlich den Hof und versäumt es nie, ihm jeden neuen Gast zu präsentieren, als wäre sein einstiger Kompagnon das seltenste Schaustück des Hauses. Wart’ – kommt er da nicht? Ich wette, daß er Dich sucht!“

In der That spähte der Hausherr, der sich soeben von einer Gruppe von Offizieren losgemacht hatte, das Sperberhaupt hoch erhoben, aufmerksam durch den Saal, und als sein Auge endlich die Fensternische traf, kam er mit lebhaften Schritten darauf zu.

„Hierher haben sich die Herren zurückgezogen! Rechter Beobachterposten – wie? Lieber Hilt, Sie entschuldigen, wenn ich Ihnen Ihren Freund entführe – ich muß Sie, mein bester Herr Andree, durchaus meinem Hausfreund Grimm vorstellen, habe es bereits unverantwortlich lange hinausgeschoben, wurde von zu vielen Gästen in Anspruch genommen. Mein Freund Grimm hat schon nach Ihnen gefragt – er weiß von Ihnen – interessiert sich enorm für die Kunst – ist selbst bedeutender Kenner – passionierter Sammler – ich lege großen Werth auf sein Urtheil – sehr großen –“

Die letzte Bemerkung, die so klang, als wenn Herr Senator Brühl gleichfalls Maler wäre, stand etwas außer dem Zusammenhang. Der eifrig redende Herr hatte den Arm in den seines hochgewachsenen Begleiters geschoben und dirigierte ihn rasch vorwärts. Andree ließ ihn reden und ließ sich auch willenlos führen. Seine Augen flogen über die besternten Herren, die bunten Uniformen, die schön frisierten Damenköpfe weg und suchten Stella. Dort stand sie, den Prinzen neben sich, ein paar andere dienstthuende Kavaliere um sich herum, unter ihnen Ritter Kuno. Ein widerliches Gefühl überkam den Maler. Nein – es war doch nicht möglich! Dieser Vater, an dessen Arm er jetzt ging – am liebsten hätte Andree seine Hand fortgezogen – er konnte doch nicht gemein und niedrig genug denken, um sein schönes liebreizendes Kind an diesen Halbidioten zu verkaufen!

Herrn Grimm vorgestellt zu werden, war dem Maler ganz gleichgültig – was ging ihn dieser fremde Mann an?

Aber als er nun seiner ansichtig wurde und mit raschem Blick die anziehende Erscheinung mit dem weißen Haar und dem fast jugendlichen Gesicht musterte, da hielt seine Gleichgültigkeit nicht stand, und er nahm die hübsche schmale Hand, die Herr Grimm ihm wie einem guten Freunde entgegenstreckte, und schüttelte sie ganz gemüthlich.

„Also das sind Sie!“ sagte der weißlockige Herr lächelnd, ohne auf des Senators vorstellende Worte zu warten. „Sehr erfreut, Sie kennenzulernen – diesmal ist das wörtlich zu nehmen, nicht etwa als höfliche Redensart. Sie müssen nämlich wissen, wir sind eigentlich alte Bekannte, Herr Andree; seit zwei Jahren hängt da oben in meiner kleinen Sammlung ein ‚fischender Knabe‘ der Ihnen merkwürdig vertraut sein dürfte. Wollen Sie mir einmal die Ehre Ihres Besuches anthun und sehen, wie der ‚kleine Fischer‘ bei mir aufgehoben ist und in welcher Gesellschaft er sich befindet?“

„Wie, Bernhard, Du bist im Besitz eines Gemäldes von Herrn Andree?“ rief der Senator rasch dazwischen, ehe noch der Künstler Zeit fand, zu antworten. „Davon hast Du mir ja kein Wort gesagt, alter Freund!“

„Warum hätte ich das denn sollen?“ lautete die kühl verwunderte Gegenfrage, und die gemessene Art Grimms stach seltsam ab von der eifrigen Vertraulichkeit, die der Senator zur Schau trug. „Wir besuchen einander ja doch nur bei feierlichen Gelegenheiten!“

Brühl biß sich etwas verlegen auf die Lippe und schwieg.

„Also Sie waren es, der meinen ‚kleinen Fischer‘ gekauft hat!“ rief Andree während dessen lebhaft aus. „Ein Kommissionär hat mir’s damals vermittelt, und ich wußte nichts weiter, als daß das Bild nach Hambnrg gekommen sei. Wenn Ihre freundliche Einladung ebenso ehrlich gemeint ist wie Ihr Vergnügen, mich kennenzulernen, verehrter Herr, dann stelle ich mich gern und bald einmal bei Ihnen ein, denn ich möchte meinen pescatore wohl wiedersehen und ein wenig Umschau bei Ihnen halten, was Sie sonst noch haben!“

„Kommen Sie nur!“ rief Grimm vergnügt. „Und kommen Sie um fünf Uhr – da werden Sie doch zu Mittag gegessen haben, wie? Ich speise um zwei Uhr und halte dann gewöhnlich ein behagliches Schläfchen. Sie finden bei mir Blumen, Katzen und Bilder – eine gute Tasse Hamburger Mokka nicht zu vergessen, den meine alte Müller nach meiner Angabe brauen gelernt hat.“

„Vor allem finde ich doch Sie selbst!“ gab Andree zurück, dem Herr Grimm immer besser gefiel.

„Auf diese Einladung können Sie sich etwas einbilden, Herr Andree!“ warf Senator Brühl mit bittersüßem Lächeln dazwischen. „Es giebt wenig Leute, die zu dieser Ehre gelangen, und ich kenne manchen guten Mann in Hamburg, der sie für sich umsonst erstrebt!“

„Dann gefällt mir eben ‚der gute Mann in Hamburg‘ nicht, oder ich habe sonst meine Gründe, ihn nicht einzuladen. Im übrigen ist ja nicht viel bei mir zu holen für Leute, die nicht ihren ganz besondern Geschmack an Bildern, Katzen und Sonderlingen haben!“ Grimm sah bei diesen Worten den Senator mit einem ausdrucksvollen Blick seiner dunklen Augen an, der deutlich sagte: „Warum gehst Du denn nicht? Wir beide können Deine Gesellschaft ganz gut entbehren!“

Der Senator wäre entschieden nicht von selbst gegangen, wenn man ihn nicht geholt hätte. Aber ein Bedienter erschien im Auftrage seiner Gebieterin – Konsul White sei gekommen; so mußte sich der folgsame Gatte verabschieden.

„Konsul White? Ein bekannter Name!“ meinte Waldemar Andree nachdenklich. „Könnte es wohl derselbe sein, den ich mehrfach in Rom beim deutschen Botschafter getroffen habe? Damals hatte er Anwartschaft auf einen Konsulatsposten und besaß eine hübsche brünette Frau, die ich malte!“

„Die ist inzwischen gestorben, und er sieht sich nach der zweiten um!“ bemerkte Grimm trocken. „Diesmal soll sie nicht brünett sein! Immer vorausgesetzt, daß es derselbe Konsul White ist, den Sie meinen. Dieser hier ist lang und hager gerathen, trägt englische Bartkoleletten und einen Zwicker mit blaßblauen Gläsern, sieht aber vornehm aus.“

„Dann ist’s derselbe! Die Beschreibung paßt genau! Also Frau White ist gestorben? Das thut mir leid – ein so lebensfrisches junges Wesen! Was mag aus seinem kleinen Töchterchen geworden sein?“

„Das kann ich Ihnen nicht sagen. Hier im Hause interessiert sich niemand für kleine Töchterchen, es wird ihn daher auch keiner danach fragen!“

[692] „Hm!“ Andree sah seinen Nachbar, dessen Stimme einen eigenthümlichen Tonfall angenommen hatte, von der Seite an. „Und Konsul White bewirbt sich um die Tochter dieses Hauses?“

„Ja – er bewirbt sich!“

„Und hat auch Aussicht?“

„Das weiß ich wirklich nicht!“ Herr Grimm schaute ausdruckslos vor sich hin, und seine Stimme klang noch eigenthümlicher als vorhin. Andree hatte das sichere Gefühl, daß dem alten Herrn dies Thema unangenehm sei – warum mochte es ihm aber unangenehm sein?

Ein heller, feiner Glockenton gab jetzt das Zeichen zum Beginn des Soupers. „Wir werden wahrscheinlich weltenfern voneinander zu sitzen kommen!“ versetzte Grimm hastig und reichte dem Maler die Hand. „Aber ich sage: auf Wiedersehen! Wenn nicht heute und hier, dann bald in meiner Behausung. Ich habe Ihr Wort – Sie kommen?“

„Ich komme bestimmt!“ entgegnete Andree und begab sich auf die Suche nach der jungen Hamburgerin, der er gleich bei seinem Erscheinen vorgestellt worden war und die seine Nachbarin bei Tisch werden sollte. Ein junges Dämchen wie hundert andere! Ganz niedlich anzusehen, ganz wohl gewachsen, nicht entstellt durch häßliche Uebertreibungen der Mode, ganz freundlich im Wesen, weder eigenartig noch unterhaltend, aber auch ohne weitgehende Ansprüche an ihren Kavalier – ein Persönchen, wie man es alle Tage treffen konnte.

Nicht alle Tage konnte man dagegen dem verschwenderischen Luxus begegnen, der in Genüssen aller Art entfaltet wurde und ganz dazu angethan war, den verwöhntesten Geschmack zu befriedigen. Es gab ein ausgezeichnetes Souper, dazu die auserlesensten Weine, und ein vortrefflich geschultes Orchester spielte Stücke aus unsern besten Opern.

Nicht gewöhnlich war ferner das Gegenüber, dessen der Maler sich erfreute. Mitten in dieser Atmosphäre von Pracht und Glanz hob sich die schöne Tochter des Hauses in so einzigartiger Weise ab, daß die vielen andern sehr hübschen weiblichen Gesichter neben ihr gar nicht in Betracht kamen. Sie war eben unvergleichlich! Andree sah, wenn er sich ein klein wenig vorbeugte – und er that das oft, er mußte es thun! – über einer bizarr geformten Silberschale, die mit vielfarbigen Rosen angefüllt war, das weiche helle süße Gesicht aus dem blendend weißen Nacken auftauchen, als sei es mitten aus den Blumen hervorgewachsen. Satter Goldton lag auf dem herrlichen Haar – am Nacken schimmerte es wie flüssige Bronze, um die Schläfen wob es sich mit röthlichem Schein. Bei jeder Wendung des Köpfchens trieb der Kerzenglanz ein neues Spiel mit diesen wunderbaren Farbentönen, und die von dichten schwarzen Wimpern und Brauen umschatteten Augen strahlten in reinstem Blau – groß und freudig leuchtend, wohin immer sie blickten. „Licht! Licht!“ rief es in Andrees Herzen stets von neuem – er schaute sein Bild, sein neues Werk, das sein bestes, sein schönstes werden sollte, deutlich, handgreiflich vor sich, und dort vor ihm, nur wenige Schritte von ihm entfernt, saß die Göttin, die den treibenden Gedanken in ihm entzündet hatte!

Sie hatte Konsul White zum Nachbar, auf ihrer andern Seite den Prinzen, dem eine Generalstochter als Dame gegeben worden war, die sich augenscheinlich in sein melancholisches Gesicht verliebte. Ihn rührte das wenig, er hatte nur Auge und Ohr für Stella Brühl.

War Stella kokett? Andree hatte sich vorgenommen, das festzustellen, sie scharf zu beobachten – sie hatte sich ja gebunden, sie konnte sich nicht für frei halten, er wollte ein strenger Richter sein, wenn sie die Probe nicht bestand, die er ihrer Treue gegen Werner Troost stellte. Aber es gelang ihm nicht. Der Künstler sprach in ihm und ließ den Beobachter und gar den Richter nicht zu Wort kommen. Umsonst mühte er sich ab, zu prüfen, zu erwägen; seine Augen tranken durstig diese Schönheit in sich, sein ganzes Sein war in Aufruhr, er hätte sich’s eingestehen müssen, wenn er mit sich selbst hätte ins Gericht gehen können, daß es um ihn geschehen sei.

Und die Wogen des Festes gingen höher, Tischreden und Tusch und Bravorufe erklangen; Andree feierte eine lustige Wiedererkennungsscene mit Konsul White und wurde in ein allgemeines Gespräch gezogen, da man allerlei aus Rom von ihm zu hören wünschte. Er gab dem bereitwilig Folge und hatte es nicht acht, daß der Prinz des öfteren die Stirn runzelte und in seinen Champagnerkelch starrte. Seine Durchlaucht verdroß es, daß dieser Maler, ein Mann ohne Amt und Titel, hier das große Wort führte und daß Stella ihm so gern zuzuhören schien. Ja, das that sie entschieden! Immer häufiger tauchte ihr Gesichtchen aus den Rosen heraus, sie lachte ein paarmal herzlich auf und bemerkte unbefangen, gegen den Prinzen gewendet: „Herr Andree weiß so hübsch zu erzählen, ich sehe und höre ihn heute zum ersten Mal in meinem Leben, und doch erscheint er mir wie ein guter Bekannter!“

Darauf antwortete der Prinz ein sehr ausdrucksvolles: „In der That, meine Gnädigste!“ und legte den bittend traurigen Ausdruck einer tief verwundeten Seele in seine Augen, dem sobald kein Frauenherz widerstand, wie er aus vielfacher Erfahrung wußte. Aber dies Mädchenherz mußte mit siebenfachem Erz gepanzert sein, Stella behandelte ihn um kein Gran anders als alle übrigen Herren – was war es nur mit ihr?

Andree bemerkte wohl, daß die junge Schönheit den Prinzen mit Seelenruhe schmachten ließ, und dies konnte ihm um Werner Troosts Andenken willen nur lieb sein. Allein er dachte schon kaum mehr an Werner Troost. Ohne daß er es wollte oder sich dessen klar bewußt war, hatte er sich selbst an dessen Stelle gesetzt und freute sich der Thatsachen, die ihm gefielen, um seines eigenen Ich willen.

Das Souper war beendet, man stand vom Tische auf. Mit der Ungezwungenheit, die das lange Beieinandersitzen und der Genuß guter Weine entschuldigt und begünstigt, schüttelte man einander kameradschaftlich die Hand, oder wenn es eine besonders schöne oder liebe Hand war, dann küßte man sie auch. Und Waldemar Andree ließ seine Dame, die er an ihren Platz zurückgeführt hatte, mit einer hübschen Verbeugung stehen, eilte auf Stella Brühl zu und hob diese schöne Hand zu seinen heißen Lippen empor.

Schmetternde Walzerklänge, unwiderstehlich mitfortreißend in ihrem wiegenden Rhythmus, riefen in den Tanzsaal, – und Andree, der sich mit einem tiefen Seufzer des Bedauerns gestand, daß er ja nicht tanzen könne, schlenderte langsam in den Nebensaal, dann in ein daranstoßendes Gemach und von dort bis zum Wintergarten, der jetzt gänzlich vereinsamt war. Ließ er den Blick nach rechts schweifen, so gewahrte er durch die bis zur Wand zurückgeschobenen Thüren den bunten Wirbel der tanzenden Paare, links aber eine grüne, von blühenden Blumen durchflochtene Mauer, die den Eingang zum Wintergarten verdeckte.

Andree stand im Begriff, die blühende Wand zu umgehen, als er plötzlich lauschend stehen blieb. Es war ein Laut an sein Ohr gedrungen, ein langgezogener Seufzer, dem ein leises Schluchzen folgte. Befremdet sah er sich um: wer weinte hier in diesem Haus festlicher Freude? Vorsichtig auf den Fußspitzen näher schleichend, bog er um die Ecke und erblickte nun den Wintergarten vor sich, einen reizenden, ziemlich großen Raum – zierlich sich schlängelnde, mit feinem Sand bestreute Wege, hohe Boskette blühender Pflanzen, zu gefälligen Gruppen zusammengestellt, ernste Lorbeerbäume, Palmen und Agaven, dazwischen kleine silberfunkelnde Springbrunnen, aus zierlichen Becken emporsteigend, während farbige Lampen, in Gestalt von Tulpen, Lilien und Rosen aus dem Grün hervorschimmernd, ein sanftes buntes Licht ausstrahlten. Hier und da war aus einem Baumstamme, aus weißen Birkenästen ein hübsches Sitzplätzchen hergestellt, und in den Bosketten steckten zahlreiche lose Blumen und feine Früchte, welche die aufmerksamen Kavaliere hier für ihre Damen pflücken konnten.

Inmitten dieses malerischen Bildes, neben einem der Springbrunnen, stand ein dunkel gekleidetes Madchen, dem ein mächtiger brauner Zopf lang über den Rücken herabhing; es hatte das Gesicht in beide Hände gedrückt und weinte. –

Waldemar Andree wußte sofort, wer es war, und sein ohnehin erregtes Herz empfand halb Mitleid ha1b lächelnden Spott beim Anblick dieses kindischen Schmerzes, dessen Ursache er ohne Mühe errieth. Ohne sich weiter zu besinnen, that er ein paar auf dem weichen Sandboden unhörbare Schritte, legte seine Hand leicht auf das dicke Haar und sagte mit seiner tiefen treuherzigen Stimme:

„Wer wird denn so bitterlich weinen, Fräulein Gerda? Nur hübsch Geduld, unsere Zeit wird auch kommen und zwar bald!“

[710] Gerda war erschrocken zusammengezuckt, als sie die Berührung Andrees fühlte, und hatte eine rasche Bewegung zum Davonlaufen gemacht. Als sie aber erkannte, wen sie neben sich hatte, blieb sie stehen.

Ein verweintes Gesicht kann niemals hübsch sein, und dies hagere, lang in die Höhe geschossene, halbentwickelte Mädchen hatte ohnehin keine hübschen Züge. Ein schönes Bild bekam also Andree keineswegs zu sehen, aber die dick verschwollenen Augenlider, die Thränenspuren auf den Wangen und der wie bei einem Kinde hilflos zuckende Mund rührten ihn doch.

„Noch ein Jährchen oder höchstens zwei, und Sie fliegen dort“ – er machte eine Kopfbewegung nach rechts hinüber – „mit den andern jungen Damen um die Wette über das Parkett!“

Sie konnte zunächst noch nicht sprechen und schüttelte nur in heftiger stummer Verneinung den Kopf.

„Nicht? Sie meinen, nicht? Aber warum denn in aller Welt?“

Gerda hob ihre thränenschweren Augen zu ihm auf und sah ihn eine kleine Weile aufmerksam an, dann schüttelte sie von neuem den Kopf.

„Ich kann es Ihnen nicht sagen,“ kam es endlich stockend von ihren Lippen, und in der Stimme zitterte noch das Schluchzen nach, „Sie würden es mir nicht glauben, mich auch nicht verstehen. Allein es ist doch so: ich werde nie da drinnen tanzen!“

Er blickte sie an, in stummem Erstaunen über ihren leidenschaftlichen Ernst. „Und Sie tanzen gern, nicht wahr?“ fragte er endlich zögernd.

„Brennend gern!“ rief Gerda begeistert, und wie bei Kindern, die „Lachen und Weinen in einem Sack haben,“ brach jetzt ein strahlendes Lächeln um ihre Augen und Lippen hervor.

„Haben Sie denn Tanzstunde gehabt?“

„Jawohl, als kleines Mädchen! Damals, als Mama noch glaubte …“ Sie hielt inne.

„Nun?“ forschte er leise. „Was glaubte Ihre Mama damals?“

Sie freute sich im stillen an seiner sanften Art, mit ihr umzugehen, und an seiner angenehmen Stimme.

„Ich möchte es lieber nicht sagen, es würde häßlich klingen, und Sie würden schlecht von mir denken!“ Sie drehte hastig den Kopf. „Kommt auch niemand hierher? Dann müßte ich fort!“

Andree lachte gutmüthig. „Also ich bin für Sie niemand?“

Das Kind wurde etwas verlegen.

„Sie haben mich ja überrascht. Hätte ich gewußt, daß Sie mich fänden, dann wär’ ich weggelaufen!“

„Können Sie denn von hier etwas sehen?“

„O ja, das kann ich, ich habe sehr gute Augen. Kommen Sie einmal hierher; da, zwischen den Zweigen ist eine Lücke, ein richtiger Ausguck! Da hab’ ich durchgesehen, und die Musik hört man ja ganz deutlich. Hören Sie, jetzt tanzen sie Kreuzpolka!“

„Ist es denn auch vernünftig, daß Sie sich herschleichen, um sich das Herz schwer zu machen?“

„Nein, es ist dumm von mir!“ gab sie zu. „Aber ich konnte gar nicht anders! Sie werden niemand sagen, daß Sie mich hier fanden – nein? Denn sonst, die Schelte!“

„Gott bewahre!“ versicherte der Maler ernsthaft. „Das ist schon das zweite Geheimniß, das wir mit einander haben, Fräulein Gerda! Ich treffe Sie immer in kritischen Augenblicken an!“

„Richtig!“ Sie lachte kurz auf. „Neulich auf der Treppe, als ich die Jungen mit meinem Zopf schlug!“

„Ja, der schöne Zopf ist mir gleich aufgefallen.“

„Den finden Sie schön?“ gab sie verächtlich zurück. „Greulich ist er! Jeder reißt und zerrt an ihm herum, und es ist schauderhaft langweilig, ihn zu flechten; überall ist er mir im Weg, und aufstecken läßt er sich nicht, weil er zu schwer ist! Ich betrachte ihn als meinen persönlichen Feind. Sie sind ja ein Maler, schauen Sie ihn doch nur an!“ Sie holte den Zopf unwillig hervor und hielt ihn mit herausfordernder Miene vor Andree hin. „Wie das Ding aussieht! Kein bißchen lockig oder wellig – glatt wie ein Katzenschwanz! Und wie hübsch ist das immer in Romanen zu lesen: ‚ihr Haar leuchtete wie Gold‘, oder: ‚die Sonne streute Goldfunken auf ihr Haar!‘ Und es giebt solches Haar, ich brauche ja bloß meine Schwester Stella anzusehen, die hat es! Aber mein dummer Zopf – nichts! Sogar jetzt, wo soviel Licht von allen Seiten auf ihn fällt – ich kann ihn drehen, wie ich will: braun, nichts als langweiliges, stumpfes, gleichförmiges Braun! Ach!“ Sie warf die schwere Flechte ungeduldig weg, wie ein werthloses Ding, sodaß sich dieselbe auf dem Rücken hin- und herbewegte wie ein Perpendikel.

Andree belustigte sich nicht wenig über das zornige junge Fräulein.

„Also Sie lesen auch Romane?“ forschte er weiter.

„Natürlich! So oft ich dazu komme! Ich muß nur leider zuviel lernen.“

„Ist die Schule so anspruchsvoll?“

„Schule? Aber ich besuche ja gar keine.“ Ihre großen Augen maßen ihn verwundert, daß er das nicht wußte. „Ich werde ja mit Wolfgang privatim unterrichtet und lerne alles mit ihm, weil er allein gar nicht weiterkam und es auf dem Gymnasium erst recht nicht mit ihm ging!“

„Und da müssen Sie auch Lateinisch und Griechisch lernen?“

„Gewiß! Wir lesen den Ovid und Xenophon und dann den Homer!“

„Wirklich? Wie finden Sie die alten Griechen und Römer?“

„Scheußlich!“ sagte Gerda mit anerkennenswerther Offenheit. „Wir müssen uns greulich mit ihnen abquälen, namentlich Wolf, dem das Lernen der alten Sprachen so schwer wird – und wozu eigentlich?“

„Aber der Homer ist doch schön!“

„Ich würde ihn deutsch viel schöner finden. Wenn ich mir erst siebenundzwanzig Vokabeln aufsuchen muß, ehe ich einen Satz zusammenbekomme, dann ist mir der Sinn für die Schönheit schon lange verloren gegangen.“

Andree nickte; er konnte sich das denken, obgleich er selbst, für Sprachen ungewöhnlich gut beanlagt, seine Ilias und Odyssee mit großem Genuß auf der Schule gelesen hatte.

„Aber wer in aller Welt hat denn so über Sie verfügt?“ rief er in ehrlichem Erstaunen. „Ein junges Mädchen in Ihrem Alter hat doch andere Dinge zu thun, als den Xenophon zu studieren! Ihre Eltern müssen – –“

„Es sind nicht meine Eltern, die das bestimmt haben!“

„Nun, wer war es denn sonst?“ warf er unwillig dazwischen.

Sie schüttelte wieder den Kopf mit dem verschlossenen Gesichtsausdruck, den sie bei Beginn des Gesprächs gehabt hatte; dann warf sie trotzig die Lippen auf.

„Was hilft es alles? Zu ändern ist’s nicht, ich muß sehen, wie ich mich mit meinen Griechen und Römern abfinde! Erzählen Sie mir lieber ein bißchen von heute, Herr Andree! Wen hatten Sie zur Tischnachbarin?“

„Fräulein Lina Birkmann!“

„So, also die! Gefiel sie Ihnen?“

Andree lächelte. „Solch eine Gewissensfrage, Fräulein Gerda – –“

„Mir könnten Sie das ruhig sagen – aber wie Sie wollen! Wen hatten Sie denn zum Gegenüber?“

„Ihr Fräulein Schwester mit Herrn Konsul White!“

„Das ist der!“ Gerda deutete durch eine Geberde seine langen Bartkoteletten an. „War denn der Prinz nicht in der Nähe?“

„Gewiß, er saß rechts von Ihrem Fräulein Schwester!“

„Und Ritter Kuno?“

„Ihr schräg gegenüber!“

Gerda nickte. „Ganz wie ich es mir dachte!“ Sie schaute vor sich hin. „Und natürlich ist Stella wieder die Schönste!“

„Weitaus die Schönste!“ Er musterte aufmerksam das junge blasse Gesicht, das er vor sich hatte, um einen Zug zu entdecken, der an die schöne Schwester erinnern könnte.

„Geben Sie sich keine Mühe!“ sagte Gerda mit einem Lächeln, das merkwürdig gereift und überlegen aussah. „Ich gleiche ihr nicht im mindesten.“

„Haben Sie meine Gedanken sofort errathen?“ fragte er erstaunt.

„Natürlich! Ich sah es Ihnen am Gesicht an!“

Hier näherten sich Schritte und Gerda machte eine Bewegung, [711] um davonzulaufen. Zuvor jedoch spähte sie mit einem raschen Blick durch die Lücke in der Blumenwand und rief in erleichtertem Ton: „Ach, Gott sei Dank, es ist Onkel Grimm!“

„Ja, es ist Onkel Grimm!“ bestätigte der genannte Herr und bog um die blühende Mauer. „Merkwürdig, daß ich hier die beiden einzigen Menschen finden muß –“ er räusperte sich und verstummte, und Andree dachte für sich, hier sei offenbar der Platz für unvollendete Sätze.

„Also Du bist noch nicht zu Bett, Töchterlein!“ begann der weißhaarige Herr freundlich und strich mit seiner feinen Hand zärtlich über das braune Haar, das die Besitzerin eben noch so lieblos beurtheilt hatte.

„Nein, Onkelchen! Ich wollte hier noch heimlich ein bißchen zuschauen.“

Sofort, beim ersten Blick und Ton, hatte Waldemar begriffen, daß da ein vertrauliches, gutes Verhältniß herrsche, und er freute sich dessen.

Herrn Grimms kluge schwarze Augen waren von kleinen freundlichen Weingeisterchen belebt, sein Gesicht hübsch geröthet, seine Lippen umspielte ein vergnügliches Lächeln.

„Das Studium hier gefällt Dir wohl besser als das Deiner Wissenschaften? Sie müssen nämlich erfahren,“ – hier wandte er sich zu Andree – „daß dies Fräulein alte Sprachen treibt. Was lernen wir denn jetzt in der griechischen Grammatik?“

„Die Verba auf mi, Onkel Grimm, die schrecklichen Verba auf mi!“

„Aber das ist ja zu töricht!“ rief Andree eifrig. „Herr Grimm, Sie sind doch ein alter Freund der Familie, und der Herr des Hauses scheint besonderes Gewicht auf Ihr Urtheil zu legen. Was soll denn ein junges Mädchen in dieser Lebenslage, in diesen Verhältnissen sich abquälen mit den Verba auf mi und dem Ovid? Wenden Sie doch, bitte, Ihren Einfluß auf, um dem ein Ende zu machen!“

„Das kann ich leider nicht!“ Herr Grimm sah sehr ernst, fast bekümmert aus. „Der Einfluß, dem ich entgegenzuarbeiten hätte, ist weit stärker als der meine!“

„Und welcher wäre denn das?“

Die dunkeln Augen hefteten sich fest auf den Maler. „Sie werden ihn auch noch kennenlernen!“

In diesem Augenblick schwieg die Tanzmusik, wie durch Zauberschlag standen die Paare still, und einzelne Gruppen begannen, sich in die anstoßenden Gemächer zu verfügen.

„Adieu, Onkel!“ flüsterte Gerda hastig, als stehe jemand zwei Schritte vor ihr, um sie zu belauschen. „Ich komme sehr bald zu Ihnen! Adieu, Herr Andree!“ Sie reichte ihm die Hand und machte ihren ungeschickten Knix dazu; sie empfand ihre Unbeholfenheit sofort, und sie und Andree lachten einander ungezwungen ins Gesicht. „Grüßen Sie Hafis, Onkel!“ rief sie noch zurück, und dann war sie wie ein Schatten verschwunden.

„Das ist ja ein liebes Kind!“ sagte Andree und schaute hinter ihr her.

„Ganz recht, ein liebes Kind!“ betonte Herr Grimm nachdrücklich und nickte ein paarmal mit dem Kopfe.

Die beiden Herren traten aus dem Wintergarten heraus.

„Wer ist denn Hafis?“ fragte Andree im Weiterschreiten.

Ueber seines Begleiters Züge flog ein belustigtes Lächeln. „Sie werden ihn kennenlernen, wenn Sie mich besuchen. Sie sollen ihm vorgestellt werden!“




10.

Wenn es richtig ist, daß im Wein die Wahrheit ist, – und ich habe immer gefunden, daß es ein guter Spruch ist, der sich sehr oft im Leben bestätigt! – dann stand Herrn Hilt die Wahrheit nicht gut zu Gesicht. Er war ein ausgesprochener Feinschmecker und hatte sich herzlich wenig um seine Tischnachbarin gekümmert, die sein Schönheitsgefühl nicht im mindesten befriedigte, dagegen hatte er des Herrn Senator Brühl auserlesene Weine einer sorgfältigen und liebevollen Prüfung unterzogen, und das Ergebniß dieser Prüfung war nun, daß dasjenige, was als Firniß und Kulturprodukt an Herrn Hilts Wesen haftete, rasch, wie neuer Schnee an der Sonne, dahinschmolz und die unverfälschte Natur, das eigentliche Ich dieses Kunstjüngers zum Durchbruch kam.

Er hatte sich, nachdem die Tafel aufgehoben war, mit einigen andern Herren, die ungefähr gleichen Geistes waren, in eines der hübschen kleinen Seitengemächer „gerettet“, wie er es nannte, um nicht zum Tanzen gepreßt zu werden. „Denn um diesen Wahnwitz mitzumachen,“ verkündete er, „dazu ist mir jetzt das allerschönste Weib nur gerade gut genug, so zum Beispiel die Tochter des Hauses! Weil ich aber bemerkt habe, daß selbige schon beim Beginn dieses Festes nicht mal mehr für einen Prinzen von Geblüt einen Tanz übrig hatte, so halte ich dafür, meine Kräfte und Lungen lieber einer würdigeren Aufgabe zu widmen als der, wie ein Tollhäusler durch den Saal zu rasen und Staub und Hitze einzuathmen. Prosit, meine Herren! Die göttliche Stella Brühl soll leben!“

Man kann nicht anders sagen, als daß die Herren dieser Aufforderung mit Begeisterung entsprachen. Der Gegenstand verlangte es gebieterisch und der „Stoff“ dazu. Ein paar vielversprechend aussehende Flaschen standen auf einem mit Mosaik eingelegten Tisch vor ihnen, und der Bediente hatte ihnen auf ihren Wunsch verschiedene Sorten Gläser zurechtgestellt. Wer konnte alten Bordeaux aus einem Römer und Rüdesheimer Auslese aus einem Champagnerkelch trinken!

„Wunderbar schön ist sie, es hält sich keine neben ihr!“ rief ein junger Mann mit einer auffallend in die Höhe gestülpten Nase und dünnen röthlichen Haaren. „Die duldet keine andern Götter neben sich, aber ihre Eltern wissen auch, was sie an ihr haben! Kaum hat sie Koppay für ein gehöriges Stück Geld in Pastell gezeichnet, da soll sie schon wieder gemalt werden; der Vater hat es mir verrathen, es stehe noch nicht ganz fest, sei aber große Wahrscheinlichkeit!“

„Stella – malen?“ fragte Kuno von Tillenbach aufgeregt dazwischen. Er hatte sich der Gesellschaft angeschlossen, nicht weil er noch mehr Wein trinken wollte, sondern dem unbestreitbaren Umstand zufolge, daß er im Tanzsaal eine traurige Figur spielte. „Wer soll sie malen? Sagen Sie es doch, Leskow! Für wen denn? Wer soll es – das Bild – ich meine, wenn es ein Bild wirklich wird – –“

„Ich fürchte, für Sie wird es nicht bestimmt sein, Kuno, selbst wenn es ein Bild wirklich wird!“ entgegnete Leskow mit großem Ernst und entfesselte damit ein dröhnendes Gelächter, während dessen sich der junge Ritter von Tillenbach rathlos und eingeschüchtert nach allen Seiten umsah. „Soweit ging die väterliche Beichte überhaupt nicht, daß sie mir gleich den beglückten Empfänger bezeichnete. Ich erfuhr nur, daß der Maler ein gewisser Andree sein soll, übrigens ein bekannter Name, kommt aus Rom, hat da namhafte Bilder geleistet –“

„Und dürfte mit dem fraglichen Gegenstand merkwürdig vertraut sein!“ warf Hilt dazwischen und goß den Sekt in langem Zuge hinunter.

„Andree? Ist das der auffallend große brünette Mann, der mit Grimm zusammen stand?“ fragte jemad, aber Leskow rief nur ein ungeduldiges: „Ja, derselbe!“ und wandte sich gleich wieder zu Hilt: „Warum merkwürdig vertraut? Der Mann kommt frisch von Italien herauf und hat die schöne Stella bisher mit keinem Auge gesehen!“

„So? Auch gut!“ sagte Hilt langsam und holte sich eine frische Flasche herüber. „Wer’s glauben will, der kann es ja glauben!“

„Aber was machen Sie denn für’n verrücktes Gesicht dazu!“ rief der junge Barckwitz – großes Exportgeschäft, Barckwitz und Sohn – über den Tisch herüber.

„Barckwitz hat an Ihnen ein verrücktes Gesicht bemerkt!“ meinte Leskow bedächtig. „Das ist gravierend! Dahinter steckt irgend etwas! Erzählen Sie einmal, Hilt!“

„Ja, natürlich!“ – „Er weiß etwas!“ – „Unsinn, er thut bloß so, und es ist nichts damit, ich kenne ihn!“ – „Nein, er hat was in petto, ich kenne ihn auch!“ – „Also los, Hilt, wir warten!“

Hilt leckte sich die Lippen, blickte mit seinen weingetrübten Augen im Kreise umher und witterte mit erhobenem Kopf in die Luft. Er erzählte für sein Leben gern ein kleines pikantes Geschichtchen, und dies war doch immerhin der Mühe werth, zumal er selbst nicht einmal den Zusammenhang kannte! Und war denn Andree sein Freund? Was heißt Freund? Hatte er überhaupt einen solchen? Für unsern „vernünftigen“ Hilt war das Wort „Freundschaft“ gleichbedeutend mit dem „Hainbund“, mit romantisch schwärmenden Jünglingen, die unter ihren Sammetröcken [712] und weißen Jabots Ideale im Busen trugen. Er, wie er da war, trug andere Dinge als Ideale in seinem Busen! Andree hatte ihm ein paar hundert Mark geborgt, das war alles! Hätte er sie nicht besessen, hätte er sie ihm nicht leihen können! Daß er dies that, war ja gut, aber Hilt würde auch Geld hergeben, wenn er es einmal daliegen hätte – es verbot sich bei ihm nur von selbst! –

„Ja – also, wie legen Sie sich das zurecht: ein Mensch, der soweit einen ganz rechtschaffenen Eindruck macht, betheuert in starken Ausdrücken, sogar auf Ehre und Gewissen, eine junge Dame, die eine berühmte Schönheit ist, nie zuvor in seinem Leben gesehen zu haben, die Schönheit bestätigt das, und dabei hat besagter Mensch von besagter Schönheit eine sprechend ähnliche Büste in seinem Gasthofzimmer aufgestellt, woselbst sie ein glaubwürdiger Augenzeuge erblickt hat!“

Es blieb ein Weilchen still in dem aus etwa sieben bis acht Herren bestehenden Kreise, alle hatten die Köpfe vorgeneigt, als lauschten sie noch, ein paar starrten tiefsinnig in ihr Glas, wie wenn sie von dort her die Lösung dieser merkwürdigen Begebenheit erwarteten, einer schüttelte ungläubig den Kopf – auf einmal sprachen sie alle durcheinander.

„Das kingt doch wie’n Märchen!“ – „Ja, ich bitte Sie, wo soll er denn das Ding her haben?“ – „Er bildhauert am Ende meuchlings selber.“ – „Der Kerl verdient auch, ausgehauen zu werden, was kann der von diesem Besitzthum für ’nen perfiden Gebrauch machen!“ – „Der glaubwürdige Augenzeuge wird sich geirrt haben!“ – „Unsinn! Das ist gänzlich ausgeschlossen! ’s giebt keine zwei Stella Brühls!“ – „Ob die schöne Stella das weiß?“ – „Eigentlich müßte sie’s erfahren, sie oder der Herr Papa, die Geschichte kann unangenehme Folgen haben!“ – „Erlauben Sie mal, so eine Büste –“

Hilt schnitt mit der Hand, wie wenn sie ein Messer wäre, mehrmals durch die Luft, um sich Ruhe zu verschaffen. Anfangs erfolglos. Jeder wollte seine Meinung abgeben, die weinerhitzten Gemüther waren in Aufruhr. Nur Kuno von Tillenbach, der bloß halb begriffen hatte, um was es sich handelte, starrte aus seinen wässerigen Augen von einem der Redenden zum andern, bis ihm sein Nebenmann derb aufs Knie schlug, daß er entsetzt zusammenfuhr: „Kuno,“ (sie nannten ihn alle bei seinem Taufnamen, auch die, welche ihn nur wenig kannten) „so sagen Sie doch auch ein Wort! So’n Kapitalmensch wie Sie muß doch eine schwerwiegende Meinung besitzen!“

Kuno grinste verlegen, die andern lachten, gingen aber sogleich wieder auf den Vorfall über: „Erfahren muß sie es!“ – „Nein, das hat keinen Sinn!“ – „Jawohl!“ – „Wer wird hingehen und es der Familie erzählen? Etwa Sie, Barckwitz?“ – „So laßt doch Hilt reden!“

„Ja, ich hätte noch einiges zu sagen!“ Der kleine Maler hob seine schrille Stimme im Eifer mehr und mehr. „Die Glaubwürdigkeit des Augenzeugen also unterliegt keinem Zweifel. Das betreffende Subjekt hat Augen wie ein Falke und hat mit eben diesen Augen die schöne Stella hundertmal gesehen. Verwechslung unmöglich! Leskow hat recht: es giebt keine zweite Stella Brühl! Ob sie es erfahren muß oder nicht, das kann man später entscheiden, zuerst handelt sich’s, meine ich, darum, Andree zur Verantwortung zu ziehen, und wer soll nun das übernehmen?“

„Immer wer fragt!“ gab Barckwitz kaltblütig zur Antwort und zog sich eine Weinflasche heran, um die Etikette genau zu prüfen. „Sie haben ja die ganze Geschichte eingerührt, Hilt, Sie kennen den glaubwürdigen Zeugen, also müssen Sie auch den Missethäter greifen!“

Hilt sah etwas verdutzt und unbehaglich aus.

„Das kann ich nicht!“ entgegnete er rasch. „Andree ist ja mein Freund!“

Dieses verspätete und jedenfalls unerwartete Bekenntniß rief allgemeine Heiterkeit hervor. Leskow klopfte Hilt auf die Schulter mit den Worten: „Bravo, Sie gefallen mir! Das nenne ich nobel!“ und die übrigen Herren äußerten sich ähnlich. Die Entscheidung sollte aber nicht von ihnen ausgehen.

Niemand von der kleinen stürmisch rathschlagenden Gesellschaft hatte darauf acht gegeben, daß ein schlanker feingebauter Herr [713] einen Augenblick im Rahmen der Thür gestanden und sich dann auf dem dicken Teppich unhörbar näher bewegt hatte. Ganz nahe, dicht bis hinter Hilt war er gekommen und stand nun hinter diesem, unbeweglich wie eine Statue, und hörte zu. Der junge Ritter Kuno war der einzige, der ihn nach einer Weile bemerkte, allein wie sollte seine schüchterne Stimme in dem Tumult durchdringen, und an wen hätte er sich wenden sollen, da alles durcheinandersprach, lachte, stritt und eiferte?

Als Hilt sich zu seiner „Freundschaft“ mit Andree bekannte, ging ein verächtliches Lächeln über das schmale hübsche Gesicht des stummen Zuhörers, und als wieder eine einzelne Stimme laut wurde und fragte: „Ja, wer könnte eine so heikle Aufgabe übernehmen?“ da ertönte plötzlich hinter dem Sprecher die Antwort: „Hätten die Herren vielleicht die Güte, dieselbe mir zu überlassen?“

Alle Köpfe fuhren erstaunt herum, Hilt schnellte von seinem Stuhl empor und stotterte betroffen: „Durchlaucht – haben gehört?“

„Ich konnte nicht umhin, dies Zimmer gehört doch zu den Gesellschaftsräumen, und ich wünschte, mich ein wenig zurückzuziehen, da ich es satt hatte, dem Tanz zuzusehen. So mußte ich alles mit anhören und ich blieb stehen, da mich der Gegenstand interessierte und da er zudem in einer Gesellschaft von“ – sein Auge überflog die kleine Versammlung – „von acht Köpfen verhandelt wurde, von denen ich jetzt der neunte bin. Sollte jemand der Herren nicht wissen, wer ich bin: Prinz Riantzew!“

Er machte eine kurze, aber nicht unhöfliche Verbeugung und wartete, ob ihm jemand etwas entgegnen würde.

Die Herren waren vorläuflg noch zu überrascht, um das zu thun. Hilt, der Aristokratenhasser und Volksfreund, stand immer noch vor seinem verlassenen Sitz in einer Haltung, die man nicht anders als respektvoll nennen konnte, eine Thatsache, die er späterhin stets rundweg leugnete. Wenn auch hier im Wein die Wahrheit steckte, dann war Hilt ein verkappter Fürstendiener ersten Ranges!

„Ich bin noch fremd im Hause,“ nahm der Prinz von neuem das Wort, als er sah, daß niemand ihm antwortete, „und einige der Herren stehen, ich bezweifle es nicht, der Familie Brühl bei weitem näher als ich. Wenn ich dennoch in dieser Angelegenheit die erste Rolle übernehmen möchte, so würde ich mich auf den Umstand zu berufen haben, daß ich als Offizier und Edelmann schon zahlreiche Ehrenhändel der allerverschiedensten Art ausgefochten habe, daß ich daher in derartigen Angelegenheiten eine nicht zu unterschätzende Uebung besitze. Auch sonst … ich hätte noch einen weiteren Grund, den in Rede stehenden Herrn zu interpellieren, doch wünsche ich diesen Grund als einen von durchaus privater Natur zu verschweigen. Außer Herrn – Herrn – Verzeihung! – der Name ist mir entfallen –“

„Hilt!“ schob der Maler mit einer unterthänigen Verbeugung ein.

„Ich danke! Also außer Herrn Hilt, der ja selbst jedes persönliche Eingreifen in die betreffende Angelegenheit abgelehnt hat, ist wohl unter den anwesenden Herren niemand da, der sich des fraglichen Gegenstandes annehmen möchte?“

Nein, es war wirklich niemand da! Einer sah den andern an, aber der andere sah weg oder that so, als ginge ihn der Blick nichts an. Keiner von ihnen kannte den Maler Andree anders als von Ansehen, und im übrigen hatten sie alle nicht Lust, um nichts und wieder nichts mit ihm anzubinden, zumal ihnen der „glaubwürdige Zeuge”, den Hilt erwähnt hatte, ganz fremd war.

Der junge Barckwitz ermannte sich endlich und theilte im Namen der übrigen Herren, die durch undeutliches aber beifälliges Gemurmel ihre Zustimmung gaben, dem Prinzen mit, daß niemand aus der kleinen Versammlung etwas dagegen zu sagen habe, wenn Seine Durchlaucht den Maler Andree darüber zur Rede stelle, wie er wohl dazu komme, die Büste der schönen Stella Brühl mit sich herumzuführen und dabei auf seine Ehre und sein Gewissen zu behaupten, er habe das junge Mädchen nie zuvor in seinem Leben kennengelernt.

Darauf dankte der Prinz der kleinen Versammlung im allgemeinen und dem jungen Herrn Barckwitz im besondern mit einigen höflichen, [714] freilich etwas ironisch gefärbten Worten für die ehrenvolle Erlaubniß, die man ihm ertheilt habe, und bat sich Herrn Maler Hilt als Begleitung aus, um die Angelegenheit sofort ins Reine zu bringen.

Herrn Maler Hilt war nicht ganz behaglich zu Muthe. Die Nebel des Weines waren plötzlich von ihm gewichen, er fühlte sich ernüchtert, und es freute ihn gar nicht, von dem Prinzen als unerläßliche Begleitung herangezogen zu werden. Er wünschte jetzt, er hätte lieber geschwiegen, und verwünschte den Kitzel, der ihn zum Schwatzen angetrieben hatte. Er vergegenwärtigte sich Andrees ruhiges ernsthaftes Gesicht, und es wurde ihm schwül zu Sinn. Aber nun half es ihm nichts, daß er sich im stillen ein nichtsnutziges Plappermaul nannte, er mußte essen, was er sich eingerührt hatte, und dem Prinzen folgen, der mit elastischem Gang, sich leicht in den Hüften wiegend, ihm voranschritt und jetzt, da sie mitten durch die Gesellschaft hindurch mußten, sich mit einer sehr hochmüthigen Kopfwendung nach ihm umsah, etwa wie wenn ein Fürst sich überzeugen will, ob sein Bedienter auch hinter ihm ist, da er den Menschen doch nun ’mal braucht. Es trug auch nichts zur Erheiterung des kleinen Malers bei, daß Leskow, Barckwitz und noch ein paar andere Zeugen des Vorfalls so von ungefähr mit ihnen gingen, aus erbärmlicher Neugier natürlich, um zu erfahren, wie denn eigentlich diese komische Geschichte ausgehen werde.

Andree hatte eine Weile dem Tanz zugesehen, aber es war ihm nicht wohl dabei gewesen. Jenes seltsame, unerklärliche und doch ganz unabweisbare Gefühl, das ihn schon an der Tafel überfallen hatte, packte ihn jetzt von neuem mit doppelter Gewalt, das Gefühl nämlich, als gehöre diese schöne Stella Brühl, die da vor seinen Augen aus einem Arm in den andern überging und sich von hundert verliebten und bewundernden Blicken anschmachten ließ, ihm und nur ihm allein, als habe er ein ganz bestimmtes Anrecht auf sie, vermöge seiner Kunst, der sie das herrlichste Motiv geliehen, das jemals seiner Phantasie entsprungen war; es war ihm, als müsse er den ganzen überlästigen Schwarm von ihr wegscheuchen, um sich allein seines kostbaren Besitzes zu freuen. Und weil er das nicht konnte, sondern verdammt war, unthätig zuzuschauen, wie Scharen von profan gesinnten Leuten sein Ideal umgaben, um auf ihre Art Kultus mit ihm zu treiben, darum machte ihm das farbenreiche Bild, das da vor ihm war, keine Freude, und er stand mit finstern Augen auf der Seite und war verstimmt. So fand ihn Herr Grimm, der inzwischen von einigen andern Herren in Anspruch genommen worden war, und weil ihm Andree gefiel, gesellte er sich zu ihm und verwickelte ihn in ein Gespräch über moderne Malerei und über das, was die römischen Künstler in der letzten Zeit darin geleistet hatten.

Andree, der fand, daß er viel klüger daran thue, mit dem liebenswürdigen Manne zu plaudern, als seinem machtlosen Aerger nachzuhängen, wandte seine verlangenden Augen von der tanzenden Gestalt im blau schimmernden Kleide ab, sah Herrn Grimm an und erzählte ihm vom römischen Künstlerleben.

So kam es, daß Prinz Riantzew, als er mit seinem kleinen Gefolge bei Andree anlangte, die beiden Herren im eifrigsten Gespräch fand. In der Meinung, der Prinz wolle an ihm vorbeigehen, trat der Maler höflich zur Seite, allein die Durchlaucht machte plötzlich kehrt, drehte sich scharf auf den Hacken herum und sagte in nachlässigem Ton: „Herr Andree, wenn ich nicht irre?“

Der Angeredete gab durch eine leichte Verbeugung zu erkennen, daß der Prinz sich in der That nicht irre.

„Würden Sie mir eine kurze Unterredung unter sechs Augen gestatten?“ fuhr Riantzew fort. „Herr Hilt muß schon dabei sein, ich bedarf seiner.“

Andree blickte erstaunt auf, antwortete aber ruhig: „Ich stehe zur Verfügung. Sie verzeihen, Herr Grimm!“

Er schüttelte diesem die Hand und wandte sich wieder zu dem Prinzen. „Wohin wünschen Sie, mein Prinz?“

„O,“ sagte dieser in derselben lässigen Weise, „Sie sind mit den Räumen des Hauses entschieden besser vertraut als ich!“

„Bedaure, nicht dienen zu können. Ich bin heute zum ersten Mal hier.“

Ein malitiöses Lächeln erschien auf dem Gesicht des Prinzen und blieb darauf haften. Ihm war Andree gleich vom ersten Augenblick zuwider gewesen, solch große ruhige Menschen, die so sicher auftreten, konnte er nicht leiden; nun freute er sich sehr, daß sich ihm Gelegenheit bot, diesem bürgerlichen Herrn die Ruhe und Sicherheit zu verleiden.

„In der That! Zum ersten Mal hier?“ wiederholte er spöttisch. „Nun denn, lassen wir den Zufall walten! Irgendwo wird sich ja in diesen vielen Räumen ein stiller Winkel finden lassen, dort zum Beispiel, wie?“

Er trat in ein kleines, durch einen Thürvorhang von den übrigen Gemächern nur halb geschiedenes Seitenkabinett, das bloß diesen einzigen Ausgang zeigte und mit zierlichen Sesseln und Polstern aus pfaublauem und tiefgoldigem Plüsch kokett ausgestattet war.

Andree, dem der Ton des Prinzen nicht gefiel und der vorläufig für die ganze Sache keine Auslegung fand, folgte dem Voranschreitenden und stand stumm, in abwartender Haltung, da.

„Ich bin zufällig heute abend in die Lage gekommen, zu vernehmen,“ begann der Prinz, die Hand leicht auf ein kleines Tischchen stützend, in hochfahrendem Ton, „daß Sie, mein Herr Andree, aufs entschiedenste geäußert haben, wie soeben auch mir gegenüber, Sie hätten jetzt zum ersten Mal in Ihrem Leben das Haus des Herrn Senator Brühl betreten und seine Tochter, Fräulein Stella Brühl, früher nie gesehen. Sie wollen angeblich direkt aus Rom kommen.“

Der Prinz ärgerte sich innerlich über zweierlei. Erstlich, daß er nicht ganz und gar „von oben herab“ sprechen konnte, wie er es gern gethan hätte – aber Andree war beträchtlich größer als er selbst, sodaß im Gegentheil er, Prinz Riantzew, zu seinem Gegner emporschauen mußte, was ihm ganz widersinnig erschien, … zweitens, daß dieser bürgerliche Maler gar keine Unruhe oder Besorgniß blicken ließ, sondern so gleichmüthig vor ihm stand, in so korrekter Haltung, daß der Prinz wider Willen denken mußte: „Da steckt Rasse darin! Seine Mutter muß eine Adlige gewesen sein!“ Hierin irrte er sich freilich, denn Waldemars Mutter war die Tochter eines Tapetenhändlers aus Frankfurt am Main und aus reinstem Bürgergeschlecht, allein seine Wahrnehmungen sonst trafen doch zu und waren geeignet, die Stimmung des jungen Kavaliers etwas zu trüben.

„Das sind unanfechtbare Thatsachen,“ entgegnete Andree, unwillkürlich in denselben hochfahrenden Ton verfallend, „und ich bin jederzeit bereit, sie zu vertreten, auch Ihnen gegenüber, obgleich ich Ihnen das Recht zu dieser Interpellation bestreiten muß. Ich komme nicht ‚angeblich‘ aus Rom, sondern ich habe mich dort und sonst in Italien mehr als vier Jahre ohne Unterbrechung aufgehalten. Ich habe die Stadt Hamburg vor nunmehr zwölf Tagen, dieses Haus, in dem wir uns befinden, am vergangenen Mittwoch, behufs eines Besuchs, zum ersten Mal in meinem Leben betreten. Den Insassen dieses Hauses, Herrn Senator Brühl, seiner Frau Gemahlin und seinem ältesten Fräulein Tochter, bin ich am heutigen Abend zum ersten Male persönlich begegnet, da sie bei meinem Besuche nicht anwesend waren, – daß ich die Herrschaften einmal flüchtig auf der Straße gesehen habe, kann man, wie mir gewiß jedermann zugeben wird, doch keine persönliche Begegnung nennen!“

„Keinesfalls!“ Der Prinz lächelte. „Man hat sie Ihnen auf der Straße gezeigt, nicht wahr? Oder waren Sie allein?“

Waldemar überkam ein gewisses Unbehagen, dennoch antwortete er ohne zu zögern:

„Ich war allein, und man hat sie mir nicht gezeigt!“

„Sie gestatten mir dann wohl, zu fragen,“ sagte der Prinz ganz sanft, denn nun kam er seinem Ziel immer näher, „wie es Ihnen möglich war, die betreffenden Persönlichkeiten zu erkennen, da Sie ihnen noch nie zuvor begegnet waren?“

„Ich hatte ein –“ Andree zauderte etwas – „ein Bildniß von Fräulein Stella Brühl gesehen, und ich habe einen geübten Blick und ein treues Gedächtniß!“

„Natürlich – ohne Zweifel! Beides gehört ja zu einem namhaften Künstler!“ Der Aristokrat verneigte sich höflich. „Und vollends zu einem so vielseitig begabten,“ fuhr er fort, „denn außer Ihrer Malkunst pflegen Sie ja auch mit Erfolg die Bildhauerei.“

„Ich?“ fragte Andree erstaunt. „Sie thun mir zuviel Ehre an, mein Prinz! Ich habe nie in meinem Leben einen Meißel oder ein Zahneisen in der Hand gehabt!“

„Sie sind mit solchen Versicherungen überaus freigebig, Herr Andree, dies ‚nie in meinem Leben‘ spielt bei Ihnen eine große Rolle. Wenn man Ihnen das glauben soll –“

„Ganz entschieden soll man mir das glauben!“ Des Malers hohe Gestalt schien noch höher zu wachsen. „Es giebt ja wohl noch einige Mittel, vermöge deren man andere, seien sie, wer sie immer seien, zwingend überzeugen kann, daran zu glauben!“

[715] „Wenn man Ihnen das glauben soll,“ wiederholte der Prinz, den dies „wer sie immer seien“ stark entrüstete, „dann muß man sich fragen, wie es zugeht, daß Sie, der Sie kein Bildhauer sind und weder Meißel noch Zahneisen jemals angerührt haben, die Marmorbüste einer jungen Dame mit sich führen und in Ihrem Gasthofzimmer aufstellen – einer jungen Dame, welche die halbe Bevölkerung dieser Stadt als eine berühmte Schönheit kennt, die Sie aber behaupten, nie zuvor in Ihrem Leben gesehen und erst am heutigen Abend persönlich kennengelernt zu haben!“

Andree drehte sich rasch herum und maß mit einem sprechenden Blick „Freund“ Hilt, der sich so klein wie irgend möglich machte und ein an der Wand hängendes, trefflich gemaltes Fruchtstück mit einer Hingebung studierte, als wäre er noch der ehemalige eifrige Spezialist für Stillleben. Deutlich genug stand in dem Blick zu lesen: „Ich habe Dich immer für ein ziemlich erbärmliches Subjekt gehalten, und das bestätigt sich jetzt glänzend!“ Hilt mochte etwas Aehnliches herausfinden, denn er warf den Kopf zurück und sagte mit herausfordernder Stimme:

„Nun? was siehst Du mich denn so an? Ist es etwa nicht wahr? Kannst Du die Thatsache leugnen, daß Du von dem schönsten Mädchen in ganz Hamburg eine Marmorbüste im Besitz hast und mit Dir führst?“

„Nein,“ erwiderte Andree ruhig, „ich leugne es nicht – und da jedenfalls Du mich denunziert hast –“

„Denunziert?“ fiel der kleine Maler heftig ein. „Das ist ein Wort –“

„Such’ Dir ein besseres, wenn Dir’s nicht gefällt, ich finde kein anderes und will auch kein anderes finden. Da es nun einmal geschehen ist, voraussichtlich noch dazu in einem größeren Kreise,“ – der Prinz nickte bestätigend – „so bin ich allerdings Rechenschaft über die Art und Weise schuldig, auf welche ich in den Besitz dieses Kunstwerks gekommen bin. Nicht aber Dir oder denjenigen, die Deine Erzählung mit anhörten, auch Ihnen nicht, Prinz Riantzew, gebührt diese Rechenschaft, sondern nur der Einen, die zu meinem tiefsten Bedauern in diese Angelegenheit ohne jede Schuld ihrerseits verflochten ist und von etwaigen unangenehmen und peinlichen Folgen derselben betroffen werden kann. Ich hätte ihr und nur ihr den Zusammenhang der Dinge ohnehin berichtet, nur jetzt noch nicht, und ich beklage es bitter, daß es nunmehr sofort sein muß. Wie die Sachen liegen, wird sie auch Andern einen Einblick in Verhältnisse gestatten müssen, die ihr alleiniges Eigenthum bleiben sollten. Wenn Sie, mein Prinz, wie ich nicht zweifle, gekommen waren, um von mir eine Aufklärung der Thatsachen zu verlangen, die Sie naturgemäß nicht aneinanderzureihen vermochten, und wenn Sie an diese Ihre Forderung eine andere zu knüpfen gewillt waren, so antworte ich Ihnen hierauf: ich bin zu beidem bereit, nachdem ich eine private Unterredung mit Fräulein Stella Brühl, die allem übrigen vorangehen muß, beendet haben werde. Sobald die junge Dame bis morgen abend, sagen wir um acht Uhr, Ihnen keinerlei Nachricht zukommen läßt, stehe ich zu Ihrer und zu jedes einzelnen Verfügung, der mich über die betreffende Angelegenheit zu befragen wünscht. Ich hoffe bestimmt, morgen zwischen drei und fünf Uhr ein ungestörtes Gespräch mit der jungen Dame erreichen zu können – im übrigen bin ich im Hotel ‚Hamburger Hof‘ zu finden!“

Damit wiederholte Andree seine stattliche Verbeugung vor dem Prinzen und zögerte noch ein paar Sekunden, wie wenn er dem andern Zeit geben wolle, noch etwas zu sagen.

Zu seinem großen Aerger fand aber der Prinz dies „etwas“ nicht. Was hätte es auch sein sollen? Der Maler hatte die geheimnißvolle Geschichte klargelegt, so gut es eben anging – das heißt, er hatte die Entscheidung in erster Linie in die Hand der kompromittierten jungen Dame gelegt, und dagegen war vorläufig nichts einzuwenden. Sodann hatte er sich bereit erklärt, jedem gegenüber mit seiner eigenen Persönlichkeit einzutreten, und dies war wiederum eine ganz korrekte Handlungsweise. Der Prinz erwiderte daher nur in etwas steifem Ton: „Schön! Es sei so, wie Sie sagen!“ und trat zurück, innerlich mehr denn je erstaunt über die vornehme Haltung dieses Mannes. Der Prinz bedachte nicht, daß ein sicheres Insichberuhen und eine vollkommene Unbefangenheit, zwei hervorstechende Eigenschaften Andrees, jeden Menschen zu einem Aristokraten des Geistes stempeln und ihn von eigenen Gnaden souverän sein lassen.

Der Künstler wandte sich dann zu Hilt und sagte gelassen: „Du hast Dich mir gegenüber sehr unkollegialisch und taktlos benommen, als Du hinter meinem Rücken Fremden eine Mittheilung machtest, die vollste Diskretion, zum mindesten eine vorhergehende Erörterung unter uns beiden erforderte. Ich habe Dich einen Denunzianten genannt, und ich kann den Ausdruck nicht zurücknehmen, ja ich muß ihn noch verschärfen, wenn Du mich nicht angesichts Seiner Durchlaucht und der übrigen Herren, die Zeugen Deiner Auseinandersetzungen gewesen sind, um Entschuldigung bitten willst!“

Hilt versuchte der Sache einen jovialen Anstrich zu geben, indem er Andree gemüthlich auf den Arm kopfte – die Schulter war ihm zu hoch! – und über das ganze Gesicht lachte. Im Gegensatz zu vielen andern Menschen stand ihm das Lachen sehr schlecht, es kam nichts von wirklichem Humor dabei zum Vorschein. Alle Züge seines Gesichts zerrten sich auseinander wie Kautschuk, tausend Fältchen traten hervor, und um den Mund bildete sich ein häßliches Grinsen.

„Aber ums Himmelswillen, alter Sohn, mach’ doch keine Geschichten! Aus mir sprachen die famosen Weine des Herrn Senators, drum ist mir die Zunge ein bißchen weggelaufen! Hand her – und alles wieder ins Reine bringen! Bei unserer alten, guten Freundschaft …“

„Ich wüßte nichts von ihr!“ unterbrach ihn Andree trocken. „Ich habe weder früher in München noch hier in Hamburg jemals danach gestrebt, und auf meiner Forderung muß ich bestehen!“

„Du bist ungemüthlich! Wo in aller Welt soll ich denn jetzt die betreffenden Herren zusammenbringen? Ich wette, sie haben sich in alle acht oder zehn Räume verstreut –“

„Und ich wette, sie sind in einem einzigen Raume hier in unserer unmittelbaren Nähe zusammengeblieben, um zu sehen, wie die Sache ausläuft!“ entgegnete Waldemar kaltblütig. „Hole sie nur her, wir warten! Seine Durchlaucht ist gewiß so gütig, mir noch eine Minute zu schenken!“

Aus Hilts Antlitz war jede Spur eines Lächelns geschwunden, als er sich mit zusammengezogenen Brauen, hinter denen seine bösen kleinen Augen beinahe verschwanden, nach seinen Zuhörern von vorhin umsah. Lange zu suchen brauchte er übrigens nicht, Andree hatte recht gehabt: sie standen im Nebenzimmer, zu einer anscheinend zufälligen und zwanglosen Gruppe vereinigt, aber offenbar auf der Lauer, um rechtzeitig den Erfolg des kleinen Dramas zu erfahren. Sehr bereitwillig folgten sie alle Hilts Aufforderung, ihn in das kleine Seitenkabinett zu begleiten, und beim Eintreten stieß Barckwitz, der unter den letzten war, den jungen Leskow mit dem Ellbogen an und raunte ihm zu. „Du, dieser Andree sieht nicht nach Spaß aus – paß’ auf, Hilt muß zu Kreuz kriechen, geschieht dem feigen Schandmaul schon recht!“

„Die Herren wollen verzeihen, daß ich Ihre Anwesenheit hier für einen Augenblick beanspruche!“ sagte Andree in verbindlichem Ton. „Herr Hilt hat Ihnen eine Erklärung abzugeben!“

Der kleine Maler sah, nach Leskows späterem Vergleich, wie ein Affe aus, der unversehens in eine Citrone gebissen hat – dazu trat er von einem Fuß auf den andern.

„Hm! Es ist – hm! – eine fatale, peinliche Geschichte – hm! – meines Erachtens brauchte man nicht dies Aufheben davon zu machen – indessen – der Geist des Weines – ein unbedachtes Wort – Herr Andree wünscht, daß ich dieses unbedachte Wort zurücknehme – daß ich um Entschuldigung bitte, eine Angelegenheit, die man – hm! – hätte zarter anfassen müssen, zur allgemeinen Kenntniß gebracht zu haben – und so bitte ich denn, angesichts des kleinen Kreises, der meine Erzählung mit angehört hat, Herrn Andree hiermit um – hm! – Entschuldigung!“

Die Herren hörten diese Rede, im Halbkreise um den Sprecher aufgestellt, in feierlichem Schweigen an und neigten dann ihre Häupter zum Zeichen des Einverständnisses. Kuno Ritter von Tillenbach war ganz überwältigt von der Erhabenheit dieses Vorgangs, er fühlte den dunklen Drang, irgend etwas zu thun, und stürzte plötzlich auf Hilt los, um dessen Hand in offenbarer Bewegung zu drücken und zu schütteln, was einen so unwiderstehlich komischen Eindruck machte, daß Barckwitz sich vor unterdrücktem Lachen schüttelte und auch um Andrees Lippen unter dem starken Schnurrbart ein verrätherisches Zucken sichtbar wurde.

Er dankte den Herren mit ein paar freundlichen Worten und begab sich zurück in den anstoßenden Saal, wo man ihn gleich darauf seine Unterhaltung mit Herrn Grimm so ruhig wieder aufnehmen sah, als sei inzwischen nicht das mindeste vorgefallen.

[725]
11.

Noch war der April Herr im Lande, wenn auch ein kaum geduldeter. Der Mai stand vor der Thür und hielt Blüthenschnee und Blättergrün und zahllose Blumen bereit – heute aber spielte sein Vorgänger im Reich noch zuguterletzt den Hamburgern einen kuriosen Tanz auf.

Oder war’s nicht kurios, wenn am Himmel schweres schwarzgraues Gewölk stand, so dicht und dunkel, daß man denken mußte, es könne gar nicht mehr Tag werden und man müsse am Ende jetzt, um die dritte Nachmittagsstunde, die Lampen anzünden? Und wenn dann Regenschauer niederprasselten, wuchtig und stark, [726] daß die Gossen übertraten und die Dachrinnen gar nicht fertig werden konnten, die dicken, trüben Wasserstrahlen gurgelnd und schäumend herauszusprudeln? War’s nicht kurios, wie es dann zwischen den griesgrämlichen Wolken hervordämmerte als mattes gelbliches Licht und heller wurde und zu leuchten anhob gleich blassem Gold, und wie mit einem Male die Sonne durchbrach und Himmelsblau mitbrachte, gesättigtes dunkles Himmelsblau, das sich im nassen Pflaster wiederspiegelte und im Verein mit der Sonne die Menschen zu fragen schien: „Aber was habt Ihr denn alle? Fort mit euren feuchten Schirmen und Regenröcken und ärgerlichen Gesichtern! So lacht doch und freut euch – ich thu’s ja auch! Frühling ist es, warmer, gesegneter Frühling!“ –

Sie konnte in der ganzen alten Hansestadt kein schöneres Menschenkind überstrahlen, die Lenzsonne, als Stella Brühl, die leichtfüßig die Treppe vom oberen Stockwerke heruntergelaufen kam, um sich in Papas Empfangszimmer zu verfügen. Ihr eigenes Empfangszimmer gefiel ihr plötzlich nicht mehr, sie hatte da von etwas ganz besonderem gehört und gelesen, was ihr besser zusagte und ihr die bisherige luxuriöse Einrichtung nichtssagend und gewöhnlich erscheinen ließ – und etwas ganz besonderes mußte sie, die doch selbst außergewöhnlich war, allemal zuerst haben. Wo das Geld zu diesen prachtvollen Seltsamkeiten herkam, darüber machte sie sich keine Gedanken; aber daraus konnte ihr auch niemand einen Vorwurf machen. Hätte sie ihr junges, glänzendes Dasein noch so scharf und prüfend überdacht, sie hätte sich keines einzigen Anlasses entsinnen können, bei welchem ihr gesagt worden wäre: „Das kannst Du nicht haben, das ist zu theuer!“

Auf den untersten Stufen der langen Treppe stieß die junge Dame auf ihre Schwester Gerda, die mit ihren Schulheften unter dem Arme gerade im Begriffe war, aufwärts zu steigen. Das Backfischchen sah sehr mißvergnügt aus, und sein Gesichtsausdruck erheiterte sich beim Anblick der schönen Schwester keineswegs. Gerda hatte die Nacht sehr schlecht geschlafen, sie hatte immerfort geglaubt, die Tanzmusik zu hören – was in ihrem Zimmer schlechterdings unmöglich war – und sich allerlei Scenen ausgemalt, die sich im Ballsaal zutragen konnten. Früh morgens hatte sie dann nüchtern eine Menge halbzerflossenes Eis und Konfitüren genossen, was ihr natürlich schlecht bekommen war. Sie war auf allerlei Umwegen mit Wolfgang durch das Fenster der Vorrathsstube geklettert und hatte sich dort gütlich gethan, ehe Frau Willmers, die gestrenge, von ihrem „Dienst“ bei der Prinzessin frei war. Gerda wußte, daß man ihr gutwillig nichts von all den übrig gebliebenen Herrlichkeiten geben würde, da sie sich gestern geweigert hatte, den Eltern und Stella gute Nacht zu sagen. Der „weibliche Minister des Innern“, Frau Willmers, hatte den Raub später entdeckt und die Missethäterin heftig ausgescholten, aber an Tadel war Gerda ja gewöhnt – hatte sie doch ihren Zweck erreicht. Nur hatte sich jetzt als Folge der Genüsse in der Frühe ein böses Magendrücken eingestellt, und außerdem war sie schlecht zur Geschichtsstunde vorbereitet, der österreichisch-spanische Erbfolgekrieg lag ihr ebenso schwer im Magen wie das Ananaseis und die Fruchtpasten.

Sie trug ein graues Wollkleid, aus dem sie herausgewachsen war – Stella in ihrem tiefrothen Sammetkostüm, das einen Theil des wundervollen Halses und der weißen Arme frei ließ, sah wirklich wie eine Prinzessin neben ihr aus.

„Fleißig lernen, Gerda?“ fragte sie, indem sie stehen blieb und die jüngere Schwester freundlich anblickte. Sie war immer sehr freundlich gegen ihre Geschwister, und wer Zeuge davon war, fand es unausstehlich von diesen, daß sie das bezaubernde Geschöpf nicht liebhatten. Neid ohne Zweifel!

„Ja!“ entgegnete der Backfisch kurz und sah auf seine mageren Hände herab, welche die Bücher umschlossen hielten.

„Du hast Dich ja gestern im Wintergarten so lange mit Herrn Andree unterhalten,“ fuhr Stella lächelnd fort, „hat er Dir gut gefallen?“

Gerda hätte ihre Schwester fragen können, woher sie dies wisse, unterließ es aber. Sie hatte es schon zu oft erlebt – die Prinzessin hörte von allem, was im Hause vorging, ihr blieb nicht das Geringste verborgen, und die jüngeren Geschwister waren untereinander einig, daß Frau Willmers bezahlte Spione in ihrem Sold habe, die ihr jede Kleinigkeit hinterbrächten.

„Ach – nein – warum soll er mir denn gefallen?“ erwiderte Gerda mürrisch, sie wußte schon, daß die schöne Schwester ihr unerbittlich alles verleidete, was ihr wohlgefiel. Zum Unglück konnte sie es aber nicht hindern, daß sie erröthete, als Andrees Name so plötzlich genannt wurde, denn der Maler hatte auf Gemüth und Phantasie dieses vernachlässigten Kindes in der That einen starken Eindruck gemacht.

Stella bemerke das Erröthen recht wohl und schaute noch freundlicher drein.

„Nun, wir haben doch Augen im Kopf, und Herr Andree sieht ja gut aus! Er wird mich malen, und jetzt hat er mich um eine private Unterredung bitten lassen – in einer kleinen halben Stunde wird er hier sein. Das sieht alles ein wenig verfänglich und bedenklich aus. Was kann es wohl zu bedeuten haben, Gerda – wie?“

Gerda bewegte sich unbeholfen hin und her.

„Daß er sich in Dich verliebt hat, wie’s allen geht!“ gab sie in schroffem Tone zur Antwort.

„O – Du meinst? Verliebt! Was sich solch ein Kindskopf alles denkt! Verliebt! Es wird wohl so sein, wie Deine junge Weisheit annimmt. Und – ob ich mich nun wieder in ihn verlieben soll?“

Sie lachte, daß alle ihre Perlzähnchen sichtbar wurden, lachte silberhell und reizend. Gerda war dunkelroth geworden und hatte all ihre Hefte und Bücher auf die Treppenstufen fallen lassen. Sie bückte sich tief und sammelte die „übersichtlichen Tabellen“ und den „Leitfaden für mittlere und neuere Geschichte“ zornig vom Boden auf.

„Nun, sei nur hübsch artig und lerne gut, mein Kindchen!“ schloß Stella und klopfte dem jungen Fräulein liebkosend die Wange.

So rasch wie Wolfgang am Abend zuvor zuckte Gerda zurück und lief im Sturmschritt die Treppe empor. Unterwegs riß sie ihr Taschentuch heraus und rieb sich derb die eben gestreichelte Wange. Dem ihrer harrenden Lehrer, einem tüchtigen älteren Philologen, zeigte sie ein sehr ungnädiges Gesicht und nicht das mindeste Interesse für den österreichisch-spanischen Erbfolgekrieg.

Leise vor sich hinsummend, schritt unterdessen Stella die letzten Stufen hinab und begab sich in ihres Vaters Empfangszimmer, das der Dekorateur so gediegen mit Büsten, Bildern und Bücherborden angefüllt hatte, als wurzelten die Neigungen des Herrn Senator Brühl allesammt in klassischem Boden.

Die schöne Stella setzte sich in einen Sessel von gepreßtem Leder, dessen hohe Lehne ihr Köpfchen sehr weit überragte, und dachte nach. Was konnte Andree von ihr wollen? Daß er in sie verliebt war, glaubte sie schon, sie hatte es der „Kleinen“ gegenüber noch nachdrücklicher betont, weil sie zu ihrem großen innerlichen Ergötzen wahrgenommen hatte, daß diese sich darüber ärgerte – aber der Zweck dieser heutigen Unterredung mußte ein anderer sein! Der Maler hatte sie zuweilen so seltsam ernst angesehen, und als er sie um die Zusammenkunft bat, in Gegenwart ihrer Mutter freilich, aber mit dem Zusatz, er müsse um die besondere Gunst bitten, Fräulein Brühl allein zu sprechen, da er im Auftrag anderer die äußerste Diskretion zu beobachten habe – da hatten seine tiefliegenden blauen Augen einen eigenthümlichen Schimmer gezeigt – war es eine Thräne gewesen? Stella wußte es nicht recht zu sagen, aber daß seine Mittheilung keine erfreuliche sein würde, das wußte sie! – Wenn doch dies alles nur nicht irgendwie mit Werner Troost zusammenhängen würde! Stella hatte allen Grund, mit dem gestrigen Abend und mit ihren Aussichten für die Zukunft zufrieden zu sein! Der Prinz war im Verlauf der Stunden wirklich immer „kleiner“ geworden, jemehr sie ihn ganz höflich und obenhin, wie jeden beliebigen andern Courmacher, behandelte. Sein großherrliches Gehaben hatte bedeutend nachgelassen, ihre Behandlung war die richtige gewesen, und aus dem herablassenden Bewunderer würde ein feuriger Bewerber werden, das stand so ziemlich fest. Sie wollte ihn gehörig hinhalten und schmachten lassen, denn einmal war dieses Spiel überaus unterhaltend, und dann gefiel ihr auch Andree gut – diese Art männlicher Geschlossenheit war ihr so ziemlich neu – ein bedeutender Künstler sollte er ja auch sein … Die schöne Stella wäre ungemein guter Laune gewesen, wenn ihr nicht immer wieder der Gedanke an Werner Troost all diese erfreulichen Zukunftsbilder gestört hätte.

Was war ihr nur damals gewesen, als sie sich mit diesem unbekannten jungen Menschen heimlich verlobte? Freilich stand [727] sie noch nicht auf ihrer jetzigen Höhe, sie war eben erst aus dem Pensionskleidchen geschlüpft und galt noch nicht für die erste Schönheit von ganz Hamburg. Was für Triumphe hatte sie inzwischen gefeiert, in welcher Fluth von Huldigungen und anbetenden Lobpreisungen hatte sie sich berauschen können! Und richtig – er war ein schöner Jüngling gewesen, und in seinem glühenden Vergöttern und Werben, in dem schwärmerischen Kultus, den er mit ihrer Schönheit trieb, hatte ein fortreißender Zug gelegen, dem schwer zu widerstehen war. Ja, sie mußte sich’s klar machen: auf ihre Art war sie damals auch in Werner Troost verliebt, und weil sie dies war und ein blutjunges unerfahrenes Kind dazu, so hatte sie sich in der That eingebildet, er könne nach Rom gehen und dort im Handumdrehen berühmt und reich werden und mit großen Schätzen, den unsterblichen Lorbeer um die schöne Stirn, alsbald vor ihren Vater hintreten, sich sein Kleinod im Sturm erobern und es in ein glänzendes Künstlerheim mit einem Atelier à la Makart einführen, wo die gesammte große Welt verkehrte.

Aber dann, als die Sache so lange, so endlos lange zu dauern versprach und seine Aktenstücke von Briefen fast nur Liebesbetheuerungen und hier und da prächtige Schilderungen von Rom und seinem dortigen Leben enthielten – dann, als der Ruhm und der Reichthum nicht wie ein Lorbeer- und Goldregen auf ihn herabstürzte, sondern Schritt für Schritt mit Mühe und Arbeit errungen werden wollte – dann war in der langen Trennung das rasche Feuer erkaltet, und da besann sie sich denn nicht lange mehr und schrieb ihm das alles. Er solle ihr nicht zürnen, aber sie habe sich selbst und ihr eigenes Herz nicht gekannt, und auch für ihn, den jungen aufstrebenden Künstler, sei es viel besser, wenn ihn nicht die Bande eines heimlichen Verlöbnisses fesselten, der Genius müsse sich frei emporschwingen können … und was der schönen Phrasen mehr waren, mit denen sie sich über ihr erkaltetes Gefühl hinwegzulügen suchte. Sie betonte ausdrücklich immer aufs neue, daß sie keinen andern liebe, daß aber Papa ganz besondere Pläne mit ihr verfolge und daß es für sie immer schwerer werde, dieselben zu durchkreuzen; vollends unmöglich sei es ihr, diese Pläne durch ein offenes Eingeständniß ihres geheimen Liebesbundes zu vernichten – das wäre ein Todesstoß für Papa und Mama, und diese gütigen Eltern, von denen sie täglich und stündlich mit Liebesbeweisen überschüttet werde, hätten es wahrlich nicht um sie verdient, daß sie ihnen einen so herzbrechenden Kummer bereite. Er, Werner Troost, solle gut, solle groß sein und sie nicht weiter bestürmen und anflehen, sie sei ja nur ein schwaches Mädchen, er aber ein Mann voll Energie und Willenskraft, der ihr tragen helfen müsse, was gekommen sei!

Diesen Brief, der in seiner Art ein kleines Kunstwerk war, hatte Stella Brühl vor ein paar Wochen an Werner Troosts römische Adresse gesandt, aber zu ihrer großen Verwunderung bis heute keine Zeile Antwort erhalten. War er verreist – war der Brief verloren gegangen – oder kam Werner gar in seinem leidenschaftlichen Zorn und Schmerz in Person hierher nach Hamburg, um ihr zu sagen, daß er sie nie und nimmer aufgeben könne?

Sie hatte den letzteren Gedanken schon mehrmals gehabt und stets mit demselben Erschrecken, sie hatte ihn auch jetzt wieder und fragte sich ziemlich rathlos, was sie dann wohl thun würde. Abbrechen – das jedenfalls, daran war kein Zweifel; das Gleiche mündlich wiederholen, was in ihrem Brief gestanden hatte … nur daß es bei dem jäh auflodernden Temperament des jungen Mannes fast unmöglich sein würde, eine Aussprache zustande zu bringen. Es mußte eine fürchterliche Scene abgeben, ach, und die schöne lächelnde Stella Brühl konnte solche Scenen nicht leiden!

Vielleicht hatte er sich gar ein Leid angethan, und sein Freund kam, es ihr zu sagen – es stieg ihr heiß in die Wangen und ihr Herzschlag ging rascher. Sah sie erregt aus? Sie stand auf und blickte in den Spiegel, aber über ihrem blüthenfrischen Gesicht lag nur ein leiser rosiger Hauch, und ihre herrlichen Augen erstrahlten in dunkelster Bläue. Ein liebliches Lächeln ging über ihre Züge, als sie, langsam und tief athmend, zu ihrem Sessel zurückschritt.

Es klopfte an die Thür, und Pierre meldete Herrn Andree.

Das ernste, mit dunkeln Eichenvertäfelungen ausgestattete Gemach schwamm in satten goldenen Farbentönen, welche die Sonne, die jetzt siegreich durchgebrochen war, verschwenderisch darüber ausgoß. In diesem wunderbaren Licht stand auch die Gestalt im rothen Sammetkleide mit dem Tizianhaar, und bei einer leichten Bewegung ihres Köpfchens flimmerte es um dies Haar wie eine röthliche von springenden Goldfünkchen durchsetzte Wolke.

In Andree schlug es wie eine Flamme empor. Seine ganze Schönheitsbegeisterung wachte in ihm auf, bannte ihm den Blick – er preßte die Hände fest zusammen, er hätte den Pinsel ergreifen mögen und sie malen, hätte immer wieder dies Wunder auf die Leinwand stellen mögen, um sie so hoch zu heben, wie es ihr zukam, und seiner eigenen Kunst die höchste Aufgabe zu stellen, die das Leben ihm bisher geboten. Er hatte mit wachen Augen geträumt von diesem Gesicht, aber er hatte die strahlende Königin eines Ballsaales vor sich gesehen, und jetzt stand ein befangenes Mädchen mit fragendem Blick, mit süßem Lächeln vor ihm, und er sollte ihr ein Herzeleid anthun! Dieser Gedanke verschlang zunächst alles andere! Er hatte sich unterwegs eine Einleitung zu dem Gespräch ausgedacht, jetzt wußte er kein einziges Wort mehr davon – sie war da, und er sollte ihr weh thun!

„Versprechen Sie mir,“ begann er bewegt und faßte ihre Hand und küßte sie, „versprechen Sie mir, es nicht mich entgelten zu lassen, wenn ich Ihnen einen Schmerz bereiten muß. Gott weiß es – ich leide selbst dabei, ich leide mehr, als Sie ahnen!“

Er war wie ausgetauscht; er, der sonst bedächtig, fast pedantisch seine Rede erwog, sich sorgsam prüfte und eher ein Wort zu wenig als eines zu viel gab, er ließ sich jetzt durch sein Empfinden gänzlich aus der Bahn reißen, ließ Form und Etikette außer acht; er ging gerade auf sein Ziel los und stellte doch sich selbst und sein persönliches Gefühl in den Vordergrund. Er ließ die willenlose weiche Kinderhand, die er gefaßt hatte, nicht los – er hielt sie fest in seinen beiden Händen, und seine Augen sahen mit flehendem Bitten nieder auf das junge Geschöpf, das vor ihm stand. Stella ihrerseits fand, er mache sich sehr vortheilhaft in diesem Augenblick, und das wußte sie nun gewiß: welche Nachricht immer ihr dieser Mann überbringen würde – ihn, den Boten, hatte sie in ihrer Gewalt! Sie senkte ihre langen Wimpern und sagte:

„Ich will es versuchen, die Person von der Sache zu trennen. Sie sind mir fremd –“

„O, daß ich es bin!“ fiel er in erregtem Ton ein. „Daß ich Sie nicht kenne – lange schon – nicht Ihr Vertrauen, Ihre Freundschaft erwerben konnte, Sie nicht als mein –“

Er verstummte plötzlich. Sein Eigenthum, sein Ideal hatte er sie nennen wollen … aber die rasche Aufwallung war vorüber; er sah wieder, wo er war, besann sich, daß es sich zunächst nicht um ihn selbst handeln durfte, und wurde wieder der ruhige formgewandte Mann, den der begeisterte Künstler soeben aus dem Geleise geworfen hatte.

„Ich fürchte, ich muß Ihnen seltsam erscheinen, bitte, verzeihen Sie es mir!“ Damit führte er Stella zu ihrem Sessel zurück. Sie ließ sich langsam auf ihren Sitz niedergleiten.

„Sie wissen vielleicht schon, meine Gnädigste, daß ich in vergangener Nacht auf Ihrem Fest ein kleines Rencontre mit einem Ihrer Gäste, dem Prinzen Riantzew, hatte?“

„Man hat mir davon gesagt!“

„Ist Ihnen auch die Ursache dieses – dieses Meinungsaustausches bekannt?“

„Das nicht. Man hat mir nur berichtet, Riantzew sei durch Zufall zu einer Gruppe von Herren getreten, die auf eine ihm mißfällige Art über einen Gegenstand gesprochen hätten, welcher dem Prinzen eine andere Auffassung zu beanspruchen schien, weshalb er die Herren oder einen derselben zur Rechenschaft zog. Welch ein Gegenstand es war, weiß ich nicht!“

„Die Sache verhält sich ein wenig anders, gnädiges Fräulein! Der Prinz zog keinen von den versammelten Herren zur Rechenschaft, sondern mich, der ich mich nicht unter ihnen befand. Und zwar that er dies auf eine indiskrete Bemerkung hin, die einer jener Herren zum besten gab. Man behauptete nämlich, ich hätte eine Unwahrheit ausgesprochen, als ich versicherte, zum ersten Mal in Hamburg zu sein und in diesem Hause zu verkehren.“

Ihre Augen fixierten ihn aufmerksam. „Und warum sollte das eine Unwahrheit gewesen sein?“

„Weil“ – er zauderte einen Augenblick – „weil man zufällig, gegen meinen Willen, davon Kenntniß bekommen hatte, daß ich mich im Besitz eines Kunstwerkes befinde, das jene Behauptung von mir allerdings sehr – fragwürdig erscheinen läßt. Dies [728] Kunstwerk, das ich hierher nach Hamburg mitgebracht habe und das ein unberufener Zeuge in meinem Zimmer entdeckt haben muß, ist eine Porträtbüste in Marmor, eine sprechend ähnliche Porträtbüste von Ihnen, mein gnädiges Fräulein!“

Stella stützte sich mit beiden Händen auf die Seitenlehnen ihres Sessels, und so hob sie sich, wie mit einer Kraftanstrengung, langsam empor. Auch Andree war aufgestanden – die nächsten Fragen mußten die Entscheidung bringen. Er sah, er wußte, was sie ihn zunachst fragen wollte, und er kam ihr zuvor.

„Nicht ich bin es gewesen, der diese Büste angefertigt hat. Ich habe gestern den Herren gesagt, daß ich nie in meinem Leben einen Meißel angerührt habe, und ich bin bereit, das mit einem Eid zu bekräftigen!“

Sie machte eine leicht abwehrende Bewegung.

„Also?“

„Also war es selbstverständlich ein anderer, der dieses Kunstwerk hergestellt hat, jemand, der jeden Zug Ihres Antlitzes genau kannte – jemand, der Ihnen sehr nahe gestanden hat.“

Sie sahen einander in die Augen und sie wußten, daß sie sich verstanden. Andree erschrak, als er den letzten Satz ausgesprochen hatte, über sein Wort, „jemand, der Ihnen nahe gestanden hat“. Konnte sie begriffen haben, warum er die Vergangenheit betonte?

Sie senkte ihr Köpfchen wie eine Blume, über die ein kalter Wind hinfährt – eine Bewegung, die ihn tief rührte. Er konnte freilich nicht wissen, daß es Schuldbewußtsein war, was dies schöne Haupt beugte, denn Stella, die seine Betonung der vergangenen Zeit nur zu gut bemerkt hatte, konnte nicht anders denken, als Andree habe Kenntniß davon, daß sie ihr Verlöbniß mit Werner Troost gelöst habe.

Es blieb eine kleine Weile still in dem hohen sonnendurchflutheten Zimmer, man vernahm deutlich das Vorfahren eines Wagens auf der kiesbestreuten Auffahrt und hörte eine laute Stimme – die des Herrn Senators – dem Kutscher Weisungen ertheilen.

Endlich blickte sie wieder zu ihm auf, hilflose Verwirrung in den Zügen; dieser Ausdruck machte ihn sehr unsicher. War sie im klaren oder war sie noch ganz ahnungslos?

„Darf ich den Namen desjenigen aussprechen, der sein bestes Können, seine ganze Seele in dieses Werk gelegt hat?“ fragte Andree zuletzt, seine tiefe Stimme vorsichtig dämpfend.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß seinen Namen.“ Dann, mit einem tiefen Aufathmen: „Er ist Ihr Freund?“

„Mein bester Freund!“ Andree sprach tonlos, nein, sie ahnte noch nichts.

„Und er hat Ihnen diese Marmorbüste gegeben?“

„Ja!“

„Wann hat er das gethan?“

„Zu Ende März. Am fünfundzwanzigsten März!“

Ein leises Aufseufzen kam zitternd von ihren Lippen – am Anfang des April erst hatte sie jenen Brief geschrieben, Werner hatte also damals noch keine Ahnung von ihrer Umwandlung haben können. Wie aber war es zugegangen, daß er sich von seiner Schöpfung, die sein bestes Können darthat, in die er seine ganze Seele gelegt hatte – sie glaubte das aufs Wort! – freiwillig hatte trennen können? Wollte er sie ihr durch seinen Freund senden, um ihr zu beweisen, welche Stufe sein Schaffen schon erreicht habe? Vielleicht! Aber inzwischen – ihr Brief! Er mußte ja ihren Brief erhalten haben!

„Sie sind ganz rathlos … Sie können sich den Zusammenhang nicht erklären … ich sehe!“ Andree drückte sie sanft in den Sessel zurück, er selbst blieb stehen. Er suchte nach Worten, es fiel ihm dies und das ein, er verwarf es wieder. Welch eine Aufgabe! Es mußte keine Notiz von dem Unglücksfall in die deutschen Zeitungen gekommen sein, und wenn auch – Namen waren wohl nicht genannt, und sie hatte vielleicht nicht einmal den Namen des Palazzo gewußt, den er mit seinen Werken schmücken sollte. Und dann – dies junge verwöhnte Geschöpf nahm gewiß nie eine Zeitung in die Hand, es hatte anderes zu thun, als trockene Berichte zu lesen.

„Die Büste … wie mein Freund Werner Troost dazu kam, sie mir zu geben – nehmen Sie an, er sei heftig erkrankt, er habe gefürchtet, zu sterben, es sei – es sei – eine Art Vermächtniß gewesen –“ Andree hielt inne, weil ihm die Stimme versagte.

„Heftig erkrankt – und Sie hätten Ihren besten Freund verlassen?“ Sie sah ihn ungläubig an.

„Ich konnte ihm nicht helfen mit all meiner Freundschaft – er brauchte mich nicht mehr –“

Jetzt kam Verständniß in die schönen rathlosen Augen, aber sie füllten sich nicht mit Thränen, nur der Athem kam und ging beschleunigter.

„Tot?“ hauchte sie endlich leise, und Andree neigte stumm das Haupt; er wagte es nicht, sie anzusehen, er wagte nicht, zu sprechen.

Stella Brühl versuchte währenddessen, sich zu sammeln, aber es gelang ihr schwer; sie hatte nur eine Empfindung: „Das ist eine Lösung – Du hast Dir eine Lösung gewünscht: da hast Du sie! Du wolltest frei sein, und nun bist Du frei!“ Sie wollte sich bemühen, an etwas anderes zu denken, nach der Ursache seines Todes, nach der Dauer seiner Krankheit zu fragen, aber sie mußte wider ihren Willen auf die Stimme lauschen, die unaufhörlich in ihr sagte: „Du wolltest frei sein, und nun bist Du frei!“ Sie konnte sich das zahllose Male wiederholen, denn Andree blieb unbeweglich und sprach nicht. Endlich that er es doch.

„Bei dem Bau der Casa Bortenyi – Sie wissen ohne Zweifel, daß er die Skulpturen dort übernommen hatte“ – Stella entsann sich nicht, aber sie nickte mechanisch – „bei dem Bau der Casa Bortenyi also in der Via Sardegna geschah ein Unglück: man hatte den Palazzo zu rasch und leicht gebaut, die Grundmauern, zu flüchtig angelegt, konnten die gewaltigen Lasten, die man ihnen zu tragen gab, nicht aushalten, der Palazzo stürzte zusammen.“

Eine Pause; das schöne Menschenbild vor ihm hörte unbeweglich zu.

„Unter denen, die man aus den Trümmern hervorzog“, sprach der Maler mit mühsam errungener Fassung weiter, „war auch er, noch lebend, äußerlich fast unversehrt, aber mit schweren inneren Verletzungen. Ich bin zu ihm geeilt, als ich das erste Wort von seinem Unglück hörte, und ich bin bei ihm geblieben, bis er starb. Der Tod trat rasch ein. Er hat nicht viel gelitten. Ehe er die Besinnung verlor, hat er mich in sein Verhältniß zu Ihnen eingeweiht, – damals das erste Wort, so befreundet wir waren! – und hat mir die Büste übergeben, damit ich Sie Ihnen bringe. Außer mir ahnt kein Mensch etwas von Ihrem Verlöbniß, und ich weiß ein Geheimniß zu bewahren. Am fünfundzwanzigsten März ist er gestorben, und drei Tage später haben wir ihn auf dem Friedhof der Protestanten in Rom, am Fuß der Pyramide des Cestius, beerdigt. Ich bin dann nur noch wenige Tage in Rom geblieben und danach, mit einem kurzen Aufenthalt in einer und der andern deutschen Stadt, hierher gereist. – – Wollen Sie dem Prinzen Riantzew in wenigen Zeilen sagen, daß ich Ihnen die Marmorbüste, die man bei mir gesehen hat, im Auftrag eines inzwischen verstorbenen Freundes, eines sehr begabten Bildhauers, überbringen sollte, daß diese Büste noch heute in den Besitz der rechtmäßigen Eigenthümerin übergehen soll, daß ich Sie selbst aber zuvor sprechen und mir Ihr Einverständniß mit meinem Vorgehen sichern mußte. Wer mich fragt, soll von mir erfahren, daß diese Porträtbüste von Ihnen, mein Fräulein, selbst gewünscht, hier in Hamburg entworfen und später in Rom ausgeführt worden ist. Wollen Sie auch Ihre Eltern von dieser Auffassung verständigen?“

Andree versuchte, frei aufzuathmen, wie jemand, der eine schwere Aufgabe hinter sich hat, aber er konnte nur tief seufzen. Seine Hände bebten und es fror ihn innerlich, trotz des warmen Sonnenscheins. Er hatte mit eintöniger Stimme gesprochen, unverwandt auf einen Punkt neben dem Fenster starrend, als lese er von da die Erzählung herunter, er hatte die Thatsachen trocken aneinandergereiht, ohne auf Einzelheiten einzugehen, ohne ein einziges Mal sein persönliches Empfinden zu berühren. Ihm war, als spreche ein zweiter Mensch aus ihm heraus, der mit seinem eigentlichen Ich gar nichts zu schaffen habe, und immer wieder mußte er denken: „Wie muß es ihr ums Herz sein! Sie wird es Dich entgelten lassen, daß Du es gerade warst, der ihr diese Unglücksbotschaft bringen mußte! Sie wird Dich nicht mehr wiedersehen wollen – wiedersehen können!“ Und bei diesem Gedanken erfüllte ihn ein solcher Schmerz, daß es ihm vor den Augen dunkelte, daß es ihm war, als drohe ihm jemand die Sonne fortzunehmen. –

Er wartete darauf, daß sie endlich etwas sage, und wenn [730] es nur ein paar Worte wären, aber sie saß regungslos und hörte auf die Stimme: „Du wolltest frei sein, und nun bist Du frei!“ Draußen hörte man die Treppe – das Zimmer lag daneben – unter einem langsamen gewichtigen Tritt knarren, denn man hatte die Teppiche nach dem gestrigen Fest fortgenommen; das war der Geschichtsprofessor, der oben ihren Geschwistern die Stunde gegeben hatte; gleich darauf stürmte es in flüchtigen Sätzen herunter, immer zwei, drei Stufen auf einmal nehmend, das waren Gerda und Wolfgang, die dem Schul- und Stundenzwang für heute glücklich entronnen waren. Dann wurde, nach einem heftigen Thürenzuschlagen, wieder alles still. –

Andree faßte sich endlich ein Herz und nahm Stellas Hand in die seine.

„Sie zürnen mir, ich habe Ihnen weh thun müssen,“ sagte er flehentlich, „Sie werden mich vermeiden fortan, aber – ich ertrage das nicht!“

„Nein!“ erwiderte sie leise. „Ich danke Ihnen!“

Er konnte es nur nach seiner Weise auffassen, ihren Gedankengang konnte er unmöglich errathen.

Die kleine Hand bebte ein wenig, als er seine Lippen immer wieder darauf drückte, aber sie machte keinen Versuch, freizukommen. Er sog das Bild, das seine ganze Künstlerphantasie auf einen Schlag gefesselt hatte, mit andächtigem Blick in seine Seele, während er seine Lippen in völligem Selbstvergessen auf dieser schönen Hand ruhen ließ, und dann sagte er leise, als sei dies ein großes Geheimniß zwischen ihm und ihr, um das kein anderer wissen dürfe:

„Ich darf Sie wiedersehen?“

Sie neigte ein wenig ihr Haupt und versuchte ein Lächeln, das matt und schattenhaft auf ihren Lippen erstarb – und Andree ging von ihr fort hinaus in den lichten Sonnenschein, und in seinem Herzen wogte es durcheinander von leidenschaftlichem Glück und leidenschaftlichem Schmerz, denn noch nie hatte er Werner Troost so heiß geliebt und so heiß betrauert wie heute! –




12.

Die Uebersiedlung der Familie Brühl nach ihrer Villa auf der Uhlenhorst war noch um einige Tage hinausgeschoben worden. Einmal zeigte sich das Wetter sehr unfreundlich: der „wunderschöne Monat Mai, da alle Knospen springen“, war nun freilich da, aber die Knospen sprangen darum doch noch nicht, sie wagten sich kaum hervor bei dem rauhen Nordwest, der vom offenen Meer her wehte. Außerdem wollte Stella Brühl ihren neuesten Plan mit dem Empfangszimmer verwirklicht sehen, und zu diesem Zweck fuhr sie sehr oft aus, Dudu, den Negerknaben, hinter sich, und prüfte und verwarf und bestellte … das Zimmer sollte für alle eine Ueberraschung werden, und sie wollte an die Einweihung desselben ein kleines Frühlingsfest in Uhlenhorst knüpfen, das war beschlossene Sache – im Beschließen und Ausführen solcher Dinge besaß die junge Dame eine ganz erstaunliche Begabung.

Inzwischen hatte sich die Angelegenheit mit dem Prinzen günstig gelöst. Abends um sieben Uhr, am Tage nach dem Brühlschen Fest, hielt der junge Kavalier ein zierliches Billet von Fräulein Stella Brühl in Händen, worin ihm diese mittheilte, Herr Andree habe sich über den Besitz der fraglichen Marmorbüste bei dem Original derselben vollkommen korrekt ausgewiesen, und soeben – um halb sieben Uhr abends – sei besagtes Kunstwerk in den Besitz der rechtmäßigen Eigentümerin übergegangen. Der Prinz möge, falls er sich für das corpus delicti noch interessiere, gelegentlich einmal herkommen, um es anzusehen, jedenfalls aber Herrn Andree von jedem Verdacht eines zweifelhaften Benehmens freisprechen. Dieser habe ihr selbst die Art, wie er zu der Büste gekommen sei, auseinandergesetzt, und sie sei dadurch vollauf zufriedengestellt, erkläre sich auch bereit, jedem, der eine Aufklärung über diese Angelegenheit wünsche, eine solche zu geben.

Selbstverständlich interessierte sich der Prinz für die Büste, und selbstverständlich wünschte er auch, die bewußte Aufklärung zu erhalten. So fand er sich denn schon am nächsten Tage um die Besuchszeit in dem Hause am Alsterdamm ein, und es kam zu einer höchst spannenden Scene, bei welcher ihm die schöne Stella in einem ganz neuen Licht erschien. Freilich war die Frau Senatorin während der ganzen Visite des Prinzen zugegen, allein die Dame störte weiter nicht, sie saß mit lässig halbgeschlossenen Augen am Fenster und ließ ihre Brillantringe funkeln und ihre Stella sprechen. Da erfuhr denn der Prinz eine geheimnißvolle und sehr rührende Geschichte von einem begabten jungen Bildhauer – der Name wurde ihm vorenthalten – der die entzückende Senatorstochter zum Sterben geliebt habe und eigentlich an dieser – natürlich unerwiderten – verzehrenden Leidenschaft hingesiecht sei. Vor seinem Tode aber habe er sein höchstes Können, seine volle Begeisterung, seine ganze Liebes- und Leidensgeschichte in ein Kunstwerk gelegt, das er sterbend seinem besten Freunde, dem Maler Andree, anvertraut habe, um es als letzten Gruß, als ewiges Andenken ihr, der sein ganzes Sein gehört hatte, zu senden.

Dies alles hatte der Prinz nur bruchstückweise, mit vielfachen Unterbrechungen, von der jungen Dame zu hören bekommen, es hatte vieler zarter Fragen, taktvoller Umschreibungen seinerseits bedurft, um endlich ein klares Bild der Sachlage zu gewinnen. Es entzückte ihn sehr, das herrliche junge Wesen so weich, so gefühlvoll, so erschüttert zu sehen. Die umflorte Stimme, die feucht verschleierten Augen, die rührend schüchterne Haltung, die Art, wie sie einzelne Thatsachen, die hervorzuheben ihre Bescheidenheit sich sträuben mochte, nur andeutete – dies alles ließ dem Fürsten die verwöhnte Ballkönigin so fremd und doch so hinreißend erscheinen, daß er mehr denn je bezaubert war. – Als solchergestalt die Stimmung genügend vorbereitet war, erschien der feierliche Augenblick, da Stella ein dunkles Tuch von der Marmorbüste wegzog, welche auf einem Ebenholzsockel in einer Ecke des Zimmers stand. Der fürstliche Besucher bewunderte das Kunstwerk weniger aus Sachkenntniß als aus persönlichem Enthusiasmus und brauchte eine sehr lange Zeit, um zwischen dem Original und dem Bildwerk Vergleiche anzustellen. Die mit ihren Brillantringen liebäugelnde Mama am Fenster konnte, wenn sie den Blick ein wenig hob, deutlich wahrnehmen, wie der Prinz ihre Tochter aus seinen schwermüthigen Augen immer unergründlicher anschaute und wie er heute den Fürsten, der sich zu einer Hamburger Bürgerstochter herabläßt, schon ganz vergaß und lediglich den Verliebten herausstellte, der alle Mühe aufwendet, um dem Gegenstande seiner Leidenschaft im besten Licht zu erscheinen.

Als Stella daher am Schluß des merkwürdig lang ausgedehnten Besuchs den Prinzen fragte, wie lange er noch in Hamburg zu bleiben gedenke, antwortete er ohne Besinnen: „Das hängt lediglich von Ihnen ab, meine Gnädigste!“ und küßte dabei die Hand der Dame mit so unzweideutigem Ausdruck und Feuer, daß es nur zu gerechtfertigt erschien, wenn diese fünf Minuten später, als der Gast gegangen war, ihrer Marmorbüste zunickte wie einer stummen Vertrauten und leise sagte: „So! Den hätten wir fest! Jetzt brauche ich nur zu wollen … aber ich will noch nicht!“ –

Andree hatte vom Prinzen Riantzew ein paar Zeilen erhalten, die des Schreibers Ueberzeugung von der völligen Grundlosigkeit des Vorwurfs von gestern darthaten. Das Billet war kurz und kühl, doch unanfechtbar in seiner höflichen Fassung. Andree las unschwer zwischen den steif aneinandergereihten Zeilen, daß es dem Prinzen höchst unangenehm war, einen Irrthum berichtigen zu müssen, und daß er herzlich gern dem Ueberbringer der Marmarbüste einen Denkzettel gegeben hätte; es sprach eine persönliche Antipathie aus dem Briefe, die der Maler durchaus erwiderte.

Ihm war unsagbar unruhig zu Sinn; rastlos trieb es ihn umher. Stundenlang konnte er am Ufer des Binnenhafens auf und ab wandern und das Treiben auf den Flußschiffen betrachten, die mit ihrer mannigfaltigen Ladung hier vor Anker lagen. Oder er ließ sich in einer Jolle hinausrudern in den freien Strom, wo die großen Auswandererschiffe und die zahlreichen fremden Dampfer verkehrten. Das Leben dort fesselte ihn immer aufs neue: weißgekeidete Hindus, dünnzopfige Chinesen, majestätische Araber, kaffeebraune Marokkaner, lärmende Italiener und behende Japaner verrichteten hier Matrosendienste oder stellten auch selbst die Passagiere vor – und diese Abwechselung in der Bauart der Schiffe, von dem dreimastigen Ostindienfahrer bis zum holländischen Kutter oder zum zierlichen englischen Steamer, dem Privateigenthum eines reichen Lords, auf welchem alles so neu und elegant aussieht, als wäre es eben aus der Watte gewickelt. Hier kreuzt ein Zollkutter vorüber, dort schießen die schmalen Jollen wie flinke Fischchen einher, [731] während die Segler gleich Schwänen mit weit ausgespannten Flügeln weiterziehen. Und die Auswandererschiffe! Wieviel Schicksalstragödien mögen sie mit sich an Bord führen, während sie stolz den stattlichen Strom hinunterfahren, auf dessen blanken Wellen sich die Abendröthe spiegelt! Die Menschen alle, die hinwegstreben von hier, wollen neues, anderes, wollen mehr vor allem als das, was ihnen das Vaterland bietet. Ob sie es finden werden? Und wenn sie es finden, ob es etwas Besseres ist? – Dahin ziehen sie, die mächtigen Schiffe, dem Lande der Verheißung entgegen. Leb’ wohl, du deutsche Erde!

Nur angesichts dieser Bilder, die tausend Gedanken in ihm anregten, vermochte Waldemar Andree der fiebernden Rastlosigkeit, die in ihm wühlte, einigermaßen zu entgehen. Oft riß er sein Skizzenbuch aus der Brusttasche und zeichnete mit fliegender Hast die packenden Eindrücke hinein, die sich ihm hier boten. Vielleicht würde er diese Skizzen in seinem späteren Leben einmal verwerthen … aber es mußte später, viel später sein! Fürs erste konnte er an nichts anderes denken als an sein nächstes Gemälde, das eine, von dem er bestimmt wußte, es werde sein bestes sein, es werde den Gipfelpunkt seines ganzen künstlerischen Schaffens bedeuten.

Er war bisher mit seinen Bildern meist unzufrieden gewesen, so sehr auch andere sie priesen. Aber selbst wenn ihm einmal eines genügte, hatte er doch oft kopfschüttelnd davor gestanden und zu sich selbst gesagt: ja, es ist eine ganz tüchtige Leistung, aber es ist nicht das Bild, welches ich meine – nicht das Bild, welches meine Vollkraft beweisen, mein ganzes Können nach jeder Richtung hin in Anspruch nehmen und mich selbst befriedigen, mich in meinen eigenen Augen zu dem Ruhm und der Größe emporheben soll, die andere mir längst zugestanden haben, die ich selbst aber bisher noch nicht in mir finden konnte. Jetzt aber, das fühlte Andree deutlich, würde das Bild werden können! Und während es ihm in den Händen zuckte und brannte, es zu malen, während er es Zug um Zug vor sich sah, war er zur Unthätigkeit verdammt, mußte er warten, bis man ihn rief, mußte er in Angst sein, ob sein Plan Beifall finden würde, denn er wollte und durfte die Züge eines solchen Modells nicht stehlen und als einen Raub auf die Leinwand bringen – er hatte ja Größeres vor als dieses Bild!

Um sich über die fast unerträgliche Zeit des Wartens hinwegzubringen, unternahm er seinen Umzug nach der Admiralitätsstraße. Hier hatte er seinen geliebten Binnenhafen ganz nahe, und abends ging er zuweilen zur alten Schifferherberge auf dem Kehrwieder-Quai und studierte dort die bunt zusammengewürfelte Seemannsbevölkerung, oder er sah den malerischen Fleet an der Nikolaikirche herab, einen stillen, schmalen, von hohen Gebäuden eingeengten Kanal, auf dessen dunklem Wasser der Mondstrahl zitterte, der sich an den steilen Wänden verstohlen hatte herabgleiten lassen, während er die alte Kirche mit einem fahlen Silberglanz umsponnen hielt.

Aber der Umzug war, dank der rührigen Thätigkeit der Frau Wiedekamp, seiner neuen Wirthin, überaus rasch vollzogen, und für Andree blieb, da er nichts anderes als „sein Bild“ malen wollte und konnte, weiter nichts übrig, als in Geduld abzuwarten, bis die Familie Brühl, die immer noch in Hamburg weilte, sich seiner erinnern, ihn zu einem Besuch ermuthigen und dabei den Plan mit dem Gemälde, welchen die Frau Senator an jenem Ballabend angeregt hatte, wieder aufnehmen würde.

Oder hatte die Dame diesen Gedanken, der ihr in den Sinn gekommen war, angesichts eines Künstlers, den man ihr als bedeutend gerühmt hatte, inzwischen aufgegeben? Hatte namentlich Stella, um die es sich dabei handelte, nichts dazu gethan, jenen Gedanken zu unterstützen?

Wie er jetzt die Marmorbüste vermißte! Er hatte sich mit ihr eingelebt, er pflegte mit ihr zu reden, sie war seine beste Gefährtin, sein täglicher Trost gewesen. Sie hatte ihm von Werner Troost erzählen können und von dem versteckten Winkel im Atelier in der Via del Babuino, wo der junge Bildhauer, dem die Liebe den Meißel geführt, sein einziges geniales Kunstwerk geschaffen hatte, von dem halbdunkeln Raum, in dem das „verschleierte Bild zu Sais“ vor aller Augen verborgen gestanden hatte, – und von dem sonnigen Märztage, da des sterbenden Mannes umflorter Blick darauf gefallen war. – Und nun hatte er seinen Auftrag ausgerichtet, die Trauerkunde überbracht, die Marmorbüste abgeliefert und stand am Wege und wartete, ob man ihn rief! „Mein Erbe!“ hatte Werner Troost gesagt, das waren seine letzten Worte gewesen! Würden sie jemals in Erfüllung gehen? –

Aber in das Haus am Alsterdamm konnte er doch! Hatte ihn Herr Bernhard Grimm nicht eingeladen, ihn zu besuchen? Und war seit dieser Einladung nicht jetzt mehr als eine Woche verstrichen, während welcher er vor Unruhe und Ungeduld nicht mehr wußte, was beginnen? – –

Herr Bernhard Grimm saß in seinem Wohnzimmer auf dem Sofa und rauchte eine Cigarette. Das Zimmer war mit schönen alten Möbeln von dunklem Holz angefüllt, Erbstücke, die der jetzige Besitzer von seinen Eltern her überkommen hatte und sehr werth hielt. Die hohen Stühle, die an den Wänden entlang laufenden Eichenpaneele, die reich mit Schnitzerei verzierten Schränke – alles sah gediegen und gut aus. Gut sah auch Herr Bernhard Grimm selbst aus in seinem „Haushabit“, einem dunkelbraunen losen Sammetrock, von welchem sich das weiße Haupthaar beinahe kokett abhob. Ein ferner Duft erfüllte das große Zimmer, der des besten türkischen Tabaks, vermischt mit dem Aroma sehr starken Kaffees. Die Tasse, aus der Herr Grimm trank, war eine Seltenheit, eine in blau, roth und gold eingelegte, ziemlich flache Schale, dünn wie ein Papierblättchen: ein befreundeter Schiffskapitän hatte sie Herrn Grimm einmal aus China mitgebracht, seither pflegte der Eigenthümer jeden Tag daraus zu trinken und die Tasse eigenhändig abzuwaschen, ungeachtet der anzüglichen Bemerkungen, welche die alte Müller, seine durch diesen Uebergriff gekränkte Haushälterin, zum Besten gab, und ungeachtet der Witze, die seine wenigen näheren Bekannten daran knüpften. „Es heißt ja immer, alte Junggesellen stecken über und über voll Schrullen,“ pflegte Herr Grimm zu antworten, „nun, dies ist eine von mir! Wenn jemand mir meine chinesische Tasse zerschlägt, will ich es jedenfalls selbst sein!“

Er nahm einen tüchtigen Schluck Kaffee und sah in die „Hamburger Nachrichten“ hinein, die neben ihm auf dem Tische lagen. In seiner Nähe schlug eine alte Uhr mit einem dünnen Silberstimmchen halb fünf.

„Aergerlich!“ sagte Herr Grimm halblaut und setzte die Obertasse vorsichtig auf die Schale, „daß man auch Leuten, die einen guten zuverlässigen Eindruck machen, nicht immer glauben kann! Dieser Mann sah mir ganz und gar nicht nach Redensarten aus, und doch hat er eine gemacht, als er mir versprach, mich sehr bald zu besuchen! Da dünkt man sich ein ganz feiner Menschenkenner zu sein – nichts da! Man lernt nie aus! Wie, Hafis?“

Hafis saß gravitätisch auf der hohen Sofalehne zur Seite seines Herrn, ein großer wunderschöner Kater, schneeweiß von den Ohren bis zur Spitze des stolzen buschigen Schweifes, echt persische Rasse, drei Jahre und vier Monate alt, gleichfalls ein Geschenk! Ein Schiffsreeder, mit dem Herr Grimm oft geschäftlich zu thun hatte, ließ das seltene Exemplar für ihn kommen und erntete großen Dank dafür. Grimm konnte sich ein Leben ohne Hafis gar nicht mehr denken: er unterhielt sich mit ihm, fragte ihn um seine Meinung, befolgte seine Rathschläge und freute sich, wenn Frau Müller und Gerda Brühl, die zwei einzigen weiblichen Wesen, die überhaupt seine Wohnung betraten, behaupteten, das Thier habe menschlichen Verstand, und es oft den „Zauberer“ nannten – die alte Frau in abergläubischem Schreck, das Kind in heller Freude am Wunderbaren.

Hafis saß jetzt aufrecht und würdevoll da, die großen grauen Katzenaugen schräg zusammengekniffen, und beantwortete seines Herrn Frage mit einem verächtlichen Kopfschütteln: Nein! Man lernt nie aus!

Draußen schellte es und die alte Müller, eine dürre Hopfenstange, mit einem Gesicht wie eine verschrumpfte Haselnuß, meldete Herrn Andree.

„Das ist doch –“, Herr Grimm erhob sich hastig und vergnügt und eilte dem Gast mit ausgestreckter Hand entgegen. Hafis stieg langsam von seinem hohen Sitz herunter und beschrieb als echter „Zauberer“ um den neu Eingetretenen einen magischen Kreis, den Kopf prüfend erhoben.

„Habe eben noch von Ihnen gesprochen, – wie hübsch, daß Sie endlich kommen! Müller, frischen Kaffee!“

„Es duftet köstlich hier,“ sagte Andree, „da kann man sich einen seltenen Genuß versprechen.“

[732] „Sollen Sie haben! Kommen Sie hierher zu mir – so! Ja, das ist echter Mokka, mein Lieber, so gut, wie ihn nicht ’mal alle fürstlichen Häupter trinken! Wir alten Hamburger Importeure müssen ja nun ’mal unsere Nase überall haben!“

Andree sah sich behaglich im Zimmer um, ihm gefiel es hier ausnehmend gut. „Famos!“ meinte er beifällig. „Uebrigens, wenn ich fragen darf, Herr Grimm. mit wem haben Sie denn über mich gesprochen? Ihre alte Haushälterin kam mir ja aus einer ganz anderen Richtung entgegen!“

„Die ist’s auch nicht gewesen! Mit der rede ich nur über Wirthschaftssachen und häusliche Dinge – die Ehre, über Sie zu sprechen, thu’ ich der alten Müller nicht an. Entsinnen Sie sich zufällig noch, daß Gerda neulich Hafis erwähnte?“

„Ach so! Ich begreife!“ lachte Andree. „Das ist ja wohl Hafis, dem ich vorgestellt werden sollte? Hat er verstanden, daß von ihm die Rede ist? Sehen Sie, er kommt zu uns! Ein schönes, seltenes Thier!“

Grimm wollte seinen Gast, der sich niederbeugte, warnen, denn Hafis nahm das Liebkosen fremder Hände oft sehr ungnädig auf, aber diesmal sollte es anders sein. Das seidenweiche Fell blieb unter der streichelnden Hand glatt, Hafis rieb sich wohlgefällig an dem Knie des Besuchers und ließ ein leises Schnurren vernehmen.

„Ein außerordentlich gutes Zeichen!“ sagte Herr Grimm vergnügt. „Sie gefallen ihm!“

„Freut mich!“ erwiderte Andree gemüthlich. „Ich mag sonst von Katzen nicht viel wissen, sie sind mir zu falsch. Hunde sind mir lieber. Aber Hafis hier scheint eine Ausnahme zu machen.“

„Er und falsch? Nicht die Spur! Die Treuherzigkeit in Person, nobel, großmüthig! Da nahm ich aus Mitleid eine Katze aus der Nachbarschaft, wo sie schlechte Tage hatte, hier auf, sie bekam Junge – wie sich Hafis da benommen hat – gastfrei, liebenswürdig, nicht zu beschreiben! Wenn ein Mann wie der Aesthetiker Vischer – Jammer, daß er tot ist! – in seinem Roman ‚Auch Einer‘ und in seinen ‚Lyrischen Gängen‘ die Katzen preist, Sie werden sich erinnern –“

„Des Romanes und der Gedichte wohl, nicht aber des Lobes auf die Katzen.“

„Das ist unrecht! Ich lese Ihnen das später ’mal vor! Nehmen Sie einstweilen eine Cigarette! Warum sind Sie denn nicht früher zu mir gekommen?“

„Weil –“ Andree setzte sorgsam die Cigarette in Brand und that ein paar kurze Züge, „weil - nun, ich zog um, ich hatte – bin viel in der Stadt herumgestreift, hab’ mir Ihr Hamburg von allen Seiten beschaut – ach was!“ Er warf das Streichholz fort und sah Herrn Grimm mit einem offenen, einnehmenden Lächeln ins Gesicht. „Mir fehlte die Stimmung! Nehmen Sie mir’s nicht übel, wenn ich einfach die Wahrheit sage!“

„Im Gegentheil! Die Wahrheit und ich sind ein paar gute alte Freunde! Ich habe manche schlimme Ungelegenheit erlebt, wenn ich meine Freundin zu Ehren bringen wollte, aber ich hab’ es doch nicht lassen können! Und wenn ich sie ’mal verleugnete oder beschönigen wollte, o, dann hat sie sich bös an mir gerächt! – Was meinen Sie: sehen wir uns einstweilen Ihren ‚Pescatore‘ an, bis Ihr Kaffee fertig ist?“

„Ich bin dabei!“

[741] Herr Grimm legte seinen Arm in den Andrees und zog ihn mit sich durch ein paar Räume, die ganz und gar mit Topfgewächsen angefüllt waren. Auf den breiten Fenstersimsen, auf hohen und niedrigen Gestellen, auf abgesägten Baumstämmen, auf Blumentischen und Trittleitern grünte und sproßte und blühte es – in mächtigen Kübeln hochragende Blattgewächse, die mit ihren grünen gefiederten und gezackten Kronen fast an die Zimmerdecke rührten, kriechende und niedrig wuchernde Pflanzen, die sich aus ihren Behältern herausrankten, seltene Rosen, Maiblumen, Flieder, Narzissen, stachlige Kakteen und blüthenbesäte Azaleen – das stand alles da, wohlgeordnet, wohlgepflegt, und das Blühen und Gedeihen legte Zeugniß ab für des Hausherrn sorgsame Pflege.

Er konnte denn auch nicht so ohne weiteres an seinen Blumenkindern vorbei. Eine kleine Blumenspritze und ein Gartenscheerchen in der Hand, stäubte und schnitt er im Weiterschreiten da und dort eine Ranke ab und machte seinen Gast mit ein paar Worten auf dies oder jenes besondere Gewächs aufmerksam. Andree freute sich an der grünen und bunten Pflanzenwelt, verstand aber nichts von Blumen und brachte es deshalb nur zu einigen allgemeinen Bemerkungen. Herr Grimm merkte das und führte ihn rasch durch ein paar andere Zimmer in ein längliches Gemach mit drei hohen Fenstern, das er seine Bildergalerie getauft hatte.

Hier fand der Maler einige sehr tüchtige Kopien alter Meister, namentlich von Murillo, Rubens und Rembrandt, vorwiegend aber neuere Bilder aus der Münchener Schule, zumeist alte Bekannte, die wiederzusehen ihn lebhaft interessierte – darunter auch eines der besten Stillleben von Hilt, einen Kristallkrug, zur Hälfte mit tiefrothem Wein gefüllt, dazu eine Schale mit Austern, von halbzerschnittenen Citronen gekrönt, und zwei gekochte Hummern, alles wie eilig auf einem verschobenen feinen Damasttischtuche serviert. – Und hier seitwärts, neben einem behaglichen Klosterbruder von Eduard Grützner, der sein Maßkrüglein unter den Krahn eines Weinfäßchens hielt, war auch Andrees „Pescatore“, ein flott und keck hingeworfenes Bild, zum Staunen lebensvoll. Diese bröcklige, im heißen Sonnenschein in grellem Gelb strahlende Mauer, auf welcher der Junge sitzt, das Stückchen wolkenlosen Himmels drüber, unten angedeutet ein glitzernder Wasserstreifen – und nun dieser barfüßige zerlumpte Bengel, ganz Eifer, ganz leidenschaftliche Spannung, den Oberkörper weit vorgebeugt, das [742] eine der nackten braunen Beine selbstvergessen hoch emporgezogen, als könne ihm das helfen, den an der Angel zappelnden Fisch rascher in die Höhe zu schnellen, die Handhabe der Angel in den gekrümmten Fingern – und diese aufblitzende Freude, diese triumphierende Lust in den dunkeln Augen unter dem Wust von schwarzem Haar: ich hab’ ihn! Man meinte, das beschleunigte Athemholen des Jungen zu hören.

Schön war er nicht, der „kleine Fischer“! Hilt wäre zufrieden gewesen. Ein braunes mageres eckiges Gesicht, eine langaufgeschossene Figur, die gar nicht „Pose machte“, sondern ganz ungeniert und natürlich auf der Mauer lag – aber eben darum!

Andree konnte nicht anders, er hatte seine helle Freude an dem „Pescatore“, und neben ihm stand einer, der theilte diese Freude. „Sehen Sie,“ sagte Herr Grimm, „ich freue mich jedesmal, wenn ich den Schlingel da anschaue, er ist mir die verkörperte Lebenslust, die harmlose, meine ich natürlich. Was ist denn Ihr neuestes Sujet? Darf man es wissen?“

„Sie müssen mir nicht böse sein – nein, ich kann es Ihnen nicht sagen! Ich weiß noch nicht, ob ich die Idee, die ich mit mir herumtrage, werde verwirklichen dürfen, es liegt mir mehr daran, als ich sagen kann; allein gerade deshalb –“

Eben jetzt öffnete sich vorsichtig die Thür der „Bildergalerie“, das faltige Gesicht der Frau Müller sah herein, und sie meldete: „Der Kaffee!“

„Kommen Sie!“ sagte Grimm, und ein nachdenklicher, fast trüber Zug, der eben bei Andrees stockender Rede in seinem Antlitz sichtbar geworden war, verflog wieder. „Liebenswürdig ist meine Alte nicht, wie Sie merken können, aber sie versieht mein Hauswesen ausgezeichnet, versteht einiges von Blumen, respektiert Hafis und respektiert auch mich auf ihre besondere Art, mehr kann man nicht verlangen.“

Herr Grimm schob wieder seinen Arm in den des Gastes und führte ihn ins Wohnzimmer zurück.

Andree ließ immer wieder seine Blicke rundum gehen in dem behaglichen Zimmer mit den schönen, altmodischen Möbeln und sah dann in das feine, sympathische Gesicht seines Wirthes. Gewiß, er würde ihm ein Freund werden! Nicht einer, wie es ihm Werner Troost gewesen war – das kam wohl nie wieder! Diese fast schwärmerische Liebe, dies zärtliche, sorgende Empfinden lag mit dem schönen Jüngling dort unten im sonnigen Süden begraben. Aber es konnte doch eine Freundschaft werden, wie sie Andree noch kaum gekannt und zuweilen sich aufrichtig gewünscht hatte, eine Freundschaft, in der er selbst auch häufig der nehmende, nicht nur immer der gebende Theil sein, in welcher der ältere, gereifte Mann sein Rathgeber, sein Führer werden würde.

Merkte der kluge, weißhaarige Herr neben ihm diese Empfindung heraus? Er plauderte immer offenherziger, und die Mehrzahl seiner Bekannten wäre sehr erstaunt über ihn gewesen, – Senator Brühl an der Spitze.

Andrees schlichtes Wesen, gleich frei von Blasiertheit wie von jedem Gefühlsüberschwang, seine warme Begeisterung für die Kunst, sein ruhiges, sicheres Urtheil, sein gesunder Humor, alles sagte Herrn Grimm zu, außerdem sah er ihn gern an. Er hatte schönere Männer gesehen, ohne Zweifel! Aber Andrees stattliche Gestalt, das ernste männliche Gesicht mit dem schwarzen Bart und den blauen Augen fesselten seinen Blick immer aufs neue. „Wirklich ein prächtiger Mensch!“ dachte er für sich. „Ich hoffe nur das eine, daß er sich nicht in das Götzenbild, diese Stella verliebt. Das wäre geradezu ein Unglück! Er ist ja tausendmal zu gut für sie. Und er wird es auch nicht thun! Aber freilich, – Künstler ist er, und sie ist nun einmal wunderbar schön, das bleibt unbestreitbar!“

Herr Grimm wurde jedesmal unfrei in seiner sonst so fließenden Rede, sobald Andree das Gespräch auf Stella oder den Senator brachte, und natürlich fühlte der Maler das bald heraus. Seinen Fragen nach den jüngeren Kindern und wie es denn komme, daß sie in eine ihrer Natur augenscheinlich ganz fernliegende Richtung gezwungen würden, und wessen Werk das sei, ob des Vaters oder der Mutter, wich der ältere Mann verlegen aus, und vollends ein Gespräch über den Senator selbst und sein eigenes Verhältniß zu demselben in früherer und in jetziger Zeit verursachte Grimm sichtliches Unbehagen; er brach es kurz und unvermittelt ab, sodaß sogar Andree, dessen Natur es sonst sehr fern lag, überall Geheimnisse zu wittern, unwillkürlich denken mußte, hier liege eines verborgen. Und was konnte es zu bedeuten haben, daß jedesmal, wenn Stellas Erwähnung geschah, ein Flor, ein Schatten sich über Herrn Grimms klare Augen senkte und er seinen Gast besorgt und traurig anschaute wie jemand, der wohl sprechen, warnen möchte, aber genau im voraus weiß, es sei unnütz, vielleicht sogar gefährlich? Andree merkte es sehr bald: das Haus Brühl war ein heißer Boden, auf dem sich der ehemalige Compagnon und Freund – er hatte ausdrücklich betont, der Senator sei ihm seit langen Jahren nichts weiter als ein Bekannter, wie er deren ein halbes Hundert habe – offenbar ungern bewegte. Man änderte also das Thema, und beiden Männern war es dabei wohler zu Muthe.

Mitten in einem lebhaften Hin und Her über Hamburg, wie es früher gewesen war, wie es jetzt sei, und welchen Umschwung der Zollanschluß herbeigeführt habe, unterbrach Herr Grimm seine Auseinandersetzungen und rief:

„Nun sehen Sie meinen Hafis! Wie er sich wäscht! Wir bekommen mithin noch Besuch, – ich kann nicht sagen, daß mich dieser Gedanke erfreut!“

Der persische Kater thronte wieder auf der Sofalehne, nahe der Schulter seines Herrn, und führte über Ohr und Nase bedächtig seine feuchte weiße Pfote. Plötzlich ließ er sie mitten in der Luft stehen und bewegte lauschend die Ohren. Es kam ein Geräusch von draußen, rasche Schritte, die den Flur entlang liefen, dann wurde die Thür hastig aufgerissen.




13.

Andree hatte sich von seinem Sitz erhoben und trat unwillkürlich ein paar Schritte hinter einen hohen, dunkeln Schrank zurück. So kam es, daß er die Scene bequem überschauen konnte, ohne fürs erste selbst gesehen zu werden.

Gerda Brühl stürzte ins Zimmer, in der rechten, hoch erhobenen Hand ein weißes, zappelndes Kaninchen tragend, das sie bei den langen Ohren hielt.

„Onkel Grimm, Sie müssen es nehmen, ja, bitte?“ rief sie athemlos statt der Begrüßung. „Bloß so lange, bis wir draußen auf der Uhlenhorst sind, da ist viel mehr Platz, da können wir’s beim Gärtner unterbringen, – aber hier leidet sie es ja nicht und hat gesagt, sie lasse es totmachen. Solch’ ein hübsches Thier, – und Wolf freut sich so darauf, Kaninchen zu haben! Lieber Onkel Grimm, bloß drei oder vier Tage, bis wir draußen sind, ja?“

Sie hatte den freien Arm schmeichelnd um seine Schulter gelegt und sah ihm bittend ins Gesicht, das bedrohte Kaninchen dadurch unbedacht in Hafis’ gefährliche Nähe bringend. Die Perserkatze hatte sich mit gesträubtem Fell aufgerichtet und in ihren Augen funkelte es bedenklich.

„Wir wollen schon sehen!“ begütigte Herr Grimm freundlich und streichelte Gerda über das erregte Gesicht. „Für ein paar Tage allenfalls, Raum ist ja genug, – aber, Kind, geh etwas weiter von Hafis fort, – und überhaupt, – wo ist denn“ –

Weiter kam er nicht, denn jetzt gewahrte Gerda Andrees Gestalt neben dem Schrank, stieß ein entsetztes „Ach!“ aus und ließ die Ohren des Kaninchens los. Das kleine Thier, das sich in seiner Zwangslage sehr unglücklich gefühlt hatte, galoppierte in kurzen Sprüngen durch das Zimmer, Hafis that einen wilden Satz von der Sofalehne herab und jagte fauchend hinter dem Flüchtling her, Gerda, die mit Recht das Leben des Ausreißers für bedroht ansah, riß eine Serviette vom Kaffeetisch und verfolgte den Kater mit lautem Wehgeschrei, Herr Grimm endlich wollte seiner Autorität über den Hausgenossen Geltung verschaffen und rief in warnendem Ton, der sich bis zur Drohung steigerte: „Hafis! Hafis!“ Andree mußte lachen, besann sich aber nicht lange und nahm an der Jagd theil, indem er zuerst den naheliegenden Gedanken, das Terrain zu beschränken, in die That umzusetzen suchte. Leider schon zu spät, denn als er gerade die zum Nebenzimmer führende Thür, die offen stand, erreicht hatte, huschte ihm das Kaninchen zwischen den Füßen durch und flüchtete in das nächste Gemach, Hafis selbstverständlich hinterher. Es gab Getümmel, Geschrei, Rufen und Fragen ohne Ende. „Hier ist es!“ „Nein, hier, hinter dem Vorhang!“ [743] „Hafis, hierher!“ „Einen Stock!“ „Ja, den habe ich hier nicht!“ „Um Gotteswillen, es wird noch die Decke herunterreißen!“ – Und Andree mit seinen langen Beinen sprang durch die Zimmer, als sei die Kaninchenjagd sein täglicher Sport, Herr Grimm, um sein Eigenthum und um Hafis besorgt, lief athemlos von einer Ecke zur andern, Gerda lachte und jammerte in einem Athem, und alle zusammen vollführen einen solchen Heidenlärm, daß die alte Müller herbeistürzte und wie festgenagelt, ein Bild des Entsetzens, in der Thür stehen blieb, von der unheimlichen Befürchtung ergriffen, bei einem von den drei wie rasend Umherjagenden sei die Tobsucht ausgebrochen.

Das findige Kaninchen aber, der Urheber des ganzen Lärms, ließ sich von niemand greifen, weder von den Männern, noch von Gerda, noch auch von Hafis. In unvorhergesehenen Augenblicken schoß es aus irgend einem Winkel hervor in ein neues Versteck, und zuletzt kroch es unter einen Schrank, der auf so niedrigen Füßen stand, daß selbst der geschmeidige Hafis hierher nicht folgen konnte.

Erschöpft und schwerathmend umzingelten die Jäger den Schlupfwinkel und setzten das Kaninchen in Belagerungszustand. Frau Müller wurde angewiesen, sich mit Hafis zu entfernen, was erst nach einiger Zeit gelang, denn die Perserkatze, in der das Raubthier leider ganz erwacht war, umschlich mit lüsternen Blicken die Verschanzung und ließ sich lange vergebens locken, ehe sie mit Frau Müller abging.

„Jetzt hole ich Ihren Stock, Onkel Grimm!“ erklärte Gerda. „Ich weiß ja, wo er steht!“

„Thu das, mein Kind, und wenn Du die kleine Kreatur erwischt hast, dann bringe sie in den Verschlag, wo die Eimer und Besen stehen, da kann sie keinen Schaden anrichten!“

Sehr verschüchtert und verängstigt kam das Kaninchen endlich zum Vorschein, und Gerda begrüßte es mit Entzücken.

„Da ist es! Onkel Grimm, ich hab’ es! Sehen Sie nur, Herr Andree, ganz klare, rothe Augen hat es in seinem weißen Gesichtchen! Ist es nicht niedlich? Es hat sich fürchterlich entsetzt, sein kleines Herz klopft so rasch unter meiner Hand. Wenn Hafis es gepackt hätte, ich kann es nicht ausdenken!“

Sie drückte zärtlich ihr Gesicht in das weiße Fell des Thierchens und ging, es in seinen Verschlag zu setzen.

Als sie dann wieder ins Wohnzimmer zurückkam und nun mit ganz gesetzter Miene den beiden Herren gegenüber Platz nahm, überwältigte sie die Erinnerung an die soeben erlebte komische Scene dermaßen, daß sie, nach einigen völlig nutzlosen Bemühungen, ernst zu bleiben, mit einem Mal in ein schallendes, frohes Gelächter ausbrach.

Die zwei stimmten ohne weiteres mit ein, und Herr Grimm wischte sich zuletzt die Thränen aus den Augen.

„Du Schelm, Du Wildfang!“ drohte er Gerda, „daran bist Du mit Deinem Kaninchen schuld!“

„Seien Sie nicht böse, Onkelchen!“ Sie rieb ihre Wange an seinem Sammetrock wie ein schmeichelndes Kätzchen. „Ich bringe Ihnen nie wieder eines!“

„Wer ist denn ‚sie‘, die Ihnen das Thierchen fortnehmen oder totmachen wollte?“ fragte Andree. „Gewiß Frau Willmers, nicht wahr.“

Gerda schlug die Augen nieder und begnügte sich, zu antworten: „Frau Willmers kann sehr böse sein!“

Es entstand eine kleine Stille.

„Und wie steht’s mit den Verbis auf mi?“ examinierte Andree neckisch weiter.

„Ach, erinnern Sie mich nur nicht daran! Denken Sie, ich kann sie noch nicht! Wolf auch nicht! Doktor Winkler war ganz ärgerlich auf uns und sagte, wir hätten für Grammatik gar keinen Kopf. Darin hat er auch recht. Für die alten Sprachen sind wir verloren!“

„Freuen Sie sich auf den Aufenthalt in Uhlenhorst?“ fragte Andree das junge Mädchen.

Sie zog nachdenklich die Augenbrauen hoch. „Ach – ich weiß nicht recht – der Garten dort ist sehr hübsch – aber wir haben immer soviel Besuch, ich kann nie nach Herzenslust darin umhertoben. Mit mir ist es schon immer dasselbe, wo ich auch bin!“

„Das Umhertoben schickt sich auch für Dich wirklich nicht mehr ganz!“ lächelte Herr Grimm.

Gerda zog ein Gesicht, als ob sie weinen wollte.

„Was soll ich denn eigentlich?“ rief sie mit mühsam unterdrückter Heftigkeit im Ton. „Wenn ich irgendwie nur den kleinsten Wunsch laut werden laß’, wenn ich einmal wage, mitzureden, da heißt es gleich: Was fällt Dir ein? Du bist ja noch ein Kind; wie kannst Du es wagen, eine Meinung zu haben, einen Anspruch zu machen? – Und bin ich einmal wild mit Wolf und freu’ mich an kleinen Dingen und bin wie ein Kind – da werd’ ich angeschrieen: Schämst Du Dich nicht? Solch ein großes Mädchen und beträgt sich wie ein ungezogener Junge! Aus Dir wird nie im Leben eine wirkliche Dame werden – man kann Dich nie in die Welt einführen!“

Die ganze Bitterkeit des beiseite geschobenen Kindes klang in diesen Worten wieder, aber auch dessen ganze Liebenswürdigkeit brach durch, als Gerda dem väterlichen Freunde ihre Hand über den Tisch hinüberreichte und sagte: „Ja, Onkel Grimm, wenn Sie auch mitgingen!“

„Besucht Sie denn Herr Grimm nicht auf der Uhlenhorst?“ forschte Andree befremdet, erhielt aber ein kurzes „Nein“ zur Antwort.

Gerda hatte die beiden Arme vor sich auf den Tisch gestützt und starrte vor sich nieder. Ihre Haltung war nachlässig, ihr Benehmen ungleich … sie hatte wirklich gar keine Manieren. Die Röthe, welche die lebhafte Bewegung zuvor ihr ins Gesicht getrieben, hatte dies schmale Antlitz ein wenig belebter und jugendlicher erscheinen lassen, jetzt war es wieder von eintöniger Blässe und düster im Ausdruck. Die großen grauen Augen, von sehr dichten schwarzen Wimpern und Brauen begrenzt, hätten hübsch sein können ohne den mißtrauisch prüfenden, grübelnden Blick, der fast beständig darin wohnte. Gerda trug wieder das graue Kleid, in dem Andree sie damals zuerst auf der Treppe und dann auch beim Ballfest gesehen hatte. Es saß ihr schlecht, und ihre ungelenken Glieder schienen sich dagegen zu sträuben, es tragen zu müssen. Sie sah jetzt von der Tischplatte, an der ihre Blicke eine ganze Weile gehaftet hatten, auf und begegnete Andrees Augen, die mit einem ernsten, messenden Ausdruck auf sie gerichtet waren. Sie nahm die Arme vom Tisch, richtete sich straff auf und wurde roth.

„Nun, Maus“ – Herr Grimm, der das kleine Manöver wohl bemerkt hatte und Gerda über die Verlegenheit forthelfen wollte, nahm sie beim Kinn und drehte ihr Gesicht zu sich herum – „hattest Du mir denn heute nur das Kaninchen in Pension zu geben, oder hast Du noch sonst etwas auf dem Herzen gehabt, als Du kamst?“

Sie warf ihm einen raschen Blick zu, der ein „Später!“ bedeutete, und sagte zugleich lebhaft:

„Ja, ich hab’ etwas – etwas Wunderschönes sogar! Denken Sie sich, Onkel, heut’ vormittag war die Prinzessin ausgefahren, und vor der lateinischen Stunde bin ich ein paar Minuten in ihren Salon geschlüpft – Frau Willmers, der alte Drache, hatte Besuch bekommen – und da sah ich etwas – etwas ganz Neues, es kann erst ein paar Tage da sein – ach Gott, nein, zu schön! Eine Büste also, eine Marmorbüste von der Prinzessin selbst, auf einer schwarzen Ebenholzsäule – zum Sprechen ähnlich – ach – und entzückend – und entzückend!“

Ganz außer Athem hielt sie inne, und jetzt kamen auch die Augen, die vor Begeisterung dunkel leuchteten, zur Geltung.

„Wer hat sie denn gemacht? Wie ist Stella dazu gekommen?“ fragte Herr Grimm.

„Weiß ich nicht – weiß ich alles nicht. Wer wird mir etwas sagen, Onkel? Und ich hätt’ es so schrecklich gern gewußt, wie das alles zusammenhängt!“

„So fragen Sie doch einfach Ihre Schwester, die weiß es am besten!“ sagte Andree.

Gerda schüttelte stumm den Kopf, ihr Blick wurde verschlossen und trübe.

„Dann will ich es Ihnen sagen!“ fuhr er freundlich fort. „Diese Büste hat ein junger Bildhauer in Ron angefertigt und mir mitgegeben. Er hat Ihre schöne Schwester sehr – sehr – verehrt, und als Zeichen dieser seiner Verehrung hat er ihr dies Kunstwerk geschickt!“

„Ach,“ fiel sie ihm ungestüm ins Wort, das ist gewiß Werner Troost gewesen! Wissen Sie noch, Onkel Grimm, vor ein paar Jahren war er hier – vielleicht sind’s auch noch nicht [744] volle zwei Jahre! Ich hab’ ihn oft gesehen, wenn er zu uns kam, er war wunderhübsch und immer so freundlich zu mir und Wolf. Mir hat er einen reizenden kleinen Amor modelliert – so groß nur – den hab’ ich noch, und für Wolf einen Neptun mit dem Dreizack. Ja, und ich glaube, er ist in Stella sehr verliebt gewesen!“

„Sieh’ einmal, was Du nicht alles weißt!“ warf Onkel Grimm dazwischen.

„O bitte, Herr Andree,“ fuhr das Mädchen im vollen Eifer fort, ohne die Unterbrechung zu beachten, „sagen Sie mir, ob es Werner Troost gewesen ist, der die Büste gemacht hat! War er es? Sie nicken – also richtig, er war es – sehen Sie, Onkel, ich hab’ das Rechte getroffen! Lebt er noch in Rom? Was thut er da? Warum kommt er nicht mehr hierher nach Hamburg zurück? Ich hatte ihn so lieb! Er ist nicht mehr in Rom? Ja - wo ist er denn geblieben?“

„Fräulein Gerda,“ sagte Andree ernst, als in der sich überstürzenden Fluth von Fragen und Ausrufen eine kleine Pause eintrat, „es thut mir leid, es Ihnen, da Sie Werner Troost lieb hatten wie wohl jeder, der ihn gekannt hat, sagen zu müssen: mein Freund ist im März in Rom gestorben!“

Gerda starrte ungläubig zu ihm hinüber, dann hob ein krampfhaftes Aufseufzen ihre Brust, sie warf die verschränkten Arme quer über den Tisch, legte den Kopf darauf und brach in ein lautes, bitterliches Weinen aus.

Und Andree that dieser jugendliche, rückhaltlose Schmerz seltsam wohl. Der Verstorbene war in seiner sonnig liebenswürdigen Weise gut zu diesem Kinde gewesen, und nun das Kind seinen Tod erfuhr, erinnerte es sich dessen und weinte seine heißen, ungestümen Kinderthränen.

Die ältere Schwester hatte ihr soviel tieferes Leid still getragen, sie verstand eben schon die schwere Kunst der Selbstbeherrschung … das Kind aber, dem nur selten ein freundliches Wort zutheil wurde, zahlte den Tribut seines Schmerzes in der einzigen Form, die es dafür hatte!

„Wie – wie hat er denn so schnell sterben können?“ Gerda hob ihr thränennasses Gesicht empor, sie sprach schluchzend und stockend. „Er war ja so jung – und so gesund – und schön!“

„Das war er,“ nickte Herr Grimm. „Ich habe ihn nur selten und flüchtig zu Gesicht bekommen, aber jedesmal meine Freude an ihm gehabt. Werner Troost – ja, ja, ganz recht! Ein schlanker, blühender Mann, mehr Jüngling als Mann, möchte ich sagen – mit schönen dunklen Augen und gelocktem Haar; eine Persönlichkeit, die man nicht leicht vergißt.“

„Ach, und er konnte so lustig sein, so fröhlich lachen!“ klagte Gerda. „Einmal hat er sich mit Wolf und mir im Garten auf der Uhlenhorst gejagt und mit uns Haselnüsse gesucht und sich so gefreut, als wir ein kleines Eichkätzchen sahen. Die Prinzessin war damals nicht zu Hause, und da hat er mit uns gespielt, als ob er selber noch ein Kind wäre, und gesagt, wir sollten ihn Werner nennen und Du! Und einmal hat er zu mir gesagt – nein – das kann ich bloß Onkel Grimm allein erzählen!“

„Mir also nicht?“ fragte Andree.

„Nein, Ihnen nicht! Aber Sie müssen mir erzählen, wie Werner gestorben ist!“

Das that Andree, und sein Bericht fiel ausführlicher und eingehender aus als vor acht Tagen Stella gegenüber, er fühlte sich freier vor dieser jetzigen Zuhörerschaft. Gerda bekam immer wieder Thränen in die Augen während seiner Erzählung, und als er zu Ende war, saß sie, ohne sich zu rühren, mit einem sehr nachdenklichen Gesicht da. Andree hätte gern ihre Gedanken erfahren, auch den Ausspruch, den sie zuvor unterdrückt hatte, aber er wußte es nun schon: was dies Kind nicht sagen wollte, das ließ es sich auch durch keine Ueberredung entlocken.

„Weiß Stella das alles? Haben Sie es ihr so erzählt wie eben jetzt uns?“ fragte endlich Gerda leise aus ihrem Sinnen heraus.

„Ja!“ antwortete Andree kurz.

Sie schien noch mehr fragen zu wollen, unterdrückte es aber. Dann, nach einer Pause:

„Er fand sie so hinreißend schön, ich weiß es! Darum hat er sie ja auch gemeißelt – ich kann mir’s denken! – Und wie hat er mich ausgelacht, als ich einmal so unglücklich war über meine Häßlichkeit!“

„Möchten Sie denn so sehr gern schön sein, Gerda?“ fragte Andree lächelnd.

Sie nickte lebhaft. „Ja!“

„Nun, und wenn Sie es wären – was thäten Sie wohl?“

„Ach, das ist doch leicht zu sagen: ich würde glücklich! Aber was hilft das alles: ich bleib’ nun, wie ich eben bin!“

„Glaub’ ich nicht!“ erwiderte er mit bedächtigem Ernst. „Sie sehen in zwei, drei Jahren ganz anders aus!“

„Meinen Sie – hübscher?“ fragte sie eifrig dagegen. „Ach, ich glaub’ es aber nicht!“ klang es in tiefer Muthlosigkeit hinterdrein. „Was an mir soll eigentlich hübsch werden?“ Sie warf einen Seitenblick in den Spiegel, der ihre Gestalt in dem schlecht sitzenden Kleide, ihr Gesicht mit den verschwollenen Augen wiedergab. „Nein, das kann ich mir nicht denken! Und dazu mein Name: Gerda! War’s nicht irgend eine Blumen- oder Frühlings- oder Liebesgöttin, die so hieß? Ich und eine junge Göttin! Für andere ist’s zum Lachen und für mich zum Weinen. Meinem armen Bruder geht’s ebenso. Den haben sie Wolfgang genannt, auf daß er ein zweiter Goethe oder ein zweiter Mozart werde. Nichts davon! Er kann keine Melodie behalten und hat in seinem Leben noch keine zwei Reime zusammengebracht. Eigentlich müßte man erst dann seinen Namen bekommen, wenn es sich feststellen läßt, wie man aussieht!“

Herr Grimm lachte über diese in altklugem Ton ausgekramte Weisheit, und Andree erhob sich, um zu gehen.

„Ach, Sie wollen schon fort?“ sagte Herr Grimm und klopfte seinem Gast gemüthlich auf die Schulter. „Aber, nicht wahr, wenn es Ihnen in meinem Nest gefallen hat – und es trägt den Anschein, als sei es so – dann kommen Sie bald einmal wieder?“

„So bald, daß Sie sich wundern sollen! Mir ist hier so behaglich und ‚zu Hause‘ zu Muthe geworden wie lange nicht. Auf Wiedersehen, Herr Grimm! Adieu, Fräulein Gerda!“

„Ach – bitte – bloß Gerda! Mich nennt eigentlich noch kein Mensch Fräulein, trotzdem ich so groß bin! Einmal haben Sie heute auch „Gerda“ gesagt, und darüber habe ich mich so gefreut!“

„Habe ich das wirklich? Nun, die Freude sollen Sie noch oft erleben, ich sage mit Vergnügen Gerda zu Ihnen!“

„Werden Sie auch zu uns herauskommen, wenn wir auf Uhlenhorst sind?“

„Ich denke – ich hoffe – aber das hängt nicht von mir ab! Wollen Sie Ihrer Schwester sagen, daß ich ihres Rufs gewärtig bin, und daß es mich glücklich machen würde, wenn sie das Versprechen von jenem Ballabend einlösen möchte. Werden Sie ihr das wörtlich bestellen, Gerda?“

Sie stand vor ihm mit schlaff herunterhängenden Armen und sah mit großen, traurigen Augen zu ihm in die Höhe. Sein Gesicht spiegelte eine mühsam niedergehaltene innere Bewegung wieder – das kaum dem Kindesalter entwachsene Mädchen aber hatte es noch nicht gelernt, seine Mienen zu beherrschen; es sah geradezu unglücklich aus.

Sie nickte zu seiner letzten Frage ganz mechanisch mit dem Kopf, erwiderte nicht seinen herzhaften Händedruck und hörte theilnahmlos zu, wie er von Herrn Grimm endgültig Abschied nahm. Als dieser, der seinen Gast höflich hinausbegleitete, wieder zurückkam, stand Gerda mit finster zusammengezogenen Brauen auf derselben Stelle und starrte vor sich nieder.

„Was ist das für ein Kassandragesicht!“ rief Herr Grimm scherzend und hob ihr Kinn mit sanftem Griff in die Höhe. „Was hat Dir denn unser liebenswürdiger Gast zuleide gethan, daß Du aussiehst wie Hans Huckebein, der Unglücksrabe? Was denkst Du von ihm, Gerda? Wie?“

„Denken?“ rief sie hart. „Dasselbe, was Sie auch wissen, Onkel – daß er in Stella verliebt ist wie alle – wie alle!“

„Hm!“ Er wiegte langsam seinen weißen Kopf hin und her. „Es könnte sein, daß Du recht hast – mir schien es auch so!“

„Schien? Sie wissen, daß es so ist - nicht nur so scheint! Er hat solch treue, gute Augen, Onkel, und er wird sehr unglücklich sein, wenn’s ihm geht wie den andern. Er ist zu gut dazu, zehntausendmal zu gut!“

„Aber Kind! Wenn sie diesen sympathischen und, wie ich höre, als Künstler hochbedeutenden Menschen vielleicht wirklich lieben lernt –“

[746] „Stella und lieben! Sie wissen recht gut, Onkel, daß sie niemand liebt als nur sich selbst! Und gar jetzt, wo sie alles dransetzt, um den Prinzen zu heiraten!“

„Den Prinzen? Woher weißt Du das?“

„Einerlei woher – ich weiß es ganz genau! Aber sie wird sich von diesem –“ Gerda nickte nach dem Platz hinüber, auf dem Andree zuvor gesessen hatte, als befände er sich noch dort „von diesem malen lassen und wird ihn anlocken und ihn glauben machen, sie sei verliebt in ihn, und dann wird sie ihn fortstoßen und lachen und sich freuen. Ja, ja, Onkel, und wenn Sie noch so entrüstet aussehen! Ich weiß, was ich rede. Sie hat zur Willmers gesagt, sie habe schon eine ganze Reihe von Freiern aufzuweisen wie eine Schnur von Drosseln, die in der Schlinge zappeln, aber es sei ihr noch lange, lange nicht genug, denn dies wäre ihr bester Sport. Ja, das hat sie gesagt, ich hab’ es mit meinen eigenen Ohren gehört. Und sie weiß, daß ich es zufällig damals gehört habe, und weil sie überzeugt ist, daß ich sie durchschaue, darum kann sie mich nicht leiden, darum quält sie mich und verfolgt mich und nimmt mir jede kleinste Freude. Weil sie es will, muß ich Lateinisch und Griechisch lernen, was mir eine Strafe ist und was ich nie in meinem ganzen Leben werde brauchen können. Weil sie es will, muß ich schlechte Kleider tragen, die mich noch häßlicher machen, als ich schon bin, und darf mit keinem andern Mädchen umgehen und mir niemand einladen und nie lustig sein wie alle andern. Weil sie es will, darf ich nicht ins Freie hinaus und nicht aufs Wasser – sie reitet und fährt spazieren, und ich habe nichts – nichts – und ich wünsche mir so für mein Leben ein Pferdchen!“

Sie schluchzte in kindischem Schmerz laut auf, unterdrückte es aber rasch.

„Ich weiß, Onkel, Sie haben gesagt, ich soll mich nicht über meine Angehörigen beklagen, das sei häßlich – und ich thue es ja auch sonst nicht, bei keinem Menschen, nur bei Ihnen! Warum ist auch der liebe Gott so ungerecht und giebt dem einen alles – Schönheit und Verstand und Liebreiz und ein Lächeln und eine Stimme, die jeden bezaubert und die klügsten Menschen zu Narren macht – und der andere geht ganz leer aus und steht daneben und sieht, wie alles zusammenhängt, und hat nichts. Darf auch nichts sagen – denn wer würde ihm glauben und nicht denken, es sei erbärmlicher Neid? Alles, alles wendet sich ihr zu, und alles wird ihr verziehen, alles geht ihr hin – denn sie ist ja so wunderschön! Jetzt hat sie sich ein neues Zimmer für die Villa bestellt, die ganze Einrichtung aus Porzellan! Aus dem feinsten, schönsten, theuersten Porzellan – der Kamin, die Wände, die Spiegelrahmen – alles! Unser Pierre weiß, wieviel es kostet, und hat es mir gesagt. Und für mich ist nicht einmal ein neues Sommerkleid zum Gartenfest gekauft worden, und wie neulich eine arme Frau kam und so jämmerlich weinte, weil sie vier Kinderchen habe und einen kranken Mann, da hat Stella gesagt, das sei alles gewiß von einem Ende zum andern erlogen, und hat ihr nichts gegeben, und für ein einziges Kleid giebt sie oft fünf- bis achthundert Mark aus! Die Fremden denken alle, Stella sei ein Engel, und sie sieht ja auch aus wie einer – aber vorgestern hat sie Dudu eingesperrt und hungern lassen, weil er ihr ein kostbares gesticktes Kleid zerrissen hat, als er zufällig mit dem Fuß drauf trat. Als das Mohrchen hier ankam und etwas Neues war, da hat sie es gehätschelt und überall mitgenommen und über alles Dumme, was es that und sagte, gelacht und es mit Naschwerk gefüttert, und alle Bekannten und Verehrer haben es natürlich nachgemacht und auch gelacht und Dudu auch beschenkt und verwöhnt. Aber wie das arme Mohrchen nun nichts anderes mehr wußte und immer dasselbe kauderwelsche Geplapper und dieselben Faxen vorbrachte, da hat sie es in die Ecke geworfen, als wär’ es eine Puppe von Hobelspähnen und Zeugfetzen und nicht ein armer Mensch. Und er weint manchmal so erbärmlich, und wie friert er in seinem dünnen Affenjäckchen, und neulich hab’ ich mühsam, mühsam aus ihm herausbekommen – denn er kann ja bloß ein Dutzend deutsche Worte und ist wirklich dumm! – daß er so schreckliches Heimweh habe nach seinem heißen Afrika. Ach, er thut mir zu leid!“

Gerda hielt erschöpft inne, ihr war der Athem bei dem überstürzten Sprechen ausgegangen. Unter ihren dichten Wimpern hervor stahl sich ein kurzer, ängstlicher Blick zu Onkel Grimms Gesicht empor. Als sie gewahr wurde, daß er nicht böse, sondern ernst und theilnahmvoll aussah, seufzte sie erleichtert auf.

„Gott, Onkel Grimm, Sie halten mich für eine schlechte Schwester, und ich bin auch eine, ich fühl’ es ja selbst – aber ich kann nicht anders! Ich wäre eine gute Schwester geworden, stolz auf Stella und ohne Neid, ich hätte sie verehrt und bewundert, wenn sie ein wenig, nur ein klein wenig lieb mit mir gewesen wäre! Aber mich hat niemand lieb, man hat mich im ganzen Hause herumgestoßen und herumgeschoben, als wenn ich allen nur im Wege wäre, und keines hat sich um mich bekümmert und gefragt, ob ich leide. Wie ich noch ein ganzes Kind war, da hat Stella sich sorglos gehen lassen in ihrer Gefallsucht und hat geglaubt, ich verstehe das noch nicht; aber ich verstand recht gut. Sie hat die Herren so angesehen und so angelächelt, daß sie gar nicht anders konnten als annehmen, sie habe sie auch ungeheuer gern – und wenn dann die Briefe kamen und die Anfragen bei Papa, dann hieß es „Nein“, und sie lachte über die einfältigen, eingebildeten Männer. Und mit Werner Troost ist sie heimlich verlobt gewesen – ganz gewiß, Onkel, es ist Wahrheit! Ich wollte es bloß vorhin nicht sagen, als Herr Andree hier war, aber ich hab’ es einmal im Garten draußen auf der Uhlenhorst mit angesehen, wie sie sich geküßt haben. Und jetzt werd’ ich es Ihnen auch erzählen, was ich vor einer Weile nicht sagen wollte – das, was Werner Troost einmal zu mir gesagt hat. Es war damals, als Stella nicht zu Hause war und er mit Wolf und mir spielte und wir das Eichhörnchen sahen. Da verlangte er, wir sollten ihn Werner und Du nennen, und Wolfgang war auch gleich bereit – aber ich wollte nicht und meinte, das schicke sich nicht. Da bekam er mich bei meinem Zopf zu fassen und zog mich in seine Arme und flüsterte mir zu: ‚Und Du sollst mich Werner nennen und duzen, hörst Du? Seinen Schwager muß man Du nennen, kleine Schwägerin!‘ Gleich darauf legte er erschrocken den Finger an die Lippen: ‚Aber schweigen, Gerda! Versprichst Du mir? Gegen jedermann, es sei, wer es sei!‘ Ich versprach’s und ich hab’ es auch gehalten – aber wozu jetzt? Werner Troost ist tot! – Sie, Onkel – für mich geht das nicht und würde auch gar keinen Eindruck machen – Sie müssen Herrn Andree sagen, daß Stella ganz bestimmt heimlich mit Werner Troost verlobt gewesen ist, und Sie müssen ihn vor ihr warnen!“

„Kind, das Du bist! Glaubst Du, das würde etwas helfen?“ fragte Grimm mit einem wehmüthigen Lächeln.

Gerda sah ihn erschrocken an.

„Sie meinen, es würde gar nichts helfen?“

„Helfen, Gerda? Im Gegentheil, es würde nur Oel ins Feuer gießen und ein falsches Licht auf den Warner werfen. Wenn es sonst von Nutzen wäre, würde ich das letztere gern ertragen.“

Sie waren beide eine Weile in trübes Sinnen verloren.

„Läßt sich nichts thun, Onkel?“ fragte endlich Gerda schüchtern.

„Nein, mein kleines Mädchen! Nichts, als dem lieben Gott vertrauen!“

„Ach! Der liebe Gott!“ Sie warf trotzig die Lippen auf.

„Du glaubst nicht alt ihn?“ fragte Herr Grimm sehr ernst.

„Ich möcht’ es schon thun, denn es muß schön sein, zu denken, er thut alles zu unserem Besten. Aber ich kann gar nicht recht! Wissen Sie, Onkel –“ Gerda trat nahe heran und flüsterte ihr Geheimniß dem alten Herrn ins Ohr – „bei uns im Hause glaubt kein Mensch an den lieben Gott, niemand will etwas von ihm wissen. Ich muß mich auch oft im stillen wundern, daß den einen alles glückt und den andern alles mißglückt – ist das gerecht? Die Armen müßten doch durch irgend etwas anderes dafür entschädigt werden, daß sie soviel entbehren müssen!“

„Das geschieht auch, mein Kind!“

„Wirklich, Onkel Grimm?“ fragte Gerda ungläubig. „Aber ich sehe es nicht!“

Du siehst es nicht, weil Du noch sehr jung bist und die Menschen noch nicht kennst. Wenn Du erst älter sein und mehr Gelegenheit haben wirst, Dich im Leben umzusehen, dann wirst Du erkennen, daß, trotzdem wir alle uns Christen nennen, in jedem Hause fast ein Götzenbild aufgestellt ist, dem die Menschen Opfer bringen und dienen. Hier ist es der Reichthum, dort Macht und Stellung, da der Ruhm, der Ehrgeiz, die Schönheit, – alles dies sind Götzenbilder, und die Leute, die sich ihnen unterwerfen, [747] sind solche, für die der Spruch: ‚Du sollst keine anderen Götter haben neben mir!‘ ein leerer Schall ohne jede Bedeutung ist!“

„Das ist wahr, Onkel!“ sagte Gerda mit Nachdruck. „Wir haben ja auch unser Götzenbild im Hause, und Abgötterei wird genug damit getrieben. Aber nun müßte Gott kommen und zeigen, daß er der Herr ist, er allein, – nicht wahr?“

„Das thut er auch. Gerda, wahr und wahrhaftig, wenn auch oft spät und oft auf wunderbaren Wegen. Ich hab’ es erfahren, mein Kind, ich könnte es mit Beispielen belegen, wie mancher beneidet und glücklich gepriesen wird und doch ein bedauernswerther Mensch ist!“

„Eigentlich“, meinte Gerda mit blitzenden Augen, „müßte ’mal wieder eine Sintfluth kommen und all die Götzenbilder und Götzenanbeter verschlingen, und bloß die Gerechten müßten übrig bleiben!“

„Rechnest Du Dich unter die?“ fragte Herr Grimm lächelnd.

Das Mädchen sah den alten Freund verdutzt an, – es zuckte ihr um die Lippen wie ausbrechendes Weinen.

„Sie meinen, Onkel, weil ich schlecht von den Eltern und von Stella gesprochen habe? Aber soll ich denn lügen und zu Ihnen kommen und sagen, sie sind gut und liebevoll zu mir, wenn sie doch das Gegentheil thun? Und immer schweigen und schweigen und alles hinunterschlucken, das kann ich auch nicht! Wer mich liebevoll behandelt, der kann alles, alles aus mir machen, und ich bin Ihnen auch dankbar und habe Sie sehr lieb.“

Gerda legte ihre Arme zutraulich um den braunen Sammetrock und küßte Onkel Grimm geradeswegs auf den Mund.

„Dank schön!“ sagte er lächelnd. „Und komm bald wieder, mein Kind!“

„Ja, Onkel, aber jetzt muß ich laufen, – wahrhaftig, es ist schon ganz dunkel, und ich habe noch zur Litteraturstunde die Biographie von Martin Opitz zu lernen. Offen gesagt, ich mach’ mir nichts aus dem Boberschwan! Aber nun adieu, Onkel! Und vergessen Sie nicht, dem Kaninchen etwas zu essen zu geben und den Hafis zu bewachen, daß er keine Raubgelüste empfindet!“

Der Onkel nickte und ging zu einem Schrank, dem er ein Päckchen entnahm.

„Hier, Du kleines Süßmaul, – die Chokolade nimmst Du mit!“

„Danke schön, Onkel! Wolf bekommt auch etwas davon ab! Wenn ich Sie nicht hätte …“

Sie schob das Päckchen in ihre Kleidertasche, warf dem Onkel eine Kußhand zu und wirbelte aus dem Zimmer.




14.

Jetzt endlich hat der Frühling Ernst gemacht und die alte Hansestadt mit seinem ganzen Segen überschüttet. Nun prangt sie im hellen Festkleide.

Bis in die schmalen Straßen, die Twieten, hinein funkelt das Sonnengold, und das Wasser in den Fleeten glitzert märchenhaft. die Sonnenstrahlen aber, die hier so mühsam durch Spalten und Risse schlüpfen müssen, haben draußen freieres Spiel. Da tanzen sie lustig die Außenalster entlang, lassen die Schaufeln der Dampfschiffe Massen von glitzerndem Schaum aufwühlen und leuchtende Funken von den Rudern der Jollenführer herabtropfen, da huschen sie über die lachenden Ufer und wärmen die spröden Knospen der Fruchtbäume, bis sie sich aufthun, langsam und scheu, um den Lenz bis tief in ihr kleines Blüthenherz blicken zu lassen, – und da stehen nun die braunen, stämmigen Apfelbäume mit ihrer weißrosigen Last, die hohen Birnbäume mit ihren weitausladenden schneeigen Kronen und die Kirsch- und Pflaumenbäume in ihrem duftigen zarten Kleide, das in jedem kosenden Windeshauch süß erschauert.

„Hinaus aufs Wasser!“ „Hinaus zum Fährhaus auf der Uhlenhorst!“ Das war jetzt die Losung für Hamburger und Fremde. Die Dampfbote und Jollen zeigten sich voll beladen, – wer mochte bei dem herrlichen, warmen Maiwetter einen andern Weg wählen?

Auch Se. Durchlaucht Fürst Riantzew sammt seiner hochgeborenen Gemahlin und den Kindern, selbstverständlich ein kleines Gefolge von Dienern und Bonnen mit einbegriffen, wünschten sich das Vergnügen da draußen einmal anzusehen, und da die kleine Mascha fast hergestellt und ihr viel Bewegung im Freien verordnet worden war, so ließ der Fürst einen kleinen Dampfer miethen – denn mit „fahrendem Volk“ konnte er doch unmöglich gemeinschaftliche Sache machen! – und begab sich mit seiner Familie bald nach genossenem Diner auf die Reise. „Die kleine Durchlaucht,“ Prinz Alexander Riantzew, des Fürsten Bruder, war leider nicht mit von der Partie. Der Fürst hätte so heiter sein können, da sein Lieblingskind genesen und das Wetter so entzückend war, aber sein erlauchter Herr Bruder machte ihm Sorge. Er wich ihm aus, er ließ sich so wenig wie irgend möglich blicken, er war, wenn sie je einmal zusammentrafen, zerstreut und einsilbig und beschränkte seine Unterhaltung auf das oberflächlichste Gebiet. „Er muß wieder gespielt haben!“ sagte sich der Fürst mit einiger Verstimmung. Einmal hatte er seine sorgenvollen Gedanken nach einer anderen Richtung wandern lassen, davon aber bald Abstand genommen. Der Prinz hatte ihn ja „auf seine Ehre und sein Gewissen“ versichert, daß er die bewußte Hamburger Familie nicht wieder aufgesucht habe. Nun also! Auf die Ehre und das Gewissen eines fürstlich Riantzewschen Sprossen konnte man sich schon verlassen! Daß diese Betheurung in der Vergangenheit lag und der Vereidigte sich geschickt einen Vorbehalt für die Zukunft offen gelassen haben könnte, kam dem Fürsten nicht in den Sinn. Solche Haarspaltereien lagen ihm selbst ganz fern, daher vermuthete er sie auch nicht bei seinem Herrn Bruder.

Die Außenalster wimmelte von Fahrzeugen; sie alle suchten langsamer zu fahren oder nahe am Bord des fürstlichen Dampfers vorüberzustreichen, sobald dieser in ihre Nähe kam. Seltsam genug sah ja auch die Gesellschaft aus, die dieser Dampfer trug. Unter einem sehr auffallend grellroth- und goldgestreiften seidenen Zeltdach lag die Fürstin, auf weichen Polstern lang ausgestreckt wie auf Makarts bekanntem Gemälde die ägyptische Kleopatra, mit der sie im übrigen nicht die leiseste Aehnlichkeit hatte. Ihre zarte, ätherische Schönheit hatte viel eingebüßt, nur ihr berühmtes Blondhaar, das in langen Locken niederfiel, war ihr in seiner ganzen Herrlichkeit geblieben. Sie trug ein aus blauer und röthlicher Seide zusammengewirktes Kleid, das im Sonnenlicht blendend schillerte, einen Goldgürtel um die biegsame Taille und einen Pariser Hut mit bunten Windenblüthen. Hinter ihr stand eine Georgierin in ihrer malerischen Landestracht, ein hübsches junges Geschöpf mit brennenden Augen, und hielt einen großen rothseidenen Sonnenschirm über ihre Gebieterin, die von dem Wiederschein der Seide in eine sanfte Rosengluth getaucht wurde. Ein paar Diener steckten in ihren rumänischen Nationalkostümen, dann war noch eine flinke, kleine französische Bonne da, ein schlanker, junger Mann, der Privatsekretär des Fürsten, und eine behäbige Russin, welche die Kinder beaufsichtigen sollte. Diese letzteren waren nach englischer Manier gekleidet, was besagen will, daß sie sehr wenig bekleidet waren und außer breiten, bunten Schärpen und Mützen und sehr üppigen Haaren möglichst viel von nackten Armen, Schultern und Beinchen sehen ließen. Sie sprangen und hüpften unaufhörlich auf dem Deck des Dampfers kreuz und quer herum und thaten aus Grundsatz niemals das, was man von ihnen verlangte.

Man wollte zum Fährhaus hinauf und fuhr langsam nahe am Ufer hin, um die schönen Gärten der reichen Hamburger mit Muße in Augenschein nehmen zu können. Selbst Madame la princesse hob die Lorgnette an dem langen goldenen Stiel vor die müden Augen und erklärte dem Gemahl in ihrem schleppenden Französisch: „Recht hübsch! Für eine deutsche Stadt recht hübsch!“

Und Fürst Emmerik freute sich, daß seiner unzufriedenen Gemahlin endlich einmal etwas gefiel, und fand es gleichfalls „recht hübsch“.

Der Dampfer war jetzt bis zu einem Garten gekommen, der an Größe und Schönheit die übrigen noch übertraf. Er hatte sehr schöne, alte Bäume, von denen einige bis dicht ans Ufer traten und ihre Zweige tief ins Wasser senkten. In das junge Laub der Buchen und Linden mischten sich die weißbeschneiten Häupter der zahlreichen Obstbäume, über den Rasenflächen lag das flaumige Maigrün in smaragdner Schönheit, und an den großen Bosketts entfalteten sich schon die Blüthen des Roth- und Weißdorns.

Aber dies hübsche Stück Frühlingsgarten war’s nicht allein, was die Blicke der fürstlichen Familie so besonders fesselte.

In der Nähe des Ufers war ein lebendes Bild zu sehen.

[748] Unter einer Gruppe von Apfelbäumen, deren aneinanderstoßende Kronen ein natürliches Schattendach bildeten, stand eine gußeiserne Gartenbank mit niedriger Rücklehne. Auf dieser Bank saß ein weißgekleidetes junges Mädchen, vielmehr, es balancierte auf einer Ecke der Bank wie ein großer weißer Schmetterling, der sich müde geflattert hat und nun für eine Weile hier auszuruhen wünscht. Sie hielt in ihren Händen eine dicke Strähne rother Seide, und vor ihr, etwas niedriger als sie, kauerte auf einem tiefen Rohrsessel ein junger Mann in dunklem Anzug, mit lichtblondem, sorgfältig frisiertem Haar, – mehr war nicht von ihm zu sehen, da er sein Gesicht dem weißgekleideten Mädchen zugewandt hatte und dem Wasser den Rücken zukehrte. Jetzt hob er seine beiden Hände auf, und der Strang rother Seide wanderte von ihr zu ihm hinüber, während sie einen aus Elfenbein geschnitzten Stern aus der Tasche zog und sich dran machte, die Seidenfäden darauf zu wickeln.

Das Mädchen im weißen Kleide war so schön, daß der Fürst einen halblauten Ausruf der Bewunderung ausstieß und sogar seine Gattin ein beifälliges: „Ei, sieh da!“ murmelte. Die völlig unbefangene Art, mit der das wundervolle Geschöpf dicht am Ufer der von Fahrzeugen aller Art belebten Alster saß und Seide wickelte, als sei es ganz allein, wirkte mit, die ganze Scene noch anziehender zu machen. Der Fürst mußte sich sagen, daß er kaum je in seinem vielbewegten Leben etwas so Vollkommenes gesehen hatte, als Gestalt und Gesicht dieses jungen Wesens.

Aber während er sich innerlich diese Kritik gestattete, hatte er zugleich ein unbehagliches Gefühl, und dies bereitete ihm der junge Mann, der da auf dem niedrigen Rohrstuhl saß und die Seide auf den ausgebreiteten Händen hielt. Dem Fürsten kam dieser blonde, schön gestutzte Kopf so seltsam bekannt vor. Das konnte doch nicht … Unsinn! Die Durchlaucht räusperte sich leicht, um ein beklemmendes Gefühl aus der Kehle fortzubekommen.

„Onkel Sascha!“ sagte in diesem Augenblick ein feines Stimmchen neben ihm. Er blickte sich um und gewahrte sein zweites Söhnchen, den kleinen Radu, und der Knirps wies wichtig mit dem ausgestreckten dicken Aermchen auf den blonden Mann am Ufer und wiederholte mit voller Sicherheit: „Onkel Sascha!“

„Wahrhaftig!“ bemerkte Ihre Durchlaucht die Frau Fürstin und hob sich ein paar Zoll von ihrem orientalischen Lager empor, um besser sehen zu können.

Fürst Emmerik biß sich auf die Lippe. War es erhört? Hier saß sein einziger Bruder Alexander, der Sproß eines rein fürstlichen Hauses, und leistete vor aller Welt einem unbekannten Mädchen augenscheinlich mit Entzücken einen Dienst, der schon tausendmal seine Rolle als Vermittler vertraulicher Annäherung im Leben junger Damen und Herren gespielt hat und vermuthlich ebenso oft noch spielen wird.

Zum Ueberfluß kehrte jetzt der junge Mann mit einer raschen Kopfwendung den Vorüberfahrenden sein Profil zu, und nun war keine Täuschung mehr möglich, es war wirklich Zoll für Zoll die „kleine Durchlaucht“, die jetzt glücklich lachend zu der jungen Dame in Weiß emporsah, – sie schüttelte gerade ihr Köpfchen und schien ihm eine Strafrede zu halten, vermuthlich hatte er sie zu viel und die Seide zu wenig angesehen, und es waren ein paar Fäden heruntergeglitten.

„Wie heißt sie?“ fragte die Fürstin ihren Gemahl. Der Dampfer war inzwischen vorübergefahren, und die tief niederhängenden Zweige der alten Bäume hatten das reizende Bild den Blicken entzogen.

„Ich weiß nicht!“ murmelte der Fürst verstimmt. „Ich glaubte, es sei längst vorüber. Man hat mir ihren Namen einmal vor längerer Zeit genannt, ich habe ihn jedoch vergessen. Aber ich werde Sascha den Standpunkt klar machen! Ich möchte nur wissen, was er sich eigentlich denkt!“

[757] „Gnädiges Fräulein,“ sagte unterdessen der verliebte Prinz, der noch immer das Seidengarn hielt und keine Ahnung hatte, daß soeben die Augen seiner nächsten Verwandtschaft voll Erstaunen und Unwillen auf ihm geruht hatten, „gnädiges Fräulein – hat Ihnen der Maler Andree hier draußen in Uhlenhorst schon seinen Besuch gemacht?“

„Nein, noch nicht!“ sagte Stella freundlich und sah dem Prinzen mit ihren leuchtenden Augen in das gespannt aufhorchende Gesicht. „Herr Andree weiß es übrigens, daß er nicht früher hier heraus kommen darf, als bis ich ihn rufe; es bestehen Gründe dafür.“

„Nun – – und Sie?“

„Ich? O – – ich werde ihn rufen, wenn ich es an der Zeit finde.“

Zwischen den geraden Brauen des Prinzen erschienen ein paar feine Fältchen. „Ich wollte, Sie thäten das lieber nicht!“ brachte er nach einer Pause hervor.

„Warum aber nicht, mein Prinz?“

„Mir zu Gefallen!“ Er machte seine schwermütigsten Augen und ließ die erhobenen Hände sinken. „Wenn ich Sie bitte – ich – ich weiß nicht, – aber mir ist dieser Herr nicht sympathisch.“

„Ach! Aber mir ist er sympathisch!“ rief sie wohlgemuth zurück und zog den rothen Seidenfaden straff – sie wollte doch sehen, ob sie die „kleine Durchlaucht“ schon richtig am Fädchen hatte. Da! Er hob gehorsam wieder die Hände auf. „Meine Eltern wollen sogar, ich soll mich von ihm malen lassen.“

„Ihre Eltern würden keine halbe Stunde auf ihrem Wunsch bestehen, sobald Sie selbst, meine Gnädige, sich weigerten.“

„Ganz recht, das würden meine Eltern nicht thun – sie sind sehr gut gegen mich. Aber warum sollte ich mich wohl weigern?“

„Sie können noch fragen?“

„Ja, ich kann noch fragen.“ Stella sah ihn so offen und harmlos wie ein Kind an.

Er biß sich in die Lippen.

„Ich möchte wissen, ob Sie wirklich so raffiniert grausam sind, um mich absichtlich zu quälen, oder ob Sie in der That so unbefangen sein können, nicht zu sehen – –“

„Ich sehe, daß Sie meine arme Seide mißhandeln und daß wir aufhören müssen, wenn Sie so fortfahren. Da! Wieder verwickelt! Mit Ihnen kann man keine Seide spinnen, Prinz!“

Er senkte den Kopf und murmelte: „Schon möglich!“

„Ich will versuchen, den Schaden zu verbessern.“ Damit stand Stella auf, näherte sich dem Prinzen und neigte sich über seine Hände, um den Knoten zu lösen.

Der junge Mann fühlte, wie ihm alles Blut ungestüm zum Herzen schoß. Er fühlte [758] ihren leichten Hauch auf seiner Wange, er athmete den feinen Duft ihres Haares ein, ihre Hand streifte die seine wieder und wieder. Er schloß beinahe ganz die Augen und blieb regungslos sitzen, wie gelähmt an allen Gliedern. Das weiße Kleid schimmerte vor seinem Blick, von den beiden blassen La France-Rosen, die Stella auf der Brust trug, ging ein betäubendes Duften aus – er hatte das noch nie an einer solchen Rose bemerkt. Die süße Mailuft, die blühenden Apfelbäume, der herbe Hauch des frischen, jungen Laubes, … alles umspann ihn mit einem fremdartigen Zauber.

– – Die Circe! „Den Schaden verbessern!“ hatte sie gesagt! Und sie vergrößerte ihn ins Unendliche, goß Oel in den Brand und schürte ihn auf jede Weise. Sie gab vor, den Knoten lösen zu wollen, und schürzte ihn so fest, daß er sich schwerlich jemals würde entwirren lassen. Dem Prinzen begann der Kopf zu schwirren. Daß er einmal beabsichtigt hatte, dies schöne Mädchen in sich verliebt zu machen, um schließlich in tadelloser vornehmer Haltung vom Schauplatz abzutreten: „Mein gnädiges Fräulein, – ich habe die Ehre!“ das fiel ihm keine Sekunde mehr ein. Er dachte, er rechnete, er plante nicht mehr – es ging ihm alles unter in dem einen brennenden Wunsch: ich muß sie haben – und Bruder, Stellung, Zukunft und Standesvorurtheil waren vergessen.

Fräulein Stella Brühl sah auf ihn nieder und wußte ebenso genau, was in ihm vorging, als er selbst es fühlte. Nun, sie konnte zufrieden sein! Das war ja über Erwarten rasch und gut gegangen! Eigentlich zu rasch! Sie hatte ja noch allerlei andre stille Pläne, die durften ihr nicht durch diesen kopflos verliebten Prinzen zu Wasser werden.

Wenn doch jemand käme! Die Lage mußte rasch geändert werden – so oder so!

Und es kam in der That jemand.

In der Nähe knirschte der Sand unter einem herankommenden Schritt. Das junge Mädchen ließ die rothe Seide los und trat zurück, der Prinz hob den Kopf und blickte verwirrt um sich, – vor seinen Blicken taumelte alles durcheinander.

Unter einer Gruppe junger Birken, deren herzförmige, hellgrüne Blättchen leise im Lenzeshauch bebten, trat Gerda hervor, und an ihrer Seite schritt Kuno, Ritter von Tillenbach, blöder und verlegener denn je einher.

„Es ist Besuch für Dich da, Stella!“ sagte Gerda kurz. „Hier – Kuno ist gekommen.“

Der Prinz nickte dem in röthliches Tuch gekleideten jungen Herrn, der wie ein halbgar gesottener Lachs aussah, einen herablassenden Gruß zu. Aus Gerda in ihrem unscheinbaren Kleide wußte er nichts Rechtes zu machen und grüßte sie daher auch nicht. Da sie Stella duzte, so hielt er sie für eine entfernte junge Verwandte des Brühlschen Hauses, die eine etwas untergeordnete Stellung einnehme. Daß sie die Schwester seiner Angebeteten sein könnte, darauf kam er einfach nicht, – er hatte überhaupt keine Ahnung, daß sie noch Geschwister habe.

Gerda konnte den hochmüthigen Prinzen nicht leiden, und da sie von dem Grundsatz ausging, jeder Herr müsse jede Dame stets zuerst grüßen, gleichviel, wie er heiße und was er sei, so grüßte sie ebenfalls nicht, und als Stella sie strafend ansah, machte sie ein ganz verständnißloses Gesicht.

„Ach Gott, bitte, Gerda, laufen Sie doch nicht fort!“ bat Kuno kläglich, als sie Miene machte, zu gehen. Der Gedanke, mit Stella, die ihm unerreichbar wie eine Göttin erschien, und mit dem Prinzen, der ihm unendlich imponierte, allein zu bleiben, machte den blöden Kuno ganz elend. Eigentlich plauderte er am liebsten mit Gerda, ihre schöne Schwester schüchterte ihn hoffnungslos ein, sein letztes Restchen Verstand flog davon, sobald er mit ihr reden sollte, – – und was sollte er denn auch mit ihr reden?

„Sind Sie heute allein zu uns herausgekommen?“ frug Stella. Sie behandelte Kuno leidlich, weil er ihr so gut zu paß gekommen war.

„Nein! Herr Grimm fuhr mit mir heraus. Er ist bei Ihrem Herrn Papa und redet mit dem. Aber was er mit ihm zu reden hat, das hat er mir nicht gesagt.“

Der Prinz, der neben einem blühenden Weißdorngesträuch stand und mechanisch an den kleinen, halberschlossenen Blüthen herumzupfte, wobei er sich abgewendet hielt, drehte sich plötzlich kurz um und sah Stella nach den Augen, mit einer zornigen und ungeduldigen Frage im Blick.

Das schöne Mädchen zuckte dazu leicht die Achseln, was ein wenig gleichgültig aussah und sich etwa übersetzen ließ: „Thu’, was Du willst! Wenn Du es nicht länger ertragen kannst – ich halte Dich nicht! Ich muß aber ausharren!“

Laut sagte sie dann: „Und Sie sind von den beiden Herren wohl fortgeschickt worden, Kuno? Sie müssen nämlich wissen, Prinz, Kuno und ich, wir sind Jugendgespielen, er ist einige Jahre älter als ich, hat aber immer viel Geduld mit mir gehabt und sogar mir zuliebe mit Wachspuppen gespielt und mit mir gekocht.“

„O ja, – ja!“ fiel Kuno eifrig ein. „Wir haben miteinander Chokoladencreme gemacht und kleine Omeletten gebacken, – wissen Sie noch, Stella, wie Sie sich die Händchen dabei verbrannten und weinten? Ich weinte auch, – ja, wahrhaftig, auf Ehre, ich weinte auch, – was hätte ich sonst thun sollen? Ich spielte immer sehr gern mit Stella, sie war ein so schönes Kind! Sie glauben es gar nicht, Durchlaucht, was für ein schönes Kind damals Stella war.“

„O ja, gewiß, ich glaube es schon,“ pflichtete der Prinz mit starker Betonung bei.

Der arme Kuno behielt den Mund vor Verblüffung offen, was nicht zu seiner Verschönerung beitrug. Hatte er etwas Dummes gesagt? Er drehte seinen niedrigen Sommerhut in den Händen hin und her und fragte endlich mit gänzlich verschüchterter, kleinlauter Stimme:

„Soll ich lieber wieder gehen?“

Darauf sah Gerda ihn mitleidig an und Stella lachte.

„Bewahre, Kuno! Die Herren drinnen können Sie entschieden nicht brauchen. Bleiben Sie nur! Hier – Sie können mir die Seide halten – aber vorsichtig, wenn ich bitten darf! So, – hierher setzen Sie sich! Warum sehen Sie so düster aus, Prinz Riantzew? Alte Jugend- und Spielkameraden haben doch auch ihre Rechte!“

„Zumal, wenn sie Millionenmännchen sind!“ dachte Gerda spöttisch den Mund verziehend.

Der Prinz lächelte ebenfalls spöttisch. Da saß nun dieser „Halb-Idiot“ in der Nähe des schönen Mädchens und nahm seine – des Prinzen – Stelle ein, und er – der Prinz – konnte daneben stehen und sich das ansehen! Unerhört! Was dachte, – was erlaubte sich denn diese Hamburger Bürgerstochter? Wenn auch keine Rede davon sein konnte, daß er – der Prinz – in einem solchen Hanswurst von Mann einen Nebenbuhler sehen durfte, so war doch die Art, wie Stella den einen neben den andern stellte, einfach empörend. Das beste war, er empörte sich wirklich und ging fort.

Einen entrüsteten Blick warf er noch auf die Gruppe – – und blieb halb abgewendet stehen. Denn dieser Blick hatte ihn in Stellas Augen lesen lassen, … was stand darin geschrieben?

„Du wirst doch nicht denken, ich könnte diesen armen Narren ernst nehmen? Du wirst doch nicht so abgeschmackt sein, mir zu zürnen? Ich bitte, ja, ich bitte Dich, thu das nicht! Sieh, es müßte Dir eigentlich an mir gefallen, daß ich ein so weiches Herz habe und Barmherzigkeit übe an dem blöden Jungen, den ich mit einem Wink meiner Hand selig machen kann. Bleib, ich bitte Dich, bleib!“

Das alles stand in den wunderschönen blauen Augen zu lesen, und der Prinz war auf solche Lektüre in hübschen Frauengesichtern sehr eingeschult. Er verstand also und blieb – – blieb ungern und zögernd, drehte der Gruppe fast den Rücken, – aber er ging doch nicht.

Gerda, die sich halb hinter ein Gebüsch zurückgezogen hatte und auf die niemand weiter acht gab, beobachtete das alles mit ihren klugen Augen. Ein halb belustigtes, halb verächtliches Lächeln hob ihre Lippe, – plötzlich schien ihr ein Gedanke zu kommen. Sie wühlte in ihrer Kleidertasche und brachte endlich ein ziemlich großes Stück weißes, zerknittertes Papier und einen Bleistift zum Vorschein. Sie zog ihr linkes Knie hoch, stemmte es gegen den nächsten Baumstamm, legte das Papier darauf, und in dieser unbequemen Stellung fuhr sie mit dem Bleistift auf dem weißen Blatt hin und her, fixierte dann wieder mit scharfem Blick die drei stummen Persönlichkeiten in ihrer Nähe und strichelte emsig weiter. Zuletzt lachte sie leise in sich hinein, sah prüfend [759] auf ihr Machwerk nieder, setzte mit fliegender Hast eine Unterschrift darunter und faltete das Papier sorgsam zusammen, um es sammt dem Bleistift wieder wegzustecken. Das Knie that ihr weh, als sie es endlich wieder herunterließ, aber sie sah ganz schelmisch und zufrieden aus, als sie sich sachte davonschlich.




15.

„Du wunderst Dich natürlich sehr, daß ich zu Dir herauskomme, nicht wahr, Brühl?“

Mit diesen Worten trat Herr Grimm, der einstige Freund und Compagnon des Senators Brühl, in dessen Wohnzimmer.

„Du willst sagen, ich freue mich, daß Du mir einmal die Ehre erweisest, hierherzukommen, lieber Bernhard,“ rief der Senator eifrig. „Nimm diesen Fauteuil, lieber Freund, er ist am bequemsten. Ich kann es nicht ausdenken, seit wann Du zum letzten Mal auf der Uhlenhorst gewesen bist.“

„Nun, – auf der Uhlenhorst bin ich oft genug gewesen, – nur hier in Deiner Villa, – nein! Du weißt es, ich komme nicht gern hierher!“

Der Senator schien es wirklich zu wissen und mit einem geradezu körperlichen Unbehagen zu empfinden. Sein Fauteuil mußte lange nicht so bequem sein wie der, welchen er seinem Gast angeboten hatte, denn er rückte unruhig darauf hin und her und sah in das sonnenbeschienene Grün hinaus, das sich vor dem geöffneten Fenster hinzog.

„Du darfst nicht denken, daß ich den armen Einfaltspinsel, den Kuno, extra in der Stadt aufgelesen habe, um ihn Dir, beziehungsweise Deinen Damen als auserlesene Ueberraschung mitzubringen. Wir trafen zufällig zusammen, und ich konnte nicht umhin, das kleine Jammermännchen unter meine Flügel zu nehmen. Genug von ihm! Die Prinzessin wird schon wissen, was sie mit ihm anzufangen hat. Es ist Gerda, um derentwillen ich komme.“

„Gerda?“ Des Senators Stirn verdüsterte sich.

„Warum siehst Du so unzufrieden aus?“

„Ich? Lieber Grimm, weil Gerda mir Sorge macht.“ Er rückte dem Gast näher und legte seine Hand zutraulich auf dessen Knie. „Was soll einmal aus dem Mädchen werden, ich bitte Dich! Ich, wie Du mich da siehst, habe alle Hände voll damit zu thun, die Ansprüche meiner Frau und Tochter –“ er sprach, als ob er nur eine einzige Tochter hätte! – „zu befriedigen. Wenn man eine solche Tochter hat, dann giebt es Verpflichtungen, – kurz, – das begreift sich. Jetzt das Porzellanzimmer, – ein Wunder von Geschmack und Schönheit, aber natürlich auch an Kostbarkeit,“ – er lachte etwas gezwungen – „und ein großes Bild soll von ihr gemalt werden, – hier soll es ein Einweihungsfest geben, – ich muß mich geschäftlich nach allen Seiten hin stark engagieren, um nur diese häuslichen Ausgaben zu decken. Ja, wenn Du mir noch mit Deinem bewährten Rath, mit Deinem kolossalen Ueberblick und Deiner Geschäftskenntniß zur Seite stehen wolltest! Es giebt Deinesgleichen sobald nicht in der Hamburger Kaufmannswelt, und es würde mir vom ungeheuersten Nutzen sein –“

„Laß’ doch das, Brühl!“ unterbrach ihn Herr Grimm mit einer abwehrenden Handbewegung und völlig unbewegter Miene. „Du weißt, das ist vergebliche Mühe, und Du kennst auch meine Gründe dafür. Was hat das alles mit Gerda zu thun?“

„Ja so, – mit Gerda!“ Der Senator bemühte sich, seine Enttäuschung zu verbergen und einen Seufzer zu unterdrücken. „Ich meine eben, lieber Bernhard, ein solches Mädchen, das nun einmal so aussieht wie sie und also nicht die mindeste Aussicht bietet, einmal eine Partie zu machen, – ein solches Mädchen muß doch wenigstens etwas lernen. Ich lasse es mich ein gehöriges Stück Geld kosten, damit sie und der Junge vorwärts kommen“ –

„Aber nach der falschen Richtung!“ unterbrach ihn Grimm mit gerunzelter Stirn. „Weil der Junge träge und nicht sehr begabt zum Lernen ist, darum muß das arme Kind, Gerda meine ich, sich mit alten Sprachen und allerlei schwerem, unverdaulichem Zeug vollpfropfen, das ihr im späteren Leben nur unnützer Ballast werden kann, und das, wofür sie die Natur bestimmt hat und wofür sie Veranlagung besitzt, bleibt in ihr unterdrückt und unausgebildet. Du weißt es, ich habe mich all diese langen Jahre hindurch jeder Einmischung in Deine persönlichen Verhältnisse enthalten, und es fällt mir schwerer, als Du ahnst, mein mir gegebenes Wort zu brechen und dennoch meine Hand in Deine Angelegenheiten zu stecken. Aber das Kind dauert mich zu sehr, – Du kannst daraus ersehen, wie ich es ins Herz geschlossen habe.“

„Was findest Du an dem Mädchen?“

„Das ist nun meine Sache!“ fertigte Grimm die Zwischenfrage kurz ab. „Wenn Du, als ihr Vater, Dir nicht die Mühe gegeben hast, das Kind zu beobachten und festzustellen, was an ihm beachtenswerth und liebenswürdig ist, ich habe mich dieser Aufgabe unterzogen und weiß, was ich von Gerda zu halten habe. Und wenn sie weiter so erzogen und behandelt wird wie bisher –“

„Hat sie sich über ihre Erziehung und Behandlung bei Dir beschwert?“

„Gleichviel, ob sie das that oder nicht – mit einem Wort, ich bin gekommen, um Dir einen Vorschlag zu machen. „Ich bin Stellas Pathe geworden, damals, weißt Du, als wir noch gute Freunde waren. Nimm Du nun an, ich sei Gerdas Pathe! Die Prinzessin braucht mich nicht, – Gerda kann mich brauchen. Bei Stella stand Glück und Schönheit und Glanz und Freude mit mir als Pathe, – bei Gerda stehe ich ganz allein da. Du und Deine Gemahlin, Ihr fragt nichts nach Eurer jüngsten Tochter, – gut denn: gebt sie mir! Laßt mich Gerda zu mir nehmen als mein Kind und für sie sorgen! Sie zu einem guten, tüchtigen Menschen heranzubilden, soll meine Lebensaufgabe sein.“

Herr Senator Brühl saß ganz starr da wie eine Bildsäule. Wie mußte Grimm das unreife, unschöne Kind lieben, um ihm, dem Senator, von dem er sich lange Jahre hindurch so absichtlich fern gehalten hatte, ein solches Anerbieten, das ihre beiden Häuser selbstverständlich wieder in nähere Beziehung zu einander brachte, zu stellen? Der Senator hatte lange Zeit hindurch mit aller Kraft danach gerungen, diese näheren Beziehungen wieder herzustellen, denn er fühlte es immer wieder, wie sein kühles und fremdes Verhältniß zu dem ehemaligen Freund und Geschäftstheilhaber ihm bei seinen alten Geschäftsfreunden schadete und wie es ihnen immer noch zu denken gab. Jetzt, nach so langen Jahren, sollte das anders werden? Würde es ihm auch heute noch nützen? Würde Grimm ihm auch geschäftlich die Hand reichen, wie er, der Senator, es sich so sehnlichst wünschte? Doch wohl! Aber seine Frau, und vor allem seine Tochter Stella, – was würden sie sagen, wenn er so ohne weiteres über Gerda verfügte? Sie hingen nicht an dem Mädchen, es war ihnen beiden gleichgültig, das war sicher, – aber sie würden beide außer sich gerathen, wenn sie Herrn Grimms Pflegetochter würde, das war ebenso sicher.

Freilich, wenn Grimm forderte, wenn er ernstlich sein Anerbieten in die Form eines Verlangens kleidete, dann hatte Herr Senator Brühl zu gehorchen, das wußte er nur zu genau. Seine Gemahlin und Stella hatten sich oft genug heimlich und laut gewundert, daß der Gatte und Vater Herrn Grimm einen so großen Einfluß einräumte, sich jederzeit seinem Urtheil unterwarf und von seiner Familie geradezu forderte – er, der sonst kaum etwas zu erbitten wagte! – daß sie auf Herrn Grimm jederzeit Rücksicht nehme. Einmal hatte sich der Senator Stella gegenüber die Bemerkung entschlüpfen lassen, er sei seinem ehemaligen Compagnon lebenslänglich verpflichtet für einen Dienst, den dieser ihm einst geleistet habe. Welcher Art derselbe gewesen, davon hatte er kein Wort gesagt, und schon die kurze Andeutung schien ihn zu reuen. Aber er stand unter einem moralischen Zwang, und wenn Herr Grimm jetzt sagte: „Ich will Gerda haben!“ so hatte sich der Senator zu fügen und sie ihm zu geben. –

Er zwinkerte mit den Augen, fuhr sich mit der rechten Hand durchs Haar, so daß das Sperbergefieder sich mehr denn je sträubte, und feuchtete seine trocknen Lippen wiederholt mit der Zungenspitze an.

„Ich stehe, – ich stehe,“ brachte er endlich hervor – „ich stehe unter dem Eindruck einer ungeheuren Ueberraschung, und ich bitte Dich, damit zu rechnen – mit meiner wirklich ungeheuren Ueberraschung zu rechnen! Du siehst mich überwältigt, mein lieber, alter Freund! Du siehst mich, – ja, Du siehst mich (Herr Grimm sah ihn in der That, und zwar mit sehr scharfen, prüfenden Augen!) vollkommen fassungslos. Es ist dies von Dir ein Anerbieten, das mir als Vater, das meiner Frau als Mutter völlig [760] unerwartet kommen muß. Ein Kind, – ein leibliches Kind fortgeben, – aus dem Hause geben? Ich frage Dich nur das eine: was werden die Leute dazu sagen?“

„Das ist mir herzlich gleichgültig, und es wäre mir lieb, wenn Du Dich auf denselben Standpunkt stelltest. Im übrigen, – ich werde die Thatsache, sobald sie erst eine geworden ist, schon zu vertreten wissen. Ich fühle mich allein, ich liebe die Jugend, ich möchte ein frisches, belebendes Element um mich haben, – Du leistest mir einen großen Dienst.“

„In der That, – Du bist zu gütig. Daß ich Dir jeden Dienst, – das versteht sich ja von selbst – – aber nun Gerda, – als belebendes Element – –“

„Mir ist sie eins! Mich belebt sie! Du kennst Dein eigenes Kind nicht, hast Dir nie die Mühe genommen, es kennenzulernen. Nun, schadet auch nichts, ich kenne Gerda, und ich möchte sie haben!“

Diesmal legte Herr Grimm schon mehr Nachdruck auf die letzten Worte. Dem Senatar wurde es sehr heiß. Er suchte lange nach seiner Rocktasche, um sein Taschentuch zu finden, betastete hilflos seinen ganzen Körper und athmete hörbar.

„Du gestattest, daß ich mit meiner Frau darüber spreche,“ murmelte er endlich.

„Mein guter Brühl,“ sagte Grimm sehr ruhig und strich mit zwei Fingern der rechten Hand über sein kleines Schnurrbärtchen, „Deine Gemahlin wird ganz und gar dagegen sein!“

„Oh!“ machte der Senatar. „Ja, siehst Du, – und Stella –“

„Auch Stella wird ganz und gar dagegen sein. Es ist Deine Aufgabe, den Widerstand dieser beiden Damen zu besiegen.“

Der Senatar sah sehr unglücklich aus, – ihn schien diese Aufgabe nicht zu begeistern. Er hatte endlich sein kleines, rothseidenes Taschentuch aus der Tiefe einer Rocktasche ausgegraben und bearbeitete damit sein feuchtes Gesicht.

„Wenn Du es durchaus wünschest …“

„Ganz recht! Ich wünsche es durchaus! Jetzt, da es Sommer wird, möchte ich natürlich das Kind nicht in meine Stadtwohnung einsperren, – sie hat hier mehr Freiheit, – vorausgesetzt, daß ihr genügende Freiheit gewährt wird, wofür ich Dich zu sorgen bitte. Da Deine Kronprinzessin keine Reiselust bezeigt, – ich glaube, die Gründe dafür zu kennen, aber gleichviel! – so werdet Ihr ja wohl alle hier in Uhlenhorst bis zum Herbst zusammenbleiben. Erfolgt Eure Uebersiedlung zur Stadt, dann möchte ich, daß Gerda ihrerseits zu mir übersiedelt. Du kannst ja Deine Gattin und Prinzessin Tochter einstweilen auf diese Thatsache vorbereiten. Abgemacht?“

Er hielt ihm die Hand hin, – aber der Senator zögerte immer noch. „Wenn es denn wirklich Dein voller Ernst ist …“

Herr Grimm erhob sich, seine ruhigen, klugen Augen begannen zu funkeln.

„Kannst Du ernstlich annehmen, ich würde mit einer so wichtigen Sache Scherz treiben? Mir ist durchaus nicht spaßhaft zu Muth, mein guter Brühl, wenn ich Dir zum letzten Mal sage: ich möchte Gerda haben!“

Es war das letzte Mal, – der Senatar fühlte es deutlich. Sein ehemaliger Freund hatte aufgehört, ihm einen Vorschlag zu machen, einen Wunsch auszusprechen: er forderte, – – und Brühl mußte gehorchen.

„Sei mir um Gotteswillen nicht böse, lieber, alter Freund,“ sagte er kläglich und faßte jetzt die Rechte des anderen mit seinen beiden Händen, „es soll ja alles sein, wie Du sagst, ich werde mit Molly und Stella reden und werde den harten Strauß muthig auszufechten bestrebt sein. Denn ein harter Strauß wird es werden, Bernhard, Du – Du kannst Dir schwerlich davon eine Vorstellung machen! Es ist von Dir, einem Hagestolzen, nicht zu verlangen, daß Du Dich in die Gefühle eines Vaters, einer Mutter und einer Schwester versetzest, denen man – –“

„Bitte,“ unterbrach ihn Herr Grimm trocken, „Du kannst dies immerhin dreist von mir verlangen, obgleich ich unverheirathet bin. In die Gefühle, die Ihr als Eltern und Stella als Schwester für Gerda hegt, kann ich mich mit leichtester Mühe hineinversetzen, und ich weiß ganz genau, daß ich keinem von Euch das Herz zerreiße, wenn ich das Mädchen zu mir nehme. Du wirst Deine Frau und Tochter noch heute von meiner und Deiner Absicht verständigen?“

„Ja!“ seufzte der Senator, vollständig überwunden.

„Und Du wirst ferner die Freundlichkeit haben, bei Deinem hier auf der Uhlenhorst bevorstehenden Sommerfest einigen Deiner Gäste – ich brauche sie Dir nicht näher zu bezeichnen – von der baldigen Umgestaltung der Dinge Mittheilung zu machen und ihnen zu sagen, ich hätte Dich und Deine Gattin gebeten, mir mein Pathenkind Gerda als Pflegetochter zu überlassen, und Ihr wäret darauf eingegangen. Daß nicht Gerda, sondern Stella einmal mein Pathchen gewesen ist, dürften die wenigsten wissen, denn die es wußten, werden es vergessen haben. Die neue Thatsache in Deinem ganzen großen Bekanntenkreise zu verbreiten, das werden die paar Gäste, denen Du Deine Eröffnung machst, schon mit der nöthigen Schnelligkeit besorgen; dergleichen kommt herum wie ein Lauffeuer. Ich selbst bin so frei, mich, entgegen meiner sonstigen Gewohnheit, zu Deinem Sommerfest gleichfalls als Gast einzuladen, und werde auch meinerseits alles dazu thun, Dir in die Hände zu arbeiten. – Inzwischen gestattest Du mir wohl, mein Adaptivkind schon jetzt mit einigen Kleinigkeiten zu erfreuen, nach denen, wie ich weiß, ihr kleines Herz steht. Ich rechne dahin auch ein Pferdchen, das in den nächsten Tagen hierhergebracht werden wird. Kann Stellas Jokey den ersten Unterricht nicht übernehmen, oder wünscht dies seine Herrin nicht, so werde ich für einen tüchtigen Reitknecht sorgen. Die Reitstudien sollen nicht nur ein Vergnügen für Gerda werden, sondern vielmehr auch ein ihrer Gesundheit zuträglicher Sport. Das Kind ist rasch gewachsen und blutarm, es braucht viel Bewegung in freier Luft. Ich gehe jetzt und suche mir meine neue Tochter im Garten auf, um ihr die Verhältnisse ein wenig klar zu legen. Daß sie gern einwilligen wird, glaube ich bestimmt zu wissen. – Also adieu, Brühl! Noch eins: bist Du zufällig bei Wildensteiner Prioritäts-Obligationen betheiligt?“

Der Senatar sah Herrn Grimm eine kleine Weile ganz starr ins Gesicht, ehe er überhaupt begriff. Diese vernünftige geschäftliche Frage mitten in die Unterhandlungen über Gerda hinein, die Grimm schon „seine neue Tochter“ nannte und über die er schon ganz als solche verfügte, machte ihn verblüfft. Sein Gast mußte die Frage wiederholen.

„Wo bist Du mit Deinen Gedanken, Brühl? Ich frage Dich, ob Du bei Wildensteiner Prioritäts-Obligationen betheiligt bist. Hast Du gekauft?“

„Ja, ich habe!“ sagte der Senatar langsam, noch immer ganz benommen.

„Wieviel? Eine große Summe?“

„Allerdings! So ziemlich alles, worüber ich für den Augenblick verfügen konnte – fünf- bis sechsmalhunderttausend werden’s sein.“

„Verkauf’, so rasch Du kannst! Such’ die ganze Geschichte, sobald es irgend angeht, loszuwerden, es ist ein ganz fauler Zauber damit. Nimm Kornhöfer Industrie-Aktien dafür!“

„Du meinst? Für alles?“

„Für alles! Du wirst gut dabei fahren, denk’ an mein Wort! Aber was Du thust, das thue bald! Du kannst gleich an Deinen ersten Buchhalter telephonieren, er soll die Obligationen schleunigst abwerfen und die Aktien belegen. Adieu!“

Herr Grimm war zur Thür hinaus.

Der Senatar, welcher so verdutzt war, daß er nicht einmal seinen Gast bis zur Thür begleitete, blieb sitzen und sah diese Thür an, wie wenn sie ihm helfen könnte. Er war kein schneller Denker. Es dauerte ziemlich lange, bis sich die Gedanken in seinem Kopf einigermaßen geordnet hatten.

Nun hatte Grimm seit langen, undenklichen Jahren zum ersten Mal wieder mit ihm von Geschäften gesprochen, ihm einen Rath ertheilt. Er erinnerte sich der Zeit, da ihm dieser Rath stets zur Verfügung gestanden hatte, der Zeit, da das Triumvirat Brühl, Winzer, Grimm gemeinsam eine Firma gebildet und gemeinsam sich gemüht hatte, emporzukommen. Sie hatten damals mit Recht Bernhard Grimm den „Kopf“ genannt, der das Ganze leitete, Brühl und Winzer waren die beiden Hände gewesen, die das ausführten, was der Kopf ersonnen hatte. Immer hatte er das Richtige getroffen, sie hatten oft mit einander gelacht über die wunderbar feine Witterung, mit der er Schwankungen an der Börse spürte, Veränderungen voraussah. Ohne Zweifel war auch der heutige Rath gut und werthvoll, mehr noch als damals, denn die langjährige Erfahrung hatte den Blick des klugen Mannes noch mehr geschärft, die Fühlung noch feiner gemacht. Er hatte seinem ehemaligen Compagnon diesen geschäftlichen Wink als ein Pflaster [762] auf die Wunde, die er ihm geschlagen, legen wollen, ihm einen Brocken zugeworfen, um ihm die soeben erlittene Demüthigung ein wenig zu vergüten, das fühlte der Senator recht gut, und seine Dankbarkeit hatte einen bittern Beigeschmack. Recht wohl war ihm ohnehin nie, wenn er diesen Grimm zu sehen bekam, so zuvorkommend er ihn auch stets behandelte.

Die guten, alten Zeiten! Die glücklichen Stunden, wenn die drei fröhlichen, sorglosen Junggesellen zusammensaßen und plauderten von ihrer lustigen Kinder- und Schulzeit, von ihren Eroberungen und Zukunftsplänen! Brühl war allezeit der ehrgeizigste gewesen, der, welcher am höchsten hinaus wollte, – er hätte am liebsten die waghalsigsten Spekulationen unternommen, um nur rasch zu Ansehen und Reichthum zu kommen. Aber Grimm, der vorsichtige „Kopf“, ließ es nicht zu, daß die vorschnelle „Hand“ übereilte Griffe that, er wollte stetig und langsam in die Höhe kommen und versprach es den zwei anderen immer wieder: „Nur Geduld, wir steigen schon empor!“

– – – Wenn nur Gerhard Winzer nicht immer ein so lockerer, leichter Patron gewesen wäre! Er konnte es nicht lassen, ab und zu „ein kleines Börsenmanöverchen“ auf eigene Hand zu machen, oft mit gutem Erfolg, denn er war sehr begabt, oft aber auch mit erheblichem Schaden. weil er eben ein Bruder Leichtfuß war und die Folgen nicht abmaß. Winzer spekulierte nicht aus Ehrgeiz oder Geldgier, beides lag ihm fern, aber er lebte gern gut, der Gedanke. sich diesen oder jenen Genuß versagen zu müssen, konnte ihn ganz elend machen; zudem hielt er es für seine Pflicht, die Firma großartig zu vertreten und die Leute zu dem Glauben zu bringen, es ginge ihr glänzend, was ja ihrem kaufmännischen Ruf nur nützlich sein könne. Der hübsche Gerhard Winzer, der überall gern gesehen wurde, dem niemand lange böse sein konnte, selbst der verständige Grimm nicht, ließ es sich wohl sein auf Erden, was, nach seiner Meinung, jedes Menschen erste Pflicht war. Er hatte Liebesabenteuer an allen Ecken und Enden, er hielt sich ein Pferd, hatte eine elegante Wohnung und liebte es, zuweilen ein kleines Spielchen zu machen, und wenn es auch ein Hazardspielchen war, – lieber Gott, das prickelte ihm so angenehm in den Nerven, und seine Nerven bedurften der Anregung! Aber einmal, da hatte es ein unglückseliges Zusammentreffen gegeben: ein auf eigene Hand von dem unternehmenden Gerhard Winzer geplantes Börsenmanöver, das sehr glänzend hätte ausfallen können, war ins Gegentheil umgeschlagen, die Firma hatte einen gehörigen materiellen Schaden, und, was schlimmer war, ihr Kredit, ihr Ansehen kam ins Wanken. Und dann hatte das nervenanregende Hazardspielchen großartige Verhältnisse angenommen, Winzer hatte böse Verluste gehabt, die er auszugleichen gedachte. Er lief, wie man zu sagen pflegt, seinem Gelde nach, aber es ließ sich von ihm nicht einholen, und es kam, als sich der ganze Verlust übersehen ließ, eine so bedeutende Ziffer heraus, daß selbst der leichtherzige Lebemann erschrak. Er sah nun selbst ein: so durfte es nicht weiter fortgehen, – er riß seine beiden alten Freunde ins Verderben und brachte die Firma um den Kredit. Darum beschloß er, zu gehen, was ihm weiter nicht so besonders schwer fiel, denn sein Heimathsgefühl war nie sehr stark entwickelt gewesen, und für seine Freunde war es besser, er befreite sie von seiner Persönlichkeit. Brühl zumal, der inzwischen eine sehr verwöhnte, anspruchsvolle Dame geheirathet hatte und bereits Vater eines Töchterchens war, fing an, den lustigen Verschwender mit nichts weniger als freundlichen Blicken anzusehen, und das alte, vertrauliche Verhältniß schien bedenklich gelockert. So zogen denn Grimm und Brühl mit Mühe noch eine kleine Summe aus dem so schwer geschädigten Geschäft und gaben von ihren eigenen Mitteln her, was sie entbehren konnten, das heißt, Grimm, der unverheirathet geblieben war und für sich selbst wenig verbrauchte, nahm den Löwenantheil davon auf sich, und mit diesem Gelde versehen, machte sich Winzer auf den Weg nach dem gelobten Lande Amerika.

Zuvor gaben ihm seine beiden Freunde noch ein kleines, hübsches Abschiedsessen in einem Weinkeller. Winzer war dabei bald lustig, bald sentimental; jetzt hatte er „große Rosinen“ im Kopf, sah sich als Krösus in Philadelphia herumstolzieren und die alte Hamburger Dürftigkeit mitleidig belächeln, – zehn Minuten später erblickte er sich im Geist als Drehorgelspieler, Zeitungsverkäufer oder Straßenfeger in einem schäbigen Habit, einen einzigen Cent in der Tasche, – und dazwischen leerte er sein Glas Röderer und knetete Brotkügelchen und baute eine Pyramide aus Austernschalen und griff sich plötzlich in die Brusttasche und zog ein zusammengefaltetes Papier heraus und drückte es Brühl in die Hand mit dem Rufe: „Da ist es! Da nimm es!“ Und auf die verwunderte Frage: „Was denn?“ hieß es in gerührt weinseligem Ton weiter: „Mein Lotterielos, Kinder! Ein ganzes! Redlich und ehrlich von meinem kleinen Privatgewinn bei den Dettebürger Hütten-Aktien erworben. Ich hab’s auf die Firma anschreiben lassen, der Esel von einem Kollekteur brauchte es ja nicht zu wissen, daß ich es auf meine eigene Kappe nahm. Nimm es hin, Brühl, edle Biederseele, und wenn es das große Los gewinnt, dann, Kinder, meldet es mir per Draht, und es soll mir lieb sein, die Kunde zu vernehmen. Ist’s aber, was leider viel wahrscheinlicher ist, eine verfluchte Niete, dann zündet Euch jeder mit der Hälfte dieses Loses eine Friedenscigarette an und raucht dieselbe zu meinem Andenken! – Geschrieben wird nicht eher, als bis ich zu vermelden habe: es geht mir gut! Und damit soll’s geschieden sein!“ – –

Brühl sah ihn deutlich im Geist vor sich, den fidelen Gerhard Winzer, wie er in dem grellen Lampenlicht vor ihm stand, den Kopf etwas geneigt, den Hut unternehmend schief gerückt, die schimmernden Augen halb zugedrückt. Er hatte die beiden Freunde abwechselnd an sein Herz gedrückt und hatte ein wenig geschluchzt und dazwischen gelacht und gesagt. „Kinder, es ist der Sekt!“ und hatte sie beschworen, nicht aufs Schiff zu kommen, denn ein Abschied zu Wasser sei das Scheußlichste, was er kenne, – dann war er gegangen.

Gegangen auf Nimmerwiederkehr! Denn sie hatten nichts mehr von Gerhard Winzer gehört, kein Laut, keine Kunde war mehr zu ihnen gedrungen. Sie hatten in den ersten Wochen nach seiner Abreise jeden Tag mit nervöser Geschwindigkeit die eingegangenen Postsachen durchblättert, umsonst, kein Lebenszeichen von Gerhard Winzer!

Kurze Zeit nach Winzers Abfahrt ging es aber den bei den zurückgebliebenen Freunden selbst schlecht, – so schlecht, daß sie wirklich kaum mehr an den Deserteur dachten, und wenn sie es thaten, immer in einem halb neidischen Gefühl: „Der ist doch gut dran! Der hat sich beizeiten aus dem Staube gemacht, und da drüben kennt ihn kein Mensch, während hier die Leute bald mit Fingern auf uns zeigen werden!“

– – – Sie hatten spekuliert, sie hatten es müssen, um sich einigermaßen in die Höhe zu arbeiten, sich von dem schweren Schlage, den die Firma erlitten hatte, zu erholen, – selbst der vorsichtige Grimm hatte das für nothwendig gehalten. Nun traf es sich unglücklich, daß ein großes überseeisches Haus, mit dem sie sich weit eingelassen hatten, ganz unerwartet seine Zahlungen einstellte und sie jetzt „fest saßen“, – zum Verzweifeln fest!

Namentlich Brühl verlor vollständig den Kopf, und man konnte ihm das nicht so ganz verargen. Grimm stand allein, er konnte schlimmstenfalls, wenn die Firma nicht mehr zu halten war, auch „hinüber“ gehen nach Amerika oder nach den Kolonien oder auch in eine andere Handelsstadt übersiedeln. Brühl aber hatte eine Familie gegründet, er brauchte viel, er war ein Hamburger Kind, eine stadtbekannte Persönlichkeit, er hatte einen großen Umgangskreis, machte ein feines Haus und war überdies, von seiner Gattin darin redlich bestärkt, eitel und ehrsüchtig, er wollte glänzen, eine Rolle spielen, nicht aber ins Dunkel zurücktreten oder gar aus seiner geliebten Vaterstadt verschwinden. Bernhard Grimm hatte Mühe, den Fassungslosen zu beruhigen und ihn von ganz gefährlichen Ideen abzubringen. Brühl sprach von Selbstmord, von Pistolenkugeln und anscheinendem Verunglücken bei einer Segelpartie, – er gestand seinem Freunde, daß seine Frau völlig ahnungslos sei, daß er nicht den Muth gefunden habe, ihr auch nur ein Wort von der so nahe bevorstehenden Katastrophe zu sagen, daß sie, ihrer etwas angegriffenen Gesundheit halber, eine kostspielige Reise mit Kind, Wärterin und Jungfer nach dem Süden unternommen, daß sie ihn zu einem Hauskauf gedrängt habe, da es sie geniere und demüthige, zur Miethe zu wohnen, und daß er diesen Kauf eigentlich schon abgeschlossen habe, im festen Vertrauen, ihre Spekulation werde sich glänzend bewähren. Grimm war entrüstet über so viel Unvernunft und Schwäche, allein seine Entrüstung machte die Thatsachen nicht ungeschehen. Das Schwert hing drohend über ihren Häuptern, jeden Augenblick konnte es herabstürzen. – –

[773] In diesem Augenblick gewann die Firma plötzlich das große Los! – – Die Hamburger Geschäftswelt nahm sehr viel Antheil daran. Diejenigen, die an Brühl und Grimm Forderungen hatten, athmeten auf, – Gottlob, sie würden zu dem Ihrigen kommen, daran war kein Zweifel. Den Unbetheiligten machte die Sache Spaß, sie fanden, dieser Brühl sei doch wie eine zähe Katze, immer falle er auf die Füße, man könne ihn werfen, wie und wohin man wolle. Die, welche vorsichtig gezögert hatten, sich mit der Firma einzulassen, beeilten sich, ihre Bereitwilligkeit darzuthun, mit ihr fortan Hand in Hand zu gehen. Und die Feiglinge, die wie die Ratten das sinkende Schiff schon verlassen hatten, strömten in hellen Haufen zurück und betheuerten, sie hätten nie an der Leistungsfähigkeit eines solchen Hauses gezweifelt.

Keiner von ihnen allen aber war Zeuge der Scene gewesen, die sich in dem kleinen Zimmer hinter dem Comptoir abspielte, als das Personal gegangen war. Es hatte niemand gesehen, wie Brühl mit zitternden Händen Papiere, die auf einem Tisch umherlagen, zusammengerafft und wieder auseinandergestreut und von neuem aufeinandergeschichtet hatte, anscheinend ohne Sinn und Verstand, und wie er es nicht wagte, die Augen zu Grimm aufzuschlagen, der ihn seinerseits mit einem ernst fragenden Blick [774] betrachtete, in dem allmählich eine Besorgniß, ein ungläubiger Schrecken aufzudämmern begann. Und wie jeder von ihnen sich hütete, die beklommene Stille mit einem Laut, mit einem Wort zu unterbrechen – – –

Bis Brühl plötzlich auf den Freund zustürzte und ihn bat, ihn beschwor, zu schweigen, mit beredten Worten, wie sie ihm sonst nie im Leben zu Gebot standen, ihm vorstellte, wie kein Mensch auf Erden den wahren Zusammenhang ahne, und wie Winzer immer leichtsinnig gewesen sei und der Firma geschadet habe, und welche Opfer man um seinetwillen habe bringen müssen, – und wie man doch nicht wisse, wo der leichtsinnige Mensch stecke und ob er überhaupt noch am Leben sei, – und wie er, Brühl – dies Geld, die Hilfe in der größten Noth, ja nur als Darlehn ansehe, nun und nimmer als Eigenthum, – wie er es Winzer zurückzahlen wolle bei Heller und Pfennig, in wenigen Jahren, – sicher, – das sei ja jetzt, da die Firma einen neuen Aufschwung nehmen werde, gar keine Frage, – und so weiter ins Unendliche hinein, – mit Schwüren, Thränen, Betheuerungen, Beweisen und Auseinandersetzungen.

Aber Bernhard Grimm blieb stumm, immer stumm unter diesem stürmischen Ausbruch, und als er endlich, endlich sprach, da war es seine fest abgegebene Meinung: man müsse in allen größeren Zeitungen Englands und Amerikas Aufrufe an Gerhard Winzer erlassen, die ihn aufforderten, sich zu melden, und ihm zugleich sagten, weshalb er sich melden solle. Diese Aufrufe müßten in regelmäßigen Zwischenräumen, die noch näher festzusetzen seien, wiederholt werden, und erst wenn nach Recht und Gesetz Gerhard Winzer als verschollen betrachtet werden dürfe, habe man nachzudenken, was mit dem Gelde anzufangen sei, und sich nach Verwandten des Verlorenen umzusehen, die das nächste Recht darauf hätten. Denn das Geld sei sein – Gerhard Winzers – Privateigenthum, und sie wüßten es beide, daß er das Los nur aus Bequemlichkeit auf die Firma hatte schreiben lassen, – thatsächlich habe er es mit seinem eigenen Gelde bezahlt.

Umsonst, daß Brühl dagegen einwarf, das Geld, das die Firma ihm zur Uebersiedlung gegeben, betrage mehr als das Vierfache des Werthes, den das Los als solches gehabt habe. Das sei Wortstreit und Spiegelfechterei, entgegnete Grimm unerschüttert – sie hätten Winzer dies kleine Kapital ohne Vorbehalt gegeben. Wer könne wissen, wie es Winzer inzwischen ergangen, wie rasch die an sich schon geringfügige Summe zu Ende gewesen sei; – wer könne wissen, ob dieser Gewinn, der ihm und ihm allein rechtmäßig bei Heller und Pfennig zukomme, ihn nicht vor Untergang und Verderben rette?

Darauf hatte Brühl sich seinem Freunde zu Füßen geworfen und seine Kniee umfaßt: er solle Erbarmen haben mit ihm, er sei ein verlorener Mann, und er flehe nicht für sich allein – sein geliebtes Weib, sein süßes Kind müßten mit ihm zu Grunde gehen, wenn er diese Hilfe nicht für sich benutzen könne. Gerhard Winzer sei ein einzelner Mensch und sehr begabt – wenn er ernstlich wolle, könne es ihm nicht fehlen, er werde immer und überall durchs Leben kommen. Für Gerhard würde dieser Lotteriegewinn, an den er sicher nie mehr denke, auf den er in keinem Fall rechne, nichts weiter bedeuten als einen unverhofften Glückszufall – für ihn – Brühl – bedeute er kaufmännische Ehre, Familienglück, die ganze Existenz … alles!! Und als Grimm gesagt hatte, eine kaufmännische Ehre, die sich auf einer wissentlichen Unterschlagung, ein Familienglück, das sich auf einem Betrug aufbaue, sei keine Ehre und kein Glück mehr zu nennen, … da griff Brühl zu seinem letzten, verzweifelten Mittel, zur Pistole, und schwur, sich zu töten, falls der andere ihm das Mittel zu seiner Rettung verweigere. Grimm sah, daß es ihm heiliger Ernst war mit dieser Drohung, und der Gedanke, ein Menschenleben, das Leben seines alten Kindheitsgespielen und Jugendfreundes, der überdies Gatte und Familienvater war, auf dem Gewissen zu haben, ließ ihn schwanken und zaudern. Und als Brühl ihm von neuem schwur, er nehme alle und jede Verantwortung einzig auf sich und er werde Gerhard Winzer seine Schuld abtragen, so wahr er hoffe, selig zu werden, – da wandte Grimm sich mit einem schweren, schmerzlichen Seufzer ab, nahm dem Genossen die Pistole aus der Hand und ging aus dem Zimmer, langsam und schwerfällig wie ein Mann, der eine drückende Last zu schleppen hat.

Und dann nahm das Haus Brühl, wie es vorauszusehen gewesen war, seinen Aufschwung – aber doch nicht so rasch und glänzend, wie man allgemein vermuthet hatte. Denn, was freilich kein einziger vorausgesehen hatte, Bernhard Grimm, der „Kopf“, die Seele des Geschäftes, trat zurück, und es gab fortan keine Firma „Brühl und Grimm“ mehr, sondern nur ein „Haus Brühl“!

Die Börsianer fragten sich voll Verwunderung, was da wohl geschehen sein müsse, um die beiden von einander zu trennen. Grimm fing auf eigene Hand an, Geschäfte abzuschließen, fürs erste in kleinem Maßstabe, immer aber gewinnbringend und sicher. Von Brühls Unternehmungen, welcher Art sie immer sein mochten, hielt er sich gänzlich fern, – selbst seinen Rath, seine Meinung versagte er ihm. Es konnte nicht ausbleiben, daß dies ein gewisses Aufsehen erregte und daß die Menschen hin und her riethen, wo wohl der Grund zu suchen sei. Dem wahren Sachverhalt kam aber keine einzige der zahlreichen Vermuthungen nahe.

Und die Jahre kamen und gingen. Mit boshaftem Lächeln ließ Fortuna, die launische Göttin, die Glückswage des Brühlschen Hauses auf und ab schwanken. Hausse und Baisse! Heute obenauf – morgen in Angst und Sorge, so war es ein beständiges Schwanken und Schweben. Denn man mußte hohe und immer höhere Einsätze wagen, um die beständig steigenden Ansprüche des Hauses zu befriedigen. Die Prokuristen und Buchhalter schüttelten den Kopf, am meisten aber that dies der Kassierer, der die kaum eingelaufenen Summen meistens auch sofort wieder ausfolgen mußte. Wo in aller Welt brachte denn der Prinzipal das viele Geld hin? Und auf was für gewagte Geschichten ließ er sich oft ein – Geschichten, von denen er offenbar nichts verstand und die nur dank dem freundlichen Zufall noch glatt abliefen! Man hatte ja einen bedeutenden Umsatz, und es war durchaus kein einseitiges Geschäft – aber wenn jemand in Speditionen, in Eisenbahnen, in Grundbesitz, in überseeischem Handel und auf dem Geldmarkt zu gleicher Zeit arbeiten wollte … dann, ja dann gehörte denn doch ein anderer Kopf dazu, als Herr Brühl ihn besaß. Grimm hätte es vielleicht fertig gebracht – Brühl aber konnte längst den Umfang seines Geschäfts nicht mehr übersehen, das Steuer war ihm aus der Hand geglitten, und er ließ sein Schiff treiben, wie es Wind und Wellen gefiel. Seinen Untergebenen schwindelte es oft, wenn er sich wieder in ein neues Unternehmen einließ – aber es lief noch immer gnädig genug ab. Zuweilen war wirklich ein großer Gewinn zu verzeichnen – und ging es nicht so gut, so kam man meistens doch nur mit einem blauen Auge davon.

Eine sehr große Summe aus dem Geschäft herauszuziehen, daran war nicht zu denken – das wußte Herr Grimm ganz genau, trotzdem er sich anscheinend gar nicht um die Brühlschen Angelegenheiten bekümmerte. Dennoch hielt er es für seine Pflicht, von Zeit zu Zeit seinen ehemaligen Freund und Compagnon an sein damals so bereitwillig geleistetes, mit hundert Eiden beschworenes Versprechen zu erinnern. Und jedesmal, wenn Brühl ihn mit gesenktem Blick und stockender Stimme versicherte, es sei ihm ganz unmöglich, jetzt sein Wort einzulösen, wenn er nicht sich und die Seinigen ruinieren wolle – jedesmal ging Grimm mit herber zusammengepreßten Lippen und verächtlicher flammenden Augen stumm von ihm fort.

Allerdings – die Entschuldigung, die Brühl jedesmal bereit hatte, mußte man einigermaßen gelten lassen: Gerhard Winzer war und blieb verschollen. Grimm hatte auf eigene Hand die geplanten Aufrufe in den bedeutendsten englischen und amerikanischen Zeitungen erlassen, freilich mit dem schwer wiegenden Unterschiede, daß eine andere Veranlassung genannt wurde; es hieß nicht, der Gesuchte habe eine Masse Geld gewonnen, sondern seine Freunde wünschten seinen Aufenthalt zu erfahren, um ihm wichtige Mittheilungen machen zu können. Meldete sich der Verlorengegangene daraufhin, so wollte Grimm mit ihm zusammen aufs neue eine Firma gründen und mit seinem ganzen Kapital und Ansehen für dieselbe einstehen, und Gerhard Winzer sollte es gut dabei haben. Aber die Jahre vergingen, die Aufrufe wurden wiederholt, und er meldete sich nicht! –

Bernhard Grimm betrieb inzwischen sein Geschäft für sich, und es war durchaus nichts Aufregendes dabei, weder ungeheure Gewinne noch namhafte Verluste. Langsam und stetig arbeitete er sich in die Höhe, er ließ sich wenig in die Karten [775] sehen, es wußte eigentlich niemand so recht, wie er stand. Ihm war dies sehr angenehm; wenn er es nur selbst wußte! Sein Ruf, sein Kredit wuchs von Jahr zu Jahr, gewiegte Kaufleute kamen zu ihm mit Vorschlägen, mit ihnen gemeinsam Geschäfte zu machen – er nahm hier an und lehnte dort ab, wie er es für angezeigt fand. Zuweilen suchte ihn dieser und jener „Geschäftsfreund“ auszuforschen, was es denn eigentlich damals zwischen ihm und seinem langjährigen Compagnon Brühl gegeben habe. Darauf pflegte Grimm jedesmal mit einem eigenthümlichen Lächeln zu antworten: „Eine Meinungsverschiedenheit! Wir fanden denn doch, daß wir nicht in allen Stücken zueinander paßten!“ – Immer dasselbe, und weiter kein einziges Wort! Brühl sagte etwas Aehnliches, aber ein Unterschied war doch vorhanden: Brühl sah jedesmal unglücklich und verlegen aus, und Grimm nicht.

Der eine der ehemaligen Freunde war Senator geworden, führte ein großartiges Leben und galt bei allen denen, die nicht in seinen Geschäftsbetrieb hineinsehen konnten, als ein schwer reicher Mann, der die Ehre und das Ansehen, in welchem er stand, vollauf verdiente. Der andere hatte nicht den geringsten Titel, führte ein zurückgezogenes Stillleben bei Blumen, Bildern und Katzen und galt bei denen, die in Hamburg die „Welt“ bildeten, für gar nichts. Brühl hatte eine berühmt schöne Tochter, die sein Haus zum Brennpunkt für zahlreiche Leute machte – Grimm hatte nichts weiter, als ein paar hübsche Bilder und seinen Hafis, und die gaben keinen Brennpunkt ab. Er war damit auch ganz zufrieden und wollte es nicht anders haben.

Doch! Er wollte jetzt eine Pflegetochter haben!

0000000000000000

Bei diesem Endziel im Laufe seines Gedankenganges angekommen, seufzte Brühl tief auf. Es war ihm schlecht zu Muthe, und wenn er daran dachte, daß er jetzt „seinen Damen“ die Eröffnung in betreff Gerdas zu machen und ihnen zu sagen habe, daß sie diesmal unbedingt nachgeben müßten, dann wurde ihm noch bänger. Wie ein schwer geschlagener Mann erhob er sich, um sich in den Garten hinabzubegeben. Zuvor aber ging er doch zum Telephon und gab seinem ersten Buchhalter den Befehl, die Wildensteiner Prioritäts-Obligationen loszuschlagen und für die ganze Summe Kornhöfer Industrie-Aktien zu nehmen, und zwar so schleunig als möglich!




16.

In dem schönen Hause, das Fürst Riantzew für die Dauer seines Hamburger Aufenthalts gemiethet hatte, herrschte seit zwei Tagen eine beklommene Stimmung. Und zwar ging die Schwüle, die sich darin verbreitete, diesmal nicht, wie sonst stets, von der Fürstin aus – diese war guter Dinge, fand Hamburg „nicht so übel“ und hatte sich mit dem Gedanken, noch ein paar Wochen hier bleiben zu müssen, so ziemlich ausgesöhnt! – sondern von dem Hausherrn. Der Fürst ging umher wie ein brüllender Löwe, und selbst die kleine Mascha, sein Liebling, die sich als Rekonvaleszentin noch etwas besonderes herausnehmen durfte, mußte sich barsch abweisen lassen und kam mit feuchten Augen und einem weinerlich verzogenen Mäulchen aus seinem Arbeitszimmer: „Papa böse – Mascha weinen!“

Daß es eine Scene zwischen dem Fürsten und seinem prinzlichen Bruder gegeben hatte, wußte das ganze Hauspersonal, aber die Ursache blieb ihm unbekannt. Man hatte nicht lauschen können, des Fürsten Arbeitskabinett, wo sich der Streit abgespielt hatte, lag zu unbequem dazu. „Gewiß eine Liebesgeschichte, mein schönes Kind!“ versicherte der Kammerdiener der niedlichen georgischen Zofe und schien nicht übel Lust zu haben, seinerseits gleichfalls eine Liebesgeschichte in Scene zu setzen.

Es war ganz einfach gewesen: der Fürst hatte seinem Herrn Bruder gesagt, wann und wo und in welcher Lage er ihn erblickt, und hatte ihm seinen Wunsch ausgesprochen, er, der Prinz, möge je eher je lieber aus Hamburg verschwinden. Und der prinzliche Bruder hatte sich kurz und rund geweigert.

Anfangs hatte der Fürst dies für Scherz genommen, allein die „kleine Durchlaucht“ war weit davon entfernt, zu scherzen. Als der ältere Bruder entrüstet fragte, was das eigentlich bedeuten solle, entgegnete der jüngere gelassen, das bedeute seine bevorstehende Verlobung mit Fräulein Stella Brühl.

Auf dies hin verlor der Fürst zuerst die Sprache – dann fand er sie wieder und zwar mehrere Sprachen auf einmal. In einem Gemisch von Rumänisch und Französisch, ab und zu von einem kräftigen englischen Fluch unterbrochen – die englische Sprache ist reich an Kraftausdrücken! – hielt er dem jungen Mann das Unmögliche eines solchen Schrittes vor. Der Prinz erwiderte in einem ganz tadellosen Französisch, es sei nichts in dieser Welt unmöglich, was man ernstlich wolle, und er wolle dies sehr ernstlich. Der Fürst schrie ihm zu, er werde seine Hand von ihm abziehen – der Prinz entgegnete mit unerschütterter Ruhe, das werde ihm sehr leid thun, indessen Herr Senator Brühl sei überaus reich, wie ihm jedermann sagen könne, und werde entschieden nicht die Hand von seiner Tochter abziehen, wenn sie einen Prinzen heirathe – im Gegentheil! Der Fürst drohte, der Bruder werde sich durch die bürgerliche Gattin die ganze Laufbahn verscherzen – der Prinz erwiderte, dies fürchte er durchaus nicht, und nannte eine Reihe vornehmer Standesherren, die das gleiche gethan hätten, was er vorhabe, und doch, dank ihrem alten Namen und ihren hohen Verbindungen, die ganze Stufenleiter bis zum Gesandten- oder Botschafterposten durchgemacht hätten. – Der Fürst zählte die ganze lange Stammtafel Derer von Riantzew her, die auch nicht durch einen einzigen bürgerlichen Namen entstellt werde, und fragte seinen Bruder, ob er es über sich gewinne, dieser erlesenen Gesellschaft die Schande anzuthun und eine Hamburger Kaufmannstochter in dieselbe einzuführen. Der Prinz antwortete, eine Schande könne er nicht darin sehen, dem alten Stamm ein frisches Reis aufzupfropfen, und die fürstlichen Ahnen würden an soviel Schönheit und Jugend sicher ihre Freude haben. Die Zeiten seien eben andere geworden, die alten, abgebrauchten Begriffe müßten verschwinden, und er, der Fürst selbst, habe ja so oft gesagt, man müsse mit überlebten Vorurtheilen aufräumen und das Panier der neuen, aufgeklärten Zeit schwingen. Auf die unwirsch hingeworfene Bemerkung des durchlauchtigen Bruders, er habe das nicht persönlich gemeint und jedenfalls nicht seinen einzigen Bruder zum Bannerträger der Aufklärung ausersehen, meinte dieser, das habe er nicht wissen können, da diese Auslassungen ihm gerade an seine Adresse gerichtet erschienen wären.

Die ältere Durchlaucht batte ihre Haltung vollständig verloren, die jüngere die ihre ganz und gar bewahrt, die ältere lief aufgeregt im Zimmer auf und ab, die jüngere saß seelenruhig auf einem kleinen Brokatdivan. Das Ende vom Ganzen war, daß sich der Fürst aufs Kapitulieren legte und, statt mit Drohungen, mit Bitten kam. Aber das half alles nichts. Die kleine Durchlaucht erklärte, so lange in Hamburg zu bleiben, bis Stella Brühl ihr Jawort gegeben habe – und dann natürlich erst recht nicht abzureisen. Als der Fürst höhnisch fragte, wann denn die Werbung vor sich gehen werde, entgegnete der Prinz gefaßt, das wisse er noch nicht, vielleicht werde sich dies auf dem Gartenfest entscheiden, das Senator Brühl demnächst zu geben gedenke. –

Dies berühmte Gartenfest sehnte nicht nur Prinz Riantzew mit Ungeduld herbei – andern Leuten ging es ebenso. Waldemar Andree hatte eine von Frau Senator Brühl selbst geschriebene höfliche Einladung erhalten mit dem Zusatz, sie hoffe, daß dann auch die Angelegenheit mit dem Porträt ihrer Tochter eine endgültige Regelung finden werde.

Wieder in großer Gesellschaft! Wieder nicht mit ihr allein! hatte er geseufzt und das duftende Briefchen unmuthig beiseite geworfen. Aber gleichviel, gleichviel! Er würde sie doch sehen! Er würde sie sprechen! – –

0000000000000000

Selbstverständlich gab es am fünfundzwanzigsten Mai herrliches Wetter, nachdem dasselbe Tage hindurch unbeständig, kühl und trübe gewesen war. Aber heut lachte alles – Himmel und Sonne und Maiengrün um die Wette, und Stella Brühl schlug auch zwei lachende Augen auf. Natürlich! Heut gab sie ihr Sommerfest, heut mußte das Wetter wunderschön sein!

Sie sah ganz und gar nicht nach einer betrübten Braut aus, die den heimlich Geliebten betrauert. Im Grunde genommen dachte sie eigentlich fast nie mehr an Werner Troost, nur der Brief, den sie ihm zuletzt geschrieben und in welchem sie ihm sein Wort zurückgegeben hatte, beunruhigte sie noch zuweilen. Wo war der Brief nur geblieben? Verloren konnte er nicht gut sein, sie hatte diese Briefe stets auf der Post einschreiben lassen und an Werners Wirthin, Signora Marchini, adressiert, – innen lag dann der Brief an den jungen Bildhauer. Warum die Wirthin ihr nicht den [776] Brief zurückgesandt hatte! Sie hatte gleich am Tage nach ihrer Unterredung mit Waldemar Andree nach Rom geschrieben und Signora Marchini gebeten, ihre sämmtlichen Briefe, namentlich aber den letzten, ihr wiederzuschicken, sie hatte aber keine Antwort bekommen. Eine dumme Geschichte! Es ging ihr doch sonst im Leben alles so glatt nach Wunsch, – warum dies nicht?

Freilich, – doch nicht alles! Sie würde vor Andree Komödie oder vielmehr Tragödie spielen und einen streng beherrschten Kummer heucheln müssen, den sie nicht empfand. Aber das war nicht schlimm! Stella war eine geschickte Schauspielerin, sie stand so zu sagen eigentlich immer auf der Bühne und befand sich vortrefflich dabei. Was ihr jetzt so unangenehm war, ja, sie sogar ernstlich verstimmte, das war die Thatsache, daß ihre Schwester Gerda Herrn Grimms Pflegetochter werden und demnächst das elterliche Haus verlassen sollte.

Sie machte sich nichts aus ihr, sie nahm mit ihrem Herzen gar keinen Antheil an ihr. Sie hatte überhaupt keinen Familiensinn, – hätte sie ernstlich darüber nachgedacht, ob sie ihren Vater, ihre Mutter liebe, sie wäre zu dem Ergebniß gelangt, daß es nicht der Fall sei. Aber sie dachte nicht daran. Sie bildete sich ein, ihre Eltern lieb zu haben, – sie waren ja so gütig gegen sie, überhäuften sie mit den schönsten Dingen, kamen ihrem Hang zu Eleganz und Luxus immer bereitwilligst nach, widersprachen ihr nie und schmeichelten ihr unermüdlich. Und das mußte so sein, das verlangte Stella. Es gehörte zu ihrem Leben so untrennbar wie die Luft, die sie athmete, wie das Licht, das sie sah. Immer wieder, in jeder Form, sei sie nun alt oder neu, geistreich oder kindisch, schwungvoll oder unbeholfen, verlangte sie diese ihre eigentliche Lebensnahrung, und wehe dem, der sie ihr nicht bot!

Und Gerda, ihre jüngere Schwester, bot sie ihr nicht!

Darum konnte die schöne Stella das Kind nicht leiden, darum demüthigte und ärgerte sie es, wo sie nur konnte, darum reizte sie die Eltern gegen dasselbe auf und gönnte ihm keine Freude! Die Natur hatte die unvergleichliche Stella mit so vielem überreich bedacht, wozu hätte sie ihr auch noch Gemüth verleihen sollen? Hiervon besaß sie wirklich keine Spur, sie beklagte sich aber auch nicht im mindesten darüber, denn Gemüth kann oft sehr unbequem werden, und dagegen lehnte sie sich auf. Das unausgesetzte Intriguenspiel mit Gerda machte ihr Scherz, sie hatte sich an diesen kleinen häuslichen Guerillakrieg gewöhnt, und da sie klug und eine gute Beobachterin war, so durchschaute sie selbstverständlich die junge Schwester so vollständig, als ob diese von Glas wäre, errieth ihre Wünsche und Neigungen, ihre Sympathien und Antipathien sofort und richtete sich dann gelassen danach ein. So hatte sie es alsbald herausgefunden, daß Gerda in ihrer ungestümen, knabenhaft versteckten Art für Herrn Andree schwärmte, weil er ein paar Mal freundlich und gütig gegen sie gewesen war, und es gewährte Stella nun doppelten Scherz, Herrn Andree in sich selbst verliebt zu machen, doppelten, denn er gefiel ihr auch ohnehin gut, und sie dachte es sich neu und hübsch, einen so ernsten, zielbewußten Menschen ganz um seinen Verstand und seine Fassung zu bringen.

Und nun sollte das alles bald ein Ende haben, – und warum? Bloß, weil Papa einmal vor Jahren von diesem fatalen Grimm einen großen Dienst angenommen hatte und ihm nun dafür so verpflichtet war, daß er ihm in allem gehorchen mußte! Stella war sehr, sehr ungnädig gewesen, als der Vater ihr und der Mama die Eröffnung gemacht hatte, daß er Gerda als Pflegetochter an „seinen Freund Grimm“ abgetreten habe, sie hatte einen sehr unkindlichen Ton angeschlagen und Dinge gesagt, die jeder andere Vater wohl nur auf eine einzige Art beantwortet hätte; aber Herr Brühl ließ sich den Ton gefallen und bestand auf seinem Verlangen, – er that es wahrhaftig! Grimm habe das Recht, eine Gegenleistung von ihm zu fordern, er habe es all’ diese Jahre hindurch nicht gethan, – nun sei der Zeitpunkt da, und sie wären quitt miteinander. Umsonst, daß Stella ihrer Mutter zurief: „Mama, das läßt Du Dir gefallen? So setz’ Dich doch zur Wehr, Du kannst das nicht hingehen lassen, Gerda ist ebenso gut Deine Tochter wie Papas!“ – umsonst, daß Frau Molly ihre beringten Hände rang und erklärte, sie leide es nicht, – der Senator stand da wie ein Fels im Meer, an dem alles abprallt. Er versprach „seinen Damen“ alles, was sie nur von ihm verlangten, zumal wenn das „neue Geschäft“ gut einschlage, – das waren die Kornhöfer Industrie-Aktien, die ihm Grimm empfohlen hatte! – aber in diesem einen Punkt sei alles Reden und Bitten nutzlos: Gerda gehöre bis zum Herbst dem Namen nach noch ihnen, das heißt, sie bleibe bis dahin noch im elterlichen Hause, thatsächlich aber bestimme Grimm schon jetzt über sein künftiges Adoptivkind, und das könne er nun nicht hindern. Sein Engel, sein Prinzeßchen, seine Stella, die ja ihrer Eltern Stolz und Augenweide sei, solle gut und einsichtsvoll sein! Was könne denn ihr an dem unreifen, ungezogenen Ding liegen, mit dem sie nur ihren Aerger gehabt?

Stella hatte keine Antwort darauf gegeben, die bittend hingestreckte väterliche Hand unsanft beiseite geschoben und sich in ihrem Innern das Geständniß gemacht, daß sie Papa nicht leiden könne. Wie durfte er so schwach, so charakterlos, so ohne Willen sein? Sich beliebig von diesem Menschen am Gängelbande leiten lassen? Gewiß hatte er einmal eine ungeheure Dummheit begangen, und Grimm hatte sie gut gemacht oder vertuscht. Diese unehrerbietige Kritik übte Stella ganz kaltblütig in der Stille, während Herr Brühl sein Sperberhaupt tief zwischen die Schultern zog und ängstlich und verstohlen zu dem schönen Haustyrannen hinüberschielte.




17.

Die Einladung zum Brühlschen Gartenfest lautete zum Diner pünktlich um vier Uhr. Andree hatte sich einen Wagen genommen, entdeckte aber, als er der Villa auf der Uhlenhorst nahe kam, daß er wohl um zwanzig Minuten zu früh dort anlangen werde.

Er ließ langsamer fahren, trat, am Ziele angekommen, in den Garten und stieg bedächtig eine mäßige, mit kurzem Rasen bestandene Anhöhe hinan, die ihn zu einem schmalen Kiesweg führte, welcher sich wie ein gelbliches Band durch hohe dunkle Buschpartieen schlängelte.

Am Ende dieses Weges stand er plötzlich vor einem kleinen, von Haselsträuchern dicht umwachsenen Tempelchen, das aus hellen, ungeschälten Birkenstämmen zusammengesetzt war und von den kräftig emporwuchernden Büschen wie von einer natürlichen Laube überwölbt wurde. Zwei Holzstufen führten in das Innere der ringsum offenen kleinen Halle, die innen gedielt war und ein Bänkchen von Birkenstämmen aufwies.

Hier bot sich dem leise Herzutretenden ein überraschender Anblick.

Auf dem Bänkchen kauerte, die Füße in seltsamer affenartiger Weise hoch heraufgezogen, die Arme um die Kniee verschränkt, der Negerknabe, den Andree bei jenem ersten Zusammentreffen mit Stella Brühl hinter ihr im Wagen erblickt hatte. Der Junge war heute nicht aufgeputzt, trug eine grellroth und weiß gestreifte Jacke und Hose aus geringem Baumwollstoff und keinen Fez auf dem krausen Negerhaar. Den Kopf hielt er gesenkt und ab und zu stieß er einen halb thierischen Laut aus, eine Art von Geheul, das in einem wilden Schluchzen endete.

Neben ihm, Andree den Rücken zukehrend, stand eine weiße Mädchengestalt, und das Herz des Lauschers klopfte plötzlich stärker bei dem Gedanken, dies könnte Stella sein. Er entdeckte aber seinen Irrthum augenblicklich, – die Gestalt war unentwickelt und hatte dunkles Haar, das in einen üppigen Knoten geschlungen und im Nacken festgesteckt war. Es war Gerda.

Sie sprach eifrig auf den Knaben ein, tief zu ihm herabgebeugt, in beschwichtigendem Ton, wie man zu einem aufgeregten Kinde spricht.

„Alles anders werden mit Dudu, alles anders werden!“ tröstete sie und klopfte mit der flachen Hand leise auf des Jungen gesenkten Kopf.

„Missie Gerda fortgehen, – Missie Gerda Dudu mitnehmen!“ fuhr sie fort, „Dudu besser haben, – nie mehr Schläge, – nie mehr frieren, – vielen Zucker essen, – immer bedienen bei Tisch! Dudu gut sein, – nicht mehr weinen, – nicht mehr weinen!“

Er stieß ein paar unartikulierte Laute aus und hob ein wenig den Kopf, und nun sah Andree, daß er wirklich weinte und daß dicke Thränen über sein schwarzes Gesicht liefen.

„Dudu Missie Gerda verstanden?“ fragte das junge Mädchen sanft.

Der kleine Neger nickte mehrmals bestätigend.

„Nun also! Gutes Kind sein, – aufhören zu weinen! Nix Taschentuch?“

[778] Dudu schüttelte heftig den Wollkopf.

Gerda zögerte einen Augenblick, dann faßte sie mit entschlossener Bewegung in die Tasche ihres weißen Wollkleides, aus der sie ein feines Batisttuch zum Vorschein brachte. Mit diesem wischte sie dem Negerknaben die Thränen ab. Andree sah jetzt ihr Profil und den theilnehmenden, gerührten Blick, den sie auf das schwarze Bürschchen heftete.

„Ein gutes Kind!“ dachte der Maler, und dabei machte er absichtlich eine Bewegung, die das Buschwerk in seiner Nähe rauschen ließ. Gerda blickte sich um und wurde roth, als sie ihn sah, lächelte aber glücklich und reichte ihm die Hand; er sprang mit einem Satz die zwei Stufen empor und schüttelte die dargebotene Rechte freundschaftlich.

Dudu war entsetzt zusammengefahren bei Andrees Erscheinen und wollte mit einem wilden Satz über die niedrige Brüstung davonspringen, aber Gerda griff ihm mit rascher Hand in das Wollhaar und hielt ihn fest.

„O, Gast, – o, Gast!“ jammerte er in ganz hohen Fisteltönen.

„Nix thun, – nix bös, – Dudu ruhig sein, – guter Gast, – lieber Gast, – Missie Gerdas gut Freund!“ beschwichtigte sie. „Er hat strengen Befehl bekommen, sich heut vor keinem Gast hier sehen zu lassen, daher seine Angst!“ erklärte sie, zu Andree gewendet.

„Warum denn nicht? Wer will denn Ihren Gästen dies interessante schwarze Exemplar vorenthalten? Er muß ungeheure Furcht haben, – sehen Sie nur, wie er zittert!“

„Er ist sehr feige, das ist wahr. Armes, dummes Mohrchen! Es soll ja auch sehr gescheite Leute in seiner Rasse geben, aber er gehört nicht zu ihnen. Er ist nicht begabter als ein Pudel.“

„Kann er gar kein Deutsch?“

„Er versteht es einigermaßen, wenn man in ganz kurzen, abgerissenen Sätzen zu ihm spricht, so wie ich es thue. Er selbst verfügt aber bloß über ein paar einzelne Worte, es ist furchtbar schwer, ihn zu verstehen.“

„Er hat es nicht gut bei Ihnen im Hause?“

Gerda schüttelte den Kopf.

„Dudu wird ganz nach Laune und ganz wie ein Spielzeug behandelt, und das,“ fügte sie ernsthaft hinzu, „müßte man keinem Menschen anthun, und wenn es auch nur ein einfältiges Mohrchen ist! – Dudu jetzt laufen,“ wendete sie sich wieder zu dem Knaben, „in Wäschekammer sitzen – verstecken – niemand finden, – Missie Gerda kommen später und Dudu Zucker bringen – er nennt nämlich alles, was ihm gut schmeckt, Zucker!“

„Aber warum soll er sich denn in die Wäschekammer verstecken?“

„Ach, er hat eine Dummheit gemacht und soll nun dafür durchgeprügelt werden; es ist nicht so fürchterlich damit, aber er ist nun ’mal ein verschüchtertes Geschöpf und flattert vor Angst. Ich hab’ ihn schon ein paar Mal dorthin versteckt, da findet ihn niemand, und bis morgen ist die Geschichte vergessen. Jetzt fort mit Dir, – husch!“

Dudu setzte zum Sprung an. Plötzlich aber warf er sich vor Gerda auf die Erde und preßte den Saum ihres Kleides an seine breiten wulstigen Lippen.

„Missie Gerda – Zucker, – Missie Gerda – viel Zucker!“

„So, so! Ja, ja, ich weiß schon!“ Sie sah nicht ohne Bangen auf ihr blendend weißes Kleid, das die schwarzen Fäuste gepackt hielten. „Damit meint er jetzt nämlich nicht, ich soll ihm vielen Zucker bringen, sondern ich selbst bin für ihn Zucker, also das Beste, Schönste, was es in seinen Augen giebt!“

Sie klopfte dem Jungen wieder mit der flachen Hand leicht auf den Kopf, und mit einem flinken, katzenartigen Satz war er über die Stufen weggesprungen und im Gebüsch verschwunden. –

„Jetzt lassen Sie sich zunächst einmal anstaunen, Gerda!“ sagte Andree lächelnd, trat einen Schritt zurück und musterte seine junge Freundin mit wohlgefälligen Blicken. „Was haben Sie mit sich angefangen, um so ganz wie eine Dame auszusehen?“

Gerda lachte.

„Ich bin zum ersten Mal in meinem Leben gut angezogen und gut frisiert. Sehen Sie doch meinen Gürtel! Von Silbergeflecht! Und dies hier sind echte Spitzen! Und mein Haar, – denken Sie sich, die Friseurin fand es hübsch!“

„Das wundert mich nicht! Ich fand es gleich so, und jetzt sieht man recht, welch’ feine Kopfform Sie haben!“

„Ja, und ich esse heut mit beim Diner!“ fuhr sie triumphierend fort.

„Das ist ja ausgezeichnet! Hoffentlich werden wir Nachbarn!“

„Ach nein!“ Gerda machte ein aufrichtig betrübtes Gesicht. „Ich muß neben dem dummen Kuno von Tillenbach sitzen!“

„Und Ihre Schwester?“

„Ich denke, neben Ihnen!“ Gerda sah einen freudig strahlenden Ausdruck in seinen Augen, und es zuckte um ihre Lippen.

Andree gewahrte nichts davon.

„Wer hat Sie denn so hübsch herausgeputzt, Gerda, und es durchgesetzt, daß Sie in der Gesellschaft erscheinen? Fräulein Stella?“

„Bewahre! Ach, Sie wissen noch von nichts? Sie haben Onkel Grimm nicht wiedergesehen, seitdem wir drei damals zusammen das Kaninchen jagten? Zu komisch, bei was für Beschäftigungen Sie mich immer treffen müssen! Heute wieder das Mohrchen!“

„Ja, ich habe Glück damit!“ gab er humoristisch zurück. „Aber Herrn Grimm habe ich wirklich seit damals nicht wiedergesehen – er war so freundlich, mir einen Besuch zu machen, traf mich aber leider nicht zu Hause.“

„Ja, denken Sie nur!“ Sie athmete hoch auf, und ihre Augen lachten mit den Lippen um die Wette. „Ich bin ja jetzt Onkel Grimms Kind! Er hat es Papa gesagt, daß er mich haben will, weil er einsam ist und sich eine Tochter wünscht und mich lieb hat – und Papa hat eingewilligt! Bis zum Herbst soll ich noch hier bleiben, um viel im Freien zu sein, und soll auch noch mit Wolfgang lernen, weil er doch erst zum Oktober aufs Gymnasium kommen soll, aber Onkel Grimm bestimmt schon jetzt alles für mich, er hat mir dieses hübsche Kleid geschenkt und mir die Friseurin geschickt und angeordnet, daß ich bei der Tafel erscheine. Aber das allerschönste“ – sie drückte die Hände fest zusammen, wie Kinder thun, die eine ganz unbändige Freude empfinden – „ich bekomme ein Pferd und Reitunterricht – ach Gott – ich hab’ es gar nicht glauben wollen, denn wie hatte ich mir das immer gewünscht!“

Ihre frohen Kinderaugen sahen zu Andree in die Höhe, und er nickte ihr bestätigend zu.

„Wunderschön! Und Sie freuen sich auf den neuen Pflegevater?“

„Freuen? Bloß freuen? Das ist gar kein Wort! Ich werd’ ihn anbeten, ich werd’ es ihm bis an meines Lebens Ende nicht genug danken können, daß er mich nimmt!“

„Aber Sie werden sich nach den Ihrigen sehnen, wenn Sie auch in demselben Hause wohnen! Sie werden Ihre Schwester vermissen, Ihren Bruder –“

„Wolf darf zu mir kommen, so oft er will!“ unterbrach sie ihn hastig.

„Und Ihre Schwester –“

„Stella sieht heut’ aus wie eine Fee in einem weißen crêpe de chine-Kleide! Aber mein Anzug ist auch schön – ich habe noch nie einen solchen besessen! Und diese Rosen hat der Gärtner mir geben müssen – echte La France!“

Ihn belustigte die harmlose Art, wie sie ihn auf alle Einzelheiten ihrer Toilette aufmerksam machte, aber er merkte doch, wie sie ihm auswich. Indessen näherte sich ein leichter Schritt, die Büsche zur Linken theilten sich, und Stella trat hervor.

Sie beantwortete Andrees tiefe Verbeugung mit einem leichten Kopfneigen; in ihren feuchten blauen Augen schimmerte es wie eine leise Wehmuth, ein unbeschreiblich süßer Reiz von leidvoller Sehnsucht machte das schöne Gesicht noch unendlich anziehender.

„Ich hörte hier Stimmen und kam näher!“ Sie reichte Andree die Hand und sah ihm verständnißvoll in die Augen. „Die Gäste fangen an, sich zu versammeln – aber mir war der Trubel zuviel, ich wollte Einsamkeit haben und bin eine Weile durch den Park gestreift. Wollen wir jetzt zu den übrigen gehen, Herr Andree? Sind Sie bereit?“

Er hatte wie in einem Bann zu ihr hinübergestarrt; ihre Erscheinung – wirklich feenhaft, wie ihre Schwester soeben gesagt hatte – und ihre Stimme thaten es ihm mehr denn je an. Auf sie zutretend, bot er ihr den Arm und wandte sich mit ihr zum Gehen. Nach Gerda blickte er kein einziges Mal mehr zurück – er hatte es vergessen, daß sie da stand und ihm nachsah.

[779] Aber Stella vergaß dies nicht. Nach ein paar Schritten drehte sie den Kopf zurück, blickte die junge Schwester an und dabei war der Ausdruck ihres Gesichtes gänzlich verwandelt; die süße Wehmuth, die stille Trauer waren wie weggewischt, es stand ein triumphierendes Leuchten in ihren Augen, als ob sie sagen wollte: „Ja, ja, Gerda, sieh mich nur mit großen Augen an – ich habe sie alle am Fädchen – und Deinen ehrbaren Herrn Andree auch!“

Da gingen sie hin – das duftige weiße Seidenkleid leuchtete noch einmal zwischen dem Grün der Gesträuche auf – nun war es verschwunden.

Und verschwunden war auch Gerdas Kinderfreude an ihrem neuen Anzug und an ihrer Frisur und an der Thatsache, daß sie heute als junge Dame am Diner theilnehmen sollte. Sie blickte an ihrem weißen Kleidchen hinunter und zupfte mechanisch an den Spitzen, und auf die echten La France-Rosen fielen ein paar helle Thränen nieder. –

Der große Gartensaal machte sich sehr hübsch mit den langen, reich geschmückten Tafeln und den Gruppen von hohen blühenden Büschen und Blumen in allen vier Ecken. Die breiten Flügelthüren, die zum Garten führten, waren zurückgeschlagen und ließen die milde, wohlige Mailuft hereinströmen. Süßer Fliederduft zog durch den weiten Raum, und die Silber- und Krystallgeräthe auf den Tafeln warfen funkelnde Garben im hellen Sonnenlicht.

Stella Brühl saß zwischen Andree und dem Prinzen.

Sie schien die düstere, stirnrunzelnde Miene, den vorwurfsvollen Blick des hochgeborenen Herrn gar nicht zu verstehen, sie sah mit ihrem unbefangen strahlenden Lächeln zu ihm auf, wenn er mit ihr sprach, und gab sich so geschickt den Anschein, das ganze Gespräch, das sie damals im Garten mit dem Prinzen geführt und dessen Inhalt sich auf Andree bezogen hatte, ganz vergessen zu haben, daß der Kavalier an ihrer Seite ganz stutzig wurde und sich ernstlich fragte, ob es wirklich möglich sei, daß ein junges bürgerliches Mädchen seinen – des Prinzen Riantzew! – nachdrücklich betonten Worten so wenig Beachtung schenken, ja, dieselben in unglaublich kurzer Zeit geradezu vergessen könne!

Für Andree hatte dies junge Mädchen, wenn sie sich von dem Prinzen ab- und dem Maler zuwandte, einen ganz andern Ausdruck. Nichts von strahlender Unbefangenheit und Seelenheiterkeit! Blumenhaft lieblich blickten die sehnsuchtsvoll verschleierten Augen, wehmüthig war das Lächeln um die süßen Lippen, und in der Stimme zitterte ein warmer Herzenston. Wenn sie zu Andree aufsah, dann schien sie sagen zu wollen: „Ich muß Komödie vor den andern spielen – Du allein weißt es! Und Du allein weißt auch, warum es eine Komödie für mich ist, und an wen mein Herz denkt und um wen es im tiefsten Innern trauert und weint!“

Nichts gefährlicher, als solch ein stilles Geheimniß zu zweien, von denen der eine Theilnehmer ein wunderschönes Mädchen, der andere ein heiß und tief empfindender, schönheitstrunkener Künstler ist! Immer wieder trafen sich die Blicke der beiden im stillen Einverständniß – immer mehr spann sich der Zauber um den Mann, als sei er allein mit ihr auf einer kleinen, verborgenen Insel der Glückseligkeit, auf dem märchenhaften Eiland, von dem die Dichter singen, zu dem niemand ein Recht, niemand Zutritt hatte als nur er und sie, und ein stiller Dritter noch – ein Toter, der ihren Bund geweiht hatte, der ihnen immer gegenwärtig sein durfte … war er es doch, der sie zusammengeführt hatte!

Und Waldemar Andree neigte sich zu seiner Nachbarin und flüsterte:

„Ich habe ein kleines Porträt in Pastellfarben für Sie angefertigt, und ich bin glücklich, daß es sprechend ähnlich geworden, daß es mir gelungen ist. Sie wissen, wen es darstellt?“

Sie neigte mit gesenkten Augen das Köpfchen.

„Und ich darf es Ihnen bringen – bald bringen – und Sie wollen es von mir annehmen und als Ihr Eigenthum ansehen?“

Sie flüsterte ein Ja, und wieder war das stille, geheime Einverständniß zwischen ihnen da.

Der Prinz schlug jetzt einen gemeinsamen Ausflug vor, Stella mußte sich ihm zuwenden, und er blickte in das andere Gesicht, in das lachende, lebensfreudige, das ihn, den blasierten Weltmann und Frauenkenner, so sehr entzückte.

„Aber Ihr Nachbar zur Rechten darf nicht mit dabei sein, Gnädigste – bitte, bitte!“ flüsterte der Prinz. „Sie sind ohnehin viel zu liebenswürdig gegen diesen Maler.“

„Er sagt mir auch sehr zu, ich denke, mein Prinz, wir sprachen schon einmal darüber. Wenn Sie solch böse Augen und solche Falten auf der Stirn machen, sehen Sie gleich um zehn Jahre älter aus und gefallen mir lange nicht so gut wie sonst.“

Des Prinzen Mienen glätteten sich.

„Also ich gefalle Ihnen sonst gut?“ fragte er mit einem schmachtenden Blick und einem herausfordernden Drehen des Schnurrbärtchens.

„Ja – nächst Herrn Andree am besten hier von allen!“ gab sie unbefangen zurück.

Er setzte sein Weinglas, aus dem er gerade hatte trinken wollen, unsanft auf den Tisch nieder. „Ich bitte Sie, Gnädigste, ziehen Sie doch nicht Parallelen zwischen mir und diesem – diesem – Herrn –“

„Aber warum denn nicht? Sind Sie nicht beide unsere Gäste?“

„Allerdings! Aber ein Vergleich zwischen einem Riantzew und – hm! – einem –“

„Ach so!“ Stella lachte kurz auf. „Die Stellung ist es, die Sie betonen! Ihnen mag ja der Unterschied sehr einleuchtend sein – aber was habe ich denn davon, daß Sie ein Prinz sind?“

„Und was hätten Sie davon, daß dieser – Herr – Herr – Andree ein Maler ist, wenn ich fragen darf?“

„O, davon habe ich viel! Zunächst zwei Bilder –“

„Zwei?“

„Ja! Nicht wahr, Herr Andree, Sie werden mich zweimal malen? Prinz Riantzew erkundigt sich soeben danach.“

„Es ist so!“ entgegnete Andree mit einer gewissen Feierlichkeit. „Die Eltern des gnädigen Fräuleins haben mir heute, bevor wir zur Tafel gingen, förmlichen Auftrag ertheilt, ein Porträt von Fräulein Stella anzufertigen, und ich habe um die Erlaubniß gebeten, die Züge meiner Nachbarin zu einer Figur in einem großen Gemälde, das mir schon seit längerer Zeit vorschwebt und das ich demnächst in Angriff zu nehmen gedenke, verwerten zu dürfen. Mir ist diese große Gunst, die ich mit Recht als unschätzbar betrachten muß, gewährt worden, und mein Herz ist von Dank erfüllt, denn ich verspreche mir Großes von meinem nächsten Werk.“

Er hatte eigentlich nur zu Stella gesprochen und beachtete daher auch das spöttische Lächeln nicht, mit dem der Prinz seine kleine Rede angehört hatte. Dieser warf dem Maler halb über die Schulter die nachlässige Frage hin:

„Wird man das Glück genießen, dies Kunstwerk schon auf der nächsten Ausstellung im Winter hier bewundern zu können?“

Andree schwieg ein Weilchen und sagte dann im ruhigsten Ton:

„Ich werde mir erlauben, Durchlaucht später Antwort auf diese Frage zu ertheilen!“

Konsul White, der Stellas Gegenüber war und seiner Nachbarin, einer zierlichen Brünette aus Altona, wenig Beachtung schenkte, hatte einige Brocken des soeben geführten Gesprächs aufgefangen und wartete nur auf eine einigermaßen passende Gelegenheit, um gleichfalls ein Wort mit einzustreuen.

„Ich höre das Wort Ausstellung,“ begann er mit seinem breiten englischen Accent; „wird das gnädige Fräulein die Güte haben, auch ihrem weiteren Bekanntenkreise, der nicht das Glück hat, hier im Hause zu verkehren, den Anblick eines Kunstwerkes zu gönnen, das mich ehrlich entzückt hat, so daß ich kaum das Auge davon lassen und nicht aufhören kann, es mit dem Urbild zu vergleichen? Ich meine die Büste dort.“

Andrees Blick folgte der Richtung, die Konsul Whites Augen genommen hatten, und er entdeckte in einer der Blumennischen auf hohem Postamente Stella Brühls Marmorbüste, die er von Rom hierher gebracht hatte.

Es berührte ihn seltsam, sie hier zu finden, in diesem heitern, hellen, mit fröhlichen, geputzten Menschen angefüllten Raum, von hundert Blicken bewundert – und wieder sah er im Geist Werner Troost auf seinem Totenbett liegen und mit den halb gebrochenen Augen nach seinem Werk hinüberblicken!

[789] Ich habe mich so sehr dagegen gesträubt, die Büste heute hier im Saale aufstellen zu lassen,“ flüsterte Stella, nur für Andree verständlich, „aber meine Eltern bestanden darauf, sie behaupteten, dadurch werde den übertriebenen Gerüchten, die noch immer über diese Sache im Umlauf sind, die Spitze abgebrochen.“

Laut setzte sie für Konsul White hinzu:

„Auf die Ausstellung kommt meine Marmorbüste nicht, sie kann doch nicht auf einer öffentlichen Ausstellung paradieren, die schon ein Gemälde bringt, das meine Züge verewigt? Denn Herr Andree hat es meinen Eltern ausdrücklich erklärt, daß er nichts verändern, nichts idealisieren möchte – er will mein Gesicht malen, gerade so, wie es da ist!“

„Herr Andree thut sehr wohl daran,“ erwiderte Konsul White mit höflicher Kopfneigung gegen den Maler hin, „nicht das Geringste zu ändern. Wo die Natur etwas Vollendetes schuf, darf selbst des tüchtigsten Künstlers Hand keine Aenderung versuchen!“ Seine matten Augen suchten, während er so mit etwas schwerfälliger Galanterie seine Ansicht aussprach, Stellas Blick zu begegnen, und er hob sein Glas und leerte es auf einen Zug, zum Preise ihrer Schönheit.

„Sagen Sie doch, Gnädigste,“ fuhr der Prinz etwas nervös dazwischen, „ist das junge Mädchen in Weiß am untern Ende der Tafel dieselbe Persönlichkeit, die Sie vor einigen Tagen im Garten aufsuchen kam? Es will mir so scheinen. Damals konnte man sie ohne weiteres übersehen – heute sieht sie gar nicht übel aus. Wohl eine junge Verwandte Ihres Hauses?“

„Allerdings!“ entgegnete Stella unbefangen. „Meine Schwester Gerda!“

„Wa – – s der Tausend! Verzeihen Sie meine Ueberraschung, gnädiges Fräulein – aber – in der That – darauf konnte doch kein Mensch gefaßt sein!“

„Gerda wird Sie zum Herbst verlassen und Herrn Grimms Pflegetochter werden, wie ich höre,“ sagte Andree auf der andern Seite. „Sie werden das Schwesterchen doch jedenfalls sehr vermissen!“

„Sehr!“ sagte Stella mit Nachdruck.

„Gerda und ich sind nämlich sehr gute Freunde,“ fuhr er lächelnd fort. „Wenn sie doch einmal zu mir herübersehen wollte. Aber sie wendet den Blick kein einziges Mal hierher.“

Der Prinz starrte immer noch ganz verblüfft zu Gerda hinüber. „Kolossal erstaunlich!“ murmelte er kopfschüttelnd. „Schwester! Nie im Leben darauf zu kommen! Keine Ahnung von Aehnlichkeit! Haare – Augen – Gesichtsbildung – alles völlig verschieden! Aber das junge Fräulein hat einen schlechten Platz neben diesem Trottel von Tillenbach! Eine wahre Karikatur!“

Stella zuckte die Achseln.

„Kunos Vater ist ein sehr alter Freund unseres Hauses, wir sind ihm Rücksichten schuldig. Uebrigens wird Gerda durch ihren andern Nachbar vollauf entschädigt.“

„Aber – aber – Gnädigste verzeihen – das ist doch ein alter – Herr!“

„Nicht so ganz alt – sehen Sie einmal genauer zu, mein Prinz! Er wird meine Schwester nächstens adoptieren und ganz zu sich ins Haus nehmen!“

[790] Sie sagte es im allerharmlosesten, natürlichsten Ton von der Welt. Aber der Blick, mit dem sie dabei den Prinzen ansah, ließ diesen stutzen und die Augen von neuem auf Gerda und ihren Nachbar wenden; sein Interesse mußte bedeutend erhöht sein, er setzte das Monocle ein und starrte ungeniert nach den beiden hin.

„Für einen Adoptivpapa immerhin ein wohlkonservierter, gut aussehender Herr!“ meinte er nach einer Pause.

„Nicht wahr?“ fragte Stella lächelnd.

„In – der – That!“ betonte der Prinz. „Schönes weißes Haar! Ob er es sich wohl pudert?“

„Ich denke nein! Herr Grimm liebt so sehr die reine, unverfälschte Natur, daß man ihn mit einem solchen Verdacht nicht kränken darf!“

„An Ihnen, meine Gnädigste, hat er keine besonders warme Freundin, wie ich annehme!“

„Mit Unrecht! Ich gedenke, ihm Beweise meiner Freundschaft zu geben, und zwar in nächster Zeit!“

Sie führte ihr Glas zum Munde und trank es langsam leer. –

Nein, Gerda sah kein einziges Mal zu „ihrem Freunde“ Andree hinüber. Warum sollte sie das wohl auch? Es war ihr beklommen und traurig zu Sinn, trotzdem sie Onkel Grimm zu ihrer Rechten hatte, der ihr leise Winke ertheilte und väterlich für sie sorgte. Zum ersten Mal saß sie mit vielen Menschen zusammen an einer glänzend geschmückten Tafel, zum ersten Mal „spielte sie die Dame.“ Ach – sie hatte sich das immer gewünscht und es sich sehr hübsch gedacht, und nun sie es erlebte, konnte sie sich nicht daran erfreuen!

Zu ihrer Linken saß Kuno von Tillenbach und schwärmte ihr von Stella vor, wie schön sie wieder sei, und wie er – Kuno – sie anbete, bloß daß er sich’s nie unterstehen würde, es ihr zu sagen. Ob Gerda ihm nicht verrathen könne, wen ihre bezaubernde Schwester einmal heirathen werde. Man sage, den Prinzen, aber das könne er – Kuno – sich eigentlich nicht denken, denn der Prinz solle ungeheuer adelsstolz sein, und Stella, so hinreißend sie sei … bürgerlich bleibe sie doch nun einmal! Und was das denn mit diesem Herrn Andree sei, den Stella so sehr auszeichne, daß sie sich sagar zweimal von ihm malen lassen wolle – einmal Porträt, das andere Mal Phantasiebild, das müsse doch auffallen, dabei müsse man sich doch etwas denken, habe sein – Kunos – Papa gesagt! Er – Kuno – könne sich eigentlich, zu Gerda im Vertrauen gesagt, nichts dabei denken – denn Stella und so ein Maler – das sei doch nur zum Lachen! Wen Gerda eigentlich hübscher finde – den Prinzen oder Andree? Der Prinz habe wohl ein feineres Gesicht, aber der Künstler eine weit bessere Gestalt. Die Figur – ja, die könne sich wirklich sehen lassen! Und daß er in Stella verliebt sei, das sehe man ja … natürlich! Welcher Mann wäre nicht in sie verliebt?

„Ums Himmelswillen, Kuno, schweigen Sie nur einmal still und essen Sie etwas!“ flüsterte ihm Gerda endlich entrüstet zu. „Der Diener wird Ihnen gleich wieder den Teller fortnehmen, und Sie haben nichts genossen!“

„Ach Gott, das schadet nichts! Ich habe heute gar keine Ruhe, ich habe soviel zu beobachten!“

„Ja!“ sagte Gerda, zwischen Aerger und Lachen schwankend, „Sie beabachten alles andere, bloß mich und mein Weinglas nicht! Wissen Sie, daß Sie mir noch keinen Tropfen Wein eingeschenkt haben? Ihretwegen könnte ich vor Durst umkommen. Und ich bin doch Ihre Dame!“

„O Du mein Himmel, Gerda!“ Und der junge Ritter schwenkte die Karaffe mit Rheinwein so unternehmend, daß ihm Gerda in den Arm fiel. „Sehen Sie, so bin ich! Gut, daß mein Papa das nicht gesehen hat! Ja, aber wenn ich Stella sehe, dann kann ich an gar nichts anderes denken.“ –

„Nun, Gerda, Töchterchen – wie ist Dir bei Deinem ersten Debüt zu Muthe?“ fragte in diesem Augenblick Herrn Grimms Stimme und seine Hand legte sich leicht auf die des Mädchens.

„Vortrefflich, Onkelchen!“ entgegnete sie tapfer – sie wollte ihm die Freude nicht verderben. „Wenn ich mich nur gut benehme!“ fügte sie leiser hinzu.

„Ueberraschend gut, Kind! Ich wollte nur erst, das Essen wäre vorüber, und wir könnten hinaus in den Garten!“

Es dauerte noch eine Weile, bis dieser Wunsch seine Erfüllung fand, denn es gab noch viel zu essen und zu trinken.

Hilt, der seinen Platz recht ungünstig fand – er hatte ein ältliches Mädchen zur Nachbarin, mit der er nichts anzufangen wußte – spülte seinen Aerger mit gutem Wein hinunter, hütete sich aber, zuviel zu trinken. Er hatte an der Geschichte mit der Büste gerade genug!

Auch er wünschte sehnlichst ein Ende der Mahlzeit, deren Vorzüge er widerwillig anerkennen mußte, herbei – dann sollte draußen im Garten seine Thätigkeit als Leiter der Illumination und des Feuerwerks beginnen – o ja, dazu war er gut genug! Den Handlanger dieser reichen Leute durfte er spielen und dem widerspenstigen Wolfgang, der für alles, was Kunst hieß, wirklich auffallend stiefmütterlich von der Natur bedacht worden war, Zeichenstunden geben – aber ihre gewichtigen Empfehlungen, die ihm von großem Nutzen hätten sein können, behielten die Leute für sich, und es fiel ihnen gar nicht ein, ihm auch nur den kleinsten Auftrag zu ertheilen. Dafür hatten sie ja Andree!

Jetzt gab ihm die Hausfrau, die er von seinem Platz aus schräg rechts hinüber sehen konnte, einen herablassenden Wink. Man war schon beim Nachtisch, später sollten in den anstoßenden Zimmern Kaffee und Cigarren gereicht werden, und für Herrn Hilt war es nun Zeit, zu verschwinden und den „Firlefanz“ draußen, wie er sich respektlos in seinem Innern sagte, mit Hilfe von Obergärtner, Gärtnerburschen und Bedienten in Scene zu setzen. Es freute ihn zwar, von der bejahrten Jungfrau fortzukommen, aber es ärgerte ihn wiederum, daß er gehorchen mußte, wenn man ihm winkte, daß er wie eine Marionette am Fädchen war. –

Draußen dämmerte allmählich der Frühlingsabend nieder. Auf den Baumwipfeln glühte noch das letzte Sonnengold, aber vom Wasser fingen leichte bläuliche Dunstschleier an, emporzusteigen – ein feiner Nebelduft wob sich um das Buschwerk. Es war alles so regungslos – die Vögel, welche hier fast den ganzen Tag über ihren fröhlichen Gesang hatten ertönen lassen, waren endlich verstummt. In der Ferne setzte einmal eine Nachtigall mit ein paar stürmisch drängenden Noten ein, brach aber sofort ab. Das rothe Gold auf den Baumkronen erstarb in einem blassen Schein – jetzt war auch der dahingeschwunden.

Langsam kam ein Paar zum Ufer hinabgeschritten – ein sehr stattlicher Mann und ein Mädchen im weißseidenen Kleide. Ihre Hand lag leicht auf seinem Arm, er athmete zuweilen tief auf und neigte sich herab, um ihr in die Augen zu sehen, aber er sprach nicht. Wenn Andree jetzt gesprochen hätte, so hätte er dem Mädchen an seiner Seite sagen müssen, daß er sie liebe – und das ging doch nicht! Vor wenigen Wochen erst hatte er selbst ihr die Nachricht vom Tode ihres Verlobten gebracht – und hier stand er nun und wollte ihr von seiner Liebe sprechen! Beurtheilte er sie so niedrig, daß er denken konnte, ihr Herz habe sich mit seinem Schicksal so rasch schon abgefunden, habe Werner Troost vergessen und sei ihm selbst zugeflogen? Und hieß das dem Andenken seines liebsten Freundes die Treue halten, wenn er heute und hier schon um dessen hinterbliebene Braut warb? Freilich – er wollte Werner Troosts Erbe sein, aber er mußte seiner Verlobten Zeit gönnen, ihren Schmerz ausklingen zu lassen. Und so fragte er denn zuletzt in gedämpftem Ton, als fürchte er sich davor, einen Schlummernden zu wecken:

„Wenn ich meine Aufgabe gelöst habe und mit mir nicht unzufrieden bin … darf ich dann zu Ihnen sprechen? Und wissen Sie den Grund, warum ich nicht früher zu Ihnen zu sprechen wage?“

Sie athmete tief auf, so daß die süßduftenden Rosen an ihrer Brust bebten. Sie fühlte eine innere Erlösung und sie war zufrieden! Zeit gewinnen! Das wollte sie! Nicht hier, nicht dort sich binden, kein Wort verpfänden, keine Pflichten, keine Verbindlichkeiten übernehmen! Sie wollte auch den Prinzen dazu bewegen, daß er wartete – er war ein ungestümer, eifersüchtiger Freier – sie aber wollte ihr Leben und ihre Freiheit voll genießen, ohne die beengende Fessel des Brautstandes! Auf wen ihre Wahl schließlich fallen würde, das wußte sie nur zu gut … aber bis dahin –  –

Hier war ein berühmter Künstler, der ihr Bild malen, es der staunenden, schauenden, neidischen Welt übermitteln sollte. Er gefiel ihr auch als Mann – und wie anbetend er sie liebte! Warum nicht sich dessen freuen, nicht jeden Genuß, den das Leben bot, auskosten?

[791] Sie hob ihre dunkelbewimperten blauen Augen, in denen es träumerisch schimmerte, zu ihm auf und sagte stockend: „Ich kann Sie verstehen, ich danke Ihnen. Ich konnte es Ihnen bis jetzt noch nicht sagen, aber ich denke, Sie wußten es auch so: mein Herz liegt im Bann der Erinnerung, und ich kann es noch nicht daraus erwecken!“ –

„Hier ist Stella,“ fiel da plötzlich eine dünne Stimme ein, „sehen Sie, daß ich es gewußt habe! Sie liebt dies Plätzchen am Wasser – es ist dasselbe, wo sie neulich die Seide wickelte; zuerst hielt sie ihr der Prinz, und dann kam ich – ja, dann kam ich!“

Er kam auch jetzt, der gute dumme Kuno, ein ganzes Gefolge von Herren und Damen hinter sich! Der Prinz und Konsul White, Barckwitz, Leskow und die andern alle, sie umringten Stella, die rasch Andrees Arm losgelassen und sich zu ihnen gewendet hatte – und man pries den milden Abend und die Luft und den Duft und das Wasser und die Bäume – und wie schade es sei, daß die Sonne nicht mehr scheine, und es sei doch noch zu früh zur Illumination, noch ganz hell – und sie alle hätten Stella gesucht, aber Kuno sei der einzige gewesen, der geahnt habe, wo sie zu finden sei.

Die Scenerie war im Nu verwandelt – lachende, schwatzende Menschenstimmen überall, helle Rufe, kokettes Kichern – um den keuschen Reiz der feierlichen Abendstille war’s unrettbar geschehen! –

„Kuno, wo haben Sie denn Ihre Dame gelassen?“ fragte Barckwitz und bog sich nach rechts und links, um irgendwo Gerda zu entdecken.

„Gott, Gerda ist doch noch keine Dame, sie ist doch noch ein Kind! Herr Grimm nahm sie mir weg, er sagte, er habe mit seiner Tochter zu reden! Tochter! Ich finde es doch sehr komisch …“

„Gnädigstes Fräulein, machen wir morgen unsern Ausflug zu Pferde?“ unterbrach der Prinz ohne weiteres Kunos „komische“ Empfindungen. „Ihre Primrose wird sich die Beine steif stehen, wenn Sie ihr nicht ’mal wieder zu einer ordentlichen Bewegung verhelfen!“

„Sehr gern!“ sagte Stella freundlich. „Sind die Herren alle mit dabei?“ wandte sie sich an die Umstehenden. „Eine ganze Kavalkade! Ich denke mir das so hübsch!“

Der Prinz sah aus, als denke er sich das weit weniger hübsch, aber er schwieg, und bald trennte ihn auch das Gewoge von der angebeteten Schönheit.

Inzwischen begann es in der Nähe der Villa aufzuflammen. Goldglänzende Ketten zogen sich längs der Alleen, farbig funkelnde Guirlanden schwebten von Baum zu Baum; in den dunkeln Bosketts glühte es feurig roth und leuchtend blau. Auf den Rasenflächen waren zahllose Tulpen und Lilienkelche aus buntem Glase verstreut, die jetzt ihre farbigen Flämmchen ins herabdämmernde Dunkel hineinblitzen ließen. Unscheinbare Gerüste, die man hinter das dichte Gebüsch geschoben hatte, wurden hervorgeholt und wiesen nun strahlenwerfende Sterne und Kreuze auf. Bizarr geformte japanische und chinesische Laternen schaukelten an den Aesten. Es schwirrte die erste Rakete auf, und alles drängte nach dem Mittelpunkte des Gartens hin, um das Feuerwerk zu sehen.

Dem Prinzen war es endlich wieder gelungen, an Stellas Seite zu kommen. Die anwesenden Herren hatten ihm dies Unternehmen redlich erschwert, denn die Tochter des Hauses war heute mehr als je umlagert. Jetzt aber hatte der Prinz sich mit ihr geschickt zu isolieren gewußt, sie standen beide seitwärts unter einer riesigen Schirmtanne, und was das junge Mädchen um jeden Preis hatte vermeiden wollen, das geschah nun doch: der Prinz erklärte sich.

„Endlich!“ begann er hastig flüsternd und suchte die herabhängende Linke Stellas zu fassen. „Ziehen Sie Ihre Hand nicht fort – suchen Sie nicht, mir zu entkommen – ich will zu Ihnen reden! Ich liebe Sie, Stella, Sie wissen das, und ich werfe alles über Bord, was von Vorurtheil in mir spricht, ich nehme den Kampf auf gegen jedes Hinderniß, das sich mir in den Weg stellt, und biete Ihnen meine Hand. Ich kann nicht ohne Sie sein … warum antworten Sie mir nicht?“

Sie war für einen Augenblick rathlos gewesen, aber das ging rasch vorüber.

„Weil ich nicht darf!“ sagte sie leise.

„Stella!“

„Nicht darf!“ wiederholte sie. „Man hat mir gesagt, Ihr Bruder sei gegen Ihre Neigung; es drohe ein ernstliches Zerwürfniß zwischen Ihnen, wenn Sie gegen seinen Willen –“

„Ich bin nicht meines Bruders Untergebener!“ brauste er auf. „Und ich frage jetzt nicht“ – er dämpfte auf einen halblauten Mahnruf von ihr mühsam seine Stimme – „was mein Bruder sagt – ich will wissen, was Ihr Herz spricht!“

„Es darf noch nicht sprechen! Nicht eher, als bis Ihres Bruders Widerstand besiegt und – und“ – sie zögerte, und das widerstrebende Händchen, das er mit leidenschaftlichem Druck umschlossen hielt, zuckte – „und bis seine Wunden geheilt sind. Denn der junge Künstler, der meine Marmorbüste gemeißelt hat, war mein Verlobter, und ich habe soeben erst die Nachricht von seinem Tode erhalten. Sie, mein Prinz, sind der einzige, der dies Geheimniß erfährt – der einzige“ – ihre Stimme wurde fast unhörbar – „der ein Recht darauf hat, es zu wissen!“

„Stella!“

Im plötzlichen Glücksrausch schoß dem Prinzen das Blut zu Kopf, er vergaß, sich zu entrüsten, daß dies unvergleichliche Geschöpf einem jungen, unbekannten Bildhauer seine Liebe hatte schenken können – er hörte nur den letzten Satz und preßte die kleine Hand so ungestüm, daß er selbst erschrak.

„Verzeihung!“ murmelte er.

Gerade sauste ein neuer Raketenschwarm zum dunkeln Nachthimmel empor. Garbenweise, wie Strahlenbündel, stoben die bunten Leuchtkugeln in die Luft und sanken dann lautlos nieder. Man hörte Ausrufe des Entzückens, lebhaften Beifall, hier und da eine Stimme, die „Stella!“ rief.

„Und ich darf hoffen?“ flüsterte der Prinz, dicht zu der weißen Gestalt hinabgeneigt.

„Noch nicht jetzt – noch lange nicht“ – sie bog sich von ihm zurück und suchte ihm von neuem ihre Hand zu entziehen – „ehren Sie meinen Schmerz – beseitigen Sie Ihres Bruders Widerstand – dann –“

Er seufzte ungeduldig.

„Eine harte Probe! Aber Sie versprechen mir, keinen andern – keinen, Stella, zu begünstigen – Sie schwören mir –“

„Es bedarf dessen nicht!“

Eine hohe rothe Flammensäule, in der es von Tausenden goldener Fünkchen blitzte, stieg unmittelbar vor ihnen auf, und in dem magischen Licht erschien dem verliebten Prinzen das Mädchen an seiner Seite wie ein Götterbild.

Es mußte auch andern so erscheinen – Ausrufe der Bewunderung tönten herüber.

„Da ist sie ja!“

„Wo denn?“

„Dort unter der Schirmtanne – haben Sie sie nicht gesehen?“

„Der Anblick war ja das Schönste von dem ganzen Feuerzauber!“

„Stella! Kommst Du gar nicht mehr zurück?“

„Mit wem ist sie denn dort?“

„Mit dem Prinzen natürlich – mit wem denn sonst?“

Nun, so ganz natürlich finde ich das doch nicht – ich sah sie heute häufig genug mit jemand anderem, der durchaus kein Prinz war!"

„Stella! So komm’ doch!“

„Mit Ihrer Erlaubniß, meine gnädigste Frau, brechen wir in corpore auf, um uns das gnädige Fräulein zurückzuholen.“

Die Herren nahmen bunte Lampions von den Bäumen und gingen als Fackelzug zu der Schirmtanne hinüber. Stella mußte sich als Gefangene erklären und wurde feierlich in die Mitte genommen und im Triumph entführt. Es machte den jungen Hamburger Kaufleuten, von denen mancher ein kleiner Krösus war, großen Spaß, dem Prinzen, der ihnen bei näherer Besichtigung durchaus nicht mehr so sehr imponierte, die schöne Tochter des Hauses vor der Nase fortzunehmen, und wenn die Herren gewußt hätten, daß ihr Fackelzug mitten in eine Liebeserklärung des durchlauchtigen Herrn hineingefahren war, dann wäre für sie das ganze Unternehmen ohne Zweifel noch viel unterhaltender gewesen. –

„Komm, mein Kind,“ sagte indessen Herr Grimm zu Gerda, die gedankenvoll neben ihm gestanden und mit großen Augen all [792] dem flüchtigen Lodern und Flammen und Leuchten zugesehen hatte, „gieb mir Deinen Arm und mache mit mir einen Spaziergang! Das heißt, wenn Du willst! Ich glaube, es ist hier noch nicht zu Ende, und Du könntest wohl noch manchen Schwärmer, manchen Frosch und manche Schlange bewundern!“

„Nein, Onkel, ich danke! Ich habe schon genug Schwärmer, Frösche und Schlangen gesehen!“ Gerdas Stimmchen klang halb traurig, halb lachend, und so war auch ihr Gesichtsausdruck, wie eine eben aufzuckende bengalische Flamme zeigte.

Sie umgingen das große Rasenrund mit den eingelegten Teppichbeeten, den Platz mit der Fontäne, deren hochaufspringende Wasserstrahlen bald im blauen, bald im rothen oder goldfarbenen Licht glänzten, die Boskets, in denen es gleich farbigem Geschmeide schimmerte, und gelangten allmählich in die weniger gepflegten Partien des Gartens, die demgemäß auch schwächer beleuchtet waren. Endlich hörten die einzeln verstreuten Lampen und Flämmchen ganz auf. Dunkel ragten die Bäume und Büsche in die stille Luft, ab und zu kam ein leichter Windeshauch und sprach zu den Blättern, dann klang es wie ein flüchtiges Seufzen, als rege sich die Natur im Traum. Droben hatte sich der Himmel mit zahllosen Sternen gefüllt, und ganz nahe fing auch von neuem die Nachtigall an zu locken, erst schüchtern, in einzelnen Lauten, dann drangvoll und stürmisch, bis sie, wie überwältigt von der eigenen Sehnsucht, schwieg und alles wieder in die bisherige Stille zurücksank.

„Was denkst Du, Kind?“ unterbrach Grimms Stimme endlich das Schweigen. „Mir will es scheinen, als stimme diese Deine erste Gesellschaft Dich nicht froh!“

„Nein, Onkel!“ Sie drückte schmeichelnd seinen Arm. „Sind Sie mir auch nicht böse deshalb?“

„Ich, Du kleines, dummes Mädchen? Wie käme ich denn dazu?“

„Weil ich mir’s immer so brennend gewünscht hatte, mit dabei zu sein, und weil Sie es mir verschafft haben.“

„Ganz recht! Aber ich habe die Menschen nicht gewählt, die um uns herumsaßen. Sag’ mir also Deine Gedanken ganz ungeniert!“

„Danke schön, Onkelchen! Sehen Sie, wenn es eine Tanzgesellschaft gewesen wäre, hätt’ ich mich gewiß sehr schön unterhalten. Ich hab’ immer leidenschaftlich gern getanzt, schon als ganz kleines Mädchen, und mancher hätte mich doch aufgefordert, schon so aus Höflichkeit, und dann Ihretwegen, Onkel, weil Sie mich zu sich nehmen wollen, und auch aus Neugier, um zu sehen, ob ich gut tanze. Und ich tanze gut, – wirklich, das weiß ich, – Sie können es mir dreist glauben! Also ich hätte getanzt und mich gefreut und keine Zeit gefunden, allerlei zu sehen –“

„Nun, – was denn zu sehen?“

„Ach, – allerlei dummes Zeug!“

„Was war denn das für dummes Zeug?“

Gerda schwieg ein Weilchen und bewegte unruhig die Schultern und den Kopf.

„Der Tanz um das Götzenbild war’s, den ich gesehen habe!“ brach sie plötzlich los. „Ich kann’s ja keinem verdenken, denn sie ist schön wie ein Engel – aber wenn ich doch nun weiß, wie sie sein kann, – und wie sie alle an sich zieht und keinen wirklich lieb hat, – und wie sie sich alle, alle untereinander belügen, die Damen, die sich gegenseitig beneiden, und die Herren, die einer dem andern den kleinsten Vortheil nicht gönnen, – und wie sie alle Stella schmeicheln. Und dabei sind die Mädchen alle wüthend, daß sie von ihr überstrahlt werden und daß die Männer ihr so huldigen, … Onkel, Onkel, ich komm’ mir so schlecht, so niedrig und erbärmlich vor, daß ich das alles sehe und verstehe, – aber ich kann doch nichts dafür, ich kann doch meine Augen und Ohren nicht verschließen! Ich möchte alle Menschen lieb haben und meine eigene Schwester zuerst, und ich kann doch nicht, – ich kann nicht! Onkel, lieber Onkel Grimm, wie ich Ihnen dankbar bin, daß Sie mich herausnehmen wollen aus all’ den schiefen falschen Verhältnissen, – und ich darf den ganzen Tag bei Ihnen sein und bei Ihren Bildern und Blumen, – – und bei Hafis!“

In Gerda brach das Kind durch bei der Erinnerung an Hafis, und sie lachte, aber die Erregung klang noch in ihrem Lachen mit.

„Ob es Dir bei mir so ohne Einschränkung gefallen wird, weiß ich noch gar nicht,“ meinte Grimm bedächtig. „Versprich Dir nur ja nichts Ueberschwängliches! Wenn Du glaubst, daß Du bei mir beständig auf Rosen wandeln wirst …“

„Nein, nein!“ unterbrach sie ihn eifrig. „Das nicht! Aber ich werde wahr sein dürfen, und das kann ich hier nicht! Und ich werde auch gut sein, – Sie werden mich immer tadeln, Onkel, und immer schelten –“

„Wenn ich nichts weiter thue, als tadeln und schelten, dann wird etwas Schönes dabei herauskommen!“ warf er humoristisch ein.

„O nein, nicht das allein! Sie haben mich nicht ausreden lassen, Onkel, die Hauptsache sollte erst noch kommen: Sie werden mich lieb haben, – lieb haben!“

Und Gerda warf ihre Arme um Onkel Grimms Hals und drückte ihr Gesicht an seine Wange.




18.

Monate waren vorübergegangen. Heiße, schwüle Sommersonnentage brüteten über der alten Hansestadt. Die gezwungen waren, darin zu bleiben, schlichen träge über das glühende Pflaster der Straßen, thaten etwas widerwillig ihre Pflicht, nur eben gerade die gebieterisch geforderte Pflicht, und sonst nichts weiter, und sehnten den Abend herbei, um ihn irgendwo „draußen“ zuzubringen. Selbst der arme Handwerker und Kleinhändler raffte seine kargen Pfennige zusammen, um sich und seiner Familie diese Erholung zu gönnen. Es war wahrlich nicht zum aushalten! Die alten Hamburger erinnerten sich kaum, einen ähnlich heißen Sommer je erlebt zu haben. Von den Häuserwänden prallte die Gluth förmlich dem unglücklichen Straßenwanderer entgegen, – sie fing sich in den engen Gassen, blieb bis zum späten Abend in den schmalen Höfen und Winkeln und machte aus dem frischen Grün der Blätter ein fahles, staubiges Grau. Wo die Menschen nur immer konnten, drängten sie sich ans Wasser, und sie waren froh, so viel davon zu haben. Wer aber im Innern der Stadt wohnte, wen seine Arbeit dorthin bannte, – und ihrer waren viele! – der war halb verschmachtet, bis der Abend kam, und fühlte sich, sobald die Berufswege erledigt waren, so ermattet, daß er oft sich lieber im verdunkelten Zimmer lang hinstreckte, als daß er sich der Strapaze unterzog, noch bis zum Wasser zu gehen.

Dann und wann ging ein Gewitter nieder, ein tobendes, böses Unwetter! Aber man konnte nicht aufathmen, denn die Sonne stach gleich darauf genau ebenso unbarmherzig wie zuvor, und der Himmel sah aus wie ein Riesenschild von hellpoliertem Stahl. Die heiße, aufgesprungene Erdrinde schluckte gierig die herabströmende Fluth ein, die kleinen gurgelnden Rinnsale, die sich gebildet hatten, verschwanden im Nu, und wieder brütete greller Sonnenbrand über der durstigen Erde. –

Andree hatte sich dazu verstehen müssen, Stellas Porträt draußen auf der Villa zu malen. Ihre Mutter hatte erklärt, sie werde alles thun, um des Künstlers Wünschen hinsichtlich eines guten Ateliers entgegenzukommen, sie werde es aber niemals gestatten, daß ihre Tochter den Fuß in Herrn Andrees Wohnung setze, – er müsse eben sehen, wie er es mache.

Er that dies auch, aber es wurde ihm sehr schwer. Wie jeder Maler, hatte auch er sich gewöhnen müssen, auf sein Modell zu warten, seine Stimmung einigermaßen der Stunde anzupassen, da das Modell bei ihm erschien. Aber erstens konnte man ein bezahltes Modell allenfalls fortschicken, wenn es denn einmal durchaus mit der Stimmung nicht gehen wollte, – man bezahlte eben das ausbedungene Honorar und war fertig. Zweitens konnte man jederzeit in seinen eigenen vier Wänden an dem Gemälde weiter malen, konnte es bei jeder Beleuchtung betrachten, kleine Abänderungen treffen, Aeußerlichkeiten, zu denen man das Modell gar nicht brauchte, in aller Muße fertig stellen, … an alles dies hatte sich Andree gewöhnt, und alles dies entbehrte er jetzt. Freilich hatte auch diese Medaille ihre angenehme Kehrseite: es kam ihm sehr darauf an, möglichst oft in Stellas Nähe zu sein, die Sitzungen so lange als irgend thunlich hinzuziehen, und da er sich einer raschen und willigen Pinselführung rühmte, so wäre das Porträt, hätte er auch noch außer den festgesetzten Stunden daran malen können, wahrscheinlich zu rasch fertig geworden. Allerdings hätte ihm das große Gemälde, das er in seinem eigenen Atelier anfertigte, immer noch einen willkommenen [794] Vorwand geliefert, oft nach der Brühlschen Villa hinauszufahren, – – es war eine sehr große, lange Zeit in Anspruch nehmende Arbeit und ihm weit wichtiger und interessanter noch als das Porträt, weil er hier seine eigenen Ideen entfalten, seine künstlerische Phantasie bethätigen konnte.

„Eos“ wollte er es nennen – Eos, die Morgenröthe! Eine einzige Figur, die rosenfingrige Göttin, wie sie in ihrem Sonnenwagen, die schneeweißen, sich bäumenden Rosse mit goldenem Zügel lenkend, aus einem rosigen Gewölk aufsteigt und den Menschen das Licht bringt.

Licht! Die Idee war in ihm aufgestiegen, als er damals – wie unendlich lange Zeit schien ihm seitdem entschwunden zu sein! – das emporgewendete Marmorköpfchen mit den sehnsüchtig aufgeschlagenen Augen und den leise geöffneten Lippen gesehen hatte. Seitdem hatte es wie ein Fieber in ihm gebrannt, dies Bild zu malen – und nun wurde es Wirklichkeit!

Er hatte zahllose Skizzen von Stella Brühl in ihrem Beisein entworfen, die er alle möglicherweise für sein Gemälde verwerthen zu können meinte. Im Profil – im Halbprofil – voll den Beschauer ansehend – halb über die Schulter zurückgewendet – das Haupt erhoben – das Haupt gesenkt – das Haar frei herabfließend – das Haar nach griechischer Art geordnet – beide Hände erhoben – eine Hand herabgesunken – in weißem, in goldfarbenem, in rosarothem Gewande – mit und ohne Spange in den Locken – immer wieder hatte er sie skizziert, und – er hatte sich nicht helfen können – manche dieser Skizzen hatte er gleich dort, an Ort und Stelle, sorgsam ausgeführt, obschon er sich sagen mußte, daß dies kaum einen Sinn habe. Die Versuchung war zu übermächtig! Er vergaß zu Zeiten seinen eigentlichen Zweck, die „Eos“, der diese Entwürfe nur zur Stütze dienen sollten, angesichts dieser strahlenden jungen Schönheit, die sein Können förmlich herausforderte mit ihren immer neuen Reizen. Das prachtvolle Haar, die Augen, das unvergleichliche Kolorit je allein hätten genügt, um einen Maler in Entzücken zu versetzen … die Vereinigung alles dessen versetzte ihn in Ekstase. Jedesmal glaubte er, sie heute am schönsten gesehen zu haben, und am nächsten Tage sah er sich getäuscht und fand sich versucht, sie so zu malen, wie er sie diesmal fand. So rückte denn das Porträt, das Stella im schlichten weißen Kleide zeigte, ein paar Rosen in den lässig herabgesunkenen Händen, nur langsam vorwärts, denn heute brachte er ihr einen venetianischen Schleier und entwarf das Bildchen einer jungen Venetianerin, morgen ein holländisches Stoffmützchen, oder den goldklirrenden Münzenschmuck einer Orientalin – und sie ging lächelnd auf all dieses Spielwerk ein und ließ sich schmücken, ja es schien auch ihr nicht im mindesten darum zu thun, die Sitzungen abzukürzen.

Nur als Mignon konnte er sie nicht malen; er hatte die Idee schon lange gehabt und es mehrmals versucht, sowohl in der Villa als bei sich daheim – aber es wollte ihm nicht glücken. „Sie hat alles, was schön ist, und sie kann alles aus ihrem Gesicht machen, was sie nur will!“ sagte er sich. „Aber das unergründliche Etwas, den geheimnißvollen Reiz einer Mignon hat sie nicht in sich. An ihr ist alles volles Leben, hinreißende, verführerische Wirklichkeit – in der Mignon aber steckt ein Stück Märchen!“

Was die beiden während der langen Sitzungen zusammen sprachen? Scherz und Ernst, Triviales und Gediegenes, wie es gerade kam. Wenn Andree skizzierte und mit leichter, unglaublich rascher Hand eine Idee festhielt, dann lachte und plauderte er viel, unterbrach sich wohl auch, um plötzlich aufzuspringen und ein Band, eine Blume, ein Schmuckstück hinzuzufügen oder fortzunehmen. Malte er aber an dem Porträt oder fiel ihm ein wichtiger Zug für sein großes Gemälde ein, dann trat ein gesammelter Ernst auf sein Gesicht, sein Blick konzentrierte sich, sein Mund verstummte und preßte sich zusammen, und eine strenge Falte erschien auf seiner Stirn, die das ganze Gesicht älter, aber auch bedeutender und anziehender machte. Dann liebte es Stella Brühl, ihn aus seiner Künstlerstimmung herauszureißen, ihre Macht an ihm zu erproben, und wenn er dann, wider seinen Willen, unruhig wurde und zu ihr hinübersah und sein Blick gefesselt an ihr hängen blieb, bis er endlich den Pinsel fortlegte und erklärte, nicht weiter malen zu können – dann stahl sich ein Lächeln über Stellas schwellende Lippen, und sie sagte leichthin: „Genug gearbeitet! Plaudern wir!“

Unbeweglich saß während dieses „Geplauders“, das sich oft bedenklich in die Länge zog, eine starre, stumme Gestalt in der Nähe des breiten, nach Norden gelegenen Fensters. Die Hände um die Kniee geschlungen, den Kopf erhoben, den Blick unverwandt geradeaus vor sich hin gerichtet, saß sie da gleich einer ägyptischen Sphinx, scheinbar unbekümmert um alles, was in ihrer Nähe vor sich ging. Aber auch nur scheinbar! Thatsächlich entging ihr nichts, kein halbes oder geflüstertes Wort, keine besondere Betonung, kein Seufzer und gepreßtes Athmen. Ja, selbst die unverwandt vor sich hinschauenden Augen nahmen erstaunlich viel wahr. Frau Willmers würde sich nie erlaubt haben, ihrem vergötterten „Prinzeßchen“ Vorstellungen zu machen oder eine leise Mißbilligung anzudeuten. Ein einziges Mal hatte sie gefragt, was sich „Prinzeßchen“ eigentlich bei diesem nahen Verkehr mit dem Maler denke – und Stella hatte lächelnd erwidert: „Ich denke mich dabei zu amüsieren.“

Die Willmers hatte auch gelächelt und ganz beruhigt gethan, sie setzte ja unbegrenztes Vertrauen in ihres Abgottes Klugheit und sagte sich hundertmal: „Ein gebranntes Kind scheut das Feuer – sie wird doch nicht zum zweiten Male so unklug sein, ein Liebesverhältniß mit solch einem Künstler anzufangen!“

Aber was dachte sich denn der Engel, wenn er diesen Herrn mit solchen Augen ansah – Augen, die ein mit dreifachem Erz gepanzertes Männerherz verwundet haben würden? Und dies Herz war durchaus nicht gepanzert! Was dachte sich das Prinzeßchen, wenn es dem Maler bis an die Thür entgegenlief, wenn es ungeduldig mit dem Füßchen gegen den geschnitzten Schemel hämmerte, sobald besagter Maler einmal nicht auf die Minute pünktlich erschien? Was bedeutete es, daß ihre Stella ihm ein so entzückendes Lächeln spendete? Ihm willig das Händchen überließ und es gestattete, daß er selbst das herrliche, goldstrahlende Haar ordnete –  – so – und so – und wieder anders – während sie doch sah – sehen mußte, wie es um den Mann stand, und daß es ihn die äußerste Anstrengung kostete, Herr seiner Sinne zu bleiben?

Frau Willmers wußte auch, daß der Prinz abgereist war. „Weißt Du, den hab’ ich fortgeschickt!“ hatte Stella ihrer alten Vertrauten einmal des Abends beim Auskleiden, als sie besonders gut aufgelegt war, gestanden. „Ich sagte Dir doch, ich wollte ihn anders haben, als er war, nicht so großherrlich und von oben herab – nicht er sollte mir eine Ehre erweisen, wenn er um mich warb, sondern ich ihm, wenn ich ihn erhörte. Aber“ – hier hatte die schöne Stella leichthin gelacht und übermüthig die Achseln gezuckt, „ich hätte gar nicht nöthig gehabt, darauf hin zu manövrieren! Ich hatte ihn augenblicklich fest. Er wollte sich gleich mit mir verloben, schnurstracks, auf der Stelle, seinem Bruder zum Trotz. Aber, verstehst Du, darum ist mir’s nicht zu thun. Ich mag mich noch nicht verloben, ich will noch mein Leben genießen, diesen Sommer und auch diesen Herbst und auch noch den Winter hindurch! Und ich will auch nicht, daß er sich mit seinem Bruder, der für jetzt noch nichts von mir wissen will, erzürnt. Mein Prinz hat nichts als ein kleines mütterliches Vermögen, aber sein Bruder ist ungeheuer reich, und ich gebrauche viel Geld – viel, viel Geld! Ja – und nun hat der Prinz seinem Bruder feierlich auf Ehrenwort versprechen müssen, ein Jahr zu reisen und nie an mich zu schreiben oder von mir Nachricht zu bekommen – mir beides sehr recht! – und wenn er dann nach einem runden Jahr noch an mich denkt und keine andere will als mich, dann wird die Durchlaucht ihm seinen Segen geben und auch eine standesgemäße Apanage, was noch viel mehr werth ist – und das alles hat mir der Prinz in einem langen, langen feurigen Liebesbrief auseinandergesetzt und mir mit tausend Eiden zugeschworen, daß er immer und ewig nur mich lieben werde. Und unterdessen bin ich frei – frei – und kann thun, was ich will, denn der Fürst ist nun auch fort sammt seiner Familie, und ich brauche mich um keinen Menschen auf der weiten Welt zu kümmern!“

Aber sie kümmerte sich doch um einnen – und der eine war Waldemar Andree! –

Seltsamerweise fand das verwöhnte Mädchen großes Wohlgefallen an ihm. Sie wunderte sich selbst darüber, aber es war so: sie freute sich von einem Tag zum andern auf die Stunde, die ihn zu ihr führte, sie dachte viel über ihn nach und sie war sehr zornig, wenn einmal irgend ein unvorhergesehener Zwischenfall [795] Andrees Kommen verhinderte. Sie verglich ihn im stillen mit all ihren andern Verehrern, Konsul White und den Prinzen an der Spitze, und sie fand zu ihrem Staunen, daß er ihr besser gefiel als sie alle zusammen. Diese andern langweilten sie zuweilen sehr; sie waren richtige Welt- und Lebemänner, ohne besondere geistige Interessen, sie hatten das, was sie „Genuß“ nannten, nach allen Richtungen hin ausgekostet und wußten selbst einem so schönen Mädchen, wie Stella Brühl es war, beim besten Willen nicht immer etwas Neues, Interessantes zu sagen, so gern sie auch gewollt hätten. Stella aber war noch zu jung, um schon gänzlich blasiert zu sein. Sie hatte zwar eine nüchterne Lebensauffassung und war sich ihres Zieles, durchaus einen sehr reichen und vornehmen Mann heirathen zu wollen, klar bewußt; aber sie hatte Verstand, einen raschen Geist und liebte es, gut unterhalten zu werden. Bis sie den bewußten hochstehenden Krösus heirathen würde, wollte sie sich auf ihre Art vergnügen, und dazu war ihr Waldemar Andree gerade der rechte Mann. Er war kein sogenannter „Blender“, geistvolle Paradoxen waren nicht sein Fall, aber er besaß gute Kenntnisse, konnte sich noch ehrlich und warm begeistern, hatte für seine Kunst einen schönen Enthusiasmus und entfaltete oft einen trockenen Humor, der sehr erheiternd wirkte. Er war ein Mensch aus einem Guß, ein ernster und gereifter Mann, der sich noch lange nicht verausgabt, dem das Leben nichts von seiner fest geprägten Individualität geraubt hatte.

Das sah und fühlte Stella Brühl recht gut heraus, und sie verkehrte lange genug in der großen Welt, um sich sagen zu können, daß ein solcher Mensch in unserer heutigen Zeit eine große Seltenheit genannt werden mußte. Ihrem beweglich schillernden Wesen sagte seine Stetigkeit zu, und dabei zu fühlen, zu wissen, daß er sie abgöttisch liebte – das gab dem ganzen Verkehr noch einen besonderen Reiz.

Der Gedanke, ihn zu heirathen, kam ihr nie. Er hatte ihr wohl einmal gesprächsweise gesagt, daß er sich schon ein hübsches Vermögen erworben habe, und er hatte ihr die Summe genannt, die er im Durchschnitt jährlich verdiene. Es war eine ansehnliche Ziffer gewesen, und Stella hatte sich gestanden, daß die meisten jungen Mädchen Andree gewiß eine sehr gute Partie nennen würden. Aber ihr war es um mehr als das zu thun! Sie wollte im Sommer die bekanntesten Seebäder, im Herbst die englischen Rennen besuchen, einen Theil des Winters in Paris verleben und den Frühling an der Riviera, in Monaco oder Bordighera oder Nizza, zubringen. Und sie wußte, ein solches Wanderleben würde sie an Andrees Seite nicht führen können. So anbetend er sie liebte – sie war ihm eins mit seiner Kunst, und seine Kunst vertrug es nicht, daß er heute hier sein Zelt aufschlug und morgen dort. Sie wußte, es war sein Ideal, sich bald seßhaft zu machen, höchstens einmal im Jahr eine Reise, die zugleich dem Studium und der Erholung dienen sollte, zu unternehmen – im übrigen aber sich am häuslichen Herd niederzulassen und dort seiner Kunst wie seiner Liebe zu leben.

Nun, davon konnte für sie natürlich keine Rede sein. Sie wollte es ja auch gar nicht, hatte diesen Gedanken nicht eine Minute lang ins Auge gefaßt – einstweilen freute sie sich an dem Verkehr mit diesem ihr so gut zusagenden Mann und machte sich nicht die geringsten Bedenken über die Zukunft. Sie hatte Andree zwar ein halbes Versprechen gegeben – und dem Prinzen eigentlich ein ganzes. Aber der Prinz sollte ihr ein Jahr fern bleiben, und bis Andree die beiden Bilder fertig hatte, das dauerte auch noch so lange. Wer würde sich vor der Zeit Sorgen machen! – –

Indessen spitzten sich doch die Verhältnisse derartig zu, daß es der schönen Stella, trotz ihres hübschen Verkehrs mit Andree, gar nicht so ungelegen kam, als sie Papa Brühl eines Tages fragte, ob es ihr genehm sei, eine Reise mit ihm und Mama zu unternehmen. Man habe sich zwar vorgenommen, in diesem Sommer zu Hause zu bleiben, und es sei ja auch soweit gar nicht übel hier draußen in Uhlenhorst – der Sommer sei aber so ungewöhnlich heiß und seine – Papa Brühls – Geschäfte hätten, dank einem rechtzeitigen Wink seines gewandten Freundes Grimm, einen so erfreulichen Aufschwung genommen, daß es doch schade sei, hier immer in Hamburg zu sitzen. Die Bilder gingen ja so rüstig vorwärts, daß ihre Fertigstellung fast jetzt schon bestimmt werden könne … was sein Prinzeßchen zu Dieppe oder Trouville oder sonst irgend einem fashionablen Bade meine? Und Prinzeßchen, das den Papa seit der Geschichte mit Gerda sehr ungnädig behandelt und nur selten eines freundlichen Wortes oder Blickes gewürdigt hatte, versprach huldvoll, sich die Sache zu überlegen. Das geschah denn auch. In dem entzückenden, kühl gelegenen „Porzellanzimmer“, zunächst dem mit den köstlichsten Gestalten, Amoretten und Blumen ausgestatteten Kamin, saß Stella – selbst einer von dem schönsten Sèvres-Service weggelaufenen Figur gleich – und sann nach.

Andree war sehr verändert seit den letzten Tagen. Er malte lässig, plauderte viel weniger angeregt als früher und verlor sich oft so ganz in ihren Anblick, daß er sichtlich alles um sich her vergaß.

Schmeichelhaft für Stella – ohne Zweifel! Aber zugleich unbequem! Konnte er denn nicht bleiben, was er war – ein Liebhaber „aus der Entfernung“, der zufrieden war, sie sehen, bei ihr sein, sie malen, mit ihr reden zu dürfen? Sie wußte es, dieser Zustand genügte ihm jetzt nicht länger, er wollte mehr, der begehrende, ungestüme Mann war in ihm erwacht. Aber dieses Erwachen kam ihr äußerst ungelegen. Was sollte sie denn nun mit ihm anfangen? Daß die Männer sich doch nie begnügen können! Auf Reisen schicken, gleich dem Prinzen, konnte sie ihn nicht, und einen zürnenden Bruder, von dem Andree abhing, konnte sie ihm auch nicht vorhalten … aber geschehen mußte etwas, das stand fest, sonst fiel er ihr eines Tages mit der feurigsten Liebeserklärung zu Füßen … und was dann?

Das Ergebniß von Stellas eifrigem Nachsinnen neben dem Porzellankamin, von welchem herab all die schelmischen Liebesgötter sie verständnißvoll anlachten, war, daß sie ihre Eltern mit der Nachricht beglückte, sie wolle reisen, und zwar zunächst nach Trouville – dort werde es sich finden, ob man bleiben oder weitergehen werde. Ganz kaltblütig schrieb und telegraphierte dann die junge Dame an ihre Modistin nach Paris und fing an, in ihrem Innern diese Reise für eine ganz angenehme Abwechselung zu halten. Andree wollte sie einfach sagen, sie fühle sich angegriffen, die andauernden Sitzungen hätten ihrer Gesundheit geschadet, und der Arzt habe eine längere Unterbrechung sowie einen Aufenthalt im Seebade für sie angeordnet.

Andree ahnte von all diesem nichts, als er, eine prachtvolle Centifolie im Knopfloch, an einem heißen Augustmorgen langsam und in Gedanken durch den Brühlschen Garten schritt.

In Gedanken! – Er war es jetzt sehr, sehr oft. Daheim, wenn er an der „Eos“ malte, sank ihm zuweilen auch der Pinsel aus der Hand, und er blieb eine Weile müßig stehen, mit starren Blicken vor sich niedersehend. Aufdämmernde Zukunftsbilder schoben sich vor diesen Blick, und dann war es wieder die Vergangenheit, die er deutlich sah. Nie hatte er so lebhaft an Werner Troost gedacht wie in dieser Zeit – jede Einzelheit der schönen römischen Tage, die sie miteinander verlebt hatten, stand greifbar vor seiner Seele. Ihre Streifzüge in die Campagna hinein, ihre Gespräche im Colosseum beim flammenden Sonnenuntergang, ihr Wandeln Arm in Arm über den Monte Pincio, ihr sorgloses Plaudern in den kleinen Osterien beim Fläschchen Chianti! – Da legte denn wohl Andree eilfertig den Pinsel hin und griff zum Stift und warf mit seiner leichten Hand das Gesicht eines schönen jungen Mannes aufs Papier. „So hat er ausgesehen, wenn er lachte – sein junges, hellstimmiges Lachen – so, wenn er ernst war – und wieder so, wenn er an seine Liebe dachte!“

Seine Liebe, die nun auch Andrees Liebe war! Wie hatte sie doch zu ihm gesagt, damals bei dem Sommerfest? „Mein Herz liegt im Bann der Erinnerung, und ich kann es noch nicht daraus erwecken!“

Er hatte sie damals verstanden, und er verstand sie auch heute noch – wäre nur sein eigenes ungestümes Herz nicht gewesen, das stürmisch nach seinem Glück verlangte! Er warf unruhig den Stift beiseite und wandte sein Antlitz empor, und in seine Augen kam ein sehnsüchtiges Leuchten, wie er seine „Eos“ sah. Es schien halten zu wollen, was er sich davon versprochen hatte, dies Bild – aus einem Guß, aus einer Stimmung heraus wurde es gemalt, und es ließ alles Gute, Tüchtige, Charakteristische und Schöne, was er bisher geschaffen, weit hinter sich zurück. Auch das verdankte er seiner Liebe!

Er hatte heute ganz in aller Frühe aufstehen und an der „Eos“ malen müssen, es hatte ihm keine Ruhe gelassen, Luft und Gewölk waren ihm herrlich gelungen, er hatte sich nur schwer losgerissen, um von der halb untermalten Göttin zu ihrem Urbild zu kommen. Langsam, Schritt für Schritt, ging er nun durch den blühenden Garten, der voll von geschäftig summenden Bienen und leichtsinnig umhergaukelnden Schmetterlingen war.

[805] So ganz war Andree mit seinen Gedanken bei seinem Bilde, daß er zusammenschrak, als plötzlich vor ihm vom Boden eine schwarze, in grellbunten Sommerstoff gekleidete Gestalt emporschnellte, die dort auf dem heißen, sonnendurchglühten Kiessand lang ausgestreckt gelegen hatte, augenscheinlich in keiner andern Absicht, als der, sich hier bei lebendigem Leibe von der sengenden Augustsonne braten zu lassen.

„Dudu!“ rief Andree und hielt den schwarzen Jungen, der ihm, glatt wie ein Aal, entschlüpfen wollte, an einem Jackenzipfel fest. Bei Dudus Anblick fiel ihm Gerda ein. Er hatte sie während seiner täglichen Besuche eigentlich nie zu Gesicht bekommen, und wenn es einmal geschah, so war sie stets mit einem kurzen Gruß verschwunden. Daß sie gesund war, wußte er durch Herrn Grimm, mit dem er eines Abends in einem Weinkeller zusammen getroffen war und gemütlich plaudernd ein paar Flaschen Rothwein ausgestochen hatte. Sie hatten wieder beide großes Wohlgefallen aneinander gefunden, und Andree hatte dem Freunde versprechen müssen, im Herbst und Winter, wenn erst das Pflegekind ganz in seinem Hause sei, ihn häufig zu besuchen, wenn er ihm auch nicht jedesmal eine Jagd auf Kaninchen bieten könne. Er freue sich unaussprechlich auf das Zusammenleben und könne mit Genugthuung berichten, daß es Gerda ebenso gehe, denn sie habe erklärt, noch nie sei ihr ein Sommer so endlos erschienen wie dieser, und sie werde bei ihm wie im Himmel sein.

Dieser etwas überschwengliche Ausspruch fiel Andree ein, als er, Dudus Jackenzipfel in der Hand, an Gerda erinnert wurde – er beschloß, sich einmal nach seiner jungen Freundin umzusehen, und fragte Dudu, ob er nicht wisse, wo sie sei.

Das Mohrchen zeigte seine wie aus leuchtendem Elfenbein geschnitzten Zähne und grinste den Fragenden verständnißlos an. Andree wiederholte seine Frage, nachdrücklich auf Englisch mit demselben Mißerfolg – und erst, als er langsam dreimal hintereinander „Missie Gerda“ sagte und den Knaben mit emporgezogenen Brauen fragend dazu ansah, dann die Achseln zuckte und rathlos rund umherschaute, dämmerte in dem schwarzen Gesicht ein Schatten von Verständniß auf. Der Junge gurgelte ein paar Kehllaute heraus, aus denen wieder Andree seinerseits nichts zu machen wußte, und glitt dann wie ein schillerndes Schlänglein seitwärts durch das Gebüsch, Andree durch einladendes Grinsen aufforderte, ihm zu folgen.

[806] In einer von Birken und Eschen gebildeten Rotunde stand ein gußeiserner Kartentisch, eine kleine Bank dahinter. Auf dieser kauerte Gerda Brühl in sehr ungezwungener Stellung, einen Fuß hoch hinaufgezogen und unter sich geschlagen, beide Ellbogen vor sich auf die Tischplatte gestemmt, die Finger in die Ohren gesteckt und den Kopf tief über ein aufgeschlagenes Buch gebeugt. Halblaute Worte kamen über ihre Lippen, ab und zu durch einen schweren Seufzer unterbrochen.

„Karl I. 1649 enthauptet ― Karl II. bis 1685 ― Jakob II. bis 1688 ― Kampf bei Sedgemoor ―“

„Brav, Gerda! Immer fleißig?“ sagte Andree lächelnd und sah ihr über die Schulter in das offene Buch hinein.

Sie fuhr in die Höhe, starrte ihn ganz wild aus ihren großen Augen an und wollte augenblicklich aufspringen, verlor aber, vermöge des emporgezogenen Fußes, das Gleichgewicht und wäre von der Bank gefallen, wenn Andree sie nicht rasch erfaßt und gehalten hätte. Sie war während dessen glühend roth geworden. Endlich kam sie auf die Füße zu stehen und sagte nun steif und förmlich: „Guten Tag, Herr Andree! Wünschen Sie etwas von mir?“

Er schüttelte verwundert den Kopf.

„So fremd, kleine Freundin? Ist das hübsch, einem alten Kriegs- und Jagdkameraden gegenüber? Gewiß wünsche ich etwas von Ihnen: zunächst eine Hand und dann ein freundliches Gesicht!“

Die Hand wanderte herüber, aber das freundliche Gesicht blieb Gerda ihrem Freunde vorläufig schuldig. Sie sah zu Boden und kräuselte die Lippen.

„Was ist denn passiert, was hab’ ich Ihnen denn gethan?“ fragte er erstaunt weiter und klopfte mit seiner Linken sanft aufmunternd auf ihre Hand, die noch in der seinen lag.

„Nichts!“ erwiderte sie ausdruckslos und sah an ihm vorüber in die Luft.

„Nun also sehen Sie! Nichts! Und dazu machen Sie ein Gesicht, als sei Ihnen meine Gegenwart über die Maßen zuwider! Und ich war in allem Ernst so unbescheiden, mir einzubilden, Sie wären mir gut!“

Gerdas Lippen zitterten, sie wollte ihre Hand, die Andree noch immer gefaßt hielt, losmachen, aber er gab sie nicht her.

„Was ist denn mit Ihnen, Gerda? Onkel Grimm hat mir erzählt, Sie seien gesund und sehr glücklich, bald bei ihm zu sein ― aber es scheint mir, er hat sich geirrt!“

„O nein – das nicht!“

„Ich habe auch Ihre Schwester verschiedene Male nach Ihnen gefragt und bekam stets zur Antwort, es gehe Ihnen gut. Wo fehlt es denn nun?“

Sein Ton und Gesichtsausdruck waren so theilnehmend und gütig, daß Gerda sich zusammenraffte. Sie wußte ja selbst nicht recht, weshalb es sie so grenzenlos gekränkt hatte, daß er sich gar nicht mehr um sie bekümmerte, nur noch für Stella da war, nie nach ihr fragte … Doch! Er hatte ja nach ihr gefragt ― Onkel Grimm und auch Stella, er hatte es ja eben selbst gesagt. Gerda fand sich selbst ganz unausstehlich, sentimental, launenhaft und kindisch ― es war kein Wunder, daß sich die Menschen, den guten Onkel Grimm ausgenommen, nichts aus ihr machten!

„Ach ― ich bin bloß so dumm!“ sagte sie, über sich selbst ärgerlich, und sah Andree endlich ins Gesicht. „Ich denke, ich kann nicht ganz gesund sein! Schmerzen hab’ ich zwar keine, aber Onkel Grimm meint, ich habe zu wenig Blut, und ich wachse zu rasch.“

„Und das verhindert Sie, freundlich gegen mich zu sein?“ fragte Andree mit humoristischem Kopfschütteln. „Eine seltsame Logik!“

Hierauf blieb ihm Gerda die Antwort schuldig.

„Also englische Geschichte treiben Sie!“ nahm er nach einer kleinen Pause das Gespräch wieder auf. „Das Haus Stuart! Dann müssen Sie ja auch etwas vom Oliver Cromwell wissen, dem Puritaner-General. Soll ich Sie einmal ein wenig examinieren? Was meinen Sie?“

„Ach, um Gotteswillen!“ rief Gerda, halb ärgerlich und halb lachend, „das fehlte mir noch!“ Sie schlug mit Heftigkeit das aufgeschlagene Geschichtsbuch zu. Dabei flog ein loses Blatt heraus, und das junge Mädchen bückte sich hastig, um es an sich zu nehmen. Aber Andree war flinker als sie ― er hatte das Blatt im Fallen erfaßt und, im Begriff, es ihr zurückzugeben, einen flüchtigen Blick darauf geworfen.

Gerda war verlegen und beschämt. „Bitte, Herr Andree, sehen Sie es nicht an, geben Sie mir’s wieder!“

Er schüttelte nur stumm den Kopf und hob seine Hand so hoch, daß sie nicht bis zu ihm hinaufreichen konnte und nun neben ihm stand wie ein Kind, das etwas erlangen will und zu klein ist, um dazu zu kommen. ―

Ueber Andrees Gesicht flog ein belustigtes Lächeln, dann ward er wieder ernst.

„Haben Sie das gemacht?“ fragte er, noch immer die Augen auf das Blatt geheftet.

„Ja!“ antwortete Gerda kleinlaut.

Es war die Scene, die sie neulich beobachtet hatte: Kuno von Tillenbach, auf dem niedrigen Schemel zu Stellas Füßen sitzend, die Strähne Seide über den unbeholfen ausgestreckten Armen ― sein dummes Gesicht mit der Schafsfrisur und einem unglaublich komischen Ausdruck verliebten Schmachtens zu dem schönen Mädchen emporgehoben, den Mund offen, die spitzen Kniee hoch hinaufgezogen, die ganze Haltung eckig bis auf die Rockzipfel herab, die am Boden schleifen ― seitwärts davon, sehr absichtlich abgewendet, nur im verlorenen Halbprofil zu sehen, Prinz Riantzew, in seiner ganzen Stellung deutlich Aerger und Mißbilligung ausdrückend, im übrigen tadellos mit seinem dandyhaften Anzug, dem herabhängenden Monocle, der korrekten Frisur. Stellas Gestalt war eben nur in ein paar Linien angedeutet und in keiner Weise ausgeführt, der Hintergrund von Busch und Baum auch nur leicht skizziert.

Es waren auffallende Fehler in dieser kleinen Zeichnung, das sah ein so geübter Blick wie der Andrees sofort. Die Perspektive war schlecht, die Entfernung zwischen den Personen falsch bemessen, die Formen unsicher … was aber dem Ganzen den Stempel des entschiedensten Talentes aufdrückte, das war der ungemeine Scharfblick, mit dem hier das Charakteristische der betreffenden Persönlichkeiten hervorgehoben war, und der ungewöhnlich entwickelte Sinn für Humor, der aus allem sprach.

Als Unterschrift zeigte das Bildchen in Gerdas knabenhaft ungleicher Handschrift die Worte: „Eine Partie mit dem Strohmann“ ― und in einem Eckchen, kaum sichtbar: „G. B. fecit. Den 10. Mai.“

„Bei wem haben Sie Zeichenstunde?“ fragte der Maler nach einer Weile.

„Bei niemand! Bis vor zwei Jahren bei Fräulein Lührmann – dann kam Herr Hilt, um Wolfgang Zeichenunterricht zu geben, aber den kann ich nicht leiden, und so nahm ich lieber gar keine Stunden, obschon es mir sehr leid thut!“

„Was mißfällt Ihnen denn so an Hilt?“

„Alles! Sein Gesicht ― und seine Sprache ― und sein Wesen ― alles! Er ist doch nicht etwa Ihr Freund?“

„Und wenn er es wäre?“

„Könnte ich auch nichts anderes von ihm sagen! Aber nicht wahr, er ist es nicht?“

„Nein, er ist es nicht! Doch genug von ihm! Warum haben Sie die Figur Ihrer Schwester nicht ausgeführt wie die beiden andern?“

„Weil ich bloß Karikaturen machen kann! Das macht mir Spaß ― aber sonst nichts anderes!“

„Prinz Riantzew ist doch keine Karikatur!“

„Sonst nicht ― nein! Aber wie er so dastand, war er eine. Er war so entsetzlich böse! Selbst die Haare in seinem Schnurrbart sträubten sich vor innerer Empörung.“

Andree sah auf das Blatt: richtig, das Stückchen Schnurrbart, das von dem Prinzen sichtbar war, stand steif und nadelspitz empor. Er mußte lachen.

„Haben Sie oft solche Bilderchen gemacht, Gerda?“

„Natürlich!“ gab sie energisch zurück. „Das heißt, aus dem Gedächtniß gerathen sie mir nicht so gut ― diesmal stand ich hinter einem Busch verborgen und zeichnete nach der Natur.“

„Wen haben Sie denn schon abkonterfeit?“

„Na! Alle meine Lehrer natürlich ― und Frau Willmers ― und Hilt ― und Konsul White ― und Dudu ― und manche von den Herren, die zu Papa kommen ―“

„Mich auch?“

Sie sah ihn entrüstet an.

„Sie? Ich sagte doch schon, ich kann bloß Karikaturen zeichnen. Aus Ihnen läßt sich doch keine machen!“

„Hm! Wer weiß! Wenn ich so dagesessen hätte wie Kuno und Ihrer Schwester die Seide gehalten haben würde ―“

[807] „Ach, das hätten Sie doch nie gethan!“

„Meinen Sie? Nun – aber das beiseite! Wissen Sie auch, Gerda, daß Sie ein hübsches Talent haben? Ich brauche Ihnen wohl nicht erst zu sagen, daß hier –“ er wies leicht auf die Zeichnung – „ziemlich viele Fehler drin stecken, aber es ist noch weit mehr Begabung drin. Was meinen Sie, soll ich Ihnen Zeichenstunde geben? Natürlich nicht so ganz regelmäßig, das erlaubt mir meine Zeit nicht, aber ab und zu, und ich bringe Ihnen dann allerlei bei, was Ihnen jetzt noch fehlt und was Sie ohne Zweifel rasch lernen werden. Was sagen Sie dazu?“

Sie war vor Freude und Ueberraschung roth geworden, schüttelte aber heftig den Kopf.

„Es geht nicht, nein, ich danke Ihnen!“

„Es geht nicht?“ wiederholte er. „Warum denn nicht?“

„Ich – ich – bekäme die Erlaubniß nicht dazu!“

„Nun, das wollen wir doch erst einmal sehen! Ich werde mit Ihren Eltern sprechen –“

„Bitte, bitte, nein! Thun Sie das nicht!“

Gerda sah ängstlich aus und sprach sehr dringend.

„Es hilft nichts, ich weiß es, und ich – ich müßte es dann entgelten –“

„Oder wir lassen es, bis Sie zu Herrn Grimm übersiedeln, und ich bitte ihn um die Erlaubniß.“

Sie kämpfte einen Augenblick mit sich.

„Auch das nicht, nein! Ich möchte es nicht!“

„Nun, wie Sie wollen!“ Er legte das Bildchen vor sie auf den Tisch hin und wandte sich zum Gehen.

„Jetzt sind Sie böse!“ sagte Gerda traurig.

„Böse nicht, aber erstaunt und nicht gerade erfreut. Haben Sie denn einen stichhaltigen Grund, bei mir keine Zeichenstunde nehmen zu wollen?“

„Ja, ich habe einen!“

„Und den darf ich nicht erfahren?“

„Nein!“

„Ja, dann muß ich mich schon bescheiden! Vielleicht mißfällt Ihnen auch an mir alles wie an Hilt: mein Gesicht, meine Sprache, mein Wesen –“

Er lachte, während er das sagte, und sie stimmte etwas gezwungen mit ein.

„Das können Sie ja denken, wenn Sie wollen!“

„Adieu denn, Sie junge Sphinx! Kehren Sie zu Ihren Stuarts zurück! Ich muß eilen, daß ich an meine Arbeit komme.“

„Hat Ihnen Stella schon gesagt –“ Gerda hielt inne.

„Was gesagt?“

„Ach –0– nichts! Oder doch etwas! Aber sie wird’s Ihnen ja selbst sagen!“

„Auf Wiedersehen, meine spröde Freundin! Ich werde es jetzt einzurichten wissen, daß wir einander öfter treffen.“

Wie sie zu ihm aufschaute, machte ihn der Ausdruck in ihren Augen betroffen, es durchzuckte ihn etwas, er konnte nicht sagen, was es war. Die Empfindung ging blitzschnell vorüber und ließ nur ein Stutzen, ein Staunen zurück, das auch bald verschwand.

Als Andree sich im Weiterschreiten zurückwandte, sah er Gerda wieder mit aufgestemmten Ellbogen, die Finger in den Ohren, am Tisch sitzen und englische Geschichte lernen. Das Bildchen „Eine Partie mit dem Strohmann“ lag neben dem offenen Buch.

„Kurioses Kind!“ murmelte der Maler und bog in eine kleine Lindenallee ein.




19.

Oben in dem Atelier, das so rasch und mit so großen Kosten hergerichtet worden war, saß unterdessen die schöne Stella und war sehr ungnädig. Andree kam nicht, er ließ sie warten! Was fiel ihm denn ein? Mit wem glaubte er es zu thun zu haben? Schon seit einer halben Stunde saß sie bereit in dem weißen Kleide, das sie für das Porträt brauchte, ja sie hatte unwillkürlich schon die Stellung für das Bild eingenommen. Sie war heute besonders pünktlich zur Stelle gewesen und hatte sich statt Frau Willmers Mama zur Hilfe und Verstärkung mit heraufgenommen. Frau Brühl war schon mehrfach bei den Sitzungen zugegen gewesen, heute aber war ihre Anwesenheit besonders nothwendig, denn Stella wollte Andree ganz kühl und ruhig, wie etwas Selbstverständliches, den Reiseplan mittheilen und ihm sagen, daß heute für lange Zeit ihre letzte Sitzung sei. Es war ihr indessen innerlich durchaus nicht so kühl und ruhig zu Muthe, denn sie sagte sich, daß Andree diese Reise keineswegs als etwas so Selbstverständliches auffassen werde, und daß sie selbst durch ihr Benehmen ihm ein Recht zum Staunen, sogar zur Entrüstung über diesen Reiseplan gegeben habe. Das war ihr unbehaglich, daher sollte ihr die gute Frau Mama Andree gegenüber als Blitzableiter dienen. –00– Nun erleichterte sein unverantwortliches Benehmen ihr die Lage bedeutend. Sie zog wohl zum zehnten Mal während dieser halben Stunde ihre Uhr zu Rath, runzelte finster die Stirn, stampfte zornig mit dem Füßchen und gab Mama Brühl auf eine sehr bescheidene Frage eine sehr unbescheidene Antwort.

Draußen schien recht wie zum Hohn die Sonne, der Himmel war leuchtend blau, es war das schönste Wetter von der Welt – und er kam nicht! Wäre er krank geworden oder sonst ein Hinderniß eingetreten, dann hätte er doch Botschaft senden müssen. Empörend! Sollte sie fortgehen und es der Mama überlassen, ihm das Projekt der Reise und die Unterbrechung der Sitzungen mitzutheilen?

Da kam ein leichter eiliger Schritt die teppichbedeckte Stiege herauf, ein wohlbekanntes Klopfen ertönte, und auf ein gemessenes „Herein“ von Mama Brühl – Stella that den Mund nicht auf – trat Andree eilig und lächelnd über die Schwelle. Sein Blick flog zu Stella hinüber, während er sich tief vor der Dame des Hauses verneigte und ein paar höfliche Worte sagte – das schöne Mädchen saß abgewendet da und that, als wäre niemand ins Zimmer getreten. Ah! Schlechtes Wetter! Das verwöhnte Prinzeßchen war beleidigt! –

„Ich bitte Sie, meine verehrte gnädige Frau, helfen Sie mir gütigst, Ihr Fräulein Tochter zu versöhnen!“ wandte sich der Maler an die ältere Dame. „Ich rufe Ihr mütterliches Gerechtigkeitsgefühl in dieser Angelegenheit an, das sicher bei der einen Tochter das vertreten wird, was die andere zum Theil mit verschuldet hat. Ich traf Fräulein Gerda unten im Garten, und da ich meine junge Freundin lange Zeit hindurch gar nicht zu Gesicht bekommen hatte, so benutzte ich die gute Gelegenheit, um eine Weile mit ihr zu plandern!“

So! Also Gerdas wegen! Auch das noch! – Auf dem sonst so strahlenden Antlitz Stellas war völlige Sonnenfinsterniß.

„Bitte, sehen Sie nicht so böse drein, mein gnädiges Fräulein! Habe ich denn wirklich ein solch großes Verbrechen in Ihren Augen begangen?“ Andree bog sich beunruhigt zu Stella nieder.

„Das gerade nicht!“ kam endlich Mama Brühl zu Hilfe, da die „Prinzessin“ mit eiserner Beharrlichkeit schwieg. „Sie können sich aus dem Aerger meiner Tochter, bester Herr Andree, nur ein Kompliment herauslesen, sie zeigt Ihnen dadurch, wie sehr ihr an diesen Sitzungen gelegen ist – und nun gerade heute! Es ist nämlich – nun komm’, meine süße Stella, sei mein kluges verständiges Kind wie immer, sprich mit Herrn Andree, der ja unser aller vertrauter Freund im Verlauf der Zeit geworden ist! Sag’ ihm, was Du zu sagen hast!“

„Ja,“ begann die junge Dame in durchaus geschäftsmäßigem Ton, immer noch, ohne Andree anzusehen, – sie spielte mit einem goldenen Bleistift und ließ keinen Blick von demselben – „das kann geschehen, Mama hat ganz recht! Ich wollte Ihnen sagen, Herr Andree, daß heute unsere letzte Sitzung stattfinden muß, da wir übermorgen verreisen!“

„Was?“ fragte der Maler schroff und trat ganz nahe an Stella heran, wie wenn er nicht richtig gehört hätte.

Sie hob trotzig den Blick zu ihm auf, allein sie fand einen Ausdruck auf seinem Gesicht, der sie zwang, die Augen niederzuschlagen. Stella Brühl hatte sehr wenig Herz, – aber das wenige, was sie von diesem Artikel besaß, gehörte augenblicklich ohne Zweifel Andree – und das Gemisch von Schreck, Staunen und Schmerz, das sie auf seinem Antlitz las, rührte ihr das Herz.

„Wir reisen – ja – Papa wünscht es,“ sagte sie stockend, „und unser Hausarzt befiehlt es geradezu, die langen Sitzungen sind zu angreifend für mich gewesen – ich – ich bin nicht gesund –“

Und in der That: ihr sonst so rosiges Gesichtchen erschien blaß, wie sie jetzt zu dem Maler in die Höhe sah, ihre Stimme klang matt, und in den wunderschönen Augen glänzte es feucht.

Es zuckte in seinen Zügen. Er glaubte ihr ohne weiteres – glaubte ihr jedes Wort, das sie sprach. Keine Sekunde kam ihm der Gedanke, ihre Worte anzuzweifeln. In seinem langen und [808] engen Verkehr mit ihr hatte er nie einen Widerspruch in ihrem Wesen, nie ein Abweichen von der Wahrheit entdeckt, … er hätte es vielleicht vermocht, wenn er sie scharf beobachtet haben würde. Aber er liebte sie – und ein leidenschaftlich Liebender ist ein schlechter Beobachter. –

Also fort! Die Kette herrlich schöner Tage unterbrochen! Seine Freude, die er von Tag zu Tag mit heimlicher Flamme in sich genährt, dahin! Nicht mehr würde er einschlafen mit einem glücklichen Lächeln und einem geflüsterten oder gedachten: auf morgen! Er würde nicht mehr mit einem gesteigerten Wonnegefühl erwachen und in brennender Ungednld, die einzig und allein durch Malen, durch Malen an ihrem Bilde, zu beschwichtigen war, die Stunde herbeisehnen, die ihn endlich wieder zu ihr brachte! Seine Sonne, sein Glück, sein künstlerisches Ideal fort!

00– Er stand wie im Traum und sah auf ihr wundervolles Haar, dem die Sonne rothe Lichter entlockte, und er kostete in dieser Minute zum voraus all’ die Bitterkeit und qualvolle Sehnsucht durch, die diese Trennung ihm bereiten würde. –

Frau Brühl stand neben dem breiten Fenster und betrachtete die beiden mit wachsendem Erstaunen. Sie fand dies schwüle Schweigen und gegenseitige unverwandte Anblicken etwas sonderbar. Es war ziemlich lange her, seit sie zum letzten Mal als Ehrendame hier oben im Atelier gewesen war. In der letzten Zeit hatte die Prinzessin immer ihre getreue Willmers zu diesem Posten bestimmt. Sollte sich unterdessen hier etwas angesponnen haben? Zwar, daß Andree in Stella verliebt war, fand sie selbstverständlich, sie hätte sich sehr gewundert, wenn ein Mann, der so andauernd das Glück genoß, ihren Engel zu sehen und mit demselben zu verkehren, nicht sein Herz an ihn verloren haben würde! Aber Stella! Was war mit ihr? Wie benahm sich das Kind? Sie sah jetzt aus, als koste sie die Trennung selbst einen schweren Entschluß, … mein Gott, und sie hatte doch zu Papas Vorschlag Ja und Amen gesagt und hinzugefügt, es sei sogar in mancher Hinsicht nothwendig, daß die Reise vor sich gehe. – Die betroffene Mama schüttelte bedenklich den Kopf, sie wagte nichts zu sagen, da sie genau wußte, daß Stella solche Einmischungen weder liebte, noch überhaupt duldete, aber sie fühlte sich äußerst ungemüthlich.

„Also fort!“ sagte endlich Andree mit heiserer Stimme. „Wohin? Und wie lange?“

„Nach Trouville – zunächst, nur für ein paar Wochen!“

„Nur für ein paar Wochen!“ wiederholte die entrüstete Mama in Gedanken. „Und ich, die ich mir Herbstkostüme bestellt und mich ganz darauf eingerichtet habe, bis in den Oktober hinein fortzubleiben, wenn auch nicht gerade in Trouville! Was das Kind sich denkt?“

Wieder eine schwüle Pause! Endlich trat er näher und faßte ihre Hand, die Mama schien er ganz vergessen zu haben.

„Sie sind doch nicht ernstlich leidend?“ fragte er sanft und leise. „Sie fühlen sich nicht krank?“

So schwer bekümmert klang seine Stimme, so traurig und besorgt blickten seine guten Augen sie an, daß etwas wie Beschämung über die Komödie, die sie vor ihm aufführte, über sie kam.

„Das nicht gerade!“ murmelte sie. „Nein – nicht krank – nur ermüdet! Die langen Sitzungen –“

Er sah sie reuevoll an, faßte behutsam ihr Händchen, als fürchtete er, ihr wehe zu thun, und küßte es zärtlich wieder und wieder.

„Ich Egoist! Ich Tyrann! Ich habe nur an mich und meine Kunst gedacht und nie danach gefragt, ob Ihr zarter Körper solch ungewohnter Anstrengung gewachsen ist! Können Sie mir denn verzeihen?“

Sie nickte und lächelte ihn an. Leise wie ein Hauch, so daß ihre Mutter am Fenster es unmöglich hören konnte, kamen die Worte über ihre Lippen: „Ich komme bald wieder!“

Nun lächelte auch er, obgleich es ihm nicht recht von Herzen gehen wollte.

„Wir hatten gehofft, lieber Herr Andree,“ nahm hier Mama Brühl das Wort – ein Augenwink Stellas hatte ihr die Erlaubniß dazu ertheilt – „daß Sie Ihr Werk auch ohne die Anwesenheit meines Kindes zu fördern in der Lage sein würden. Stella hat mir gesagt, daß Sie für die ‚Eos‘ eine große Anzahl von Skizzen verschiedenster Art angefertigt haben, die Ihnen einen sichern Anhalt bieten dürften. Und das Porträt meines Kindes“ – Frau Brühl sprach oft so von Stella, als habe sie nur dieses einzige Kind und als sei es ihr alleiniges Eigenthum, auf das ihr Gemahl keinerlei Anspruch erheben dürfe – „ist ja fast vollendet.“

„Ja, ja!“ sagte er nach einer Weile, wie aus einem Traum auffahrend, „ich kann auf dem Bilde der Eos das Viergespann malen indessen – das giebt reichlich zu thun … und hier – mir fehlt noch etwas an der Hand und am Haar … dürfte ich bitten?“

Stella kam seinem Wunsch nach. Mit der glücklichen Leichtigkeit, die, abgesehen von ihrer Schönheit, dem Künstler die Aufgabe so dankbar machte, fand sie sofort die richtige Stellung, die Haltung des Kopfes, die Lage der Hände … und wenn Andree jetzt dennoch hinzutrat, um scheinbar einiges zu ändern, so that er es nur, um ihre Hand, ihr Kleid, ihr Haar berühren zu dürfen, es war ja für lange Zeit heute zum letzten Mal, daß er sie so für sich hatte!

Frau Brühl sah auch diese „künstlerische That“ mit an und dachte sich das Ihrige dabei. Sie wagte es, im stillen Stella zu kritisieren, sie nannte sie unvorsichtig. Wer konnte es dem Mann verargen, wenn er sich Illusionen hingab?

Daß er dies wirklich that, bewies sein Benehmen, als es nach einer guten Stunde emsigen und ununterbrochenen Malens, thatsächlich zum Abschied kam. Sein Gesicht wurde weiß bis in die Lippen hinein, und diese Lippen bewegten sich, aber es kam kein Laut darüber. Er hielt des schönen Mädchens beide Hände gefaßt, wie in Seelenangst, und sein Blick ruhte mit einem Ausdruck so selbstvergessener Zärtlichkeit auf ihr, daß es der Frau Senator, die zu Zeiten nicht ohne sentimentale Empfindsamkeit war, ordentlich leid um ihn that. Endlich flüsterte er etwas, das sie leider nicht verstand, wandte sich mit ein paar Abschiedsworten, die ihr keinen Zusammenhang zu haben schienen, zu ihr, der Mutter, und führte ihre Hand leicht an seine Lippen. Darauf kehrte er noch einmal zu Stella zurück, und die beiden tauschten Blicke und leise Worte wie zuvor. Und nun war er gegangen!

Sie hörten unten, am Fuß der Treppe, die Hausthür gehen und sahen dann seine hohe und kraftvolle Gestalt durch den Garten schreiten, der, lichtüberfluthet, im vollen Mittagssonnenschein dalag. Mama Brühl hatte tausend brennende Fragen auf der Zunge, scheute sich aber, auch nur eine einzige auszusprechen, denn Stella kehrte ihr den Rücken und stand in die Betrachtung ihres Porträts vertieft. Kein Laut unterbrach die Stille, nur eine verirrte Biene stieß dann und wann summend gegen die Fensterscheiben.

„Wird er das Porträt zu sich in seine Wohnung holen lassen?“ fragte Frau Brühl endlich mit halber Stimme.

Stella nickte nur, ohne sich umzuwenden.

„Was sagte er denn noch ganz zuletzt zu Dir?“ hieß es nach einer Weile weiter.

„Es war nur für mich allein bestimmt – es braucht es sonst niemand zu wissen!“

„Aber um Gotteswillen, mein süßes Kind – nein, nein, sei nicht böse, ich will ja nur fragen! – was bedeutet das alles, und was soll daraus werden?“

Stella zuckte leicht die Achseln, ein spöttisches Lächln lag auf ihrem Gesicht.

„Du kannst ganz ruhig sein, Mama! Es dedeutet nichts besonderes, und es wird auch nichts daraus werden!“ –00

0000000000000000

Arbeit, Arbeit – Erlöserin! Du tötest die Sehnsucht nicht, aber Du schläferst sie auf Stunden ein! Du täuschest uns über die Zeit hinweg, und es kann uns geschehen, daß wir nach einem arbeitsvollen Tage genau ebenso sprechen, wie nach einem glückseligen, der uns das Liebste gebracht hat: Wie? Schon zu Ende? Wo blieb die Zeit?

So stand denn Waldemar Andree in seinem Atelier und malte – malte, bis Auge und Kopf ihn schmerzten, oder er stand in dem prachtvollen Marstall Mynheer van Kuythens, eines reichen Holländers, welcher ihm seine Rosse als Modelle für das Viergespann der „Eos“ zur Verfügung gestellt hatte. So oft er es wünschte, erschienen ein paar Bereiter, die auf dem ausgedehnten Terrain, das sich an die Stallungen schloß, die Pferde tummelten, sie nebeneinander, voreinander, zu zweien, zu dreien und vieren an einen Wagen spannten und in jeder Gangart, vom [810] ebenmäßigsten Schritt bis zum waghalsigsten Galopp, vorführten. Hier galt es ein sicheres Auge und eine rasche Hand – gottlob, Andree hatte beides! In äußerster Spannung folgte sein Blick diesen geschmeidigen Bewegungen, pfeilgeschwind flog seine Hand über das Papier – aber angesichts dieser Modelle bedauerte er doch, nicht eifriger seine Thierstudien fortgesetzt zu haben; es ging ihm jetzt auf diesem Gebiet ein ganz neues Verständniß auf. Unermüdlich war er in neuen Aufnahmen; die beiden Bereiter hatte er sich durch freundliches Wesen und ausgiebige Trinkgelder völlig gewonnen, sie folgten willig seinen Wünschen ohne Rücksicht auf ihre eigenen Anschauungen über das, was an den Pferden „schön“ war. Oft gesellte sich auch der holländische Herr zu der Gruppe, sah wohlgefällig auf sein kostbares Eigenthum und staunend auf den Künstler, dessen flinker Stift ihm, dem Laien, wie ein Zauberstab erschien.

Ein paar Mal war jetzt auch Herr Bernhard Grimm in Andrees Atelier erschienen. Das erste Mal, als er die halbfertige „Eos“ sah, war ein Ausdruck selbstvergessenen Staunens in sein Gesicht gekommen – er hatte sich nicht losreißen können, schien des Malers Anwesenheit ganz vergessen zu haben und lobte endlich das Gemälde mit keinem einzigen Wort. Aber Andree war nicht beleidigt darüber, im Gegentheil! Die Art, wie Herr Grimm, während sie miteinander sprachen, unverwandt die „Eos“ anstarrte, wie er in halben Sätzen sprach, sich jeden Augenblick unterbrach oder verbesserte, bis er endlich mit einer gewissen krampfhaften Energie aufsprang und sich so hinsetzte, daß er dem Bilde den Rücken zukehrte – die Art, wie er dreimal in der Thür umkehrte und dann zuletzt Andree mit seiner kleinen zierlichen Hand so kräftig die Rechte schüttelte, daß dieser zusammenzuckte – die sagte genug!

Herr Grimm war sehr aufgeräumt in dieser Zeit. „Kein Wunder!“ entgegnete er auf eine fragende Bemerkung Andrees. „Kein Wunder, mein Freund. Ich bin verjüngt – ich bin verwandelt – ich bin besser geworden. Ich habe ja jetzt ein Kind! Welche Kraft liegt doch in der Jugend! Welche Macht wohnt in solch einem kindlichen Geschöpf – wohlverstanden, wenn es uns liebt und von uns wieder geliebt wird! Und das ist hier der Fall – und wie! Sie werden sagen, das hätte ich ja schon längst haben können, wenn ich gewollt hätte, und ich könnte diesem geistreichen Ausspruch nur beistimmen. Gewiß hätte ich es gekonnt, denn meinen guten Brühl würde ich vor sechs oder acht Jahren genau so willfährig gefunden haben wie jetzt … will sagen, er hätte es damals ebenso ungern gethan wie heute, aber er hätte es eben doch gethan! Allein ich wollte nicht! Ein kleines Kind – sehen Sie, ich alter Hagestolz traute mir’s nicht zu, ein solch gebrechliches Wesen richtig zu behandeln, ich wäre immer mit Zittern und Zagen um das Geschöpf herumgegangen und hätte gar nicht recht gewagt, es anzufassen. Ich hab’ mich auch um Gerda, wie sie noch klein war, wenig gekümmert, obgleich ich sie immer im Auge behielt und stets die Idee hatte: die nimmst du dir mal! Die wird einmal später dein Kind! – Aber jetzt! Was eine richtige, gut entwickelte Knospe ist – ja, das trau’ ich mir zu, auch zum Blühen zu bringen, und hoffentlich wird’s eine hübsche Blüthe werden – Götter und Menschen zu erfreuen! Na – nicht zuviel versprechen! Wollen doch sehen! Ueber ein paar Jahre reden wir mehr davon, denn bis heute ist meine Tochter noch ein richtiger Kindskopf. Es liegt da noch alles kunterbunt bei einander, dumme Spielereien und überraschend feine und scharfe Beobachtung, alberne Nichtigkeiten und auffallender Schönheitssinn, kindische Ungezogenheit und echtes weibliches Gefühl. Seltsames Gemisch – solch ein halberwachsenes Frauenzimmerchen! Mir aber gerade interessant und anziehend!“

„Wie kam es denn, daß man Ihnen Gerda jetzt schon überließ?“ fragte Andree dazwischen, der mit großer Theilnahme zugehört hatte.

„Ja, was sollten sie machen? Die Eltern verreisen sammt dem Götzen – bitte um Entschuldigung, ich wollte sagen, sammt der Prinzessin! Mitnehmen wollen sie Gerda natürlich nicht, und sie ganz allein zu Hause lassen, wie sie es allerdings bisher immer zu meinem Entsetzen gethan haben … das wollte ihnen doch jetzt nicht mehr recht passend erscheinen bei einem so großen Mädchen, das auf dem Sommerfest neulich schon wie eine erwachsene Dame aussah und demgemäß auch wie eine solche behandelt wurde. Also hieß es nothgedrungen: Lieber Grimm, da Du doch ohnehin Gerda zu Dir nehmen wolltest – sie kann ja mit Wolfgang zusammen einstweilen weiter lernen – möchtest Du sie nicht jetzt schon haben? Natürlich wollte ich sie haben, aber ohne den Ballast von Gelehrsamkeit! Mag der Junge zusehen, wie er ohne sie fertig wird! Gar kein übles Gewächs, der Wolfgang, bloß durch diese – wie sage ich gleich? – exceptionelle Erziehung verdorben! Ich hab’ ihm gehörig den Kopf gewaschen und ihm zu Gemüth geführt, daß es eine Schande für einen rechten Jungen sei, wenn sein Lernen und sein Vorwärtskommen von seiner Schwester abhängig sei. Es schien ihm einigen Eindruck zu machen, und ich selbst habe mich auf die Suche nach einem Gefährten für ihn begeben, auch glücklich einen jungen Schlingel in seinem Alter aufgegabelt, der gleichfalls bei den Wissenschaften nicht gut thun, dagegen mit derselben zähen Leidenschaft wie Wolfgang Seemann werden will. Sie wissen beide gleich wenig, werden gemeinsam gedrillt, sind geschworene Freunde geworden, die jede freie Stunde bei den Schiffen sitzen, segeln oder sich in den Häfen herumtreiben, und scheinen jetzt vorwärts zu kommen … auch da heißt es natürlich abwarten! Mein Kind Gerda aber hat all das für ein Mädel unverdauliche Zeug, den Homer und die Verba auf mi und so weiter, fröhlichen Herzens über Bord geworfen und treibt dafür fleißig die übrigen Wissenschaften, denn was Tüchtiges lernen soll sie, das steht fest!“

„Bitte,“ sagte Andree ruhig, „lassen Sie ihr auch jetzt oder später Zeichen- und Malstunde geben – ich sah zufällig ein Pröbchen ihrer Kunst, und ich sage Ihnen, es ist Talent da, wenn auch zunächst nur zur Karikatur, wie sie behauptet. Ich bot ihr damals an, ihr Unterricht im Zeichnen zu geben, aber sie wollte nicht!“

„Wollte nicht?“ wiederholte Grimm nachdenklich. „Ja, ja, das kann ich mir denken!“

„Wirklich?“ fragte der Maler lebhaft. „Auch den Grund dafür?“

„So ungefähr!“

„Und Sie können ihn mir nicht sagen?“

„Können – schon! Aber ich möchte es lieber nicht! Sie nehmen es mir nicht übel?“

„Wie sollte ich? Wenn es, nach Ihrem Gesichtsausdruck zu schließen, ein ernster Grund ist –“

„Das ist es!“

„Dann verzichte ich selbstverständlich! Nun, bitte, sagen Sie mir: wie haben denn Frau Müller und Hafis die neue Hausgenossin aufgenommen?“

Herr Grimm lachte.

„Ganz ohne Kampf ging das nicht ab. Bei der Müller trat von dem Kampf allerdings nichts an die Oberfläche, aber ich kenne die alte Person zu gut, hab’ sie nicht umsonst all die langen Jahre hindurch um mich gehabt – in der Tiefe hat’s bös gegährt, sage ich Ihnen! Sie war in großer Furcht, ich könnte auf Gerda das übertragen, was sie ‚ihre Rechte‘ nennt, oder das Kind könnte diese sogenannten Rechte an sich reißen wollen. In diesem Fall hätte sie mir gekündigt, so schwer es ihr geworden wäre, das weiß ich genau, und, obgleich sie voller Eigenheiten steckt und eine verdrehte alte Schraube ist … ohne die Müller könnt’ ich mich doch schwer behelfen! Allein mein Töchterchen benahm sich prachtvoll. Gerda ist ja eigentlich kein liebenswürdiges Naturell, zum Beispiel gar kein Schmeichelkätzchen wie die meisten jungen Dämchen in ihrem Alter – sie geht höchstens mir ’mal um den Bart – nun, das ist aber für meinen alten Premierminister gerade das Rechte! Wäre das Mädel wie ein Ohrwurm um die Müller herum gewesen, dann wär’ diese heillos argwöhnisch geworden, hätte allerlei Falschheit dahinter gewittert und meiner Tochter nicht gerade das Dasein versüßt. Nichts davon! Gerda ging ganz unbekümmert ihren Weg und ließ die Müller den ihrigen gehen, überließ ihr sämmtliche Pflichten und Rechte, war nicht zu freundlich, nicht zu rauh, verletzte in keinem Punkte die Hausordnung und brachte zuerst in meiner Alten ein stilles Erstaunen, dann schweigende Billigung, endlich ein offenbares Wohlgefallen hervor. Jetzt weist sie dem Kinde freiwillig dies und das zu, was sie früher selbst besorgt hat – Gerda fragt sie bei jeder Gelegenheit um Rath, kurz, es herrscht vollkommene Uebereinstimmung unter meinen Damen.“

[811] Herr Grimm rieb sich die Hände und schmunzelte behaglich vor sich hin.

„Und Hafis?“ fragte Andree.

„Der rebellierte zuerst ganz offen. Es ist überhaupt keine versteckte Katzenart in ihm, nichts Hinterlistiges, Feiges – er ist offen und loyal, er hat einen aristokratischen Sinn! Als Gast hat er Gerda immer gern gehabt, sie stets freundlich mit Spinnen und Zutraulichkeiten begrüßt, ihr gewissermaßen die Honneurs meines Hauses gemacht – aber als er sie nun beständig um meine Person sah, wurde er stutzig, seine Eifersucht erwachte. Er sträubte sein schönes Fell wie eine Bürste, seine Augen funkelten, er ließ sich nicht mehr auf den Schoß nehmen und streicheln, ging oft im Kreise um Gerda herum, als wolle er sie beobachten, er fraß wenig und magerte ab. Was thun? Gerda abschaffen Hafis zuliebe? Nicht daran zu denken! Hafis abschaffen Gerda zuliebe? Gleichfalls unmöglich! Man mußte den Dingen einfach ihren Lauf lassen. Dies that ich, und ich hatte es nicht zu bereuen. Als mein kluger Hafis sah, daß alles blieb, wie es war, daß die neue Bewohnerin ihn nicht von seiner Sofalehne und nicht von seinem Platz in meinem Herzen verdrängte, ihn unbeanstandet seinen Gewohnheiten überließ, ja selbst zu seinem Behagen noch mehr beitrug – da streckte er allmählich die Waffen. In diesem Kater steckt ein Philosoph, müssen Sie wissen! Wer an die Seelenwanderung glaubt, der könnte merkwürdige Dinge an diesem außerordentlichen Thier beobachten. Jetzt ist also die Hausordnung bei mir eine musterhafte, und ich hoffe, Sie kommen in Bälde zu mir, um sich davon zu überzeugen!“

Andree versprach das, führte es auch aus, traf aber Herrn Grimm allein an, da sein Adoptivkind mit Wolfgang und dessen neuem Freund eine kleine Segelpartie unternommen hatte. Der Maler unterhielt sich angeregt und lebhaft mit dem Hausherrn, vertrug sich ausgezeichnet mit Frau Müller und Hafis, dem Philosophen, bedauerte aber sehr, Gerda nicht angetroffen zu haben. Er hätte gar zu gern gesehen, wie sie sich als Herrn Grimms Pflegetochter ausnehme.

Inzwischen kam der Herbst heran, der Oktober stand vor der Thür, und immer noch hörte man nichts von der Familie Brühl. In Andree wohnte eine täglich wachsende Unruhe, selbst seine Kunst wollte ihm nicht mehr recht helfen. Die Sonnenpferde der „Eos“ waren nahezu vollendet, ebenso Himmel und Luft; die Göttin aber fertig zu malen, vermochte er nicht über sich. Trotz der vielen Skizzen von dem schönen Mädchen, die sich in seinem Besitz befanden, Skizzen, von denen ihm sein eigenes Urtheil sagte, sie seien gut, zum Theil sogar vorzüglich gelungen, schreckte er davor zurück, die letzte Hand an diese Figur, dies Gesicht zu legen, machte er sich immer wieder an andern Dingen zu schaffen. „Ich kann es nicht vollenden ohne sie,“ sagte er sich. „Sie selbst muß kommen.“

Aber sie kam nicht.

Und nun machte der Herbst, der lange schon gedroht und verschiedene unangenehme Vorboten als Warnung ins Land geschickt hatte, wirklich Ernst und trat sein rauhes Regiment an.

Und wie that er das!

Es schneite, es hagelte, es regnete, es tobte und stürmte. Es riß die Blätter von den Bäumen und entführte sie in einem tollen Wirbelsturm weithin in die Lüfte. Es sauste gegen die Häuser, klatschte gegen die Fensterscheiben, schoß in schmutzigen Bächlein die Straßen entlang. Die schöne Alster – wie sah sie aus! Die hübschen Ufer – was war aus ihnen geworden! Nasse Nebelfetzen hingen an den halbkahlen, geplünderten Bäumen, das Laub an den Büschen war erfroren und hing schlaff und kläglich nieder, unabsehbare Dohlenschwärme segelten mit heiserem Mißlaut über die Gärten weg und verloren sich im farblosen Grau des Himmels. Endlos troff der Regen nieder – von den Dachrinnen, von den Schirmen, Kleidern, Tüchern – hoffnungslos und entsetzlich! –

Andree ging nur selten auf die Straße, er hatte sich einen ganzen Haufen theils wissenschaftlicher, theils unterhaltender Bücher aus Buchhandlungen und Bibliotheken zusammengetragen und lag nun stundenlang auf dem breiten niedrigen, mit weichen Stoffen behangenen Divan in seinem Atelier und las. Ihm zur Rechten prasselte ein schönes rothes Feuer im Kamin, ihm zur Linken stand ein kleiner Tisch mit Wein und Cigaretten – hob er den Blick, so sah er gerade auf die „Eos“, die, mit packender Leuchtkraft gemalt, des unholden trüben Wetters zu spotten und das ganze große Atelier mit Licht und Glanz zu erfüllen schien. Es war alles da, um den Raum und die Existenz darin für den Bewohner „riesig gemüthlich“ zu machen – so fand es Herr Grimm, der Andree wieder einmal besuchte: die „Eos“ hatte es ihm angethan! – und so fand es auch Andree selbst, der so sehr die Behaglichkeit liebte! Wenn nur sein Inneres mit dieser harmonischen Umgebung mehr im Einklang gestanden hätte! Das war’s! Ihm war nicht harmonisch zu Muth – ganz und gar nicht! Gegen seinen Willen gab ihm dies lange Fortbleiben Stellas zu denken. „Ein paar Wochen!“ hatte sie gesagt – und: „Ich komme bald wieder!“ und dies mit einem Ausdruck, der ihm alles Blut zum Herzen gejagt, ihn schwindlig vor Glück gemacht hatte. Um die Mitte des August war sie abgereist – jetzt ging der Oktober auf die Neige, und sie war noch immer nicht da! Konnte sie krank sein? Diese blühende, rosige Jugend? War sonst irgend etwas geschehen, was diese Reise so ins unendliche ausdehnte? Aber was konnte dies sein? Herr Grimm wußte es nicht, oder wenn er es wußte, sagte er es nicht; er schüttelte auf Andrees erregte Fragen und Muthmaßungen nur stumm den Kopf und hatte ein Lächeln auf seinem Gesicht, das den meisten andern Menschen als sehr seltsam aufgefallen wäre, aber dem Maler fiel es nicht auf!

Liebte sie ihn nicht? Werner Troosts Warnung fiel ihm ein, seine Bitte, sie zu stützen, zu veredeln, ihr Wesen zu vertiefen – sie sei ja so jung und schön und namenlos verwöhnt, es sei alle Gefahr für sie da, daß sie der Weihrauch der Anbetung verderbe!

Dieser Gefahr war sie jetzt mehr denn je ausgesetzt. Und er konnte sie nicht davor behüten. Ihre Eltern schützten sie auch nicht davor – im Gegentheil, sie riefen die Gelegenheit herbei.

Wenn diese Gedanken über den einsamen Mann kamen – und das geschah immer häufiger von Tag zu Tag – dann sprang er wohl ungeduldig von seinem weichen Ruhebett auf und ging mit großen Schritten hin und her. Zwischendurch griff er zum Stift, zum Pinsel und versuchte immer aufs neue, eine Mignon wiederzugeben – seine Lieblingsidee, die ihn schon in Rom verfolgt hatte. Umsonst! Sein Stift irrte ziellos über das Papier, es wollte sich ihm nichts gestalten. Dabei quälte es ihn, daß ihm nebelhaft, im Hintergrund seiner Gedanken, ein Etwas vorschwebte, das zu diesem Bilde paßte – sowie er aber versuchte, ihm greifbare Gestalt zu geben, zerflatterte dies nebelhafte Etwas in ein wesenloses Nichts. Zuweilen, wenn er sich fürs Lesen wie fürs Malen zu ruhelos fühlte, wenn es ihn um keinen Preis zwischen seinen vier Wänden litt, wickelte er sich in einen warmen Mantel, drückte eine englische Schirmmütze tief in die Stirn und ging in den Regen und Nebel hinaus, seinen Lieblingsweg – zum Hafen. Er sah da viel Fesselndes und Charakteristisches, und wenn er es auch nicht skizzieren konnte, so behielt er doch manches packende Motiv im Gedächtniß und „schrieb sich’s zu Hause auf,“ wie er es nannte, wenn er auf lose Blätter, die in einer großen Mappe lagen, kleine beobachtete Scenen aus dem Leben hinwarf.

An einem der ersten Novembertage begab sich das Wunderbare, daß die Sonne zum Vorschein kam. Man hatte sie solange nicht gesehen, daß alle Welt sie mit Entzücken begrüßte. Es ist merkwürdig, wie der langentbehrte Sonnenschein die Erwartung belebt, die Hoffnung erweckt! Hundertmal sagt man sich: der Sonnenschein thut’s nicht! Eine leise Stimme antwortet immer wieder: vielleicht geschieht heute dennoch das, was Du Dir wünschest!

Und als Andree an diesem sonnigen vierten November seinen gewohnten Spaziergang antrat – siehe, da hatte das stattliche Haus des Herrn Brühl seine Augen wieder aufgeschlagen. Die Vorhänge waren emporgezogen, die Fensterscheiben blinkten im Sonnenschein, das Gitterthor stand weit offen. Wie ein Träumender schritt Andree hindurch. Es hatte ihn wie ein Schlag getroffen, als er das zum Leben erwachte Haus sah, und das Herz schien ihm still zu stehen in Erwartung.

Er war ja jetzt ein naher Freund des Hauses geworden, mußte nicht warten, bis man ihn rief – er konnte sich auf sein gutes Recht berufen!

[821]
20.

Andree setzte die Glocke am Brühlschen Hause in Bewegung.

Der reichgalonnierte Portier erschien.

„Guten Tag, Oehmke! Also die Herrschaft ist zurück! Seit wann denn?“

„Gehorsamer Diener, Herr Andree! Seit gestern nachmittag! Das ging Hals über Kopf, als wir die Depesche bekamen! Freilich in der Hauptsache war ja alles in Ordnung. Auf so etwas hält die Willmers, ihr Feind muß es ihr nachsagen, und wenn sie auch die Herrschaften begleitet hat – sie trennt sich keinen Tag von unserer Prinzessin! – so hat sie doch hier das ganze Personal so gut eingeschult, daß alles wie von der Spule abgerollt wird.“

[822] „Ja - ja - natürlich. Wissen Sie, Oehmke, ob man mich empfangen wird?“

„Aber ganz sicher, Herr Andree! Herr und Frau Senator haben ausdrücklich betont: für gute Freunde, die zum Haus gehören, wären sie heute schon zu sprechen – nur die Fremden sollte ich abweisen. Ich weiß ja Bescheid: Herr Grimm und die beiden Herren von Tillenbach und Konsul White, der auch schon jeden Tag nachgefragt hat, wann die Herrschaften kämen –“

Andree hörte nicht zu Ende. Er nahm die Treppe im Sturmlauf.

Oben über das Geländer hatte ein schöner Mädchenkopf sich neugierig vorgebeugt und war blitzschnell wieder verschwunden, als der Mann so hastig emporstürmte.

„Dudu,“ befahl Stella dem schwarzen Bürschchen, das oben im Vorzimmer neben einer wundervollen Pflanzengruppe kauerte, „gleich wird ein Herr hierherkommen – den läßt Du in dies Zimmer ein, und sonst niemand außer ihm – niemand, hörst Du, wer es auch sei!“

Stella hatte rasch und erregt gesprochen, sie war des Verkehrs mit dem kleinen Mohren seit Monaten entwöhnt, nahm vielleicht auch an, er könne während ihrer langen Abwesenheit einige Fortschritte im Deutschen gemacht haben. Sie sagte ihm also nicht langsam und deutlich einzelne abgerissene halb englische halb deutsche Sätze vor, wie Gerda es immer that, sondern redete schnell und zusammenhängend mit ihm wie mit jedem intelligenten deutschen Bedienten, dem sie Befehle ertheilen wollte.

Die Folge davon war, daß Dudu kein Wort von dem verstand, was sie zu ihm gesagt hatte. Er lebte aber in zitternder Angst vor „Missie“ Stella, die ihn so willkürlich behandelt, so oft vernachlässigt und zuweilen sehr empfindlich bestraft hatte. Es auszusprechen, daß er ihren rasch und herrisch herausgestoßenen Befehl nicht verstanden hatte, das hätte er nie gewagt. Uebrigens wäre zu diesem Geständniß auch keine Zeit mehr gewesen, denn in der nächsten Minute schon war Stella im anstoßenden Zimmer verschwunden.

Unmittelbar darauf stand Andree, hochathmend von dem raschen Lauf, vor dem Mohren.

Dudu, dem er stets freundlich begegnet war, grinste bei seinem Anblick von einem Ohr zum andern und sagte, wiederholt mit dem Kopf nickend, indem er zugleich mit dem schwarzen Zeigefinger auf die nächste Thür deutete.

„Missie Stella – Missie Stella – in – door!

Andree nickte ihm zu und pochte leise an die bezeichnete Thür.

Im nächsten Augenblick stand sie vor ihm, in Sonnenlicht gebadet, ein Lächeln auf den Lippen.

Er hatte ihr zürnen wollen – wo blieb sein Zorn? Er hatte hundert Fragen, Vorwürfe für sie auf den Lippen – es fiel ihm kein einziges Wort mehr davon ein.

Sie gewahrte es mit einem Blick, daß ihre Gewalt über ihn noch dieselbe war. Fassungslos, wie ein Kind stand er vor ihr, keines Wortes mächtig. Sie reichte ihm die Hand, und er drückte sie gegen seine Augen und Lippen, zuletzt gegen sein Herz. Das schöne Mädchen lächelte träumerisch. Oft hatte sie unterwegs an dies Wiedersehen gedacht, jedesmal mit einem ganz seltsam warmen Gefühl, mit einem Gemisch von Triumph und innerer Bewegung. Sie hatte zu ihrer Mutter damals nach jenem gefühlvollen Abschied gesagt: „Sei ruhig, es hat nichts zu bedeuten, und es wird auch nichts daraus werden!“ und dies war auch heute noch ihre Ansicht, es hatte sich nichts in ihrem Programm geändert. Aber sich von Andree lieben lassen, ganz heimlich, ohne daß eine Menschenseele es ahnte, und dies eine Zeitlang in aller Stille fortsetzen und hundert Mittel und Wege finden, ihn allein zu sprechen, und vor aller Welt Versteck spielen, bis – nun bis es eben zu Ende sein mußte und sich ihrem gewandten Geist ohne Zweifel auch ein Weg zeigte, der zu eben diesem Ende führte … das lockte Stella Brühl, das dachte sie sich reizvoll! Es hatte doch auch vor ein paar Jahren seinen eigenen Reiz gehabt, ihr heimliches Verlöbniß mit Werner Troost, die wenigen verschwiegenen Zusammenkünfte, die geschickt aufgefangenen Briefe! Sie war blutjung damals gewesen und regelrecht verliebt – – jetzt –

Es war eine kinderleichte Aufgabe gewesen, einen Werner Troost zu gewinnen, festzuhalten und nach ihrem Belieben zu lenken; hier, bei Waldemar Andree würde das schwerer halten, aber sie wollte doch sehen – –

Er konnte endlich sprechen, wenn auch nur mit umflorter Stimme, wie erstickt vom Schlagen seines Herzens.

„Stella … wie lange soll meine Probezeit noch dauern? Ich ertrage das nicht länger!“

„Nicht?“ flüsterte sie. „Nun“ – mit einem hörbaren Aufathmen und mit einem raschen Entschluß – „ich auch nicht!“

Er starrte sie an, wie wenn er seinem Glück nicht trauen könne. Er wagte es auch nicht, sie stürmisch in seine Arme zu schließen. Ganz langsam, trunken vor Glück, legte er seine zitternde Hand auf ihr goldenes Köpfchen, bog es leicht zurück und sah ihr tief in die Augen. Ihr leuchtendes Blau war so unergründlich – wie das Meer, hatte er oft gedacht. Aber das hat Untiefen …

Scheu legten sich seine Lippen auf das flimmernde Haar – Eos, seine Göttin, war zu ihm herabgestiegen.

„Hast Du mich lieb und willst Du mir treu sein?“ fragte er ganz leise.

„Ja!“ nickte sie lächelnd. „Ich hab’ Dich bald lieb gewonnen, aber – aber – es sah so treulos aus gegen unsern Toten, ich hab’ dagegen angekämpft, doch nun die lange Trennung! Wie hast Du sie überstanden? Hast Du an mich gedacht?“

„Immer! Immer!“

„Dich nach mir gesehnt?“

„Unbeschreiblich!“

„Mich gescholten, daß ich so lange nicht wiederkam?“

„Ja! Ja!“

Sie hob ihr Gesichtchen zu ihm auf, und er küßte sie auf den Mund. Es war ein Kuß, der nicht enden wollte!

„Mein Kleinod! Mein Traum! Liebstes – Schönstes! Wird man Dich mir auch geben wollen? Deine Eltern –“

„Die dürfen’s noch nicht wissen! Es darf’s noch niemand wissen!“ Sie legte ihm beschwichtigend die Hand auf die Lippen. „Nein, nein – nicht böse sein! Wir brauchen Zeit! Papa hat andere Pläne mit mir – ich muß ihn langsam vorbereiten, ihn allmählich gewinnen, aber ich werde es, ich werde es! Ich bin sein Lieblingskind, er thut, was ich will. Nur nicht im Sturmlauf – die Eltern sind so gütig mit mir – verdienen sie nicht auch meine Rücksicht? Ach, nur nicht dies finstere, enttäuschte Gesicht! Wir werden einander oft sehen und sprechen, sehr oft, ich verspreche Dir’s, ich kann das schon ins Werk setzen! Sieh mich doch an … Waldemar!“

Er fiel schüchtern von ihren Lippen, sein Name – zum ersten Mal – er war besiegt!

„Mein Stern – wie Du willst! Was Du willst! Aber wann –“

„Laß’ Du mich nur machen! Die Bilder, sind sie fertig?“

„Dein Porträt wohl – die ‚Eos‘ noch nicht ganz –“

„Nun, siehst Du! Ein willkommener Vorwand! Nach Uhlenhorst hinaus können wir jetzt nicht mehr – hier im Hause läßt sich nicht gut ein Atelier herrichten … also muß ich zu Dir kommen! Die Willmers begleitet mich, verlaß Dich fest auf mich, ich richte es alles ein! Sie thut, was ich wünsche, sie hat keinen Willen – wir haben jeden Tag eine lange Sitzung, Du dehnst die Sitzungen aus, wirst nicht fertig mit dem Bilde – und derweilen gewinn’ ich langsam den Papa – und wenn dann die Ausstellung kommt, Dein berühmter Name durch die Welt fliegt –“

„O Liebling! Die Ausstellung haben wir erst zu Ende Januar, vielleicht noch später.“

„Sei doch gut! Sei doch geduldig! Ist’s denn eine so lange Zeit bis dahin? Siehst Du’s denn nicht ein, daß Dein Werk, Dein schönes, geniales Werk, das jedermann bewundert, das Dich auch hier zu dem berühmten Manne macht, der Du ja lange schon außerhalb Hamburgs bist – daß dies nothwendig ist, um meine Eltern umzustimmen? Sie sehen beide viel auf Aeußerlichkeiten, auch die Welt soll berücksichtigt werden, sie wollen Aufsehen erregen – es mag eine Schwäche von ihnen sein, aber sie entspringt doch ihrer übergroßen Liebe zu mir! Und wenn ich sie dazu bringen will, ihre Pläne, die sie mit mir haben, aufzugeben –“

„Was sind das für Pläne?“ Andree zog die Stirn in Falten.

[823] „Was für ein böses Gesicht, Liebster! Wozu Dir jetzt von Dingen erzählen, die doch nicht geschehen werden, die wir beide verhindern wollen?“

Ihr bittendes Gesicht war dem seinen so nahe. Er vergaß alles, heimliche Verlobung und Eltern und Pläne und Mißtrauen … fest, fest schloß er sie an sein Herz, wie wenn er sie vertheidigen wollte gegen eine ganze Welt.

Er hörte es auch nicht, daß, nach einem kaum vernehmbaren Klopfen, die Thür hinter ihm sich aufthat – aber Stella hatte das Klopfen gehört und sah auch die Thür sich öffnen. Sie strebte, mit einer raschen Bewegung von ihm loszukommen – allein er hielt sie noch fester an sich und küßte ihr Haar.

Es wäre auch ohnehin zu spät gewesen! In der geöffneten Thür erschienen Herr und Frau Senator Brühl, Herr Grimm mit Gerda und Konsul White.

Sie sahen es alle – sie mußten es sehen, daß Andree die schöne Stella in seinen Armen hielt und küßte, und daß sie dies offenbar nicht etwa in Ueberraschung duldete, sondern bereitwillig hinnahm.

Erst der plötzliche Ausdruck des Schreckens auf Stellas Gesicht riß den Maler aus seinem Taumel des Entzückens und ließ ihn sich endlich umwenden.

Auch er erschrak flüchtig – um ihretwillen, die soeben noch das heimliche Verlöbniß, das langsame Vorbereiten so stark betont hatte. Gleich darauf aber empfand er ein Gefühl der Erleichterung. Mochte es denn sein! Ihm hatte die Heimlichkeit, das sorgsame Verstecken und Verschweigen keinen Augenblick gefallen, es widerstrebte seinem geraden, offenen Wesen ganz und gar, und nur der Rausch des ersten Kusses, der Zauber von Stellas Blick und Bitte hatte ihn für kurze Zeit darüber hinweggetäuscht. Er war ein selbständiger Künstler mit namhaftem Vermögen, weitverbreitetem Ruf und glänzenden Einnahmen – sollte das den Eltern seiner Geliebten nicht genügen, nachdem sie selbst ihm den unermeßlich großen Schatz ihrer Liebe geschenkt hatte? Andree war weder eingebildet noch hatte er sich durch die allgemeine Bewunderung sonderlich verwöhnen lassen – aber ohne Selbstgefühl war er auch nicht, und so fand er es denn für Herrn und Frau Senator Brühl keineswegs beschämend, daß sie ihn zum Gatten ihrer Tochter machen sollten.

Was ihn jetzt trotz dieser Empfindung weich und bescheiden sprechen ließ, das war sein Gefühl für Stella – war die Ueberzeugung, daß ihm mit ihrer Liebe das höchste Gut, welches das Leben für ihn hatte, zutheil wurde, und das Bewußtsein, daß es für ihn gelte, sich dies Gut erst noch zu verdienen. – Er behielt die schöne Hand in der seinen und blickte dem Senator Brühl fest in die vor Ueberraschung starr gewordenen Augen.

„Ich muß Ihre Tochter vertheidigen, Herr Senator,“ sagte er gelassen, „sie hat gewünscht und ausdrücklich betont, daß unser soeben geschlossenes Verlöbniß vorerst geheim bleiben sollte, solange, bis es ihr gelungen sein würde, nach und nach Ihre und Ihrer verehrten Frau Gemahlin freudige Zustimmung zu gewinnen – ein Plan, dem ich mich sofort in meinem Innern lebhaft widersetzte und den jetzt eine Ueberraschung –“

Er verstummte betroffen, denn er gewahrte in Stellas Augen, die nach der Thür gerichtet waren, einen so funkelnden Zornesblitz, wie er ihn diesen schönen, lächelnden Sternen nie zugetraut hätte. Es war nur eine Sekunde, und Andree sprach auch gleich weiter.

„Was ich bin und habe, das, verehrter Herr Senator, möchte ich in einer von Ihnen festzusetzenden Unterredung darlegen – ich hoffe, es soll keine unwürdige Fassung für Ihr Juwel sein. Wenn ich so kühn bin, die Hand nach dem schönsten Kleinod auszustrecken, das Sie, das Ihre Gattin zu verschenken haben, so bin ich mir dieser werthvollen Gabe wohl bewußt und werde dies durch mein ganzes Leben freudig beweisen. Mein Herz ist so übervoll, und ich kann Ihnen weiter nichts sagen – kann Sie nur bitten, uns Ihr Herz zuzuwenden, Ihr väterliches Gefühl für uns sprechen zu lassen.“

Papa Brühl mußte sich freilich damit begnügen, sein väterliches Gefühl sprechen zu lassen, denn seine Zunge fand keine Worte. Seine runden, starren Augen wanderten von Andree zu Stella, von Stella wieder zu Andree, er schüttelte langsam den Kopf – er konnte nicht begreifen. Seiner Gattin dämmerte eine Ahnung des wahren Zusammenhangs auf. Dies konnte doch Stella unmöglich gewollt haben – dies mußte eine unvorhergesehene Ueberraschung gewesen sein! Das Mädchen hatte ja für diesen Maler eine merkwürdige Vorliebe – die lange Trennung, das Wiedersehen! Unbegreiflich, daß die kluge Stella nicht besser ihre Vorsichtsmaßregeln getroffen hatte! Es war, um ohnmächtig zu werden! Sie klammerte sich an den nächsten besten Arm, den sie gerade fand – es war Grimms Arm, und dieser Umstand wäre für sie sonst sehr unangenehm gewesen, aber in der großen Aufregung des Augenblicks beachtete sie ihn nicht. Auch Herr Grimm selbst that dies nicht. Er sah ungewöhnlich ernst aus, so, als ob das ganze interessante Schauspiel, zu dem er wider seinen Willen gekommen war, ihn traurig stimme. Einen raschen Blick hatte er auf Gerda geworfen, die plötzlich erbleicht war und sich scheu nach der Thür zurückwandte, als wollte sie wieder davonlaufen; allein Herr Grimm streckte stumm seine Hand nach ihr aus und hielt sie fest.

Konsul White versuchte, überlegen zu lächeln, aber es gelang ihm nicht. Er hatte heute in aller Frühe ein herrliches Bukett auserwählter Blumen ins Brühlsche Haus geschickt, er hatte vorgehabt, sich in den allernächsten Tagen offiziell um die schöne Stella zu bewerben – sicher, sich keinen Korb zu holen. Und nun dies! Er hatte einen Konsulatsposten in Kanton angeboten bekommen, sehr hoch besoldet, hatte ihn natürlich ausschlagen wollen, da er lieber im Lande bleiben und sich redlich nähren wollte. Wie gut, daß er den Posten noch nicht endgültig abgelehnt hatte! Es war ihm sehr nach China zu Muthe, nachdem man ihm jetzt in Europa unvermuthet so übel mitgespielt hatte. –

„Stella, mein liebstes Kind!“ begann Frau Brühl endlich mit unsicherer Stimme. Dies lange Schweigen war bedrückend – mehr noch, es war lächerlich. Stella mußte jetzt etwas sagen, daher begann Frau Senator in furchtsamem Tone: „Stella, mein liebstes Kind –“

„Schon gut, Mama!“ Stella hatte sich aufgerafft, es mußte etwas geschehen, sie sah es ein. Ihre helle Stimme klang eigenthümlich hart und spröde. „Ich hatte allerdings meine Gründe, unsere Verlobung geheim zu halten, und ich habe sie noch. Ich bitte daher Euch, meine lieben Eltern, Sie, Herr Grimm, und Sie auch, Herr Konsul White, gegen jedermann vorerst zu schweigen, bis ich selbst dies Schweigen aufheben werde! Habe ich Ihr Ehrenwort, Herr Grimm? Herr Konsul White?“

„Ja!“ entgegnete Grimm kurz.

„Das meine zu geben, fällt mir nicht schwer,“ sagte Konsul White in seinem rollenden Englisch-Deutsch, und jetzt gelang es ihm auch, ein überlegenes Lächeln fertig zu bringen, „denn ich kam zu Ihnen, um Abschied zu nehmen – ich habe einen Konsulatsposten in Kanton angenommen.“

Stella lächelte gleichfalls überlegen. Dieser Abschied und dieser Posten in Kanton standen in seltsamem Gegensatz zu dem kostbaren Bukett von heute früh und zu dem Billet mit unzweideutigem Inhalt, welches dasselbe begleitet hatte. Die beiden sahen einander in die Augen und lächelten. Ihnen ging es wie den römischen Auguren – sie konnten sich gegenseitig nichts weismachen! –

„Viel Glück auf den Weg also und guten Erfolg unter den Chinesen!“

Damit reichte Stella dem englischen Herrn die Hand, er küßte sie mit einer respektvollen Verbeugung, sprach noch ein paar höfliche Worte zu den übrigen Anwesenden und war gleich darauf vom Schauplatz verschwunden.

Wieder eine beklommene Pause. In Andree wallte es zornig auf. Sein großes, allmächtiges Glücksgefühl drohte in einer ganz unwürdigen Situation unterzugehen. Er begriff auch Stella nicht. Wozu nun aufs neue ein Geheimniß? Wozu die Ihrigen zu einem Ehrenwort verpflichten, über das Geschehene zu schweigen, anstatt in den nächsten Tagen schon die Verlobung zu veröffentlichen, die Karten herumgehen zu lassen? – Er suchte ihrem Blick zu begegnen, allein dieser Blick irrte am Boden hin und vermied es, sich treffen zu lassen.

Und die Eltern? Immer noch stumm, als hätten sie seine warmen und ehrlichen Worte gar nicht gehört! Er warf den Kopf zurück und biß sich in die Lippen.

„Ich darf wohl endlich um eine Antwort bitten!“ sagte er zuletzt in mühsam beherrschtem Tone.

[826] Herr Brühl räusperte sich unbehaglich.

„Sie können es uns – hm – von unserem Standpunkte als Eltern aus – hm – nicht verargen, wenn wir erstaunt – mehr als das – wenn wir geradezu erschreckt sind! Unsere Tochter Stella – hm – die Pläne, die wir an dieses Kind knüpften – die großartigen Hoffnungen, zu denen ihre Erfolge überall uns berechtigen – hm – dies alles so plötzlich, so gänzlich unvorbereitet den Todesstoß empfangen zu sehen – ist – ganz abgesehen von – ja – ich weiß wahrhaftig nicht – wenn indessen Stella sich für Sie entschieden hat – und wir alle Zeugen waren – so – selbstredend muß absolutes Geheimniß bewahrt bleiben –“

Hier fing Brühl einen lebhaft ermuthigenden Blick Stellas auf und fuhr nachdrücklich fort:

„Absolutes Geheimniß muß bewahrt bleiben! Ich mache dies zur ausdrücklichen Bedingung! Daß wir, Stellas Eltern, uns dieser Bedingung zuerst unterwerfen, versteht sich von selbst. Konsul White geht in kurzer Zeit nach China, und mein Freund Grimm hat sein Ehrenwort gegeben, das Geheimniß zu bewahren – daß er unverbrüchlich Wort zu halten versteht, weiß ich“ – hier kam seine Stimme ein wenig ins Schwanken – „und ich bin überzeugt, er wird seine ganze Autorität einsetzen, um auch Gerda, die leider gleichfalls Zeuge dieser – dieser – Scene gewesen ist, zum Schweigen zu veranlassen! Somit wären denn alle Betheiligten über diese Sache durchaus einverstanden, und es bleibt –“

„Sie verzeihen, wenn ich Sie unterbreche!“ sagte hier Andree mit Nachdruck. „Sie befinden sich in einem Irrthum, wenn Sie annehmen, daß alle Betheiligten über diese Sache durchaus einverstanden sind. Ich, einer der Hauptbetheiligten, wie Sie mir zugeben müssen, bin dies nicht, und ich erlaube mir die bestimmte Frage an Sie, an Ihre Frau Gemahlin und an Stella: warum soll unsere Verlobung fürs erste ein Geheimniß bleiben?“

Sein Ton war sehr energisch, beinahe drohend. Stella Brühl fand jetzt schon bestätigt, was sie bei sich gedacht hatte: dieser Mann war kein Werner Troost, den man beliebig gängeln konnte, der blindlings in alles willigte, sobald er sich nur von Stella geliebt glaubte!

Herrn Brühl mißfiel Andrees Art höchlich. Ziemte es sich für einen Mann, der doch schließlich bloß ein Maler war – wenn auch ein guter! – für einen Mann, den eine Stella unbegreiflicherweise mit ihrer Liebe begnadigt hatte, so zu reden, so herausfordernd aufzutreten und Gründe zu verlangen?

Der stolze Vater hob majestätisch sein Sperberhaupt und kniff die Augen zusammen.

„Ich denke, es wäre an Ihnen, Herr Andree, sich dem Beschluß der Familie hier zu fügen. Sie sprachen vorhin den Gedanken aus, daß Sie sich vollauf des Glückes, das Ihnen zutheil werden soll, des großen Opfers, das wir, die Eltern, zu bringen haben, bewußt seien. Ich erlaube mir, zu bemerken, daß in Ihrer soeben zu Tage tretenden Art und Weise nichts von diesem Bewußtsein zu beobachten ist.“

Andree warf einen Blick auf Stella und faßte sich mit einiger Mühe.

„Können Sie es mir wirklich so sehr verargen,“ fragte er in bedeutend milderem Tone, „wenn ich die Gründe wissen möchte, die es mir verbieten sollen, der Welt, der ganzen Welt mein Glück zu verkünden? Gerade weil ich Stella liebe, weil ich unsagbar stolz auf sie bin, schmerzt es mich mehr, als ich sagen kann, wenn es mir verwehrt wird, mich öffentlich zu meiner Liebe zu bekennen!“

Ich glaube, das Geständniß von meines Kindes Liebe zu Ihnen,“ nahm die Mama das Wort, „sowie der Umstand, daß wir, die Eltern, dieser Verbindung, falls das Kind darauf besteht, nicht entgegen sind, dürfte Ihnen fürs erste genügen. Die Pläne, welche wir mit meinem Kinde verfolgten …“

„Welcher Art sind diese Pläne?“ warf Andree von neuem dazwischen.

Frau Molly lächelte diplomatisch und geheimnißvoll. „Man darf das wirklich nicht so ohne weiteres verkünden – es wäre voreilig und indiskret. Sie müssen sich genügen lassen, zu glauben, daß wir, die Eltern, schweren Herzens diese langgehegten, uns liebgewordenen Pläne aufgeben werden, sobald wir die feste Ueberzeugung gewonnen haben, daß in der That meines Kindes Neigung Ihnen allein gehört. Bis wir zu dieser Ueberzeugung gelangen und bis es uns gelingt, leise und allmählich die geknüpften Beziehungen zu lockern – bis dahin müssen Sie sich unseren Bedingungen unterwerfen, deren erste völlige Geheimhaltung ist; ich verlange dies mit voller Bestimmtheit von Ihnen – ich, als Mutter! Und Brühl, als Vater. verlangt es auch – nicht wahr, Brühl?“

„Ohne alle Frage! Ich verlange es gleichfalls mit – voller Bestimmtheit!“

Stella war im stillen mit ihren Eltern zufrieden. Namentlich ihre Mutter hatte gut und diplomatisch gesprochen. Frau Molly war keine begabte Frau, aber sie besaß ein Talent: das einer geradezu wunderbaren Fühlung mit Stella, ihrem Lieblingskinde. Sie brauchte die Tochter kaum anzusehen, so verstand sie auch schon deren Gedanken. Instinktiv fühlte sie es heraus, was Stella unangenehm war oder was sie sich wünschte – und als ihr Kind sofort von der Geheimhaltung des Verlöbnisses gesprochen hatte, da begriff Frau Brühl augenblicklich, daß die kluge Stella sich eine Hinterthür offen zu halten wünschte, für den Fall, daß sie einmal andern Sinnes würde. Was ohne öffentliches Aufsehen geschehen war – und eine Verlobung der berühmten Stella Brühl würde immer Aufsehen machen! – das konnte auch ohne jede Schwierigkeit in der Stille wieder gelöst werden, falls sich nicht alles fügen wollte. Freilich, etwas sickerte bei solchen Angelegenheiten immer aus dem Privatleben in die Oeffentlichkeit durch, und auf Stella blickten viele beobachtende Augen. Immerhin war es besser so, als wenn der ganze große Apparat mit Verlobungsanzeigen, Brautvisiten, Gesellschaften und so weiter in Scene ging. –

Also, Stella war zufrieden, und wenn jetzt Andree noch sein Wort gab, das er ohne Zweifel ernstlich halten würde, dann ging es ihr wiederum nach Wunsch – sie hatte die heimliche Verlobung, die sie gewollt hatte, denn die wenigen, welche um das Geheimniß wußten, störten sie nicht, ja, es war ihr sogar nicht einmal unangenehm, daß Grimm und Gerda davon erfahren hatten. Grimm hatte eine große Vorliebe für Andree, und Gerda schwärmte für ihn. Aber er gehörte ihr und ihr allein, das wollte sie ihnen bündig beweisen! Jetzt galt es nur noch, Andree sein Wort abzuschmeicheln – nun, das würde ihr schon gelingen!

Sie schob ihr weiches Händchen fester in seine Linke und lehnte sich leicht an seine Schulter.

Er sah zu ihr herab –0

Welch beredter bittender Blick! „Mir zuliebe!“ stand darin zu lesen, und „Ich liebe Dich – ist Dir denn das nicht das Werthvollste?“

Er kämpfte noch mit sich, aber Stella wußte schon, daß sie gesiegt hatte. Als sie leise flüsternd fragte: „Nun, Waldemar?“ da kannte sie im voraus seine Antwort.

Er that einen Schritt den Eltern entgegen und sagte gedämpft: „Ich unterwerfe mich um Stellas willen, obgleich es mir sehr, sehr schwer wird und ich gegen meine bessere Ueberzeugung handle. Ich bitte Sie, kürzen Sie meine harte Prüfungszeit ab, so rasch Sie nur können!“

Er führte die Rechte der Mutter an seine Lippen und schüttelte dem Vater die Hand. Einen Segen oder einen Glückwunsch empfing er von Stellas Eltern nicht. Sie standen ihm auch innerlich so fern, daß er beides nicht vermißte. – Was er dagegen vermißte, war ein warmes oder herzliches Wort seines Freundes Grimm. Er konnte sich den Gesichtsausdruck nicht erklären, mit welchem dieser ihm stumm die Hand drückte und sich vor Stella förmlich verbeugte. Und als Andree sich nun zu Gerda wandte mit einem freundschaftlich scherzhaften: „Auf gute Freuudschaft, meine liebe, kleine Schwägerin!“ und den Arm leicht um sie legte, da zitterten des seltsamen Kindes Lippen und helle Thränen standen in ihren Augen! Sie machte sich rasch von ihm los und drückte sich fest gegen Onkel Grimm, als müsse sie bei ihm Schutz finden. Und Grimm verstand sie und sagte halblaut: „Ja, komm’, Kind, wir sind hier überflüssig!“

Damit zog er Gerdas Hand durch seinen Arm und ging mit ihr davon.

*               *
*

[827] Die vier Zurückbleibenden empfanden kein Gefühl der Erleichterung, als die beiden gegangen waren – nun war der Kreis ganz klein, auf die allernächsten Angehörigen beschränkt, aber es gab kein vertrauliches Band zwischen ihnen, daher war ihnen dies Beisammensein peinlich.

Umsonst versuchte Andree, jenes grenzenlose Glücksgefühl, das ihn vor kaum einer halben Stunde überwältigt hatte, zurückzugewinnen, es gelang ihm nicht. Er war erzürnt über sich selbst – was war denn geschehen? Stella hatte ihm gestanden, daß sie ihn liebe; daß ihre Eltern ungern ihre Einwilligung geben würden, daß sie sich lieber einen andern Schwiegersohn gewünscht hätten, wußte er ja schon vorher. Was gingen ihn denn auch die Eltern an? Er hatte kein herzliches Gefühl für sie – es that ihm leid, aber er konnte sich nicht dazu zwingen!

Die heimliche Verlobung war zwischen ihm und Stella schon zuvor beschlossen gewesen, die Sache hatte ihm widerstrebt, aber er war doch darauf eingegangen. Nun wußten es zufällig ein paar Personen mehr, und gerade ihm würde alles jetzt bedeutend leichter gemacht werden als früher; Stellas Angehörige wußten, daß er ihr Verlobter war, sie brauchten daher beide keine Heimlichkeiten auszusinnen und Unwahrheiten zu sprechen. – Dennoch, trotz der zum Vortheil veränderten Lage, dies schwere Herz!

Die Welt mit ihrem kalten, prosaischen Hauch hatte sein heiß aufwallendes Gefühl gedämpft, die Schwingungen seiner erregten Seele hatten nicht in Ruhe ausklingen können, eine schrille Disharmonie hatte sie durchkreuzt. Er blickte auf das liebreizende Geschöpf an seiner Seite. Da stand sie, sein Abgott, sein künstlerisches Ideal, sie, nach der seine Seele lange Zeit in jeder Stunde stürmisch verlangt hatte – und sie war seine Braut! Narr, dreifacher Narr – warum bist Du denn jetzt nicht überschwänglich glücklich?

Und Stella selbst? Sie sah Waldemars beobachtenden Blick von der Seite, und sie bemühte sich, ihr gewohntes strahlendes Lächeln um ihre Lippen zu zwingen. Es kam denn auch, dies Lächeln, aber es hatte nichts recht Natürliches. Papa und Mama Brühl hatten sich diskret zum Fenster begeben, so weit als möglich von dem neuen Brautpaar entfernt, sie kehrten demselben den Rücken zu und flüsterten sehr eifrig mit einander. Das junge Paar fing schließlich auch an, zu flüstern, aber es kam nur zu einsilbigen Fragen und Antworten. Andree hatte die Hand seiner Braut gefaßt, er führte sie von Zeit zu Zeit an seine Lippen, und ihr Haupt war leicht an seine Schulter gelehnt. Sie verabredeten die nächste Sitzung, und Stella meinte, Mama werde wohl dazu mitkommen. Er berichtete ihr seine Bekanntschaft mit dem Holländer van Kuythen und schilderte dessen schönes Viergespann. Stella that manche Zwischenfrage und interessierte sich allem Anschein nach sehr für jede Einzelheit seiner Kunst; sie verspreche sich in jeder Hinsicht viel von der Ausstellung, die werde und müsse etwas Entscheidendes herbeiführen. Sie ahnte nicht, welch prophetisches Wort sie damit aussprach!

Schließlich wandte sich Frau Brühl vom Fenster zurück und bedauerte sehr höflich, Andree heute keine Einladung zum Essen zutheil werden lassen zu können. Sie seien heute, den Tag nach ihrer Ankunft, noch gar nicht recht eingerichtet, die lange Abwesenheit habe, trotz der Vortrefflichkeit der Willmers, alles aus dem Geleise gebracht, man müsse auch das Auspacken der guten Toiletten selber überwachen, dergleichen könne man unmöglich den Leuten überlassen, und ohne Zweifel werde die Familie selbst heute nur nothdürftig abgespeist, die ganze Maschine sei ins Stocken gerathen und die Dienerschaft werde außer stande sein, eine einigermaßen genießbare Mahlzeit zusammenzustellen.

Andree pflichtete all diesen Auseinandersetzungen höflich bei, erhielt eine Einladung zum Essen am folgenden Tage und die Zusicherung, daß Stella übermorgen vormittag mit der Frau Senator zur Sitzung bei ihm im Atelier erscheinen werde, dann empfahl er sich, und es hielt ihn niemand zurück.

Auch Stella nicht, trotzdem sie ihm beide Hände zum Abschied reichte und ihm dann die Lippen zum Kuß bot. Die Eltern schärften ihm noch einmal strengste Bewahrung des Geheimnisses ein, und nun schied er. Sehr langsam, wie ein im Traum Wandelnder, ging er die Treppe herab, die er vor kurzem so eilig emporgestürmt war. Er mußte flüchtig daran denken, wie er bei seinem ersten Besuch im Brühlschen Hause Gerda und Wolfgang auf eben dieser Treppe im Handgemenge mit dem Sohn des Portiers angetroffen hatte, und dabei fiel ihm ein, wie seltsam sich Gerda eben gegen ihn benommen hatte. Auch Grimm –00

Auf der untersten Stufe angelangt, hörte er von oben her ein klägliches Winseln ertönen, das durch das ganze Haus schallte. Dann verstummte es mit einem Male, und eine schwere Thür wurde dröhnend zugeworfen. Danach blieb alles still. Andree war die Stimme bekannt vorgekommen, er dachte aber nicht weiter darüber nach. –

Die schöne Stella hatte Dudu für seine so schwerwiegende Unachtsamkeit geohrfeigt, ihn dann in eines der oberen Zimmer eingesperrt und auf einen Tag zum Hungern verurtheilt. –0




21.

Indessen war Herr Bernhard Grimm mit seinem Pflegekinde nach dem andern Flügel des Hauses hinübergegangen.

Gerda weinte nicht mehr. Aber sie athmete stoßweise, und ihr junges Gesicht war so finster wie eine Wetterwolke. Herr Grimm hatte sie bei der Hand genommen wie ein kleines Mädchen, das man noch leiten muß, und sah sie zuweilen mit einem raschen, prüfenden Blick von der Seite an. –

Oben in dem gemüthlichen Wohnzimmer kam ihnen Hafis entgegen. Er begrüßte zuerst den Hausherrn, dann stieß er mit dem Kopf zärtlich an Gerdas Knie, wozu er laut spann. Frau Müller war bei den Blumen thätig gewesen, ihre Wirthschaftsschürze war ganz naß vom eifrigen Begießen, und sie hatte die Hände voll abgeschnittener Schößlinge und Ranken. Ihr faltiges Gesicht hellte sich auf, als sie Gerda gewahrte, die ihr etwas gezwungen zulächelte. Die Alte schlich sich dicht an das junge Mädchen heran und flüsterte mit geheimnißvollem Augenzwinkern: „Heut giebt’s Schildkrötensuppe, Gerdachen! Was Delikates!“ – Grimm sollte es nicht hören, stellte sich auch taub, schmunzelte aber behaglich.

Gerda blieb mitten im Zimmer stehen und schaute sich darin um, als sehe sie es zum ersten Mal. Ihre Augen wurden feucht. Wie traulich war es hier, wie heimathlich! Und hier sollte sie ihr Heim haben! Was hätte aus ihr werden sollen, wenn sie jetzt und immer im andern Flügel dieses Hauses hätte bleiben müssen, bei den Ihrigen, die doch die Ihrigen nicht waren! Sie hatte die Empfindung, als könnte sie es jetzt gar nicht mehr ertragen, bei ihren Eltern, bei ihrer Schwester zu leben. Ja, wo hätte sie bleiben sollen, wenn Onkel Grimm nicht gewesen wäre! –

Ihr dankbares Herz strömte über. Sie legte ihren rechten Arm um ihres Pflegevaters Hals und streichelte mit der Linken Frau Müllers runzlige Wange. Dann hob sie Hafis vom Boden empor und nahm ihn auf den Arm. Der „Zauberer“ drückte die Augen halb zu und schnurrte aus Leibeskräften.

„Onkelchen, ich bin so glücklich, daß Sie mich zu sich genommen haben!“ sagte sie tiefathmend. „Und Frau Müller ist auch immer so gut zu mir und Hafis auch!“

„Ja, wir finden alle drei, daß sich’s jetzt zu vieren doch noch besser lebt als vorher, nicht wahr, Frau Müller?“ fragte Herr Grimm gutlaunig.

„Na ja, Herr Grimm!“ gab die Alte zurück. „Aber jemand anders als Fräulein Gerda hätte es auch nicht sein dürfen, das hätten Hafis und ich nicht erlaubt – wie, Hafis?“

Die Perserkatze blinzelte verständnißvoll mit den Augen.

Frau Müller ging, um nach ihrer delikaten Schildkrötensuppe zu sehen, und Herr Grimm zog Gerda neben sich auf das Sofa. „Das heißt, wenn Du lieber auf Dein Zimmer gehen willst, dann lauf’ nur!“

„Nein, danke Onkel, ich möchte bleiben!“

Sie hatte Hafis auf dem Schoß behalten und streichelte gedankenvoll sein seidenglänzendes Fell.

„Sie freuen sich auch nicht, Onkel, nein?“ fragte sie nach einer Weile.

„Nein, ich freue mich auch nicht! Ich habe Andree liebgewonnen, und es wäre mir sehr leid, wenn er unglücklich werden sollte.“

[828] „Ich hab’ es gleich gewußt, daß er sich in die Prinzessin verlieben wird, Onkel!“

„Kind, es ist für einen Mann von Schönheitssinn schwer, für einen Künstler aber, der für den Schönheitssinn sozusagen ein Monopol hat, fast unmöglich, sich nicht in Stella zu verlieben.“

Gerda seufzte.

„Es heißt so oft, die Liebe verwandle und veredle die Menschen, Onkel! Glauben Sie, daß Stella auch veredelt werden könnte?“

„Wenn sie es verstände, wahr und wahrhaftig zu lieben, dann wäre das immerhin möglich!“

„Aber das trauen Sie ihr nicht zu?“

„Nein Gerda, leider nicht! Ich bin aber nicht unfehlbar, ich kann mich täuschen, und ich wünsche, es möchte der Fall sein!“

Man hörte eine Zeit lang keinen anderen Laut in dem hübschen, altmodischen Zimmer als das Tick-Tack der Uhr auf dem Kaminsims und die tiefen, regelmäßigen Athemzüge von Hafis, der auf Gerdas Schoß eingeschlafen war.

„Onkel!“ begann sie endlich etwas zaghaft.

„Was denn?“

„Darf ich Sie um etwas bitten?“

„Immerzu!“

„Richten Sie es doch so ein, daß wir niemals oder doch nur ganz ganz selten nach dem Vorderhause kommen, wenn das – das Brautpaar da ist! Ich kann mich so schlecht verstellen, und Stella freut sich dann.“

„Hm!“

„Sie wollen nicht, Onkelchen?“

„So oft es sich thun läßt, will ich Dir den Gefallen erweisen. Aber immer wird sich’s nicht vermeiden lassen, und dann bitt’ ich mir’s aus, daß mein Töchterchen meiner Erziehung Ehre macht und sich hübsch zusammennimmt. Der Mensch ist zu vielen Dingen da, unter anderem auch dazu, daß er sich beherrschen lernt, und jemehr er diese schwere Kunst schon in ganz jungen Jahren übt, um so besser ist es für ihn, und um so leichter kommt er durchs Leben. – Wirst Du Dir Mühe geben?“

„Ja Onkel!“

„‚Ja Onkel!‘ Und ein Gesicht dazu, als wenn ich Dir den Vorschlag gemacht hätte, aufs Schafott zu steigen. Himmel! Wer wird denn gleich so die Flügel hängen lassen! Hafis würde Dich ja auslachen, wenn er nicht schliefe – denn er kann lachen, hast Du’s noch nie gesehen? – Und noch eines kann ich Dir zum Trost in Deinem Leid sagen, mein Kind: warte ab! Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird!“

„Wie soll ich das verstehen, Onkel?“

„Wenn Du solch ein thörichtes kleines Frauenzimmer bist, daß Du das nicht ’mal weißt, dann kann ich Dich nur auf die Zukunft vertrösten; ich hoffe, die wird es Dir praktisch vormachen, und dann erinnere Dich gefälligst unseres jetzigen Gesprächs! Jetzt fort mit Dir, und bis Mittag wird gelernt, verstanden? Nicht dagesessen und ins Blaue gesehen und ‚ach Gott!‘ geseufzt und über Dinge nachgedacht, die nicht mehr zu ändern sind, wenigstens vorläufig nicht, – und die Dich eigentlich noch gar nichts angehen, junger Naseweis! Der Walter Scott wird aufgeschlagen und drei Seiten ‚Jungfrau vom See‘ übersetzt, für morgen zur englischen Stunde – und fließend muß es gehen und mit Ausdruck! Bei der Schildkrötensuppe sehen wir uns wieder!“

Gerda hatte zu allem „ja!“ genickt und lief ganz gehorsam in ihr Zimmer. Ein freundliches, sonniges Mädchenstübchen war es, mit buntgeblümten Vorhängen und hell bezogenen Möbeln. Es sah sehr sauber und aufgeräumt aus – Gerda, die daheim von niemand überwacht worden war, neigte ein wenig zur Unordnung, allein das litt Onkel Grimm nicht; in dem Punkt war er streng, er erschien zuweilen ganz unerwartet, um Nachschau zu halten, und er konnte ernstlich schelten, wenn nicht alles an Ort und Stelle lag.

Also die „Jungfrau vom See!“ Es war Gerda nicht danach zu Muth, aber das half nun alles nichts, es mußte gethan werden. Wirklich, sie hätte sich viel lieber müßig hingesetzt und „ach Gott!“ geseufzt, denn das Herz war ihr unglaublich schwer, und die Thränen waren bereit, wieder hervorzubrechen – aber sie hatte es Onkel Grimm versprochen, und sein Wort muß man halten!

Sie trug sich einen Stuhl an den Tisch, holte das englische Wörterbuch, den „Walter Scott“ und ihr Vokabelheft herbei und vertiefte sich mit Eifer in die Arbeit! –0

Dasselbe that auch Waldemar Andree, als er heimkam. Unverweilt schlüpfte er in seinen Arbeitsrock, schloß das Atelier hinter sich zu und kramte in seiner Skizzenmappe herum; er wollte ein neues Bild anfangen, irgend ein Motiv – gleichviel, welches. Nur nicht stillsitzen und nachdenken oder so thun, als wenn man lese, und eine halbe Stunde lang auf eine und dieselbe Seite starren!

Er traf auf seine verschiedenen vergeblichen Mignonversuche und warf sie unmuthig beiseite. Solch ein Lieblingsgedanke von ihm, und nicht auszuführen! Nein, ohne Modell, bloß aus der Phantasie heraus entschieden nicht auszuführen! Und doch wieder diese unfaßbare, dunkle Idee, als könnte er es doch! –

Ein paar Bildchen von Werner Troost fand er vor – er hatte ihn ja oft gezeichnet, auch einige Male mit farbigen Stiften, das waren aber immer nur flüchtige kleine Studien gewesen; auch das Bild, das er Stella einmal gebracht, war nicht viel mehr gewesen als das. Jetzt kam es ihm plötzlich, er wolle ein ordentliches Porträt von seinem verstorbenen Freunde malen, ein lebensgroßes Brustbild. Und nicht etwa für Stella sollte dies sein! Nein, für sich selbst, als Eigenthum wollte er es haben. Er fühlte es ganz deutlich: jetzt mehr denn je mußte er sich mit Werner Troost beschäftigen, nun, da er dessen Wunsch erfüllt hatte und wirklich sein Erbe geworden war!

Mit brennendem Eifer ging er ans Werk. Wie ihm gleich der erste Umriß gelang! Er trat zurück und lächelte. Zwischendurch sagte er sich’s immer wieder vor: Verlobt! Mit Stella Brühl verlobt! Er sah auf seine Hand, auf den Finger herab, den der Ring schmücken sollte! Der Ring? Ob Stella es sich wünschen würde, einen zu haben? Er hatte noch nicht mit ihr darüber gesprochen. Man würde den Ring selten tragen dürfen, die Verlobung sollte ja ein Geheimniß sein!

Auf dem Wege nach seiner Wohnung hatte er ein kostbares Bukett für seine Braut bestellt und für den nächsten Morgen in ihr Haus beordert. Was konnte er ihr sonst schenken? Er sann angestrengt darüber nach. Sie besaß viel Schönes – es mußte etwas ganz Besonderes und sehr Kostbares sein, wenn es ihr Freude machen sollte. Morgen, ehe er zum Essen ins Brühlsche Haus ging, wollte er einen berühmten Hamburger Juwelier besuchen uud sich dort die Sachen ansehen. Vielleicht hatte der Mann etwas Passendes.

Und übermorgen sollte die Sitzung sein, sollte Stella hierherkommen! Andree blickte sich prüfend in seinem Atelier um. Es war ja ein schöner Raum, er sah aber immer noch etwas kahl aus. Seine frühere Ateliereinrichtung, die wohlverpackt einstweilen in Rom geblieben war, hatte anders ausgesehen. Was für prachtvolle Sachen hatte er dort gehabt! Er mußte wenigstens in aller Eile ein paar Gobelins, orientalische Decken, hübsche Vasen und Trinkgefäße besorgen, um die nackten Wände etwas zu schmücken – in einer Stadt wie Hamburg, in der soviel Schätze aufgespeichert waren, würde sich dergleichen ja mit Leichtigkeit auftreiben lassen.

Die blaßgoldene Novembersonne lugte ins Atelier und traf die „Eos“. Ja, das war ein gelungenes Werk, das würde ihn groß machen, er hatte es aus seiner Seele heraus gemalt! Und auch mit Stellas Porträt war er zufrieden! Das süße Gesicht! Und jetzt war sie sein eigen! War er nicht ein glückseliger Mann?

[857] Andree arbeitete an dem Bilde von Werner Troost, bis ihm die Hand müde wurde und ein körperliches Gefühl ihn daran erinnerte, wie lange er nichts gegessen hatte. Nach einem hastig eingenommenen Mahle suchte er vergeblich eine kurze Siesta zu halten; die Gedanken ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Er raffte sich daher bald auf und ging aus, um sogleich für die malerische Ausschmückung seines Ateliers Sorge zu tragen. Unterwegs traf er Hilt, der ihn mit pfiffig spionierenden Aeuglein ansah und fragte, ob er denn schon wisse, wer seit gestern nach Hamburg zurückgekommen sei.

„Gewiß, natürlich!“ gab Andree unbefangen zurück. „Familie Brühl ist wieder da! Ich bin heut vormittag in Person dort gewesen, um zu fragen, wann denn die letzten nothwendigen Sitzungen stattfinden sollen. Nachgerade treibt es mich doch, mein Bild endlich fertig zu machen!“

„Kann ich Dir nicht verdenken! Du wirst nun wieder fleißig bei Brühls aus und eingehen, nicht wahr?“

„Ich weiß nicht, man muß es abwarten. Vorläufig bin ich für morgen dort zu Tisch geladen!“

Andree dachte bei sich: Hilt erfährt ja doch alle äußeren Dinge, da ist es denn schon am besten, ich sage sie ihm selbst.

„Und die schöne Stella wird nun immer zu Dir ins Atelier kommen, was?“

„Mit ihrer Mutter, jawohl!“

Hilt machte eine Grimasse.

„Dies schöne Wesen ist leider sehr unvorsichtig in der Wahl seiner Eltern gewesen – die beiden Alten sind schwer zu verdauen!“

Waldemar fand diese Kritik im stillen nicht unberechtigt, ging aber nicht näher darauf ein.

„Ich hätte eine Bitte an Dich, Hilt!“ begann er nach einigem Zögern. „Ich möchte gern mein Atelier, das von wahrhaft verblüffender Reizlosigkeit ist, ein bißchen hübsch machen, damit ich mich seiner, wenn ich Damenbesuch bekomme, nicht zu schämen brauche. Willst Du mir einiges aussuchen helfen?“

[858] „Aber mit tausend Freuden! Was willst Du – alte Gobelins, Rüstungen, Teppiche, Metall, Gläser?“

„Alles!“ sagte Andree kurz.

„So? Also alles!“ Hilt lachte abgebrochen und kniff die Augen ein. „Ich dachte, Du wolltest nur für kurze Zeit hier in Hamburg bleiben, da ist doch so ’ne kostbare Ateliereinrichtung die heilloseste Verschwendung!“ Der kleine Mann blinzelte vor sich hin wie ein Spürhund, der eine Fährte wittert.

„Ich kann ja alles hinterher verkaufen, wenn ich hier meine Zelte abbreche!“ warf Andree so harmlos wie möglich hin.

„Gewiß kannst Du das! Aber für’n Butterbrot! Bedenk’ den seligen Rembrandt, was der für ein Lumpengeld für seine wunderbaren Alterthümer bekommen hat! Aber wie Du willst! S’ ist ja Dein Geld und nicht meines – ein Jammer übrigens! Wär’ ich Du, ich wüßte was anderes mit meinem Vermögen anzufangen, als es in Augenblendwerk und hübsche Spielereien zu stecken. Gar kein Talent in Dir, das Leben zu genießen! Na, aber komm, helfen will und kann ich Dir! Hoffentlich hast Du Dir die Taschen gehörig voll Geld gesteckt?“

„Ja, ich denke, es wird reichen! Wenn nicht, giebt man mir schon Kredit!“

„Und nachher gehen wir zur Belohnung zu Pfordte, nicht wahr?“

„Meinetwegen!“

Mochte Hilt als Mensch unangenehm sein – bei praktischen Dingen war er gut zu brauchen, das erfuhr Andree jetzt von neuem. Die Einkäufe wickelten sich rasch und glatt ab. Andree wußte auch recht gut, was schön und echt war, aber Hilt verstand zu feilschen, und das konnte er selbst nicht. Der kleine Maler verbot ihm gleich zu Anfang den Mund und führte die Unterhandlungen allein – er sah Andree nach den Augen, ob ihm das betreffende Stück gefiel, und sobald er das festgestellt hatte, that er, als sei er selbst der Käufer und als handle es sich um seine eigene Börse. Dabei kam Andree gut weg, sie erstanden für verhältnißmäßig günstige Preise eine ganze Menge hübscher, malerischer Dinge und saßen dann noch ein paar Stunden, eifrig plaudernd und exquisit essend und trinkend, bei Pfordte zusammen – das heißt, Hilt plauderte, und Andree warf nur selten ein Wort in all die Berliner und Hamburger Skandalgeschichten und Liebesabenteuer, die der kleine Schwätzer ihm unermüdlich vortrug. –

Als Andree gegen Mitternacht heimkam, sagte er sich selbst, daß er den Abend nach seiner Verlobung anders und würdiger zuzubringen gehofft hatte. Warum denn hatte er es nicht gethan? Er war ja Herr seiner Handlungen. Gewöhnt, sich jederzeit ehrlich Rechenschaft zu geben, sagte er sich, daß er seinen Gedanken hatte aus dem Wege gehen wollen und daß ihm dazu so ziemlich jedes Mittel gut genug gewesen war.

Am nächsten Tage kamen alle bestellten Sachen an, und er hatte sich tüchtig zu tummeln, sie sammt und sonders an richtiger Stelle unterzubringen. Hilt hatte ihm seine Hilfe angeboten, war aber abschlägig beschieden worden. Andree wünschte nicht, daß er die „Eos“ sehen sollte.

Gegen drei Uhr machte er sich dann auf den Weg, wählte einen kostbaren Ring aus mit wundervollem Opal, der von kleinen äußerst fein geschliffenen Diamanten umgeben war, und befand sich etwas vor vier Uhr in dem Hause auf dem Alsterdamm.

Zu seiner mehr als unliebsamen Ueberraschung fand er noch mehrere Mittagsgäste vor – den Ritter von Tillenbach nebst seinem Herrn Sohn, den jungen Leskow und einen ältlichen Bankier Fischer, den er noch nie gesehen hatte. Stella, die ihm im Vorzimmer entgegengekommen war, hatte ihm zugeflüstert, die Eltern hätten dies bestimmt, ihnen sei der Gedanke gekommen, Andree als einziger Mittagsgast am heutigen Tage hätte den Leuten sehr viel zu denken geben können und allerlei naheliegende Mutmaßungen gestattet. Das müsse man natürlich um jeden Preis vermeiden – und nun solle er um Gotteswillen kein so bitterböses Gesicht machen – sie sei ja doch selbst ebenso unglücklich über diese Störung wie er!

Wenn sie das war, dann konnte sie sich meisterhaft beherrschen! Andrees finsterer Blick maß immer wieder mit peinlichem Staunen das strahlend schöne und strahlend heitere Geschöpf, das mit Kuno scherzte und sich mit dem Bankier Fischer, einem jovialen Herrn, der gern Witze machte, lustig neckte. Ihm war unsäglich traurig und enttäuscht zu Muthe. Gewiß, so würde das nun immer sein, er würde sich jedesmal fügen müssen und sie nie für sich allein haben … nie!

Er fühlte in seiner Brusttasche das Etui mit dem Ring, und ein bitteres Lächeln verzog seine Lippen – er würde wohl gar keinen unbewachten Augenblick finden, ihr denselben zu geben! Fand Stella doch kaum Zeit, ihm bei Tisch einen flüchtigen Dank für seine „köstlichen Blumen“ ins Ohr zu sagen. Sie deutete dabei mit dem Blick auf zwei wunderschöne Rosen, die sie an ihrem Gürtel befestigt hatte. Andree nickte dazu, aber sein Gesicht wollte sich nicht aufhellen.

Sie sah, wie unglücklich er war, und er that ihr leid. Eigentlich hatte sie ihn doch sehr gern! Sie mußte versuchen, ihn nach Tisch für die Qualen, die er jetzt litt, einigermaßen zu entschädigen, sie konnte das schon so einrichten! Ein Gutes wenigstens hatte dies Diner – von den geladenen Gästen hatte niemand auch nur eine Ahnung von dem wahren Sachverhalt. Daß man in diesem wortkargen, verstimmten Herrn etwa den heimlichen Verlobten der glänzenden Stella Brühl zu suchen habe, das fiel keinem auch nur eine Sekunde ein.

„Mir ist dieser Maler Andree als ein liebenswürdiger Mensch geschildert worden,“ sagte Bankier Fischer nach aufgehobener Tafel zu Brühl, „aber ich kann das nicht unterschreiben; er hat ja kaum von seinem Teller in die Höhe gesehen und kaum ein Wort gesprochen. Er hat wohl Künstlerlaunen – wie?“ Papa Brühl, dem diese Annahme sehr bequem lag, nickte bestätigend. „Das ist aber schade, Freundchen!“ fuhr der behäbige Herr fort. „Ich seh’ es eigentlich nicht ein, warum ein Künstler nothwendig Launen haben muß, bloß weil er Farben reibt oder Marmor punktiert, ebenso wie unsereins die Kurse studiert und den Geldmarkt absucht! Und wenn er denn durchaus mal schlecht gelaunt sein muß – ja, warum bleibt er dann in Teufels Namen nicht zu Hause in seinen vier Pfählen, anstatt hier andere Leute mit solch’ einer Grabesmiene anzusäuern?“ –

Als der Kaffee gereicht wurde, brachte Stella, die viel von ihren Reisen zu erzählen wußte, das Gespräch auf allerlei hübsche Sachen, die sie sich unterwegs gekauft, unter anderem auf ein kleines Marinebildchen, von dem sie so entzückt gewesen sei, daß Papa es ihr habe schenken müssen. Sie wisse trotz des hohen Preises nicht, ob es etwas wirklich Werthvolles sei – ob Andree so gut sein wolle, es sich anzusehen und seine Meinung darüber abzugeben?

Kuno wollte sich den beiden anschließen, aber Stella wehrte ihn neckisch ab.

„Guter Kuno, was wollen Sie denn bei Bildern? Sie meinen doch nicht etwa, davon etwas zu verstehen? Nehmen Sie mir’s nicht übel, wenn ich auf Ihr Urtheil über solche Dinge kein Gewicht lege! Sie brauchen darum keine so trübselige Miene aufzusetzen! Nicht wahr?“ nickte sie ihm lächelnd zu und nahm Andrees Arm. „Auf Wiedersehen also, Kuno!“

Die beiden durchschritten stumm die beiden nächsten Zimmer, und erst im dritten machte Stella Halt. Sie ließ es gar nicht dazu kommen, daß Andree ihr Vorwürfe machte. Sie hob sich auf die Fußspitzen empor, umstrickte seinen Hals mit ihren weichen Armen und zog sein Haupt zu sich nieder.

Er gefiel ihr ja wirklich ausnehmend gut, und sie empfand es mit wahrem Jammer, wie schade es sei, daß sich die Persönlichkeit Andrees mit dem Rang und der Stellung des Prinzen nicht in eins zusammenschmelzen ließ – wie herrlich wäre das gewesen, und mit welcher Freudigkeit hätte sie einen solchen Mann geheirathet! Es war alles so unvollkommen im Leben!

Sie schmeichelte, sie bat, sie setzte ihre Gründe für die Anwesenheit dieser fremden Gäste noch einmal auseinander. Und sowie Andree die Lippen zu einer Frage oder Klage öffnen wollte, verschloß sie ihm dieselben mit einem Kuß. Er wäre kein Mann mit heißem Künstlerblut in den Adern, er wäre kein Verliebter gewesen, wenn ihm dies Verfahren nicht die Besinnung geraubt hätte! Er gab alles auf – berauscht von seinem Glück preßte er das schöne Mädchen an sein glühendes Herz.

Nun holte er doch den Ring aus der Brusttasche hervor und steckte ihn ihr an den Finger. Wie sie ihm dankte und sich freute – sie, das verwöhnte, mit Kostbarkeiten aller Art überschüttete Prinzeßchen! Und sie brauchte ihre Freude und ihre Zärtlichkeit nicht zu heucheln, sie kamen ihr in diesem heimlichen glücklichen Zusammensein wirklich von Herzen, nur [859] daß sie dabei keinen Augenblick den Kopf verlor, wie es ihm in der ersten Minute geschehen war. Ihre Augen spähten immer wieder verstohlen nach dem halb zurückgeschlagenen Thürvorhang hinüber, ihrem wachsamen Ohr entging nicht das leiseste Geräusch – und für alle Fälle hing wirklich das kleine Marinebild, das den Vorwand für ihr Verschwinden hatte geben müssen, in ihrer unmittelbaren Nähe an der Wand. Stella konnte aber ganz unbesorgt sein – es kam niemand; man hörte von Zeit zu Zeit ein gedämpftes Lachen oder das leise Aneinanderklirren des feinen Porzellans – das war alles. Mama Brühl war auf ihrem Posten und duldete nicht, daß jemand aus der kleinen Gesellschaft den beiden nachging.

„Wir müssen zurück, Liebster!“ sagte Stella endlich leise. „Wirf wenigstens einen flüchtigen Blick auf das Bildchen, damit Du den andern sagen kannst, Du habest es gesehen!“

Er hörte gar nicht, was sie zu ihm sagte, und schaute sie mit flammenden Augen an.

„O Du!“ murmelte er. „Du!“ Er preßte seine Lippen in ihr duftiges Haar. „Ich will Dich allein für mich behalten – für mich allein!“

„Das geht nicht an, Waldemar! Komm’, sei vernünftig, wir müssen zu den andern!“

„Nein, wir müssen noch nicht!“ Er hielt sie fest und spielte mit dem Händchen, das den Ring trug. – Sie fing schon an, ungeduldig zu werden.

„Wenn Du noch bleiben willst, muß ich schon allein gehen!“ schmollte sie. „Es ist zu auffallend, daß wir beide solange hier allein bleiben! Was sollen die Gäste denken?“

„Ach, was sie wollen, mein Herz !“

„Wir müssen doch unser Geheimniß bewahren!“

„Dies verdammte Geheimniß!“ Sein Gesicht wurde zornig. „Jetzt bestehe ich darauf, alles zu erfahren! Du bist mir’s schuldig, mich völlig darüber aufzuklären, warum ich so gemartert werden soll! Wem haben Deine Eltern Dich versprochen? Wem halb und halb Deine Hand zugesagt? Denn um so etwas wird sich’s doch wohl handeln! Ich muß das wissen!“

„Gewiß, Liebster! Du sollst es auch! Aber nicht heute, nicht gleich – es ist ja unmöglich, sieh es doch nur ein!“

„Unmöglich ist nichts!“

„Was Du verlangst, läßt sich heute wirklich nicht thun. Wir leben doch nun einmal in der Welt und mit der Welt und nicht auf einer einsamen Insel!“

„Leider – leider!“

„Nun, für die Insel hätt’ ich auch verzweifelt wenig Talent!“ Stella lachte leichthin, es war ein Lachen, das Andree nicht gefiel.

„Du bist doch ein richtiges Weltkind!“ flüsterte er, sie zärtlich an sich ziehend. „Wirst Du es auch lernen, manches anzunehmen, manches aufzugeben – mir zuliebe?“

„Ich weiß nicht!“ Sie sah wieder unruhig auf die Thüre. „Komm’ jetzt, ich will es haben! Wir sehen uns ja morgen wieder – bei Dir im Atelier!“

„Und Deine Mutter ist dabei?“

„Ja, ohne die Mama könnte ich doch überhaupt nicht kommen, das liegt auf der Hand. Nun also –“

„Ohne einen letzten Kuß?“ fragte er vorwurfsvoll und traurig, als sie ihn bei der Hand faßte und mit sich zog.

Sie unterdrückte einen Seufzer der Ungeduld und bot ihm die Lippen. Ihr dauerte das alles zu lange.

„Liebst Du mich, Stella?“ fragte er bedeutsam und bog ihr Köpfchen leicht zurück.

„Aber natürlich! Kam da nicht jemand? Warte – so laß mich doch los! Du kommst jetzt!“

Sie hatte sich rasch aus seinen Armen frei gemacht und ging ihm voran. Langsam folgte er.

„Aber die Bilderschau hat lange gedauert!“ rief ihnen der joviale Bankier Fischer aufgeräumt entgegen und drohte Andree leicht mit dem Finger. „Das muß ja ein hochinteressantes Marinebildchen sein!“

„Ist es auch!“ gab Stella heiter zurück. „Und Herr Andree hat förmlich ein Studium daraus gemacht – nicht wahr, Herr Andree?“

„Gewiß!“ bestätigte dieser ernst. „Ich habe mancherlei Neues entdeckt, wenn auch einiges, was mich befremdete! Man lernt ja nie aus!“

„Sehr wahr!“ bestätigte Herr Brühl, der die beiden heimlich beobachtete. Er war nicht zufrieden; dies Verschwinden zu zweien hatte viel zu lange gewährt, es war sehr unvorsichtig gewesen.




22.

Am nächsten Vormittag sah dieselbe freundliche Novembersonne, die schon die Tage zuvor so hell über Hamburg geleuchtet hatte, durch die breiten Fenster von Waldemar Andrees Atelier. Es sah jetzt sehr hübsch darin aus, die neuen Dekorationsstücke machten sich gut, und doch fühlte der Eigenthümer all dieser schönen Sachen sich fremd unter ihnen, sie kamen ihm gar nicht wie sein Besitzthum vor. In Rom, ja, da war’s anders gewesen! Da hatte er sich allmählich Stück für Stück zusammengetragen, oft nach langer sorgfältiger Wahl, oft nach langem vergeblichem Suchen – an jeden Vorhang, jede Vase knüpfte sich irgend eine Erinnerung, ein kleines Geschichtchen – wieviele davon hingen mit Werner Troost zusammen! Wenn er sich dort in seinen vier Wänden umgesehen hatte, war es ihm warm ums Herz geworden, er hatte sich zu Hause gefühlt. Jetzt und hier schien es ihm, als ob er zu Besuch wäre, als ob man ihm all die Herrlichkeiten nur geliehen hätte wie Theaterdekorationen zu einem neuen Ausstattungsstück. Nun, es war für Stella geschehen – ihr sollte es hier gefallen, und wenn es ihr gefiel, dann war ja alles gut!

Ruhelos ging er hin und her, zwecklos dies oder das ordnend und anders stellend. Jetzt mußte sie bald kommen! Was sie zu der „Eos“ sagen würde? Sie sah dieselbe ja heute zum ersten Male! – Seltsam, daß ihm, sowie er von ihr getrennt war, kein volles, befriedigtes Glückgefühl kommen wollte! War sie bei ihm, dann schlugen ihm die Flammen seiner Leidenschaft über dem Kopf zusammen – ein volles bewußtes Glück empfand er auch da nicht! Ach wenn nur erst dies unwürdige Versteckspiel zu Ende sein würde – dann sollte es schon anders werden! Nun, die paar Monate mußten ja zu überwinden sein!

Draußen schlug die Glocke an. Frau Wiedekamps Mädchen öffnete und ließ die Damen eintreten.

Der Künstler ging ihnen entgegen und überreichte ihnen die Bukette, die er für sie bestellt hatte. Stella, in einem neuen Herbstkostüm entzückend schön, lächelte ihn über die Blumen hinweg, in die sie ihr feines Näschen steckte, dankbar an – die Mama nickte huldvoll und ließ ihre Blicke neugierig umherschweifen. Wider ihren Willen machte ihr dieser hohe Raum mit der prächtigen Dekorierung einen großen Eindruck. – Stella sah sich nur flüchtig um und nickte kurz Beifall. Sie winkte Andree, der ihr behilflich sein wollte, Hut und Jacke abzulegen, lebhaft ab und lief zu der „Eos“ hin.

Wie schon gesagt, war das große Gemälde nahezu fertig – nur das Haupt der Göttin war erst in leichten Umrissen angedeutet, während die herrliche Gestalt in leichtem goldfarbenen Gewande, das im Frühwind flatterte, schon vollkommen ausgeführt war.

Stella staunte. Sie sagte sich beim ersten Blick, daß dies ein ganz ungewöhnliches Werk sei, das ungeheures Aufsehen erregen müsse. Die ganze Art der Darstellung, der Gegenstand an sich, die Größe des Gemäldes – es nahm fast die ganze Wand ein! – die wunderbare Gluth und Leuchtkraft der Farbe – und bei alledem der unnennbar zarte Zauber von Keuschheit, der über das ganze Bild ausgegossen war – dies zusammengenommen mußte eine außerordentliche Wirkung erzielen! Und sie, Stella Brühl, die allbekannte, vielbewunderte, sollte hier als die göttliche Spenderin des Lichts, der Morgenröthe prangen! Man würde sie allen zeigen, die zahlreich herbeiströmenden Fremden würden ihren Namen nennen hören und ihn mitnehmen in ihre ferne Heimath, die Einheimischen würden mit Stolz, mit Neid von ihr reden, die ganze große Ausstellung würde eigentlich nichts anderes als eine Verherrlichung ihrer Schönheit sein, denn es war unmöglich, an diesem Gemälde achtlos vorüberzugehen, es mußte der Hauptanziehungspunkt der ganzen Ausstellung werden!

Bei diesem Gedanken hob sich Stellas Brust in ungemeinem Stolz. Sie warf einen kurzen, leuchtenden Blick auf Andree, der leise hinter sie getreten war, und überließ ihm willig ihre Hand, von welcher er geschickt den weichen Handschuh abstreifte, um sie dann sehnsüchtig an seine Lippen zu drücken. In ihm wallte sein [860] ganzes Dankgefühl auf gegen das wundervolle Geschöpf, das sein Schönheitsideal verkörpert, das ihm dies Werk ermöglicht hatte, sein bestes, von dem er sich sagen mußte, es werde ihn auf den Gipfel dessen emporheben, was ihm überhaupt mit seiner Kraft und Begabung zu erreichen möglich war. Sein toter Freund, sein Werner hatte ihm dies Glück, diesen Erfolg verschafft – vor allem aber sie, die seinem – Andrees – Künstlergenius die höchste Weihe gegeben!

Sie hatten beide nur den einen Gedanken: malen, malen! Zu dem herrlichen Gemälde das eine noch fügen, was das ganze Werk krönen sollte, das Haupt der Göttin! Eilfertig half Stella mit, sich ihrer Hüllen zu entledigen, beiden zitterten die Hände vor ungeduldigem Eifer. Es wurde kein Wort mehr gesprochen, als unbedingt nöthig war, nur das, was die Arbeit erforderte. Mama Brühl fand, daß man sie rücksichtslos behandle, sie mußte sich wahrhaftig selbst einen der schweren Eichenstühle mit gepreßtem Ledersitz zurechtrücken, um einen guten Ausblick auf das Gemälde zu gewinnen! Nun ja – ja – es war sehr schön, sie mußte es einräumen, und es würde einen ungeheuren Triumph abgeben, aber dieser Maler war doch im Leben kein Mann für „ihr Kind“! Diese Künstleransprüche! Dieser kurze, befehlende Ton! Wie ein Herrscher, und ein Herrscher über wen? Ueber ihre Stella, der ein Prinz von Geblüt zu Füßen gelegen, die einen belgischen Baron, Millionär noch dazu, in Trouville hätte haben können. Freilich war es ein älterer Herr gewesen, ungefähr in den Jahren des Papa Brühl, allein wenn auch! Es war doch etwas anderes als ein Maler! Daß aber Stella dies alles vergessen zu haben schien und sich jetzt von diesem Herrn Andree völlig nach seinem Willen lenken ließ, bewies der Frau Senatorin aufs neue, welch unglaubliche Schwäche die schöne Tochter für den Mann haben müsse. Mama Brühl begriff das nicht, sie fand nichts an ihm! –

Er legte einen schneeweißen Shawl von flockiger Seide kunstvoll um Stellas Oberkörper – ihr Köpfchen hob sich wie aus frischgefallenem Schnee heraus – und half ihr, das Haar anders zu ordnen, es sollte halb gelöst sein, am Hinterkopf leicht in einen lockeren Knoten verschlungen, aber dann in ein paar ungezwungenen Locken rückwärts flatternd, vom frischen Morgenhauch bewegt. Das Tizianhaar sollte sich wie eine flammende Glorie von dem rosigen Duft abheben, der die Gestalt der Göttin umgab.

Kurze Worte flogen hin und her. „Mehr nach rechts, wenn ich bitten darf!“ „Ist es richtig so?“ „Sehr gut – jetzt, bitte, den Kopf ein wenig heben – noch höher – und nun, Stella, einmal Dein strahlendstes Lächeln, Deinen leuchtendsten Blick – so, – ah! Wer das jetzt sofort festhalten könnte!“

Mit raschem Sprunge war er auf der Trittleiter, die vor dem Gemälde stand, und sein Pinsel begann zauberschnell zu arbeiten. Es wurde mäuschenstill im Atelier; heute versuchte auch Stella nicht wie früher in Uhlenhorst, als Andree ihr Porträt malte, ihn von seiner Kunst ins Gebiet des persönlichen Empfindens zu ziehen, ihre Macht an ihm zu erproben und sich zu freuen, wenn er endlich erklärte, nicht mehr weiter malen zu können. Heute stand zuviel auf dem Spiel! Es handelte sich um das Ausstellungsbild, um die Vermittlung ihrer Schönheit an ein tausendköpfiges Publikum – daß es sich auch um Andrees Künstlerruhm dabei handelte, fiel ihr weiter nicht ein.

Ihm desto mehr! Ein brennender Ehrgeiz hatte ihn gepackt und führte ihm die Hand mit fast dämonischer Herrschaft. Ihn beseelte nicht nur der Gedanke: du malst dein Liebstes, und Tausende werden es sehen, darum muß es gut werden! – er sagte sich auch: du malst dein Bestes, und du wirst deinen guten Namen zu einem großen machen!

Den beiden verging die Zeit rasch genug, desto langsamer der Mutter, die sich auch als Ehrendame hier völlig überflüssig fühlte. Es fiel ja schon seit mehr als einer Stunde kein zärtliches Wort, nicht einmal ein liebevoller Blick! Scharf prüfend wanderten des Malers Augen von Stella zu dem Bilde und wieder zu Stella zurück, sein Athem ging rasch, eine strenge Falte zwischen den Brauen ließ ihn älter und weit weniger liebenswürdig im Ausdruck als sonst erscheinen, und zuweilen, wenn er das schöne Mädchen ansah, schüttelte er gar ungeduldig den Kopf. Was hatte das zu bedeuten? War sie ihm etwa nicht schön genug? Hatte er an ihrer Haltung etwas auszusetzen? Unmöglich! Sie saß ja still wie ein Lamm, und wie unbequem und ermüdend mußte das sein! Mama Brühl erkannte ihre Tochter nicht wieder, die sich daheim stundenlang auf den weichsten Sofas dehnte und oft zu bequem war, nur die Hand zu rühren! Daß sie, die Mutter, dies mit ansehen mußte! Warum hatte das Kind heute nicht die Willmers befohlen? Nein, gerade sie hatte es sein müssen!

Frau Brühl fing an, sich auf eigene Hand, so gut es ging, zu unterhalten, da sonst niemand die mindesten Anstalten dazu traf. Sie erhob sich und begann, im Atelier vorsichtig auf den Zehenspitzen umherzuschleichen – dann, als die beiden sie durchaus nicht beachteten, trat sie herzhafter auf. Sie besah sich die Gobelins, die Rüstungen, die orientalischen Teppiche und Gewebe in der Nähe, sie hob Vasen und Trinkgefäße von ihrem Standort herab und rechnete sich in der Stille aus, wieviel das alles wohl kosten könne. Es kam eine recht ansehnliche Summe dabei heraus – und was würde ihm nun die „Eos“ einbringen? –

Es standen ein paar große Gestelle mit Mappen umher. Frau Molly konnte sich’s nicht versagen, mit spitzen Fingern vorsichtig darin zu blättern, – nach und nach wurde sie auch hierin dreister. Eine sehr schöne Sammlung werthvoller Kupferstiche und Radierungen, die Andree aus Rom mitgebracht, reizte sie wenig, davon verstand sie nichts. Aber hier, Stella und wieder Stella und immer sie – nun, das war hübsch! Er mußte sie doch grenzenlos lieben! Dann ein paar Blätter mit halbverlöschten Umrissen einer Mädchengestalt, eines Kopfes – darunter ein Blatt wie im Zorn mitten durchgerissen. Und hier – das war ja Werner Troost – und dies war er noch einmal! Ja, ja, ein hübscher junger Mensch! Die Frau Senatorin seufzte ein klein wenig, als es ihr einfiel, daß er tot sei. –

Die Sonnenflecken an der Wand rückten weiter, wieviel Uhr war es denn? Himmel, es waren schon mehr als zwei Stunden vergangen! Und die Frau Senatorin hatte sich zu Hause um diese Zeit einen Dekorateur bestellt, der ihr die neuen Vorhänge aufmachen sollte! Es hungerte sie auch schon! So konnte es nicht bleiben, sie mußte etwas sagen!

„Mein liebstes Kind – Stella –“ begann sie leise.

„Still, Mama!“ sagte das schöne Mädchen diktatorisch, und Mama war still!

Es dauerte dann noch sehr lange, bis die Sitzung endlich beendet war. Die Frau Senatorin weinte fast vor Ungeduld und Verzweiflung, sie besah auch keine Bilder und Sachen mehr. Sie saß mit geschlossenen Augen in ihrem altväterischen hohen Stuhl und wünschte Andree und die Kunst und die „Eos“ ins Pfefferland. – Zuletzt ließ Andree den Pinsel sinken und sagte tonlos: „Ich kann nicht mehr!“

„Aber es ist gut? Du bist zufrieden?“ fragte Stella.

„Ja!“ gab er mit entschiedenem Tone zurück.

Sie dehnte sich mit einer anmuthigen Bewegung und rückte sich leicht in den Schultern zurecht. Er trat zu ihr heran und küßte ihr die Hand.

„Wie ich Dich ermüdet haben muß, armes Lieb!“ sagte er zärtlich.

„An mich denkt kein Mensch!“ dachte die Senatorin entrüstet.

„O, das schadet nichts! Wenn nur das Bild gut wird! Laß einmal ansehen!“

„Es ist noch nicht allzuviel zu sehen, mein Kind!“

„Noch nicht allzuviel!“ dachte die empörte Mutter. „Was in aller Welt hat denn der Mensch in der ganzen, ewig langen Zeit gethan?“

Das Haupt der „Eos“ war aber doch da, und Andree erklärte seiner Braut, was nun noch ausgeführt und hinzugefügt werden müsse.

„Muß – müssen – muß Stella noch einmal wiederkommen?“ fragte Frau Brühl kläglich.

„Mehrmals!“ sagte Andree bestimmt.

Stella sah ihre Mutter an und lachte.

„Mama scheint nicht sehr erbaut von dieser Aussicht zu sein. Schadet nichts! Wenn nur ich es bin!“

Es klang selbst für Andree ein so nackter Eigennutz aus diesen Worten, daß er stutzig wurde.

„Wir sind schlecht gegen Sie gewesen, meine gnädige Frau!“ sagte er mit seinem gewinnenden Lächeln und sah die verstimmte Dame bittend an. „Verzeihen Sie es uns im Interesse der [862] Kunst – das ist eine strenge Herrscherin! Wie Sie angegriffen aussehen! Warten Sie, ich hole Ihnen ein Glas Wein – so dürfen Sie nicht fort. Auch Stella muß trinken – es ist unverantwortlich von mir, nicht früher daran gedacht zu haben, aber ich glaubte nicht, daß die Sitzung so lange dauern würde.“

Er kramte geschäftig aus einem geschnitzten Schränkchen eine Flasche Wein hervor und nahm die schönsten Trinkgefäße, die er finden konnte, um aus ihnen den Trank zu kredenzen.

„Champagner ist es nicht!“ sagte er lächelnd. „Ich halte mir keinen; Stella trinkt ja Sekt am liebsten – aber zu verachten ist dieser spanische Wein auch nicht!“

Nein – Frau Molly mußte das zugeben. Andree klang mit seinem Glase an das Stellas.

„Auf die ‚Eos‘!“ sagten sie beide zugleich. Es hätte auffallen können, daß es nicht ihre junge Liebe war, auf die sie tranken.

Beim Abschied wollte Andree gern recht zärtlich sein – allein Stella, die nun auch zu fühlen begann, wie erschöpft sie eigentlich sei, ließ es gar nicht dazu kommen. Sie winkte mit den Augen nach ihrer Mutter hin, wie wenn sie diese nicht gern zum Zeugen einer bräutlichen Scene haben wolle. Ob Andree sie übermorgen auf einem Spazierritt wie zufällig treffen wolle? Freilich seien noch ein paar Herren ihrer Bekanntschaft zugegen, auch eine Dame und die Reitknechte – aber anders gehe es doch nun einmal nicht! Sie wolle sehen, ob ihre „Primrose“ sie noch kenne und sich ihr nach der langen Trennung gutwillig in die Hand füge. Ob Andree dabei sei? Selbstverständlich nur, wenn sie schönes Wetter hätten!

Was blieb ihm übrig, wenn er sie überhaupt sehen und sprechen wollte, als zuzusagen? Sie hastete nur, fortzukommen, streifte flüchtig mit den Lippen seine Wange und zog ihm ihre Hand fort, die er gar nicht loslassen wollte. Er stand noch und sah ihnen nach – Stella ging mit ihrem leichten, elastischen Schritt über die Straße. Zuvor hatte sie unten im Hausflur herzhaft gegähnt und unwillig gesagt:

„Bin ich aber müde! Wie zerschlagen am ganzen Körper! Wir nehmen den nächsten Wagen, den wir finden!“ – Nach einer kleinen Weile setzte sie dann nachdenklich hinzu: „Die ‚Eos‘ wird aber schön!“ – –




Herr Grimm ging mit Gerda über den Neuen Jungfernstieg. Es war in den letzten Tagen viel Schnee gefallen – weich und glatt wie weißer Sammet lag er überall – dazu eine freundliche Wintersonne und ein lichtblauer Himmel! Man war im Dezember, nahe an Weihnachten.

Gerda ging schweigsam und tief in Gedanken an Onkel Grimms Seite. Sie hatte es nicht acht, daß der Blick manches Vorübergehenden wohlgefällig ihre schlanke Figur in dem hübschen dunkelgrünen, mit Pelz verbrämten Wintermantel streifte. Sie sah viel wohler aus als früher, nicht mehr bleich und blutlos. Der Reitunterricht im Sommer, die regelmäßige Bewegung im Freien, die zweckmäßige Ernährung hatten ihr gut gethan – ihr junges Gesicht war frisch geröthet, der Gang leicht, die Haltung straff – sie wurde wirklich hübsch. In dem Punkt konnte Onkel Grimm mit ihr zufrieden sein!

Nur daß sie ihm zu ernst war für ihre Jugend! Immer seltener brach der kindliche Uebermuth, die tolle Lachlust früherer Tage bei ihr durch. Sie lebte nicht mehr unter einem Druck, sie brauchte sich vor niemand mehr zu ängstigen, bekam alle schönen Sachen, nach denen ihr Sinn stand, und hatte einen liebevollen Beschützer, dem auch sie von Herzen gut war. Sie sah den ungeheuren Vortheil dieses Wechsels auch ein, sie war Herrn Grimm wirklich dankbar und versicherte ihm immer wieder, es gehe ihr viel zu gut und sie verdiene ein so herrliches Leben gar nicht. Und trotzdem schien es, als ob das „herrliche Leben“ all die übersprudelnde Kinderfröhlichkeit, die unter den trübseligen Verhältnissen des elterlichen Hauses doch stets wieder zum Vorschein gekommen war, für alle Zeit in ihr erstickt habe.

Es war nichts gegen Gerda zu sagen, sie war immer freundlich und aufmerksam, sie lernte gut und befleißigte sich großer Ordnung und Pünktlichkeit – aber eben das war’s: Herr Grimm ärgerte sich, daß sich nichts gegen sie sagen ließ. Möchte sie doch in Gottes Namen einmal über die Schnur schlagen, ihm Gelegenheit geben, sie zu schelten. Er lauerte förmlich darauf – umsonst! Sie blieb tadellos. Himmel, sie war doch noch ein Kind – –

Oder war sie kein Kind mehr? Der Pflegevater schaute sie sich manchmal darauf hin scharf an. Sie sah in der That aus wie ein erwachsenes Mädchen und benahm sich auch wie ein solches. Früher hatte er oft gesagt: „Sei doch nicht so kindisch, Du bist ja schon ein großes Fräulein!“ und nun sie ihm den Willen that, war es ihm wieder nicht recht.

Ins „Vorderhaus“, wie Gerda die Wohnung ihrer Eltern nannte, kamen sie selten. Wolfgang dagegen war oft oben bei Herrn Grimm mit seinem Freund, in dessen Gesellschaft er ganz wacker lernte und vorwärts kam. Die Einladungen, die von Herrn und Frau Senator Brühl an den „Hausfreund“ und Gerda ergingen, wurden also meistens zurückgewiesen. Bald hatte Gerda zuviel zu lernen, bald erwartete Herr Grimm Besuch, oder er ging mit „seiner Tochter“ ins Theater, ein ganz neues Vergnügen für sie, das sie sehr liebte – kurz, die beiden wurden in der Brühlschen Familie fast nie sichtbar.

Und wenn es doch einmal geschah, was bekamen sie dann zu sehen? Ein wunderschönes, von jedermann verwöhntes und angebetetes Mädchen – ein „Götzenbild“, das sich seiner Macht von Tag zu Tag mehr bewußt wurde, dem alle, die eigenen Eltern voran, huldigten – und einen heimlich Verlobten, der sich in Qual und Eifersucht verzehrte, dessen Stirn immer finsterer, dessen Lächeln immer seltener wurde. Solange die „Eos“ unvollendet war und Stella, durch die Sitzungen ihm näher gebracht, ihn noch durch ein paar freundliche Worte, ein Lächeln, eine Liebkosung beschwichtigen und einigermaßen für alle Pein, die er litt, entschädigen konnte, ging es noch – jetzt aber war das Gemälde fertig, in wenigen Wochen sollte die Ausstellung eröffnet werden, die heimlich Verlobten sahen einander immer seltener und nie mehr allein.

Der Winter mit all seinen Festlichkeiten war da, und die schöne Stella Brühl strahlte natürlich als Ballkönigin, als unbestrittener Stern ersten Ranges. Keine Premiere in den Theatern ohne sie, keine lebenden Bilder, kein Kostümbazar zu wohlthätigem Zwecke, kein Maskenball, kein großartiger Eislauf denkbar, ohne daß sie die erste Rolle dabei spielte! Was wollte denn Andree? Es war ja so natürlich! Es machte ihr doch Spaß, warum sollte sie es also lassen? Er konnte ja auch kommen, niemand verwehrte es ihm, er wurde fast überall eingeladen – wenn er nicht wollte, wenn er behauptete, es nicht ertragen zu können, sie so gefeiert zu sehen und als ihr Verlobter, der das größte Recht auf sie habe, dabeizustehen, ohne daß jemand um dies sein Recht wisse … nun gut, dann war das eben seine Sache, und sie selbst ging allein! –

Herr Grimm hätte lange nicht so klug zu sein brauchen, wie er es thatsächlich war, um die Lage der Dinge zu durchschauen. So selten er zu Brühls kam – er wußte genau, wie es dort zuging, wußte, wie sehr Andree litt, und wie bitterwenig Stella sich darum bekümmerte. Es war eine schwüle Luft in dem Hause, und lange konnte es nicht mehr dauern, dann mußte das Gewitter losbrechen. War die Ausstellung erst da, dann würde Andree auf seinem Recht bestehen – und was dann?

Grimm hatte es mit Aufbietung aller seiner Diplomatie bisher vermieden und wollte es auch weiter vermeiden, mit Andree in ein vertrauliches Gespräch zu kommen. Wozu sollte das führen? Die Wahrheit, wie er sie sah, konnte er dem Maler nicht sagen, und mit Redensarten würde dieser sich nicht abfertigen lassen, dazu standen sie einander zu freundschaftlich nahe – auch verstand Herr Grimm es ganz und gar nicht, Redensarten zu machen.

Wenn also Andree einmal hinaufkam in die gemüthliche Wohnung des Freundes, dann holte dieser sofort Gerda herbei, mochte sie nun wollen oder nicht, und das Gespräch drehte sich immer um ganz unpersönliche Dinge: Kunst und Wissenschaft – Gerdas Lehrstunden – ihre Lieblingsbeschäftigungen – die neueste Oper – den letzten Roman – Andrees Bilder … das waren die Stoffe, die hier verhandelt wurden, aber zu einer vertraulichen Aussprache kam es nie, und eben das wollte Herr Grimm. Er athmete, so lieb er Andree hatte, jedesmal erleichtert auf, sobald dessen hohe Gestalt seine Behausung verließ, und war froh, daß die gefährliche Klippe, vor der ihm [863] immer heimlich bangte, wieder einmal glücklich umsegelt worden war! –

Solche Gedanken beschäftigten Herrn Grimm wieder, als er jetzt schweigsam neben Gerda einherwandelte. Sie hatten den Alten Jungfernstieg umgangen und bogen nun in den Alsterdamm ein. Noch wimmelte die Binnenalster von Schlittschuhläufern, aber das Vergnügen konnte für heute nicht lange mehr dauern – bereits senkten sich die ersten Schatten der rasch hereinbrechenden Winterdämmerung herab.

„Warum bist Du eigentlich heute nicht auf dem Eis gewesen, Kind?“ unterbrach Grimm endlich das Schweigen. „Es ist ja kostbares Wetter dazu!“

„Ich, Onkelchen? Ja – Wolfgang konnte heute nicht kommen und Georg auch nicht – und allein –“

„Du würdest doch noch andere Bekannte dort gefunden haben.“

„Meinen Sie?“ fragte Gerda so nachdenklich, als handle es sich um ein großes Problem.

„Hat man Dich nicht auch zu der großen Schlittenfahrt aufgefordert, die heute früh stattfand?“

„Ja, Onkel!“

„Nun? Und Du hast abgelehnt, ohne mich vorher nur gefragt zu haben? Ich hätte Dir’s erlaubt, mitzufahren!“

„Ja, ich weiß wohl. Aber ich wollte viel lieber zu Hause bleiben!“

Grimm schüttelte unwillig den weißen Kopf.

„Wo sollte denn die Fahrt eigentlich hingehen?“

„Ich weiß nicht!“

„Mit wem ist denn Stella gefahren? Mit Andree?“

„Nein – ich denke, mit dem jungen Leskow!“

„Sie müssen wohl bald zurückkommen – oder wollten sie bis zum Abend fortbleiben?“

„Bewahre! Stella hat ja eine Loge im Theater bestellt – sie geben ein Stück aus dem Französischen – ich hab’ den Titel augenblicklich vergessen, ich glaube, es hängt mit einem Prozeß zusammen!“

„So so!“ sagte Gerdas Begleiter zerstreut – dann plötzlich aufmerksamer werdend: „Sind das nicht Schlittenglocken – viele auf einmal? Steh’ einen Augenblick still! Können sie das nicht sein?“

Ja, sie waren es! Mit einem lustigen, hellen Geläut, mit unternehmendem Peitschenknall kam es durch die reine, frische Winterluft heran, immer ein Schlitten nach dem andern, vier – fünf – sechs – man hörte Lachen und Scherzen, Federn nickten, Schleier wehten, die Pferdehufe stampften in den weißen, zerstäubenden Schnee – und wie ein Traumgesicht war alles vorbei!

Aus einem der Schlitten hatte ein Herr die beiden gegrüßt – es war Andree.

„Hast Du ihn gesehen, Gerda? Mir kam es vor – aber ich kann mich irren, es ging ja wie im Fluge – als hätte er bedenklich finster ausgesehen. Schien es Dir auch so?“

„Ja,“ sagte Gerda zögernd, „mir schien es auch so!“

Schweigend gingen die beiden ihrer Behausung zu.

Oben kam ihnen Frau Müller entgegen.

„Schön, daß Sie da sind, gerade ist der Kaffee fertig - mit Berliner Pfannkuchen, Gerdachen! Was ich sagen wollte – ich hab’ gleich ein paar Tassen mehr gemacht, Herr Andree ist nämlich da, er sitzt drinnen im Wohnzimmer. Er kam herauf und fragte, ob die Herrschaften zum Kaffee nach Hause kämen – er hätte sie auf der Straße gesehen!“

Herr Grimm nickte Frau Müller zu und öffnete die Thür zum Wohnzimmer – ja, da saß Andree auf einem Lehnsessel am Tisch, und Hafis lag lang ausgestreckt auf dem Sofa und schlief.

„Nun, das ist recht, Andree!“ rief Herr Grimm freundlich und schüttelte seinem Besuch die Hand. „Frau Müller, die Lampen! Mein Töchterchen und ich wollen nur unsere Hüllen ablegen, dann sind wir bei Ihnen, und es soll ein gemüthliches Kaffeestündchen werden!“

„Und nach demselben möchte ich Sie um ein paar Worte unter vier Augen bitten!“ sagte Andree leise.

Die Lampen wurden gebracht, der herrlich duftende Kaffee, die warmen Pfannkuchen dazu – aber zu dem „behaglichen Kaffeestündchen“, das der Hausherr prophezeit hatte, wollte es doch nicht kommen. Andree saß finster und schweigsam da, er hob selten die Augen von seiner Tasse, und zuweilen überhörte er es, wenn Grimm mit ihm sprach. Gerda trank ihren Kaffee beinahe brühend heiß hinunter, sie konnte nicht früh genug fortkommen, um die beiden allein zu lassen. Als ihr Pflegevater sich wunderte, daß sie so eilig sei, sagte sie, sie habe für morgen noch viel zu thun, und weg war sie.

Herr Grimm streichelte seinen Hafis und wartete ab, bis Andree reden würde.

„Lieber Freund,“ begann dieser endlich mit derselben gedämpften Stimme wie zuvor, „es ist mir aufgefallen, und ich finde es sehr merkwürdig: Sie haben mir bisher in der ganzen langen Zeit noch mit keinem Wort zu meiner Verlobung gratuliert!“

„Habe ich nicht?“ murmelte Herr Grimm verlegen.

„O, Sie wissen es ebenso genau wie ich!“

Das stimmte, und Herr Grimm sah schuldbewußt aus und fuhr fort, Hafis zu streicheln.

„Warum thaten Sie es also nicht?“ fuhr Andree ruhig fort.

Der ältere Mann wiegte unmuthig den Kopf.

„Das wird ein peinliches Gespräch, mein bester Andree, und ich wollte, ich könnte es uns beiden ersparen – ich habe es bis jetzt immer vermieden.“

„Ganz recht! Das thaten Sie! Jetzt geht das aber nicht länger!“

„Gut also! Was wünschen Sie nun von mir?“

„Zunächst wünsche ich zu wissen, was Sie über diese meine Verlobung denken – die volle Wahrheit, versteht sich!“

Herr Grimm wurde unruhig.

„Mein Lieber, das ist eine seltsame Zumuthung! Die Wahrheit! Ja – weiß ich denn, ob das, was ich nach meiner unmaßgeblichen Meinung dafür halte, die einzige, die richtige Wahrheit ist? Ich bin auch nur ein Mensch und kann irren! ‚Was ist Wahrheit?‘ hat schon Pilatus gefragt.“

„Sie sollen mir das sagen, was Sie, nach Ihrer eigenen Auffassung, für die volle Wahrheit halten!“

Der weißhaarige Herr, so in die Enge getrieben, faßte einen kurzen Entschluß.

„Nun denn – Sie haben es gewollt! Ich habe mich über diese Verlobung nicht freuen, ich habe Ihnen nicht dazu Glück wünschen können, weil ich Sie lieb habe und mir von dieser Verbindung kein Glück für Sie verspreche. Sie und Stella passen durchaus nicht zusammen – Ihre Braut ist in allen Stücken der gerade Gegensatz zu Ihnen!“

„Sie kennen sie genau?“

„Sehr genau!“

„Sie thun ihr nicht unrecht?“

„Ich denke, nein! Die Versuchung für ein so schönes, junges Geschöpf ist ja riesengroß.“

„Welche Versuchung?“

„Ein Götzenbild zu werden, sich anbeten, huldigen zu lassen und darüber desjenigen verlustig zu gehen, was, in meinen Augen wenigstens, das Weib erst zum Weibe macht!“

Er sah Andree erschrocken an – es hatte ihn wieder einmal fortgerissen, er war zu weit gegangen! Trotz seiner weißen Haare immer noch diese Unbesonnenheit!

„Und Sie meinen, ich würde nicht glücklich werden?“ brach Andree nach einer Pause das Schweigen.

„Sind Sie jetzt glücklich?“

Es kam keine Antwort.

Grimm hörte auf, Hafis zu streicheln, ergriff Andrees kalte willenlose Hand und drückte sie.

„Sehen Sie, Grimm,“ begann der Maler endlich gepreßt „diese heimliche Verlobung – und daß ich nie den stichhaltigen Grund dafür erfahre, warum sie geheim sein muß – denn sie weicht mir immer aus, wenn ich sie frage, und wir sind ja auch nie mehr allein, nicht einmal auf fünf Minuten! Ich hatte gehofft, wir würden heute bei der Schlittenpartie zusammen fahren, aber nein! Sie meinte, es könnte auffallen …“

„Lassen Sie die Ausstellung herankommen!“ suchte Grimm ihn zu ermuthigen. „Das Bild, – es ist ja ein Kunstwerk ersten Ranges, nach meiner Ansicht – es wird packen, wird zünden – nun, und das wird Ihnen helfen! Stella ist für Aeußerlichkeiten, Erfolg, Aufsehen empfänglich, es wird ihr schmeicheln – –“

[864] „Und darauf soll ich mein Lebensglück bauen?“ brach es plötzlich leidenschaftlich aus Waldemars Brust. Gleich darauf sank er wieder in sich zusammen.

„Wenn ich wüßte, ob sie mich liebt! Mir schien es anfangs so – warum hätte sie auch sonst meine Werbung angenommen? Jetzt aber – – sie sagt, sie habe Werner Troost zu sehr geliebt, sein Andenken … ja so, Sie wissen es nicht, daß sie Werner Troosts heimliche Verlobte gewesen ist – –“

„Doch! Ich weiß es!“

Andree fragte nicht, durch wen, er nickte nur.

„Sein Andenken also stehe zwischen ihr und mir, sie habe sich über die Stärke ihres Gefühls für mich getäuscht, ich solle ihr Zeit lassen, vielleicht lerne sie es, mich allmählich so zu lieben, wie sie ihn geliebt –“

Er brach kurz ab und starrte vor sich hin. Grimm fühlte ein tiefes Mitleid mit ihm. Was sollte er ihm sagen? Wodurch versuchen, ihn zu trösten? Es fiel ihm nichts ein.

Sie saßen eine Weile stumm bei einander, zuletzt erhob sich Andree schwerfällig.

„Es war unrecht von mir, darüber zu sprechen – sogar zu Ihnen, der Sie ein verschwiegener Mann und mein Freund sind; ich hätte es nicht thun sollen. Aber immer und immer schweigen, gegen niemand sich aussprechen können –“

„Lassen Sie es sich nicht leid thun, Andree! Ich bin Ihnen ein wahrer Freund und kann Sie verstehen. Freilich, helfen – wenn ich Ihnen helfen könnte –“

Andree schüttelte langsam den Kopf.

„Wie sollten Sie das können, da ich es selbst nicht zustande bringe? Das geht nun so weiter … Ich muß jetzt fort. Grüßen Sie Gerda, rufen Sie sie wieder herein, ich habe sie vertrieben. Ein gutes Kind! Sie hat keine –“ er verstummte plötzlich.

„Wollen Sie nicht den Abend über bei mir bleiben?“ fragte Grimm herzlich. „Kommen Sie, lassen Sie Ihre Pelzmütze liegen! Ich hole mein Kind, wir plaudern zusammen …“

„Nein!“ sagte Andree hastig. „Nein – ich danke Ihnen. Ein andermal! Ich danke Ihnen!“

Und damit war er gegangen.

[878]
23.

Dudu führte Stella Brühls neuen Wagen langsam, langsam vor dem Ausstellungsgebäude auf und ab. Es war ein auffallendes Gefährt: ein ganz hohes Gestell von hellem Holz mit vier gewaltigen Rädern, der Sitz mit blaßgrauem Atlas gepolstert, die Pferde kohlschwarz. Man zeigte einander das Fuhrwerk hier draußen ebenso, wie man einander drinnen die Besitzerin desselben zeigte.

Die vorliegenden dunkeln Augensterne in dem schwarzen Gesicht des Mohrenknaben gingen oft von den Pferdeköpfen ängstlich nach dem säulengeschmückten Eingang des Ausstellungsgebäudes hinüber – Missie Stella spaßte nicht! Sowie sie dort heraustrat, mußte er sofort zur Stelle sein – aber die Pferde durfte er auch nicht stehen lassen, sie hatten sehr viel Temperament und nahmen es schon übel, jetzt im Schritt gehen zu müssen. –

Die Ausstellung war seit ein paar Tagen eröffnet, Stella war jeden Tag da. Die „Eos“ hatte einen kolossalen Erfolg.

Andrees Name war auf aller Lippen. Die Zeitungen brachten ausführliche Besprechungen des Gemäldes, die Kritiker lobten viel und tadelten wenig. Immer war eine große Menschenmenge davor versammelt, es war, wie vorauszusehen, der Hauptanziehungspunkt der ganzen Veranstaltung geworden. Und die Hamburger freuten sich natürlich, daß ein Kind ihrer Stadt, eine junge Schönheit, die sie alle kannten, hier als Göttin, als Morgenröthe zu sehen war, und zeigten sie den zugereisten Fremden mit Stolz. Besonders interessant war es, das Original mit dem Bilde zu vergleichen, und das konnte man jeden Tag thun, denn das Original war sehr oft in der Ausstellung anzutreffen. Ebenso Mynheer van Kuythen, der jedem, welcher es etwa noch nicht wußte, erzählte – laut genug, daß alle Umstehenden es hören konnten, in deutscher, in holländischer und in englischer Sprache: das seien seine Pferde, die da vor den Wagen der Göttin gespannt seien, und der Maler sei wochenlang täglich zu ihm gekommen, um diese herrlichen Modelle genau nach der Natur zu studieren. –

Nun, es war der Mühe werth gewesen! Mit verblüffender Naturtreue waren die schönen Geschöpfe wiedergegeben, sie schienen gleichsam aus dem Gemälde heraus- und dem Beschauer entgegenzuspringen, diese milchweißen Rosse mit den weitgeöffneten rosenrothen Nüstern, die freudig witternd die frische Morgenluft einzogen, mit ihren feurigglänzenden Augen, den flatternden Mähnen und Schweifen und den hoch in die Luft aufsteigenden Vorderhufen! Zu ihren Füßen wallte es in dichtem, weißlichem Qualm, wie Nebel und ballende Wolken – höher hinauf wurde es lichter, immer heller und zarter, bis ein goldigzitterndes Licht aus den wogenden Massen hervorbrach und die Göttin umgab, die „rosenfingrige Eos“, die mit goldenem Zügel ihre Sonnenpferde lenkt und der schlummertrunkenen Erde die Morgenröthe bringt. Hochaufgerichtet steht sie da in ihrem goldenen Muschelwagen; den leuchtenden Nacken, die fein gerundeten Arme läßt das fliegende, leichte Gewand frei, das Morgenlüftchen spielt mit dem üppigen, lose geknoteten Haar – lachend und hinreißend schön fährt sie in die erwachende Welt hinein. Ueber ihrem Haupt ist der Himmel mattrosig, ein einzelner Stern schimmert darin – von dem goldfarbenen Kleide der Göttin aber geht es rechts und links aus wie eine sanfte rothe Gluth, die ihren Wiederschein auf die sich zurückbäumenden Pferdeköpfe wirft!

Ja, ein prächtiges Bild, wer es nur ein einziges Mal gesehen hatte, konnte es wahrlich nicht wieder vergessen!

Nur den Meister, der es schuf, den bekam man nicht zu sehen. Er war doch noch in Hamburg? Jawohl, gewiß, man wußte es ganz bestimmt! Nun also, warum zeigte er sich denn niemals in der Ausstellung?

Stella Brühl, die schöne Eos, hätte wohl darüber Auskunft geben können, aber wenn man sie nach Andree fragte, hieß es immer: „Ja, er ist ein naher Freund unseres Hauses, einem andern würden es ja die Eltern nicht erlaubt haben, mich zu malen! Aber er ist ein wenig sonderbar. Für seine Bilder sucht er die Oeffentlichkeit, für seine Person vermeidet er sie!“

Es lag doch etwas anders! Stella hatte Andree sehr schlecht behandelt. Die Wahrheit zu sagen, sie war seiner sehr rasch überdrüssig geworden, sie hatte sich in ihm getäuscht. Wie anders hatte sie sich das alles gedacht! Anstatt eines anbetenden Liebhabers, der glückselig jede kleinste Gunst von ihr entgegennahm, sich jeder vorübergehenden Gelegenheit, sie einmal für sich zu haben, unendlich freute, hatte sie einen anspruchsvollen, unlenksamen Menschen neben sich, der sie unablässig beobachtete, sie tadelte, mit Vorwürfen überhäufte und die seltenen Augenblicke, die ihnen einmal zum Alleinsein gegönnt waren, dazu benutzte, sie zu quälen und herrisch auf der Aufhebung des Geheimnisses zu bestehen! Himmel, das war ja ein schrecklicher Mensch, dieser Waldemar Andree! Behüte Gott sie davor, sich den jemals zum Mann zu nehmen, mochte sein Gemälde noch so schön, sein Künstlerruhm noch so groß sein! Er würde sie ja tyrannisieren, sie würde keinen selbständigen Schritt mehr thun können, sie würde von jedem Blick, von jedem Lächeln ihm Rechenschaft ablegen müssen, und er würde sie außerdem wie eine Gefangene behandeln ... nichts von Reisen, von wechselndem Aufenthalt, von Vergnügen! – Zu Anfang war es ihr noch gelungen, ihn durch Liebkosungen, durch ein paar zärtliche Worte, ein hingeworfenes Versprechen zu besänftigen. Aber dieser schwerfällige Mensch wünschte nicht nur ein Versprechen zu empfangen – nein, er verlangte auch, daß man es hielt, buchstäblich hielt, und gerieth außer sich, wenn das nicht geschah! Er wiederholte ihre eigenen Worte, er berief sich auf dieselben und verlor alle Selbstbeherrschung, wenn sie erklärte, die Sachlage habe sich inzwischen geändert, und sie könne nun ihr Versprechen nicht einlösen.

Wenn er sich einmal mit ihr zusammen in irgend einer Gesellschaft sehen ließ, mußte sie immer heimlich zittern, daß er eine Scene mache, sie bloßstelle. Das ging nicht, das ertrug sie nicht! Sie wollte leben, wie es ihr und nur ihr gefiel - nicht aber zittern und Rücksichten nehmen oder gar sich fügen! Und das alles bloß, um Frau Andree zu werden? Kein Gedanke! Ja, wenn sich’s noch um den Prinzen Riantzew gehandelt hätte! Da konnte sie sich während der Verlobung vielleicht noch dies und jenes bieten lassen – später, in der Ehe, würde es schon anders kommen!

Als die Ausstellung da war, hatte Andree ihr sehr deutlich zu verstehen gegeben, daß er nun die Entscheidung wünsche, er wolle endgültig mit ihr und ihren Eltern sprechen, dazu müsse endlich Zeit sein, Ausflüchte lasse er nicht mehr gelten – und wenn Stella erst seine Braut vor der ganzen Welt sein werde, dann werde er auch Mittel finden, sich seine Rechte als ihr Verlobter zu wahren. Es schauderte ihr bei einer solchen Sprache, alles in ihr schrie „nein und tausendmal nein!“ und sie sehnte mit aller Kraft ihrer Seele einen Ausweg herbei.

Sie hatten einander mehrere Tage nicht gesehen, Stella war gesellschaftlich sehr in Anspruch genommen und freute sich dessen. Andree hatte ihr ein paar Mal geschrieben, kurze Briefchen, die seine gequälte Gemüthsstimmung deutlich genug wiederspiegelten. Sie hatte ihm nie geantwortet, sie war zu vorsichtig dazu – schriftliche Zeugnisse können unangenehm werden. –0

Jetzt trat sie, die vielbewunderte „Eos“, unter das Portal des Ausstellungsgebäudes, von fünf oder sechs Herren begleitet, und hielt Umschau nach Dudu. In ihrem knappen braunrothen Sammetpelz, eine hohe schneeweiße Mütze auf dem Kopf, war das junge Mädchen berückend schön, und das leise Gemurmel, das sich hier und da bei ihrem Anblick erhob, erschien nur zu gerechtfertigt. Die Kavaliere stürmten die Stufen herab, um ihren Wagen herbeizuholen, allein Dudu hatte von seinem hohen Sitz aus bereits die weiße Mütze seiner Herrin entdeckt und fuhr in einem geschickten Bogen durch die umherstehenden Gruppen an der Treppe vor. Mit Pferden verstand Dudu umzugehen, es war das einzige Talent, dessen er sich rühmen konnte. –

[879] Als Stella einstieg und sich Zügel und Peitsche reichen ließ, kam hinter dem Wagen ein hochgewachsener Herr langsam des Weges daher und erstieg die ersten zwei Stufen der breiten Vortreppe. Das schöne Mädchen sah ihn nicht, da ihre Verehrer sie umringt hatten und lebhaft auf sie einsprachen – aber er gewahrte sie und blieb stehen, um sie zu beobachten. Sie lachte gerade und neigte sich etwas von ihrem hohen Sitz herab, um zu verstehen, was einer der Herren zu ihr sagte. Dudu war wie ein Aeffchen auf seinen Sitz hinter ihr geklettert und hielt ihr die Zügel hin. Die Vorübergehenden standen still und sahen sich die Scene an, sie tauschten bewundernde Blicke und Gebärden.

Sie neigte die Peitsche leicht gegen die Herren, lockerte die Zügel – und schon stürmte das ungeduldige Gespann mit dem „Götzenbild“ dahin. In Andree stieg die Erinnerung an das erste Mal auf, als er sie so auf der Straße in ihrem Wagen gesehen hatte. Er hatte mancherlei erlebt inzwischen.

Mit einem müden Kopfschütteln stieg er die Stufen vollends empor. Er hatte ja auch das Götzenbild verherrlicht und ging jetzt, es sich anzusehen.

Die Ausstellung war schon ziemlich verödet um diese Zeit. Das wußte Andree, und darum ging er gerade jetzt hin. Es war ihm schlimm zumuthe – er mochte sich nicht angaffen lassen, auch nicht Rede stehen!

Da stand er vor dem Gemälde, und, so zufrieden er damit war – das Herz wurde ihm immer schwerer, je länger er es ansah. Für dies Werk hatte er seine Seele eingesetzt, den Frieden seines Herzens dazugegeben! Denn daß sein Glück, sein wahres inneres Glück nicht in den Händen dieses schönen Mädchens lag, das hatte er sich längst sagen müssen. Er hatte es so oft gehört und gelesen: die Liebe macht blind! Wenn dies doch auch bei ihm der Fall gewesen wäre! Dann hätte er all das, was ihn jetzt bis zur Unerträglichkeit quälte, was ihm Ruhe und Schlaf raubte und ihn gänzlich um sein inneres Gleichgewicht brachte, nicht bemerkt und hätte sich in dem Wahn gewiegt, glücklich zu sein und glücklich zu machen! Aber nun sah er zu seinem Unglück klar und deutlich das Gegentheil, sah Stellas Gleichgültigkeit gegen ihn selbst, ihre Herzenskälte, ihre unersättliche Gefallsucht. Er gewahrte jetzt auch, wie sie ihre Familie tyrannisierte, sie ließ sich ja ganz und gar gehen vor ihm und hielt es nicht mehr für der Mühe werth, wie früher Komödie zu spielen. Auf ihrer Jagd nach Genuß waren ihr die Menschen, gleichviel ob nahe- oder fernstehende, weiter nichts als Mittel zum Zweck, und wenn sie ihr dazu gedient hatten, dann waren sie ihr langweilig und wurden ungeduldig beiseite geschoben. So auch Andree! Er hatte ihrer Eitelkeit gedient, ihre Schönheit Tausenden von Menschen zum Anstaunen übermittelt – nun war es gut, und was aus ihm wurde, war ihr gleichgültig!

Und daß er dies alles durchschaute und doch nicht von ihr los konnte, nicht den Muth fand, es ihr ins Gesicht zu sagen und sich von einer unwürdigen Fessel zu befreien ... das war’s, was ihn am meisten peinigte, was ihn mit brennender Scham erfüllte!

Er hatte sich für einen Charakter gehalten, für einen anständigen Menschen mit festen Grundsätzen – nun wurde er gewahr, daß er als Sklave in den Banden einer Leidenschaft lag, deren er sich schämte, und sein Selbstvertrauen, sein Beruhen in sich, das einen hervorstechenden Zug seines Wesens ausmachte, kam ins Wanken. Sein ganzer Künstlerruhm, seine Zukunft schien ihm unlöslich an dies schöne Geschöpf gekettet, er konnte sich nicht mehr denken, daß er jemals wieder seinen Pinsel in die Hand nehmen sollte, um etwa anderes zu malen als sie! Sie hatte sich seiner künstlerischen Phantasie ganz und gar bemächtigt, an ihre Persönlichkeit knüpfte sich alles, was er künftig Großes und Schönes von seinem Schaffen erwartete – und gegen den Künstler kam der Mensch nicht zu Wort in diesem ohnmächtigen Ringen!

Jetzt stand er da und starrte die strahlende, lächelnde „Eos“ so finster an, als sei sie sein persönlicher Feind, der ihm ein schweres Leid zugefügt hatte – und das war auch der Fall! Sie hatte ihm einen Zwiespalt seines Wesens enthüllt, den er nie für möglich gehalten hätte, sie hatte aus einem kraftvollen harmonischen Menschen einen haltlosen zweifelnden Grübler gemacht.

Wispernde Stimmen hinter ihm machten ihn auf seine Umgebung aufmerksam. Irgend jemand hier mußte ihn von Ansehen gekannt und seinen Begleitern gezeigt haben – die Art. wie man vorsichtig um ihn herumging und sich bemühte, ihm unauffällig ins Gesicht zu blicken, bewies ihm dies zur Genüge.

Er lächelte ein wenig bei dem Gedanken, wie diese fremden Leute es wohl beurtheilen würden, daß er so tief ins Anschauen seines eigenen Gemäldes versunken gewesen war! Aber nun wandte er sich zum Gehen und trat hier und da an ein Bild heran, um es zu betrachten, fand indessen auch dazu keine Ruhe. Das schöne Gesicht unter der weißen Pelzmütze gaukelte beständig vor ihm her und nahm ihm die fast andächtige Sammlung, mit welcher er sonst Kunstwerke zu studieren gewöhnt war. – Die Fremden wunderten sich, daß er so unglücklich aussehe – ein so namhafter Künstler, der Schöpfer eines solchen Gemäldes!

In den fast gänzlich geleerten Sälen hallte sein fester Schritt laut wieder, als er sich endlich zum Gehen anschickte. Draußen war inzwischen die Sonne verschwunden, graue Wolken hatten sich am Winterhimmel zusammengeballt, ein rauher Wind fegte über den Platz und jagte den nur noch spärlich umherliegenden trockenen Schnee in weißem Wirbel auf. Andree zog fröstelnd den Kragen seines Pelzes empor, aber er ging langsam trotz der Kälte. Was sollte er bei sich zu Hause? Dahin kam er immer noch frühzeitig genug! –

Frau Wiedekamp erwartete ihn auf dem Flur. Es sei ein Herr da gewesen, der ihn habe besuchen wollen. Nicht sein Freund, Herr Hilt, auch nicht der Herr mit den weißen Haaren und dunkeln Augen – sie vergesse immer seinen Namen ... Grimm, richtig! - Grimm! – bewahre, auch der nicht! Ein ganz Fremder, blond, sehr höflich – er habe nicht warten können, auch keine Karte dagelassen, aber etwa um sechs Uhr werde er wiederkommen, Herr Andree möge doch zu Hause bleiben. Der Maler nickte zu allem Ja! Ihm war der blonde, sehr höfliche Herr ungemein gleichgültig – vielleicht irgend ein Kritiker oder Kunsthändler, der wegen der „Eos“ kam!

Die Zeit nach Tisch füllte er mit Lesen und Rauchen aus, das heißt, er hatte von beidem keinen Genuß. Es dunkelte früh, und er ließ von Frau Wiedekamp die Lampen anzünden, um den blonden, höflichen Unbekannten wenigstens gut sehen zu können. Gleich nach sechs Uhr klopfte es denn auch an die Atelierthür. Andree fuhr auf. Das war ja ein so vertrautes Klopfen, das kannte er genau – so pflegten die befreundeten Künstler in Rom bei einander anzuklopfen!

„Avanti!“ rief er unwillkürlich.

Ein schlanker, blonder Herr erschien auf der Schwelle. Im nächsten Augenblick hatte Andree „Hartwich! Kleiner Hartwich!“ gerufen und den Eintretenden stürmisch in seine Arme geschlossen.

Der „kleine Hartwich“ – derselbe, der in Rom Waldemar die Nachricht von dem Unglück in der Via Sardegna gebracht hatte – stand Andree durchaus nicht besonders nahe, sie waren ein paar gute Kameraden gewesen, weiter nichts! Aber in seiner jetzigen Stimmung machte ihm der Anblick des freundlichen, wohlbekannten Gesichtes eine solche Freude, und die schönen unvergeßlichen römischen Zeiten traten ihm dabei so lebhaft ins Gedächtniß, daß er den Ankömmling begrüßte wie seinen besten Freund.

„Nun, Andree, das ist hübsch von Euch, daß Ihr Euch so freut über mich! Gar nicht stolz geworden! Und hättet doch alle Ursache – aber davon später! Wie geht’s Euch denn? Gut, prachtvoll – wie?“

„Hartwich – kleiner Hartwich!“ sagte Andree noch einmal und packte ihn an den Schultern. „Weiß Gott, ob ich mich freue! Welcher gute Wind weht Euch denn so mitten im Winter von unserem gesegneten Rom herauf in dies kalte, frostige Hamburg? Kommt daher, setzt Euch – wartet, ich fache das Feuer im Kamin an, ’s ist im Handumdrehen gethan – römische Leute sind verwöhnt! Hier ist Wein, da sind Cigarren, oder wollt Ihr lieber eine Cigarette? Ihr könnt alles haben!“

„Es scheint so!“ sagte Hartwich munter und schob seinen Sessel dicht an das rasch aufflammende Kaminfeuer. „Riesig gemüthlich habt Ihr’s hier – und eine so feine Einrichtung! Bißchen neu, bißchen nach dem Dekorateur – na, nichts für ungut, ging wohl alles mit Kurierzug. – Nein, nein, nichts zu [880] essen, die Cigaretten sind vorzüglich, und Euer Sherry kann sich sehen lassen. Prosit! Was malt Ihr denn?“

„Nichts vom Malen!“ Andree schob ihm die Weinflasche näher. „Erst habt Ihr zu erzählen! Hier! Trinkt einen vernünftigen Zug, und nun los!“

„Da ist nicht viel zu erzählen! Ich hab’ eine einzige Schwester, die in Berlin Lehrerin war an einer höheren Töchterschule. Na, das ist auch gerade nichts Himmlisches, und mir that das arme Ding oft genug leid, daß sie bis in ihr hohes Alter hinein die höheren Töchter klug machen sollte – sie ist nämlich erst dreiundzwanzig Jahre alt und ganz hübsch, schlägt mir nach – was ist dabei zu lachen? Seh’ ich etwa garstig aus?“

„Gar nicht, kleiner Hartwich! Im Gegentheil!“

„Na, ich wollt’ es auch meinen! Also – ja – sie that mir oft leid, aber was war zu machen? Arm wie ’ne Kirchenmaus ist sie; wenn ich ’mal ein Bild gut los wurde, schickte ich ihr was, aber Ihr wißt, damit sieht’s bei mir faul aus! Also, um es kurz zu machen: Gott hat es mit ihr anders beschlossen gehabt – sie hat in einer befreundeten Familie einen angenehmen, wohlhabenden Kaufmann aus Hamburg kennengelernt, die Leute haben sich ohne meine Erlaubniß ineinander verliebt und werden in drei Tagen heirathen. Na, weil man bloß die einzige Schwester hat und sie sich kindisch freut, bin ich zu ihrer Hochzeit hergekommen – gerade hatt’ ich auch meine ‚beiden Kapuziner‘ verkauft. Besinnt Ihr Euch auf meine ‚beiden Kapuziner‘?“

„Gewiß! Ein tüchtiges Bild – machte Euch alle Ehre.“

„Nun, wenn Ihr es lobt, muß es wahr sein, Ihr versteht was davon und lügt nicht! Aber, Andree, die ‚Eos‘! Ich hab’ sie gesehen – und – Mensch, ich kann auf Ehre nichts weiter sagen als: Donnerwetter!“

„Das ist auch eine Kritik!“ Andree lächelte etwas matt. „Nun sagt, Hartwich, wie steht’s in Rom? Redet – aber redet ausführlich! Mich interessiert schlechthin alles!“

„Von der Kolonie nachher! Zuerst“ – er kramte in einer großen Brieftasche herum und brachte etwas verlegen ein paar in Papier gewickelte welke Blumen daraus zum Vorschein – „Da! Das ist von Werner Troosts Grab! Es sieht dort alles hübsch grün und blühend aus – alles in Ordnung! Der arme Kerl! Wißt Ihr – ich muß noch oft an ihn denken! Jammerschade um ihn!“

„Ja! Jammerschade!“

„Und hier“ – Hartwich nahm einen ziemlich umfangreichen Brief aus der Ledertasche – „hier habt Ihr einen Liebesbrief von Signora Marchini – nämlich sie liebt Euch wirklich. ‚Il mio Signore Andree‘ nennt sie Euch – nie anders! Ich hab’ sie besucht, ehe ich abreiste, um sie zu fragen, ob sie etwas an Euch zu bestellen habe, da ich Euch in Hamburg aufsuchen würde. Da hat sie mir eine lange Geschichte erzählt, sie sei in Pisa bei ihrer Tochter gewesen, sehr lange, und ein Enkelchen sei ihr geboren worden und die Tochter auf den Tod krank gewesen; und wie sie nach monatelanger Abwesenheit zurückgekehrt sei, da habe sie diesen Brief hier gefunden und – und – ja, was weiß ich noch sonst alles! Hier ist jedenfalls der Brief, und sie hat auch noch selbst an Euch geschrieben!“

Andree lachte und schob den Brief in seine Brusttasche.

Dann fing Hartwich an, von Rom zu erzählen, und staunte, wie genau Andree alles wissen wollte. Zuletzt aber erhob er sich.

„Es ist schade, ich möchte lieber bei Euch bleiben – allein mein neuer Schwager könnte mir’s übelnehmen. Er hat mir nämlich ein Theaterbillet geschenkt – so ein französisches Stück – nun muß ich doch hin; es soll ja auch vorzüglich gegeben werden, der Schwager ist ein riesig stolzer Hamburger, lobt alles hier von einem Ende zum andern. Wißt Ihr was? Kommt mit! Was wollt Ihr mit dem angebrochenen Abend anfangen?“

Andree stimmte dem bei – er war so froh, Hartwich zu haben, der ihn auf andere Gedanken brachte – was sollte er allein beginnen? Also ins Theater!

Rasch kleidete er sich um, und draußen nahmen sie sich einen Wagen – es war schon ziemlich spät geworden. Das Wetter war noch rauher als mittags, der Wind blies heftig, und die Fenster des Miethwagens klapperten.

Der kleine Hartwich, vom Wein erregt, plauderte lebhaft, sang ein langes feuriges Loblied auf die „Eos“ und entwickelte seinen neuesten künstlerischen Plan – sprach zwischendurch von seiner Schwester und deren Bräutigam, fragte allerlei über Hamburg und berichtete weiter von Rom.

Das Theater war sehr voll, glücklicherweise fand Andree noch einen Platz neben Hartwich. Er war ein paar Mal mit der Familie Brühl zusammen im Theater gewesen, versprach sich von diesem französischen Stück keinen großen Genuß, da er dies Genre nicht liebte, und gedachte sich durch lebhaftes Geplauder mit seinem römischen Freunde in den Zwischenakten zu entschädigen.

Es sollte aber heute anders werden. – – –

„Der Fall Clemenceau“ von Dumas! Ein vielbesprochenes, aber auch – mit Recht – viel angefeindetes Stück!

Isa, die Gattin des Bildhauers Pierre Clemenceau, ist ein gewissenloses Geschöpf, das in ihren Gemahl wohl verliebt, aber doch, um ihren schrankenlosen Hang zum Luxus befriedigen zu können, auch andern gegenüber nicht unerbittlich ist. Er durchschaut sie, er ist in tiefster Seele gekränkt – empört, aber - sie ist eine blendende Schönheit, sie ist ihm eins mit seiner Kunst, und es braucht lange, lange – es muß zum äußersten kommen, ehe das vernichtende Gefühl seiner verrathenen Liebe, seiner zertrümmerten Existenz voll in ihm aufwacht. Und dann – ermordet er seine Gattin. – –

Der „kleine Hartwich“ gewahrte zu seinem Erstaunen, daß dies Stück, das bis zu einem gewissen Grade auch ihn selber fesselte – es wurde ausgezeichnet gespielt – seinen Freund Andree mächtig zu erregen schien. Aus den geplanten Plaudereien in den Zwischenakten wurde nichts. Schweigend und finster, die Blicke unablässig auf den herabgelassenen Vorhang gerichtet, wie wenn er nicht erwarten könne, daß das Stück weitergehe, saß Andree neben dem Freunde, der dies Benehmen mit der vorherigen herzlichen Freude und liebenswürdigen Zutraulichkeit seines Nachbars gar nicht zusammenreimen konnte. Kopfschüttelnd gab er endlich den Versuch auf, den anderen aus seiner merkwürdigen Versunkenheit zu reißen, und nickte gutmüthig mit dem Kopf, als Andree einmal hastig sagte: „Seid nicht böse – ich bin nicht ganz bei mir selbst – das Stück – das schreckliche Stück – es regt mich auf –“

„Wollen wir nicht lieber fortgehen?“ fragte Hartwich besorgt.

Andree schüttelte heftig den Kopf.

„Ihr seht miserabel aus, mein Alter!“ sagte Hartwich nach Schluß der Vorstellung, als beide Arm in Arm die hell erleuchteten Treppen hinunterschritten. „Was ist’s denn mit dem Stück? ’S ist ein raffiniertes, frivoles Machwerk, und um so ergriffen zu sein, dazu sehe ich keinen Grund! Ihr werdet doch nicht krank werden wollen? Was meint Ihr – soll ich am Ende mit Euch kommen und bei Euch bleiben?“

„Nein – nein – tausend Dank!“ Andree sprach abgebrochen und ließ Hartwichs Arm los. „Mit dem Stück mögt Ihr ja recht haben, aber trotzdem – ich muß allein sein – kann auch nicht mit Euch zu Pfordte kommen, wie wir verabredet hatten – ich wär’ ein erbärmlicher Gesellschafter! Auf morgen, lieber Hartwich – auf morgen! Ihr holt mich ab – wir gehen in die Ausstellung – es muß aber leer dort sein!“

„Hört ’mal, Andree, Ihr gefallt mir ganz und gar nicht!“

„Das will ich Euch glauben!“ Andree lachte kurz und hart auf. „Mir geht es genau ebenso, ich gefalle mir selber nicht!“

„Aber Euch jetzt allein lassen –“

„Thut mir die Liebe! Ich bitte Euch drum! Und nehmt es mir nicht übel!“

„Na, für so dumm braucht Ihr mich nicht zu halten! Auf morgen denn!“

„Ja – auf morgen!“

Durch die kalte Winternacht ging Andree seiner Wohnung zu; der Wind pfiff und heulte ganz tolle Weisen, kein Stern kam zum Vorschein.

Frau Wiedekamp war erschrocken, als ihr Miether heimkehrte – die Herren hätten doch noch zu Pfordte gehen wollen, sie habe nichts Rechtes zum Abendessen im Hause – was sie denn noch besorgen könne?

Nichts – durchaus nichts! Es sei ja Wein da, das sei ihm genug, Hunger habe er keinen. Und jetzt war er endlich allein in seinem hübschen Wohnzimmer bei der hell brennenden Lampe. Doch er empfand nichts von Behagen, wie im Fiebertraum kam

es ihm zuweilen vor, als sei er nicht mehr Waldemar Andree, sondern Pierre Clémenceau! – Umsonst sagte er sich, daß diese Isa nicht in Vergleich gezogen werden könne mit Stella Brühl, daß jene ein Zerrbild sei, ein gewissenloses Weib schlimmster Art, Stella dagegen nur ein verwöhntes, kokettes Mädchen. Immer wieder quälte ihn der eine Gedanke: er hat sie durchschaut und hat sie verachtet, aber er konnte nicht los von ihr, weil sie sein künstlerisches Ideal war, weil ohne sie der Künstler ebenso rettungslos zu Grunde gegangen wäre, wie es der Mensch schon war! Dein Bild ist es, das Du gesehen hast!

Seine Ideen machten immer denselben Rundgang – das konnte er nicht mehr ertragen. Er sprang auf und begann auf und abzugehen, er leerte ein paar Gläser Wein – vielleicht machte das ihn müde, vielleicht konnte er dann schlafen.

Als er seinen Rock ablegte, fiel etwas daraus schwer zur Erde. Ja so, der Brief der guten Signora Marchini! Den wollte er doch lesen, vielleicht brachte der ihm andere Gedanken!

Die würdige Frau schrieb höchst verwirrt in einem sehr fehlerhaften Italienisch und in unleserlicher Schrift: Versicherungen ihrer Zuneigung und ihres treuen Gedenkens – Erinnerungen an Werner Troost, den sie nicht vergessen könne – Berichte über das Aussehen seines Grabes, das sie oft besuche - Erzählungen von der langen, schweren Krankheit ihrer Tochter in Pisa und von dem reizenden Enkelchen – alles das ging bunt und kraus durcheinander, unb Andree hatte Mühe, daraus klug zu werden. Zuletzt kam noch eine Nachschrift. Der einliegende Brief sei zuerst nach Rom an ihre Adresse gekommen, dann ihr nach Pisa nachgeschickt worden, habe sie dort verfehlt, sei wieder nach Rom zurückgegangen und habe dort lange, lange Zeit gelegen – nun schicke sie ihn ihrem lieben Signor Andree, er sei ja Signor Troosts bester Freund gewesen und werde schon Bescheid wissen. Der Briefumschlag habe so entsetzlich ausgesehen von dem vielen Hin- und Herschicken, daß sie es nicht habe ansehen können, und so habe sie ihn durch einen neuen ersetzt. Gelesen habe sie natürlich kein Wörtchen, Signor Andree dürfe ganz ruhig sein – sie könne nicht einmal ein gedrucktes deutsches Wort lesen, geschweige denn ein geschriebenes.

Andree verstand von dem allem nichts. Was war das für ein Brief? Worüber sollte er, als Werner Troosts bester Freund, Bescheid wissen? Er betrachtete kopfschüttelnd den weißen Briefumschlag, zuletzt riß er ihn auf. Es konnte sich um Werners kleine Hinterlassenschaft handeln. ... Er sah eine zierliche, feste Damenhandschrift, und er las, daß die Dame Werner Troost sein Wort zurückgab, daß sie ihm sagte, sie habe sich in ihrem Gefühl für ihn getäuscht, sie sei ein Kind gewesen, das nicht gewußt habe, was Liebe sei – und ihre Eltern hätten ganz bestimmte Pläne mit ihr.

Datiert war der Brief vom Anfang des April. – Waldemar hatte ganz gedankenlos begonnen, ihn zu lesen, ohne eine Ahnung, wer die Schreiberin war. Dann aber, in jähem Erschrecken, wurde es ihm plötzlich klar: Stella allein konnte die Schreiberin sein. Es war kein langer Brief – und doch brauchte Andree eine lange Zeit, bis er ihn drei-, viermal durchgelesen hatte.

Gottlob, daß Werner Troost ihn nicht mehr erhalten hatte, daß er schon friedlich unter den aufgehäuften Blumenkränzen schlummerte, als dieser Brief für ihn eintraf!

Und sie, die vorgegeben hatte, Werner Troost unendlich zu lieben, sein Andenken nicht vergessen zu können – sie, die all ihre launenhafte Kälte gegen Andree mit ihrer treuen Liebe zu diesem Toten entschuldigt, die ihm hundertmal betheuert hatte, Werner sei ihres Herzens einziges Glück gewesen, und man müsse darum Geduld mit ihr haben – ihr Zeit lassen – –

Es wurde ihm dunkel vor den Augen – er drückte den Brief in der geballten Faust zusammen und glättete ihn dann wieder sorgsam – seine Gedanken schweiften zu Pierre Clémenceau zurück ... es stieg etwas Beengendes, Fürchterliches in ihm empor – dann machte er eine Gebärde des Abscheus, als quäle ihn ein Versucher, den er mit Gewalt fortweisen müsse.

00000000000000

Wenige Tage später hatte man sich in gewissen Kreisen Hamburgs sehr zu wundern. Waldemar Andree, der bedeutende Künstler, der Schöpfer der „Eos“, die man mit Recht als das weitaus schönste Gemälde der diesjährigen Ausstellung pries, hatte ganz plötzlich die Hansestadt verlassen. Einem aus Rom eingetroffenen Freunde, Hartwich mit Namen, der einige Zeit in Hamburg verweilen wollte, hatte er Auftrag gegeben, seine Ateliereinrichtung aufzulösen und zu verkaufen und etwaige Anfragen bezüglich der „Eos“ zu beantworten. Hilt war empört, daß man nicht ihn mit diesem Vertrauen beehrt harte, mußte sich aber den gegebenen Verhältnissen fügen. Frau Wiedekamp wußte von nichts, konnte auf alle Fragen nur mit dem Kopf schütteln und betonen, Herr Andree sei ein sehr nobler Miether gewesen, da er ihr das volle Quartal bezahlt habe. Hartwich wußte einiges mehr, sagte aber nichts – er war Andree recht nahe getreten in diesen wenigen Tagen, und sie hatten sich versprochen, im Briefwechsel miteinander zu bleiben.

Der einzige, der ganz genau in die Dinge eingeweiht war, war Herr Grimm.

Ihn hatte Andree am Tage nach jenem Theaterabend besucht, bleich und verstört, und ihm allein hatte er umfassende Mittheilungen gemacht. Als der ältere Freund Einblick in Andrees Gemüthsverfassung gewonnen hatte, war sein einziger Rath der gewesen: alles stehen und liegen lassen und schleunigst abreisen! Kein Wiedersehen, keine Aussprache mehr herbeiführen – Herr Grimm ahnte nichts Gutes, wenn er in seines Freundes finstere Augen sah – er selbst wolle der schönen Stella ihren Brief an Werner Troost übermitteln, und sie werde sich, klug wie sie sei, den Zusammenhang zwischen diesem Brief und Andrees Abreise leicht deuten können.

So ernstlich war Grimm um seinen Freund besorgt, so sehr fürchtete er ein vielleicht durch den Zufall herbeigeführtes Zusammentreffen Stellas mit ihm, daß er ihm nicht von der Seite wich und sich sogar über Nacht bei ihm einquartierte. Auch mit Hartwich wurde Grimm bekannt, und sie fanden entschiedenes Wohlgefallen an einander. Sie athmeten beide erleichtert auf, als der Bahnzug den Freund entführte, obgleich der ältere Mann sich mit schwerem Herzen sagte, er werde Andree unendlich vermissen.

Herrn Grimms Mission der schönen Stella gegenüber war rasch erledigt. Sie sah ein wenig betroffen aus beim Anblick des Briefes, der sie eine zeitlang so ernstlich beunruhigt hatte, aber schließlich hatte sie doch wieder erreicht, was sie gewollt: sie war frei! Herr Grimm konnte nicht umhin, angesichts dieser bewundernswürdigen Kaltblütigkeit der jungen Dame anzudeuten, daß ihre Lage Andree gegenüber eine bedenkliche, ja gefahrvolle gewesen sei, und daß sie es nur der Vorsicht seiner Freunde zu danken habe, wenn eine aller Voraussicht nach ungewöhnlich schlimme Wendung vermieden worden sei. Ihr reizendes rosiges Gesicht wurde um einen Schatten blässer, und die schönen Lippen zuckten ein wenig – sie erwiderte aber kein Wort auf diesen in sehr ernstem Ton gehaltenen Ausspruch und entließ Herrn Grimm in verbindlichster Haltung.

Die „Eos“ blieb noch ein paar Wochen in der Hamburger Ausstellung, dann wurde sie für einen außerordentlich hohen Preis nach Philadelphia verkauft.




24.

Mehr als zwei Jahre sind seitdem vergangen.

Herr Bernhard Grimm hat mit seiner Pflegetochter Gerda eine schöne Reise durch ganz Italien gemacht und zeigt ihr jetzt Berlin, das sie bisher nur auf der Durchreise kennengelernt hat.

Sie wandern Arm in Arm durch den Thiergarten, der im schönsten Herbstschmuck prangt. In der Nähe des Goethe-Denkmals, das sie beide aufrichtig bewundert haben, finden sie eine Bank und lassen sich darauf nieder.

Herr Grimm ist sehr nachdenklich – Gerda ist es nicht. Sie spricht unbefangen und heiter. Eine strahlende Schönheit ist nicht aus ihr geworden, wohl aber ein sehr hübsches, frisches Mädchen mit wundervollen dunkelgrauen Augen.

Da ihr Begleiter fast kein Wort redet, schiebt sie ihre Hand leicht unter seinen Arm und fragt leise: „Onkelchen, sind Sie mir denn so schrecklich böse?“

„Dummes Kind!“ entgegnet er unwillig. „Wie kann ich denn böse sein? Ich möchte nur wissen, ob Du überhaupt niemals heirathen willst!“

„Können Sie mich gar nicht rasch genug los werden, Onkel? Ich bin ja noch nicht neunzehn Jahre alt.“

„Wenn auch! Du hast eine Art, Dich gegen die Männer zu benehmen, die einem den ganz bestimmten Verdacht ...“

„Nein, nein!“ unterbricht ihn Gerda und wird roth. „Sprechen Sie nicht zu Ende, Onkel, wenn Sie mich lieb haben – bitte! Ich bin zufrieden, wenn ich bei Ihnen sein darf, ich kann mir kein –“

Sie stockt, denn sie will keine Unwahrheit sagen.

„Nun?“ wirft Herr Grimm ein.

„Nein – nichts!“ sagt sie kleinlaut und senkt die Wimpern.

Er zeichnet mit seinem Stock Figuren in den Sand.

„Wieviel Heirathsanträge hast Du eigentlich schon bekommen?“

„Schon? Zwei und einen halben, denn zum dritten ließ ich es nicht kommen!“

„Und wieviele hättest Du noch haben können?“

„Gott, Onkelchen, wie soll ich das wissen? Keinen – denke ich!“

„So? Nun, ich denke etwas anders darüber!“

Gerda findet das Gespräch nicht nach ihrem Geschmack.

„Ich weiß nicht, weshalb Sie mich so früh verheirathen wollen, Onkel! Wenn ich an Stellas Ehe –“

„Stellas Ehe!“ Herr Grimm brauste ganz so jugendlich zornig auf wie früher. „Daß sich Gott erbarme! Nein, die kann man nicht zum Muster aufstellen! Das Vorspiel war auch danach! Der eine verliebt sich in ein schönes Gesicht und wittert dazu noch ein ungeheures Vermögen – der andere – vielmehr die andere strebt nach Stellung und Rang und will eine Rolle spielen in der Welt! Das sind die Bedingungen, unter denen diese prinzliche Ehe zustande kam – na, und da ist sie denn gut ausgefallen! Er hat von seinem Bruder, der die ganze Geschichte widerwillig genug zugab, nur eine sehr mäßige Apanage, und von dem ungeheuren Reichthum, den er sich erträumt hat, ist kaum der zehnte Theil Wirklichkeit geworden ... dafür hat er eine Gattin, die das Leben so zu genießen versteht und so bedeutende Ansprüche macht, daß sie in dieser Kunst höchstens von ihm selbst, dem Prinz-Gemahl, überboten wird – und so ist das allerdings eine kreuzunglückliche Ehe – Klagen hier und Vorwürfe dort – und das Ende vom Lied wird sein, sie lassen sich scheiden, und die unvergleichliche Stella heirathet den geistvollsten aller Männer: Kuno, Ritter von Tillenbach!“

„Onkel!“ rief Gerda empört.

„Bleib’ sitzen, fahr’ nicht so wild in die Höhe, mein Kind! Wollen sehen, wer recht behält! Die Sache ist leider einfach genug: Stella braucht ungeheuer viel Geld und einen sehr dummen, sehr bequemen Mann – das hat sie jetzt beides nicht, allein Du kannst Dich darauf verlassen, sie wird es bekommen!“

„Aber Kuno nimmt doch keine Stellung in der Welt ein!“

„Der Name einer geschiedenen Prinzeß Riantzew giebt schon einen gewissen Glanz – nimm die schönen Millionen des Papa Tillenbach hinzu, und das Ergebniß ist nicht schlecht!“

„Nein, Onkel Grimm, ich glaube es wirklich nicht!“

„Dann laß es bleiben, dummes kleines Mädchen, die Zukunft wird es ja beweisen!“

„Papa und Mama sind außer sich, daß Stella so entsetzlich viel Geld braucht und dennoch so unglücklich lebt!“

„Papa und Mama haben sich den prinzlichen Schwiegersohn so sorgfältig eingebrockt, daß sie sich nicht wundern sollten, wenn er ihnen jetzt schwer im Magen liegt!“

„Es muß jetzt schlimm zu Hause sein! Wie gut, daß Wolfgang in Kiel untergebracht ist und daß ich bei Ihnen bin, Onkel!“

„Wer weiß, wie lange noch!“

Gerda rückte ein Stückchen von ihrem Pflegevater ab und besah sich ihn von der Seite.

„Sie sind ganz anders wie sonst, Onkel! Was haben Sie nur?“

„Was soll ich denn haben? Nichts, mein Täubchen!“

„Doch!“ Gerda wurde unruhig. „Sie haben irgend etwas im Sinn! Müssen wir denn hier immerfort sitzen bleiben? Die Sonne scheint mir gerade auf den Kopf!“

„Mach’ Deinen Sonnenschirm auf, liebes Kind!“

Herr Grimm bemühte sich, unbefangen zu sprechen, aber es gelang ihm nicht recht. Sein Stock, mit dem er noch immer Figuren in den Sand zeichnete, fiel ihm plötzlich aus der Hand, und er bückte sich, gleichzeitig mit Gerda, um ihn aufzuheben.

Da fiel ein Schatten auf den sonnenbeschienenen Weg. Als Gerda aufsah, stand Waldemar Andree vor ihr.

Sie fuhr mit einem leisen Schrei empor – sie machte keinen Versuch, zu sprechen, die Stimme würde ihr versagt haben. Aber ihre Augen sprachen – das konnte sie nicht verhindern.

„Nun?“ fragte Herr Grimm nach einer kleinen Weile, und seine Stimme schwankte. „Gelungen? Achte nicht auf mich, mein liebes Kind!“ fuhr er lachend fort, während ein feuchter Glanz in seine Augen trat, den er durch eine rasche Bewegung mit der Hand vergeblich zu verbergen suchte. „Ich bin vor Freude fast verrückt geworden!“

Andree nickte ihm zu.

„Wir haben Ihre Tochter erschreckt, lieber Freund, wir hätten es uns doch anders überlegen sollen! Er wollte Sie mit mir überraschen, Fräulein Gerda – und nun kommen Sie – setzen Sie sich – so!“

Gerda hatte sich inzwischen gefaßt, sie konnte ruhig sprechen und die üblichen Fragen nach dem Woher und Wohin an Andree richten.

„Ich komme aus Kairo!“ sagte dieser, und man glaubte ihm den Orient aufs Wort, so dunkelgebräunt sah er aus. „Ich habe lange, lange Zeit hindurch nichts thun können, bin auch nicht gesund gewesen – nun, das haben meine schriftlichen Berichte Ihrem Onkel erzählt – aber seit einiger Zeit habe ich wieder angefangen zu malen, und mir scheint, es geht wieder. Und Sie, Fräulein Gerda?“

„O, die!“ fiel Onkel Grimm ihm ins Wort und zwinkerte schelmisch mit den Augen. „Schöne Geschichten sind es, die sie anrichtet! Schickt die ehrenwertesten Freier heim –“

„Onkel! Um Gotteswillen!“

„Nun – ist’s nicht die Wahrheit? Und ist nicht Andree ein alter Freund, der die Wahrheit wissen muß? Ja, ja, sehen Sie sich nur dies wunderliche Mädel recht genau an, mein Lieber!“

Andree sah es sich in der That recht genau an, außerordentlich genau! Er war nicht sonderlich überrascht, sie so hübsch zu finden – er hatte in der letzten Zeit in Hamburg jedesmal bei ihrem Anblick im stillen gedacht, daß sie sich ungemein zu ihrem Vortheil entwickle – aber diesen Ausdruck in den Augen, diesen sehnsüchtigen träumerischen Blick ... nein, den konnte sie damals nicht gehabt haben, er hätte ihm auffallen müssen!

Er ließ sich aber nichts von seinem innern Erstaunen merken, sondern sprach sehr heiter, erkundigte sich nach seinem würdigen Freunde Hafis, dem „Zauberer“, und erfuhr, daß dieser, gleich Frau Müller, alt und bequem werde, dabei seien aber die beiden liebenswürdig und fügsam, so daß Gerda, die das uneingeschränkte Regiment im Hause führe, es leicht habe. Schließlich fragte er lachend: „Erinnern Sie sich noch, Fräulein Gerda, wie wir das Kaninchen jagten?“

„Ob ich mich erinnere!“ Sie ging auf seine Fröhlichkeit ein. „Wissen Sie, wie wir den Schrank umzingelt hatten und mit Onkels Stock hinunter fuhren, und Hafis beutegierig um den Aufenthaltsort des Kaninchens herumschlich?“

„Ganz recht! Und dann, wie ich Sie mit Dudu im Garten traf – was ist denn aus Dudu geworden?“

„Onkel Grimm hat ihm eine hübsche Stelle verschafft bei einem reichen, kinderlosen Ehepaar, das sehr gütig gegen ihn ist – Onkel hatte in seinem eigenen Haushalt keine Verwendung für ein Mohrchen. Dudu liebt mich noch immer und besucht uns von Zeit zu Zeit. Viel Deutsch hat er aber nicht dazugelernt!“

Herr Bernhard Grimm sah mit nachdenklichen Augen auf die beiden, die so munter miteinander plauderten.

„Wollen wir jetzt gehen?“ fragte er nach einer kleinen Weile. „Die Sonne brennt hier wirklich auffallend heiß.“

Gerda legte ihren Arm in den seinen, sie schlenderten langsam weiter.

„Und Du fragst gar nicht, wie es kam, daß ich Dich mit Andree überraschen konnte?“ sagte Grimm vorwurfsvoll. „Junge Frauenzimmerchen sind doch sonst neugierig!“

„Ich bin eben ein Ausnahme-Frauenzimmerchen,“ meinte Gerda lächelnd, „mir genügt es vorderhand, daß Herr Andree da ist. Aber, um Ihnen einen Gefallen zu thun, Onkel: wie kam es denn?“

„Nun also, Du kleiner Bösewicht: als Du gestern abend mit Stephanie Sommer – eine Hamburger Bekanntschaft, lieber Andree, die hierher nach Berlin übergesiedelt ist – im Deutschen Theater saßest, da überfiel mich dieser Mann im Centralhotel – das heißt, er hatte mir eine Karte geschrieben, ich war auf sein Kommen vorbereitet, und da dachte ich mir’s aus, Dich mit ihm zu überraschen!“

„Das ist Ihnen so außerordentlich gut gelungen, Onkel, daß ich fürchten muß, ich hab’ mich ganz dumm benommen.“

Andree sagte nichts dazu. Er sah in die tanzenden goldenen Lichter, die der Sonnenschein durch das reiche, bunte Herbstlaub warf, und lächelte still vor sich hin. Er war wortkarger und ernster geworden in diesen zweieinhalb Jahren, er hatte zuviel für sich gelebt und es verlernt, sich andern mitzutheilen.

Desto lebhafter war Gerda jetzt im Bestreben, ihr „dummes Benehmen“ bei der Ueberraschung wieder gut zu machen, sie erzählte angeregt von einer herrlichen Darstellung des „Prinzen von Homburg“, die gestern im Deutschen Theater gegeben worden sei, und fügte hinzu, daß Stephanie Sommer sie heute abend zu Kroll mitnehmen wolle.

„Schön!“ sagte Herr Grimm, ohne den mindesten Einspruch zu erheben. „Dann kommt Andree für den Abend zu mir, und wir können uns aussprechen!“

So geschah es denn auch. Gerda ging zu Kroll, und die beiden Freunde saßen bei einer Flasche Wein zusammen und sprachen sich aus.

„Wie ist Ihre Stimmung, Andree?“ fragte Grimm und legte seine Hand leicht auf das Knie des andern. „Sie haben mir nur äußerliche Thatsachen berichtet, und ich verdenke Ihnen das gar nicht. Jetzt aber – ich denke, Sie halten meiner Freundschaft für Sie diese vertrauliche Frage zu gute!“

„Natürlich thue ich das!“ entgegnete Andree ruhig. „Es hätte mich gewundert, wenn Sie mich dies nicht gefragt haben würden. – Zuerst war nichts mit mir anzufangen, ich war wie zerbrochen an Leib und Seele und hatte alles Zutrauen zu mir verloren – als Mensch, weil ich mich durch eine wunderschöne Form hatte betrügen lassen, ohne nach der Seele zu fragen, die darin wohnte – und als Künstler, weil ich die feste Ueberzeugung hatte, fortan nichts mehr schaffen zu können. So bin ich planlos herumgereist, fand aber keine Ruhe – auch in Rom nicht, an Werner Troosts Grab. Er kam mir sehr beneidenswerth vor, daß er da unten schlafen durfte, daß ihm Kummer und Enttäuschung erspart geblieben waren. Immer dachte ich freilich nicht so weich und elegisch: oft bin ich hart und verbittert gewesen, der Anblick der Menschen machte mich dann fast krank, sodaß ich wochenlang irgendwo hoch oben im Gebirge einsam saß, um nur kein fremdes Gesicht zu sehen, keine Stimme zu hören. Ich wurde auch körperlich krank – nun, das schrieb ich Ihnen ja – es war eine schwere Zeit, die Erinnerung kam immer wieder und quälte mich, so sehr ich auch dagegen ankämpfte.

Endlich trat eine Art von Krisis ein. Ich meinte, ein solches Leben nicht weiter tragen zu können, und aus Trotz, aus halber Verzweiflung fing ich wieder zu malen an. Ich saß damals hoch oben in Norwegen. Dort trafen mich Ihre Briefe – es war sehr gut, daß Sie mir von Stella berichteten. Sie hatten Furcht, wir könnten zufällig irgendwo zusammentreffen, das war unnütz, denn die Weltstädte und Luxusbäder, die sie liebt, hat mein Fuß nicht betreten; es war aber gut, daß ich von ihr erfuhr, ich wußte, es war die lautere Wahrheit, was Sie mir schrieben, und ich fing an, sie wunderbar gut zu ertragen – ich hatte Aehnliches vorausgesehen.

So ist’s allmählich, allmählich besser mit mir geworden – meine Arbeit hat mir geholfen. Freilich, eine ernste, ich möchte sagen, eine mühevolle Arbeit! Ich habe das Schöne oder Eigenartige, was die Natur mir bot, getreulich wiedergegeben, es waren zumeist dunkle, melancholische Vorwürfe, aber aus meiner Seele heraus hab’ ich nie Lust gespürt, etwas frei zu schaffen – niemals – bis – wunderbarerweise – heute!“

Herr Grimm unterbrach den Redenden mit keinem Wort, er sah ihn nur gespannt von der Seite an.

„Was dachten Sie sich eigentlich, als Sie diese Ueberraschung mit mir und Gerda in Scene setzten?“ fragte Andree plötzlich, anstatt seine Beichte fortzusetzen.

„Mein Gott“ – Grimm war ein wenig verlegen – „ich wollte sie erfreuen – wohlgemerkt, ‚sie‘ klein geschrieben! Ich wollte sehen, ob –“

„Ob was?“

„Ob ich richtig gerochen oder vielmehr richtig kombiniert hatte –“

„Und warum das?“

„Ich deutete es Ihnen ja schon im Thiergarten an – Gerda ist ein wunderliches Geschöpf, sie hat ein paar Anträge zurückgewiesen, die jedes andere Mädel an ihrer Stelle mit Freuden angenommen haben würde.“

„Und Sie schließen daraus?“

Grimm schüttelte ärgerlich den Kopf.

„Was ich daraus schließe, mein Lieber, das geht Sie ganz und gar nichts an!“

„Nicht?“ fragte Andree leise.

Herr Grimm fuhr herum und starrte seinem Gast eine Weile in die Augen. Dann ließ er sich mit einem Seufzer in seinen Sessel zurücksinken.

Andree lächelte ein wenig, aber seine Augen blickten sehr ernst dazu.

„Zeit lassen!“ sagte er dann gedankenvoll vor sich hin, mehr zu sich selbst, als zu seinem Freunde.

00000000000000

Sie blieben dann noch mehrere Tage in Berlin zusammen – Andree war unzertrennlich von Herrn Grimm und seiner Pflegetochter. Er that nicht das, was man „den Hof machen“ nennt. Er schmachtete Gerda nicht mit Blicken an, schickte ihr keine Blumen und machte keinen Versuch, mit ihr Vielliebchen zu essen. Aber es war eine Veränderung in seinem Wesen, und Gerda merkte dies sofort. Ihn hatte es mit tiefer Rührung erfüllt, als Herr Grimm ihm angedeutet hatte, was er freilich selbst schon zu ahnen meinte: die Thatsache, daß dies junge, reine und gute Wesen eine tiefere Neigung für ihn hege. Andree hatte ein gutes Gedächtniß – jetzt besann er sich, und ihm fiel manches ein, was dafür sprach und ihn mit einer Art staunender Freude erfüllte. Und daß ihm gerade bei Gerdas Anblick zum ersten Mal wieder seit langer Zeit eine eigene künstlerische Idee kam – freilich eine, die er schon in Rom gehabt, die ihm inzwischen immer wieder aufgetaucht war – das hielt er für das beste Zeichen, und er fing an, zu hoffen, daß es, außer seiner Kunst, doch noch ein volles menschlich warmes Glück für ihn geben könne.

Er wollte aber diesem Glück Zeit lassen. langsam zu reifen, er wollte nichts überhasten – Schritt für Schritt wünschte er seinem Ziel nachzugehen.

Er hatte sich schon alles überlegt. Um Weihnachten, wenn die Prinzessin Riantzew, wie bestimmt war, in Paris sein würde – man sprach davon, daß von dort aus die ersten Schritte zur Lösung ihrer Ehe eingeleitet werden sollten! – dann wollte Andree nach Hamburg herüberkommen und im Hause seines Freundes Grimm um Gerda werben; vorsichtig und bedächtig wollte er zu Werke gehen. –

So kam der Tag heran, der Herrn Grimm und seine Pflegetochter wieder nach Hamburg zurückführen sollte. Andree wollte noch ein paar Tage in Berlin bleiben, da der kleine Hartwich sich dort ein Stelldichein mit ihm geben sollte.

Diesmal hat Andree ein herrliches Bukett für Gerda bestellt – – das ist er ihr schuldig, es ist ja der Abschied!

Sie hält die Blumen in der Hand, als sie sich im Wartesaal des Hamburger Bahnhofs treffen; ihr junges Antlitz ist heute nicht ganz so rosig und blühend wie sonst, aber die schönen Augen leuchten geheimnißvoller denn je. Andree kann den Blick nicht von ihr lassen, er verfolgt jede Bewegung der anmuthigen Gestalt und kann es nicht glauben, daß er sie jetzt nicht mehr jeden Tag sehen soll.

Herr Grimm, dem Andree etwas von seinem Plan zu Weihnachten verrathen hat, blickt auf die beiden und unterdrückt ein Lächeln. Er mahnt sehr eifrig zum Einsteigen, obgleich es noch viel zu früh ist.

Wie er aber mit Gerda allein im Wagen sitzt, erblickt er mit einem Mal draußen auf dem Perron einen ihm wohlbekannten Schiffsreeder, denselben, der ihm einst Hafis geschenkt hat – springt mit der Behendigkeit eines Jünglings wieder aus dem Wagen, windet sich durch das Gedränge und klopft seinem Bekannten auf die Schulter, um sich dann in ein lebhaftes Gespräch mit ihm zu vertiefen.

Andree steht inzwischen auf dem Trittbrett und hat die Hand auf die halboffene Thür gelegt, Gerdas Gesicht ist ihm sehr nahe. Sie reden beide kein Wort. Sie hat seine Blumen zu ihrem Gesicht emporgehoben und athmet den Duft der Rosen ein. Er kann sie aber auf diese Weise nicht gut sehen, und darum nimmt er ihr ohne weiteres mit einer ungeduldigen Gebärde die Blumen aus der Hand und legt sie auf den Rücksitz.

Gerda schüttelt den Kopf und wendet sich ab – ihr sind die Thränen nahe, und das soll er doch nicht sehen.

„Mignon!“" sagt er ganz leise und nimmt ihre Rechte in seine beiden Hände. Und plötzlich ganz unvermittelt und ohne jedes vorbereitende Wort:

„Gerda – haben Sie mich lieb?“

Antworten kann sie jetzt nicht – das Glück macht sie stumm – aber er muß sie auch ohne das verstanden haben, denn er steigt rasch zu ihr in den Wagen, nimmt ihr Gesichtchen in seine beiden Hände und sieht ihr lange in die Augen. Dann zieht er sie an sein Herz, und so, glückselige Thränen vergießend, sagt Gerda es ihm ganz scheu und leise, daß sie ihn geliebt habe all diese Jahre hindurch.

Als Herr Grimm endlich auf eine dringende Mahnung des Schaffners hin einsteigt, findet er zu seinem großen Erstaunen noch einen dritten Reisenden darin - einen Reisenden, der gar keine Zeit für ihn hat und selbstsüchtig, wie alle glücklich Liebenden, ganz in seine eigenen Angelegenheiten vertieft ist. Aber Gerda macht eine Hand frei und reicht sie ihm: „Lieber, lieber Onkel Grimm!“

„Mein gutes Kind!“ erwidert er gerührt – dann, seine Weichheit rasch abschüttelnd: „Mir scheint, ich bin hier sehr überflüssig, aber, Kinder, daraus wird nichts! Mich werdet Ihr nicht los! Und wenn Ihr nicht in Hamburg leben wollt – ich ziehe mit Euch!“

Der Schaffner schlägt dröhnend die Wagenthür zu, und der Zug braust in den dämmernden Herbstabend hinein. Er führt drei Glückliche mit sich.