Verschiedene: Die Gartenlaube (1891) | |
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Kunst – das ist eine strenge Herrscherin! Wie Sie angegriffen aussehen! Warten Sie, ich hole Ihnen ein Glas Wein – so dürfen Sie nicht fort. Auch Stella muß trinken – es ist unverantwortlich von mir, nicht früher daran gedacht zu haben, aber ich glaubte nicht, daß die Sitzung so lange dauern würde.“
Er kramte geschäftig aus einem geschnitzten Schränkchen eine Flasche Wein hervor und nahm die schönsten Trinkgefäße, die er finden konnte, um aus ihnen den Trank zu kredenzen.
„Champagner ist es nicht!“ sagte er lächelnd. „Ich halte mir keinen; Stella trinkt ja Sekt am liebsten – aber zu verachten ist dieser spanische Wein auch nicht!“
Nein – Frau Molly mußte das zugeben. Andree klang mit seinem Glase an das Stellas.
„Auf die ‚Eos‘!“ sagten sie beide zugleich. Es hätte auffallen können, daß es nicht ihre junge Liebe war, auf die sie tranken.
Beim Abschied wollte Andree gern recht zärtlich sein – allein Stella, die nun auch zu fühlen begann, wie erschöpft sie eigentlich sei, ließ es gar nicht dazu kommen. Sie winkte mit den Augen nach ihrer Mutter hin, wie wenn sie diese nicht gern zum Zeugen einer bräutlichen Scene haben wolle. Ob Andree sie übermorgen auf einem Spazierritt wie zufällig treffen wolle? Freilich seien noch ein paar Herren ihrer Bekanntschaft zugegen, auch eine Dame und die Reitknechte – aber anders gehe es doch nun einmal nicht! Sie wolle sehen, ob ihre „Primrose“ sie noch kenne und sich ihr nach der langen Trennung gutwillig in die Hand füge. Ob Andree dabei sei? Selbstverständlich nur, wenn sie schönes Wetter hätten!
Was blieb ihm übrig, wenn er sie überhaupt sehen und sprechen wollte, als zuzusagen? Sie hastete nur, fortzukommen, streifte flüchtig mit den Lippen seine Wange und zog ihm ihre Hand fort, die er gar nicht loslassen wollte. Er stand noch und sah ihnen nach – Stella ging mit ihrem leichten, elastischen Schritt über die Straße. Zuvor hatte sie unten im Hausflur herzhaft gegähnt und unwillig gesagt:
„Bin ich aber müde! Wie zerschlagen am ganzen Körper! Wir nehmen den nächsten Wagen, den wir finden!“ – Nach einer kleinen Weile setzte sie dann nachdenklich hinzu: „Die ‚Eos‘ wird aber schön!“ – –
Herr Grimm ging mit Gerda über den Neuen Jungfernstieg.
Es war in den letzten Tagen viel Schnee gefallen –
weich und glatt wie weißer Sammet lag er überall – dazu
eine freundliche Wintersonne und ein lichtblauer Himmel! Man
war im Dezember, nahe an Weihnachten.
Gerda ging schweigsam und tief in Gedanken an Onkel Grimms Seite. Sie hatte es nicht acht, daß der Blick manches Vorübergehenden wohlgefällig ihre schlanke Figur in dem hübschen dunkelgrünen, mit Pelz verbrämten Wintermantel streifte. Sie sah viel wohler aus als früher, nicht mehr bleich und blutlos. Der Reitunterricht im Sommer, die regelmäßige Bewegung im Freien, die zweckmäßige Ernährung hatten ihr gut gethan – ihr junges Gesicht war frisch geröthet, der Gang leicht, die Haltung straff – sie wurde wirklich hübsch. In dem Punkt konnte Onkel Grimm mit ihr zufrieden sein!
Nur daß sie ihm zu ernst war für ihre Jugend! Immer seltener brach der kindliche Uebermuth, die tolle Lachlust früherer Tage bei ihr durch. Sie lebte nicht mehr unter einem Druck, sie brauchte sich vor niemand mehr zu ängstigen, bekam alle schönen Sachen, nach denen ihr Sinn stand, und hatte einen liebevollen Beschützer, dem auch sie von Herzen gut war. Sie sah den ungeheuren Vortheil dieses Wechsels auch ein, sie war Herrn Grimm wirklich dankbar und versicherte ihm immer wieder, es gehe ihr viel zu gut und sie verdiene ein so herrliches Leben gar nicht. Und trotzdem schien es, als ob das „herrliche Leben“ all die übersprudelnde Kinderfröhlichkeit, die unter den trübseligen Verhältnissen des elterlichen Hauses doch stets wieder zum Vorschein gekommen war, für alle Zeit in ihr erstickt habe.
Es war nichts gegen Gerda zu sagen, sie war immer freundlich und aufmerksam, sie lernte gut und befleißigte sich großer Ordnung und Pünktlichkeit – aber eben das war’s: Herr Grimm ärgerte sich, daß sich nichts gegen sie sagen ließ. Möchte sie doch in Gottes Namen einmal über die Schnur schlagen, ihm Gelegenheit geben, sie zu schelten. Er lauerte förmlich darauf – umsonst! Sie blieb tadellos. Himmel, sie war doch noch ein Kind – –
Oder war sie kein Kind mehr? Der Pflegevater schaute sie sich manchmal darauf hin scharf an. Sie sah in der That aus wie ein erwachsenes Mädchen und benahm sich auch wie ein solches. Früher hatte er oft gesagt: „Sei doch nicht so kindisch, Du bist ja schon ein großes Fräulein!“ und nun sie ihm den Willen that, war es ihm wieder nicht recht.
Ins „Vorderhaus“, wie Gerda die Wohnung ihrer Eltern nannte, kamen sie selten. Wolfgang dagegen war oft oben bei Herrn Grimm mit seinem Freund, in dessen Gesellschaft er ganz wacker lernte und vorwärts kam. Die Einladungen, die von Herrn und Frau Senator Brühl an den „Hausfreund“ und Gerda ergingen, wurden also meistens zurückgewiesen. Bald hatte Gerda zuviel zu lernen, bald erwartete Herr Grimm Besuch, oder er ging mit „seiner Tochter“ ins Theater, ein ganz neues Vergnügen für sie, das sie sehr liebte – kurz, die beiden wurden in der Brühlschen Familie fast nie sichtbar.
Und wenn es doch einmal geschah, was bekamen sie dann zu sehen? Ein wunderschönes, von jedermann verwöhntes und angebetetes Mädchen – ein „Götzenbild“, das sich seiner Macht von Tag zu Tag mehr bewußt wurde, dem alle, die eigenen Eltern voran, huldigten – und einen heimlich Verlobten, der sich in Qual und Eifersucht verzehrte, dessen Stirn immer finsterer, dessen Lächeln immer seltener wurde. Solange die „Eos“ unvollendet war und Stella, durch die Sitzungen ihm näher gebracht, ihn noch durch ein paar freundliche Worte, ein Lächeln, eine Liebkosung beschwichtigen und einigermaßen für alle Pein, die er litt, entschädigen konnte, ging es noch – jetzt aber war das Gemälde fertig, in wenigen Wochen sollte die Ausstellung eröffnet werden, die heimlich Verlobten sahen einander immer seltener und nie mehr allein.
Der Winter mit all seinen Festlichkeiten war da, und die schöne Stella Brühl strahlte natürlich als Ballkönigin, als unbestrittener Stern ersten Ranges. Keine Premiere in den Theatern ohne sie, keine lebenden Bilder, kein Kostümbazar zu wohlthätigem Zwecke, kein Maskenball, kein großartiger Eislauf denkbar, ohne daß sie die erste Rolle dabei spielte! Was wollte denn Andree? Es war ja so natürlich! Es machte ihr doch Spaß, warum sollte sie es also lassen? Er konnte ja auch kommen, niemand verwehrte es ihm, er wurde fast überall eingeladen – wenn er nicht wollte, wenn er behauptete, es nicht ertragen zu können, sie so gefeiert zu sehen und als ihr Verlobter, der das größte Recht auf sie habe, dabeizustehen, ohne daß jemand um dies sein Recht wisse … nun gut, dann war das eben seine Sache, und sie selbst ging allein! –
Herr Grimm hätte lange nicht so klug zu sein brauchen, wie er es thatsächlich war, um die Lage der Dinge zu durchschauen. So selten er zu Brühls kam – er wußte genau, wie es dort zuging, wußte, wie sehr Andree litt, und wie bitterwenig Stella sich darum bekümmerte. Es war eine schwüle Luft in dem Hause, und lange konnte es nicht mehr dauern, dann mußte das Gewitter losbrechen. War die Ausstellung erst da, dann würde Andree auf seinem Recht bestehen – und was dann?
Grimm hatte es mit Aufbietung aller seiner Diplomatie bisher vermieden und wollte es auch weiter vermeiden, mit Andree in ein vertrauliches Gespräch zu kommen. Wozu sollte das führen? Die Wahrheit, wie er sie sah, konnte er dem Maler nicht sagen, und mit Redensarten würde dieser sich nicht abfertigen lassen, dazu standen sie einander zu freundschaftlich nahe – auch verstand Herr Grimm es ganz und gar nicht, Redensarten zu machen.
Wenn also Andree einmal hinaufkam in die gemüthliche Wohnung des Freundes, dann holte dieser sofort Gerda herbei, mochte sie nun wollen oder nicht, und das Gespräch drehte sich immer um ganz unpersönliche Dinge: Kunst und Wissenschaft – Gerdas Lehrstunden – ihre Lieblingsbeschäftigungen – die neueste Oper – den letzten Roman – Andrees Bilder … das waren die Stoffe, die hier verhandelt wurden, aber zu einer vertraulichen Aussprache kam es nie, und eben das wollte Herr Grimm. Er athmete, so lieb er Andree hatte, jedesmal erleichtert auf, sobald dessen hohe Gestalt seine Behausung verließ, und war froh, daß die gefährliche Klippe, vor der ihm
Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 862. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_862.jpg&oldid=- (Version vom 24.11.2023)