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Annemarie Schwarzenbach - Der Falkenkäfig

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Annemarie Schwarzenbach

Der Falkenkäfig
Novellen

Diese Sammlung enthielt ursprünglich 17 Novellen,


davon sind 5 verloren gegangen. 1934/1935
Eine Frühlingserscheinung (fehlt) - Der Abschied -
Ein trauriger Ort (fehlt) - Verklärtes Europa - In
Eskischehir (fehlt) - Bei diesem Regen - Reise nach
Baalbek (fehlt) - Das gelobte Land - Beni Zainab - Die
Beduinen (fehlt) - Eine Bekanntmachung - Drei Tage
Morgendämmerung - Fast dasselbe Leiden - Sehr viel
Geduld - Eine Frau allein - Vans Verlobung (Bl.7
fehlt) - Auf der Heimreise
Quelle: Inventar ihres Nachlasses im Schweizerischen
Literaturarchiv
Bibliothek von ngiyaw eBooks

Illustration: Photo von Annemarie Schwarzenbach


Der Abschied

Poiret und der Algerier standen sich gegenüber.


»Wohin?« fragte Poiret. Der andere antwortete nicht.
Poiret war nicht sein Vorgesetzter, wenn er es sich
auch anmasste, nur weil er Europäer war und zu den
Fliegern gehörte, der feinsten Waffe. »Sie handeln
unkameradschaftlich«, sagte Poiret gereizt, »die
Garnison von Aleppo feiert Weihnachten. Es ist noch
nicht Mitternacht. Soviel ich weiss, müssen Sie erst
morgen um fünf Uhr kontrollieren, ob Ihre Neger die
Pferde füttern. Das hat Zeit!«
»Das hat Zeit«, sagte gelassen der Algerier. Poiret
betrachtete ihn, seine hohe, hellbraune Stirn unter dem
helleren, hochgeschlungenen Turban, die blauen
Augen — die schönsten Augen von Aleppo, wurden
sie genannt. Ein schöner Mensch, wusste Poiret, ein
strahlender, blonder Afrikaner, der manchmal lustig
ist, immer von hinreissender Heiterkeit, und sich
niemals zum Zorn reizen liess. Er selbst, Poiret, hatte
eine kalkgraue Haut, das kam vom Trinken, und er
war jähzornig. Er hasste die Afrikaner, diesen mehr als
alle anderen. Er hasste ihn, weil man den Algerier zum
Offizier gemacht hatte. Und wegen seiner offenbaren,
strahlenden Schönheit. Die schönsten Augen von
Aleppo . . .
»Ich bin Mohammedaner«, sagte der junge Mensch
mit dem Turban, »bei uns feiert man andere Feste.«
»Wie sie eben fallen«, sagte Poiret schnell und
böse, »hüten Sie sich mit Ihren Festen.« Es war eine
Drohung, und Poiret drehte sich zornig um, er hatte
zuviel gesagt.
Der Algerier sah ihm nach. Dieser Hochmut, dachte
er, dieser unwürdige, dumme Hochmut! Er liebte
Algier; Frankreich, in dessen Dienst er stand, kannte
er nicht. Er wusste nicht, was Patriotismus war, und er
konnte nicht verstehen, dass Liebe, die Liebe zum
eigenen Land, als Hochmut auftreten sollte. Dass man
ihm Verachtung zeigte, verstand er nicht: Diente das
der Grösse Frankreichs?
Er warf sein helles Cape um die Schultern und ging.
Die Nacht war kalt. Feuer brannten an den
Strassenecken, daran wärmten sich die
Droschkenkutscher, die Pferde standen in weissen
Dampf gehüllt. Die Zitadelle, mitten in der Stadt,
schickte des Weihnachtsfestes wegen einen Kranz von
Lichtern aus, wie Sterne standen und funkelten sie im
Himmel. Noch nicht Mitternacht, dachte der Algerier,
ich hätte mir Zeit lassen können. Ich hätte Poiret nicht
zu reizen brauchen. Er lief dennoch schnell, wie es
seine Gewohnheit war. Die Luft kühlte sein Gesicht,
er atmete tief, noch hatte er Rauch und den
Pomadengeruch von den Köpfen seiner Kameraden,
die verbrauchte Dumpfheit des Offizierskasinos in
seiner Erinnerung. Er schüttelte sich, lief, lachte
plötzlich vor sich hin. Was geht es mich an, dachte er,
was gehen mich die französischen Herren an, was
dieser arme, vom Jähzorn geplagte Poiret! Er dachte
daran, dass er bald versetzt werden würde, jeden Tag
konnte ihn der Befehl erreichen. Er würde Aleppo
verlassen, vielleicht schickte man ihn zurück nach
Algier, vielleicht in die Wüste. Auch die Wüste liebe
ich, dachte er, ganz erfüllt von jähem Glücksgefühl.
Ich werde reiten, ich werde ein Krieger sein, ich werde
die grosse Nachtluft der weissen Wüste atmen. Er
vergass, dass er sie schon einatmete, so wie sie über
die kahlen Ebenen Nordsyriens hier hereingeweht
kam, in die tausend Gassen der Stadt Aleppo. Oben,
auf der Zitadelle, stand ein Fremdenlegionär und hatte
Heimweh . . .
Mein helles Cape! dachte der Algerier, es ist nicht
sehr schwer, mich zu verfolgen — Er bog von der
dürftig erleuchteten Hauptstrasse in Gassen ab, wo
fast völlige Dunkelheit herrschte. Sein Cape und der
Turban über seiner Stirn leuchteten wie im Mondlicht.
Er ging jetzt langsamer, einen komplizierten Weg. Die
letzte Gasse war lang, endete an einem
Droschkenhalteplatz, er sah das Feuer und ging darauf
zu. Plötzlich, ohne auch nur den Schritt verlangsamt
zu haben, war er in einer dunklen Türöffnung
verschwunden. Er tastete sich eine steile Treppe
hinauf, es roch nach Kellerfeuchtigkeit, wie durch
einen Schacht drang ein kühler Luftzug. Der Algerier
befand sich in einem der alten türkischen Häuser von
Aleppo, die sich engbrüstig, mit hölzernen
Fenstergittern und Schnitzwerk an den Fassaden über
die Gassen neigen. Im zweiten Stockwerk brannte
Licht. Der Algerier klopfte, wartete, an die Wand
gelehnt, bis die Tür einen Spalt weit geöffnet wurde.
Die alte Frau erkannte ihn, liess ihn ein. Er stand im
schlecht gelüfteten Vorraum, hörte, wie auf beiden
Seiten Türen geöffnet wurden, sah Mädchen mit
grellfarbigen Tüchern dürftig verhüllt, dann schlossen
sich die Türen wieder. »Wo ist Valentine?« fragte er
laut. Er versuchte, damit die Beklemmung zu
verscheuchen, die doch nur verursacht war von der zu
süssen, zu verbrauchten Luft, von dem verschleierten
Licht der Lampe, von dem schwankenden Bild der
bunten Mädchen. »Wo ist Valentine?« wiederholte er.
Er hörte zuerst nichts, dann ein Schlurfen im Korridor
und die Stimme der Alten: »Sie hätten früher kommen
sollen. Gedulden Sie sich ein bisschen.«
»Das ist ja neu«, sagte er gereizt, »dass Valentine
mich warten lässt.« Für sich dachte er: Es ist
Weihnachtsabend, die Leute wollen sich amüsieren.
Ich, ich bin Mohammedaner, mich geht das gar nichts
an. Aber Valentine geht mich etwas an. Und
ausserdem ist es vielleicht der Abschied. Während er
auf der schmalen Bank wartend sass, dachte er nicht
an Valentine, sondern an die Wüstennächte, die ihn
erwarteten, nach diesem Abschied . . .
Er schreckte auf. Die Tür des »Bureaus« war
geöffnet worden, Etienne lief sonderbar hastig durch
den Vorraum, man hörte ihn nach der Alten schreien.
Ihm folgte Brandgeruch, und eine gespenstische
Gestalt, schwarze Seide, durchbrochene Spitzen vor
der Brust, ein Gesicht, grau gefleckt vor Angst, grau
wie die Schminke unter den von Entsetzen leeren
Augen. »Madame Anaïs!« rief der Algerier. Wo ist
Valentine, wo ist Valentine, dachte er, als er schon
wusste, dass Feuer ausgebrochen war, dass die alte
Türkenfassade vor Hitze glühte, dass ein weisser
Vorhang als brennende Fahne über der Gasse wehte.
Er stand noch unschlüssig da, sah, wie alle Türen
plötzlich offen waren, Männer zuerst hinausstürzten,
fast alle in Uniform, fast alle Offiziere von der
Garnison, vielleicht Flieger? Hinter ihnen huschten
die Mädchen hinaus, verstört, sonderbar leise, und
zuletzt Madame Anaïs. Er folgte langsam. »Es ist ja
gar nicht so schlimm«, murmelte er, »das passiert
doch in Aleppo fast alle Tage, wenn auch nicht in
einem solchen Haus.« Dann befand er sich in der
Gasse, die Offiziere waren verschwunden, aber
Kutscher kamen herbeigeeilt, auch Polizei, man lief
die Treppe wieder hinauf, oben war die Vorhang-
Fahne nur noch ein Fetzen, und während von der
glühendheissen Holzfassade Funken in die Gasse
fielen, ein Schlauch dagegen seinen Wasserstrahl
emporsandte, brannte oben, im zweiten Stockwerk,
das Zimmer der Madame Anaïs aus, und sonst nichts.
Aufruhr herrschte nur noch in der Gasse, wo zitternd
vor Schrecken und Kälte die Mädchen sich
aneinanderdrängten, barfüssig, im Hemd die einen,
bunt gekleidet die anderen, alle jedoch furchtbar
entblösst, und schon flogen Witze hin und her, von
den Araberburschen zu den Kutschern, und Madame
Anaïs, eben noch ganz verstört, richtete sich auf, trieb
mit einer Handbewegung den Schwarm ihrer
Schützlinge in die dunkel wartende Türöffnung.
Einen Augenblick später folgte ihnen der Algerier
die Treppe hinauf. Er dachte: Ich hätte Valentine mein
Cape umhängen sollen, sicher hat sie sehr kalt gehabt.
Aber ich habe sie kaum erkannt, sie war so klein unter
all den Bunten. Und überdies —, er schüttelte ein
wenig den Kopf, das hätte ich mir, als französischer
Offizier, doch wohl nicht leisten können . . . Im
Vorraum war es still, nicht einmal die alte Frau war
da. Man hörte die Mädchen in den Zimmern flüstern,
die Türen waren so dünn, vielleicht nur angelehnt? Er
klopfte und trat in das »Bureau« ein. Dort sass, am
Tisch unter der trüben Lampe, Etienne, den Kopf in
die Hände gestützt. Auf dem Sofa lag ausgestreckt
und mit geschlossenen Augen Madame Anaïs. Wie
verwüstet war sie jetzt, die Spitzen vor der Brust
verschoben, man sah einen müden Hals, darüber viel
Schminke, der Mund zum Stöhnen geöffnet. Aber sie
schlief . . .
»Monsieur Etienne«, sagte der Algerier, »das war
ein falscher Alarm. Das kommt doch in Aleppo alle
Tage vor.«
Etienne nickte. »Aber Madame Anaïs«, sagte er,
»ich glaube, dass sie sehr krank ist. Sie ist auf ihrem
Bett eingeschlafen, mit der Zigarette in der Hand. Ich
glaube, dass sie bald sterben wird.«
»Sind Sie schon lange mit ihr zusammen?« fragte
der Algerier.
Etienne überhörte es, halblaut fuhr er fort: »Ich
werde dann nach Paris gehen. Ich habe genug von
diesem Land.« Man hörte die Schlafende stöhnen, als
atme sie noch Rauch und Brandgeruch ein. »Kennen
Sie Paris?« fragte Etienne. »Wissen Sie, was man dort
anfangen kann?«
Der Offizier zuckte die Achseln. »Dort wird es auch
nicht leicht sein«, sagte er. Sie sassen eine Weile
schweigend, der Algerier betrachtete Madames
verwüstetes Gesicht. Draussen vernahm man die
Stimmen neuer Gäste, alles nahm seinen gewohnten
Lauf. Ein Mädchen trat ohne anzuklopfen herein, legte
Geld vor Etienne auf den Tisch, verschwand wieder.
»Es wird eine gute Nacht«, sagte Etienne, »dieses
verdammte Feuer hat Reklame gemacht.«
»Ja«, sagte der Algerier, »ich wusste gleich, dass es
nicht so schlimm sein würde.«
Etienne: »Teuer genug, ein ganzes Zimmer leer
gebrannt, sie hätte es doch noch eine Weile
gebraucht.«
Der Algerier wandte unwillkürlich wieder den Kopf
nach der Schlafenden, da sah er, dass sie die Augen
geöffnet hielt.
»Etienne«, sagte sie, »warum bieten Sie dem
Leutnant nichts zu trinken an?« Etienne erhob sich
wortlos. »Du kannst auch Valentine rufen«, setzte sie
hinzu, und, als er die Tür hinter sich geschlossen
hatte, zu dem Offizier: »Deshalb sind Sie doch
hergekommen, wegen Valentine? Ach, die Mädchen
werden schrecklich aufgeregt sein, nach diesem
Alarm.«
»Und Sie, Madame, fühlen Sie sich etwas besser?«
»Es ist nichts«, sagte sie, »ich habe vor einiger Zeit
einen Arzt rufen lassen.« Sie sank zurück, ihre Augen
füllten sich mit Angst.
Der Offizier fragte: »Was hat der Arzt gesagt?«
Sie stöhnte, sah ihn an. »Es ist nichts«, wiederholte
sie, »man kann gar nichts dagegen machen. Ich bin
schon seit vielen, vielen Jahren krank.« Sie flüsterte
es, um die Gefahr zu beschwören: »Aber Etienne
glaubt, dass ich bald sterben werde!«
Der Algerier konnte auf einmal den Anblick ihrer
Hoffnungslosigkeit nicht mehr ertragen. Plötzlich kam
er sich lächerlich vor, in seiner hellen Uniform, in
diesem Zimmer eines Zuhälters, zusammen mit der
sterbenden Madame Anaïs. Er sprang auf.
»Ich werde Ihnen einen anderen Arzt schicken«,
sagte er, »und wegen Etienne brauchen Sie sich doch
nicht zu fürchten. Was versteht er denn davon!«
Aufgebracht ging er bis zum Tisch, wo das Geld lag,
bis zum verhangenen Fenster, und sehnte sich fort,
hinaus, in die Strassen, wo Feuer brannten und Wind
wehte, in seine Pferdeställe. Valentine, dachte er, ich
bin doch gekommen, um von Valentine Abschied zu
nehmen!
Hinter ihm flüsterte Madame Anaïs: »Seien Sie
nicht ungeduldig, Valentine wird schon kommen. —
Oh«, stöhnte sie, »es ist ja nur wegen der Schmerzen.
Werden Sie mir wirklich einen Arzt schicken?«
Er war schon an der Tür, da kam Etienne zurück.
»Die Fliegeroffiziere sind gekommen«, sagte er und
sah den Algerier nicht an. Grob fuhr er fort: »Mussten
Sie, ein Afrikaner, sich denn gerade den
Weihnachtsabend aussuchen? Wussten Sie nicht, dass
diese Herren es nicht erlauben, dass wir hier Afrikaner
haben?«
»Wo ist Valentine?« fragte der junge Algerier, von
rasender Ungeduld ergriffen und bereit, alle
Beleidigungen zu überhören.
Vom Sofa her sagte Madame Anaïs: »Bring den
Herrn Leutnant sofort in Valentines Zimmer. Lösch
das Licht im Vorraum aus, sie erkennen ihn dann
nicht.« Und zu dem Algerier: »Aber bleiben Sie nicht
lange, es gibt sonst einen Skandal.«
»Natürlich setzt es einen Skandal ab«, murmelte
Etienne, aber er gehorchte.
Der Junge stand endlich Valentine gegenüber. Sie
war vom Bett aufgesprungen. »Mon Dieu«, sagte sie,
noch blass vor Schrecken: »Mein Gott, du bist es!
Was für eine Nacht!« Sie war nicht geschminkt, trug
auch nur das graue Kittelkleidchen, in welchem er sie
zum ersten Mal gesehen hatte, damals, als sie »frei«
hatte. »Also«, sagte sie, »es ist nicht genug mit der
Feuersbrunst und dem Weihnachtsabend und den
Fliegern. Du musst unbedingt auch noch kommen.«
»Ja«, sagte er, »ich hatte es dir doch versprochen!«
Sie ging zu dem niedrigen Tischchen neben der
verhüllten Lampe, nahm Zigaretten, bot ihm eine an,
liess sich Feuer geben. »Das hat mir noch gefehlt«,
sagte sie, »und draussen sitzt dein Freund Poiret und
wird mich vermutlich nachher umbringen. Er wird die
Tür eintreten.«
»Ich bin ja da«, sagte der Junge, »vor mir hat er
Angst.«
»Aber du bist ein Afrikaner!«
»Was bist du, Valentine?«
Sie sah zu dem Bild Valentinos auf,
Tscherkessenmütze und blitzende Zähne. »Ich«, sagte
sie, »ich bin zwanzig Jahre alt. Ich bin Griechin. Ich
gleiche Valentino.« Sie lächelte, als sie das Bild ihres
Namensbruders betrachtete. »Aber du bist schöner als
er«, fügte sie hinzu.
»Ausserdem ist er schon lange tot«, der Afrikaner
lächelte.
»Weisst du das genau? Werden wir beide noch sehr
lange leben?«
»Du, Valentine, bist doch erst zwanzig Jahre alt!«
»Wir, wir beide!«
»Ich bin Soldat«, sagte er schroff, »davon verstehst
du nichts.« Sie verstummte. Er trat plötzlich zu ihr,
sah ihr in das blasse, etwas zu weiche Gesicht.
»Valentine«, sagte er, »du weisst doch, dass ich fort
muss.«
»Wegen Poiret? Ja, du hast recht.« Man hörte
draussen eine Männerstimme rufen. »Er ruft schon
nach mir«, sagte Valentine, sie rührte sich nicht.
Der Algerier: »Aber Valentine, das ist es doch nicht.
Ich muss fort. Dies ist mein letzter Abend. Vielleicht«,
fügte er leiser hinzu. Das Mädchen hob plötzlich die
Arme, bis zu seinen Schultern, er ergriff sie, so
standen sie schweigend, sahen sich suchend ins
Gesicht, und ihre Blicke, die nicht voneinander
weichen konnten, trennten ihre Umarmung.
»Konntest du mir das nicht früher sagen?« fragte
sie. »Ach ihr Männer, ihr Männer . . . Warum bist du
heute nicht früher gekommen? Ganz früh, als noch
niemand da war? Ach, ich hätte dich bei mir behalten,
ich hätte mich schon für dich frei gemacht!«
Er neigte seine helle Stirn ein wenig. »Aber
Valentine«, sagte er, »am Weihnachtsabend — und
Poiret und all die anderen Männer vor der Tür!«
»Ich hätte mich schon für dich frei gemacht!«
wiederholte sie, jetzt das Gesicht an seinem Hals, ihr
kleines Kinn an seinen Hals gepresst.
Draussen wurde mit Stiefeln gepoltert, an die Tür
gepoltert, eine dünne, schlecht verschlossene Tür,
Männerstimmen riefen: »Valentine! Aufmachen,
Valentine!«
Sie erstarrte, der Algerier hielt sie fest, und ganz
starr flüsterte sie: »Die da draussen, das ist nur Beruf,
verstehst du, wenn ich jetzt aufmachen muss, weil sie
sonst die Tür eintreten.«
»Valentine«, sagte er, »sie haben alle Angst vor mir.
Sie flüsterte: »Aber mit dir war es anders, dich
liebte ich —« und liess ihn los. Draussen schwollen
Stimmen und Gepolter zum Tumult an. Das Mädchen
liess die Tür nicht aus den Augen. »Höre«, sagte sie,
»ich werde allein aufmachen, und du —«
Er stand hinter ihr, als sie die Tür öffnete. Sie
standen davor, Kopf an Kopf, unter ihnen Poirets
graues, wütendes Gesicht. Ehe sie sich’s versahen,
bückte sich der Algerier, schoss zwischen ihnen
hindurch, war schon auf der Treppe. Er stürzte beinahe
die hohen Stufen hinunter, dem Ausgang zu, hinter
ihm hörte er sie den dunklen Schacht hinabpoltern, er
war auf der Gasse, lief, und im Laufen lachte er. Alle
betrunken, dachte er, die ganze Bande. Er lief über den
Platz, wo die Droschkenkutscher am Feuer sassen, lief
durch eine andere Gasse, parallel zur vorigen, zurück,
hörte drüben seine Verfolger, lachte, atemlos. Dann
wurde es still. Er erreichte die grosse Strasse, die zur
Zitadelle führte, und begann, langsamer zu gehen.
Keine Lichter mehr, weiss hob sich der
Morgenhimmel. Ich habe mein Cape vergessen,
durchfuhr es ihn, sie werden es bei ihr finden —, und
bemerkte gleichzeitig, dass er es um seine Schultern
trug. Valentine musste es ihm umgehängt haben, im
letzten Augenblick. Valentine, dachte er, ach
Valentine, aber er dachte nicht mehr an Liebe, nur an
das, was vor ihm lag: unbestimmt, im weissen
Morgennebel.
Verklärtes Europa

Coco kam eines Abends unerwartet an und brachte die


beiden mit. Wir waren noch im Museum beschäftigt,
als der Wagen in den Hof fuhr. Er warf seinen gelben
Lichtkegel voraus, wir liefen, um die Gäste zu
begrüssen. Es war vor Weihnachten, eine schlechte
Zeit, der Regen hatte eingesetzt, die Grabung stand
unter Wasser, so dass wir die Arbeiten eingestellt
hatten. Wir sassen im Expeditionshaus, im Museum,
am Kaminfeuer, in unseren Stuben, wo Ölöfen
brannten. Wir hatten Zeit, an Weihnachten zu denken
und Heimweh zu bekommen. Wir tranken viel in
diesen Tagen und redeten zusammen, und jeder steckte
den anderen mit seinem Heimweh an. Besuch war
selten, deshalb freuten wir uns, als Coco mit dem
italienischen Ehepaar kam. Sie waren auf der
Entenjagd gewesen, unten am Orontes, und hatten sich
den ganzen Tag im Regen und Nebel herumgetrieben.
Sie waren zum ersten Mal im Orient und wollten nicht
die üblichen Touristenwege machen. Durchnässt und
müde sassen sie im Wohnzimmer und erzählten. Vor
vierzehn Tagen waren sie noch in Europa gewesen.
Vor vierzehn Tagen . . . Uns kam es manchmal so vor,
als seien wir unendlich weit und seit unendlich langer
Zeit von unserem heimatlichen Erdteil getrennt, ja,
ohne darüber zu sprechen, fürchteten wir, nie mehr
dorthin zurückkehren zu können. Diese beiden jungen
Menschen aber . . . sorglos sahen sie aus, für sie war
alles nur ein Spiel, der syrische Winter und die
Entenjagd, die steinerne Zitadelle auf dem Hügel von
Aleppo, und nun unser Haus, ein amerikanisches
Expeditionshaus, und wir selbst in unseren
Lederwesten.
»Du lieber Gott«, sagten sie, »was für ein
aufregendes Leben hier draussen!«
»Und Europa?« drängten wir.
»Wir haben uns so gelangweilt«, sagte der Junge. Er
sah dabei seine Frau an. Sie war jung und hübsch, und
in ihn verliebt. Ihre länglichen, ungewöhnlich sanften
Augen glänzten, wenn sie seinen Blick auffing. Sie
lachte.
»Europa«, sagte sie, »ein armes, müdes Land. Man
spricht von der Arbeitslosigkeit, bei uns in Italien
vom Faschismus. Man spricht nur von unangenehmen
Dingen, sogar vom nächsten Weltkrieg, obwohl es
doch gar keinen Zweck hat.«
Einen Augenblick wurde es still. Ich sah Kade an,
und dann Rubinson, der mit gesenkter Stirn am Feuer
sass. Tobby, an den Kamin gelehnt, unterbrach die
Stille. »Das beste Land ist Amerika«, sagte er, »dort
hat man auch allerhand Schwierigkeiten, aber man hat
auch Mut.«
»Und Palästina? Und Russland?« Rubinson fragte
dies, man wusste nicht genau, was er damit meinte.
»Wir Italiener«, sagte nachlässig der Junge, »wir
werden jetzt auch zu mutigen Leuten erzogen. Bei uns
wird man Soldat, jeder ist Soldat, der Duce befiehlt
es.«
Seine Frau bat: »Neno, fang nicht wieder davon an.
Fang nicht an, vom Heldentum zu sprechen. Ich finde
es viel mutiger, hier draussen zu leben, wie diese
Herren. Und viel aufregender!« Sie fügte es schnell
hinzu, mit schmalen Augen.
Er nickte. »Wissen Sie«, sagte er, »mir war es
einfach zuviel geworden. Es hing mir einfach zum
Hals heraus, deshalb kamen wir hierher. Jetzt steht
mein Wagen in der Garage in Mailand, ein Lancia, ein
Prachtstück von einem Wagen.«
»Hier draussen hätten Sie ihn doch nicht brauchen
können, Sie sollten sich einen Ford kaufen«, sagte
Tobby.
»Aber das ist unpatriotisch!«
»Bitte«, sagte das Mädchen, »bitte Neno, fang nicht
wieder davon an!«
»Interessieren Sie sich für Politik?« fragte
Rubinson.
»Nein«, antwortete Neno, »aber man kann ja dort
nicht in Frieden leben. Wir waren im Sommer in
Salzburg, Bianca lief den ganzen Tag in
Dirndlkleidern herum, es stand ihr ausgezeichnet —
und auch sonst war es sehr hübsch, obwohl es mitten
während der Vorstellung des ›Jedermann‹ zu regnen
anfing. Es regnete in Strömen, die Amerikanerinnen
liefen, um ihre teuren Abendkleider zu retten. Ja, es
war dort sehr lustig, aber die Leute konnten es nicht
lassen, den ganzen Tag von der Judenfrage zu
sprechen. Als ob die ganze Welt sich um die Juden
drehte!«
Kade und ich sahen Rubinson an, er hatte die
gescheite Stirn erhoben.
»Dann«, sagte Neno, »fuhren wir durch
Süddeutschland, und mit den Nazis war es gar nicht so
schlimm. Wenn man nicht wollte, brauchte man sie
gar nicht zu bemerken. Und wenn man wollte, kam
man gut mit ihnen aus. Im Winter waren wir im Palace
in St. Moritz, aber sogar dort wurde von den
Arbeitslosen gesprochen.«
Bianca beobachtete uns, einen nach dem anderen.
»Dort waren wir bis vor vierzehn Tagen«, sagte sie
entschuldigend, »es gab Sonne und Pulverschnee, und
ich wäre gern noch länger geblieben. Aber Neno . . .«
»Hier ist es richtig«, sagte Neno. Er sagte es zu
Coco, dem Sohn des Hotelbesitzers von Aleppo. »Mir
ist Ihr Hotel in Aleppo lieber als das Palace in St.
Moritz«, sagte er.
Wir waren alle still.
William bot Bianca ein Glas an. »Können Sie Raki
schon vertragen?« fragte er. »Es ist das erste, was man
hierzulande lernen muss!«
»Bianca«, sagte der Junge, »versuch es doch
einmal, versuch es mir zuliebe!« Er nahm ein Glas
und trank es in einem Zug aus. »Es schmeckt wie
Anis, wie Hustenmedizin, die man dir gab, als du
noch ein Baby warst.«
Das Mädchen sah unschlüssig auf die milchige
Flüssigkeit. »Ich habe Hustenmedizin nie gemocht«,
sagte sie.
»Hast du eigentlich Europa gemocht«, fragte ihr
Mann, »hast du Mailand gern gehabt, bist du zu Hause
ein braves kleines Mädchen gewesen? Hast du nachher
gern mit mir zusammengelebt?« Er lächelte sie an,
warf sein dunkles Haar zurück.
Sie sagte: »Es gab so viele Dinge dort, die ich gern
hatte. Ich war gar nicht glücklich — du weisst, Neno,
dass ich nicht sehr glücklich war —, aber ich wusste
wenigstens Bescheid. Hier weiss ich gar nichts.«
Neno lachte. Er sah uns an und schüttelte den
hübschen Kopf. »Ich weiss auch nichts«, sagte er,
»aber dort habe ich mich gelangweilt. Alles war so gut
organisiert, obwohl die Pessimisten behaupten, es sei
eine faule Ordnung. Ich habe dort nur halb gelebt.«
»Und hier«, fragte Rubinson, »hier meinen Sie . .
.?«
»Hier ist es grossartig«, erklärte Neno, »allein die
Entenjagd an eurem Regen-Fluss mit dem klassischen
Namen, wir haben sogar nasse Füsse bekommen. Es
war ein richtiges Abenteuer!«
»Für uns ist das sehr unangenehm«, sagte William,
»weil nämlich die ganze Ausgrabung unter Wasser
steht.«
Wir dachten an Salzburg. Es gab dort Konzerte,
Bruno Walter dirigierte, es gab eine anmutig milde
Sonne im Mirabellgarten, und die gebäumten
Pferdeleiber der grossen, steinernen Brunnen. Früher
waren Lieblinge und Reitknechte der Bischöfe dort in
die Schwemme geritten, unter dem italienischen
Himmel lagen kühle Gebirgsseen, Wind rauschte
durch hochstehende Wiesen, und auf dem Schlossberg
standen Knaben und riefen auf den Domplatz hinab:
»Jedermann, Jedermann.« Dort unten sass der Tod an
einer langen Tafel, und der schöne Jüngling neigte
sich über das Mädchen, dessen dunkles Haar, mit
Blumen bekränzt, sein weisses, inbrünstig blasses
Gesicht umrahmte. Wir sahen glatte Autostrassen, die
Nacht rief uns, eine festliche Nacht, und wir lauschten
auf sie, verwundert, hingerissen.
»Es ist immer das gleiche«, sagte Neno, »die
gleichen Hotels in St. Moritz und am Lido, es ist öde,
langweilig, und nicht einmal ungefährlich. Die
meisten Leute dort sind Pessimisten. Sie sagen, man
weiss nicht, wie lange es noch dauert . . .«
Wir überhörten den letzten Satz. Wir hörten, wie in
Konzertsälen Instrumente gestimmt wurden. Eine
Seilbahn führte uns, die wir unsere Skier festhielten,
aus dunklem Tunnel ins Freie; zwischen gleissenden
Schneefeldern, unter blauem Himmel schwebten wir
aufwärts.
»Einmal möchte ich diesen Winter die Corviglia
fahren!« sagte Kade.
»Ketzer«, rief William vom Tisch her, wo er die
Rakigläser füllte.
Kade wiederholte: »Ein einziges Mal. Eine einzige,
richtige Abfahrt . . .«
»Natürlich!« Neno lachte plötzlich. »Wenn man
hier im sicheren Orient sitzt, nimmt sich das alles
wunderhübsch aus. Winterfreuden und
Sommernachtsträume.«
Ich sah die süddeutsche Landschaft, Hügel, Kloster
und See, im lauen Abend ausgebreitet, und wieder die
Landstrasse, einen kleinen Platz in einer alten Stadt,
ein buntes Gasthofsschild. Und steinerne Heilige an
Brücken, grau über grauen Flüssen.
»Ihr seid ja weit genug vom Schuss«, sagte Neno.
Bianca sah ihn aus ihren sanften Augen bittend an.
»Weit genug«, sagte Rubinson, »um alles zu
vergessen. Alles.« Seine Stirn rötete sich in
plötzlichem Zorn. Nun sahen wir ihn alle an, wie
Bianca den jungen Neno.
»Wir werden alle einmal zurückfahren«, sagte Kade
mutig.
»Ohne mich.« Rubinson forderte uns heraus.
Was wollten wir? Lido und Palace, Strassen am
Abend, die Seilbahn, die steil in den blauen
Winterhimmel stieg? Sommernachtstraum und
Heimweh? Oh Heimweh, oh Europa!
Rubinson wollte von anderen, härteren Dingen
sprechen. William kam mit den Rakigläsern. »Wir
wollen lieber trinken«, sagte er und gab Tobby ein
Glas.
Die beiden Amerikaner tranken, im Nebenzimmer
hörte man Achmed, der mit dem Taubstummen stritt.
Achmed hatte nie begreifen können, dass ein
Taubstummer nicht hört, wenn man mit ihm streitet.
»Was wollt ihr eigentlich«, sagte William, »wir
stehen im Dienst eines amerikanischen Museums. Wir
haben etwas Vernünftiges zu tun. Was würde aus den
Archäologen ohne die reichen Witwen in den
Vereinigten Staaten? Was würde aus euch?«
Aber wir wussten nicht, was aus uns werden würde,
später, zu Hause. Wir wollten — Heckenrosen rankten
sich um den gekrümmten Leib eines steinernen
Märtyrers, irgendwo . . .
Bei diesem Regen

Tobby, Kade und ich waren im Regen unterwegs. Seit


drei Tagen regnete es, seit drei Tagen ritten wir in der
Umgebung von Dukiane umher und suchten den
Hügel einer biblischen Stadt, worin seit
zweitausendfünfhundert Jahren die Statuen
hethitischer Götter verborgen liegen mussten, seitdem
der Sturm der assyrischen Streitmächte über die
Ebenen Nordsyriens gefegt war und Städte, Burgen
und Tempel eingeäschert hatte. Der Platzkommandant
der Gendarmerie von Dukiane hatte uns eine
Begleitung mitgegeben, vier Mann, darunter einen
französischen Unteroffizier. Die anderen waren
Araber, die während des Reitens Zuckerwerk assen,
Mehl, Zucker und Hammelfett. Sie drehten kleine
Kugeln daraus, und boten uns davon an. Wir
verkrümelten sie.
Die bewaffnete Begleitung war notwendig in dieser
harten Jahreszeit. Hungrige Beduinen lauerten an den
Strassen, überfielen Automobile auf dem Weg
zwischen Aleppo und Antiochia, warum nicht auch
uns? Sie erschienen rasch, standen schreiend auf der
Strasse, schüttelten ihre Gewehre, schossen selten.
Nachher verschwanden sie, hinter den römischen
Trümmern, die sich, Sonnentor, zerfallener Bogen
oder alter Wachtturm, aus der Steinwüste erhoben.
Arabische Soldaten konnten mit den Räubern
verhandeln, wir fühlten uns in ihrer Begleitung sicher.
Wir fürchteten den Regen viel mehr, und auch ihn
nicht der Nässe wegen, sondern weil das Land ihm
preisgegeben war und unter seiner düsteren Fahne
trostlos, gesättigt mit Trauer, dalag. Und was half uns
dagegen unser bester Mut? — Schweigsam ritten wir,
einer hinter dem anderen, als sei jeder allein.
Die Verhandlungen mit den Dorfbewohnern hatten
wir als aussichtslos aufgegeben. Ein Tell, ein
Ruinenhügel? Sie wiesen in die Runde, über Fluss
und Ebene: Da gab es hundert Hügel. Heilige wohnten
darauf; die bescheidenen Siedlungen dieser letzten
Generation lebten in ihrem Schutz und im
Hügelschatten, in Aberglauben und Gespensterfurcht.
Namen? Meistens hatten solche Hügel keine Namen,
und oft ging der Pflug darüber hinweg. Dann wurden
Scherben ans Licht gekehrt, und die Dorfleute
brachten sie uns. Fast immer waren es gewöhnliche,
rote Scherben aus römischen Fabriken, und von den
Römern stammten auch die Mauerquadern, die da und
dort das dünne Gras durchbrachen. Darunter, wussten
wir, lag Schicht um Schicht: Assur und Zypern,
tausend syrische Völkerschaften, beeinflusst von
Meervölkern und Ägyptern, und von den mächtigen
Hethitern Kleinasiens. Aber der Regen wusch
höchstens römische Skelette und byzantinische
Lampen rein. Namen? Hethitische Vogelgesichter?
Die Beduinen wussten nichts. Ihre Hunde, mit
verstümmelten, oft noch blutigen Ohren, kläfften
unsere Pferde an. Und es ging weiter, im Regen, die
Steinwüste verwandelte sich allmählich in Lehm, der
schwer an den Hufen hing.
Wir waren am vorigen Abend nach Aleppo gefahren
und hatten den Fliegerhauptmann Poiret in der Bar
Parisiana gefunden, natürlich betrunken, wie immer.
Er hatte uns eine Flugaufnahme gezeigt, mit hundert
Ruinenhügeln. »Aber wenn ihr etwas Genaues wissen
wollt, ihr habgierigen Schurken . . .« — denn er hielt
amerikanische Ausgräber für Grabräuber —, »dann
fragt den Leutnant, der dort oben die topographischen
Aufnahmen macht. Der wird es euch schon verraten.«
Dorthin ritten wir heute. Es war ein weiter Weg,
unsere Begleiter waren unzufrieden. Wir ritten
nordwärts, über die Ebene, die einem Meer glich, wir
verliessen den Fluss, die römischen Ruinen, die
Strasse, die standhielt den Versuchungen, wir verirrten
uns, weit war Dukiane, und sehr weit der Hügel der
Zitadelle von Aleppo, der sich eine Weile noch
tröstend am Rand der Regen-Welt erhoben hatte.
Auf der Geröllhalde glitten die Hufe unserer Pferde
aus. Ihre Leiber dampften, ihr Fell glänzte von
Schweiss. Regen floss von ihren Hälsen.
Oben stand eine einzige Baracke, dort, im Wind, der
von einem dunklen Gebirgskamm geisterhaft
herüberstrich, preisgegeben der grossen Trauerfahne,
entrückt der Ebene, wohnte allein der Leutnant.
Wir klopften, ein arabischer Bursche in
französischer Uniform öffnete uns. Durch eine zweite
Tür kamen wir in das Zimmer. Der Leutnant war
krank. Er lag auf seinem Feldbett, bis zum Halse
zugedeckt. Der Bursche flüsterte. »Herren«, sagte er,
»es ist das Fieber. Jetzt schläft mein Herr, Allah
behüte ihn. Aber wenn er erwacht, wird das Fieber
steigen.«
»Bring Tee«, sagte Tobby.
Der Bursche verschwand, schloss die Tür hinter
sich. Wir sahen uns um. Im Zimmer standen, ausser
dem Feldbett, ein Tisch und zwei Militärkoffer, alles
mit Karten bedeckt. An der Wand hingen Helm und
Mantel des Offiziers. Wir schoben die Karten weg und
setzten uns auf die Koffer.
»Ob wir ihn wecken?« flüsterte Tobby, »aber wenn
er sehr krank ist, nützt es gar nichts. Dann kann er uns
ja gar nichts erklären!«
»Lass ihn«, sagte Kade.
Der Bursche kam zurück, er trug die kleinen
Teegläser auf einem Tablett aus Blech, stellte sie
sorgfältig auf den Tisch.
»Was fehlt dem Leutnant?« fragte ich.
»Es ist das Fieber«, sagte er, »aber es wird
vorbeigehen. Mit dem Regen wird es vorbeigehen.«
»Hat er es oft?«
Der Bursche hob bejahend den Kopf. »Wenn es
regnet«, sagte er.
Der Leutnant richtete sich plötzlich auf. »Sie
müssen mich entschuldigen«, sagte er, seine Stimme
war merkwürdig klar. »Ich hätte Sie gern besser
empfangen.«
»Bleiben Sie liegen«, sagte Kade.
Der Kranke sank zurück, sein Gesicht war gerötet,
sehr jung, ein Schulknaben-Gesicht.
Ich stand auf, ging an sein Bett: »Es ist an uns, sich
zu entschuldigen«, sagte ich, »wir kommen von
Dukiane und wollten Ihre Karten sehen. Wir suchen
einen Hügel.«
Er sah mich an, verstand nichts. »Meine Karten«,
sagte er seufzend, »wenn Sie wüssten, wie schwierig
das alles ist.«
»Es handelt sich nur um einen Hügel . . .«
Ich sah vor mir, was er von der Plattform seiner
Baracke aus überblicken mochte: die grosse Ebene,
hunderthügelige, unseres Landes. Dörfer, den Orontes,
in der Ferne eine Gebirgskette. Und Schritt für Schritt
mass er aus, allein mit seinem arabischen Burschen.
Sinnlos, dachte ich, was wir da von ihm verlangen,
sinnlos, was man von ihm verlangt. Dabei ist er noch
fast ein Kind.
»Ich kenne alle Hügel«, sagte er, »aber sie haben
keine Namen. Ich bin auch kein Archäologe.« Und
fügte, nach Atem ringend, hinzu: »Ich verstehe nichts
von Hügeln, nichts von diesem Land. Es ist alles so
schwierig . . .«
»Malaria?« fragte Tobby.
Der Leutnant sah zu ihm hinüber. »Hier soll es ja
keine Malaria geben«, sagte er, »aber ich war einmal
drüben, in den Malariagebieten —«, wir fragten nicht
wo, »und jetzt, bei diesem Regen . . .« Er verstummte,
wir sahen, wie das Fieber seinen Körper ergriff. Er
wurde sehr blass, Kälte schüttelte ihn, es half nichts,
ihm Tee einzuflössen. Wir legten seinen Mantel über
die Decke, das Zittern stieg von den Füssen bis zu den
Schultern, ergriff das Kinn. Sein Gesicht verwandelte
sich, wurde gespannt, er fürchtete sich, seine Hand
umklammerte mein Knie. »Seit drei Tagen«, klagte er,
»seit drei Tagen dieser Regen!«
Ich sah Tobby am Tisch über eine Karte gebeugt,
Kade unschlüssig neben ihm stehen. Es war fünf Uhr,
Zeit, zurückzureiten. Es war schon fast dunkel. Wir
würden den Weg verlieren. Wir würden keinen Hügel
finden. Wir würden nicht mehr nach Hause finden.
»Es wird auch nicht mehr lange dauern«, sagte ich
zu dem Leutnant, »Sie kennen sich doch aus, Sie
wissen doch, dass Malariaanfälle nicht ewig dauern.«
»Ach«, sagte er, »es ist nicht wegen der Malaria. Es
ist wahrhaftig nicht wegen des bisschen Fiebers.«
Röte drang jetzt schnell in seine Kinderstirn. Das
Fieber stieg rasch, er würde sich besser fühlen.
»Sie müssen Heimaturlaub nehmen«, sagte ich,
über ihn gebeugt. Er starrte mich an, schon ein wenig
beruhigt.
»Sehen Sie«, sagte er mit einem kleinen Lächeln,
»wie wenig das Fieber bedeutet. Jetzt bin ich schon
ganz heiss, und dann träume ich.«
»Schickt man Ihnen keinen Arzt?«
»Von Aleppo?« fragte er, »aber ich kann ja nicht
berichten. Und dann — ich habe mich freiwillig
gemeldet. Ich muss die Karten fertig zeichnen. Ich
muss!«’
»Wenn Sie gesund sind.«
Er drehte sich plötzlich zur Seite, schob ein wenig
die Decke weg, näherte sich mir. »Ich werde nicht
gesund«, flüsterte er, »ich habe die tropische Malaria,
und ich habe so viel getrunken, dass ich es nicht mehr
überstehen kann. Ich kann keine Chininspritzen
überstehen. Ich werde — diesen Regen — nicht
überstehen.« Er sah mich entsetzt an. »Deshalb habe
ich mich hierher versetzen lassen«, flüsterte er hinzu.
Ich schob ihm die Decke wieder über die Brust.
»Wie alt bist du?« fragte ich.
»Dreiundzwanzig.«
»In diesem Alter hält man alles aus. Wir werden
dich nach Aleppo holen lassen. Noch heute fährt unser
Chauffeur hinüber. Wie heisst dein Kommandant?«
Er antwortete nicht mehr. Sein Körper streckte sich
aus, Zittern und Frost waren von ihm gewichen. Er
schlief, wie es schien, fast ohne Atem, wie kleine
Kinder schlafen.
Tobby stand neben mir. »Jetzt müssen wir gehen«,
sagte er leise. Unter der Tür stand der französische
Unteroffizier. »Jetzt müssen wir gehen«, wiederholte
er.
Draussen hatte der Regen aufgehört. Ein sanfter,
von Nebel verhangener Nachthimmel lagerte über der
Ebene. Wir bestiegen die Pferde, die Soldaten folgten.
Im Schritt ritten wir die Geröllhalde hinunter.
Tobby fuhr noch in derselben Nacht mit Hussein
nach Aleppo und benachrichtigte die Garnison. Man
konnte mit dem Auto nicht bis zur Baracke des
Leutnants gelangen, er wurde von Sanitätern bis zur
Landstrasse gebracht, und verfiel während der
darauffolgenden Nacht in Agonie. Man gab ihm
Chininspritzen, aber sein Herz hielt nicht stand.
Tobby, Kade und ich hatten ihn noch besuchen wollen,
man liess uns lange im Wartezimmer des
Militärspitals warten. Eine halbe Nacht lang wussten
die Ärzte nicht, ob der Dreiundzwanzigjährige noch in
der Agonie lag, oder schon gestorben war.
Das gelobte Land

Endlich wurde Billy wach. Sie sah einen Jungen in


blauer Stewardjacke unter der Tür ihrer Kabine stehen,
und sie erinnerte sich, dass sie »herein« gesagt hatte.
Nun stand er da und trug eine Platte mit einem
Osterkuchen und bunten Ostereiern in der Hand.
»Der Kommissar schickt Ihnen dies«, sagte er, »und
wünscht Ihnen fröhliche Ostern.«
»Danke«, sagte Billy.
Er stellte die Platte auf den Stuhl neben ihrem Bett
und ging hinaus. Billy rief ihn noch einmal zurück.
»Sag, dass man mir Kaffee bringen soll«, sagte sie.
Der Kuchen sah frisch und verlockend aus, und sie
hatte Lust, davon zu essen. Es war schon spät, sie
hatte sehr lange geschlafen.
Während sie ihren Kaffee trank und von dem
Kuchen ass, erinnerte sie sich langsam an das, was vor
ihrem Schlaf gewesen war. Sie erinnerte sich, dass sie
die Kuchen aus frischem, weissem Teig in der
Schiffsbäckerei gesehen hatte und dass der
Kommissar versprochen hatte, ihr einen Matrosen-
Osterkuchen zu schicken. Er hatte sie durch den
Maschinenraum geführt, der wie ein riesiges
Kulissenhaus aussah, und sie war, schwindlig vor
Hitze, auf einer Leiter in den unendlich tiefen
Schiffsbauch hinuntergestiegen, bis das Dröhnen der
Kolben und die Hitze über ihr zusammenschlugen. Sie
war zwischen zwei Kesseln auf öligen Metallplatten
gegangen, ohne die glühenden Wände der Kessel zu
berühren. Sie war auf die Kommandobrücke
gekommen, er hatte ihr die blitzenden Instrumente
erklärt, und sie hatte die breite, milchige, vom Mond
beschienene und geglättete Wasserstrasse vor ihnen
gesehen, durch die der Schiffskiel rauschend schnitt
und weiche Wellenkämme zu beiden Seiten aufwarf.
Während des Nachtessens hatte ihr Nachbar gesagt,
dass er am nächsten Morgen früh aufstehen werde, um
seiner kleinen Tochter Jaffa zu zeigen. Er hiess Dr.
Levy und war in Freiburg Professor der Chemie
gewesen. Er kannte Palästina ganz gut, aber jetzt
brachte er seine Tochter hinüber, und sie würden dort
bleiben. Sie würde nicht in Deutschland aufwachsen,
sondern in Palästina, und was die Nazis ihrem Vater
getan hatten, würde sie nicht mehr angehen als die
Pogrome in Bessarabien. Sie würde eine glückliche
Kindheit in Palästina haben . . .
Billy schob schnell ihr Leintuch zurück und zog
sich an. Als sie auf das Deck kam, brannte darauf
schon die heisse Mittagssonne, und die meisten
Passagiere lagen in ihren Stühlen und hatten ihre
Köpfe mit Schirmen, weissen Hüten und Tüchern
geschützt. Ein leichter Wind ging darüber hinweg, und
sie fuhren der Stadt Tel Aviv entlang. Vor der Stadt lag
ein Streifen von weissem und rostbraunem Strand,
und die Häuser von Tel Aviv waren weiss, es gab
breite, weisse Strassen und neue, hohe, vielstöckige
Gebäude, und man sah vom Meer aus in die belebten
Strassen hinein. Billy stand an der Reeling und sah
sich das neue Palästina an. Dann kam Dr. Levy um die
Kommandobrücke herum, er hielt das kleine Mädchen
an der Hand, und der Wind richtete seine Haare auf.
»Guten Morgen«, sagte er, »wir haben Sie schon
überall gesucht, um Ihnen Jaffa zu zeigen.«
»Ich habe geschlafen«, sagte Billy, und zu dem
kleinen Mädchen: »Du hättest mich wecken sollen!«
»Es macht nichts«, sagte Dr. Levy. »Es tut Ihnen
gut zu schlafen«, und er zeigte Billy die kleine
Hafenstadt Jaffa, die im Schutz eines Hügels
entstanden und dann mit türkischen Häusern und
Moscheen den Hügel hinaufgeklettert war. Sie sah wie
eine kleine, italienische, mittelalterliche Hafenstadt
aus. Dann begann Tel Aviv und folgte dem Strand.
»Ganz links sehen Sie ein dunkelrotes Gebäude, das
ist das Gewerkschaftshaus«, sagte Dr. Levy. »Es ist
ziemlich hässlich, dieses Tel Aviv. Aber es macht
nichts.«
»Nein«, sagte Billy.
Dr. Levy sah auf den Scheitel des kleinen Mädchens
hinunter. »Und nun fahren wir den ganzen Tag der
Küste Palästinas entlang«, sagte er. Billy hörte
aufmerksam zu, als er über die Siedlungen sprach, die
man vom Schiff aus auf den hohen Uferfelsen sehen
konnte, und über die neuen Orangenpflanzungen, die
sich dunkelgrün, dicht und regelmässig von den
kargen, ungepflegten Hainen der Araber
unterschieden. Dann assen sie zu Mittag, und nach
dem Essen gingen sie wieder alle drei auf das Deck
hinauf, und das Schiff folgte immer noch der
sonnigen, goldbraunen Küste. Nur die Uferfelsen
waren höher geworden, und man sah auf den
Höhenzügen dahinter weisse Dörfer, die zur Zeit
Herzls und Rothschilds gegründet worden waren und
nicht mehr dem Ideal der neuen
Gemeinschaftssiedlungen entsprachen.
Gegen vier Uhr nachmittags näherten sie sich Haifa.
Im Salon setzte die Unterhaltungsmusik ein, und die
Leute verliessen ihre Liegestühle und gingen hinunter.
Als der Kommissar von der Brücke her kam, sagte
Dr. Levy, dass er mit Judith den Hafen von Haifa
ansehen wolle, und ging mit ihr nach vorne.
Billy sah den Kommissar auf sich zukommen, und
wieder begann ihre Erinnerung zu arbeiten. Er war
klein und hatte hochgezogene Schultern. Fast einen
Buckel, stellte Billy fest. Er hatte ein blasses Gesicht
mit kränklich entzündeten Augen und einen schmalen,
höhnischen, leidenden Mund. Er sah sonderbar müde
und angeekelt aus.
»Guten Tag«, sagte er zu Billy.
Billy sagte: »Es war nett von Ihnen, mir den
Osterkuchen zu schicken.«
»Gut geschlafen?« fragte er.
»Ja, danke.«
Er sagte, ohne sie anzusehen: »Du warst so müde
gestern nacht. Du bist mir einfach so weggeschlafen.«
Billy antwortete nicht. Sie waren schon in der
Hafeneinfahrt.
»Ich muss gehen«, sagte der Kommissar. »Ist es
Ihnen recht um sechs Uhr?«
»Gut«, nickte sie.
Er ging weg, und sie begann, um das Deck
herumzugehen, in die Touristenklasse hinüber, und
wieder nach vorn, an den offenen Fenstern des Salons
vorbei. Der Salon war leer. Sie ging zurück, aber man
hatte die Touristenklasse durch ein Seil abgesperrt,
und hinter dem Seil standen die Auswanderer mit
ihren Handtaschen und Rucksäcken und warteten, dass
man sie an Land gehen liess. Es waren lauter Juden,
und die meisten von ihnen waren junge Juden aus
Deutschland. Man hatte während der Reise für acht
Zwischendeck-Passagiere gesammelt, die ohne Kost
und Unterkunft auf dem Schiff mitfuhren, fünf
Burschen und drei Mädchen, die jetzt in ihren
Windjacken hinter dem Seil standen und warteten, um
in Palästina an Land gehen zu dürfen.
Zuerst liess man die Passagiere der ersten Klasse
vorbei. Sie kamen durch die Salontür heraus, erhielten
ihren Pass, und gingen dann an den beiden arabischen
Polizisten vorüber das Fallreep hinunter. Dr. Levy
kam und führte sein kleines Mädchen an der Hand. Er
war aufgeregt, strahlte wie alle anderen, und beeilte
sich, das Schiff zu verlassen, aber als er Billy an der
Reeling stehen sah, kam er zu ihr, um ihr auf
Wiedersehen zu sagen.
»Viel Glück«, sagte Billy.
Sie sah ihm nach, wie er das schwankende Fallreep
hinunterging und wie er aufpasste, dass das kleine
Mädchen nicht stolperte. Das Schiff schien sehr hoch,
wie es so an der Quaimauer lag. Unten sah man eine
Menge Leute, die Bekannte auf dem Schiff hatten und
nun warteten, dass sie durch die Passkontrolle kamen.
Sie winkten zur Reeling herauf, die meisten von ihnen
lachten vor Freude über das ganze Gesicht und
versuchten, etwas heraufzurufen, aber es war zu hoch,
und die Passagiere oben konnten nichts verstehen, sie
machten Zeichen mit den Armen und winkten und
lachten zurück. Andere weinten geradezu. Die acht
Mädchen und Jungen aus dem Zwischendeck wurden
von ein paar Burschen abgeholt, die ganz ähnlich
aussahen wie sie und ebenfalls Windjacken trugen.
Billy sah, wie sie aufeinander losrannten und sich
umarmten, und sich erst nachher die Hand schüttelten.
Dann nahmen die Burschen den Neuangekommenen
die Rucksäcke ab, und sie gingen alle miteinander
weg, zwischen den arabischen Polizisten und den
langen Ketten gebückter Lastträger hindurch.
Es war beinahe sieben Uhr, als alle Passagiere ihre
Pässe bekommen und das Schiff verlassen hatten. Der
Kommissar kam aus der Kajütentür, er war in Zivil
und trug einen Regenmantel wie ein Offizierscape
zusammengefaltet auf dem Arm.
»Wollen wir gehen?« fragte er Billy.
Sie nickte und ging voraus, an zwei jungen
Schiffsoffizieren vorbei, die die Hand an die Mütze
hoben.
»Na«, sagte einer von ihnen zum Kommissar, »alter
Junge, verfehl nur die Abfahrt nicht heute abend.«
Billy sah neben der Kajütentür eine schwarze Tafel
mit dem Namen des Schiffs, und darunter, mit Kreide
geschrieben: »Verlässt Haifa heute um Mitternacht«.
Die arabischen Polizisten hielten Billy auf, und der
Kommissar zog ihren Pass aus seiner Tasche. Die
Polizisten liessen sie vorbei. Billy fühlte, dass die
beiden Offiziere ihnen nachsahen, und fühlte ihren
Blick auf ihrem Rücken. Sie ging neben dem
Kommissar, der kleiner war als sie, am Zollgebäude
vorbei durch die Sperre, über ein Bahngeleise, einen
breiten, sandigen Weg entlang. Vor ihnen lag Haifa,
eine hellerleuchtete Strasse mit Kaffees, einem Kino,
einer Taxihaltestelle, dahinter im Dunkeln der Berg
Karmel.
»Wollen wir ein Auto nehmen?« fragte der
Kommissar.
Sie stiegen ein, und er rief dem Chauffeur auf
deutsch zu, am Lloydbureau zu halten.
»Es wird schon geschlossen sein«, sagte der
Chauffeur.
»Ich kenne mich aus«, sagte der Kommissar,
»fahren Sie ruhig erst einmal hin.«
Billy wartete im Auto. Die Strasse schwankte ein
wenig unter ihr, aber bei weitem nicht mehr so stark
wie vorhin, als sie vom Schiff bis in die Stadt hinein
gegangen waren. Und niemand schaute ihr nach.
»Haben Sie ein Streichholz?« fragte sie den Chauffeur,
»rauchen Sie vielleicht?«, und sie reichte ihm ihre
lederne Zigarettenschachtel hinüber.
»Versuchen Sie eine von unseren
palästinensischen«, sagte der Chauffeur. Er zog eine
Packung aus der Tasche und zündete ein Streichholz
an.
»Danke«, sagte Billy, »sie sind ausgezeichnet.«
»Nicht schlecht. Und man kann sie den ganzen Tag
rauchen. Sie werden einem nicht über.«
»Sind Sie schon lange in Palästina?« fragte Billy.
»Sechs Monate. Es ist ein gutes Land, nur die
vielen Sprachen sind unbequem. Man braucht
Englisch, Deutsch, Hebräisch und Arabisch. Ich kann
nur Englisch und Deutsch.«
»Was haben Sie früher gemacht?«
»Meinen Sie in Deutschland?«
»Ich meine, bevor Sie hier herüberkamen.«
»Ich war arbeitslos«, sagte er. »Ich war arbeitsloser
Student, weil ich zum Studium kein Geld mehr hatte.
Nachher schnappten die Nazis meinen Bruder, und ich
musste schleunigst verduften, weil wir zu den Juden
gehörten, die ehrlichen Deutschen ihr Brot und ihre
Stellungen wegnahmen.«
»Nehmen Sie noch eine Zigarette«, sagte Billy.
»Wissen Sie«, sagte der Junge, »das Beste an der
Sache ist, dass man hier nicht mehr daran zu denken
braucht. Kein Mensch interessiert sich hier für die
Nazis.«
»Verdienen Sie viel?«
»Man bekommt, was man nötig hat. Man bekommt
nichts geschenkt, aber man braucht nicht arbeitslos zu
sein. Für die Jungen geht es. Die, welche mit Familie
und Kindern herüberkommen, haben es manchmal
schwer.«
Jemand öffnete das herabgelassene Gitter vor dem
Eingang des Lloydbureaus und liess den Kommissar
heraus.
»Es tut mir leid, dass du warten musstest«, sagte er
zu Billy.
»Es macht nichts«, sagte sie, »wohin fahren wir?«
»Wohin du willst.«
»Auf den Karmel. Kann man auf dem Karmel
irgendwo essen?« rief sie nach vorne.
»Man kann schon«, sagte der Junge. »Aber ich rate
es Ihnen nicht an. Sehen Sie sich oben die Aussicht
an, trinken Sie etwas, und essen Sie nachher irgendwo
in der Stadt.«
»Gut«, sagte der Kommissar, »besehen wir uns die
Aussicht bei Nacht.«
Sie fuhren durch die Stadt und auf einer schönen,
breiten Strasse den Karmel hinauf. Der Kommissar
rückte näher an Billy heran und tastete in der
Dunkelheit nach ihrer Hand. Er hielt sie mit seiner
Hand fest und legte sie zwischen Billys Knie.
»Ich fühle mich so mit dir verheiratet«, sagte er.
»Ich fühle mich ganz und gar glücklich mit dir
zusammen.«
»Nein«, sagte Billy, ohne sich zu rühren.
Er zog die Hand zurück. »Ich weiss nicht, was mit
mir los ist«, sagte er. »Es macht mich verrückt, dich
im Auto sitzen zu sehen und zu dir einzusteigen.«
»Vielleicht bist du verliebt«, sagte Billy.
Er beugte sich nach vorn und fasste wieder ihre
Hand. Sie sah gegen das Fenster seine hochgezogenen
Schultern und das magere Gesicht mit dem
vorgeschobenen, leidenden Mund. Er sah elend aus,
und sie liess seine Hand auf der ihren.
»Ich war verrückt gestern nacht«, sagte er, »und du,
warst du nicht ein bisschen glücklich?«
»Na«, sagte Billy, »abgesehen davon, dass du
behauptet hast, du würdest mich nicht anrühren —«
»Ich dachte, du würdest es nicht merken. Ich
dachte, du würdest einfach einschlafen.«
»Ich habe es gern, wenn man mich für
schwachsinnig hält«, sagte Billy.
Der Chauffeur hielt mit einem Ruck den Wagen an.
Er führte sie auf einem Fussweg bis zu einer Terrasse,
die über den nachtschwarzen Weinbergen hing, und
zeigte ihnen die Lichter von Haifa, die Hafenlichter,
die helle Linie der Hauptstrasse, die schwach
erleuchteten kleinen Strassen der Templersiedlung, die
sich rechtwinklig schnitten, und ganz abseits eine
neue Gemeinschaftssiedlung. Man sah einen
Leuchtturm und die Mastlampen von Schiffen, die
draussen vor dem zu engen Hafen lagen, und man sah
die Scheinwerfer von Wagen, die den Karmel
herauffuhren und den Kurven der Strasse folgten.
»Und dort hinten ist das Kaffee«, sagte der Junge,
und ging zu seinem Wagen zurück.
Sie gingen zu dem kleinen Haus hinauf, sassen in
einer winzigen Gaststube, an deren kahlen Wänden
eine Spatenbräu-Reklame und ein Kalender von einem
Geschäft in Stuttgart hingen. Die Frau, die ihnen den
Wermut brachte, war eine Deutsche und sprach ein
breites, freundlich klingendes Schwäbisch. Ihr
Grossvater war mit den Templern aus Württemberg
gekommen, und ihr Vater und sie und ihre
Geschwister waren in Haifa geboren. Ihr Vater hatte
unten im deutschen Stadtviertel ein Gasthaus. Der
Boden der Siedlung gehörte den Templern, und auch
ein Teil des Karmels gehörte immer noch den
Templern.
»Aber die Reben sind krank«, sagte die Frau. Sie
blieb ganz allein hier oben und bediente die Gäste, die
abends auf dem Karmel spazierengingen und etwas
trinken wollten, bevor sie in die Stadt zurückkehrten.
Sie fand, dass es ein friedliches Leben sei, und lobte
die Aussicht, die man über die Weinberge und die
Stadt auf das Meer hatte. Sie müssten einmal am Tag
heraufkommen, um die Aussicht richtig zu geniessen.
»Schön«, sagte Billy, »das nächste Mal werden wir
daran denken.«
»Wollen Sie denn nicht einige Tage in Haifa
zubringen?« fragte die Wirtin. »Es würde sich doch
lohnen, es gibt jetzt viel zu sehen in Haifa!«
»Gewiss, es würde sich lohnen, aber wir haben
keine Zeit.«
»Der Hafen, den die Engländer gebaut haben, ist ja
allerdings zu klein, denn die Stadt wächst jetzt jeden
Tag, fast zusehends.«
Der Kommissar sah Billy an, sie zahlten, und
gingen die Terrasse entlang zum Wagen zurück. Sie
fuhren schnell und lautlos den Karmel hinunter und
tauchten in die hellen Strassen der Stadt. Der Junge
fuhr langsam und zeigte ihnen die Namen der
Strassen, der Kaffees und der Kinos.
»Wollen Sie irgendwo essen, wo es Musik gibt?«
fragte er.
»Nein«, sagte Billy, »wo es guten Wein gibt.«
Es hiess »Kaffee Wien«, und der Junge fragte, ob er
warten solle, aber der Kommissar zahlte ihn gleich
und schickte ihn weg. Das Kaffee war ziemlich voll.
Auf allen Tischen lagen deutsche Zeitungen. Die
meisten Leute assen zu Abend, andere tranken Bier, an
der Bar sassen ein paar junge Burschen mit
Rakigläsern vor sich.
»Also, zuerst den Wein«, sagte der Kommissar, als
sie einen guten Tisch in einer Ecke gefunden hatten.
»Wollen Sie einheimischen Rotwein haben?« fragte
der Kellner. Er war Wiener und sprach das weiche
Wienerisch mit einem weichen, verschmierten,
dicklippigen Mund. Sein ganzes Gesicht war so, rund,
weich und verschwommen. Während er die Bestellung
auf seinem Notizblock niederschrieb, sahen seine
blauen Augen zerstreut nach allen Seiten.
»Bringen Sie den Wein zuerst«, sagte der
Kommissar. Er sah ein wenig erfrischt aus und lehnte
sich fröhlich über den Tisch.
»Hast du Hunger?« fragte ihn Billy. »Weisst du, du
siehst jetzt gar nicht mehr wie ein Kommissar aus. Du
hast keine Uniform an, und du gefällst mir.«
»Wie sehe ich denn aus?«
»Nicht wie ein Kommissar. Du siehst wie Alberto
aus. Wie ein einfacher Alberto, und wie mein Freund
Alberto.«
»Wir wollen trinken«, sagte Alberto, »mein Gott,
wie glücklich ich mich fühle!« Der palästinensische
Rotwein war gut, aber ein wenig süsslich. Alberto
sagte es dem Wiener, als er die Platte mit den
Schnitzeln brachte. »Bringen Sie etwas Besseres«,
sagte Alberto.
Der Wiener nahm die Flasche mit dem süssen Wein
weg und kam mit einer anderen zurück. Auf der
Etikette stand »Chablis« und etwas in hebräischen und
arabischen Buchstaben.
»Es ist eine Nachahmung«, sagte der Kellner, »ein
guter hiesiger Wein.«
»Bringen Sie frische Gläser«, sagte Alberto.
Billy hatte angefangen zu essen, er ass nicht,
schenkte nur den Wein ein und sah zu, wie sie ass.
»Ich kann einfach nicht«, sagte er, »ich kann nur
trinken. Ich weiss, dass es eine schlechte Gewohnheit
ist.«
»Nur eine Gewohnheit?« fragte Billy, kauend.
»Man wird eben so«, sagte er, »fast alle werden so.
Wenn wir in einen Hafen kommen, gehen wir an Land
und in das erste beste Lokal, und trinken. Von allen
Städten kennen wir nur das erste beste Lokal am
Hafen.«
»Seit wann fährst du auf dieser Linie?«
»Seit einem Jahr.«
»Und vorher?«
»Vorher fuhr ich auf der Fernost-Linie, bis nach
China, aber es war dasselbe. Ich kenne in China ein
paar Lokale und einige Alkoholsorten. Sehr gute
Lokale.«
»Und erst in Haifa!« sagte Billy.
»Nein«, sagte er, »hier ist es ganz anders, weil ich
mit dir bin. Ich liebe Haifa.«
»Ich auch«, sagte Billy, »aber nun iss erst einmal.
Nachher trinken wir noch eine Flasche von diesem
erstklassigen Wein, und dann werden wir Haifa richtig
lieben.«
»Ich liebe dich«, sagte Alberto.
Der Kellner kam und nahm die Teller weg.
»Was liebst du an mir?« fragte Billy.
»Es hat mir solche Mühe gemacht, dich zu lieben«,
sagte Alberto. »Ich zitterte, wenn ich dich sah, aber
ich war sicher, dass du es nicht mögen würdest.«
»Was nicht mögen?«
»So wie gestern abend«, sagte er, »ich dachte, du
würdest es nicht mögen, weil du wie ein Junge
aussiehst und weil du immer an den Leuten
vorbeischaust.«
»Nun ja«, sagte Billy.
Alberto betrachtete sie, ängstlich und flehend. »Wir
hatten schon einmal ein Mädchen an Bord, welches so
aussah wie du«, sagte er.
»Warst du auch in sie verliebt?«
»Grauenhaft verliebt«, sagte er, »und dann sagte sie
mir, dass sie noch nie mit einem Mann zusammen
gewesen war.«
»Ich war noch nie mit einem Mann zusammen«,
sagte Billy.
Er starrte sie an.
»Wusste das Mädchen, was Liebe ist?« fragte sie.
Er starrte und starrte.
»Alberto«, sagte Billy, »ich habe dich etwas
gefragt.«
»Sie wusste es«, sagte er, »oh, sie wusste es sehr
gut. Sie liebt eine Frau. Und das Furchtbare war, dass
niemand es gemerkt hat.« Er starrte Billy an. »Bitte«,
flehte er, wiederhole noch einmal, was du vorhin
gesagt hast!«
»Ich glaube nicht, dass es so wichtig war«, sagte
Billy, »aber was dich betrifft: Du solltest dich in acht
nehmen. Du solltest weniger trinken und dich nicht
gehen lassen, wie alle anderen.«
»Das sagst du so«, murmelte er erbittert.
»Ich meine es, wie ich es sage. Ihr könnt es doch
gut haben. Ihr könnt Frauen haben, ihr könnt Städte
sehen und sie lieben, wenn ihr vom Meer kommt und
wisst, dass ihr sie am nächsten Tag wieder verlassen
müsst. Städte, die man eine Nacht lang liebt!«
»Hör auf«, sagte er.
»Ja«, sagte sie, »wir wollen gehen und von dieser
Stadt Abschied nehmen. Wir werden in deiner Kabine
Ostereier essen.«
»Ich habe Champagner in der Badewanne kalt
gestellt«, sagte Alberto. Seine Stimme klang
hoffnungsvoll. »Und morgen haben wir einen ganzen
Tag in Beirut . . .«
»Wir werden Ostereier essen und Champagner
trinken«, sagte Billy, »es wird ein grossartiger Abend
werden.«
Sie gingen zu Fuss die Strasse hinunter, die zum
Hafen führte. Von weitem sahen sie das Schiff,
welches mit weissen Decks und erleuchteten
Kabinenfenstern am Quai lag.
»Und morgen . . .«, sagte Alberto.
»Bitte mach dir nichts daraus«, sagte Billy, »aber
morgen bin ich schon unterwegs nach Damaskus . . .«
Beni Zainab

Nach Anbruch der Dunkelheit fuhren wir zwei


Stunden lang, ohne genau zu wissen, ob wir noch auf
der richtigen Spur waren. Wir hatten seit dem letzten
Wegzeichen mindestens ein Dutzend Spuren gekreuzt
und hatten immer versucht, die Hauptrichtung
beizubehalten und der grössten Spur zu folgen. Aber
in Wirklichkeit sahen alle Spuren gleich aus,
besonders bei Nacht, und wir fuhren auf gut Glück
geradeaus in die Wüste hinein. Die Wüste lag schwarz
vor uns, unter einem etwas helleren Himmel. Die
Scheinwerfer warfen ihr Licht voraus auf die Spuren,
die sich teilten und in der Ferne, die man nicht mehr
erkennen konnte, wahrscheinlich wieder
zusammenliefen. Wir hatten das am Tag oft genug
beobachtet: Eine Strecke weit lief eine einzige, breite
Spur wie eine gewöhnliche Strasse dem Horizont zu,
dann kamen Hügel und teilten sie in zwei oder drei
Arme oder in ein ganzes Bündel von Armen, die
scheinbar weit auseinanderstrebten. Aber sobald die
Wüste wieder flach wurde, fanden sie sich wieder, und
man sah von weither, wie sie zusammenkamen.
Es gab Ausnahmen, Spuren die abzweigten und
sich selbständig machten, um eine Garnison, eine
Station der Pipeline oder eine Oase zu erreichen. Und
in der Dunkelheit, während wir immerzu in die
schwarze Wüste hineinfuhren und sie kein Ende
nehmen wollte, hatten wir das Gefühl, von der Spur
nach Palmyra abgekommen zu sein. Der Benzinzeiger
sank.
»Wie viele Kilometer waren auf dem Wegstein
angegeben?« fragte mich Claude.
»Sechzig«, sagte ich.
»Und wie viele haben wir seither gemacht?«
»Etwa fünfundachtzig.«
Ich rauchte während des Fahrens. Wir hatten seit
dem Frühstück nichts gegessen ausser ein paar
Orangen, und Rauchen war gut gegen das Gefühl von
Leere, das sich in Kopf und Magen einstellte. Es war
auf jeden Fall gut.
»Sag mal«, hörte ich Jean, »glaubst du, dass wir
noch auf der richtigen Spur sind?«
Ich wusste es nicht und zuckte die Schultern.
»Ich dachte es mir«, sagte Jean.
Wir fuhren eine Weile, ohne zu sprechen. Dann
sahen wir links vor uns eine Reihe von Lichtern, und
ich verliess die Spur und fuhr darauf zu. Es ging
bergauf, über ein mit Steinen besätes Plateau und
zwischen zwei kleinen Pyramiden hindurch, die
offenbar als Male hier aufgerichtet waren, dann wieder
bergab in die schwarze Ebene. Wir entdeckten ein paar
Beduinenzelte und hielten an. Es waren fünf oder
sechs Zelte aus schwarzem Ziegenhaar, die Eingänge
waren schon verschlossen, und aus den Spalten drang
ein wenig rötliches Licht hervor. Jetzt, als wir dicht
bei den Zelten hielten, konnten wir nicht begreifen,
dass wir das Licht von weitem überhaupt gesehen
hatten.
Wir liessen den Scheinwerfer, der an der Scheibe in
einem Kugelgelenk befestigt war, über das Lager
gleiten. Hinter den Zelten lagen Kamele. Ein Lamm
war an einem Zeltpfosten festgebunden und schlief,
den Kopf neben dem Pfosten. Der Scheinwerfer glitt
über die Zelteingänge, und wir gaben ein Signal und
versuchten, jemanden im Lager zu wecken. Ich drehte
mich um nach unserem Chauffeur, der sich ausruhte,
und sagte ihm, dass er aussteigen und zu einem der
Zelte gehen solle. »Du kannst doch Arabisch«, sagte
ich, »du bist doch ein Ägypter.«
»Nein«, sagte er, »sie verstehen mich nicht.« Er
hatte Angst auszusteigen.
Endlich trat ein Mann aus dem Zelt, das uns am
nächsten war. Er kam nicht zum Wagen, sondern blieb
vor dem Zelt stehen und hielt den Filz vor dem
Eingang ein wenig zur Seite, so dass das Licht aus
dem Zeltinnern auf uns fiel.
»Frag ihn, wie man nach Palmyra kommt«, sagte
ich zum Chauffeur.
»Bei den Beduinen heisst es Tadmor«, sagte
Claude, »frag ihn nach dem Weg nach Tadmor.«
Der Chauffeur rief etwas zu dem Mann hinüber. Er
sprach ägyptisches Arabisch, und man konnte sehen,
dass es dem Mann Mühe machte, ihn zu verstehen. Er
wies mit der Hand nach rechts. Als wir wegfuhren,
schossen ein paar grosse Schäferhunde aus dem
Dunkel und liefen gestreckt neben dem Wagen her.
Der Chauffeur beugte sich aus dem Wagen und
schimpfte auf sie hinunter, und sie antworteten
grollend. Dann rief der Mann von den Zelten her, und
sie hielten mitten im Lauf an und verschwanden. Wir
hatten jetzt wieder eine Spur vor uns, und wir fühlten
uns zuversichtlich und begannen zu singen. Der Wind
blies uns in den Rücken und trug den Ton verstärkt
und voll vor uns her.
»Soll ich dich etwa ablösen?« fragte Claude
dazwischen.
»Nein«, sagte ich.
»Du brauchst es nur zu sagen —«, und dann sang er
allein weiter, während ich auf die Spur achtgab. Von
einer Anhöhe aus sahen wir plötzlich eine Reihe von
Lichtern, weit auseinandergezogen wie die Lichter
einer Bahnlinie. »Das ist wohl die Promenade der
Königin Zenobia«, sagte Claude.
Wir bogen in ein Tal ein, und die Lichter
verschwanden. Wir sahen auf beiden Seiten des Tals
Türme und schlossen daraus, dass wir uns im »Tal der
Gräber« befinden mussten.
Gleich darauf tauchten die Lichter wieder auf, und
wir konnten vor uns ein grosses Trümmerfeld und
einige hohe, leichte, wunderbar luftige und
schwerelose Säulenreihen erkennen.
Claude richtete sich auf. »Da sind wir ja schon
mitten in der Residenz«, sagte er.
»Wo wohnt sie wohl?« fragte ich.
»Wen meinst du?«
»Deine Zenobia natürlich.«
»Ach so«, sagte er, »wir werden fragen. Wir werden
einen ihrer Untertanen fragen.«
Wir fuhren geradeaus in das Ruinenfeld hinein, und
die Spur endete zwischen umgestürzten Säulen und
weissen Quadern, und wir kehrten um und kamen auf
eine breite Strasse, die zu der Stadt hinunterführte.
»Halt an«, sagte Claude, »ich werde diesen
Palmyrenser befragen.« Er winkte einem Araber, der
aus der Richtung der Stadt kam. »Madame d’Elbros«,
rief er. Der Araber hob die Schultern und ging vorbei.
»Na«, sagte ich, »wahrscheinlich ist sie hier
unbekannt.«
»Der Mann war schwachsinnig«, sagte Claude.
Ȇberdies muss die Dame einen arabischen Namen
haben.«
»Vielleicht nennt sie sich Zenobia.«
»Ach Unsinn. Sie ist Chef eines Beduinenstammes
und hat einen Beduinen-Namen.«
»Wir wollen dem Mann nachfahren und ihn nach
der Königin Zenobia fragen«, sagte ich. Wir holten ihn
ein, und ich fuhr langsam neben ihm her und rief:
»Zenobia?«
»Lass doch den Unsinn«, sagte Claude. Der Mann
blieb stehen und wies mit dem Arm über das
Ruinenfeld hinweg nach links.
»Woher wusstest du diesen Unsinn?« fragte Claude.
»Es ist das Hotel, das so heisst«, erklärte ich, »es ist
überall in Syrien angeschlagen. Sagtest du nicht, dass
Madame d’Elbros Besitzerin eines Hotels in Tadmor
ist?«
»Ich sagte, sie sei Besitzerin eines
Beduinenstamms.«
»Lass sie«, sagte ich, »sie ist ganz einfach
vielseitig. Sie hat ein Hotel und einen Beduinenstamm
und einen christlichen Gatten von bestem
französischem Adel, und einen Greuel von einem
Muselmann-Gatten.«
»Der ist tot«, sagte Claude, »und vom besten Adel
hat sie sich scheiden lassen. Darüber spricht man nicht
in besseren Kreisen.«
»Wie froh ich bin, wieder in bessere Kreise zu
kommen!« sagte ich.
Wir hielten vor dem Hotel, welches allein am Rand
der Ruinen lag. Die Tür war offen, und man sah in
eine grosse, angenehm erleuchtete Halle hinein. Zwei
Beduinen halfen uns, das Gepäck aus dem Wagen zu
nehmen, und ich stieg wieder ein, um den Wagen um
das Haus herum in den Hof zu bringen. Ich sass am
Steuer, als Madame d’Elbros auf die Treppe
herauskam und die flachen Stufen hinunter auf Claude
zulief. Sie war klein und schmal, und sie trug lange,
weite Strandhosen und ein dünnes Brusttuch, welches
ihre Schultern und ihren braunen Rücken freiliess. Sie
hatte braune, sehnige Arme und einen schmalen Hals,
und sie trug die Haare im Nacken in einem kleinen
Knoten. Ungemein lebhaft lief sie Claude entgegen
und schüttelte seine Hände, sie schickte die Beduinen
mit dem Gepäck ins Haus und kam wieder zurück und
sah ihn von allen Seiten an. »Also doch«, sagte sie,
»es gibt also noch Leute, die ihre Versprechen halten.«
»Und ob«, sagte Claude. Er sah zu mir herüber, und
ich stieg aus und liess den Chauffeur den Wagen
wegfahren. Madame d’Elbros kam endlich dazu, uns
ins Haus zu bringen. Ein Mann mit einem grauen
Schnurrbart führte uns durch einen langen, engen, sehr
hohen Gang, der kühl wie ein Keller war. »Hier sind
Ihre Zimmer«, sagte er. »Madame d’Elbros wünscht,
dass Sie die besten Zimmer bekommen. Ich werde
mich inzwischen um das Nachtessen kümmern.« Er
schien eine Art von Haushofmeister zu sein.
»Machen Sie bloss keine Umstände«, sagte Claude.
»Hindere ihn nicht«, sagte ich, »ich habe einfach
entsetzlichen Hunger.«
Als wir später in der Halle beim Essen sassen, kam
Madame d’Elbros noch einmal hinein. Ich beobachtete
sie, wie sie die Tür mit dem Moskitogitter aufstiess
und wie alles an ihr gespannt und voller Erwartung
war, wie eine Bogensehne, die nur darauf wartet, einen
Pfeil in hohem Bogen abzuschnellen. Sie kam durch
die Halle, in Eile, warf sich uns gleichsam entgegen.
Die Hände auf den Tisch gestützt, begann sie schnell
zu reden. »Es tut mir so leid«, sagte sie, »ich hätte
mich heute abend gern um Sie gekümmert.«
»Wir gehen gleich schlafen«, sagte Claude.
»Es tut mir trotzdem leid«, sagte sie. »Aber ich
muss in die Stadt, um etwas mit meinen Leuten zu
besprechen.« Sie wandte sich an mich. »Sie wissen
doch, dass ich jetzt meine eigenen Leute habe?«
»Ist es also gelungen?« fragte Claude.
»Natürlich«, sagte sie. »Jetzt habe ich fünfzehn
Leute. Ich werde bald mehr haben. Ich sammle alle,
die so arm sind, dass sie sich keine Schafe mehr halten
können, und alle, die zu keinem Stamm gehören. Ich
leihe ihnen Geld, kaufe ihnen Zelte, Kleider und alles,
was sie brauchen, und sie geben mir dafür jedes zehnte
Schaf. Es ist ein gutes Geschäft, und ich kann ihnen
dadurch helfen und habe meinen eigenen Stamm.«
»Sind Sie Stammesvater, wie Abraham?« fragte
Claude.
»Natürlich«, sie lächelte. »Meine Leute heissen
Beni Zenobi. Sie werden sie morgen sehen!«
»Bei den Söhnen der Zenobia«, sagte Claude.
Sie lächelte ihn an. »Wissen Sie«, sagte sie, »Sie
kommen eigentlich in einem schlechten Augenblick.«
»Sollen wir lieber wieder gehen?«
»Im Gegenteil«, sagte sie. Sie stand zwischen uns
und stützte sich mit beiden Händen auf unsere
Schultern. »Ich sage nur, dass es für mich ein
schlechter Augenblick ist. Ich habe so viele
Schwierigkeiten!«
»Ist das etwas Neues?« fragte Claude. »Wollen Sie
damit sagen, dass Sie noch nicht an alle
Schwierigkeiten der Welt gewohnt sind?«
»Sie stehen mir bis zum Hals«, sagte sie. Sie sah
bekümmert aus, als sie weglief.
»Also«, sagte Claude, »wie gefällt sie dir?«
Der Haushofmeister kam, um uns Wein
einzuschenken. »Wir haben ein Huhn gebraten«, sagte
er. »Das ist leider alles, was wir haben. Aber es ist
ausgezeichnet!« Er stellte das Huhn auf den Tisch.
»Soll ich es für Sie tranchieren?« fragte er.
»Nein, danke«, sagte Claude. »Das machen wir
schon selber.«
»Wenn Sie sonst noch etwas brauchen —«
»Nein, gewiss nicht.«
»Sie können es einfach dem Beduinen sagen.«
Er ging endlich weg. Im Hintergrund der Halle,
neben der Bar, stand einer der jungen Beduinen. Er
trug ein langes, gelbes Kleid und war um die Augen
herum geschminkt. Sein in kleine Zöpfe geflochtenes
Haar kam unter dem weissen Khefie hervor.
»Ein gutaussehender Bursche«, sagte Claude.
»Glaubst du, dass Madame d’Elbros diese Burschen
wäscht, bevor sie sie ins Haus nimmt?«
»Glaubst du, was man von ihr und den Beduinen
sagt?«
Der junge Beduine kam an den Tisch, schenkte
unsere Gläser voll und zog sich wieder zurück.
»Vielleicht versteht er Französisch?« fragte ich.
»Nein«, sagte Claude. »Das ist zu kompliziert.«
»Jedenfalls hat sie doch einmal einen geheiratet!«
sagte ich.
»Das ist kein Beweis«, sagte Claude, »sie hat ihn
nicht aus Liebe geheiratet, sondern weil sie nach
Mekka wallfahren wollte. Sie hatte es sich in den
Kopf gesetzt, und deshalb wurde sie
Mohammedanerin und heiratete einen Beduinen, der
ihr Diener war, und behauptete, dass dieser Bursche
sich an den Vertrag halten werde, den sie ihm
aufgesetzt hatte. Natürlich hörte er eines Tages auf,
sich daran zu halten.«
»Dafür ist er dann auch gleich gestorben«, sagte
ich.
»Ja«, sagte Claude, »es funktionierte alles
ausgezeichnet. Madame d’Elbros sass in einem
Gefängnis an der Küste Arabiens und sollte wegen
Gattenmords gesteinigt werden. Es ist eine reizende
Todesart, und man bereitete sie darauf vor, indem man
sie mit zehn Arabern, Gaunern und Wegelagerern im
gleichen Raum liess.«
»Sag mal, glaubst du daran, dass sie ihren Mann
umgebracht hat?«
»Nein. Nicht wenn du mich so fragst. Nicht wenn
es eine Art von Glaubensbekenntnis sein soll . . .«
»Also gut. Hältst du es für möglich, dass eine Dame
aus den besten französischen Kreisen, die sich Zainab
nennt, fähig ist, ihren Greuel von Muselmann-Gatten
zu vergiften?«
»So gestellt, verliert die Frage an Bedeutung.
Würdest du, nötigenfalls, Bedenken haben, einen
Beduinen umzubringen? Oder irgendeinen Gauner, der
dir hier draussen ans Leben will?«
»Vermutlich nicht«, sagte ich.
»Jedenfalls hätte man sie gesteinigt«, sagte Claude,
»wenn nicht der dortige Konsul noch eingegriffen
hätte. Dann brachte man sie aus dem Gefängnis in den
Harem des Gouverneurs, und sie fing an, den Damen
Nudismus beizubringen.«
»Meinst du, dass sie einfach unverbesserlich ist?«
»Ja, sie ist einfach, einfach unverbesserlich. Man
hatte sie davor gewarnt, nach Mekka gehen zu wollen,
und davor, einen Beduinen zu heiraten. Aber sie
bewies allen haarscharf, dass sie durchaus logisch und
vernünftig handle. Und als man sie endlich aus dem
Gefängnis draussen hatte, tat sie sofort alles, um sich
im Harem wieder in Lebensgefahr zu bringen.
Schliesslich hat man sie auch aus dem Harem befreit.«
»Und jetzt?«
»Du hast es doch gehört«, sagte Claude. »Sie steckt
bis zum Hals in Schwierigkeiten. Sie hat keinen
französischen Pass, weil man sich hütet, ihr einen
auszustellen — und sie hat einen Pass von Nedsch, als
Beduinen-Witwe, mit dem sie sich nicht zufrieden
geben will. Sie darf hier wohnen, unter der
Voraussetzung, dass sie sich ruhig hält und sich nicht
in die Politik der Stämme mischt.«
»Sie sollte sich mit den Behörden hier gutstellen.«
»Sie tut alles, um die Leute verrückt zu machen«,
sagte Claude. »Sie schickt hundert Beschwerden ein.
Man müsste auf dem Kommissariat eigens einen
Mann anstellen, um damit fertig zu werden. Und
gleichzeitig weigert sie sich, irgendeine Vorschrift
einzuhalten. Sie nimmt es einfach nicht ernst. Sie reist
ohne Pass über die Grenze und kann dann drüben in
Bagdad nicht begreifen, weshalb das Konsulat ihr kein
Visum ausstellt.«
»Magst du sie eigentlich gern?« fragte ich.
»Ja«, sagte Claude, »ich finde sie richtig nett. Und
du?«
»Sie ist richtig nett.«
»Ich bin neugierig«, sagte er, »wie uns morgen die
Beni Zainab gefallen werden!«
Wir gingen am nächsten Tag früh in den Tempel des
Bel hinüber und trafen den Architekten, der die
Restaurationsarbeiten machte. Nachdem wir den
Tempelbezirk angesehen hatten, nahm er uns mit
hinaus zu den Gräbern und zeigte uns einige
Grabstätten, die unter der Erde liegen, und einige von
den Grabtürmen, die wir in der Nacht von weitem
gesehen hatten.
In den Gräbern war es kühl und feucht, und als wir
wieder herauskamen, fanden wir, dass es in der
Zwischenzeit sehr heiss geworden sei. Ganz Palmyra
lag jetzt unter einem weissen, glänzenden Licht, und
man sah die Stadt und das Ruinengebiet und die leere
Sandfläche dazwischen fast wie eine Luftspiegelung
in dem tödlich weissen Himmel. Die Säulenreihen
schienen mit ihren leichten Kapitellen und den
unsichtbaren Basen zu schweben, und man erwartete
jeden Augenblick, dass die zarten Schäfte sich in den
Hitzewellen brechen würden wie Spiegelbilder im
Wasser.
Wir hatten uns mit Madame d’Elbros bei der
»Quelle« verabredet, und der Architekt brachte uns in
seinem Wagen hin. »Die arme Frau hat heftig darum
kämpfen müssen«, sagte er. »Jetzt hat sie die Quelle
am Morgen für sich allein, und die Garnison kommt
erst am Nachmittag.«
»Sie muss eben um alles kämpfen«, sagte Claude.
»Sie weiss auch, wie man sich wehrt«, sagte der
Architekt. »Als letzte Woche ein paar Soldaten am
Vormittag hier badeten, packte sie all deren Kleider
ins Auto und liess sie irgendwo in der Wüste liegen.«
»Sie versteht es, sich beliebt zu machen.«
»Sie ist nun einmal so«, sagte der Architekt.
Madame d’Elbros lag am Rand des Teichs, das
Gesicht auf den Armen. Sie sprang auf, als sie uns
kommen hörte, und wir zogen uns alle aus und liessen
uns in das kalte Wasser gleiten. Wir schwammen
zuerst im Teich, und dann durch einen langen,
dunklen, niedrigen Gang bis in die Grotte. Zuletzt war
der Gang so niedrig, dass man den Kopf während des
Schwimmens nicht heben durfte. Dann tat sich
plötzlich ganz rund die Grotte auf, und man lag im
warmen Wasser in einem kühlen, bläulichen Licht.
Das Wasser roch nach Schwefel.
Als wir wieder hinauskamen, blieben wir nicht
lange in der Sonne, sondern zogen uns rasch an und
fuhren in das Hotel zurück. Wir warteten nach dem
Essen, bis die grösste Hitze vorbei war, und fuhren
dann mit Madame d’Elbros zu den Zelten der Beni
Zainab. Es waren ein paar einfache, schwarze
Ziegenfilz-Zelte, die Seitenwände waren wegen der
Hitze emporgebunden, und man sah die Leute
darunter im Schatten sitzen. Als Madame d’Elbros aus
dem Wagen stieg, kamen alle ins Freie, und die
Kinder liefen in einem Rudel auf sie zu. Madame
d’Elbros ging bis zum ersten Zelt und nahm einen
grossen, ernst und ein wenig blöd blickenden Mann
am Ärmel. Sie reichte ihm nur bis zur Schulter, aber
sie zog ihn mit sich wie ein Kaninchen, das man am
Genick hält. »Sehen Sie sich den da an«, sagte sie. »Er
ist ein mutiger Krieger und hält sich noch wie ein
richtiger Beduine. Es ist schade, dass Sie ihn nicht zu
Pferd sehen können.« Der Mann sah auf sie hinunter
und dann auf uns. Sie liess ihn los und wandte sich
den Kindern zu, die sie sofort umringten. Sie suchte
einen Jungen heraus, der uns nachher führen sollte,
und wir nahmen ihn im Auto mit zurück. Wir fuhren
wieder an den Ruinen vorbei und begegneten allen
Frauen von Palmyra, die mit ihren Krügen zum
Brunnen gingen. Der Brunnen lag in einer Vertiefung
und war mit einer Reihe von weissen
Säulenbruchstücken gedeckt. Ein paar Stufen führten
hinunter, und die Frauen sassen schwatzend vor dem
Brunnen und warteten, bis sie an der Reihe waren,
hinunterzusteigen. Nachher sahen wir Beduinen mit
ihren Kamelen eintreffen. Es war eine ganze Herde
von Kamelen, alle ungesattelt bis auf die Reittiere,
und sie gingen nicht hintereinander wie Karawanen-
Kamele, sondern drängten und stiessen sich,
überholten sich in ungelenkem Trab und wälzten sich
so in eine Staubwolke gehüllt heran. Nur die Reiter
am Anfang und Ende des Zuges schienen von der
Unordnung nichts zu merken und sassen ruhig und
würdevoll vermummt auf ihren hohen Sätteln.
Madame d’Elbros hielt ihren Wagen am Wegrand
an und sah ihnen nach. »Reiche Leute«, sagte sie.
»Aber sie sind spät dran dieses Jahr. Sie werden Mühe
haben, hier eine Weide zu finden.«
»Möchten Sie mit den Beduinen leben?« fragte ich.
»Aber ich lebe doch immer mit ihnen!«
»Ich meine: ganz bei den Beduinen.«
»Ich habe jeden Winter ein paar Monate bei ihnen
in den Zelten zugebracht«, sagte sie. »Ich kann mich
gut als Beduine verkleiden. Sie haben mir schon
angeboten, dass sie mich vor meinen Feinden
verstecken und bei sich behalten würden . . .«
»Vor Ihren Feinden?« fragte ich.
»Wenn es nötig ist, werde ich es tun«, sagte sie. Sie
drehte sich plötzlich um und sah uns fest und gerade
an. »Ich lasse mich von hier nicht mehr vertreiben. Ich
will da leben, wo es mir gefällt zu leben.«
Wir assen am Abend mit Madame d’Elbros und
dem Architekten zusammen. Der Architekt hiess
Bleuzon, und wir hatten den Eindruck, dass er mit
Madame d’Elbros befreundet sei und es gut mit ihr
meine. Sie war guter Laune und fröhlich, und die
Spannung war ein wenig von ihr gewichen, und
dadurch fühlten wir uns alle erleichtert und tranken
auf das Gedeihen der Beni Zainab. Während wir noch
beim Essen waren, wurde sie von einem der
Beduinenjungen weggerufen und kam nicht wieder
zurück. Der Haushofmeister mit dem grauen
Schnurrbart bediente uns und hielt uns mit seiner
lästigen Aufmerksamkeit in Atem. Er verdarb uns die
zweite Hälfte der Mahlzeit, und als wir fertig waren,
sahen wir uns um, ob wir den Kaffee anderswo trinken
könnten, aber der Meister sagte uns, dass es vor dem
Haus zu viele Moskitos gebe, und dass es üblich sei,
den Kaffee in der Halle zu servieren.
»Schön«, sagte Bleuzon, »dann bringen Sie uns
auch einen Cognac in die Halle.«
Wir hatten den Kaffee noch nicht ausgetrunken, als
Madame d’Elbros zurückkam. Wir hörten zuerst das
Auto und sahen die Scheinwerfer über die Halle
streichen, und gleich danach kam Madame d’Elbros
und lief auf uns zu. »Ihr seid doch nicht böse«, sagte
sie.
»Kommt nicht in Frage«, sagte Claude.
»Im Gegenteil«, sagte Bleuzon, »es kommt ganz
darauf an —«
»Ich werde Ihnen schon beweisen, worauf es
ankommt«, sagte Madame d’Elbros. Sie bekam
glänzende, erregte Augen, und wir merkten alle im
gleichen Augenblick, dass sich etwas bei ihr verändert
hatte. Sie war wieder ganz mit Unruhe und Spannung
erfüllt, aber was am Morgen zerfahren und
unkonzentriert gewesen war, sammelte sich jetzt alles
wie zu einem Angriff. Sie ging um den Tisch herum
zu Bleuzon und fasste ihn an der Schulter. »Sie haben
doch keine Ahnung«, sagte sie, und dann,
geheimnisvoll und triumphierend: »Niemand hat eine
Ahnung, nicht einmal der Oberst der Garnison, und
nicht einmal das Kommissariat. Ich habe eine
Botschaft bekommen, Bleuzon —«
»Muss das unbedingt hier sein?« fragte Bleuzon. Er
sah zum Bartisch hinüber, wo der Schnurrbärtige sich
zu schaffen machte. »Bringen Sie den Cognac schon
her«, rief er laut.
»Es ist mir gleich, wenn er es hört«, sagte Madame
d’Elbros. »Er ist neugierig wie ein altes Weib, aber er
soll zuhören, wenn es ihm Vergnügen macht!«
»Warum macht es ihm wohl Vergnügen?« fragte
Bleuzon.
Sie sah ihn an und lachte. »Na also«, sagte sie,
»wenn Sie darauf bestehen, können wir ja in mein
Zimmer hinübergehen —«. Wir gingen alle vier
hinüber, und der Haushofmeister brachte den Cognac
und ein paar Gläser. »Schick den Bedu herein«, sagte
Madame d’Elbros. Gleich darauf wurde die Tür ohne
Anklopfen geöffnet, und ein Beduine trat ein. Er war
gross und trug ein langes, gelb- und rotgestreiftes
Oberkleid und einen schwarzweiss gemusterten
Khefie aus Baumwolle. Seine Füsse und seine
Sandalen waren mit Staub bedeckt. Wir gaben ihm
alle die Hand, und er setzte sich uns gegenüber auf
einen Stuhl.
»Er ist ein Bote«, sagte Madame d’Elbros. »Aghbar
schickt ihn mir.«
»Er sieht aus, als habe er ein gutes Stück Weg
hinter sich«, sagte Bleuzon, »hat ihn Aghbar etwa zu
Fuss hergeschickt?«
Madame d’Elbros sagte: »Machen Sie sich nicht
über ihn lustig!« Der Beduine sah sie an, und ich sah,
dass sie ihm ein Zeichen mit den Augen gab. Er fing
an zu sprechen und sprach eine ganze Weile, fliessend,
mit erhobener Stimme, dann liess er die Stimme
sinken und brach ab.
»Haben Sie alles verstanden?« fragte Madame
d’Elbros.
»Ja«, sagte Bleuzon, und zu uns: »Scheich Aghbar
scheint vor drei Tagen einen seiner Vettern oder
Halbbrüder ermordet zu haben. Er ist der Scheich
eines Anezi-Stammes, ein ziemlich mächtiger Mann,
aber der andere hat auch seine Sippe und seine
Anhängerschaft, und nun sind drei Tage um, und der
Teufel ist los.«
»Er ist noch nicht los«, sagte Madame d’Elbros.
»Aghbar ist ein höchst ehrenvoller Bursche. Er hat
den anderen getötet, weil er sein Feind war.«
»Wirklich?« fragte Bleuzon.
»Sie wissen, was ich meine«, verteidigte sie sich.
»Es war eine alte Feindschaft, und es war
vorauszusehen, dass eines Tages einer von ihnen fallen
musste. Aghbar ist der mutigere, das ist alles.«
»Wie hat er ihn denn getötet?« fragte ich.
»Er hat ihn in sein Zelt eingeladen, um den Fall mit
ihm zu besprechen. Als er ihn ohne Begleitung im
Zelt hatte, erschoss er ihn.«
»Ausserordentlich mutig!« sagte Bleuzon. »Ich
habe Ihnen immer gesagt, dass Aghbar ein
Räuberhauptmann sei.«
Sie sah ihn wütend an. »Bitte, glauben Sie ihm
nicht«, sagte sie.
»Na schön«, sagte Bleuzon. »Mir ist es ganz egal,
ob Aghbar ein Räuberhauptmann ist oder nicht.
Meinetwegen ist er ein Held.«
»Ein Ehrenmann —«
»Meinetwegen ein Ehrenmann. Das hindert nicht,
dass die Vettern-Sippe sich rächen wird, und dass wir
wieder einen hübschen Wüstenkrieg haben werden.«
»Weshalb hat Aghbar Ihnen einen Boten
geschickt?« fragte Claude.
»Am besten, Sie schicken ihn wieder nach Hause zu
seinen Zelten«, sagte Bleuzon.
Madame d’Elbros sagte: »Aber das ist es doch
gerade. Es wird keinen Krieg geben. Aghbar bittet
mich durch diesen Mann, dass ich in sein Lager
kommen soll, um beide Parteien anzuhören. Ich soll
meine Meinung darüber sagen, und sie wollen tun,
was ich ihnen sage.« Sie sah uns alle glücklich und
triumphierend an.
»Ich dachte, Sie dürfen sich nicht mehr in politische
Angelegenheiten mischen«, sagte Claude.
»Aber ich kümmere mich nicht um Politik«, sagte
sie. »Ich gehe meine Freunde besuchen und sage ihnen
meine Ansicht, wenn sie mich darnach fragen. Ist das
Politik?«
»Sie wissen es so gut wie wir«, sagte Bleuzon.
»Ist es Politik, sich mit seinen Freunden zu
unterhalten? Ist es nicht gut, wenn ich sie daran
hindere, in einen Krieg hineinzugeraten?« Keiner von
uns antwortete. Sie wurde unsicher. »Ich zwinge doch
Aghbar nicht, irgend etwas zu tun, was er nicht mag.
Ich sage ihm, was ich davon halte, weil ich mit ihm
befreundet bin — Bleuzon«, sagte sie, »finden Sie
wirklich, dass es Politik ist?«
Bleuzon antwortete: »Es hat doch gar keinen
Zweck, wenn ich Ihnen etwas sage!«
»Claude«, sagte sie, »wenn ich morgen früh ins
Lager von Aghbar fahre und versuche, ihn mit seinen
Vettern zu versöhnen, ist das Politik oder ist es eine
interne Angelegenheit unter Verwandten und
Freunden?«
»Nehmen wir an, dass Ihre Vermittlung ohne Erfolg
ist«, sagte Claude, »nehmen wir an, dass es zum Krieg
kommt: dann wird man Truppen mobil machen
müssen, und es wird ein innerpolitischer Fall werden.
Glauben Sie nicht, dass das Kommissariat schon in
kürzester Zeit wissen wird, wer sich gerade vor
Kriegsausbruch in Aghbars Lager aufgehalten hat?
Aghbar ist ein aufständischer Scheich und also ein
Feind der Regierung . . .«
»Seien Sie doch vernünftig«, sagte Bleuzon,
»lassen Sie doch diese Beduinen sich gegenseitig
totschlagen, wenn es ihnen Freude macht, sich
totzuschlagen.«
»Ich kann Aghbar nicht so enttäuschen«, sagte sie.
»Er ist fünfzig Kilometer von hier«, sagte Bleuzon,
»sagen Sie dem Boten, dass Sie keine Zeit haben.«
Sie sagte etwas zu dem Beduinen. Er antwortete.
Sie wandte sich zu uns: »Ich fahre den Mann schnell
in die Stadt«, sagte sie.
»Und wir werden schlafen gehen«, sagte Bleuzon,
»aber bitte überlegen Sie sich’s noch einmal. Bitte,
seien Sie vernünftig!«
Sie gingen, und wir hörten draussen den Wagen
anspringen. Bleuzon goss uns Cognac ein. Dann
zündete er sich eine Zigarette an und rauchte schnell
und stumm in sich hinein.
»Es ist glatte Politik, wenn sie sich da einmischt«,
sagte Claude. »Glauben Sie, dass sie fahren wird?«
»Natürlich«, sagte Bleuzon. »Sie konnte es ja kaum
erwarten. Sie brannte einfach vor Lust, mit dem
Räuber-Scheich grosse Politik zu treiben!«
»Tut sie es aus Ehrgeiz?«
»Sie weiss gar nicht, was Ehrgeiz ist.«
»Es ist trotzdem Ehrgeiz«, sagte Claude. »Selbst,
wenn sie es nicht weiss.«
»Nein«, sagte Bleuzon. »Ihre Motive sind
grundanständig. Sie ist einer der anständigsten
Menschen, die mir begegnet sind. Aber sie ist
unvernünftig.«
»Sie hat sich solche Mühe gegeben, uns zu
beweisen, dass es keine Politik ist!«
»Oh ja — sie war verzweifelt, weil wir ihr nicht
recht geben wollten. Sie wurde sogar unsicher, aber sie
hat ihren ganzen Mut dagegen aufgerufen. Sie wird
fahren, und wird wieder tausend Schwierigkeiten
davontragen, und auf dem Kommissariat werden sie
sich die Haare raufen.«
»Und dann?« fragte Claude.
»Man muss sie lassen«, sagte Bleuzon. »Es ist
schrecklich, mit ihr befreundet zu sein, denn man kann
sie vor nichts bewahren und kann gar nichts für sie
tun. Sie wird noch viele Abenteuer haben, und
vermutlich wird sie einmal wieder verschwinden, und
dann wird man sich trotz allem fragen, warum man sie
nicht halten konnte. Bisher hat sie bei allem immer
noch ein bisschen Glück gehabt. Aber eines Tages
wird es damit vorbei sein. Eines Tages wird sie
endgültig verschollen sein, wenn man sie nicht
einfach erfroren am Wegrand auffindet. Ich würde
mich nicht darüber wundern . . .«
Eine Bekanntmachung

»Die mir am 25.1.1932 in der russisch orthodoxen


Kirche in Teheran angetraute Katharina Kraitner
geborene Petronova ist am 4.1.1313 datum iran zum
mohammedanischen Glauben übergetreten, und
hiermit ist unsere Ehe nach Iranischem Gesetz
automatisch geschieden, auch das österreichische
Konsulat steht dieser Tatsache machtlos gegenüber.
Ferner gebe ich bekannt dass durch eine Blutprobe
festgestellt wurde, dass das, nach 7 Monaten und 20
Tagen in unserer Ehe zur Welt gekommene Kind nicht
von mir stammt, und warne jeden ihr auf meinen
Namen Kredit zu geben.
Rudolph Kraitner, Teheran.«
Katharina Kraitner legte die Zeitung weg und sah
zu ihrem Mann hinüber. Er sass in einem der hohen,
unbequemen Sessel mit steiler Rückenlehne, die in
Persien nach schlechten europäischen Vorbildern
gemacht wurden.
»Hör mal«, sagte Katharina, »hast du das in die
Zeitung gesetzt?«
»Allerdings«, sagte er, »wer denn wohl sonst?«
Sie schwieg eine Weile. Dann sagte sie: »Richtig,
wer denn sonst. Ich hätte mir gleich sagen können,
dass niemand ausser dir fähig ist, so etwas zu tun.«
»Was meinst du damit?« fragte er. »Meinst du
damit, dass ich kein Recht hatte, diese
Bekanntmachung in die Zeitung zu setzen? Meinst du
etwa, dass ich dir irgendeine Rücksicht schuldig bin?«
»Ich meine nur, dass niemand ausser dir so etwas
tun könnte.«
»Na«, sagte er, »ich bin dir ja Gott sei Dank keine
Rechenschaft schuldig!«
Sie antwortete nicht. Sie nahm das Blatt noch
einmal in die Hand und las die Bekanntmachung
aufmerksam durch. »Warum hast du Namen Kredit
kursiv drucken lassen?« fragte sie. Er sass mit steifem
Nacken in seinem Stuhl und rauchte. Den
Aschenbecher hatte er auf einen kleinen, hochbeinigen
Ziertisch neben sich gestellt. »Habe ich jemals auf
deinen Namen Schulden gemacht?« fuhr sie fort.
»Natürlich nicht«, sagte Kraitner. »Ich habe dir,
denke ich, immer genug Geld gegeben. Aber damit ist
es jetzt vorbei.«
Sie stand hastig auf und durchquerte das Zimmer.
»Könntest du mir eine Zigarette geben?« fragte sie. Er
griff in die Tasche und reichte ihr das Etui. Sie
zündete sich eine Zigarette an, setzte ihre Wanderung
durch das Zimmer fort.
»Bitte«, sagte er, »wenn es dir möglich ist, schnipp
die Asche nicht auf meine Teppiche. Hier ist ein
Aschenbecher.«
Sie ging zu ihrem Stuhl zurück und schlug mit der
flachen Hand auf das Zeitungsblatt. »Und dieses
Deutsch!« sagte sie. »Was heisst denn, nachdem du
von dem Kind und der Blutprobe sprichst, ›und warne
jeden ihr Kredit zu geben‹?«
»Vielleicht regst du dich über etwas anderes auf«,
sagte er. »Die Leute werden schon verstehen, wer und
was gemeint ist!«
»Dass du dich nicht vor den Leuten schämst«, sagte
Katharina.
»Ich?« fragte er. Dann beugte er sich ein wenig vor
und sagte: »Ich habe mich genug deinetwegen
geschämt, wahrhaftig genug! Als ich dich vor drei
Jahren heiratete, haben mich meine Freunde vor dir
gewarnt.«
»Deine Freunde!« sagte sie, »wer waren denn deine
Freunde!«
»Unterbrich mich bitte nicht die ganze Zeit! Aber
ich dachte damals, ich würde mit dir fertig werden. Ich
glaubte an deine guten Seiten und glaubte, dass du
dich schon darauf besinnen würdest, wenn du erst mit
mir verheiratet sein und in eine anständige Umgebung
kommen würdest.«
»Ja«, sagte sie, »du hast dir grosse Mühe gegeben,
mich zu erziehen.«
»Du brauchst dich nicht darüber lustig zu machen«,
sagte Kraitner.
»Aber nein«, sagte sie.
Er zerdrückte den Rest seiner Zigarette im
Aschenbecher und beugte sich noch weiter vor, wie
um seine Frau im Auge zu behalten. »Ich hätte wissen
müssen, dass man keine Russin heiratet«, sagte er. Sie
starrte ihn schweigend an. Er sah ihr schweigendes
Gesicht, den grossen, leicht geschlossenen Mund, die
breiten Backenknochen, auf denen sich alle Blässe zu
sammeln schien, die weit auseinanderstrebenden
Augen, die bäurische Stirn unter dem bäurisch glatten,
flachsblonden Haar. Den Triumph über dieses schöne,
allzu vertraute Gesicht auskostend, sagte er: »Ihr seid
eben alle gleich. Emigranten oder Kommunisten, ich
würde nicht die Hand umdrehen.« Sie sah ihn aus
Augen an, die durch ihn hindurch gingen und vor
denen er sich immer gefürchtet hatte. Sie konnte
seinen Blick aushalten, und er war sicher, dass sie
ebenso jeden Anblick der Welt aushalten könne. Es
waren Schlafwandler-Augen.
»Warum haben wir eigentlich geheiratet?« fragte
sie.
»Ich habe es dir soeben erklärt«, sagte er, »ich
glaubte, ich würde dich auf den rechten Weg bringen
können.«
»Ach«, sagte sie, »und ich dachte, du habest mich
vielleicht geliebt!«
Ihre Augen wichen nicht von der Stelle. Er fühlte
seine Position schwächer werden. Er hatte ihr
furchtbare Dinge gesagt und hatte sich im Recht
geglaubt, für einmal. Bisher war er immer der
Schwache gewesen, weiss der Himmel weshalb. Er
hatte seit seiner Verheiratung versucht, das richtige
Verhältnis herzustellen und seine Frau so von ihm
abhängig zu machen, wie es sich gehörte: Er hatte sie
immer wieder fühlen lassen, dass es sein Haus war, in
dem sie lebten, und dass es sein Geld war, von dem sie
sich und das Kind kleidete. Aber es war ihm nie
gelungen, sie zu demütigen. Jetzt war der Augenblick
dafür gekommen. Sie hatte alles getan, um sich ins
blutige Unrecht zu setzen. Sie hatte ihn betrogen,
schon vor der Ehe, und hatte die Lüge die ganze Zeit
zwischen ihnen ertragen. Es war ungeheuerlich!
»Katharina«, sagte er, »bevor wir uns für immer
trennen, wirst du vielleicht die Güte haben, mir den
Namen zu sagen . . .«
»Wirst du dann eine neue Bekanntmachung in die
Zeitung setzen?« fragte Katharina. »Wirst du
schreiben: Ich gebe Ihnen bekannt, dass ich durch
diesen und diesen Mann . . .«
»Hör schon auf«, sagte er.
»Sie wissen nun doch alle, dass das Kind nicht von
dir ist!«
»Schweig!« schrie er, »wenn du nicht genug
Taktgefühl hast, um dich zu schonen, so schweig
wenigstens mir zuliebe!«
»Du warst ja auch so ungemein taktvoll.«
»Nachdem du mich durch deinen absurden Übertritt
lächerlich gemacht hattest«, schrie er, »war es das
einzige, was mir übrigblieb. Der einzige Weg aus
dieser lächerlichen Situation war, dich zu verleugnen.
Verstehst du das nicht?«
Sie hob langsam die Augen, sah ihn an, stand auf
und ging bis zur Tür, ohne aufzuhören, ihn anzusehen.
»Dann hat es sich ja gelohnt«, sagte sie. »Ich bin
froh, dass du so aufrichtig bist, Rudolph.«
»Wieso hat es sich gelohnt?«
»Dich einmal die Wahrheit sagen zu hören«, sagte
sie. »Nicht die korrekte Wahrheit, mit der operierst du
ja immer —, sondern die nackte Wahrheit, die
Wahrheit deines Inneren. Ich habe dich in Gefahr
gebracht, lächerlich zu erscheinen — und du hast mich
daraufhin verleugnet, um der Lächerlichkeit zu
entgehen.«
»Wie sollte ich mich denn gegen dich wehren?«
sagte er, leiser.
»Natürlich«, nickte sie, »aber jetzt hat es sich ja
gelohnt. Jetzt hast du dich fein gegen mich gewehrt!«
Sie schloss die Tür hinter sich, und war fort.
Rudolph hörte sie durch das anstossende Zimmer
gehen, und dann in den Hof hinaus, wo sie nach dem
Diener Hassan rief. Und obwohl er genau verfolgen
konnte, was sie machte, und obwohl sie nur ein paar
Schritte von ihm entfernt, im Innenhof seines Hauses,
war, hatte er das Gefühl, dass sie weit fort sei. Er hatte
dieses Gefühl immer, seitdem er sich entschlossen
hatte, sie preiszugeben und sich an ihr zu rächen. Es
war, als sei sie in Wirklichkeit nie bei ihm gewesen,
sondern immer nur durch die Kraft seiner Einbildung.
Jetzt zeigte es sich. Er hätte Katharina, um diesem
Gefühl zu entgehen, die ganze Zeit unter seinen
Augen haben müssen, aber auch das war qualvoll. Sie
hatte ihn oft gebeten, sie freizugeben, und dann hatte
sie gedroht, dass sie eines Tages fortlaufen werde, aber
er hatte keinen Grund gehabt, ihre Drohung ernst zu
nehmen. Was wollte sie denn allein mit dem Kind, in
einem Land wie Persien? Er erinnerte sich, dass sie
früher, bevor er sie geheiratet hatte, Russisch- und
Französisch-Stunden gab. Hatte sie davon etwa leben
können? Nein, er hatte sie aus dem Elend gezogen. Er
hatte ihr sein Haus, sein sicheres Einkommen, seine
bescheidene, aber solide Position geboten. Als das
Kind geboren wurde, nach sieben Monaten und
zwanzig Tagen, war er ihrer sicher. Die Verachtung,
die sie ihm zuweilen zeigte, hatte ihn kalt gelassen, so
sicher war er seines Besitzes. Meistens war sie ruhig
und freundlich gewesen, eine gute Hausfrau. Drohung,
Verachtung, eine Art von blindem Hass und Zorn, die
manchmal in ihr wach wurden, hatten ihn nicht
gestört. Trotzdem, dachte er, ist sie immer die Stärkere
gewesen. Ich habe sie nie demütigen können. Ich
wollte es gern, aber es ist mir nicht gelungen. Drei
Jahre sind wir verheiratet, und jetzt zeigt sie ihre
wahre Natur. Sie versucht, schonungslos, mich in den
Augen der Leute lächerlich zu machen. Mag sie doch
gehen, je eher, desto lieber. Mag sie doch. — Aber
warum hat sie unter allen Mitteln dieses absurdeste
gewählt, diesen absurden Übertritt zum Islam?
Katharina! Liebte sie also einen Perser? War sein Sohn
Rupert ein Perser? Als er die »Bekanntmachung« auf
die Redaktion gebracht hatte, wollten sie sie nicht
drucken. Er hatte ihnen gesagt, dass er dafür jeden
Preis zahle, und dass er das Recht habe, bekannt zu
geben, was ihm Spass mache. Und damit basta. »Aber
weshalb wollen Sie den Leuten unbedingt erzählen,
dass das Kind nicht von Ihnen ist?« Warum? Er wollte
es so. Er wollte seine Frau preisgeben.
Er hörte sie in das Nebenzimmer zurückkommen,
welches ihnen als Schlafzimmer diente. Sie sprach mit
dem Diener. »Also pass auf das Kind auf«, sagte sie.
»Pass auf, dass es nichts in den Mund steckt, und dass
es nicht auf die Strasse hinausläuft. Ich komme in
einer Stunde wieder.« Sie wollte ausgehen. Wohin?
Wohin ging seine Frau ohne ihn, jetzt, heute, nachdem
alles in der Zeitung gestanden hatte? Hatte sie jetzt
noch den Mut, auf die Strasse zu gehen?
»Katharina!« rief er. Er hielt den Atem an. Einen
Augenblick war es nebenan still, dann verliess
Katharina das Zimmer. Er lauschte angestrengt. Sie
ging. Sie war fort.
Katharina lief durch die enge, kleine Gasse, die ihr
Haus mit der Lalezar verband. Sie lief zwischen den
hohen, gelben Mauern hindurch, die noch jetzt, am
Spätnachmittag, die Hitze der Junisonne ausströmten.
Als sie die Lalezar erreicht hatte, blieb sie stehen und
winkte eine Droschke heran. Sie hatte ein Tuch um die
Schultern gelegt und keinen Hut aufgesetzt. Sie war
gross und hielt sich aufrecht, und die Leute starrten sie
an. Mein Gott, dachte sie, ich laufe ohne Hut durch
die Strassen, und ich bin Mohammedanerin! Auf
einmal fühlte sie, wie lächerlich dies alles war. Sie war
Mohammedanerin. Sie, Katharina Petronova, aus
Kiew, der Stadt der vielen Klöster und der vielen
Kirchen und der brausenden Glocken. Nein, die
Glocken von Kiew waren tot, dachte sie, und sie
brauchte sich deswegen nicht zu beunruhigen. Drei
Jahre war sie verheiratet gewesen, zwölf Jahre in
Persien. Als sie glaubte, es nicht mehr aushalten zu
können, griff sie zu dem Ausweg, der sich ihr bot, und
wurde Mohammedanerin. Das hörte sich sonderbar an.
In Wirklichkeit hatte es ein paar Besuche bei einem
Mullah gekostet, der im Bazarviertel wohnte, ein
Greis im Turban, ein wohlmeinender Greis, der auf
einem weissen Esel ritt. Es hatte eine kleine
Zeremonie und etwas Geld gekostet. Nun war sie
geschieden. Vor Gott und den Menschen? Als sie sich
verheiratete, war es ähnlich gewesen: eine Zeremonie,
und alles war vorüber. Rudolph Kraitner ihr Mann.
Ein kleinlicher, pedantischer, eingebildeter, unsicherer
Mann. Diese Annonce, dachte Katharina, ist es denn
möglich, dass ein Mensch so etwas tut? Und was habe
ich getan? Ihn betrogen? Ich bin ihm davongelaufen.
Sie versuchte, während die Droschke die Lalezar
hinauffuhr, sich klarzumachen, was dies alles
bedeutete. Heirat, Kirche, das Kind, ihr Verhältnis zu
Rudolph, die dreijährige Gewohnheit, ihn neben sich
zu sehen und mit ihm in demselben Zimmer zu
schlafen. Die Bedeutung solcher Akte und
Zeremonien, die einem einfachen Entschluss folgten
und ihn unwiderruflich machten — was davon war
Wirklichkeit? Lebte sie in der Wirklichkeit?
Irgendwie, dachte Katharina, muss man den Kopf
oben behalten, soviel ist doch gewiss. Die Droschke
bog in die Stambuli ein. »Zur Garage Chevrolet«, rief
sie dem Kutscher zu. Es war gut, ein Ziel zu haben.
Sie gab dem Kutscher zwei Kran und stieg aus. Im
Hof fragte sie nach Iwan. Noch nicht da. Sie setzte
sich in das »Wartezimmer«, auf die Frauenseite. Es
war ein kleines Zimmer neben dem Eingang, für die
Leute bestimmt, die Autoplätze nach Pehlevi, Isfahan
oder Kermanschah gemietet hatten und nun auf die
Abfahrt warteten. Katharina sass neben zwei
persischen Frauen im Tschador, die unter dem
schwarzen Tuch hinweg neugierig umhersahen. Sie
unterhielten sich schnell, mit ihren hohen Stimmen,
wie zwitschernde Vögel. Wenn doch Iwan
zurückkäme!
Er kam um sieben Uhr und betrat das Wartezimmer,
so wie er war: ganz verstaubt und voller Ölflecken.
»Du bist es«, sagte er, »ich konnte mir gar nicht
denken, was für eine Frau auf mich warten sollte!«
Katharina lächelte. »Wir haben uns lange nicht
gesehen«, sagte sie.
»Nicht meine Schuld«, sagte Iwan. »Dein Mann
macht ein Gesicht, wenn ich zu euch komme —«
»Ja«, sagte Katharina hastig, »er mag dich nicht. Er
mag keine Russen.«
Die persischen Weiber sahen sie kichernd an.
»Gehen wir weg«, sagte Iwan. »Die sind womöglich
aus Rescht. Die verstehen sicher Russisch.«
»Gehst du nicht essen?« fragte sie.
Sie überquerten die Strasse und betraten eine
Garküche, die sich im Erdgeschoss des Hotels »du
Garage« befand. Katharina setzte sich Iwan gegenüber.
Ein Mann in einer schmutzigen Schürze stellte eine
Schüssel mit Reis und einen kleinen Teller mit
Fleischstücken in einer gelben Sauce vor Iwan hin.
»Und zu trinken«, sagte Iwan, »Raki oder Wodka, eine
kleine Flasche, zwei Gläser.«
»Wir haben keinen Schnaps —«
»Dann lauf hinüber und hol welchen, in der
russischen Handlung.«
Katharina fragte: »Wie geht es?«
»Wie es kann«, sagte Iwan, »nur zu müde —«
»Wann bist du weggefahren?«
»Vorgestern abend. Bis Kasvin. Drei Stunden
Schlaf, dann durchgefahren bis Pehlevi. Wir waren um
fünf Uhr in Pehlevi, es waren Leute da, die am
Vormittag mit dem Dampfer von Baku gekommen
waren. Natürlich wollten sie sofort losfahren, und wir
fuhren wieder bis Kasvin. Dort schlief ich ein paar
Stunden. Sie waren verdammt schlechter Laune
deswegen, aber ich musste schlafen. Wir fuhren
nachmittags um drei wieder weg, hatten eine Panne,
kamen soeben an.«
»Wie oft machst du das?«
»Zweimal die Woche. Auf jeden Dampfer.«
»Und verdienst gut?«
Er zuckte die Achseln. »Ich würde lieber einen
Lastwagen fahren. Man ist dann freier —«
Er goss das Fleisch und die Sauce über den Reis
und begann alles mit der Gabel zu mischen. Der
Bursche kam mit einer Flasche Wodka zurück. »So
ist’s recht«, sagte Iwan, kauend. Und zu Katharina:
»Du kannst doch noch trinken? Du kannst doch noch
etwas vertragen?«
»Rudolph trinkt fast nie Alkohol«, sagte sie. Der
Name ihres Mannes erinnerte sie plötzlich, weswegen
sie hergekommen war. Es war schwer, jetzt daran zu
denken.
»Du bist also drei Tage lang von Teheran
weggewesen?« fragte sie.
»Ja«, sagte er, »was ist dabei?«
Immer, wenn sie mit Iwan zusammen war, fiel es ihr
schwer, an etwas anderes zu denken. Es fiel ihr,
beispielsweise, schwer, sich zu erinnern, dass sie mit
einem Mann namens Rudolph Kraitner verheiratet
war. Alles Fragwürdige und Ungewisse ihrer Existenz
schien wie weggeblasen, wenn sie mit Iwan
zusammen war, aber das Zusammensein mit ihm war
einfache, fraglose Wirklichkeit.
»Dann hast du also drei Tage lang keine Zeitung
gelesen?« fuhr sie fort.
»Natürlich nicht«, sagte er.
»Bitte«, sagte sie, »lies dies!« Sie zog aus ihrer
Handtasche die »Bekanntmachung«, die sie aus der
Zeitung geschnitten hatte. Er las, die Gabel in der
Hand haltend.
»Hättest du damit nicht bis nach dem Essen warten
können?« fragte er, »musstest du mir unbedingt das
Essen verderben?«
»Iss nur«, sagte sie. »Wir können nachher darüber
sprechen.«
Er schob den Teller weg. »Ich bin fertig«, sagte er.
Der Bursche kam, nahm die beiden Teller und
schenkte die Wodkagläser voll.
Iwan ergriff die Annonce und zerknüllte sie in der
Hand. »Ist der Kerl verrückt geworden?« fragte er.
»Eigentlich war er immer so«, sagte Katharina.
»Und du?« fragte er, »was fällt denn dir ein?
Warum bist du Mohammedanerin geworden? Wozu
dieser ganze Skandal?«
»Es steht doch da«, sagte sie. »Wenn ich
Mohammedanerin bin, ist meine Ehe automatisch
geschieden.«
»So«, sagte er, »darum also dreht es sich? Konntest
du das nicht auf andere Weise erreichen?«
»Sei doch nicht gleich wütend, es ging doch einfach
nicht mehr!«
»Hast du ihn betrogen? Schliesslich, das mit dem
Kind war doch vor der Heirat. Das war unsere ganz
private Angelegenheit, nicht wahr? Das konnte nicht
plötzlich der Grund sein, nach drei Jahren . . .«
»Betrogen?« fragte sie.
»Ich meine doch nur«, sagte Iwan, »irgend etwas
muss doch der Grund sein!«
»Der Grund war«, sagte sie, »dass ich alles nicht
mehr aushielt. Die Lüge mit dem Kind nicht, und dass
er mich nicht liebte und wie ein Besitzstück
behandelte, und dass ich ihn, weiss Gott, nicht liebte .
. .«
»War das nicht von Anfang an so?«
»Ja, von Anfang an.«
»Gab es denn keinen anderen Weg?«
Sie schüttelte den Kopf. Sie hielt den Blick über ihn
hinweg auf die Wand gerichtet, oder auf ein Bild an
der Wand.
»Du brauchst es nicht zu verstehen«, sagte sie.
»Bitte, bitte, denk doch nicht, dass ich dir einen
Vorwurf machen will, dass ich dazu hergekommen
bin!«
Wie ich sie liebe, durchfuhr es ihn plötzlich, wie, in
aller Welt, konnte ich vergessen, dass ich sie liebe!
Katharina, als wüsste sie seine Gedanken, sagte:
»Es wäre ein furchtbarer Unsinn gewesen, wenn wir
geheiratet hätten, damals. Das Kind war doch schon
da! Man musste doch an das Kind denken!«
»Und jetzt?« fragte er.
»Und dann — du bist doch nicht fähig, zu heiraten.
Ich weiss, dass du es nicht ausgehalten hättest, Iwan!«
Sie sprach ängstlich, wie um ihn zu überzeugen. »Du
musst deine Freiheit haben, und ich . . . ich musste
irgendwie leben . . .«
»Und jetzt?« fragte er.
Sie antwortete ihm nicht mehr. Er trank sein Glas
aus.
»Und jetzt bist du also in Gottes Namen frei?«
fragte er.
»Ja«, sagte sie, »ich und der Kleine. Ich werde
wieder anfangen, Stunden zu geben. Die Hauptsache
ist, dass ich wieder frei bin.«
»Die Hauptsache ist, dass ich dich wieder habe«,
sagte er. »Du bist immer eine mutige Frau gewesen,
Katharina. Bitte mach dir nichts daraus. Mach dir
nichts aus dieser läppischen Bekanntmachung!«
»Natürlich nicht.«
»Er ist ein Rohling.«
»Das Schlimmste war, dass er nie etwas gemerkt
hat«, sagte sie, das Haupt erhoben, »dass er nie
gemerkt hat, dass ich einen anderen Mann liebte, und
dass er eine Betrügerin neben sich hatte, und dass ich
unglücklich war. Das war das Schlimmste —«
»Du bist keine Betrügerin«, sagte er. Er fühlte sich
leicht betrunken und ungemein froh. »Hast du
wirklich einen anderen Mann geliebt?« fragte er, sie
anlächelnd. Sie wurde plötzlich rot.
»Du musst das verstehen«, sagte sie, und nun sah
sie ihn an, und er fühlte sich plötzlich nüchtern, und
ihre Blicke blieben aneinander hängen. »Ich verachtete
ihn, weil er nichts merkte. Ich konnte einfach nicht
anders.«
»Nein«, sagte er, »wir konnten einfach nicht anders.
Und jetzt gehe ich, und sage ihm Bescheid, und bringe
dir den Kleinen.« Er lächelte die ganze Zeit.
»Soll ich nicht lieber mitkommen?« fragte sie. Er
erhob sich schnell, ihr Blick folgte ihm.
»Du hast doch keine Angst, hier allein zu warten?«
sagte er, »ich werde schon mit ihm fertig. Und du
brauchst dann erst gar nicht dorthin zurückzugehen.«
Drei Tage Morgendämmerung

Die Ingenieure sassen alle um einen kleinen Tisch und


verbrachten ihren letzten Urlaubsabend. Sie hatten
Bärte und trugen enge Khakihosen und hohe,
geschnürte Stiefel, und sie sahen ungewöhnlich und
abenteuerlich aus. Alle anderen Gäste beobachteten
sie, wie sie tranken und sich neuen Whisky bestellten
und unzufrieden waren, weil es keinen Pernod gab,
und wie sie dann ihren Whisky weitertranken, den die
Armenierinnen selbst hinter der Bar hervorbrachten.
Sie hofften, dass die Ingenieure sie einladen würden,
und blieben länger als nötig neben ihrem Tisch stehen.
Aber die Ingenieure waren ganz mit dem Trinken und
mit ihren Diskussionen beschäftigt, und die Mädchen
zogen sich verärgert wieder zurück und beobachteten
hinter der Bar gelangweilt, wie sie tranken.
Rieti sass zwischen den Ingenieuren. Sie waren
seine Landsleute, und er hatte drei Tage mit ihnen
durchgehalten. Er hatte den Eindruck, als seien sie
drei Tage lang in der Morgendämmerung vom »Pars«
ins »Astoria« gegangen, verfolgt von fadem
Whiskygeschmack. Sie hatten getrunken und bezahlt.
Getrunken, bezahlt, aufgestanden, über die Strasse
gegangen. Drei Tage Morgendämmerung. Aber jetzt
war es die letzte Urlaubsnacht. Alles hatte einmal ein
Ende.
»Landsmann«, sagte der neben ihm, »also du wirst
uns oben auf Firuskuh besuchen. Auf unserem Schloss
zu Firuskuh.«
»Das ist ausgemacht«, sagte Rieti.
»Wir werden einen trinken«, sagte sein Nachbar.
»Auf die Gesundheit des Duce, und auf die
Gesundheit seiner Untertanen vom Firuskuh-Pass.«
»Es lebe der italienische Arbeiter von Firuskuh.«
»Von leben kann wohl keine Rede sein«, sagte ein
junger Mann, der ihnen gegenüber sass. »Aber man
stirbt gern fürs Vaterland. Pro Patria.« Er hob sein
Glas hoch.
Rieti sagte: »Ist es wahr, dass im letzten Winter
viele Leute da oben gestorben sind? Ist es wahr, dass
die Arbeiter in Fieber-Baracken wohnen?«
Sein Nachbar beugte sich nach vorn und legte die
Arme auf den Tisch. Er blinzelte Rieti an. »Kommst
du uns auch mit den Fieber-Baracken?« fragte er.
»Und mit den blauen Wanzen von Firuskuh? Sie
beissen, und man stirbt daran. Man stirbt schneller
von den blauen Wanzen als vom Malariafieber.«
Rieti sah, dass sich der Junge gegenüber ein wenig
aufrichtete. Er hörte ihn sagen: »Bei uns ist noch kein
Arbeiter wegen blauen Wanzen gestorben. Nicht
solange ich beim Bahnbau bin. Aber viele an der
Malaria.« Und Rieti erinnerte sich an die frischen
Gräber auf dem katholischen Friedhof von Teheran. Es
war eine Reihe von Gräbern mit gleichen, einfachen
Soldaten-Grabsteinen, auf denen etwas eingemeisselt
war, was ein Fascio vorstellen sollte.
»Schweig«, sagte sein Nachbar. »Du bist ein grüner
Junge und hast von blauen Wanzen keine Ahnung.
Warst du schon einmal blau, drei Tage lang blau und
nichts anderes?«
Er wandte sich an Rieti und stützte einen Ellbogen
auf. »Dottore«, sagte er, »hören Sie nicht auf diesen
total blauen Jungen. Hören Sie auf mich. Ich bin nicht
so betrunken, wie ich aussehe, und wie jener blaue
Junge dort drüben. Ich sage Ihnen im Guten: Lassen
Sie sich nicht auf die Geschichten von den Fieber-
Baracken ein.«
»Gut«, sagte Rieti. »Aber wie ist es mit den Tigern
von Mazanderan?«
»Da hört ihr es«, sagte der Nachbar. »Er glaubt das
Märchen von der Malaria, und das Märchen von der
blauen Fieber-Wanze, und das Märchen vom grossen
Tiger. Glaubst du, dass jede Nacht ein armer,
unschuldiger, italienischer Arbeiter vom Tiger geholt
wird? Glaubst du das?«
»Es sind Fälle vorgekommen.«
»Lasst doch«, sagte der Junge. »Macht euch doch
nicht lächerlich mit eurem Viva-Viva-Patriotismus.
Leugnet doch nicht, dass wir Arbeiter verlieren, weil
sie schändlich schlecht untergebracht sind.«
Ein dritter meldete sich. Er hatte einen enormen,
rötlichblonden Bart. Aus dem Bart kam seine Stimme,
ganz heiser. »Warum redest du nur von den
Arbeitern?« fragte er. »Sind wir etwa Schweine?
Bekommen wir kein Malariafieber? Werden wir nicht
dreckig, werden wir nicht ebenso von den Wanzen
gebissen?«
»Ist es wahr, dass die italienischen Firmen alle
anderen unterboten haben, und dass sie es an den
Arbeitern wieder einsparen?« fragte Rieti.
»Es ist wahr«, sagte der Junge. »Aber man soll sich
hüten, davon zu sprechen. Man soll den Minister, der
etwas dagegen tun könnte, nicht davon überzeugen,
dass er für die italienischen Arbeiter verantwortlich
ist.«
»Hör schon mit deinen Arbeitern auf!«
»Man soll, im Gegenteil, den Minister beruhigen.
Er soll glauben, dass alles in Ordnung ist.«
»Hör auf, hör doch um Himmels willen endlich auf.
Hör auf, von Sachen zu reden, die du nicht verstehst!«
Sie wandten sich an Rieti.
»Die Arbeiter haben sich freiwillig in Italien
engagieren lassen. Sie haben Einzelverträge, für die
man niemand verantwortlich machen kann«, sagte
sein Nachbar. »Sie sind auf eigenes Risiko nach
Persien gekommen. Wir auch. Es ist wahr, dass die
Firmen unterboten haben, aber das ist lange her. Jetzt
haben die Belgier um zwanzig Prozent unterboten.
Um zwanzig Prozent.« Er sagte das zu dem Jungen.
Der Junge hörte nicht mehr zu. Der andere
sammelte sich und sah Rieti an. »Alle Firmen machen
ihre billigen Angebote auf Kosten der Arbeiter. In der
ganzen Welt ist das so. Die Belgier machen es ein
bisschen weniger, weil sie Angst vor ihren Sozialisten
haben, und weil sie es sich leisten konnten. Sie sind
erst spät nachgerückt, als die Arbeitsbedingungen hier
schon bekannt waren. Sie haben von unserer
Erfahrung profitiert, um uns um zwanzig Prozent zu
unterbieten.«
»Ein schlechtes Geschäft für die italienischen
Firmen«, sagte Rieti.
Der mit dem roten Bart redete aus dem
Bartgestrüpp heraus, es klang orakelhaft: »Kein
Mitleid mit den Firmen«, sagte er. »Sie werden es
einsparen. Sie werden zwanzig Prozent an den
Arbeitern und an uns einsparen. Wir werden Wanzen
essen und die Malaria kriegen. Dieser Junge hat die
Malaria gehabt. Er sollte lieber nach Hause fahren.
Aber er kann nicht, er hat seit drei Monaten kein
Gehalt bekommen. Junger Mensch, du solltest den
Minister dafür verantwortlich machen.«
»Nichts gegen den Minister«, sagte der neben Rieti.
»Er hat getan, was er konnte. Er hat nach Rom
telegraphiert.«
»Ja, er hat sich’s was kosten lassen«, sagte der
Junge, der wieder aufgewacht war und mit
zurückgeworfenem Gesicht den Glasleuchter über ihm
anstarrte.
»Hätte er sich für uns hängen lassen sollen?« fragte
Rietis Nachbar. »Er hat dies und jenes getan. Er hat
einen Arzt geschickt, der uns gesagt hat, wir sollten
die blauen Wanzen fressen, um gegen sie immun zu
werden.«
Die anderen lachten. Der Junge starrte immer noch
die Lampe an.
»Sag selbst: Würdest du dich für mich hängen
lassen?« fragte ihn sein Nachbar.
»Nein«, sagte der Junge. »Und übrigens kann man
niemand dafür verantwortlich machen. Es ist auf der
ganzen Welt so. Es ist, weil man niemand dafür
verantwortlich machen kann . . .«
In Mazanderan blieb während des Sommers alles
ruhig. Aber im Süden, an der Baustrecke des dritten
Loses, welches ein Italiener gekauft hatte, traten
fünfzig libanesische Arbeiter in Streik. Man hatte
ihnen keinen Lohn ausbezahlt und ihnen nichts zu
essen gegeben. Es hiess auch, dass die Hitze da unten
einfach unerträglich sei. Die Libanesen standen unter
französischem Schutz und waren von einem
italienischen Unternehmer angestellt worden. Es kam
zu Verhandlungen zwischen den beiden Legationen.
Inzwischen kamen aus dem Süden alarmierende
Telegramme. Die streikenden Libanesen waren mit
den Italienern des Nachbarloses aneinandergeraten.
Die Hitze, die Entbehrungen und der Hunger machten
die Leute verrückt, und man befürchtete, dass der
Streik sich ausbreiten und dass es zu wirklichen
Kämpfen kommen werde.
Man konnte nichts anderes tun, als die persische
Polizei davon zu benachrichtigen.
Fast dasselbe Leiden

Die Halle war schon voller Leute. Die Gäste standen


herum, einige gingen ins Rauchzimmer, welches
eigentlich das Arbeitszimmer des Ministers war, und
liessen sich in den tiefen, bequemen Bombaystühlen
nieder. Der griechische Boy lief mit Zigaretten von
einer Gruppe zur anderen. Er war dreizehn Jahre alt
und hiess George, Madame hatte ihn aus
Konstantinopel mitgebracht. Es war eine Laune von
ihr gewesen, ein Anfall von Mütterlichkeit oder
einfach der Wunsch, mit dem kleinen Jungen
griechisch zu reden. Denn Griechisch war ihre
Muttersprache. Sie war eine kleine, zarte Dame aus
Konstantinopel, und sie hatte die gekräuselten
Löckchen auf der Stirn und die hohen, grossen,
runden, ratlosen Augen der byzantinischen Mosaike,
die offenbar ihre Vorfahren darstellten. Heute gab sie
ihr erstes Diner in diesem fremden Land.
Es war ein grosses Diner, man hatte über zwanzig
Personen in dem schmalen Speisezimmer der
Gesandtschaft plazieren müssen. Madame hatte sich
den ganzen Tag nicht getraut, in das Speisezimmer zu
gehen oder gar in die Küche, wo zwei Köche, deren
Namen sie nicht kannte, die Vorbereitungen für das
Essen trafen. Madame kannte noch immer die
Hinterräume ihres Hauses nicht. Sie wurde von ihrer
Haushälterin tyrannisiert, einer grossen dicken
Armenierin, die seit zehn Jahren in der Gesandtschaft
war und sich stets auf eine Reihe von Vorgängern zu
berufen wusste, die alles anders gemacht hatten, als
Madame es hätte tun wollen. Anna klopfte Madame
ein Stäubchen von der Schulter, wenn sie mit ihr
sprach, und sie sprach immer mit lauter Stimme und
so, als geriete sie vor Entrüstung ausser Atem.
Madame schrumpfte vor ihr zusammen und gab nach,
in allem. Es war nur George, der noch auf sie hörte.
Ein Strassenjunge aus Stambul — sie wusste, dass die
anderen Angestellten ihn so nannten. Aber sie waren
ihr gleichgültig, die anderen Angestellten, die Alis,
Mahmuts und Hadschi Babas. Mochte doch Anna sich
mit ihnen ärgern! Anna, die immer alles so viel besser
wusste!
Jetzt, um neun Uhr abends — alle Gäste waren
schon da ausser seiner Hoheit, dem Protokollchef —,
traute sich Madame bis unter die Tür ihres
Speisezimmers und schaute hinein. Sie übersah die
lange Tafel nicht ganz, aber sie sah Blumen, eine
Dekoration aus geköpften Stiefmütterchen —
natürlich, ihre Stiefmütterchen, die einzigen Blumen
im Garten, die sie liebte! —, viel Glas, Kerzen, kleine
Butterschälchen und Toast neben jedem Gedeck. Es
schien alles in Ordnung. Sie hörte die Stimme Annas
durch die offene Anrichte und zog sich leise zurück.
Sie ging schnell, mit sehr kleinen Schritten, durch die
Halle und drückte sich mit gesenkten Augen an den
Gruppen ihrer Gäste vorbei. Sie kam gerade auf mich
zu.
»Ach, da sind Sie ja«, sagte sie. Sie fasste eifrig
meine Hand. »Es sind zwei Amerikaner gekommen«,
fuhr sie fort. »Ein Herr und eine Dame. Sie sind nicht
verheiratet. Er ist Archäologe. Die Dame ist — ich
glaube, sie ist Malerin. Oder sie ist einfach reich. Ich
weiss nicht, was ich mit ihnen machen soll. Ich
dachte, Sie könnten mir ein wenig helfen, vielleicht?«
Ich fand die Amerikaner im Rauchzimmer. Sie
sahen alte Seidenstoffe an, einen Stoss kleiner Fetzen,
die auf dem Kaminsims lagen.
»Guten Abend, Gordon«, sagte ich, »alter Knabe.«
Er drehte sich um, strahlend. »Auch schon hier?«
fragte er. »Mrs. Batten, darf ich vorstellen: dies ist das
Mädchen, welches die letzte Saison draussen mit uns
gearbeitet hat.«
Sie streckte mir wie von weit her ihre Hand
entgegen. Sie war gross und hatte leuchtende braune
Augen.
»Wann bist du angekommen?« fragte ich Gordon.
»Warum hast du den ganzen Winter keine Zeit
gefunden, deinen Bart abschneiden zu lassen?«
»Wirklich«, sagte er, »ich habe absolut keine Zeit
gehabt. Vier Monate waren herum wie nichts.«
Mrs. Batten sah uns gross und aufmerksam an.
»Sie sind zum zweiten Mal in Persien?« fragte sie
mich.
»Und Sie,« fragte ich, »sind Sie zum Vergnügen
hergekommen?«
»Das weiss ich noch nicht.«
»Mrs. Batten malt«, sagte Gordon.
»Das ist Nebensache, Gordon. Ich habe Ihnen schon
gesagt, dass Sie davon nicht sprechen sollen. Dieses
Land hat Farben —« Sie wandte sich an mich:
»Würden Sie den Mut haben, hier zu malen?«
»Nein«, sagte ich, »weil ich nicht malen kann. Ich
photographiere . . .«
Sie blieb ganz sanft. »Gordon sagt mir aber, dass
Sie schreiben.«
»Manchmal, nebensächlich.«
»Ich möchte mit Ihnen über Persien reden«, sagte
sie. »Gordon, lassen Sie uns allein.«
Gordon ging. Wir liessen uns in zwei mit Chintz
überzogenen Lehnsesseln nieder. Mrs. Batten setzte
sich so, dass sie mir ins Gesicht sehen konnte. »Sie
sind so jung«, sagte sie. »Ich kann nicht begreifen,
dass Sie den Mut gehabt haben, nach Persien
zurückzukommen. Nachdem Sie es einmal kannten.«
»Es gab hier dies und jenes, wofür ich mich
interessierte.«
»Die Archäologie?«
»Beispielsweise.«
»Ich gebe zu, dass man sich dafür passionieren
kann. Es ist ein Schatzgräber-Instinkt.«
»Sie vergessen die wissenschaftliche Neugier.«
»Nein«, sagte sie, »ich habe daran gedacht. Mein
Mann ist Forscher, Arzt drüben in den Staaten. Er ist
Krebsforscher.«
Ich schüttelte den Kopf. »Das dürfen Sie nicht
vergleichen«, sagte ich, »was er tut, kommt nicht der
Wissenschaft zugute, sondern den Menschen.«
»Er fühlt sich aber nicht so. Er fühlt sich nicht als
Wohltäter, sondern als Forscher.«
»Während dies hier einer Flucht gleicht . . .«
»Oh, also doch«, sagte sie froh. »Jetzt kommen wir
der Sache doch näher.«
»Nein. Es hat keinen Zweck, darüber zu reden.«
»Es ist Ihnen unangenehm? Aber warum sind Sie
dann zurückgekommen? Wenn Sie das alles spüren?
Die Gefahr, weil das Land zu gross ist, und weil die
Natur einen tötet?«
»Ich habe nichts von Gefahr gesagt.«
»Nun gut«, sagte sie, »dann werde ich es Ihnen
sagen. Die Natur ist hier so stark, dass sie einen tötet.
Man müsste aufhören, ein Mensch zu sein, an die
menschlichen Bedingungen gebunden. Man müsste
ein Stück Wüste und ein Stück Gebirge werden
können, und ein Streifen Abendhimmel. Man müsste
sich dem Land anvertrauen und darin aufgehen.
Dagegen zu leben ist ein solches Wagnis, dass man
vor Angst umkommt.«
»Man hört von selbst auf, dagegen zu leben, wenn
man eine Weile hier ist.«
»Das ist das Gefährliche«, sagte sie. Sie sah mich
mit ihren leuchtenden Augen an.
»Man muss etwas tun«, sagte ich, »Aktivität hilft
darüber hinweg.«
»Wie wollen Sie an das glauben, was Sie tun«,
sagte sie. »Wie wollen Sie in diesem entsetzlichen
Land an den Sinn von etwas glauben?«
»Man muss.«
»Die Leute, die hier geboren sind, tun nichts. Es ist
rührend, sie an einem Bachufer oder unter einem
Baum sitzen zu sehen, auf einem Teppich, den
Samowar neben sich aufgestellt — ganz wie auf den
alten Miniaturen, aber erloschen.«
»Sie vergessen, dass die Leute Opium rauchen.«
»Auch in China raucht man Opium.« Sie sah mich
wieder an. »Aber dort ist es etwas anderes. Die
Menschen haben dort das Land gemacht, die
Menschen beherrschen die Kunst des Leidens, deshalb
sind Armut und Leiden weniger schrecklich als hier.
Mein Mann hat mir erlaubt, in Persien zu bleiben. Um
zu lernen, zu malen, zu reisen. Ich wollte die Farben
dieses Landes sehen, und auch seine Städte und seine
Gärten. Aber ich weiss jetzt, dass ich nicht bleiben
kann. Oh, ich werde mich hüten. Ich werde es mit
China versuchen. Hier ist es hoffnungslos.«
»Und es ist doch ein schönes und grossartiges
Land«, sagte ich.
Sie beugte sich vor, mit leuchtenden Augen, und
legte mir die Hand auf die Schulter. »Man soll sich
nicht in Versuchung führen«, sagte sie, »nicht zu sehr,
und nicht, wenn man jung ist.«
In diesem Augenblick kam mein Freund Gordon
mit der Ministerin zurück. »Sie unterhalten sich sicher
über die Schönheit Persiens«, sagte er.
Die kleine Ministerin machte eine verzweifelte
Gebärde. »Immer die Schönheit Persiens, immer seine
Vorzüge!« sagte sie und, fast erschrocken, setzte sie
entschuldigend hinzu: »Sie, Mrs. Batten, sind nur zu
Besuch hier. Das ist ganz etwas anderes.«
Mrs. Batten lächelte höflich. »Wir sind so viel
Grossartigkeit nicht gewöhnt«, sagte sie.
Die Ministerin seufzte. »Drei Jahre, in einer Stadt
wie Teheran — oder noch viel länger —, man fühlt
sich so verloren!«
Wir standen auf, um in das Esszimmer zu gehen. Es
war zehn Uhr. Der Stambuler Strassenjunge stand in
seiner neuen Uniform an der offenen Flügeltür.
Madame ging mit Gordon voraus.
Mrs. Batten folgte neben mir, sie ging gross, schön
und sicher durch die Halle. »Also, junge Freundin«,
sagte sie, »hüten Sie sich. Nehmen Sie nicht den
Kampf auf gegen die rasenden Windmühlen dieses
Hochlandes. Hüten Sie Ihren Mut.«
Ich schwieg. Sie sagte mir, was ich längst wusste.
Auch Gordon wusste es.
Mrs. Batten fuhr fort: »In diesen Kreisen ahnt man
natürlich nichts, das eigentliche Land, das Geheimnis
bleibt ihnen verschlossen.«
Ich sah die Ministerin durch die Flügeltür
schlüpfen, sie lächelte dabei George an, es wirkte
kummervoll, und er grüsste aus seinem bleichen,
frechen Knabengesicht zurück.
»Vielleicht täuschen wir uns«, sagte ich zu Mrs.
Batten, »das, worauf es ankommt, ist fast dasselbe
Leiden.«
Sehr viel Geduld . . .

Doktor Rieti reiste mit seinen Tieren zusammen. Man


hatte sie in Triest an Bord eines langsamen Dampfers
gebracht, der Triest am Mittwoch verliess und erst am
darauffolgenden Dienstag Beirut erreichen sollte. Rieti
hätte lieber ein anderes Schiff benutzt, welches die
Häfen Griechenlands anlief oder in Ägypten Halt
machte. Er hätte gern Piräus gesehen und einen
Ausflug zu den Pyramiden gemacht. Aber er konnte
seine Versuchstiere nicht allein lassen, es hatte genug
Mühe gekostet, sie heil bis auf das Schiff zu bringen,
wo sie nun auf dem Vorderdeck angebunden standen:
die Schafe aus dem Piemont, die Gebirgsziegen, die
Rinder von den Schweizer Alpen und die beiden
jungen Stiere, die man in Holstein angekauft und von
ihren fetten Weiden quer durch halb Europa bis in den
Auswandererhafen Triest transportiert hatte. Es hatte
sehr viel Geduld gebraucht, und Rieti war sich klar
darüber, dass erst jetzt alle Schwierigkeiten beginnen
würden. Er kannte die Route und ihre Stationen
auswendig: Beirut, wo jetzt, Ende April, schon eine
ungesunde, feuchte Hitze herrschen sollte, die Fahrt
durch die Wüste in grossen Camions, die von der
Nairn-Compagnie gestellt wurden, ein kurzer
Aufenthalt in Bagdad — und endlich die grosse Reise
über die Gebirge nach Persien. Und dort — dort
würde erst die eigentliche Aufgabe ihn erwarten.
Wenn er nur die Geduld aufbrachte . . .
Am fünften Tag erreichte das Schiff Zypern. Rieti
stand mit den anderen Passagieren der ersten Klasse
auf dem Deck und sah die hügelige Küste der Insel
vorüberziehen. Er sah einige vulkanähnliche Gebirge
im Inneren und viele waldreiche Täler, die tief in das
kahle Land einschnitten. Dann tauchte Larnaka auf:
eine kleine Stadt, einige neue, wellblechgedeckte
Gebäude am Hafen, und zwischen den Dächern der
plumpe Turm einer türkischen Moschee. Man konnte
nicht in den Hafen einfahren, das Schiff lag draussen
vor Anker, leise schaukelnd. Vom Ufer löste sich eine
Flotille von Booten, rostbraune Segel wurden
aufgezogen, flatterten und spannten sich, junge
Zyprioten standen an den hohen Steuern. Abseits von
den anderen flog ein Boot heran, ein alter Neger mit
grauem Schnurrbart stand aufrecht unter dem
rostbraunen Segel, er trug zypriotische Tracht, einen
breiten roten Gürtel, einen weissen Turban. Hinter
ihm, am Steuer, sass ein Knabe, die Augen auf den
Dampfer gerichtet. Das Boot flog über blaue Wogen
und weisse Schaumkämme und erreichte als erstes das
Fallreep. Der Junge liess das Steuer fahren, schon
stand er auf dem Deck, einen Korb mit bunten
Muscheln am Arm. Herausfordernd ging er die Reihe
der Gäste entlang und begann sein Geschäft. Hinter
ihm folgten bald andere, man bot Orangen, Muscheln,
Stickereien feil, bunt leuchteten zwischen den
Passagieren die roten Gürtel und hellen Turbane der
Händler. Rieti folgte dem ersten, dem zypriotischen
Knaben, der jetzt an der Reeling stand, die Arme auf
das Geländer gestützt. Er sah in das Gewühl, als ginge
es ihn nichts an. Schöne Menschen, dachte Rieti, den
Blick auf den Knaben gerichtet. Dessen Blick war
düster, fast höhnisch, doch dehnte er dabei lässig
seinen Körper, streckte sich in den schmalen Hüften
wie im Übermut.
Gleich darauf wurde Rieti von einem Matrosen
weggerufen, er ging, ein wenig zu eilig, an dem
Knaben vorbei.
Es betraf die Tiere. Am Vorderdeck lag ein Boot
mit sechs Ruderpaaren, ein Kran senkte sich vom
Dampfer hinab, unten standen aneinandergedrängt
Esel und Maultiere, denen man, einem nach dem
anderen, Traggurte umschnallte, sie am eisernen Griff
des Krans befestigte und in die Höhe hob. Das ging
mit mechanischer Geschwindigkeit vor sich, die Tiere
schwebten, erstarrt vor Angst, mit hilflos baumelnden
Hufen, zwischen Himmel und Wasser, ein Matrose
drehte den Kran, liess das Tier auf dem Deck landen
und sandte den leeren Traggurt in die Tiefe zurück.
Rieti erkannte rasch die Gefahr: Schon hatte man
ein Dutzend Esel neben seinen Versuchstieren
angebunden — waren sie krank, so war eine
Ansteckung beinahe unvermeidlich. Er liess den
Kommissar rufen, befahl den Matrosen, die Esel auf
die andere Seite des Decks zu bringen, inzwischen
fuhr der grosse Arm des Krans unaufhörlich auf und
nieder, das Deck füllte sich mit Tieren, die Ruderer
schimpften auf türkisch. Als endlich die Ordnung
wiederhergestellt und die Tiere getrennt waren,
lichtete das Schiff schon die Anker. Rieti sah die
Flotille der braunroten Segel dem Hafen zustreben,
dann setzte das weiche Rauschen des Wassers ein, das
der Schiffskiel regelmässig durchschnitt.
In Beirut war es heiss, und Rieti hatte vielerlei
Sorgen. Er ärgerte sich über die Hafenpolizei und die
Sanitätskommission, manchmal verliess ihn die
Geduld, er sah voraus, dass die Versuchstiere nicht
heil bis nach Persien kommen würden, und war bereit,
alles aufzugeben. Er war froh, als die Tiere verladen
waren; am gleichen Abend fuhr er im Auto durch den
Libanon, und nach dem heissen, feuchten Beirut und
nach all den Sorgen, die er dort gehabt hatte, erschien
ihm Damaskus mit seinen Gärten und Brunnen frisch
und angenehm. Die Wüstenfahrt war anstrengend,
aber Rieti erinnerte sich daran, dass man noch vor
wenigen Jahren mit Kamelkarawanen reisen musste
und etwa zwanzig Tage gebraucht hatte. Damit tröstete
er sich, und die zwanzig Stunden kamen ihm nicht so
lang vor.
Seine Tiere fand er wohlbehalten in den Stallungen
des englischen Fliegerlagers von Hinaidi. Die
irakischen Behörden machten ihm keinerlei
Schwierigkeiten, er beeilte sich, Wagen und
Chauffeure für die Fahrt nach Teheran zu mieten.
Bagdad war unerträglich heiss. Rieti verbrachte einen
Abend im Alluyah-Club mit einigen englischen
Fliegern, die trotz der Hitze, die auch nachts nicht
abnahm, sehr viel Whisky tranken und ihre gute
Haltung nicht verloren. Sie brachten Rieti in sein
Hotel, und fuhren dann in guter Haltung in ihre
Quartiere von Hinaidi zurück.
Rieti war froh, Bagdad hinter sich zu lassen. In
Khanikin, der persischen Grenzstation, litten die Tiere
sehr unter der Hitze. Die Beamten brauchten eine
Unmenge Zeit, um Rietis Papiere zu lesen, es gab
Komplikationen, die er nicht verstand und die auch
offenbar erfunden waren, um ihn aufzuhalten — aber
endlich fuhr man weiter, und nun war man in Persien,
fast schon am Ziel. Rieti fühlte sich glücklich, zum
ersten Mal, seitdem er auf dieser Reise war. Er dachte
an seine Aufgabe, an das Geld, das er verdienen
würde, und an alles Unbekannte, das ihn erwartete.
Alles würde gut gehen, ebensogut wie in Afrika. Er
war zwei Jahre am Tropeninstitut in Nairobi gewesen,
eine lange Zeit, die er zuerst als Verbannung
empfunden hatte — und dann waren es die
glücklichsten Jahre seines Lebens geworden. Er
dachte damals selten an Italien, selten an seinen Vater,
ganz selten an seinen Freund Mario. Mario lebte in der
wirklichen, der unwiderruflichen Verbannung: Er
hatte, als Revolutionär, seine Heimat verlassen,
hungerte mit Gleichgesinnten in Paris und trug es
ihm, Rieti, bitter nach, dass er einen anderen und
leichteren Ausweg gesucht hatte. Nairobi! Er hatte es
auf diese Weise vermieden, seinen Vater zu
enttäuschen, der an Mussolini glaubte und sich mit
dem Faschismus abgefunden hatte. Er hatte es
vermieden, Italien zu verlieren. Aber allerdings, was
bedeutete ihm Italien seither? Er dachte mit Heimweh
an Nairobi, den geliebten Ort. Er hatte sein Haus gern
gehabt und das breite, mit Laub und Grün ganz
überfüllte Tal, welches »The happy valley« hiess. Er
hatte seine Arbeit gern gehabt und in Nairobi einen
Freund zurückgelassen. Einen Negerjungen, dachte
Rieti, mein Freund Charles war nichts als ein
Negerjunge, und sein christlicher Name stammte von
den Missionaren. Aber er war ein rührendes und
schönes Kind, ich möchte, er wäre jetzt bei mir.
Seit seiner Reise dachte Rieti selten an Charles, es
hatte zu viel zu tun und zu bedenken gegeben, aber
jetzt, während man den Peitak-Pass hinauffuhr und
das grosse Persien vor ihm lag, erinnerte er sich an
den Negerknaben, und fühlte sich plötzlich einsam. Er
erinnerte sich, wie sie um diese Stunde, abends, vor
dem Haus lagen, die Liegestühle nahe nebeneinander
gerückt — ja, damals war neben ihm, in der
Dämmerung, Charles’ schmaler, weit nach hinten
geneigter Kopf gewesen, und seine Stimme hatte
gesungen.
Das Gefühl seiner Einsamkeit überfiel Rieti zum
ersten Mal, aber er schüttelte es ab, und gleich darauf
freute er sich wieder auf Persien. Sie kamen am Abend
auf die Passhöhe und sahen zu ihren Füssen das
gewaltige Hochland ausgebreitet. Und von nun an
würde es immer so sein: gewaltige Ausblicke, von
Gebirge zu Gebirge, gewaltige Täler und breite Flüsse,
Halbwüsten, mit grünen Oasen am Fusse namenloser
Berge.
Die erste persische Stadt, die sie erreichten, war
Kermanschah. Es war eine Bettlerstadt, selbst in
Afrika, so schien es Rieti, hatte er nicht so viele
Krüppel, halbbekleidete Kinder und ausgestreckte
Hände von Blinden und aussätzigen Greisinnen
gesehen. Die Polizei machte ihm Schwierigkeiten, sie
war von der Hauptstadt nicht benachrichtigt worden.
Rieti musste seine Tiere vor der Stadt, in der Nähe
eines Kurdenlagers, übernachten lassen. Einer der
Stiere hatte am nächsten Tag eine Kolik, am Abend
musste man ihn erschiessen. Die Hälfte der Schafe
kam abhanden, man fand sie wieder, vermischt mit
einer einheimischen Herde. Rieti besah sich die
Fettschwänze aus der Nähe: sie waren räudig. Er
entschloss sich, die angesteckten Tiere zu opfern.
Als er, nach zehn Tagen voller Hindernisse, in
Teheran ankam, besass er noch drei Rinder, einige
Ziegen und den zweiten Stier. Der Stier zeigte
Symptome einer Tropenkrankheit, die Rieti bisher nur
in Afrika beobachtet hatte. Trotzdem war Rieti nicht
ganz entmutigt, er würde seine Versuche mit den
wenigen Tieren beginnen, die ihm übriggeblieben
waren, inzwischen würde das Ministerium neue Tiere
nachkommen lassen. Nein, der Verlust von ein paar
Rindern und Schafen war nicht das Schlimmste; wenn
man nur endlich in das Ministerium vordringen, den
Minister selbst sprechen könnte! Rietis Geduld wurde
auf eine harte Probe gestellt. Seine Tiere standen in
ungesunden Baracken, ein Beamter versprach ihm
täglich, dass er auf die Farm übersiedeln dürfe, die
Rieti als »Mustergut« zugewiesen war. Auf der
Gesandtschaft tröstete man ihn, in diesem Land lasse
sich nichts erledigen ohne Geduld.
Rieti verbrachte seine Zeit zwischen dem
Ministerium, der Gesandtschaft und den Baracken, in
denen seine letzten Tiere krank wurden und das Futter
verweigerten. Abends sass er allein im Garten einer
der Bars von Teheran und sah Tänzerinnen aus Ungarn
und Rumänien, die auf einem grellbeleuchteten
Podium zwischen verstaubten Büschen auftauchten.
Auch eine italienische Sängerin war dabei, sie war
nicht mehr ganz jung, vielleicht war sie früher
Opernsängerin gewesen, ihre Gesten liessen es
vermuten. Sie trug, trotz der grossen Hitze, ein rotes
Samtkleid und zeigte, wenn sie das Podium verliess,
einen etwas schweren, nackten, mattweissen Rücken.
Sie sang Arien, die das Publikum langweilten, und
französische Chansons, wobei sie Kusshände
ausschickte. Die Chansons kannte man von den
Platten der berühmten französischen Diseusen, das
war nicht günstig für die arme Italienerin. Sie schielte
ein wenig, aber das war beinahe ein Reiz, es gab ihrem
müden und flachen Gesicht einen Ausdruck von
trauriger Schalkhaftigkeit.
Rieti hörte sich die Sängerin mehrmals an. Es
machte ihm gewiss kein Vergnügen, ja, es kränkte und
empörte ihn, dass sie vor diesen Leuten, jungen
Persern, europäischen Friseuren und Ladenbesitzern,
singen musste. Er empörte sich für Italien — es war
ein neues Gefühl —, und die Sängerin tat ihm leid.
Sie war doch immerhin seine Landsmännin, auch der
Wirt wusste es, der sie am dritten Abend an seinen
Tisch brachte. Es war Rieti nicht angenehm, mit ihr
zwischen den staubigen Kulissen-Büschen zu sitzen,
er wusste nicht, über was er mit ihr sprechen sollte,
sein eben noch leicht gerührtes Gefühl wurde beinahe
feindlich. Was hatte sie im Orient zu suchen? Ihre
Rührung hingegen war stark und echt. Sie sprach
italienisch, und schon füllten sich ihre Augen mit
Tränen. Auch noch Tränen, dachte Rieti, angewidert
von so viel Weiblichkeit. »Warum sind Sie
hierhergekommen?« fragte er, ein wenig streng, »was
haben Sie sich davon versprochen?« Gleich erzählte
sie, es war eine komplizierte Klage, denn schon in
Italien hatte ein Agent sie belogen, sie nach
Jugoslawien geschickt, dann kam Konstantinopel —
ein Aufstieg, eine Weltstadt, beeilte sie sich
hinzuzufügen —, aber Konstantinopel war der Anfang
ihres Unglücks gewesen, oh, sie war den Schlichen
der orientalischen Agenten nicht gewachsen, sie war
nur eine Künstlerin, nur auf ihre Kunst bedacht
gewesen, jene aber waren Lügner, waren nicht besser
als Mädchenhändler. Und der Kontrakt mit dem Lokal
in Teheran, der sich so gut ausgenommen hatte —
»nichts als eine Falle«, klagte sie heftig, »um mich
diesem Wirt, diesem entsetzlichen Menschen,
auszuliefern!«
Sie verstummte, als sie merken musste, dass Rieti
ihr nur halb zuhörte, und, nach vorn geneigt, sagte sie:
»Warum sind Sie denn hier?« Man wusste nicht, war
es eine ernst gemeinte Frage oder nur ein kosender
Ausruf: Warum habe ich dich hier finden dürfen,
junger Landsmann? Rieti schwieg. Nie hatte er sich,
in Nairobi, dergleichen gefragt, nie hätte Charles ihn
darnach gefragt. Dort war alles selbstverständlich
gewesen, selbst das Glück.
Die Sängerin griff nach seiner Hand, es war zu spät,
sie zurückzuziehen. »Junge Männer wie Sie verderben
so leicht in diesen Ländern«, flüsterte sie beinahe
mütterlich, »ach, auch wir haben es nicht leicht! Aber
jetzt —«, und sie beugte sich überraschend schnell
über die Hand, wie um sie zu küssen, »— jetzt ist
alles verändert. Ich habe einen Landsmann gefunden,
ich darf doch sagen, einen Freund?« Und
schwärmerisch, die Augen zu ihm aufgeschlagen,
fügte sie hinzu: »Lügen Sie nicht, mein Freund, auch
Sie waren bisher allein, unter Fremden. Aber ich
werde für Sie sorgen, ich werde nur für Sie da sein,
ich werde Sie zu trösten wissen!«
Er war verwirrt, wenn auch auf andere Weise, als sie
es glauben mochte. Entsetzlich erinnerten ihn ihre
Worte an Worte Marios, der ihm, beim Abschied,
gesagt hatte: »Lüge nicht, Rieti, gib doch endlich das
Lügen auf« — und dann, als er schon im Zug sass, der
ihn in die Verbannung führen sollte: »Auch du bist
allein, mein Freund, unter Fremden. Aber eines Tages
wird alles verändert sein, dann will ich dich
wiederfinden.« Leidenschaftliche Strenge in der
Stimme, und seine so sehr geliebten Augen ganz
erfüllt von leidenschaftlicher Forderung und einer
Trauer, die nur Zweifel bedeuten konnte . . .
»Ich bin geflohen«, sagte Rieti zu der fremden Frau,
so unvermittelt, dass sie, aus sanfteren Träumen
gerissen, ihn erschrocken ansah. »Ich bin ein feiger
Mensch und habe einen Ausweg gesucht, um meinen
Freunden zu entgehen. Jetzt bin ich allein und
ungeduldig, denn ich möchte zurückkehren, um alles
wiedergutzumachen.«
»Zurück nach Italien?« fragte sie verständnislos,
»in unser herrliches Italien?«
»Es geht bergab im herrlichen Italien«, herrschte er
sie an, aber gleich schämte er sich — woher nahm er
das Recht? Sie hatte ihre Chance schnell begriffen.
»Du hast Heimweh, mein Kleiner«, flüsterte sie,
»aber ich werde dich zu trösten wissen.« Und er folgte
ihr, als sie den falschen Hermelinkragen um die
Schultern legte und grusslos, in seligem Stolz, am
Wirt vorbei zum Ausgang ging.
War dies der Anfang der grossen Geduld, die man
hier von Rieti noch verlangen würde? Diese
schreckliche Nacht, die er nicht gewollt hatte, dieses
schreckliche Aufwachen neben dem schweren, zu
weissen Körper, nach dem ihn nicht verlangte? Fing es
mit Ekel an und mit Dingen, die er gegen seinen
Willen tun musste? Ja, es war wohl der Anfang einer
viel schlimmeren, viel gefährlicheren Erniedrigung,
denn Rieti begriff schnell, dass Geduld in diesem
Lande nicht Ausdauer, Sammlung, Ernst bedeutete,
sondern Unterwerfung und bald Abstumpfung.
Eifriger als bisher vertrat er seine Sache, er gewann
den Gesandten, der ihn beim Ministerium unterstützte;
man empfing ihn jetzt höflich, man ehrte ihn,
versprach, alle seine Forderungen zu erfüllen. Nur
rascher, dachte Rieti, nur so rasch, dass ich bald
abreisen kann. Aber er wusste, dass es erst der Anfang
war.
Endlich reiste er auf das »Mustergut«, ein junger
Assistent begleitete ihn, draussen begannen sie gleich
zu arbeiten. Die Tiere aus Europa wurden in
gesonderten Ställen untergebracht, persische Schafe
und Ziegen, gesunde und kranke, wurden untersucht,
geimpft und beobachtet. Rieti fühlte sich leichter, jetzt
war auch die Sängerin nicht mehr da, sie konnte nicht
einfach hier herauskommen, mit ihrer abstossenden
Zärtlichkeit, ihrer intriganten, traurigen Liebe, ihren
Tränen. Hier draussen gab es überhaupt keine Frauen,
auch keine Europäer, man war allein. Die Bäume im
Garten des Wohnhauses waren so dicht, dass Rieti
nicht einmal das Gebirge sehen konnte; er begann,
seine Einsamkeit zu pflegen und zu lieben. Wenn er
das Tor am Abend verliess, um einen Spaziergang zu
machen, dann hatte er die Ebene vor sich, die gelbe,
verbrannte Halbwüste, und die allzu kleinen,
hellgrünen Felder, die darin verstreut lagen. Er sah die
Ebene an ihrem Rand bläulich werden und im Dunst
mit dem Himmel zusammenfliessen, und er sah sie
braun werden, wo sie sich dem Gebirge näherte. Es
gab ringsum Berge, graue in der äussersten Ferne, die
wie gestrandete Schiffe aussahen, und nackte, glatte,
gelbe, die im Abendlicht einen wunderbaren Glanz
bekamen und glatten Tierrücken glichen. Aber dicht
vor dem Garten stieg der Tauschal empor, ein steiler
Felskamm mit Schneebändern in den höchsten
Mulden und dunklen, kahlen Vorhügeln. Dort ging
Rieti am liebsten spazieren und kam bis zu den
aufwärts steigenden Schluchten, in deren Schatten
sich ein wenig Grün fand und in deren Schutz die
Schafherden nächtigten. Bevor er zurückging, machte
Rieti einen Gang durch die Ställe. Sie lagen
ausserhalb des Gartens, neben dem armenischen Dorf.
Dort sassen die Wärter mit den Dorfleuten unter
einem alten Baum, in dessen mächtigem Stamm eine
Petroleumlampe brannte. Neben ihnen, in einem
unterirdischen Kanal, hörte man das nächtliche
Brausen des Wassers, Kühle stieg geheimnisvoll auf
und bewegte die Zweige. Rieti ging in seinen Garten
zurück, wo sein Assistent ihn erwartete.
Nach zwei Monaten erhielt er die Nachricht, dass
das Ministerium seine Forderung abgelehnt habe,
neue, gesunde Tiere aus Italien kommen zu lassen. Es
wäre auch eine teure Sache gewesen, dachte Rieti, und
ein grosser Umstand. Er hatte sich hier eingearbeitet,
so gut es ging. Der Assistent sah ihn zweifelnd an.
»Es wäre doch wichtig, neue Tiere zu bekommen«,
sagte er bescheiden.
Rieti nickte ihm zu. »Wichtig, gewiss«, sagte er,
»aber wir müssen uns eben einrichten. Wir müssen
tun, was wir können.«
»Sie sind zu geduldig«, sagte der Assistent.
»Das finden Sie also?« fragte Rieti böse, »ich sei zu
geduldig?«
»Geduld ist nicht schlecht«, sagte der Assistent,
»aber zu viel Geduld — in diesem Land führt das zu
gar nichts.«
Ein Armenier, dachte Rieti, einer von den
Tüchtigen, den Revolutionären, einer, der sich nicht
abfinden will. »Von wo stammen Sie her?« fragte er
ihn unvermittelt.
Höflich antwortete der junge Mann: »Von Urmia,
meine Eltern und Geschwister sind während des
Kriegs von den Türken ermordet worden. Mich haben
die barmherzigen Schwestern gerettet und nach
Teheran gebracht.«
»Können Sie sich daran erinnern? Ich meine: an den
Krieg?«
»Ich habe vieles vergessen, ich war ja noch sehr
klein. Aber es gibt Dinge —«
»Fast alle Christen wurden erschlagen?«
»Fast alle, im Lauf der Zeit. Es kamen immer neue
Armeen, um die Stadt aus den Händen der vorigen zu
befreien. Und jedes Mal gab es blutige Strafgerichte.
Man hörte die Leute nachts schreien, die aufgehängt
wurden, und am Tag trieb man ganze Haufen junger
Chaldäer und Armenier durch die Strassen und
erschoss sie draussen auf dem Judenhügel. Einmal
hielt ein Chaldäer, Agha Petrus, die Stadt sechs
Monate lang. Er musste mit seinen Reitern abziehen,
als ihnen die Munition ausgegangen war. Drei Tage
später kamen die Türken, man sah sie von weitem
heranrücken, auf der Strasse von Täbris, und man
öffnete ihnen die Tore. Damals wurden allein in der
Missionskirche über tausend Menschen erschlagen.
Man warf sie in die Brunnen.«
»Hassen Sie die Mohammedaner?«
Der Assistent antwortete nicht. »Man sagt, die
Chaldäer und Christen seien feig gewesen«, sagte er,
»und trotzdem war Agha Petrus ein Held. Man
verfolgt uns seit Jahrhunderten, daraus haben die
meisten von uns zu viel Geduld gelernt.«
»Und wenn die Christen obenauf waren? Haben sie
sich nicht gerächt? Haben sie es nicht genauso
getrieben?«
»Doch«, sagte der Armenier, »sie haben es genauso
getrieben. Aber sie waren nicht die ersten, sie haben
nicht damit angefangen.«
»Sie meinen, man könne, im Krieg, überhaupt von
Schuld sprechen?«
Der Armenier errötete schnell und tief. »Es gibt
doch einen Angreifer —«, sagte er.
»— und jetzt raten Sie mir, ich solle die persische
Regierung angreifen, weil man mir keine neuen
Ziegen und Kälber kauft!« Rieti begann zu lachen.
»Wissen Sie«, verriet er, »ich habe auch keine Geduld
mehr. Ich bin schon lange fertig mit diesem Land . . .«
Sie unterhielten sich an diesem Abend zum ersten
Mal über persönliche Dinge. Sie tranken Whisky und
blieben sehr lange auf der Terrasse sitzen. Der Abend
war kühl, die Müdigkeit, der Alpdruck des Tages
wichen — man war auf angenehme Weise ein Mensch.
»Sie möchten nach Italien zurück?« fragte der
Armenier.
»Wenn man hier weg könnte!« Nach Italien, dachte
Rieti, als ob ich dort etwas zu suchen hätte. Als ob es
das glückliche Italien meiner Kindheit noch gäbe!
Auch habe ich Heimweh nach Nairobi, aber auch dort
habe ich nichts mehr zu suchen als meinen Knaben
Charles. Wohin also? Freiwillig nach Abessinien
etwa? Aber es wird noch lange keinen Krieg geben,
vielleicht überhaupt keinen. Der Armenier trank still.
»Ein Glück, dass man mir keinen Mohammedaner als
Assistenten mitgegeben hat«, sagte Rieti, »die sind
ganz und gar unbrauchbar. Die dürfen nicht einmal
Alkohol trinken!«
Er hatte am Morgen in einem Artikel in der
Teheraner Zeitung gelesen, dass Italien die
mohammedanische Religion in Afrika verteidigen
werde. Mein Vater würde sich vielleicht freuen, wenn
ich mich als Freiwilliger melden würde, dachte er, es
wäre vielleicht eine Rehabilitierung, in seinen Augen.
Aber er traut mir wohl nichts mehr zu, er hält mich für
einen Feigling. Und wahrscheinlich wird es überhaupt
keinen Krieg geben. — Was wohl Mario davon hält?
Endlich gingen sie schlafen — und der abessinische
Krieg brach erst viele Monate später aus, im Herbst.
»Sie wollen wohl so bald als möglich nach Italien
zurück?« fragte der Gesandte. Rieti zögerte einen
Augenblick.
»Ich bin nicht deswegen gekommen«, sagte er.
Der Gesandte war noch jung, seine Schultern fielen
nach vorne, daran änderte auch der übertrieben auf
Taille gearbeitete, etwas zu elegante, fast schon
geschmacklos wirkende helle Sakkoanzug nichts. Der
Blick des Gesandten wich Rieti aus. Ein Auge verbarg
sich hinter dem Monokel, das andere erschien müde,
war erfüllt von einer feuchten, nicht recht fassbaren
Sentimentalität. Der Gesandte war Napolitaner. »Also
nicht nach Italien«, sagte er, »ich verstehe das nicht
ganz! Man würde Ihnen doch alles erleichtern. Man
würde erwirken, dass Ihr Vertrag anstandslos gelöst
wird. Anstandslos. Sie haben sich doch oft über Ihren
hiesigen Aufenthalt beklagt?«
»Ich bin jetzt eingearbeitet«, sagte Rieti, »ich kann
eine einmal übernommene Pflicht nicht einfach
vernachlässigen. Ich kann jetzt nicht abreisen.«
»Und Ihre Pflicht gegenüber Italien?« fragte der
Gesandte.
»Nein«, sagte Rieti, fast ungeduldig, »Italien
braucht mich nicht.« Er dachte an seinen Vater.
»Ausserdem bin ich kein Soldat«, fügte er schroff
hinzu.
Der Gesandte sah ihn zerstreut an. Er sagte:
»Natürlich, Sie sind zu gar nichts verpflichtet. Ich
hielt es nur für selbstverständlich — bei Ihrer
ungeduldigen Art. Ich hielt Ihre Ungeduld für ein
Symptom — ich war auch manchmal ungeduldig,
wenn es mit meiner Arbeit nicht recht weitergehen
wollte. Ich hielt es für ein Symptom Ihrer Sehnsucht
nach Italien. Wer Italien liebt, kann es heute beweisen.
Ich hielt es nur für natürlich . . .«
Sie schwiegen beide, sehr feindlich.
Dann fragte der junge Gesandte, in einem anderen,
leichteren Ton: »Man sagt, dass Sie antifaschistische
Freunde haben und mit ihnen in Korrespondenz
stehen?«
Rieti hörte sich antworten: »Ich hatte einen
Schulkameraden, der später Kommunist wurde und
nach Paris in die Emigration floh. Ich korrespondiere
nicht mit ihm. Übrigens hatte ich viele
Schulkameraden, wir waren allein dreissig in
derselben Klasse.«
»Sie stehen also nicht in Verbindung mit jenem
Vaterlandsverräter?«
Rieti sagte: »Wenn ich verantwortlich sein müsste
für alles, was aus meinen dreissig Klassenkameraden
geworden ist!«
»Also«, sagte der Gesandte, »Sie wollen jedenfalls
hier bleiben.«
»So lange, bis mein Vertrag abläuft.«
»So lange, bis Sie Ihre Aufgabe gelöst haben«,
verbesserte der Gesandte.
Rieti fühlte sich plötzlich furchtbar verlassen. Diese
Aufgabe, dachte er, wird doch niemals gelöst sein. Nur
der Vertrag läuft ab, aber damit ist noch keine Lösung
gefunden, davon versteht dieser olivenfarbige
Napolitaner ja gar nichts. Wenn aber der Vertrag
abläuft, fahre ich zu Mario. Ich habe ihn heute
verraten, und auch meinen Vater habe ich verraten und
bitter gekränkt. Übrigens macht das nichts, sie trauen
mir ja ohnedies nicht, auf beiden Seiten traut man mir
nicht, weder Mario noch dieser Olivenfarbige. Aber
Mario am allerwenigsten, und nun habe ich ihn ja
auch verraten. Ich brauche nur noch seinen Namen zu
nennen, dann bin ich reingewaschen, wenigstens vor
diesem hier, und darf mich als Freiwilliger nach
Abessinien melden. Das bleibt mir dann noch übrig.
Er fühlte sich grenzenlos verlassen.
Der Gesandte sagte, ein wenig höhnisch: »Es ist
schön, dass Sie so an Ihrem Beruf hängen. Auch hier
können Sie Italiens Ruhm nützlich sein.«
Dafür also, dachte Rieti erbittert. Wenn er wüsste,
dass mir nichts an meinem Beruf liegt, nichts an
meiner Aufgabe, vor allem nichts an diesem fremden
Land. Wenn er wüsste, dass dies alles nur eine
armselige, unselige Flucht war. Aber er weiss es ja,
und jetzt wächst es über meinen Willen hinaus, jetzt
bin ich erst wirklich ein Gefangener.
Der Gesandte fragte: »Sie sind sich natürlich klar
darüber, dass Sie, bis Ihre Versuche zu einem
befriedigenden Resultat führen werden, mit viel Zeit,
vielleicht noch mit Jahren rechnen müssen. Sie
müssen mit der Langsamkeit, Entschlussunfähigkeit,
ja mit dem Widerstand der unaufgeklärten Behörden
hier rechnen.«
»Aber ich darf auf Ihre Unterstützung zählen?«
fragte Rieti matt.
»Gewiss«, sagte der Gesandte, »aber natürlich habe
ich jetzt andere, dringendere Aufgaben, ich habe alle
Hände voll zu tun.« Rieti schwieg. Der Gesandte fügte
nachsichtig hinzu: »Jedenfalls brauchen Sie noch sehr
viel Geduld . . .«
Eine Frau allein

Sie kannte, als sie in der Hauptstadt ankam, niemand


ausser einem jungen Sekretär der dänischen
Gesandtschaft, den sie, wie es hiess, vor Jahren in
Neu-Mexiko oder Arizona getroffen hatte. Über Neu-
Mexiko hatte sie ein Buch geschrieben, das bei seinem
Erscheinen in ihrer Heimat Dänemark viel Aufsehen
erregt hatte und später auch ins Englische übersetzt
worden war. Aber das lag mindestens drei Jahre
zurück, und die Leute, die das Buch gelesen hatten
oder dies behaupteten, sprachen abschätzig darüber:
Es sei das Buch einer Abenteurerin, und es sei darin
weniger von Neu-Mexiko die Rede als von
geschmuggeltem Whisky, von der glatten, bartlosen
Haut junger Indianer und vom Leben auf einer Ranch,
wo sich die Leute an selbstgebranntem Alkohol und
an der dünnen, trockenen Luft der Hochebene
betranken, von Schulden lebten, und nachts in den
Maisfeldern lagen und sich liebten. Anscheinend
verdankte das Buch seinen Erfolg ein paar schlechten
Kritiken, die darüber geschrieben wurden, sowie dem
Umstand, dass tatsächlich ein junger
Indianerhäuptling der Autorin bis nach New York
nachgereist war und sich das Leben nahm, weil sie ihn
nicht heiraten wollte. Sie kehrte dann zu ihrem Mann
und ihren Kindern nach Dänemark zurück, und ihr
Verleger, der den Erfolg des ersten Buches ausnützen
wollte, versuchte vergeblich, sie zu einer neuen Reise
zu überreden. Sie sass auf ihrem Gut, mitten in den
Laubwäldern und fetten Weiden Dänemarks, und
kümmerte sich um nichts als um ihre Pferde und
Hunde und um ihre beiden Kinder.
Erst als sich herausstellte, dass ihr Mann in der
Affäre Kreugher sein ganzes Vermögen eingebüsst
hatte, und dass er, ein abgedankter Kavallerieoffizier,
in keiner Weise fähig war, Geld zu verdienen,
entschloss sie sich, den Vorschlag des Verlegers
anzunehmen und nach Persien zu reisen. Sie wusste
nichts von diesem Land, aber das erleichterte es ihr
vielleicht, den Vertrag zu unterschreiben und ihr Gut
und ihre Kinder zu verlassen.
Sie kam im September an. Für Persien war es keine
schlechte Jahreszeit, aber in der Stadt war die Hitze
noch gross, und die Fahrt durch die Wüste und von
Bagdad bis ins Gebirge musste fürchterlich gewesen
sein. Ich arbeitete damals auf der Ausgrabung in
Abderabad, unser Expeditionshaus lag nur eine halbe
Stunde von der Stadt entfernt in einem Granatapfel-
Garten.
Natürlich drang das Gerücht von der Ankunft
Katrin Hartmanns zu uns heraus, noch bevor die
Baronin überhaupt eingetroffen war. Im Orient ist eine
Frau, die ohne männliche Begleitung reist, immer
noch eine Seltenheit, selbst wenn es sich nur um eine
Sängerin oder um ein rumänisches Tanzmädchen
handelt, das im »Pars« oder »Astoria« engagiert
werden soll. Es war deshalb nicht erstaunlich, dass
sich die ganze europäische Kolonie mit der Person
Katrin Hartmanns beschäftigte. Eine Baronin? Eine
Abenteurerin? Was wollte sie hier? Würde sie von der
Gesandtschaft eingeladen werden?
Sie wohnte in der Stadt im Hotel Naderi, und
besuchte niemand ausser ihrem dänischen Bekannten
und einigen hochgestellten Persern, an die sie
Empfehlungsbriefe vom persischen Konsul in
Kopenhagen mitgebracht hatte.
Natürlich sprach man darüber, warum sie sich nicht
zuerst an die Europäer gewandt habe, aber man nahm
es ihr nicht übel. Sie war offenbar ein Original, eine
interessante Persönlichkeit, man durfte sich
Sensationen versprechen, ausserdem war sie schön,
und, wie man wusste, eine ausgezeichnete Reiterin.
Die Herren brannten darauf, ihr ihre turkmenischen
und arabischen Pferde zur Verfügung zu stellen.
Ich traf die Baronin, am Tag nach ihrer Ankunft, auf
der Terrasse des jungen Dänen, der draussen in
Schimran einen schönen, kühlen Garten mit einem
Bungalow und einem Schwimmbassin hatte. Sie
tranken Whisky mit perlendem, eiskaltem Sodawasser
und redeten von Neu-Mexiko. Zu mir sagte sie, dass
sie sich für alles interessiere, auch für Ausgrabungen,
aber ich merkte, dass sie davon noch nie etwas gehört
hatte. Obwohl ich glaubte, dass es sie langweilen
würde, lud ich sie doch ein, uns draussen in
Abderabad zu besuchen. Sie hob den Kopf und sah
mich unter dem weissen Rand ihres Hutes hervor an.
Sie hatte dunkelblaue Augen, die einen kalten, fast
schwarzen Glanz hatten und tief eingebettet unter der
bleichen, stark gewölbten Stirn lagen. Das Gesicht
war schön, gross, männlich, die Wangen eingefallen,
Mund und Kinn kräftig, herausfordernd — ein
Pferdegebiss, dachte ich —, einzig die Schatten um
die Augen und die gespannten Schläfen gaben diesem
Antlitz etwas schmerzlich Rührendes . . .
Sie kam wenige Tage später zu uns heraus. Sie hatte
sich nicht angemeldet, es war früh, vielleicht sieben
Uhr, wir arbeiteten im »Museum« und hatten noch
nicht gefrühstückt. Ich ordnete die Gegenstände, die
am Abend vorher von der Grabung gekommen waren,
und neben mir arbeitete George Gordon an ein paar
parthischen Münzen unter dem Mikroskop. Ich sass
mit dem Rücken zur Tür, die Tür war offen, und das
Licht vom Fluss und von den hellen, lehmigen
Uferbänken fiel in den Raum. Ich sah vor dem Fenster,
durch das Moskitogitter, die weissen Stämme der
jungen Ulmen, die wir um das Schwimmbassin
gepflanzt hatten, dann kam die Russin Gelina vorbei,
und ihr grosses, breit lächelndes Gesicht füllte den
Fensterrahmen. Sie ging zur Küche hinüber, um den
Koch zu überwachen, der das Frühstück machte. Ich
nickte ihr zu. Dann war es, als rufe jemand meinen
Namen, aber von der anderen Seite des Gartens her,
wo niemand war. Man rief zum zweiten Mal, und
George sagte: »Ich glaube, jemand ruft nach dir«, und
als ich mich umdrehte, sah ich durch die offene Tür
Katrin Hartmann. Sie sass auf ihrem Pferd draussen
im Fluss und rief, und das Pferd tänzelte unter ihr und
schob die Hinterhand hin und her. Von der Furt her ritt
ein Perser mit schwarzer, persischer Schirmmütze den
Fluss herauf, er hatte Mühe, sein Pferd vorwärts zu
bringen, das Wasser spritzte an seinen Beinen hoch, er
klopfte dem Tier auf den Hals, um es zu beruhigen.
Gordon und ich liefen hinaus, die beiden ritten ans
Ufer, stiegen ab, und unser Diener Hassan kam barfuss
herbeigelaufen und führte die Pferde in den Hof.
Ich erkannte den jungen Mann, den die Baronin
mitgebracht hatte. Es war Ali Achmed, der jüngste
Sohn der Karagöls, einer der grossen Familien
Persiens. Sie waren Türken oder Kurden und hatten
ihre Dörfer oben in Kurdistan, an der irakischen
Grenze. Seitdem der alte Prinz an der Cholera
gestorben war, beherrschte die Mutter die Familie; sie
hatte sechs Söhne, von denen die beiden jüngsten in
Lausanne erzogen worden waren. Von ihr selbst
erzählte man, sie sei ein Nomadenmädchen und könne
weder lesen noch schreiben. Es war eine Ehre, bei ihr
eingeladen zu werden, sie empfing wenig Europäer
und hatte ihren Söhnen verboten, Europäerinnen zu
heiraten, weil es für beide Teile ein Unglück sei. Es
hiess, Ali Achmed sei in Lausanne mit einer
Schweizerin verlobt gewesen, aber seine Mutter
zwang ihn, ein reiches persisches Mädchen zu
heiraten, dessen Familie noch reicher und mächtiger
war als die Karagöls. Kurz nach der Hochzeit starb der
Vater der Braut, einige behaupteten, im Gefängnis,
andere, durch Selbstmord, und sein Vermögen wurde
eingezogen. Das Mädchen war erst sechzehn Jahre alt.
Sie lebte seither im Hause ihrer Schwiegermutter, man
sah sie selten, sie durfte keine Einladungen annehmen.
Gordon und ich hatten Ali Achmed bei einem
Polomatch getroffen. Er galt als guter Spieler und
hatte ausgezeichnete Pferde. In Abderabad war er noch
nie gewesen. Wir bekamen übrigens wenig Besuch aus
der Stadt. Aus der Nähe gesehen ist eine Ausgrabung
enttäuschend.
»Ali Achmed hat darauf bestanden, mir Abderabad
zu zeigen«, sagte Katrin Hartmann, »er ist so stolz auf
die Kunstschätze seines alten Persiens.«
»Ich habe ihr gesagt, dass ich nichts davon
verstehe«, sagte Ali. Er ging mit George hinter uns
her. Sie sprachen persisch. Wir gingen durch das
Museum und sahen die Wandbretter mit den
prähistorischen Gefässen an, und George holte die
islamischen Goldmünzen hervor, die wir auf der
Zitadelle gefunden hatten. Man konnte den Besuchern
mit diesen Goldstücken am meisten imponieren, wir
wussten es aus Erfahrung. Dann läutete die
Kamelglocke, und wir gingen in den Garten und
setzten uns an den Frühstückstisch unter den Ulmen.
Der Tisch stand mitten zwischen den abgesteckten
Vierecken, in denen die Scherben sortiert wurden und
die wir deshalb »Scherbenbeete« nannten. Ein paar
persische Arbeiter hockten auf Strohmatten am Boden
und wuschen die Tonscherben, die man am vorigen
Tag von der Grabung gebracht hatte. Sie benützten
leere Benzinkannen als Wassergefässe. Vor dem
»Museum« lag ein Stapel solcher Benzinkannen, wir
brauchten sie für alle möglichen Zwecke: um
Garagentüren zu machen, Mauern auszubessern, um
feinere Funde zu transportieren und als
Sitzgelegenheiten. Kat sah über den Garten mit den
Scherbenbeeten hinweg. »Was machen Sie mit diesen
Trümmerhaufen?« fragte sie. Sie sass neben Gordon.
Sie hatte ihre Jacke ausgezogen, darunter trug sie
einen gelben Sweater mit Rollkragen, und man sah
ihre breiten Schultern und ihren breiten, kräftigen
Oberkörper. Sie sah wunderschön aus. »Warum
machen Sie sich solche Mühe mit diesen Trümmern?«
fragte sie.
»Wir kleben sie zusammen«, antwortete Gordon,
»wir üben unsere Geduld daran.«
»Und dann?«
»Dann schicken wir sie in das Museum von
Philadelphia.«
Hassan kam über den Hof und brachte Tee, Eier und
geröstetes persisches Brot. Kat hatte noch nie
persisches Brot gegessen.
»Es sieht aus wie Knäckebrot«, sagte sie. Sie liess
die Butter darauf zergehen. »Und in tausend Jahren«,
fuhr sie fort und sah wieder in den Garten hinaus, »ist
dieser Garten ein Ruinenhügel, und man wird Ihre
Benzinkannen als Antiquitäten ausgraben. Es wird
genauso nützlich sein wie die Arbeit, die Sie sich jetzt
machen.«
»Aber wenigstens brauchen wir uns dann nicht
mehr darum zu kümmern«, sagte Gordon.
Sie sah ihn mit einem schnellen Blick an. »Es
langweilt Sie also?« fragte sie.
»Nein.«
»Ach, geben Sie doch zu, dass es Sie langweilt!«
»Gut«, sagte George, »manchmal langweilt es uns.
Aber es ist unser Beruf.«
Sie hob die Arme und verschränkte sie im Nacken.
»Und es gibt so viel Lebendiges, worum man sich
kümmern sollte! Die Welt ist so wunderbar lebendig!«
Ali Achmed sprach während des Frühstücks kein
Wort. Er sass da und schien Gordon zuzuhören und
hatte seinen ganzen Teller mit Trauben gefüllt, die er
dann zu essen vergass. Er sah Katrin an, mit einem
aufmerksamen, fast demütigen Blick.
». . . so wunderbar lebendig!«
Er folgte, als sie die Arme hob, ihrer Bewegung,
und seine Augen leuchteten auf.
Draussen im Hof sprang der Lastwagen an. Gordon
zog die Uhr aus der Tasche. »Ich muss jetzt auf die
Grabung hinaus«, sagte er, und zu mir: »Aber du
kannst ja hierbleiben und die Baronin noch
herumführen. Oder wollen Sie mit hinauskommen?«
Katrin sprang auf. »Nein«, sagte sie, »wir müssen
gehen. Wir treffen den Emir Hossen zu einem
Picknick. Zu einem persischen Picknick in einem
persischen Garten. Ich wollte Sie einladen
mitzukommen.«
Ali Achmed war schon in den Hof gegangen, um
die Pferde zu holen.
»Wenn du mitgehen willst«, sagte George zu mir,
»ich habe leider keine Zeit. Ich muss Van draussen
ablösen.«
Ali Achmed brachte die Pferde. Er gab Hassan ein
Bakschisch, nahm ihm die Zügel ab und führte die
Pferde selbst durch den Hof und an das Flussufer
hinunter.
Kat Hartmann sah mich an. »Ich schicke Ihnen den
Wagen des Emirs«, sagte sie.
Ich hatte grosse Lust, ein persisches Picknick
mitzumachen. »Es ist furchtbar nett von Ihnen«, sagte
ich, »aber wir haben wirklich keine Zeit. Ich muss mit
Gordon auf die Grabung hinaus, um Van abzulösen.«
Sie ging schon mit grossen Schritten über den Hof.
Sie sah sich gar nicht mehr um. »Wie Sie wollen«, rief
sie, »aber wie kann man so pedantisch sein! Wie kann
man sein Leben zwischen Scherbenhaufen
verbringen!«
Als Gordon und ich auf der Grabung unseren
Rundgang machten, sahen wir weit draussen auf dem
flachen Feld die beiden Pferde von Kat und Ali
Achmed, sie ritten Galopp und liessen eine kleine
Staubwolke hinter sich zurück.
Ich traf Katrin Hartmann erst eine Woche später
wieder, an einer Cocktail-Party bei Gaby Miles. Gaby
Miles war mit George befreundet, sie interessierte sich
für Archäologie und kam manchmal, gegen Abend, in
ihrem eleganten Cabriolet nach Abderabad hinaus und
sah sich die letzten Funde an. Sie sprach zehn
Minuten lang über Lüstertechnik, Minai-Gefässe und
prähistorische Dekorationen. In unserem düsteren,
kalten Museum, wo auf jedem Arbeitstisch eine
qualmende Petroleumlampe brannte, ging Gaby Miles
in einem weissen, knappsitzenden Schneiderkleid
umher, nahm sich Zigaretten aus unseren
Zigarettenschachteln, die überall herumlagen — von
Zorai im Bazar, Nummer 5 —, befahl Hassan, Wodka
zu bringen, er strahlte, weil die englische »Khanum«
persisch mit ihm sprach; dann füllte sie selbst die
Gläser und trank, auf Vans Zeichentisch sitzend, mit
uns. »Ich musste wieder einmal nach meinem Freund
George sehen«, sagte sie, dann fuhr sie weg und liess
den zarten Duft ihres Parfums und den zarten Glanz
ihres goldblonden, mädchenhaft gelockten Haares in
unserem kalten Museum zurück. Gaby Miles
interessierte sich auch für Pferde, besonders für
Polopferde, und Ali Achmed galt als ihr Hausfreund.
Sie gab jede Woche eine Cocktail-Party, gewöhnlich
richtete sie es auf Donnerstag, aus Rücksicht auf ihren
Freund George Gordon, denn freitags wurde in
Abderabad nicht gearbeitet, und wir konnten es uns
deshalb leisten, Donnerstag abends auszugehen . . .
Die Europäer hielten darauf, bei Gaby Miles
eingeladen zu werden. Man sagte nicht: »bei Mr. and
Mrs. Miles«, denn Mr. Miles, Handelsattaché bei der
englischen Botschaft und leidenschaftlicher
Forellenfischer, spielte neben seiner Frau eine geringe
Rolle.
George und ich fuhren also am nächsten Donnerstag
in die Stadt, in unserem alten Chevrolet, dessen
Trittbretter abgerissen waren und dessen Verdeck wie
ein Segel im Staub der Landstrasse flatterte. »Meinst
du«, fragte ich ihn unterwegs, »dass diese dänische
Baronin da sein wird? Meinst du, dass sie bereits bei
Gaby zugelassen ist?«
»Ich glaube, Gaby wird eifersüchtig auf sie sein. Sie
hat Frauen nicht gern.«
»Aber wenn die Hartmann eingeladen ist«,
antwortete ich, »dann hat sie auch die ganze Stadt
schon erobert.«
George sagte nichts. Ich wusste nicht, ob ihm
Katrin Hartmann gefallen hatte.
Wir stellten den Chevrolet in die Reihe der
eleganten Limousinen, die in der Allee vor Miles’
Haus parkiert waren. Als wir das Wohnzimmer
betraten, waren die meisten Gäste schon
angekommen, sie standen in Gruppen zwischen den
mit Chintz überzogenen Bombaystühlen; im
Hintergrund des grossen Raums brannte ein
Kaminfeuer. Gaby sass mit Ali Achmed an der
Hausbar, sie trug ein weisses, kurzes, etwas zu
sommerliches Kleid, das ihre dünnen Beine, ihre zu
dünnen Arme und die kleinen, mageren Schultern frei
liess und das schulmädchenhaft, beinahe rührend
wirkte. Sie winkte uns, nahm zwei Gläser von der Bar,
Ali Achmed, der Hausfreund, schenkte uns Whisky
ein. »Habt ihr die Baronin Hartmann schon gesehen?«
fragte Gaby, »ihr werdet sie gleich kennenlernen, sie
hat mir versprochen, heute abend zu kommen.«
»Sie war bei uns draussen, auf der Ausgrabung«,
sagte ich.
»Natürlich«, sagte Gaby, »sie interessiert sich für
alles, ich hätte mir denken können, dass sie euch
schon ausfindig gemacht hat!« Sie neigte sich nach
vorn, stützte sich auf Alis Schulter: »Und stellt euch
vor, dass dieser Junge mir Vorwürfe macht, weil ich
die Baronin eingeladen habe! Ganz Teheran spricht
von ihr, und ich soll mir nicht erlauben dürfen, sie
einzuladen!«
»Sie scheint eine sehr gescheite Frau zu sein«, sagte
George.
»Da hören Sie es«, Gaby schüttelte den jungen Ali
an der Schulter, »seien Sie doch kein Stockfisch, Ali,
ich bitte Sie! Morgen kommt Kat zu mir, um mein
neues Pferd zu malen, den neuen Turkmenen. Ihr
solltet sie sehen, wenn sie malt! Sie streift die Ärmel
hoch wie ein Bursche, stellt sich breitbeinig vor ihre
Leinwand und malt, als ginge es ums Leben!«
In diesem Augenblick öffnete ein Diener die Tür,
Katrin Hartmann trat ein. Sie trug den gelben Sweater
mit Rollkragen, darüber eine braune Jacke, und hielt
Hut und Handschuhe in der Hand. Sie sah aus, als sei
sie gerade erst vom Pferd gesprungen, und schüttelte,
als sie durch das Zimmer auf Gaby zuging, das kurze,
braune, gelockte Haar aus der Stirn zurück. Alle
Anwesenden hörten auf zu sprechen, traten zurück, um
ihr Platz zu machen. »Lassen Sie sich nicht stören«,
rief Kat lachend, »ich habe mich beim Reiten
verspätet. Es war wundervoll draussen!« Und in die
plötzliche Stille, in das von Zigarettenrauch erfüllte
Zimmer brachte sie den Geruch von Staub und Leder
mit sich herein, und vom Wind des freien Feldes einen
grossen Atemzug . . .
Katrin Hartmann hatte ganz Teheran für sich
gewonnen. Sie war mit Gaby Miles befreundet, malte
ihr Turkmenenpferd, und trainierte es für die
Springkonkurrenz am Schluss der Schnitzeljagden.
Sie ritt Ali Achmeds bestes Polopferd und besuchte
seine Mutter, das gefürchtete Haupt der Familie
Karagöl, zum Tee. Der dicke Emir Hossen gab für sie
ein persisches Essen, sein ständiger Diener und
Begleiter, der kleine Spassmacher Aghbar, fuhr sie,
wie ein Chauffeur, in seinem neuen Buickwagen
umher, begleitete sie in den Bazar und zu den
Antiquitätenhändlern. Sie ging mit Mr. Miles ins
Gebirge, um Forellen zu fischen, mit Ali Achmed und
seinen Brüdern auf deren Gütern in Kurdistan auf die
Steinbockjagd. Sie hatte keine Zeit mehr, nach
Abderabad zu kommen, aber sie schlug George und
mir vor, in die Turkmenen-Steppe zu fahren, um dort
die berühmten Pferderennen der Nomaden zu sehen.
Leider hatten wir keine Zeit dazu; sie fuhr allein, mit
einem armenischen Chauffeur. Als sie zurückkam,
hatte in der Stadt die Wintersaison begonnen. Der
dicke Emir gab ein altpersisches Fest, wo man
herrliche alte Kostüme, persische Ringer und
Tänzerinnen sah. Während des Essens — es gab nur
persische Gerichte, Fasane, Reis mit Butter, Rosinen
und Pistazien, Zucker und Melonen aus Isfahan —
liess er seine Frau im Kostüm einer Tänzerin
auftreten. Er hatte viele Frauen gehabt, diese war die
jüngste, erst vierzehn Jahre alt, ein Nomadenkind,
welches er in einem seiner Dörfer am Demawend
gefunden hatte. Er hielt seine Frau sonst streng
verborgen, heute zeigte er ihre Schönheit; sie nahm
den weissen, mit Gold bestickten Schleier ab und
tanzte in kleinen, grünen, goldbestickten Sandalen.
Als Kat aufstand und sie vor allen Gästen an sich zog
und küsste, schlug sie die Augen auf und betrachtete
sie mit dem grossen, dunkelfeuchten Blick einer
Gazelle.
Kat besuchte ein persisches Frauenbad, einige Tage
später, im schwarzen Schleier und, in Begleitung des
Spassmachers Aghbar, ein Bordell am Kasvin-Tor.
Aghbar war ein Vetter der Karagöls, er hatte sein
Vermögen verspielt und lebte, geduldet und
unentbehrlich, im Hause des dicken Emirs. Er
verkehrte viel bei Europäern, man erzählte, er stehe im
Dienst der Fremdenpolizei. Die Perser, sonst
zurückhaltend gegen Ausländer, vergötterten Katrin,
luden sie in ihre Häuser ein, sie lernte ihre Frauen
kennen, sah ihre Sammlungen alter Miniaturen,
kostbarer Korane, ihre eingelegten Waffen und
schweren Seidengewänder. Um in die heilige Moschee
von Abdul-Azim eindringen zu können, verheiratete
sich Kat für die Dauer von vierundzwanzig Stunden
mit einem Bruder des Emirs, der im Hause des dicken
Reichen ein ähnliches Schmarotzer-Dasein führte wie
der Spassmacher Aghbar. Er war klein, Kat überragte
ihn um Haupteslänge, sie trug den Tschador, den
schwarzen Schleier, wie eine Rüstung über den breiten
Schultern. Die Moschee wurde von wallfahrenden
Frauen besucht, die unfruchtbar waren, auf weissen
Eseln ritten sie auf der alten Karawanenstrasse bis
zum Tor des Heiligtums, das von blauen Kacheln und
goldenen Ornamenten schimmerte. Katrin betrat den
Moscheenhof an der Seite ihres zitternden Gatten.
Man starrte sie an — als sie zurückging, folgte ihr
eine drohende Menge durch die enge Bazargasse des
Dorfs, erst vor dem Automobil des Emirs wich sie
zurück. Der Gatte wurde noch vor Ablauf der
vierundzwanzig Stunden auf eines der Güter am
Demawend geschickt.
Weil die persischen Damen selten ausgingen und
noch seltener Gäste in ihren Häusern empfingen,
gaben die Perser ihre Diners meistens in einem der
Lokale der Stadt, im »Pars« oder »Astoria«, die eine
Mischung von Tanzlokal, Bar und Restaurant
darstellten. Die Kapellen kamen aus Beirut oder,
bestenfalls, aus Ägypten, die Besitzer waren Armenier
und Levantiner, die Küche war schlecht. Whisky war
das einzige geniessbare Getränk. Die Europäer
besuchten diese Lokale manchmal am späteren Abend,
nach dem Diner, wenn man keinen Gesprächsstoff
mehr hatte und sich zu langweilen begann. Hausfrauen
haben für solche Gefahrenmomente einen sicheren
Instinkt; im richtigen Augenblick schlugen sie dann
vor, dass man sich noch ein bisschen amüsieren sollte.
Droschken wurden bestellt, und die ganze Gesellschaft
siedelte in das Lokal um, das die beste Kapelle oder
gerade neue Tänzerinnen aus Rumänien oder Ungarn
zu bieten hatte.
Dies änderte sich während des Winters, den Katrin
Hartmann in der Hauptstadt zubrachte. Sie war mit
vielen Persern befreundet, der Emir Hossen lud als
erster mit ihr zusammen ein paar Europäer zum Essen
ins »Pars« ein, zuerst nur Junggesellen, den dänischen
Gesandtschaftssekretär, den englischen Arzt; Kat
selbst veranlasste, dass Aghbar George Gordon, Van
und mich überraschenderweise in Abderabad abholte.
Dann tat Gaby Miles den ersten Schritt und gab ein
»Supper« im »Astoria«. Das Essen begann um zehn
Uhr und dauerte zwei Stunden, weil die Bedienung
schlecht war. Man tanzte zwischen den Gängen. Um
drei Uhr gelang es George und mir, Aghbar zu
überreden, uns nach Hause zu fahren. Wir gingen auf
die Strasse hinaus, ein rot uniformierter Negerjunge
brachte Aghbars Mantel nach.
»So geht das jetzt jede Nacht«, sagte Aghbar, »es ist
ein lustiges Leben, seitdem die Baronin da ist!«
Er setzte sich ans Steuer, wir fuhren die breite, leere
Hauptstrasse zum Bazar hinunter.
»Ich wundere mich bloss, dass sie es aushält!« sagte
ich.
Aghbar bog in die Bazarstrasse ein. Er fuhr schnell.
Er war leicht betrunken. »Dass sie es aushält?« fragte
er, »eure Baronin? Sie kann zehn Gäule zuschanden
reiten und zehn Männer ums Leben bringen, ohne
auch nur Atem zu schöpfen!«
George, der hinten im Wagen sass, rief: »Fahren Sie
langsamer! Halten Sie am Stadttor, wir müssen unsere
Papiere zeigen!«
»Am Stadttor«, schrie Aghbar zurück, »ich dachte,
Sie wollten vielleicht auch ein Bordell am Stadttor
besuchen, wie die Baronin!«
George antwortete nicht. Aghbar rief den
Wachsoldaten am Tor etwas zu und fuhr in die Ebene
hinaus.
»Ja«, sagte ich, »sie hat sich allerhand geleistet, sie
ist mutig, sie kann es sich leisten, die ganze Stadt ist
ja verrückt nach ihr! Vielleicht einfach, weil sie so
schön ist . . .«, fügte ich hinzu und vergass, wer neben
mir sass.
Aghbar brach plötzlich in schallendes Gelächter
aus. »Schön!« schrie er, und liess, vor Lachen
geschüttelt, das Steuer los und schlug sich mit den
Fäusten auf die Brust, »schön nennt ihr das? Das ist
nicht schön, das ist ein halber Mann, ein Pferd ist
das!«
»Passen Sie doch auf!« schrie George von hinten.
Wir kamen um halb vier Uhr nach Abderabad. Um
halb sechs Uhr mussten George und ich mit dem
Lastwagen auf die Grabung hinaus. Wir beschlossen,
keine Einladungen mehr anzunehmen.
Vierzehn Tage lang führten wir durch, was wir
beschlossen hatten. Wir schrieben Gaby Miles, dass
wir am nächsten Donnerstag nicht zur Cocktail-Party
kommen könnten, weil wir jetzt abends den Katalog
aufarbeiten müssten. Wir dankten dem Emir für seine
Einladung und gingen einfach nicht hin. Wir gaben
Aghbar einen Wodka, als er mit dem Wagen kam, um
uns abzuholen, und führten ihn durch den Garten zu
allen Scherbenbeeten, bis er genug davon hatte und in
die Stadt zurückfuhr. Wir standen um fünf Uhr auf und
arbeiteten den ganzen Tag, und abends sassen wir mit
Van auf der Treppe vor dem Museum und sprachen
darüber, was wir machen würden, wenn die Saison zu
Ende war. Vielleicht würden wir über Kurdistan
fahren, und nachher meine Freunde in Syrien
besuchen. George wollte auch nach Konstantinopel, er
war dort früher Lehrer an der Amerikanischen Schule
gewesen. Aber vielleicht war es besser, direkt nach
Hause zu reisen. Wir redeten davon, als seien wir viele
Jahre nicht mehr zu Hause gewesen. Um neun Uhr
holten wir die Taschenlampen im Museum und gingen
schlafen. So machten wir es vierzehn Tage lang. Wir
luden Katrin Hartmann ein, Donnerstag abend zu uns
herauszukommen. Wir wollten ein Mondschein-
Picknick auf der Ausgrabung veranstalten. Sie
schickte uns ein paar Flaschen Wodka und kam nicht.
Am nächsten Nachmittag fuhr ich mit George in die
Stadt. Wir mussten im Bazar Gemüse, Fett und
Melonen besorgen. Nachher ging George zu den
Antiquitätenhändlern, und ich fuhr mit dem Wagen ins
Hotel Naderi. Ich sah Ali Achmeds Wagen vor der Tür
stehen. Ich wartete im Salon, es war ein kalter,
düsterer Raum, leer bis auf ein paar schmale, mit
grünem Samt überzogene Bänke, welche die Wände
entlang aufgestellt waren. Über einem Spiegel hing
eine Photographie des jungen Thronfolgers in weisser
Uniform.
Nachdem ich eine Weile gewartet hatte, hörte ich
draussen einen Wagen anspringen, und Katrin kam
herein. »Ich dachte, es sei Gaby Miles«, sagte sie, »ich
wollte nicht, dass sie Ali Achmed hier antrifft, sonst
hätte ich Sie nicht warten lassen.« Ihr Gesicht war
gerötet, als habe sie Fieber. »Ich bin gerade mit ihm
vom Reiten zurückgekommen«, fuhr sie fort, »wir
wollen etwas Heisses trinken. Vielleicht einen Grog.«
Sie liess sich auf eine der schmalen Bänke fallen, sie
sah müde, nervös und fiebrig aus. »Ich friere immer so
nach dem Reiten«, sagte sie.
»Die können hier keinen Grog machen«, sagte ich.
»Abdul kann es«, sagte sie, »ich habe jetzt einen
eigenen Diener, Ali Achmed hat ihn mir besorgt.« Sie
klatschte in die Hände, ein schlecht gekleideter, junger
Bursche trat ein. Offenbar hatte er vor der Tür
gewartet. »Abdullah«, sagte Kat, »bring heissen Wein
mit Zucker, hast du verstanden?«
Er ging.
»Soll ich ihm eine weisse Livree machen lassen?«
fragte Kat, »haben eure Diener in Abderabad weisse
Livreen?«
»Nein«, sagte ich, »sie sind barfuss und schmutzig.
Man gewöhnt sich daran.«
»Es lohnt sich auch nicht«, sagte Kat, »für die kurze
Zeit.«
Abdullah kam zurück. Er brachte einen Krug mit
dampfendem Wein, und, unter den Arm geklemmt, ein
Bündel Zeitungen und Briefe. »Die Post«, sagte er. Es
waren schwedische Zeitungen, und die Briefe hatten
dänische Marken.
»Ich mag sie gar nicht mehr lesen«, sagte Kat, »ich
will bald nach Hause fahren. Freust du dich, wenn du
Post von zu Hause bekommst?« Sie duzte mich zum
ersten Mal, aber ich wusste, dass Skandinavier,
besonders junge Leute, es mit dem »du« nicht
besonders genau nehmen.
»Nein«, sagte ich, »ich freue mich nicht. Es ist
meistens unangenehm. Man bekommt Heimweh
davon.«
Kat nahm die Briefe in die Hand. »Dieser ist von
meiner Mutter«, sagte sie, »und dieser hier vom
Verlag. Ach, ich will gar nicht wissen, was er schreibt,
es ist doch immer das gleiche.«
»Wann müssen Sie Ihr Manuskript abliefern?«
fragte ich.
Sie schenkte den heissen Wein in die Gläser. »Ich
will es gar nicht wissen«, sagte sie, »ich weiss nur,
dass ich an Weihnachten wieder in Dänemark sein
werde.«
»Aber Sie waren ja noch gar nicht im Süden! Sie
haben ja noch nicht einmal Persepolis gesehen!«
»Ich will es nicht sehen«, sagte Kat, »der Verlag
zahlt mir nur drei Monate Aufenthalt, die sind
ohnehin schon fast abgelaufen.«
»Sie müssen nach Süden fahren«, sagte ich, »gehen
Sie ins Gebirge, zu den Nomadenstämmen, zu den
Bakhtiari und Kaschgai, wenn Sie schon Persepolis
nicht sehen wollen. Hier verlieren Sie nur Ihre Zeit.«
»Ja«, sagte sie, »ja, ich verliere nur meine Zeit. Ich
will nach Hause fahren. Ich will meine Kinder
wiedersehen.«
»Aber das Buch«, sagte ich, »Sie können doch nicht
ein Buch über den Stadtklatsch von Teheran
schreiben!«
Katrin begann zu lachen. »Ich kann überhaupt nicht
schreiben«, sagte sie, »aber wenn du willst, kann ich
auch zu den Nomaden fahren. Auch nach Persepolis.
Sag deinem Freund George, dass ich euch einlade, mit
mir nach Süden zu reisen.«
»Wir haben ja keine Zeit.«
»Ihr habt nie Zeit, etwas Vernünftiges zu tun!«
»Ausserdem ist es jetzt auch zu spät. Jetzt beginnt
die Regenzeit, dann schneit es, und die Strassen haben
keine Brücken. Im Winter kann man hier nicht reisen,
du musst bis März warten.«
»Bis März«, sagte Kat, »aber wovon soll ich hier
leben?« Sie schenkte sich wieder ein.
»Ich muss gehen«, sagte ich, »George wartet auf
mich.«
»Kommt ihr heute abend ins ›Astoria‹?«
»Es geht nicht, wir müssen morgen arbeiten.«
»Bitte«, sagte sie, »bitte, kommt mit mir ins
›Astoria‹! Du musst George dazu überreden. Gaby
wird dort sein. Der Emir und Aghbar werden dort
sein. Alle werden kommen.«
»Dann brauchst du doch uns nicht!«
»Ich bitte dich«, sagte Kat.
George und ich sassen im »Astoria«. Um neun Uhr
kam Gaby Miles. Sie setzte sich mit uns an die Bar.
Sie trug ein schwarzes Abendkleid, das den Rücken
frei liess und nur durch zwei breite Bänder über den
Schultern gehalten wurde. Sie war weiss und zart und
mager, ihr Haar glänzte und schmiegte sich mit
runden, zarten Locken in ihren kindlichen Nacken.
»Wenn doch Kat endlich käme«, sagte sie.
Ich sagte: »Sie wird schon kommen. Sie hat uns
hierher bestellt.«
»Solange sie nicht da ist, wartet alles auf sie«, sagte
Gaby, »man kann ohne sie einfach nicht mehr
auskommen.«
Um zehn Uhr waren eine Menge Leute da. Emir
Hossen und sein Spassmacher, Ali Achmed, mehrere
junge Engländer von der Ölkompanie, der englische
Arzt, sogar der neue dänische Gesandte mit seiner
Gattin. Man wartete auf die Baronin Hartmann. Mr.
Miles spielte Bridge mit dem Emir und zwei Belgiern.
Um halb elf Uhr kam Ali Achmed an die Bar, er
küsste Gaby die Hand.
»Vielleicht sollten wir ins ›Naderi‹ fahren«, sagte er
zu mir, »vielleicht hat sie es einfach vergessen.«
Wir gingen die Treppe zur Garderobe hinauf, als
Kat ankam. Wir sahen sie auf der Strasse den
Droschkenkutscher bezahlen und über den Hof laufen.
Der Negerjunge lief neben ihr her und hielt einen
Schirm über sie. Sie trug ein Abendkleid aus
schwarzem Samt, den Mantel hatte sie wie ein
Offizierscape über eine Schulter gehängt, an der
anderen, nackten, weiss schimmernden Schulter trug
sie rote Federn, die wie ein Strauss von Feuerlilien
aussahen. Sie war sehr bleich, ihr Gesicht und ihr
breiter Hals schimmerten über dem Rot der Federn.
»Wir wollten dich abholen«, sagte ich.
Ali Achmed stand da, auf dem feuchten Pflaster des
Hofs, den Mantel über dem Arm, und starrte sie an.
»Danke«, sagte sie, »es ist nichts. Ich habe eine
schlechte Nachricht bekommen.« Sie ging vor uns her,
die Treppe hinunter.
Während des Essens sass sie zwischen dem dicken
Emir und dem neuen dänischen Gesandten, und
George und ich sassen am anderen Ende des Tisches.
Gaby schickte mir eine Karte hinüber: »Was ist mit
Katrin?« Ich antwortete nicht. Man begann, zwischen
den Gängen der Mahlzeit, zu tanzen. Kat tanzte mit
Ali Achmed, und sie redeten kein Wort miteinander.
Beim nächsten Tanz forderte er sie wieder auf, dann
tanzte er einmal mit Gaby Miles, und dann nur noch
mit Kat. Sie hielt den Kopf zurückgeworfen und sah
aus, als habe sie geweint. Sie waren beide gleich
gross, aber Kat war breiter und kräftiger als er, und ihr
Kopf sah neben seinem schmalen, dunklen Gesicht
mit dem schwarzen, gekräuselten Haar wie das Haupt
eines Erzengels aus.
Nach dem Essen sass Aghbar mit George und mir
am abgeräumten Tisch und erzählte Witze. Ich wäre
gern nach Hause gefahren, aber oben am Tisch sass
Kat und hatte den Arm um den fetten Hals des Emirs
gelegt, und es war beunruhigend, sie lachen zu hören.
Ali Achmed stand in höflicher Haltung neben ihrem
Stuhl und unterhielt sich mit Gaby Miles. Dann drehte
er sich plötzlich nach Kat um, und Gaby sprang auf
und legte ihr den Arm um die Schulter. Kat sass ganz
ruhig, den Kopf nach hinten geworfen, und weinte.
Sie schob Gabys Arm weg und weinte unbeweglich,
mit erhobenem Gesicht.
»Man muss sie nach Hause bringen«, sagte ich.
Wir standen auf, und George ging auf sie zu und
sagte laut: »Nehmen Sie sich doch zusammen, Kat!
Hören Sie doch auf, vor diesen Leuten zu weinen!«
Sie schloss die Augen und presste die Lippen
aufeinander, aber ihr Gesicht war von Tränen
überströmt, und unter den geschlossenen Lidern
drangen immer mehr Tränen hervor.
»Lasst Sie in Ruhe«, sagte Gaby Miles, sie stellte
sich vor Ali Achmed, als müsse sie Katrin vor ihm
schützen.
Neben mir sagte einer der Belgier: »Was für eine
widerliche Komödie!« Ich kannte ihn nicht.
»Sie hat eine schlechte Nachricht bekommen«,
sagte ich, »sie hat einfach die Nerven verloren.«
»Nerven!« sagte der Belgier, »glauben Sie doch
nicht, dass Frauen dieser Sorte Nerven haben!«
»Hören Sie schon auf!« sagte ich wütend. Ich sah
mich nach dem dänischen Gesandten um. Er war mit
seiner Frau weggegangen. Gaby Miles, ihr Mann,
George und Ali Achmed bildeten einen Kreis um
Katrin. Sie stand auf. Miles, der am meisten getrunken
hatte, schien auf einmal ganz nüchtern.
»Also jetzt sind wir so weit«, sagte er, »jetzt
bringen wir Sie nach Hause!«
»Ach, lasst mich in Ruhe!« sagte Kat, mit einer
vom Weinen rauhen Stimme. George folgte ihr die
Treppe hinauf.
Ich wartete auf der Strasse im Regen, bis er mit
dem Wagen zurückkam. »Was hatte sie nur?« fragte
ich ihn.
»Komm«, sagte Georg und öffnete den
Wagenschlag, »komm, wir wollen nach Hause fahren.
Ich glaube, sie hat endlich einmal die Nerven
verloren!« Und viel später fügte er hinzu: »Im Auto
war sie zuerst ganz ruhig. Dann sagte sie plötzlich:
›Ich habe es satt‹, und fing wieder an zu weinen, wie
ich nie einen erwachsenen Menschen habe weinen
hören.
Ich fragte George am nächsten Vormittag, ob er
während der Mittagspause mit mir in die Stadt fahren
würde.
»Wenn es sein muss, natürlich«, sagte er, »was
willst du denn in der Stadt?«
»Ich habe das Gefühl, man sollte sich um Katrin
kümmern.«
»Das Gefühl werden genug andere Leute haben.«
»Wenn es dir nichts ausmacht, möchte ich doch
lieber fahren.«
»Schön«, sagte George, »dann werde ich den
Direktor um den Wagen bitten.«
Wir fanden Katrin im Bett. Sie trug ihren
Rollsweater und einen wollenen Schlafrock und hatte
sich mit einer schwarzen Decke aus Ziegenhaar und
mit ihrem Mantel zugedeckt. Trotzdem fror sie, ihre
Lippen waren aufgesprungen und blau vor Kälte.
»Es ist gut, dass ihr kommt!« sagte sie. »Ihr müsst
mir helfen. Ich muss sofort abreisen.«
»Ich glaube, Sie brauchen einen Arzt«, sagte
George.
Sie richtete sich ein wenig auf, ihre Zähne schlugen
aufeinander. »Versteht ihr mich«, sagte sie, »ich will
keinen Arzt. Ich will abreisen.«
»Sie können in diesem Zustand nicht reisen. In
einer Stunde werden Sie das schönste Fieber haben.«
»Aber ich muss nach Hause!« schrie sie.
George und ich sahen uns an. Wir schwiegen beide.
Kat liess sich auf das Kissen zurückfallen, ihr Gesicht
rötete sich plötzlich, das Fieber begann. George drehte
sich leise um und ging zur Tür. »Hören Sie«, sagte
Kat, sie schrie nicht mehr, ihre Stimme klang heiser
und angestrengt, »holen Sie bitte keinen Arzt, George.
Es hilft ja nichts, ich muss nach Hause reisen, meine
Mutter hat mir geschrieben, dass mein Kind krank ist.
Es ist fünf Jahre alt. Es wird sterben.«
»Kat«, sagte ich, »wenn es so gefährlich wäre,
würde man dir doch telegraphieren!«
Sie sah mich an, ihre Augen wurden weit vor
Angst. »Ich habe heute morgen ein Telegramm
bekommen«, sagte sie.
Wir konnten beobachten, wie das Fieber stieg.
Katrin sprach die ganze Zeit, der Schüttelfrost hörte
auf, sie lag ganz still und hielt die Augen weit
geöffnet und redete. »Meine Mutter hält mich für eine
Abenteurerin«, sagte sie, »sie glaubt mir nicht, dass
ich weggegangen bin, weil wir Geld brauchen. Sie hat
nie Geld gebraucht. Sie hat nie ihren Mann verlassen.
Sie hält mich für eine schlechte Frau. Wenn ich nur
Zeit hätte, nach Hause zu reisen! Ach, wenn ich nur
Zeit hätte«, klagte sie, »aber mein Vertrag läuft ab,
und der Verlag hat mir geschrieben, dass er mir kein
Geld mehr schicken kann, bis ich das Buch abgeliefert
habe, und ich habe noch keine Zeile geschrieben!« Sie
schrie uns an: »Ich werde keine Zeile über dieses Land
schreiben, ich hasse dieses Land, ich hasse meine
Mutter, oh, ich hasse euch, ich hasse euch!«
Endlich kam George mit dem englischen Arzt
zurück. Katrin hatte vierzig Grad Fieber, ihre Zunge
war geschwollen. Der Arzt stellte eine schwere
Angina fest. Als George mit ihm hinausgegangen war,
um mit dem Englischen Krankenhaus zu telefonieren,
fasste Katrin meine Hand, zog mich zu sich herab und
flüsterte: »Du musst bitte zu den Karagöls fahren«, sie
stockte einen Augenblick, liess mich los und fuhr mit
klarer Stimme fort: »Sag Ali Achmed, dass man mich
in das Englische Krankenhaus gebracht hat.«
Man behielt das Telegramm mit der Nachricht vom
Tode ihrer kleinen Tochter zurück, bis Katrin die
schwersten Fieberanfälle überstanden hatte. Vierzehn
Tage lang durfte man sie nicht besuchen, auch
nachher, der Ansteckung wegen, nur auf eigene
Gefahr. Katrin hatte eine Blutvergiftung, geschwollene
Füsse, ihr linkes Armgelenk entzündete sich, der Arzt
sagte, dass das Gelenk wahrscheinlich steif bleiben
würde.
Als es ihr endlich besser ging, begann sie, Persisch
zu lernen. Ali Achmed las mit ihr Firdusis
»Schahname«, sein Wagen stand den ganzen Tag vor
dem Krankenhaus. Sonst bekam sie wenig Besuch.
Vierzehn Tage sind, während der Saison, eine lange
Zeit, nachher hatte man Katrin Hartmann vergessen.
Nur Gaby Miles erschien manchmal, zusammen mit
Ali Achmed, im Krankenhaus, mit Blumen,
englischen Zigaretten und englischen Romanen. Aber
Katrin war mit ihren persischen Wörterbüchern
beschäftigt.
Einmal, als ich abends neben ihrem Bett sass, fragte
sie mich: »Wirst du eigentlich diesen George
heiraten?«
»Wie kommst du darauf!« sagte ich lachend.
»Dann ist es schon gut«, sagte Kat, »ich hatte
Angst, dass du ihn heiraten würdest, er ist doch ein
besonders netter Junge.«
»Ja«, sagte ich, »er ist nett, er ist mein bester
Freund.«
»Aber er hängt an diesem Land. Ich möchte nicht,
dass du in diesem Land bleibst«, antwortete Kat.
Sie verliess das Krankenhaus nach sechs Wochen.
Während dieser ganzen Zeit hatte sie nie etwas über
ihre Pläne gesagt, nie von ihrer Abreise geredet.
George und ich fuhren, wie gewöhnlich, Donnerstag
abends in die Stadt und liessen Katrin unseren Besuch
anmelden. Ihre Nurse, eine junge Armenierin, kam die
Treppe hinuntergelaufen. Sie lächelte George an. »Die
Baronin ist nicht mehr bei uns«, sagte sie, »sie ist vor
zwei Tagen mit dem Prinzen Karagöl abgereist.«
Ihre Mutter hat also recht gehabt: Katrin ist eine
Abenteurerin. Sie ist nach Persien gekommen, um
über dieses grossartige und merkwürdige Land ein
Buch zu schreiben, und wenn sie sich auf
ungewöhnliche und zuweilen abwegige
Unternehmungen einliess, verzieh man es ihr, denn sie
tat es, um Material für dieses Buch zu sammeln.
Überhaupt verzieh man ihr alles, man war geneigt,
ihren Mut zu bewundern, im Sturm gewann sie die
ganze Hauptstadt. Männer und Frauen, Europäer und
Perser waren geradezu in sie verliebt. Aber sie war
undankbar, wie nur Abenteurer es sein können, und ihr
Buch ist nie erschienen. Später behauptete man, sie
habe überhaupt nie eine Zeile geschrieben, ja, selbst
der Tod ihres Kindes, diese ergreifende Begebenheit,
sei nur erfunden gewesen, wohl aber habe der Verlag
Katrin grosse Summen ausgezahlt, denn wovon hätte
sie sonst den Winter über gelebt, wovon die hohen
Rechnungen des Englischen Krankenhauses bezahlen
können? Dänemark war weit, der dänische Gesandte
war zurückhaltend, wenn das Gespräch auf die
Baronin Hartmann kam. Und Katrin war weggereist,
mit ihrem Liebhaber, den sie dazu verführt hatte, seine
junge Frau zu verlassen. Sie konnte nicht hören, was
über sie gesprochen wurde, sie konnte ihren Freunden
nicht antworten, sich gegen ihre einstigen Freunde
nicht verteidigen. Vielleicht fuhr sie nicht nach
Dänemark zurück, weil sie für ihr Buch noch nicht
genügend Material hatte, vielleicht fürchtete sie sich,
nach Hause zurückzukehren und ihre kleine Tochter
nicht mehr wiederzufinden. Vielleicht hatte sie ein
angefangenes Manuskript im Koffer, das sie dann
eines Abends verbrannte, weil es ihr nicht gut genug
vorkam — oder vielleicht verzweifelte sie einfach.
Denn in den grossen Hochländern werden Leute, die
an ihre traumverwehte Grösse nicht gewöhnt sind,
manchmal von Verzweiflung ergriffen, von einer
namenlosen Trostlosigkeit . . . Ja, vielleicht hätte man
Katrin nicht allein lassen sollen!
George und ich redeten im Lauf des Winters oft von
Katrin, aber sie hatte uns vergessen, nie bekamen wir
eine Nachricht von ihr, nie erinnerte sie sich daran,
dass sie mit uns hatte nach Persepolis fahren und von
der königlichen Terrasse mit uns zusammen in die
ewigen Ebenen hinabschauen wollen.
Sie war monatelang verschollen.
Im März, als der Frühling ausbrach und der
schmelzende Schnee vom Tauschalgebirge die Bäche
füllte, hörte man, dass Katrin mit Ali Achmed im
Süden sei, in den Bergen der Bakhtiari, der
Nomadenstämme, Gast in ihren Zelten aus Ziegenfilz.
Aber Ali Achmed kehrte eines Tages in die Hauptstadt
zurück. Er stellte sich ein bei Gabys Cocktail-Parties,
er ritt wieder seine Polopferde, er hatte einen neuen,
eleganten, hellgrünen Wagen. Von seiner Frau hatte er
sich scheiden lassen, es hiess, er würde in den
diplomatischen Dienst treten und nach Europa gehen.
Niemand fragte ihn nach Katrin. Trotzdem
verbreitete sich das Gerücht, sie sei, schwer krank,
nach Teheran gekommen und wohne im Hause von
Ali Achmeds Mutter. Sie meldete sich bei keinem
ihrer alten Freunde. Niemand hatte sie gesehen. Sie
versteckte sich wie ein krankes Tier — oder aus
Hochmut? Schämte sie sich ihres Liebhabers? Des
jungen, eleganten, dunkelhaarigen Ali Achmeds, der
seine Rolle als Gabys Hausfreund so unbefangen
wieder angetreten hatte? Liebte Katrin ihn so sehr?
»Man soll sie doch um Gottes willen in Ruhe
lassen!« sagte George zu mir.
»Aber sie ist krank«, sagte ich, »wahrscheinlich hat
sie einfach kein Geld mehr. Wahrscheinlich möchte sie
nach Hause.«
»Wahrscheinlich«, sagte George, »aber wie soll
man sich um sie kümmern? Sie will uns ja nicht
sehen. Sie hat uns vergessen.«
Ali Achmed ist seit einigen Monaten in Rom,
man prophezeit ihm eine glänzende Karriere. Durch
den Spassmacher Aghbar haben wir erfahren, dass
Katrin ihr Visum verlängern liess und in die Bakhtiari-
Berge zurückkehren wollte, zu den
Nomadenhäuptlingen, zu den wilden Pferden, zu den
Ziegenfilz-Zelten. Aghbar ist allerdings nicht
zuverlässig, aber ich kann mir denken, dass Katrin
sich an das Leben dort draussen gewöhnt hat. Sie wird
kein Buch über den Klatsch der Hauptstadt schreiben.
Vielleicht wird sie Dänemark, seine fetten Weiden und
Laubwälder nie wiedersehen. Sie ist, trotz allem, eine
grossartige Frau. Aber George meint, man hätte sie
nicht allein lassen dürfen . . .
Vans Verlobung

An unserem Garten führte die Karawanenstrasse


vorbei. Sie überschritt die Furt unten beim Tor und
folgte dann dem kleinen Fluss und unserer langen,
gelben Gartenmauer aus Lehm und gehacktem Stroh.
Während der warmen Jahreszeit und bis tief in den
Herbst hinein waren die Karawanen des Nachts
unterwegs. Sie brachen aus den Khans von Teheran
auf, wenn es dunkel wurde, und eine Stunde später
langten sie bei der Furt an und wandten sich dann
südwärts, auf Veramin zu. Man hörte ihre Glocken von
weither, es gab helle darunter, die nicht viel Eindruck
machten: das waren die kleinen — und es gab dunkle,
dröhnende, die anders klangen als alle anderen
Glocken auf der Welt: das waren die grossen, die an
den Satteltaschen der Kamele, an ihren Flanken
hingen und schwer hin- und herschlugen. Man hörte
sie die ganze Nacht.
Ich schlief im kleinen Haus des Direktors. Es lag
am Ende des Gartens, und seine Aussenmauer war in
die Gartenmauer hineingebaut. Man hörte die Glocken
und das unzufriedene Schreien der Kamele, und die
heiseren Rufe der Treiber, die die Tiere in das Wasser
trieben. Man hörte auch das gelbe Flusswasser
vorbeifliessen, und von drüben, vom Tschaikhane am
anderen Ufer, vernahm man manchmal Gesang. Die
Perser sassen dort auf Teppichen, im Kreis um eine
Laterne, die von einem grossen, weitverzweigten,
fächerförmigen Baum herabhing. Sie hatten vor sich
stehen ein Kohlenbecken, einen grossen Samowar und
grüne Schalen voll saurer Milch. Sie rauchten Tabak
aus langen Holzpfeifen und zähes Opium, welches sie
mit kleinen glühenden Kohlestücken erwärmten und
an geschlossene Pfeifenköpfe aus blauweissem
Porzellan klebten. Durch eine winzige Öffnung des
Pfeifenkopfs sogen sie den süsslichen Opiumrauch.
Dies alles konnte man beobachten, wenn man auf dem
Dach des Hauses lag, auf dem flachen gestampften
Lehm, der nun, wie ein Kachelofen, die während des
Tages angesammelte Wärme angenehm zurückgab.
Man sah die Perser im rötlichen Schein der Laterne
auf ihren Teppichen sitzen, und sah sie den Rauch aus
ihren Pfeifen ziehen und langsam ausstossen. Der
Samowar blitzte, und oben war das Geäst des Baumes
dunkel wie ein Zeltdach unter dem hellgelben
Himmel. Der Himmel schien niemals erlöschen zu
wollen. Von der Stadt her kamen die Karawanen, in
weisse Staubwolken gehüllt, und ihre Glocken
dröhnten.
War man erst vom Dach in den Garten
herabgestiegen, so sah man nichts mehr. Die Mauer
war einerseits zu hoch, doch hätten andererseits auch
die Granatapfelbäume jede Aussicht unmöglich
gemacht. Sie füllten den Garten wie ein Wald; man
ging durch eine lange, schattige Allee zwischen ihren
ordentlichen Reihen zu beiden Seiten bis zum
Expeditionshaus hinunter. Dort wohnten die
Assistenten: George Gordon und Van, der Architekt,
und der Russe mit seinen photographischen
Apparaten. Dort lag auch das Museum mit seinen
Zeichentischen, den Schreibmaschinen, dem
Mikroskop und den langen Brettergestellen, auf denen
man die Fundgegenstände, nach Nummern geordnet,
aufbaute. Von diesen Gestellen hatte der Raum seinen
Namen »Museum« bezogen, obwohl er ein
gewöhnlicher, nüchterner Arbeitsraum war.
Van, mehr als die anderen dort beschäftigt, hatte
seinen Zeichentisch neben der Tür, unter dem grossen
Fenster. Manchmal blieb er den ganzen Tag im
Museum, über einen seiner Pläne gebeugt. Er sang
während der Arbeit, er heulte vielmehr, plötzlich tief
Atem holend, mit unmenschlich lauter Stimme. Ich
glaube, es waren Negerlieder. Er verstummte ebenso
plötzlich wieder. Es kam vor, dass er sich selbst hörte,
dann drehte er sich erschrocken um und sagte:
»Entschuldigt bitte«, aber meistens hörte er sich nicht
und setzte nach einem solchen Ausbruch ein
gemässigtes Summen und Pfeifen fort, bis es ihn
wieder packte.
Er stammte aus Arkansas. New York war für ihn
eine Legende, Arkansas war die Wirklichkeit, war
Amerika, war Jugend und Heimweh-Land. Van redete
von den Negern wie von einer anderen Spezies
Mensch, was ihn nicht hinderte, sie einzubeziehen in
»Arkansas«, ja sogar für sie zu schwärmen. Die Neger
zu lieben war eine Sucht wie Jazz und Whisky: fast
schon ein Laster. Vans Eltern waren keine Katholiken,
sie waren etwas Strenges, Puritanisches —
Presbyterianer oder Methodisten. Van war ihr
wohlgeratener und dankbarer Sohn. Ich denke mir,
dass es in Arkansas viele solche Söhne geben muss,
und auch Töchter. Sie sind fromm, dankbar,
anhänglich. Sie werden eines Tages ihre Kinder so
erziehen, wie sie selbst erzogen wurden, und sie halten
es für richtig. Sie verachten den Nigger und glauben
an viele Tugenden. Sie glauben an die Notwendigkeit
dieser Tugenden.
Aber dieser Nigger, dieser Zeitungsjunge auf der
Strasse, der sie, wenn sie von der Schule nach Hause
gingen, unwiderstehlich anzog, dessen sanfte Wildheit
sie entzückte und mit dem sie Freundschaft schlossen,
um von ihm in geheimnisvolle Lebensbezirke
eingeführt zu werden: Drugstores mit schlechtem
Whisky, Gratisfahren im Omnibus, die Niggerstadt
unten am Fluss — dieser Negerjunge war nachher da
und spielte Mandoline, hackte auf eine Reihe von
Gläsern, blies in Trichter, schlug sich auf den Mund,
geigte hinreissend auf schwingenden Sägen, spielte
Klavier, indem er mit seinen langen, hellen
Fingerspitzen weich die Tasten berührte — und sang.
Er tanzte, den Oberkörper nach hinten gebeugt, den
Kopf mit blassroten Lippen und verzückten Augen
zurückgeworfen — und er sang. Er war Schauspieler
und redete und sang, und er war ein junger Boxer, der
zwischen den Seilen hing, und er war Student und trug
einen hellen Filzhut — und da sang er wieder,
zärtlich-schmerzvoll.
Van war mit Negern befreundet. Er war erwachsen,
seine Eltern gaben ihm Taschengeld und waren der
Meinung, man müsse den jungen Leuten ein bisschen
Freiheit gönnen. Und die jungen Leute zerschlugen
das Mobiliar der Tanzlokale von Arkansas und liessen
sich in den Strassen von der Polizei festnehmen —
hingerissen von einer Kreolenbande, einem
Niggersänger und dem jungen Boxer, den ein weisser
Gegner, ein tierischer Hüne, unter dem tierischen
Beifall der Zuschauer knockout geschlagen und
zwischen die Seile geworfen hatte. Während der
Nigger angezählt wurde, stand sein Manager neben
ihm und neigte sich beschwörend über sein
ohnmächtiges Gesicht. Dann hob er ihn sorgfältig auf
...
Van war kein Trinker. Sein schwacher Magen
hinderte ihn daran. Aber wenn er von Arkansas
erzählte, schien es uns, als habe er sich dort in
ständiger Trunkenheit befunden. Man sah ihn, blass,
mit geröteten Augen und klebrig wirrem Haar, im
Fordwagen auf der Landstrasse, lange, weisse, gerade
Landstrasse von dreissig, vierzig, sechzig Meilen
Länge, Landstrasse, die sinnlos gerade die Landschaft
durchschnitt, ohne Rücksicht auf Hügel und Tal,
Dörfer vergessend und einsame Gehöfte beiseite
lassend — Gespensterlandstrasse des geschichtslosen
Landes, blind, eilend, von einem Punkt zu einem
anderen, und blind, eilend, sie entlangstürmend Van,
dem die Nachtluft die Stirn kühlt.
Er war verlobt mit einem Mädchen in der Stadt
Helena, aber als er eines Nachts von dort zurückfuhr,
packte es ihn: nicht mehr anzuhalten, ihren Namen zu
vergessen, seinen Namen dem Nachtwind
preiszugeben, sich selbst den Stürmen, seine Brust
den Stürmen — und in einem Augenblick fühlte er die
Nichtigkeit von allem, was er getan hatte, von allen
Zukunfts-Plänen, die sich rechtfertigen liessen bei
nüchternem Verstand. Aber was galt ihm der
nüchterne Verstand jetzt?
Van kam nach Persien. Er wurde der Architekt
unserer Expedition. Er vergass die Villen, die er für
die reichen und frommen Leute von Arkansas hätte
bauen sollen, und die Fabriken, Hochhäuser,
Riesenhotels. Er lernte etwas über Moscheen, Bäder
und islamische Wohnhäuser, über Mongolentürme und
Zitadellen. Der trockene Hochebenen-Wind dörrte
seine Haut, und der gelbe Staub der Ruinenhügel
entzündete seine schwachen Augen. Er stand um vier
Uhr auf, fuhr den Lastwagen, machte täglich die
gleichen Niveaumessungen. Er ass wenig, weil er das
Essen nicht vertrug, und er brachte jeden Freitagabend
eine Batterie Wodkaflaschen aus der Stadt. Er war ein
angenehmes Mitglied des Expeditionsstabs, und wir
mochten ihn alle gern.
Er hatte uns ebenfalls gern. Aber das war auch alles:
Persien lag ihm nicht besonders, und die Arbeit auch
nicht, die er zu tun hatte. Er hasste es, um vier Uhr
geweckt zu werden, und sagte, er wisse selber am
besten, wie er seine Sachen einteilen und damit fertig
werden müsse. Natürlich half es ihm nichts, er wurde
doch geweckt und musste sich an die Tageseinteilung
halten. Er gab es bald auf, sich dagegen zu wehren.
(Bl. 7 fehlt)
Ich stelle mir vor, dass Van keine Ausnahme
gemacht hat. Er war ganz der Typ des »Passionné«,
des leidenschaftlichen Liebhabers, der auf etwas hofft
und sich über seine Schwäche hinweghilft, über die
Enttäuschung, die Wirklichkeit. Aber Van kannte
keine Wirklichkeit von Persien. Er hielt sich an etwas
anderes, an ein Traum-Persien, von dem er die Farben
sah, die gewaltigen Gebirgsfalten, die leeren
Flussbetten, die dünne, verwirrende Hochebenen-Luft.
Und das Traum-Persien zehrte ihn langsam aus. Er
war zuletzt wie ein Fieberkranker.
»Weisst du irgend etwas über Persien?« fragte er
mich einmal.
Es war draussen auf der Grabung, wir sassen im
Schatten des Zeltes und hatten das Land bis zum
Demawend und darüber hinweg vor uns ausgebreitet.
»Ich bin ziemlich viel herumgereist«, antwortete
ich.
»Das meine ich nicht«, sagte Van. »Ich meine, ob
du etwas darüber aussagen könntest.«
»Man kann schon. Es ist Leuten, die es nicht
gesehen haben, nicht leicht begreiflich zu machen.
Aber man kann es.«
»Du willst sagen: wie jedes Land. Man kann es
beschreiben?«
»Es hat einen Charakter, einen grossartigen und
öden, den man deutlich machen kann.«
Van dachte nach.
»Persien ist aber doch für jeden etwas anderes. Es
bedeutet jedem etwas.« Er suchte immer lange nach
Worten.
»Magst du es?« fragte ich.
Das Land zwischen der Stadt und dem Bereich
unserer Ruinen war totes Land. Es war gelb von
Staub, nichts konnte gedeihen ausser einem kurzen,
dürren Steppengras. Die Karawanen-Kamele, wenn
man ihnen die Lasten abgenommen hatte, weideten
dort. Sonst gab es nur Friedhöfe und die rauchenden
Türme von Ziegelbrennereien. Über der Stadt und
über den kahlen, scharfkantigen, leuchtenden
Höhenzügen schien noch die Sonne. Sie hatte die
warme Farbe des Abends.
»Es ist schön«, sagte Van. »Natürlich ist es sehr,
sehr schön . . .«
»Aber?«
»Ich weiss nicht . . .«
»Ich weiss, was du meinst.«
Der Vorarbeiter Baba kam aus der Grabung herauf.
»Es ist sechs Uhr«, sagte er, »man sollte läuten.« Van
nickte. Baba läutete die Glocke, die im Zeltgiebel
hing. Sofort tauchten auf den Grabungsstellen die
Köpfe der Arbeiter auf, sie hatten es eilig
wegzukommen. Sie verteilten sich auf dem Feld, die
kleinen, künstlichen Wasseradern entlang, einige
beteten, andere fingen an, sich zu waschen.
»Gehen wir essen«, sagte Van. Wir packten die
Instrumente, die Fundlisten und Pläne zusammen. Van
rief einen Jungen, der die Sachen hinter uns her bis
zum Lastwagen trug und dann mit einem anderen
Jungen zurückging, der den Wagen den Nachmittag
über bewacht hatte. Wir fuhren auf der staubigen
Landstrasse, an den Kamelen und Eselherden und
schläfrigen Treibern vorbei, durch das Dorf, bogen an
der Kreuzung nach rechts ab und fuhren durch das Tor
aus alten Benzinkannen in unseren Hof.
Es läutete gerade zum Nachtessen.
Van bekam eines Nachts das Sandfliegen-Fieber. Es
war anders als Malaria und dauerte nur ein paar Tage,
aber nachher behielt man eine unangenehme
Schwäche zurück wie nach einer schweren Krankheit.
Van war der einzige von uns, der das Fieber bekam. Er
wehrte sich den ganzen folgenden Tag dagegen, aber
dann, gegen Abend, packte es ihn mit Schüttelfrost
und fliegender Hitze, und er ging in sein Zimmer
hinüber und kam nicht zum Essen.
Das Fieber stieg in der Nacht bis 40 Grad, sank am
Tag auf 38 und dauerte im ganzen fünf Tage. Van ass
während dieser Zeit nichts, seine Nase wurde spitz
und die Haut über seinen mageren Backen dünn und
gespannt. Er bekam einen harten Bart, der grau
aussah. Am Abend, bevor das Fieber anfing zu
steigen, fühlte er sich besser und wollte aufstehen. Es
war die Zeit, um die ich ihn zu besuchen pflegte. Er
lag zugedeckt auf seinem Feldbett, die Lampe
beschien sein mageres Gesicht, er sah abgespannt und
friedlich aus. »Ich könnte ein bisschen aufstehen«,
sagte er. »Ich könnte leicht aufstehen und ein bisschen
im Garten umhergehen.«
Er wusste natürlich, dass wir es ihm nicht erlauben
würden.
»Wieviel Fieber hast du?« fragte ich.
»Achtunddreissig«, sagte er. »Das ist gar nichts,
beim Militär würde man mich für einen Simulanten
halten.«
»Warte bis morgen.«
»Ich sollte lieber aufstehen und mir ein bisschen
Bewegung machen.«
Er lag ganz ruhig, und man konnte auf seinem
Gesicht beobachten, wie das Fieber zurückkam.
»Fühlst du dich wirklich besser?« fragte ich.
»Ausgezeichnet«, sagte er. Seine Stimme sank
zusammen, weil das Fieber wieder anfing. Sie wurde
matt, und die Lippen wurden trocken und schmal.
»Ich werde dir Tee holen«, sagte ich. Ich nahm Vans
Taschenlampe und ging über den Hof zur Küche. Der
Diener Hassan sass auf der Schwelle im Dunkeln. Er
wollte aufstehen, als ich kam, und griff nach seinen
Ghives. Seine Füsse waren geschwollen — während
der letzten Tage, die sehr heiss gewesen waren, hatten
sich offene Wunden gebildet. Er konnte beinahe nicht
mehr gehen, und jetzt, nachdem das Nachtessen vorbei
war, hatte er seine Schuhe ausgezogen, um die Füsse
abzukühlen.
»Bleib sitzen!« sagte ich. Ich fand den Samowar,
füllte eine Teekanne mit heissem Wasser und ging
damit über den Hof zurück.
Als ich in Vans Zimmer kam, sass er aufrecht, auf
die Hände gestützt, in seinem Bett. »Sieh dir das
einmal an«, sagte er und machte mit dem Kopf ein
Zeichen zur Lampe hinüber. Wir hatten einen weissen
Schirm über die Lampe gestülpt, um Vans Augen zu
schonen. Jetzt war der ganze Schirm mit Nachtfaltern
bedeckt. Es waren grosse, schwarze Nachtfalter, einige
von ihnen schwirrten innen um das Lampenglas und
machten einen Höllenlärm, aber die meisten hatten
sich auf dem Schirm festgesetzt, sowohl innen wie
aussen, und krochen langsam, doch mit ekelhaft
eilfertigen Bewegungen über die durchsichtige,
hellerleuchtete Fläche.
Van starrte mit schwarzen Fieberaugen auf die
Lampe. »Es tut mir leid«, sagte er, »aber ich halte das
nicht mehr aus. Es ist zu scheusslich.«
Ich nahm die Lampe und stellte sie neben das
Fenster auf den Fussboden. Das Licht würde alle
Falter, die im Zimmer waren, um sich versammeln
und von Vans Bett wegziehen.
Er goss sich hastig Tee ein, langte dann nach einer
Zigarette, zündete sie an, und legte sich auf sein
Kissen zurück. »Es war scheusslich«, sagte er, »sie
kamen aus allen Ecken und schossen in mein Gesicht
und krochen meinen Armen entlang. Ich machte die
Lampe aus, aber es wurde nur noch ärger. Sie schienen
mein Gesicht gern zu haben.«
»Es war wegen der Zigarette«, sagte ich. »Als die
Lampe aus war, sahen sie kein anderes Licht mehr und
versuchten, in die Asche von deiner Zigarette
hineinzufliegen.«
»Es sind lasterhafte Tiere«, sagte Van. »Sie haben
das Licht-Laster, sie können sich absolut nicht
beherrschen.«
Wir hörten die Falter durch das Zimmer schnurren
und sich in den Lichtkreis der Lampe stürzen. Sie
prallten gegen den Schirm und schwirrten zwischen
Schirm und Lampenglas herum. Es waren sicher
fünfzig Falter, und es knisterte und schnurrte und
flatterte wie ein Holzfeuer, und dann wieder, wie wenn
Wind an nasser Wäsche zerrt. Manchmal fiel ein
Falter, von der heissen Luft angezogen, in die Röhre
und verbrannte: das verursachte jedes Mal einen
prasselnden Aufruhr.
»Opfer ihrer unglücklichen Neigungen«, sagte Van.
Er rauchte, den Kopf zurückgelegt, seine Hand zitterte
dabei. Es sah aus, als habe er nicht mehr die Kraft, die
Zigarette zwischen den Fingern zu halten. »Jede Nacht
ist es so«, sagte er, »wenn ich die Lampe ausmache,
stürzen sie sich auf mein Gesicht. Nicht dass ich
Angst vor ihnen hätte — aber sie sind so ekelhaft.
Wenn ich den Kopf drehe, zerdrücke ich sie auf dem
Kissen. Und sie kriechen meinen Fingern und meinen
Armen entlang.« Es schüttelte ihn plötzlich.
»Du solltest das Rauchen aufgeben«, schlug ich vor.
»Wenigstens des Nachts.«
»Aber es wirkt auf mich wie ein Schlafmittel«,
sagte er.
Ich sah, dass die Zigarette ihm aus den Fingern fiel,
ohne dass er es bemerkte. Ich hob sie auf, und dann
sah ich, dass das Leintuch an verschiedenen Stellen
verbrannt war, und dass die Strohmatte auf dem
Fussboden lauter braune Flecken hatte. Er würde eines
Nachts das Haus anzünden . . .
Ich stand auf, ging zum Fenster und blies die
Lampe aus. Es war unangenehm, zu fühlen, wie die
Tiere, durch die plötzliche Dunkelheit aufgestört, sich
erhoben und den Bannkreis der Lampe verliessen. Ich
öffnete das Fenster, die kühle Nachtluft strömte
herein. Als ich mich mit der Taschenlampe in der
Hand noch einmal über Van beugte, schien er zu
schlafen, und ich ging leise aus dem Zimmer.
Als Van wieder gesund war, machte ihm noch lange
Zeit eine Art von Schwäche zu schaffen. Er konnte die
Hitze nicht ertragen und war am Abend bleich wie ein
Leintuch. Er hätte nichts trinken sollen, das wäre
sicher am besten für ihn gewesen, aber es war
unmöglich, ihn davon abzubringen. Er trank, im
Gegenteil, mehr als früher. Man hätte es ihm ausreden
sollen, aber es gab keine Argumente. »Ich werde nicht
so bald wieder krank«, sagte er. »Und für später ist es
mir gleichgültig.«
Natürlich liess sich nichts dagegen machen.
Einmal blieb er den ganzen Tag über fort. Der
Direktor fragte beim Frühstück nach ihm. Wir sagten,
dass er vielleicht draussen auf der Grabung sei. »Er
hat doch heute vormittag keinen Dienst«, sagte der
Direktor. Wir sagten nichts. Van kam auch nicht zum
Mittagessen. Den ganzen Nachmittag wartete ich
draussen auf ihn, ich konnte vom Zelt aus das Feld bis
zur Landstrasse überblicken, aber er kam nicht.
Gordon sagte, dass er nach dem Essen in die Stadt
fahren wolle, um nach Van zu suchen. Aber dann kam
er.
Wir hörten ein Auto vor dem Hoftor anhalten. Wir
sassen noch um den Tisch herum, im Freien. Van kam
über den Hof und durch die Küche, deren Türen offen
standen. Er trug den Hut noch auf dem Kopf. Er ging
auf seinen Platz zu, stützte die Hände auf die
Stuhllehne und sagte: »Ich bitte um Entschuldigung.
Und ich habe euch eine Neuigkeit mitzuteilen, ich bin
verlobt!«
»Sind Sie dessen sicher, Van?« fragte der Direktor.
Van wurde rot. »Ich dachte mir schon, dass Sie
erstaunt sein würden«, sagte er.
»Wann ist es denn passiert?« fragte Gordon. Es war
ein bisschen plötzlich gekommen, Van hätte besser
getan, erst zu essen und bis morgen zu warten. Aber er
tat einem leid.
»Gestern nacht«, sagte er, stotternd.
»Na, ich gratuliere also«, sagte der Direktor. Er
erhob sich und verschwand im Dunkeln.
Hassan kam mit dem aufgewärmten Essen und
stellte die Platte vor Van auf den Tisch. Er begann,
hastig zu essen.
»Ist es wirklich dein Ernst?« fragte Gordon. Ich
hatte den Eindruck, dass es Van ernst damit sei,
wenigstens im Augenblick.
»Welche Nationalität?« fragte ich.
»Sie ist aus Kolumbien«, sagte Van.
»Warum nicht eine Perserin? Was macht ein
Mädchen aus Kolumbien in Persien?«
»Sie hat Verwandte besucht. Sie wollte nach Hause
reisen, aber ich stoppte sie. Ich hielt sie davon ab.«
»Sehr nützliche Tat«, sagte Gordon. »Du bist der
reine Menschenfreund, Van!«
Van ass hastig. »Wir heiraten in vierzehn Tagen«,
sagte er.
Gordon sah zu mir herüber.
»Schön und gut«, sagte ich. »Unsere herzlichsten
Glückwünsche, Van. Aber du hättest uns vorher fragen
können. Man fällt guten Freunden nicht so mit der Tür
ins Haus . . .«
Wir bekamen Vans Braut nie zu sehen. Er fuhr fast
jeden Abend in die Stadt, und der Direktor erlaubte
ihm, den Ford zu benützen. Er versuchte, sich die
Papiere zu beschaffen, die für seine Verheiratung mit
einem Mädchen aus Kolumbien notwendig waren. Sie
war aus Kolumbien gekommen, aber sie war deutsche
Staatsangehörige und hatte die letzten drei Jahre in
Persien zugebracht. Das komplizierte natürlich die
Dinge. Vierzehn Tage vergingen, ohne dass Van sich
verheiraten konnte. Gordon und ich hofften, dass die
Papiere nie eintreffen würden, und dass der persische
Verwaltungsapparat so viele Schwierigkeiten wie
gewöhnlich erfinden würde, um die Angelegenheit
hinauszuzögern. Wir segneten die persischen
Einrichtungen, die dazu gemacht sind, jede Aktivität
zu verunmöglichen. Van fühlte, was wir über seine
Verlobung dachten. Er sprach mit uns fast nie darüber.
Er hielt uns von seiner Braut fern.
Nach etwa drei Wochen fragte er den Direktor, ob er
drei Tage Urlaub bekommen könne, um nach Pehlevi
zu fahren. Seine Braut reise nach Deutschland, und er
wolle sie bis auf das Schiff bringen, das von Pehlevi
nach Baku fährt. Der Direktor erlaubte es ihm.
»Dann ist sie wenigstens weg«, sagte er zu uns
beim Nachtessen.
Gordon stimmte ihm zu. »Wenn sie erst einmal weg
ist«, sagte er. »Van ist da so hineingerutscht.
Wahrscheinlich weiss er, dass er eine Dummheit
gemacht hat, aber er kann es nicht zugeben. Wenn sie
erst einmal weg ist, wird er sich besinnen.«
Ich war am nächsten Vormittag allein im Museum.
Ich schrieb mit schwarzer Tusche Zahlen auf die
Fundgegenstände und drückte die gleiche Zahl mit
einem Stempel auf die ausgefüllten Katalogkarten. Ich
nahm einen Gegenstand in die Hand und verglich ihn
mit der Beschreibung auf der Karte, bevor ich die
Nummer darauf schrieb. Es war eine langweilige
Arbeit. Ich nahm den nächsten Gegenstand in die
Hand, und Van kam durch die Tür herein und stellte
sich neben mich, mit dem Rücken an den Zeichentisch
gelehnt.
»Hallo, Van«, sagte ich. »Ich dachte, ihr rollt schon
nach Pehlevi.«
»Wir fahren heute abend und die Nacht durch«,
sagte er, »es ist weniger heiss.«
Er sah zu, wie ich die Nummer aufmalte.
»Ich wollte dir auf Wiedersehen sagen«, fing er an.
»Ich bin nur hier herausgekommen, um dir auf
Wiedersehen zu sagen.«
»Na«, sagte ich, »in drei Tagen —«
»Ich habe eine Dummheit gemacht.«
»Es wird schon wieder in Ordnung kommen.«
»Ich weiss nicht«, sagte Van. »Sie will absolut, dass
ich sie heirate. Sie will nach Deutschland fahren und
wieder zurückkommen, und ich soll inzwischen hier
alles vorbereiten.«
»Habt ihr das zusammen so ausgemacht?«
»Ja«, sagte er, »wir haben ganz offen darüber
gesprochen. Aber ich möchte nicht, dass sie wieder
zurückkommt.«
Ich legte die Feder weg und zündete mir eine
Zigarette an.
»Es ist schade, dass du es dir nicht früher überlegt
hast«, sagte ich.
»Ich möchte nicht unfair gegen sie sein«, sagte er.
»Ich habe mich an jenem Abend schrecklich in sie
verliebt!«
»Das ist doch wahrhaftig kein Grund, sie zu
heiraten.«
»Sie wollte es so gern. Und nun möchte ich mich
anständig gegen sie benehmen.«
»Glaubst du, dass du es irgendwie einrichten
kannst?«
»Wenn sie erst einmal in Deutschland ist; aber dann
sehe ich sie nicht mehr.«
»Sei froh, wenn du es irgendwie einrichten kannst«,
sagte ich. »Ich an deiner Stelle wäre froh, dass sie
wegfährt.«
Van stand auf. »Ich weiss schon«, sagte er, »aber ich
liebe sie vielleicht. Es wäre schrecklich, wenn ich sie
wirklich liebte. Es ist keine angenehme Situation.«
Es war an einem Mittwoch. Am Freitag, unserem
Feiertag, konnte Van von Pehlevi zurück sein. Gordon
und ich waren in der Stadt zum Abendessen
eingeladen. Wir assen ziemlich spät, und gingen gegen
elf Uhr noch ins »Astoria«, wo man während der
heissen Zeit im Freien sass. Man hatte rings um das
Wasserbecken Teppiche ausgebreitet und Tische
darauf gestellt, und die Kapelle spielte im Hintergrund
des Gartens, in einer Laube aus hellgrünen Reben.
Wir blieben bis ein Uhr und waren von unserer
Gesellschaft die ersten, die aufbrachen.
»Ich möchte wissen, ob dieser Van schon zu Hause
ist«, sagte Gordon. »Es würde mich wundern —«
Wir fuhren durch die breite, lange Strasse, die vom
grossen Platz in einem Bogen um den Bazar herum
zum Kasvin-Tor führt. Am Rand der Strasse, neben
dem Kanal mit seinem trüben, schmutzigen, langsam
fliessenden Wasser, wuchsen kleine Bäume, die jetzt
ganz mit Staub überzogen waren.
»Ich glaube, da ist er«, sagte ich.
An einem der Bäume lehnte ein Mann, einen
europäischen Hut auf dem Kopf, und versuchte, durch
die Finger zu pfeifen. Er lehnte mit einer Schulter am
Baumstamm, steckte zwei Finger in den Mund und
pfiff den Mond an. Der Mond stand im ersten Viertel
und war klein und unbedeutend.
»Ja, wahrhaftig, das ist Van«, sagte Gordon. Er fuhr
an den Strassenrand und hielt.
Van schickte gerade einen langen, wohlgeratenen
Pfiff zum Mondviertel empor. Wir riefen ihn an. Er
löste sich vom Baum und kam langsam auf den
Wagen zu. »Hallo, boys«, sagte er, ohne uns zu
erkennen. Er war offenbar betrunken.
»Einer von uns ist aber eine Dame«, sagte Gordon.
»Noch besser«, sagte Van gutmütig. »Ich habe
soeben meine Dame verabschiedet. Ich habe sie ins
Kaspische Meer versenkt.« Er schwieg, neigte den
Kopf zur Seite und sah wieder den kleinen Mond an.
Ich rief: »Van!« und er wandte sich um und nahm
umständlich den Hut ab. »Van«, sagte ich, »fein, dass
du wieder hier bist. Du brauchst dir wegen der
Kaspisee keine Gedanken zu machen. Die Dame
kommt sicher bis nach Deutschland.«
Gordon langte nach dem Wagenschlag.
»Einsteigen!« sagte er.
Van gehorchte. Es fiel ihm schwer. »Hört«, begann
er, »ich habe mich wie ein Schwein benommen. Ich
habe sie einfach abgeschoben, über die Kaspisee.«
Gordon fuhr schon. Er sagte zu mir: »Ein Glück,
dass wir ihn aufgelesen haben. Hoffentlich macht es
dir nichts aus.«
»Nein«, sagte ich.
Als wir uns nach Van umwandten, lag er hinten im
Polster und schlief.
Auf der Heimreise . . .

Claude und ich sassen mit dem Hauptmann auf der


Terrasse des Hotels Saint-Georges und assen zu
Abend. Der Hauptmann hatte seinen Sommer-Urlaub
in Zypern zugebracht, irgendwo im Innern der Insel,
bei einem Freund, der sich um die Antiquitäten von
Zypern kümmerte. Claude und ich waren zufällig nach
Beirut gekommen. Wir waren seit vierzehn Tagen
unterwegs, erst Persien, Urmia-See, Kurdistan, dann
ein Stück irakische Wüste, und ein grösseres Stück
syrische Wüste. Schliesslich hatten wir genug von der
Wüste und fuhren nach Beirut, um uns ein paar Tage
Ruhe zu gönnen. Es war Ende September, und Beirut
war wie ein Dampfbad. Der erträglichste Aufenthalt
war das Hotel Saint-Georges, weil es neu war und eine
kühle Halle und eine verdunkelte, kühle Bar hatte, und
weil man den ganzen Tag im Wasser liegen konnte.
Die Luft war so feucht, dass die Kleider im Schrank
sich feucht anfühlten und die Schuhe dunkle Flecken
bekamen. Und die ganze Zeit fühlte man sich wie ein
Schwamm. Am Abend wurde es dann ein wenig
kühler. Man ass auf der Terrasse, die wie ein
Schiffsdeck über dem Meer hing, sah auf das dunkle,
leicht bewegte Wasser hinaus und spürte den
Nachtwind. Die Kellner trugen weisse Jacken und
servierten alle Getränke in Eis. Jeder Tisch hatte
seinen Eiskübel, den eine deutsche Schaumwein-
Fabrik gestiftet hatte und dessen versilberte
Oberfläche sich von der Kälte beschlug und mit
Feuchtigkeitsperlen bedeckte. Die Türen zum
Speisesaal standen offen. Der Speisesaal war leer bis
auf die Kapelle, die dort spielte.
»Ein zivilisierter Ort«, sagte der Hauptmann. »Man
könnte ebensogut in Juan-les-Pins sein. — Wenn es
bloss nicht so heiss wäre!«
»Wie war es in Zypern?« fragte Claude.
»Ein bisschen heiss«, sagte der Hauptmann, »sonst
ganz hübsch, primitiv und idyllisch.«
»Wein und Liebe?«
»Viel Wein ohne Liebe.«
»Na«, sagte ich, »bei uns war es genauso: ein
bisschen zu heiss. Das ist die Eigenheit eines
Sommer-Urlaubs im Orient.«
Der Hauptmann erhob sein Glas und sagte: »Nichts
gegen die Eigenheiten des Orients.«
Er war seit sechs Jahren Militärattaché in
orientalischen Ländern und war während dieser
ganzen Zeit nie nach Europa gefahren. Er hatte im
ersten Jahr in Kabul seine Frau verloren, die er erst
kurz vor seiner Abreise geheiratet hatte. Damals hatte
man ihn auf seinen Wunsch versetzt, zuerst nach
Bagdad, zwei Jahre später nach Persien. In Persien
hatte er angefangen, Windhunde zu züchten. Das
Reiten hatte er nach dem Krieg aufgeben müssen,
wegen eines Trachoms, welches er im letzten
Kriegsjahr in der Türkei davongetragen hatte. Diese
Augenkrankheit war gewöhnlich die Folge von
Unterernährung und war in vielen Teilen des Orients
verbreitet.
»Früher verging kein Tag, ohne dass ich mich auf
einen Sattel gesetzt hätte«, sagte der Hauptmann, »ich
hatte kein Geld, um eigene Pferde zu kaufen, aber ich
trainierte die Pferde von irgendwelchen Grafen, die
ihre Ställe draussen in St-Cloud hatten. Morgens um
drei Uhr ging ich hinaus und galoppierte den ersten
Gaul ab, bevor die Sonne aufging.«
Er hatte Vorkriegs- und Nachkriegserinnerungen.
Die Nachkriegserinnerungen begannen erst nach dem
Tode seiner Frau. Sie waren so, als ob das Frankreich
von damals gar nicht mehr existierte. Nicht nur die
Namen der reichen Rennstallbesitzer hatten
gewechselt, sondern auch St-Cloud und die glatte,
trockene Grasbahn und nach dem Reiten die Fahrt
durch die frisch besprengten Strassen von Paris waren
anders. Es gab keinen frühen Morgen von St-Cloud
mehr.
»Wissen Sie«, sagte er zu Claude, »man sollte sich
Europa überhaupt aus dem Kopf schlagen. Dieses alte,
traute, von Sentimentalitäten lebende Europa!«
»Ich mag einige seiner Sentimentalitäten gern«,
sagte ich.
Der Hauptmann: »Aber man kann nicht davon
leben. In Europa weigert man sich, der Wirklichkeit
ins Gesicht zu sehen. All diese halb- und ganz
konservativen Politiker möchten, dass Europa von
ihren edlen Gefühlen lebt, von ihrer Pietät gegenüber
der Vergangenheit, und von ihrem Glauben, dass
Besitz, Klassenvorrechte und Erziehungsprivilegien
ewig und unveränderlich seien.«
»Nein«, sagte Claude, »sie haben nur Angst vor
einer Veränderung. Sie wissen, dass grosse
Veränderungen Unordnung, Unglück und Elend mit
sich bringen, und sie wollen die Verantwortung dafür
nicht tragen.«
»Diese guten, wohlmeinenden Vogel Strausse«,
sagte der Hauptmann.
»Heisst es nicht Vögel Strauss?« fragte ich.
»Galgenvögel«, sagte der Hauptmann.
»Kommen Sie«, sagte Claude, »trinken Sie noch
ein Glas Weisswein. Finden Sie auch, dass dieses
Palasthotel seine Annehmlichkeiten europäischer
Sentimentalität verdankt? Wie waren die
Weinschenken in Zypern?«
»Es gibt die Sentimentalität, und es gibt den
Geschäftssinn«, sagte der Hauptmann. »Dieses Hotel
ist ein Werk des levantinischen Geschäftssinns. Es
kommt denen zugute, die es bezahlen können, und es
wird so lange existieren wie seine Gäste.«
»Aber wie war es mit den Weinschenken in
Zypern?« fragte Claude.
»Es gab zypriotischen Wein und griechischen Wein.
Es gab Wein mit Wasser und Süsswein und starken
Wein, der den stärksten Trinker besiegte. Die Bauern
waren mässige Trinker, die Fischer waren besser.
Diese Schenken waren vorzüglich, und sie waren, im
Gegensatz zum Palasthotel Saint-Georges, sozusagen
ewige Einrichtungen. Mein Freund versicherte mir,
dass man in der Bronzezeit den Wein in den gleichen
Krügen gemischt habe wie heute. Und dann waren da
noch die ewigen Öllampen.«
»Lauter orientalische Sentimentalität«, sagte
Claude.
»Ein banales, weitverbreitetes Missverständnis«,
sagte der Hauptmann. »Der Orient ist frei von
Gefühlen. Man kann hier lieben und trinken ohne
Gefühl. Man kann hier, unbelastet von Gefühlen
gegenüber der Vergangenheit, der Zukunft
entgegenleben.«
»Sind Sie der Meinung«, fragte ich, »dass dem
Orient die Zukunft gehört?« — Man kann in unserer
Zeit nicht von der Zukunft reden, ohne dass sich ein
beklemmendes Schweigen einstellt. — »Leben Sie
wirklich gern hier draussen?« fragte ich.
»Warum nicht?«
»Sind Sie wirklich aufrichtig, wenn Sie das sagen?«
»Sei nicht taktlos«, sagte Claude.
»Lasst uns den schönen Abend geniessen«, sagte
ich, »wir wollen auf irgend etwas trinken.«
Der Kellner, der gerade vorbeikam, hielt an und
nahm die Flasche aus dem Eiskübel. Er befühlte sie
und wickelte seine Serviette darum.
»Giessen Sie nicht ganz voll«, sagte Claude zu ihm,
»füllen Sie mit Mineralwasser auf.« Und zu uns: »Es
ist euch doch recht so? Auf was trinken wir?«
»Auf eine glückliche Rückreise nach Persien.«
»Auf dass es ein bisschen weniger heiss sei!«
Es war schon spät. Die Kapelle spielte jetzt auf der
Seitenterrasse, wo getanzt wurde. Die Tische in
unserer Nähe waren leer, die Kellner fingen an, die
Horsd’œuvre-Schüsseln wegzutragen.
»Wollen Sie tanzen?« fragte mich der Hauptmann.
»Danke«, sagte ich, »wir wollen es wenn irgend
möglich vermeiden.«
In diesem Augenblick kam der Major mit seiner
Familie durch das dunkle Restaurant auf die Terrasse
heraus. Er blieb stehen, sah die leeren Tische an und
sah dann zu uns herüber. Claude grüsste. Der
Hauptmann erhob sich.
»Das ist Lesconte«, sagte er, »ich denke, ich gehe
besser einen Augenblick zu ihm hinüber.«
Major Lesconte hatte sich mit seiner Frau an einen
Tisch gesetzt. An einem anderen Tisch, so weit von
den Eltern entfernt, dass sie nicht mit ihnen sprechen
konnten, sassen die beiden kleinen Jungen mit ihrer
Bonne. Die Jungen sahen blass aus, wie Kinder, die
einen Sommer in einem heissen Land zugebracht
haben.
»Ich hätte ihn lieber nicht hier getroffen«, sagte
Claude.
»Was ist mit ihm?«
»Oh, nichts Besonderes. Aber er hat viel Pech
gehabt, und man konnte nichts für ihn tun. Er kam mit
der Militärmission nach Teheran. Der Hauptmann
sagte damals gleich, dass er nicht der richtige Mann
sei . . .«
»Es ist schwer, der richtige Mann für hier draussen
zu sein«, sagte ich.
»Es gibt schon Leute«, sagte Claude. »Aber
Lesconte war nicht der richtige.«
Ich sah zu dem anderen Tisch hinüber. Der
Hauptmann unterhielt sich mit Lesconte. Die Frau las
die Karte und gab sie dem wartenden Kellner zurück,
wobei sie etwas zu ihrem Mann sagte. Lesconte hob
den grauen Kopf und winkte dann mit der Hand ab.
Ein zweiter Kellner brachte einen Eiskübel mit zwei
Flaschen darin, die er am Hals hielt und drehte, um sie
richtig in das Eis hineinzustossen.
Der Major hörte dem Hauptmann zu, und sah
manchmal zerstreut auf das Meer hinaus.
»Es ging, wie es hier immer geht«, sagte Claude.
»Sie empfingen ihn wie einen Propheten, er bekam
eine persönliche Audienz und Vollmachten, so viele er
haben wollte. Nachher nahmen sie nicht einen
einzigen seiner Vorschläge an, und machten ihn für
alles verantwortlich, was passierte.«
»Konnte man ihn nicht schützen?«
»Nein«, sagte Claude, »die Offiziere der Mission
haben individuelle Kontrakte. Sie werden nicht von
ihrem Land geschickt, sondern melden sich
freiwillig.«
»Was er sich wohl davon versprochen hat?«
»Sie werden gut bezahlt.«
»Was hat er jetzt davon . . .«
»Ja«, sagte Claude, »sie haben ihn dazu gebracht,
seine Demission einzureichen, und haben ihn einfach
nach Hause geschickt. Und überdies hat er eines seiner
Kinder verloren.«
Drüben brach die Musik ab. Man hörte die Leute
schwatzend und lachend durch die Bar in die
Hotelhalle gehen. Die Terrasse blieb leer zurück, die
Lichter wurden ausgemacht.
»Ist der Hauptmann richtig für hier draussen?«
fragte ich.
»Was weiss ich«, sagte Claude, »er glaubt es
jedenfalls.«
»Er macht sich nicht viel Illusionen darüber.«
»Das ist es eben. Der Major hatte eine Menge
Illusionen. Er kam aus einer langweiligen, kleinen
Provinzgarnison und war dort grau geworden vor
Langeweile. Nun glaubte er, er könne etwas
nachholen. Er glaubte, es sei seine grosse Chance, und
kam mit den Ideen eines europäischen Offiziers und
mit einem Haufen Energie, Tatkraft, gutem Willen —
wie du es nennen willst.«
»War hier natürlich alles ganz unbrauchbar.«
»Natürlich«, sagte Claude, »aber er wollte es nicht
einsehen. Bis zuletzt. Ich glaube, er sieht es immer
noch nicht ein.«
»Scheusslich für ihn«, sagte ich. »Aber jetzt kann er
wenigstens nach Hause fahren.«
»Trotzdem scheusslich. Er hat ein Kind eingebüsst.
Und sicher hat er Geld zugesetzt.«
»Haben sie ihn schlecht behandelt?«
»Und ob«, sagte Claude. »Einfach niederträchtig.
Und Militärs sind doch so empfindlich!«
»Es kehrt sich eben alles um«, sagte ich.
»Wie meinst du das?«
»Wir haben so lange die Orientalen gedemütigt.
Jetzt machen sie es ebenso mit unseren Leuten.«
»Ja, jetzt können sie sich’s leisten.«
»Man muss sich richtig dazu einstellen. Dir und mir
zum Beispiel können sie nichts tun.«
»Bist du sicher?«
»Schau dir doch die beiden an!« sagte ich. »Der
Hauptmann leidet wegen Europa, und der Major
wegen Asien. Fühlst du dich nicht jung, wenn du sie
ansiehst?«
»Jung und glücklich«, sagte Claude.
Drüben erhob sich der Hauptmann. Madame
Lesconte reichte ihm die Hand über den Tisch hinweg,
und er kam zu uns zurück.
»Haben Sie ihm ein bisschen Mut zugesprochen?«
fragte Claude.
»So ein armer Kerl«, sagte der Hauptmann.
»Freut er sich nicht auf die Heimreise?«
»Auf eine solche Heimreise?«
»Ich meine, wegen der Kinder. Und dann, weil er
doch gründlich genug haben muss . . .«
»Wissen Sie«, sagte der Hauptmann, »sein Kind
starb an Typhus, gerade als er in Ungnade fiel. Es war
sein Lieblingskind, ein kleines Mädchen. Und zum
Begräbnis kam kein einziger von seinen Kameraden.
Sie trauten sich alle nicht. Also gingen wir ganz allein
hinter dem winzigen Sarg her, der Major, der ältere
von den beiden Buben und ich. Es war eine teuflische
Hitze.«
Wir sassen eine Weile schweigend.
»Wollen wir die Sitzung aufheben?« fragte ich.
Wir gingen am Tisch des Majors vorbei, und
Claude blieb einen Augenblick stehen und wünschte
ihm eine glückliche Heimreise. Ich sah, dass der
Major wieder, an Claude vorüber, zerstreut auf das
Meer hinaussah. In der Halle trennte sich der
Hauptmann von uns.
»Ich glaube, was ich brauche, ist ein eisgekühlter
Whisky Soda«, sagte er.
Wir sahen ihn in die Bar hinübergehen.
»Wir könnten noch ein paar Schritte den Strand
entlang machen«, sagte Claude.
Wir gingen hinaus. Das Araberkaffee unter freiem
Himmel war noch erleuchtet. Wir gingen bis zum
Ende des Strands und wieder zurück, und setzten uns
im Kaffee an einen Tisch an der Balustrade, so dass
wir auf das Wasser hinuntersehen konnten, welches
schwarz gegen die Felsen anlief und sie dann mit
weichem, weissem Schaum bespülte.
Wir tranken türkischen Kaffee und ruhten uns aus.
Ein paar Tische weiter sass ein Junge im Fez, ein
Mädchen lehnte an seiner Schulter.
»Fühlst du dich jung und glücklich?« fragte mich
Claude.
»Und du?«
»Ich denke, ja —«
»Ich weiss nicht«, sagte ich. »Wir sollten nicht zu
lang in diesem Erdteil bleiben!«

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