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Transzendenzmaschinen: Der Transhumanismus und seine
(technisch-)religiösen Quellen
Mark Coeckelbergh
1. Einleitung
Über den Transhumanismus, eine technologische und intellektuelle Bewegung, deren Ziel die Weiterentwicklung der Menschen und der
menschlichen Existenz durch Verwendung fortschrittlicher Technologien
ist, wird zurzeit regelmäßig im Kontext der Versprechungen und Gefahren neu aufkommender Technologien1 diskutiert. Der Begriff „Transhumanismus“ schließt zahlreiche unterschiedliche Ausrichtungen und
Ansätze ein, angefangen beispielweise bei solchen, die sich an die Naturwissenschaften anlehnen, bis hin zu denen, die von der europäischen Philosophie inspiriert sind.2 Einige Transhumanisten setzen sich auch mit
der Beziehung zwischen Transhumanismus und Religion auseinander.
Während sich einige Autoren um Distanz zur Religion bemühen, erkennen andere, wie Hughes, die Kompatibilität religiöser und transhumanistischer Auffassungen an und verbinden den Transhumanismus mit älteren kulturellen Bestrebungen zur Transformation der menschlichen
Existenz.3
Diese Abhandlung befasst sich nicht unmittelbar und nicht hauptsächlich mit der Frage „Ist Transhumanismus religiös?“, sondern will
vielmehr untersuchen, inwieweit der Transhumanismus in Beziehung zu
anderen oder ähnlichen Vorstellungen in unserer von religiösen Anschauungen geprägten Kultur steht. Letztlich ist es als Technikphilosoph mein
1
Meine Definition basiert auf https://en.wikipedia.org/wiki/Transhumanism, allerdings verkürzt und geringfügig angepasst, um die „technologische“ Bewegung einzubeziehen.
2 Z. B. S. Sorgner, Nietzsche, the Overhuman, and Transhumanism, in: Journal of Evolution & Technology 20 (2009) 29 – 42, der sich an Nietzsche anlehnt.
3
J. J. Hughes, The Compatibility of Religious and Transhumanist Views of Metaphysics, Suffering, Virtue and Transcendence in an Enhanced Future, in: Global Spiral 8
(2007), ieet.org/archive/20070326 -Hughes-ASU-H+Religion.pdf; J. J. Hughes, The
Politics of Transhumanism and the Techno-Millenial Imagination, 1626 –2030, in: Zygon: Journal of Religion & Science 47 (2012) 757–776.
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Mark Coeckelbergh
Ziel, die Technologie besser zu verstehen. Ich habe zu diesem Zweck
schon früher an dem Thema „Technologie und Spiritualität“ gearbeitet4
und setze meine Untersuchungen hier fort. Zuerst umreiße ich in kurzer
Form die Diskussion über Technologie und Religion. Dann gehe ich auf
die Bedeutung der Transzendenz und Immanenz für die Technologie ein.
Im Mittelpunkt meiner Betrachtungen stehen die transhumanistischen
Vorstellungen von Technologie – insbesondere die Vorstellung des Uploading – und die Vorstellung des Cyborgs. Da der Transhumanismus
nicht nur eine intellektuelle Bewegung ist, sondern auch die Entwicklung
neuer Technologien beeinflusst, wie zum Beispiel im Silicon Valley, ist es
wichtig, darüber zu sprechen, wenn wir die zeitgenössische Technologie
und ihr Verhältnis zur Religion verstehen wollen.
2. Technologie und Religion: Ein komplexes Verhältnis
Die Diskussion über Technologie und Religion ist ein heikles Thema und
man bewegt sich dort wie auf einem Minenfeld. Einige Philosophen nehmen eine starke Spannung zwischen Wissenschaft und Religion wahr
oder tragen selbst dazu bei. Dennett zum Beispiel versucht, Religion
und Wissenschaft auseinanderzuhalten.5 In Anlehnung an Max Webers
Behauptung über die Entzauberung der Welt6 wird meist davon ausgegangen, dass in der Neuzeit ein Wandel von einem religiösen zu einem
wissenschaftlichen Verständnis der Welt stattgefunden hat. Es ist jedoch
äußerst fragwürdig, ob dieses Verständnis der Neuzeit, einschließlich der
modernen Technologie, angebracht ist. Zum Verständnis von zeitgenössischer Technologie und Bewegungen wie dem Transhumanismus trägt es
sicherlich nicht ausreichend bei.
Als erstes wurde und muss die Säkularisierungsthese in Frage gestellt
werden. Szerszynski zufolge fand die Säkularisierung nie statt. Er schrieb,
dass das moderne Säkulare, einschließlich Wissenschaft und Technologie,
4
M. Coeckelbergh, The Spirit in the Network. Models for Spirituality in a Technological Culture, in: Zygon: Journal of Religion & Science 45 (2010) 957– 978; M. Coeckelbergh, Pervasion of What? Techno-Human Ecologies and their Ubiquitous Spirits, in:
AI & Society 28 (2013) 55– 63.
5
D. C. Dennett, Breaking the Spell. Religion as a Natural Phenomenon, New York
2006.
6 M. Weber, Science as Vocation, From Max Weber: Essays in Sociology. Hrsg. und
Übers. H. H. Gerth und C. Wright Mills, New York 1946, 129 –156.
Transzendenzmaschinen: Der Transhumanismus und seine (technisch-)religiösen Quellen 83
ein unverkennbares Produkt der Religionsgeschichte des Westens ist.7 In
der Neuzeit gibt es offenbar noch Raum für religiöse Erfahrung und für
Magie und Spiritualität, also keine (völlige) Entzauberung der Welt. Tatsächlich gibt es unterschiedliche Arten von Verzauberung und Wiederverzauberung in der Technologie und aufgrund der Technologie. Unsere Nutzung von Informationstechnologien wie dem Internet8 und von androiden
Robotern9 und unser Austausch darüber hat immer noch etwas Magisches. Erst kürzlich habe ich dargelegt, dass unsere Verwendung von zeitgenössischer Informationstechnologie immer noch sehr romantisch ist,
einschließlich der romantischen Sehnsucht nach Magie und Spiritualität.10
In der romantischen Wissenschaft und Literatur des 19. Jahrhunderts entdecken wir ein ausgeprägtes Interesse vom Überschreiten der Grenze vom
Tod zum Leben, von toter Materie zum lebendigen Geist. Die Romantiker
strebten ebenfalls oft nach Transzendenz.
Wenn es demnach keine (völlige) Säkularisierung gibt, dann müssen
wir Technologie als untrennbar mit Religion und Spiritualität verbunden
verstehen. Dieser Zusammenhang ist somit wesentlich komplexer als Autoren wie Dennett nahelegen und in Bezug auf den Transhumanismus
und seine Verknüpfungen mit den monotheistischen Religionen kann er
daher durchaus gedanklich wie folgt gefasst werden:
Technologie und Visionen über Technologie wie der Transhumanismus haben mit dem zu tun, was Tillich „äußerstes Anliegen“ (ultimate
concern) nannte: die direkte Beschäftigung der Technologie mit Themen
wie Endlichkeit und Tod, und in diesem Sinne ist Hefner recht zu geben,
wenn er sagt, dass die Technologie „beinahe explizit religiös wird“.11
Und vielleicht wird die Technologie dadurch zu dem, was sie schon immer war, da sie immer mit der menschlichen Kultur in all ihren Facetten,
einschließlich spiritueller, religiöser und (anderer) äußerster Anliegen,
verflochten war. Daher ist es nicht verwunderlich, dass der Transhumanismus sich mit der (Un)Sterblichkeit befasst.
7
B. Szerszynski, Rethinking the Secular. Science Technology and Religion Today, in:
Zygon: Journal of Religion and Science 40 (2005) 813 – 822, 814. Und Hefner zufolge
ist es sogar Teil der Naturgeschichte, der Entstehung des Universums.
8
W. A. Stahl, Venerating the Black Box: Magic in Media Discourse on Technology, in:
Science, Technology, & Human Values 20 (1995) 234 –258.
9
L. Bailey, The Enchantments of Technology, Chicago 2005.
10
M. Coeckelbergh, New Romantic Cyborgs. Romanticism, Information Technology,
and the End of the Machine, Cambridge, Mass. 2017.
11 P. Hefner, Technology and Human Becoming, in: Zygon: Journal of Religion and
Science 37 (2002) 655 – 665, 659.
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Mark Coeckelbergh
Darüber hinaus hat es den Anschein, als würde die Technologie hinsichtlich dieser äußersten Anliegen etwas versprechen, was auch mehrere
Religionen tun: Transzendenz. Noble behauptet, der Grund, warum unsere Kultur eine solche Obsession für die Technologie entwickelt hat,
liegt darin, dass die Technologie die Transzendenz der Sterblichkeit verspreche.12 Insbesondere der Transhumanismus befasst sich häufig mit der
Sterblichkeit, das heißt mit dem Versuch, mit technologischen Mitteln
Unsterblichkeit zu erlangen. Mind-Uploading – ein hypothetischer Prozess, bei dem mentale Inhalte auf ein externes Medium übertragen
werden – ist der Versuch, uns von körperlichen Einschränkungen zu befreien und kann als eine Art von Transzendenz verstanden werden (siehe
auch weiter unten). Aber auch unsere Flucht in virtuelle Welten ist wohl
eine Art von Transzendenz, genauso wie der Versuch, Maschinen (Roboter, Sprecheinrichtungen) „lebendig“ werden zu lassen, als ein von Transzendenz inspiriertes Projekt betrachtet werden kann, da die Maschine
dazu gebracht werden soll, bestimmte Anliegen zu übermitteln.
Allem Anschein nach übernehmen Transhumanisten auch eine Denkweise, die man nicht selten in (den monotheistischen) Religionen findet:
das apokalyptische Denken. Die Vorstellung zum Beispiel, dass wir uns
auf eine sogenannte Singularität zubewegen, steht offensichtlich ganz und
gar in dieser Tradition. Kurzweil behauptet, dass wir als Folge der Beschleunigung der Informationstechnologie irgendwann (die Singularität)
den biologischen Zustand überschreiten und Cyborgs werden und/oder
uns selbst hochladen und in einer ewigen virtuellen Welt leben werden.13
3. Transzendenz und Technologie: Transhumanistisches Mind-Uploading
Bisher habe ich das Wort „Transzendenz“ verwendet, ohne es zu definieren. Was bedeutet es? Allgemein gesprochen beinhaltet „Transzendenz“
die Vorstellung, über Grenzen zu gehen. Das kann bedeuten, die Grenzen
der Erfahrung, des Verständnisses, der materiellen Welt, der physischen
Welt, der menschlichen Welt und des Menschen selbst zu überschreiten
usw. Es ist daher wichtig zu definieren, wer oder was transzendiert wird.
12
D. F. Noble, The Religion of Technology. The Divinity of Man and the Spirit of Invention (A Borzoi book), New York 1997.
13 R. Kurzweil, The Singularity is Near. When Humans Transcend Biology, New York
2005.
Transzendenzmaschinen: Der Transhumanismus und seine (technisch-)religiösen Quellen 85
In den monotheistischen Religionen wird Gott als ein die menschliche
und physische Welt überschreitender Gott aufgefasst. Anstatt die Welt
zu durchdringen (Immanenz), sieht man ihn jenseits davon. Während
Transzendenz und Immanenz sich nicht zwangsläufig gegenseitig ausschließen (der katholische Glaube bejaht z. B. sowohl die Transzendenz
als auch die Immanenz von Gott), werden sie oft als Gegensätze aufgefasst.
Auf dem Gebiet der Technologie ist eindeutig erkennbar, wie die
transhumanistische Vorstellung des Hochladens – in Schriften wie denen
von Kurzweil und auf dem Gebiet der Science-Fiction, beispielsweise in
dem Film Transcendence – mit dem Konzept der Transzendenz verknüpft
ist. Menschen beabsichtigen mit dem Mind-Uploading die Grenzen der
physisch-materiellen Welt zu überschreiten, und in die digitale Welt
oder Informationswelt vorzudringen. Man könnte es auch als Überschreiten der Grenzen der biologischen Existenz oder der Grenzen der
Sterblichkeit umdeuten. In seinem in englischer Sprache erschienenen
Buch „The Singularity is near“ fasst Kurzweil zusammen – man beachte,
dass er explizit die Bezeichnung „transzendieren“ verwendet –,
„dass die Singularität ein Zeitalter ist, in dem unsere Intelligenz zunehmend
nicht biologisch sein wird und trillionenfach leistungsfähiger als heute. Sie
stelle den Anbruch einer neuen Zivilisation dar, die uns ermöglichen wird,
unsere biologischen Einschränkungen zu transzendieren und unsere Kreativität zu steigern. In dieser neuen Welt würde es keinen klaren Unterschied zwischen Mensch und Maschine, zwischen realer Wirklichkeit und virtueller
Wirklichkeit geben. Wir würden imstande sein, verschiedene Körper und
nach Belieben eine Reihe von Charakteren zu übernehmen. Praktisch gesehen
würden sich Altern und Krankheit ins Gegenteil verkehren; es würde keine
Umweltverschmutzung mehr geben; das Problem des Hungers und der Armut auf der Welt wäre gelöst. Die Nanotechnologie würde eine Erzeugung
nahezu aller physischen Produkte unter Verwendung kostengünstiger Informationsprozesse ermöglichen und letztlich jeden Tod in ein lösbares Problem
verwandeln.“14
Die Ambition ist demzufolge nichts weniger als die Erreichung von
Unsterblichkeit. Diese Art von Transzendenz mag sich von (anderen) religiösen Ideen hinsichtlich der Mittel (Technologie) und der präzisen Definition unterscheiden, das allgemeine Ziel von Transzendenz und Unsterblichkeit hingegen ist ein sehr ähnliches, wenn nicht dasselbe. Die
14 R. Kurzweil, The Singularity is Near (s. Anm. 13), Buchzusammenfassung über
seine Zielsetzung auf dem Buchumschlag, kursiv von Coeckelbergh.
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Mark Coeckelbergh
transhumanistische Vision strebt hier unmittelbar nach Transzendenz.
Mind-Uploading ist folglich eine Methode, einen transzendenten Zustand zu erlangen. In ähnlicher Weise können das Internet und die virtuelle Realität Mittel sein, Unsterblichkeit zu erlangen. In den 1990ern entdeckte man beispielsweise mit dem Internet eine neue riesige Plattform
(Cyberspace), durch die man, wie wir wissen, die Grenzen der Welt überschreiten kann. Dies alles ist vergleichbar mit der Sehnsucht nach Unsterblichkeit und Transzendenz in den monotheistischen Religionen.
Die Vorstellung des Mind-Uploading erinnert ebenfalls an Platonismus, Neoplatonismus und Gnostizismus, die alle nach der Transzendenz
der Seele aus einem unwirklichen und unerwünschten Körper strebten.
Transzendenz ist demgemäß eine Flucht aus dem Gefängnis des Körpers
und ganz allgemein gesagt, aus dem Gefängnis der (materiellen) Welt. Zu
diesem Zweck kann die Technologie verwendet werden. Aber selbst
wenn man nicht an diese „ausgefallenen“ Ideen denkt, spielt die Technologie häufig eine transzendierende Rolle. Arendt zufolge können wir
zum Beispiel mithilfe der Mathematik, der Wissenschaft und technologischer Instrumente unseren Wunsch realisieren, die Welt zu verlassen.15
Die modernen Technologien scheinen häufig dasselbe Ziel zu haben,
wenn uns beispielsweise das Internet, Computerspiele und unser Gebrauch von Smartphones von unserer unmittelbaren Umgebung entfremden, um das Hier und Jetzt zu durchschreiten. Hinzu kommt, dass aus
einem erweiterten Blickwinkel sogar Sprache als ein Werkzeug dienen
kann, sich zu distanzieren und abzuheben, über die unmittelbare Gegenwart und das Naheliegende hinauszuwachsen. Vor allem Sprache in
Form von Schreiben und Texten (was auch Techniken sind), wurde oftmals wegen dieses entfremdenden Effekts kritisiert (im Gegensatz zur gesprochenen Kultur). Und die Philosophie, als eine durch Technologien
wie Sprache, Schreiben, Textverarbeitungsprogramme, Computer usw.
ausgeübte Disziplin, ist ebenfalls mit einem grenzüberschreitenden Apparat zu vergleichen.
Manche halten diese Transzendenz und „Entfremdung“ für erstrebenswert, für andere ist sie hochproblematisch. Dies ist ein Thema für
sich, das eine ausführlichere Behandlung verdient. Für den Zweck dieser
Abhandlung will ich mich zunächst darauf beschränken, folgende Position einzunehmen: Ich habe für diejenigen Verständnis, die denken, dass
zumindest etwas an dieser Distanz und Entfremdung, bezogen auf Trans15
H. Arendt, The Human Condition, Chicago 1958.
Transzendenzmaschinen: Der Transhumanismus und seine (technisch-)religiösen Quellen 87
zendenz, aber auch im Allgemeinen, falsch ist. Ich werde nicht auf alle
Gründe eingehen, warum daran etwas falsch ist, aber dies könnte einer
davon sein: Wenn wir von der Annahme ausgehen, dass wir Beziehungswesen sind, dann können diese Distanzen und diese Transzendenz durchaus problematisch sein, da sie uns von dem entfremden, zu dem wir in
Beziehung stehen, oder zumindest die Beziehungsorientierung des Menschen leugnen.
Angesichts des Entfremdungs-und Distanzproblems (die von der Welt
distanzierten Menschen, der von der menschlichen Welt distanzierte Gott,
die von der Natur distanzierten Menschen usw.) kann man daher anregen,
sich stattdessen der Immanenz zuzuwenden. Was bedeutet Immanenz und
was bedeutet eine immanente Technologie? Im Folgenden werde ich die
Beziehung zwischen Immanenz und Technologie näher beleuchten.
4. Immanenz und Technologie: Verletzbare Cyborgs und allgegenwärtige Geister
Am Ende des vorangegangenen Abschnitts zeigte ich eine Wahlmöglichkeit auf. Aber es stellt sich nicht nur die Frage nach einer „Präferenz“, als
gäbe es eine einfache Entscheidung zwischen Transzendenz und Immanenz. Die Bemühungen, Transzendenz zu erlangen, können nicht nur
Nachteile haben (das Distanzproblem zum Beispiel), sie scheitern auch
in vielen Fällen – zumindest in gewissem Maße. Wir wollen vielleicht unseren menschlichen Zustand transzendieren, aber größtenteils gelingt es
uns nicht. Wir werden mit der Technologie auch nicht unsterblich. Wir
werden nicht unverletzbar. Wir können unserem irdischen Zustand nicht
entkommen. Wir bleiben verletzbar, trotz unserer technologischen Bemühungen, weniger verletzbar zu werden.
In meiner Studie über Enhancement und Verletzbarkeit habe ich aufgezeigt, dass in dem Maße, wie wir kontinuierlich neue Technologien zur
Bewältigung von Risiken erfinden und verwenden, diese ständig neue Risiken und Verletzbarkeiten hervorrufen: anstatt weniger verletzbar zu
werden, verändert sich die existentielle menschliche Verletzbarkeit lediglich; es stellt sich also die Frage, welche Technologien und Verletzbarkeiten wir wollen.16 Unser existenzieller Zustand ist, dass wir ständig einer
Gefahr ausgesetzt sind. Auch wenn wir zu transhumanen Wesen werden,
16 M. Coeckelbergh, Human Being @ Risk. Enhancement, Technology and the Evaluation of Vulnerability Transformations, Dordrecht 2013.
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Mark Coeckelbergh
würde sich daran sicherlich nichts ändern. Wir sind verletzbare Cyborgs
und werden es auch in Zukunft bleiben17 – wenn auch auf neue Weise
aufgrund der Transformation durch neue Technologien.
Aus dem Blickwinkel der Religion und Spiritualität betrachtet hat
diese Akzeptanz unseres existenziellen Zustandes mehr mit Immanenz
als mit Transzendenz zu tun. Innerhalb einer immanenten Spiritualität
befinden sich Geist, Seele, Gott/Götter usw. in dieser Welt und nicht
außerhalb davon. Menschen müssen ihre religiöse und menschliche Bestimmung (sofern sie eine haben) in dieser Welt finden und nicht jenseits
davon. Dies ist eine Religion und eine Spiritualität, die die Grenzen
menschlicher Erfahrungen akzeptiert und innerhalb dieser Grenzen vorkommt. Es spielt sich in dieser Welt ab, nicht in einer anderen. So gesehen ist es sinnlos, Transzendenz erlangen zu wollen; wir sollten lieber unseren religiösen Wert und Sinn im Hier und Jetzt suchen und unseren
irdischen und körperlichen Zustand akzeptieren, wenn nicht sogar mit
Freuden annehmen.
Unsere Technologien wie das Internet (der Dinge), Smartphones usw.
sollten dann nicht als Transzendenzmaschinen verstanden und verwendet
werden, sondern als Technologien und Medien, die innerhalb einer
menschlich-materiellen-spirituellen Ordnung, einer Ökologie oder eines
Netzwerkes immanent sind. Aus immanenter Sicht gibt es eine Vielfalt
von Wesen und es gibt Raum für Zusammenschlüsse, Hybride und Grenzen, die nicht klar sind und die nicht so klar zu sein brauchen. Denken
Sie an die sogenannten „heidnischen“ alten Naturreligionen, in denen es
eine Vielfalt von Göttern und andere (kaum) übernatürliche Wesenheiten
gab, die nicht so weit von der Welt der Menschen entfernt waren wie der
transzendente monotheistische Gott und in denen Raum für Kontakt,
Einmischung, Beziehungen und Durcheinander vorhanden war.
Wenn wir überhaupt eine Religion oder Spiritualität für dieses hochtechnologische Zeitalter brauchen (obwohl alle Zeitalter technologisch
waren), dann ist angesichts der Probleme mit Transzendenz eine solche
immanente Spiritualität angemessener. Diese Spiritualität steht nicht notwendigerweise im Gegensatz zu Technologien und Medien, sondern
kann sie integrieren. Ich habe darauf aufmerksam gemacht, dass eine
„ubiquitäre“, „allgegenwärtige“ Art von Spiritualität im Einklang mit
dem Verstehen zeitgenössischer weit verbreiteter und ubiquitärer Tech17 M. Coeckelbergh, Vulnerable Cyborgs. Learning to Live with our Dragons, in: Journal of Evolution and Technology 22 (2011) 1– 9.
Transzendenzmaschinen: Der Transhumanismus und seine (technisch-)religiösen Quellen 89
nologien steht, vorausgesetzt wir fangen an, die Beziehungsorientiertheit
des Menschen und den ökologischen Aspekt der menschlich-technologischen Beziehungen zu sehen.18 Diese Spiritualität steht auch im Einklang
mit östlichen nicht-dualistischen und anthropologischen Sichtweisen des
Werdens. Technologie ist hier kein externes Instrument, das verwendet
wird, um in Distanz zur Erde zu gehen und sich vom irdischen und körperlichen menschlichen Zustand zu lösen; Technologie ist vielmehr mit
unserem irdischen und verkörperten Leben verwoben, ein Teil dessen,
was wir sind und was wir tun. Sie gehört zu unserem relationalen Sein
und Werden, sie bestimmt uns. Spiritualität und Religion sind nicht als
von der Technologie oder von dem menschlichen verkörperten und irdischen Zustand getrennt zu verstehen, sondern als mit dieser menschlichtechnologisch-irdischen Realität verbunden und darin gegenwärtig. Der
Geist an sich ist folglich allgegenwärtig, so allgegenwärtig wie die Natur,
die Technologien und die menschliche Kultur. Die Seele lässt sich nicht in
einer transzendenten Realität außerhalb dieser Welt finden; wenn sie
überhaupt irgendwo ist, ist sie in der Welt. Die Technologie an sich
muss so verstanden werden, dass sie diese Grenzen überschreitet. Soziale
Medien sind zum Beispiel weder nur menschlich noch nur technologisch,
sondern beides zugleich, und sie sind weder nur spirituell noch nur materiell, sondern beides zugleich.
Bei dieser Auffassung stellt sich nicht das Problem der Entzauberung,
das dann mittels Wiederverzauberungstechnologien oder Transzendenzmaschinen gelöst werden muss, die uns so schnell und effektiv wie möglich aus dieser Welt nehmen. Es bedarf keiner Magie oder Flucht, denn
Magie ist bereits vorhanden, und es gibt weder die Möglichkeit noch
den Wunsch zu entkommen. Im Kontext der immanenten religiösen Erfahrung ergibt das Konzept einer transzendenten, jenseitigen Realität
nicht einmal Sinn. Spirituelles Wachstum und religiöser Wandel sind
eine Frage von Wachstum und Wandel innerhalb dieser Welt und zwar
als irdische und verkörperte, natürliche und soziale Wesen. Solches
Wachstum erfordert keine Transzendenzmaschinen, sondern das Bemühen, in Beziehungen und erneuerten Verbindungen besser zu werden (religare), womöglich unter Einbeziehung der unterschiedlichsten Artefakte, Technologien und Medien.
Diese Auffassung ist mit der zurzeit aufkommenden posthumanistischen Technologiephilosophie kompatibel, die Technologie als wesentli18
Coeckelbergh, Pervasion of What? (s. Anm. 4).
90
Mark Coeckelbergh
chen Aspekt für das, was uns ausmacht, begreift und Wissenschaft und
Kultur (einschließlich Religion) nicht als Gegensätze, sondern als tief miteinander verbunden versteht. Im Rahmen des Posthumanismus wird die
Zusammenführung von Mensch und Maschine erforscht und nicht selten
mit Enthusiasmus vertreten; in der Tat wird die Gestalt des Cyborgs gefeiert19, aber dies in einer Weise, die nicht nach Transzendenz strebt. Die Bezeichnung „Cyborg“ kann für Visionen wie das Hochladen stehen, Visionen, die das Menschliche übertreffen wollen, indem sie über das Physische
und Materielle hinausgehen (siehe wieder Kurzweil), Cyborg kann aber
auch für Visionen eines „Jenseits“ stehen, in denen Erde und Körper anerkannt werden, Visionen, die eine Einheit von Seele und Geist mit der physisch-materiellen Welt, dem Menschlichen und dem Technologischen enthalten. Der posthumane Zustand – wenn diese Bezeichnung angemessen
ist – kann über den Menschen in dem Sinne hinausgehen, dass wir in einem
solchen Zustand nicht mehr dieselben Menschen wären wie heute. Dabei
handelt es sich aber nicht notwendigerweise um ein „Überschreiten“ im
Sinne der Transzendenz. Im Gegensatz zum Transhumanismus, dessen Visionen meist stark zur Transzendenz tendieren, gibt es im Posthumanismus
zahlreiche Strömungen, die sich für immanentes Denken und eventuell sogar immanente Spiritualität öffnen.
5. Schlussfolgerung: Transzendenz, Immanenz und die Grenzen von Erfahrung
und Wissen
In dieser Abhandlung habe ich mich mit Technologie und Transhumanismus vor dem Hintergrund der Vorstellungen über Transzendenz und Immanenz befasst. Abweichend zu den von den Transhumanisten vorgeschlagenen Transzendenzmaschinen (und wir verwenden ja heute
bereits einige dieser Maschinen), habe ich die Möglichkeit einer immanenteren Sichtweise hervorgehoben und verteidigt: eine immanente
Sichtweise von Menschen, Technologie und Spiritualität, in der beispielsweise soziale Medien oder intelligente Geräte als integrierter Bestandteil
19
Denken Sie zum Beispiel an die Abfassungen, die auf D. Haraway, A Cyborg Manifesto. Science, Technology, and Socialist-feminism in the late Twentieth Century, 1991,
in: D. Bell/B. M. Kennedy (Hrsg.), The Cybercultures Reader, London 2000, 291–324
folgten.
Transzendenzmaschinen: Der Transhumanismus und seine (technisch-)religiösen Quellen 91
einer Lebenswelt und einer Ökologie, die zugleich materiell und spirituell, leiblich und gefühlvoll ist, verstanden werden müssen.
Gleichwohl sollten zumindest die folgenden Abstufungen vorgenommen werden. Erstens gibt es, wie bereits angemerkt, eine Religion mit
dem Ziel, Immanenz und Transzendenz zu verbinden (und vielleicht gibt
es noch mehr solcher Religionen). Das führt zu der Frage, ob die in dieser
Abhandlung dargestellten Meinungen wirklich so inkompatibel sind, wie
ich manchmal dargelegt habe. Ich bleibe der Möglichkeit gegenüber aufgeschlossen, dass eine Kombination, eine Synthese in Bezug auf Religion
und Spiritualität möglich ist, aber auch in Bezug auf das Verstehen von
Technologien und Medien. Bisher habe ich allerdings vor allem starke
Spannungen beobachtet, einerseits zwischen Transzendenz suchenden
transhumanistischen Visionen und andererseits zwischen den Humanismus oder Posthumanismus verteidigenden Anti-Transhumanisten, die
stärker zur Immanenz tendieren. Es wäre interessant, sich eingehender damit zu befassen, wie im Bereich des Nachdenkens über Technologie eine
Synthese aus Transzendenz-orientierten und Immanenz-orientierten Meinungen aussehen würde, aber ich habe noch keine gefunden.
Zweitens, unter Berücksichtigung des vorherigen Punktes bezüglich
einer Synthese: während ich hier eine immanentere Ansicht vertrete,
muss die Sehnsucht nach Transzendenz, die im Verlauf eines Großteils
unserer Kulturgeschichte ein sehr menschlicher Wunsch und eine Hoffnung war und ist, anerkannt werden. Vielleicht ist es sogar ein typisch
menschlicher Wunsch und eine menschliche Hoffnung oder Teil der conditio humana. Pascal schrieb in seinen Pensées sur la religion et sur quelques autres sujets: „l’homme passe infiniment l’homme“ – Der Mensch
übersteigt unendlich den Menschen.20 Cottingham spricht in diesem
Kontext von den transzendenten Trieben und der Rastlosigkeit des
menschlichen Geistes.21 Wir können auch über die Worte von Pico della
Mirandola in seiner Rede über die Würde des Menschen nachdenken:
Du, ohne Grenze oder Schranke, darfst die Grenzen oder Schranken deiner Natur für dich selber wählen.22 So gesehen sind wir immer trans20 B. Pascal, Pensées sur la religion et sur quelques autres sujets (1670), http://www.
ub.uni-freiburg.de/referate/04/pascal/pensees.pdf (abgerufen am: 05.10.2017).
21
J. Cottingham, Human Nature and the Transcendent, in: C. Sandis/M. J. Cain
(Hrsg.), Human Nature (Royal Institute of Philosophy supplement 70), Cambridge
2012, 233 –254.
22 G. P. della Mirandola, Oration on the Dignity of Man (1496). Trans. Richard Hooker
(Absätze 1–7), http://richard-hooker.com/sites/worldcultures/REN/ORATION.HTM.
92
Mark Coeckelbergh
human oder Transhumanisten gewesen. Allerdings kann die Transzendenz auch eine Beschäftigung relativ jüngeren Datums mit Verbindung
zum Monotheismus sein, dem in der westlichen (griechischen) Kultur sowie der Moderne gehuldigt wird. Trotzdem wäre es unklug, die Transzendenz zu ignorieren, und man muss auf jeden Fall zugeben, dass Menschen Erfahrungen mit Transzendenz haben und hatten. Zu diesen
Erfahrungen gehören sehr wahrscheinlich auch Transzendenzerfahrungen mit Technologien und Medien und deren Gebrauch. Es bedarf noch
weitergehender Arbeiten zu dem Phänomen von Transzendenz und Immanenz in Bezug auf Technologie.
Abschließend ist es wichtig, Transzendenz in dem Sinne anzuerkennen, dass wir die bleibende Begrenztheit unserer (menschlichen) Erfahrung und unseres Wissens eingestehen. Wir können zum Beispiel von
den Romantikern des frühen 19. Jahrhunderts wie Novalis, aber auch
von den Mystikern der Antike lernen, dass wir sehr vieles nicht wissen
und vielleicht nie wissen werden. Die Transzendenz kommt hier der Dunkelheit gleich, oder möglicherweise einem Abgrund oder einem Mysterium. Insofern müssen diese Grenzen des menschlichen Wissens beim
Nachdenken über Technologie auch eingestanden werden. Weder die
auf die Transzendenz ausgerichteten Denker noch die auf die Immanenz
ausgerichteten Denker sollten mit der Annahme durchkommen, dass das
letzte Wort über den Menschen, die Technologie und das „Jenseits“ bereits gesprochen ist. Bescheidenheit ist nicht nur eine moralische, sondern
auch eine bedeutende erkenntnistheoretische Tugend in der Philosophie
und außerhalb davon.
Literatur
H. Arendt, The Human Condition, Chicago 1958.
L. Bailey, The Enchantments of Technology, Chicago 2005.
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Culture, in: Zygon: Journal of Religion & Science 45 (2010) 957– 978.
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Spirits, in: AI & Society 28 (2013) 55 – 63.
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and the End of the Machine, Cambridge, Mass. 2017.
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Transzendenzmaschinen: Der Transhumanismus und seine (technisch-)religiösen Quellen 93
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(Absätze 1–7), http://richard-hooker.com/sites/worldcultures/REN/ORATION.HTM
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2006.
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late Twentieth Century, 1991, in: D. Bell/B. M. Kennedy (Hrsg.), The Cybercultures
Reader, London 2000, 291–324.
P. Hefner, Technology and Human Becoming, in: Zygon: Journal of Religion and Science 37 (2002) 655 – 665.
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