978 3 8274 2448 8
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Dynamische Systeme
Theorie und Numerik
Autoren:
Univ.-Prof. Dr. rer. nat. habil. Bernd Marx
Technische Universität Ilmenau
Institut für Mathematik
e-mail: bernd.marx@tu-ilmenau.de
11 12 13 14 15 5 4 3 2 1
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbe-
sondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung
in elektronischen Systemen.
ISBN 978-3-8274-2447-1
Vorwort
Mit diesem Buch wollen die Autoren den Studierenden in den Masterstudiengängen für
Mathematik, Natur- und Ingenieurwissenschaften ein solides mathematisches Wissen
zur Theorie und Numerik dynamischer Systeme vermitteln. Viele Prozesse in Physik,
Chemie, Biologie, Medizin und in den Ingenieur- und Wirtschaftswissenschaften werden
durch parameterabhängige nichtlineare Differenzialgleichungen beschrieben. Deshalb sind
Differenzialgleichungen und dynamische Systeme als zentrale Gebiete der Mathematik
auch weiterhin in ständiger Entwicklung begriffen. Die Idee zu diesem Buch entstand aus
unserer langjährigen Vorlesungstätigkeit für Studierende der Mathematik, der Techni-
schen Physik, des Maschinenbaus, der Elektrotechnik und der Informatik, sowie auf der
Basis unserer wissenschaftlichen Kooperation mit Ingenieuren an der TU Ilmenau.
In der Stoffauswahl und -anordnung haben wir auf ausführliche Motivation und Erläu-
terung der Grundideen, auf leichte Fasslichkeit, Anschaulichkeit und Übersichtlichkeit
Wert gelegt. Der mit der Thematik bereits vertraute Leser möge Verständnis aufbringen,
wenn an geeigneter Stelle ihm bekannte Grundbegriffe und -aussagen definiert werden.
Damit wollen wir erreichen, dass das mühevolle Zusammensuchen von Begriffen und
Aussagen weitgehend entfällt und für alle Leser des Buches gleiche Bedingungen geboten
werden, um den Einstieg in das umfangreiche Gebiet zu erleichtern. Wo es die Stoff-
auswahl zulässt, wird auch ein Praxisbezug hergestellt. Wir werden allerdings nicht in
jedem Kapitel erläutern, wofür ein mathematischer Begriff oder Sachverhalt „nützlich“
ist, denn erst das Zusammenspiel der verschiedenen Begriffsbildungen und der daraus
resultierenden Sätze führt zu sinnvollen Anwendungen. Von der Behandlung chaotischer
Lösungen und Attraktoren fraktaler Dimension mussten wir in Anbetracht des Buchum-
fanges Abstand nehmen, zumal sich das erforderliche mathematische Instrumentarium
teilweise stark vom übrigen Buch unterscheidet und deshalb gesondert vorgestellt werden
soll.
Das Buch ist so aufgebaut, dass zunächst im ersten Kapitel einige Grundtatsachen aus
dem Gebiet der Funktionalanalysis aufgeschrieben sind. Die gesamte moderne Analysis
vi
basiert heute auf der Funktionalanalysis. Sie stellt als elegante mathematische Theorie
allgemeine Hilfsmittel bereit, um mathematische Aufgabenstellungen, wie gewöhnliche
und partielle Differenzialgleichungen, Integralgleichungen und Extremalprobleme in über-
sichtlicher und einheitlicher Weise zu lösen. Gemeinsame Merkmale, die bei der Lösung
dieser Aufgabenstellungen auftreten, werden auf allgemein gültige Prinzipien zurückge-
führt. Darüber hinaus kann man die Struktur und Konvergenz von Näherungsverfahren
in einheitlicher Weise untersuchen. Der Mehraufwand zur Einarbeitung in dieses Kapitel
wird dadurch abgegolten, dass scheinbar sehr unterschiedliche Aufgabenstellungen, wie
sie in der Praxis auftreten, mit Hilfe der gleichen abstrakten mathematischen Methode
gelöst werden können.
Das zweite Kapitel beschäftigt sich weniger mit Methoden der Berechnung der Lösungen
von Differenzialgleichungen, sondern mehr mit strukturellen und qualitativen Aussagen.
Wir haben dieser Sichtweise den Vorzug gegenüber der traditionellen, an Lösungstechni-
ken und der linearen Theorie ausgerichteten Betrachtungsweise gegeben. Dieser Aspekt
erscheint wichtig, um numerische und grafische Lösungsapproximationen beurteilen zu
können.
Im Kapitel 3 wird der Leser an den Begriff der Lösungsbifurkation bei Differenzial-
gleichungen behutsam herangeführt. Dieser Abschnitt beschreibt die ersten Schritte in
Richtung einer zeitgemäßen Fortführung der elementaren Theorie autonomer Systeme.
Es werden die drei Grundtypen Sattel-Knoten-Bifurkation, transkritische Bifurkation
und die Pitchfork-Bifurkation behandelt. Den Abschluss bilden die Resultate über die
Verzweigung von Ruhelagen und geschlossenen Orbits (Hopf-Bifurkation).
Das Kapitel 4 über analytische Bifurkationstheorie kann als Brücke zwischen der elemen-
taren Theorie gewöhnlicher Differenzialgleichungen und den Anfängen der so genannten
nichtlinearen Dynamik verstanden werden. Neben verschiedenen Themen der klassischen
statischen Bifurkationstheorie haben wir auf unterschiedlichem mathematischen Niveau
einige grundlegende Probleme der modernen dynamischen Verzweigungstheorie vorge-
stellt, die in den üblichen Büchern über Differenzialgleichungen in dieser Form nicht
behandelt werden. Die Gewinnung der Aussagen in diesem Abschnitt erfolgt wieder vor-
wiegend auf der Basis der in Kapitel 1 dargelegten Funktionalanalysis.
Die Numerik nimmt – beginnend mit Kapitel 5 – bei der Entwicklung und Analyse
leistungsfähiger Näherungsverfahren einen relativ großen Umfang ein. Wegen der Nicht-
linearität der mathematischen Modelle können dynamische Systeme aus der Praxis ohne
leistungsfähige numerische Verfahren zukünftig nicht erfolgreich analysiert werden. Des-
halb sind Naturwissenschaftler und Ingenieure auf effiziente Algorithmen und Computer
bei der Erforschung der Modelle ihres Fachgebietes angewiesen. Für umfangreiche Com-
putersimulationen realer Prozesse werden schnelle und zuverlässige numerische Verfahren
vii
Die Darstellung des Stoffes ist weit davon entfernt, eine bloße Sammlung von „Kochre-
zepten“ zu sein. Gerade die mathematisch strenge Herleitung zentraler Ideen und durch-
gehend präzise Formulierungen und Darstellungen fördern entscheidend Verständnis und
Durchblick und geben so erst die gewünschte Sicherheit bei den Anwendungen. Falls uns
ein vollständiger Beweis nicht ratsam erschien, wird in der Regel ein Literaturverweis
angegeben. Unseren Beitrag sehen wir darin, durch Klarheit, Transparenz und Konzen-
tration auf das Wesentliche, den Leser auch an die moderneren Inhalte der Mathematik
heranzuführen. Es ist uns ein Anliegen zu demonstrieren, dass die Mathematik nicht
nur Eleganz und innere Schönheit besitzt, sondern auch effektive Methoden zur Lösung
konkreter Fragestellungen zur Verfügung stellt. Wir wollen uns bemühen, mit diesem
Buch ein solides Fundament zu legen, das dem Leser später auch bei weitergehender
Beschäftigung mit Mathematik und deren Anwendung zu gute kommt.
Schließlich möchten wir die Aufmerksamkeit auch auf die Übungsaufgaben richten, die
am Schluß eines jeden Kapitels zu finden sind. Die Beschäftigung mit diesen Aufgaben ist
eine wichtige Voraussetzung für ein vertiefendes Verständnis des Stoffes. Die Darstellung
der numerischen Verfahren als Algorithmen im Pseudocode bietet Musterlösungen für
eigene Verfahrensentwicklungen der Leser und soll zu einer kritischen Bewertung der
Näherungsverfahren anleiten. Sämtliche mit dem Computer gerechneten Anwendungs-
beispiele benutzen automatisch die im wissenschaftlichen Bereich international übliche
Notation von Gleitpunktzahlen mittels des Dezimalpunktes. Wir haben uns entschlossen,
die Dezimalpunkt-Darstellung durchgehend zu verwenden, zumal damit die Lesbarkeit
viii
von Zahlenfolgen und -vektoren verbessert wird. Für sehr häufig wiederkehrende mathe-
matische Begriffe wie „Differenzialgleichung“ werden allgemein übliche Abkürzungen wie
„DGL“ an entsprechender Stelle eingeführt und undekliniert im gesamten Text benutzt.
Zwar ist das Buch primär an Studenten im Master-Studium der Mathematik, der Natur-
und Ingenieurwissenschaften und Informatik gerichtet, kann aber auch von Doktoranden
mit Gewinn genutzt werden. Auch Forschungsingenieuren und Anwendern dürfte das
Buch neue Elemente der Mathematik bieten. Die vorgestellten Anwendungen wurden
größtenteils mit Computerprogrammen gerechnet, die von Studierenden und Doktoran-
den gemeinsam mit den Autoren an der TU Ilmenau entwickelt wurden. Deshalb gilt
unser Dank Frau Dr. K. Bernet und den Herren Dr. F. Schilder, Dr. S. Schreiber, Dr.
D. Peterseim und Dipl.-Math. M. Ernst, die mit ihrer zeitaufwändigen Leistung zum
Gelingen des Buches beigetragen haben.
Als jederzeit kompetente und freundlich nachsichtige Ansprechpartner standen uns sei-
tens des Spektrum-Verlages Herr Dr. Andreas Rüdinger und Frau Sabine Bartels stets
hilfreich zur Seite. Die Autoren danken ihnen insbesondere für die wertvolle Unterstüt-
zung während der gesamten Fertigstellung des Buches.
Übersicht
1.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2
1.2 Lineare Operatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
1.3 Fréchet- und Gâteaux-Ableitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
1.4 Nemytski-Operator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
1.5 Implizites Funktionentheorem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
1.6 Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
Alle Beziehungen zwischen Zahlen, Funktionen und Operatoren werden erst dann durch-
sichtig, verallgemeinerungsfähig und wirklich fruchtbar, wenn sie von ihren besonderen
Objekten losgelöst und auf allgemeine begriffliche Zusammenhänge zurückgeführt wer-
den. Diesem Anspruch versucht die Funktionalanalysis gerecht zu werden.
Wir beschäftigen uns u. a. mit Begriffsbildungen wie Banach-Raum, Hilbert-Raum und
linearen, stetigen, kompakten und differenzierbaren Operatoren – definiert auf diesen
Räumen – und demonstrieren, wie dadurch die Theorie der linearen und nichtlinearen
Gleichungen erheblich an Klarheit und Übersichtlichkeit gewinnt.
Die behandelten Begriffe haben sich in einem Zeitraum von rund 100 Jahren heraus-
kristallisiert. Die meisten dieser neuen Ergebnisse sind in Räumen gewonnen worden,
die neben der metrischen Eigenschaft eine Vektorraumstruktur besitzen und man hat
erkannt, dass sich der Abstand zweier Elemente x und y aus der Differenz x − y ableitet.
Dies hat zu dem wichtigen Begriff des normierten Raumes geführt. Er verknüpft den
Abstandsbegriff (Metrik ) und den linearen Aspekt (Vektorraum). Als Spezialfall ergibt
sich der Prähilbert-Raum. Es handelt sich dabei grob gesprochen um eine Gesamtheit von
(beliebigen) Objekten (z. B. Zahlen, Funktionen, Systeme von Zahlen und Funktionen),
zwischen denen Relationen festgesetzt werden, die diesen oder jenen räumlichen Bezie-
hungen entsprechen. Diese beiden Raumbegriffe haben sich für die weitere Entwicklung
der Funktionalanalysis als außerordentlich fruchtbar erwiesen. Charakteristisch für einen
Prähilbert-Raum ist die zusätzliche Einbeziehung der Eigenschaft der Orthogonalität
zweier Elemente vermöge eines Skalarprodukts, wie es von einem endlichdimensionalen
1.1 Einführung
Der Begriff des metrischen Raumes wird nur deshalb kurz aufgegriffen, da er das Wesen
des Abstandes herausarbeitet. Der hier dargelegte Begriff des normierten Raumes ist
von Stefan Banach 2 um 1920 eingeführt worden. Dass unter den normierten Räumen
jene von besonderer Bedeutung sind, deren Norm aus einem Skalarprodukt (auch inneres
Produkt genannt) entspringt, wurde schon durch David Hilberts Untersuchungen über
unendlichdimensionale quadratische Formen deutlich.
Mathematische Notationen
Die Begriffe Raum, Glied, Variable, Element und Menge sind für ein organisiertes Denken
in der Mathematik grundlegend. Dem Leser sollte die tragende Rolle des Mengenbegrif-
fes klar sein. Ein weiterer Vorteil beim Lesen des Buches ist die Vertrautheit mit den
gebräuchlichen mathematischen Schriftzeichen, mit deren Hilfe über Mengen, Elemente
von Mengen oder über Relationen zwischen Elementen und Mengen gesprochen wird.
Mengen werden mit Großbuchstaben, Elemente eines (metrischen, normierten, ...) Raum-
es werden beispielsweise mit x, y, a, b, . . . und Folgen in solchen Räumen mit (xk ), . . . ,
manchmal auch mit (xk )k∈N , . . . bezeichnet. Im Rn werden, um Verwechslungen vorzu-
beugen, für Folgen gelegentlich hochgestellte Indizes verwendet, also (xk ) mit (xk ) =
(xk1 , . . . , xkn ).
1
David Hilbert (1862–1943) wirkte in Göttingen. Er formulierte 1900 auf dem internationalen
Mathematiker-Kongress in Paris die berühmten 23 Probleme, die die Mathematik bis zum heutigen
Tag beeinflussen.
2
Stefan Banach (1892–1945), polnischer Mathematiker, einer der Begründer der Funktionalana-
lysis.
1.1 Einführung 3
Wir beginnen mit einer Zusammenstellung von Definitionen und (mathematischen) Re-
deweisen.
Hier werden wichtige Dinge über metrische Räume genannt, die in den nächsten Ab-
schnitten benötigt werden.
Eine solche Funktion d : X × X → R wird als eine Metrik auf X, die Zahl d(x, y) als
Abstand zwischen den Punkten x und y und die mit dieser Metrik versehene Menge X
als metrischer Raum (X, d) bezeichnet.
Beispiel 1.2
1. Im n-dimensionalen euklidischen Vektorraum Rn (reell) bzw. Cn (komplex) definiert
man die Entfernung zweier Vektoren durch die Formel
n 1/2
d(x, y) := x − y2 = |xi − yi |2 .
i=1
(Hier bezeichnet ·2 den euklidischen Abstand.) Für n = 1 sind die Verhältnisse einfach:
R1 ≡ R bzw. C1 ≡ C bezeichnen nichts anderes als die Gesamtheit aller reellen bzw.
komplexen Zahlen mit dem Abstand d(x, y) = |x − y|.
2. Unter einem Vektor mit unendlich vielen Koordinaten versteht man eine unendliche
Folge reeller Zahlen (a1 , a2 , . . . , an , . . .). Wie üblich bezeichnet man den Vektor mit einem
Buchstaben und schreibt: a = (a1 , a2 , . . . , an , . . .). Es ist auch gerechtfertigt, dass man
4 1 Funktionalanalytische Grundlagen
die Glieder ai , i = 1, 2, . . . , der Folge Koordinaten des Vektors a nennen kann. Man
wählt aus dieser Menge von Vektoren, wovon jeder einzelne aus einer unendlichen Folge
reeller Zahlen besteht, eine Teilmenge aus, für deren Elemente
∞
|ai |p < +∞, p ∈ R, p ≥ 1
i=1
bezeichnet. Führt man in dieser Menge die üblichen Operationen „+“ (bezüglich der
Addition der Elemente) und „·“ (bezüglich der skalaren Multiplikation in R oder C) ein,
dann ist lp ein Vektorraum. Er lässt sich auch mit einer Metrik ausstatten. Für beliebige
Elemente a = (an ) und b = (bn ) setzt man
∞ 1/p
d(a, b) := |ai − bi |p , p≥1
i=1
und weist mit Hilfe der Minkowskischen Ungleichung für unendliche Summen (siehe Wal-
ter (1995)) die Dreiecksungleichung (M3) nach. (M1) und (M2) sind trivial.
Wir beginnen damit, die wichtigsten metrischen Grundbegriffe einzuführen. Für das
Verständnis lasse sich der Leser von dem folgenden Übertragungsprinzip leiten: Alle bis-
herigen, auf dem Abstand zweier Punkte in R oder Rn basierenden Begriffe werden für
den metrischen Raum formuliert, wobei lediglich der Abstand |x − y| durch d(x, y) zu
ersetzen ist.
Beispiel 1.3
1. Jede offene Kugel ist eine offene Menge. Dies sieht man so: Es sei x ∈ K(a; r) und :=
r − d(a, x) > 0. Dann gilt K(x; ) ⊂ K(a; r), was man mit Hilfe der Dreiecksungleichung
bestätigt. Ähnlich zeigt man, dass jede abgeschlossene Kugel K[a; r] abgeschlossen ist.
2. Die leere Menge ∅ sowie der ganze Raum X sind sowohl offen als auch abgeschlossen.
3. Jede einpunktige Menge A = {a} ist abgeschlossen. Ist x = a und r = d(x, a) so liegt
K(x; r) im Komplement X\A. Also ist jedes x = a innerer Punkt von X\A, d. h. X\A
ist offen, bzw. A ist abgeschlossen.
f : N → X, n → f (n) ∈ X
heißt Folge , xn := f (n) heißt das n-te Glied der Folge. Als Symbol für diesen Sachverhalt
verwenden wir
Ist X := K, dann heißen die Folgen Zahlenfolgen, genauer: (xn ) heißt reelle bzw. komplexe
Zahlenfolge, falls K = R bzw. K = C gilt. Sie heißt konvergent mit dem Limes a ∈ X (a
heißt auch Grenzwert), falls die Abstände d(xn , a) gegen 0 streben für n → ∞. Symbol:
Eine Folge heißt beschränkt, falls ihre Wertemenge beschränkt ist, d. h. falls es eine Kugel
K[x0 ; r], x0 ∈ X, r > 0 mit (xn ) ⊂ K[x0 ; r] gibt. Schließlich ist (xn ) eine Cauchy 3 -
Folge (auch Fundamental-Folge genannt), wenn zu jedem ε > 0 ein Index n0 (ε) ∈ N mit
d(xn , xm ) < ε für alle n, m ≥ n0 (ε) existiert. Es gelten dann die folgenden einfachen
Aussagen:
Aus den Aussagen ii. und iii. folgt für Folgen (xn ) die Implikation
3
Augustin Louis Cauchy (1789–1857) entwickelte die von G. W. Leibniz und I. Newton aufgestellte
Analysis weiter. Insbesondere in der Funktionentheorie stammen viele zentrale Sätze von ihm. Er
deckte im Großen und Ganzen die komplette Bandbreite der damaligen Mathematik ab.
6 1 Funktionalanalytische Grundlagen
Im Rn ist bekanntlich auch die Umkehrung von ii. richtig: Jede Cauchy-Folge ist kon-
vergent. Dies ist der wesentliche Teil des Cauchyschen Konvergenzkriteriums im Rn . Die
Aussage ist nicht für alle metrischen Räume richtig. Deshalb definiert man:
Ein metrischer Raum (X, d) heißt vollständig, wenn jede Cauchy-Folge in X einen Grenz-
wert besitzt.
Beispiel 1.4
1. Der Rn und die lp -Räume mit den entsprechenden Metriken versehen, sind vollständige
metrische Räume.
2. Die Räume X := Q (Raum der rationalen Zahlen) oder X := [0, 1) (halboffenes reelles
Intervall) mit dem üblichen Abstand sind nicht vollständig.
Für die Charakterisierung von abgeschlossenen Mengen ist der Begriff des Häufungspunk-
tes erforderlich.
Die Menge Ā, die aus A durch Hinzunahme aller Häufungspunkte entsteht, nennt man
Abschluss (auch abgeschlossene Hülle) von A. Nun kann man zeigen, dass A genau dann
abgeschlossen ist, wenn A = Ā ist. Der Durchschnitt beliebig vieler und die Vereini-
gung einer endlichen Anzahl abgeschlossener Mengen ist abgeschlossen. Mittels der De
Morganschen 4 Formeln ergibt sich eine entsprechende Aussage für offene Mengen: Die
Vereinigung beliebig vieler und der Durchschnitt einer endlichen Anzahl offener Mengen
ist offen.
Ein weiterer wichtiger Begriff für den Aufbau der Funktionalanalysis ist die Kompaktheit
einer Menge.
Die Bezeichnung „kompakt“ ist in der Literatur nicht einheitlich. Man verwendet für
kompakt auch kompakt in sich und für relativ kompakt auch präkompakt.
Zu der Kompaktheitsdefinition ist noch die folgende Aussage äquivalent: Jede offene
Überdeckung von A enthält eine endliche Teilüberdeckung. Ein allgemeines Kompakt-
4
Augustus De Morgan (1806–1871), englischer Mathematiker. Er war Mitbegründer und erster
Präsident der London Mathematical Society.
1.1 Einführung 7
Satz 1.7
Es sei M ⊂ X und X ein vollständiger metrischer Raum. Dann sind folgende Aussagen
äquivalent:
i. M ist relativ kompakt.
ii. M hat ein endliches ε-Netz, d. h. zu jedem ε > 0 existieren endlich viele Punkte
v1 , . . . , vk(ε) ∈ M , so dass min1≤j≤k(ε) d(u, vj ) ≤ ε, ∀ u ∈ M .
Es seien R die reellen und C die komplexen Zahlen und X ein Vektorraum über dem
Körper K = R (reeller Vektorraum) oder K = C (komplexer Vektorraum). Die Elemente
des Vektorraumes heißen Vektoren, die Elemente des Körpers Skalare. Man beachte, dass
sowohl der Nullvektor als auch die skalare Null mit 0 bezeichnet werden.
Eine solche Funktion · heißt Norm auf X und der damit ausgestattete Vektorraum
X wird mit (X, · ) bezeichnet und reeller oder komplexer normierter Raum genannt.
d(x, y) := x − y,
5
Heinrich Eduard Heine (1821–1881), deutscher Mathematiker, führte u. a. als Erster den Begriff
gleichmäßige Stetigkeit ein.
6
Émile Borel (1871–1958), französischer Mathematiker, lieferte Beiträge zur Analysis und Wahr-
scheinlichkeitstheorie.
8 1 Funktionalanalytische Grundlagen
die X zu einem metrischen Raum (X, d) macht. Die eingeführten metrischen Begriffe
beziehen sich immer auf diese „kanonische“ Metrik. Die Forderung der Vollständigkeit
führt auf einen zentralen Raumbegriff der Funktionalanalysis.
Beispiel 1.10
1. Der Raum Rn . Die Normaxiome (N1)-(N3) sind identisch mit den Eigenschaften des
euklidischen Abstandes, die zugehörige kanonische Metrik ist gerade die euklidische Me-
trik. Wegen der Gültigkeit des Cauchyschen Konvergenzkriteriums ist der Rn ein Banach-
Raum.
2. Der Raum Rn lässt sich auf vielfältige Weise normieren, etwa für 1 ≤ p ≤ ∞ durch
n 1/p
n 1/p
n 1/p
p p
|xi + yi | ≤ |xi | + |yi |p . (1.1)
i=1 i=1 i=1
3. Der Raum Cn . Die Menge Cn aller geordneten n-Tupel z = (z1 , . . . , zn ) mit komplexen
Koordinaten zj bildet einen n-dimensionalen komplexen Vektorraum. Durch
n 1/2
z = |zi |2
i=1
z = (z1 , . . . , zn ) ⇔ z ∗ = (Re z1 , Im z1 , . . . , Re zn , Im zn )
ist eine Isometrie (bijektive Abbildung, die die Abstände invariant lässt; siehe Abschnitt
1.2.1) zwischen Cn und R2n . Es ist z = z ∗ . Konvergenzuntersuchungen im Cn lassen
sich also auf den R2n zurückführen. Der Cn ist somit vollständig, also ein komplexer
Banach-Raum.
1.1 Einführung 9
ist lp ein normierter Raum. Man erkennt, dass es sich hierbei um eine direkte Verall-
gemeinerung des Rn mit der p-Norm auf den unendlichdimensionalen normierten Raum
lp handelt. Dem Leser sei empfohlen, den Beweis der Vollständigkeit der lp -Räume zu
führen.
5. Der Raum C 0 [a, b]. Darunter versteht man die Menge aller stetigen Funktionen
f : [a, b] → R oder C auf dem abgeschlossenen Intervall [a, b], ausgestattet mit der
Maximumnorm
f := max{|f (t)| | t ∈ [a, b]}.
In dieser Norm ist die Konvergenz einer Funktionenfolge äquivalent zur gleichmäßigen
Konvergenz dieser Folge. C 0 [a, b] ist vollständig, denn der Grenzwert einer gleichmäßig
konvergenten Folge von stetigen Funktionen ist wieder stetig. Damit hat man das wichtige
Ergebnis: Der Raum C 0 [a, b] ist ein Banach-Raum.
je nach dem, ob es sich um den R oder C handelt. Es bezeichnet yi die konjugiert kom-
n n
plexe Zahl zu yi . Allgemein wird das Skalarprodukt durch die folgenden Eigenschaften
erklärt.
(H3) y, x = x, y. (x, y konjugiert komplexe Zahl zu x, y.)
Eine solche Funktion ·, · heißt ein Skalarprodukt (oder Innenprodukt) auf X × X. Der
damit versehene Vektorraum X heißt ein Skalarproduktraum oder Prähilbert-Raum.
10 1 Funktionalanalytische Grundlagen
Gemäß (H1) ist x, x auch im komplexen Fall reell und im reellen Fall lautet (H3)
y, x = x, y. Aus (H2) und (H3) ergibt sich die Rechenregel
Wegen (H3) folgt 0, x = x, 0. Außerdem ergibt sich aus (H2) mit λ = μ = 0 und
z = x : 0, x = 0. Somit hat man
Jetzt wird gezeigt, dass jeder Prähilbert-Raum ein normierter Raum ist, wenn die Norm
durch
(N ) x := x, x
definiert wird. Die Axiome (N 1) und (N 2) ergeben sich aus (H1)-(H3). Zum Nach-
weis der Dreiecksungleichung benötigt man eine nach Cauchy und Schwarz 7 benannte
Ungleichung: Für x, y ∈ X gilt
Gleichheit tritt genau dann ein, wenn x und y linear abhängig sind. Der Beweis dieser
Ungleichung ist einfach: Sind x, y linear abhängig, so ist y = 0 oder x = λy und es
besteht die Gleichheit. Andernfalls gilt für jedes λ ∈ C
mit α := x, y. Setzt man λ := α/y2 so ergibt sich die Behauptung |α| < x y.
Mit diesem Resultat erhält man nun die Dreiecksungleichung
Sind (xn ) und (yn ) Folgen in X mit xn → x, yn → y, so folgt aus der Tatsache, dass jede
konvergente Folge beschränkt ist, etwa yn ≤ K für alle n ∈ N und der Abschätzung
die Aussage:
Das ist die Stetigkeit des Skalarprodukts analog der Stetigkeitsaussage für die Norm.
Da im Prähilbert-Raum ein Skalarprodukt zur Verfügung steht lässt sich der Begriff der
Orthogonalität einführen
Nun folgt die Definition des Hilbert-Raumes und im Anschluss daran Beispiele von
Hilbert-Räumen.
Beispiel 1.14
1. Der n-dimensionale euklidische Raum Kn . Das in üblicher Weise in (1.3) definierte
Skalarprodukt x · y ≡ x, y ist ein Skalarprodukt auf dem Kn . Die dadurch erzeugte
Norm gemäß (N) ist gerade die euklidische Norm. Dieser Raum ist vollständig, also ein
Hilbert-Raum.
2. Der Raum C 0 [a, b] der auf dem abgeschlossenen Intervall [a, b], −∞ < a < b < ∞,
stetigen reellwertigen Funktionen wird durch die Festsetzung
b
f, g := f (t)g(t) dt
a
zu einem Prähilbert-Raum, der jedoch nicht vollständig ist. Für den Nachweis, dass der
Raum nicht vollständig ist, kann man auf [a, b] = [−1, 1] die Funktionenfolge
⎧
⎪
⎨ 0 t≤0
⎪
fn (t) := nt 0 < t < 1
, t ∈ [−1, 1]
⎪
⎪
n
⎩ 1 t≥ 1 n = 1, 2, . . .
n
12 1 Funktionalanalytische Grundlagen
betrachten. Der Leser überlege sich, dass (fn ) eine Cauchy-Folge ist, die jedoch gegen
die nicht stetige „Grenzfunktion“
0, t ≤ 0
g(t) := t ∈ [−1, 1]
1, t > 0
konvergiert und somit nicht zum Raum C 0 [a, b] gehört. Darin besteht der Widerspruch.
3. Der Hilbertsche Folgenraum l2 . Gemäß der Definition der lp -Räume (siehe Beispiel
1.10, 4.) ist jetzt p = 2, d. h. es wird der Raum der reellen Zahlenfolgen x = (xk )k∈N mit
konvergenter Quadratsumme ∞ k=1 xk < ∞ betrachtet. In diesem Folgenraum l wird
2 2
durch
∞
x, y := xi yi
i=1
(folgt sofort aus Ungleichung (1.4)) existiert das Skalarprodukt x, y, da die Reihe
∞
i=1 xi yi sogar absolut konvergiert, also für x, y ∈ l immer definiert ist. Mittels Min-
2
kowskischer Ungleichung
∞ 1/2
∞ 1/2 ∞ 1/2
2 2
|xi + yi | ≤ xi + yi2
i=1 i=1 i=1
(siehe Walter (1995) ebenda) folgt aus x, y ∈ l auch x + y ∈ l2 . Der Nachweis, dass l2
2
ein Prähilbert-Raum ist, bereitet nun keine Schwierigkeiten mehr. Der Raum l2 erweist
sich sogar als ein Hilbert-Raum. Der Leser sollte den Beweis durchführen.
Jeder Hilbert-Raum ist ein Banach-Raum aber nicht umgekehrt. Ein Banach-Raum
(X, · ) ist genau dann ein Hilbert-Raum, wenn die Norm auf X die so genannte
Parallelogrammgleichung
x − y2 + x + y2 = 2(x2 + y2 ), x, y ∈ X (#)
erfüllt. Ausgehend von der in X gegebenen Norm muss daher das Skalarprodukt notwen-
dig die Form
1
x, y = (x + y2 − x − y2 )
4
besitzen. Ist die Gleichung (#) erfüllt, so existiert auf X ein Skalarprodukt x, y für das
die Gleichung x = x, x, x ∈ X, gilt.
1.1 Einführung 13
a0
∞
f (x) ∼ + (ak cos kx + bk sin kx) (1.5)
2
k=1
Aus physikalischer Sicht vermittelt uns die Relation (1.5), dass eine 2π-periodische „Os-
zillation“ als Superposition einfacher „harmonischer Oszillationen“, bestehend aus cos kx
und sin kx (k ∈ N) der Periode 2π k , k = 1, 2, . . . , repräsentiert werden kann. Im 19. Jahr-
hundert studierten viele Mathematiker im Detail die Konvergenz der Fourier-Reihen. Erst
im Jahr 1876 erhielt du Bois-Reymond das überraschende Resultat, dass es stetige Funk-
tionen f gibt, deren Fourier-Reihe nicht in jedem Punkt x ∈ R gegen f (x) konvergiert.
Dieses Gegenbeispiel zeigt, dass die klassische Konvergenz der unendlichen Reihen nicht
das richtige Konzept zur Lösung des fundamentalen Konvergenzproblems für Fourier-
Reihen ist. Im Jahr 1907 bewiesen Fischer und Riesz unabhängig voneinander, dass eine
natürliche Antwort auf das Konvergenzproblem (1.5) im Hilbert-Raum L2 (−π, π) gege-
ben werden kann. Der Leser, der mit dem Raum der im Lebesgueschen Sinn quadratisch
integrierbaren Funktionen L2 nicht vertraut ist, findet einen sehr schönen Zugang in dem
Buch von Heuser (1980), Teil 2. Eine kurze Darstellung und damit ein schneller Einstieg
in dieses Thema ist in Hoffmann et al. (2006) nachzulesen.
In diesem Abschnitt wird gezeigt, dass dieses spezielle Konvergenzproblem (1.5) ein
Spezialfall eines abstrakten Resultates für vollständige Orthonormalsysteme in Hilbert-
Räumen ist. Mit anderen Worten: Es stellt sich heraus, dass für jede Funktion f ∈
L2 (−π, π) die Fourier-Reihe (1.5) im Hilbert-Raum L2 (−π, π) konvergiert, d. h. es gilt
a0
n
lim f − sn = 0 mit sn (x) := + (ak cos kx + bk sin kx)
n→∞ 2
k=1
π
lim (f (x) − sn (x))2 dx = 0.
n→∞ −π
(H) Sei X ein Hilbert-Raum über K = R oder C und sei {u0 , u1 , u2 , . . .} ein endliches
oder abzählbares Orthonormalsystem (ONS),
1, k = m
uk , um = δkm := für alle k, m ∈ N ∪ {0}. (1.6)
0, k = m
∞
Ziel ist es, die Konvergenz der abstrakten Fourier-Reihe n=0 f, un un (wegen dem
ONS {un } auch Orthogonalreihe genannt)
∞
f= f, un un (1.7)
n=0
m
zu studieren. Wir setzen sm := k=0 f, uk uk . Die Zahlen f, uk heißen Fourier-
Koeffizienten von f . Bei der Entwicklung von Funktionen in Orthogonalreihen ist
wesentlich, dass das vorliegende ONS umfangreich genug ist, um alle Elemente des
Hilbert-Raumes approximieren zu können. Zum Beispiel bildet das System {u1 , u2 } mit
u1 = (1, 0, 0), u2 = (0, 1, 0) zwar ein ONS im (reellen) Hilbert-Raum R3 . Der Vektor
2
x0 = (1, 1, 1) hat jedoch von allen Linearkombinationen j=1 cj uj = c1 u1 + c2 u2 =
(c1 , c2 , 0) einen Abstand
2
x0 − cj uj 2 = (1 − c1 )2 + (1 − c2 )2 + 1 ≥ 1
j=1
und kann somit durch das gegebene ONS {u1 , u2 } nicht beliebig genau approximiert
werden. Die entscheidende Eigenschaft eines ONS, die eine solche Approximierbarkeit
gewährleistet, ist die sogenannte Vollständigkeit des ONS.
n
f= f, uk uk für alle f ∈ X
k=0
gilt. Das abzählbare ONS {u0 , u1 , u2 , . . .} heißt vollständig in X, falls die unendliche
Reihe (1.7) für alle f ∈ X konvergiert, d. h. es gilt f = limm→∞ sm .
Bemerkung 1.16
1. Jedes endliche ONS {u0 , u1 , . . . , un } ist vollständig im Hilbert-Raum X über K genau
dann, wenn es eine Basis von X ist.
2. Sei {un } ein abzählbares ONS im Hilbert-Raum X und es sei angenommen, dass die
unendliche Reihe ∞ n=0 cn un , cn ∈ K gegen ein festes f ∈ X konvergiert. Dann gilt für
1.1 Einführung 15
alle n ∈ N ∪ {0} : cn = f, un . Dieser Sachverhalt wird klar, wenn man (1.6) und die
Stetigkeit des Skalarproduktes benutzt:
∞ m
f, uk = cn u n , u k = lim cn un , u k
m→∞
n=0 n=0
m
m
= lim cn u n , u k = lim cn un , uk = ck .
m→∞ m→∞
n=0 n=0
Eine weitere Motivation für den Ansatz (1.7) ergibt sich aus dem Problem, f durch eine
Summe m k=0 γk uk , γk ∈ C, beliebig vorgegeben und festem m ∈ N möglichst gut zu
approximieren. Es besteht dann die folgende Approximationsformel
m
2 m
m
f − γ k uk = f − γk uk , f − γk uk
k=0 k=0 k=0
m
m
m
= f, f − γ̄k f, uk − γk uk , f + γk γ̄k
k=0 k=0 k=0
m
m
= f 2 − |f, uk |2 + |f, uk − γk |2 . (1.8)
k=0 k=0
Mit ck := f, uk und c̄k = uk , f ergibt sich die letzte Umformung, wenn man die
einfache Beziehung
|ck − γk |2 = (ck − γk ) (ck − γk ) = |ck |2 + |γk |2 − ck γk − ck γk
verwendet. Die Funktion
m
h(γ0 , γ1 , . . . , γm ) := f − γ k u k 2
k=0
m
m
f − sm 2 = f 2 − |ck |2 ≤ f − γk uk 2 für alle m = 0, 1, 2, . . . . (1.9)
k=0 k=0
Die Koeffizienten der besten Approximation sind also die Fourier-Koeffizienten von f .
Aus (1.9) folgt außerdem noch die Besselsche Ungleichung
m
m
|cn |2 = |f, un |2 ≤ f 2 , für alle f ∈ X und alle m ∈ N. (1.10)
n=0 n=0
16 1 Funktionalanalytische Grundlagen
Damit die Beziehung (1.7) überhaupt Sinn macht, muss nun die Konvergenz der Reihe
∞
n=0 cn un untersucht werden.
m+k
m+k
sm+k − sm 2 = c n un , cl ul
n=m+1 l=m+1
m+k 2
m+k
= cn u n = |cn |2 (1.11)
n=m+1 n=m+1
für alle m, k = 1, 2, . . . . Setzt man voraus, dass die Reihe ∞n=0 |cn | konvergiert, dann
2
ist (sm ) eine Cauchy-Folge im Hilbert-Raum X und folglich konvergent. Wird umgekehrt
„ ∞ cn un ist konvergent“ vorausgesetzt, dann ist (sm ) eine Cauchy-Folge und folglich
∞n=0 2
n=0 |cn | konvergent wegen (1.11).
Aus der Besselschen Ungleichung (1.10) folgt wieder, dass die Reihe, gebildet mit den
∞
n=0 |f, un | , konvergiert, d. h. es gilt (f, un ) ∈ l .
2 2
Fourier-Koeffizienten von f,
Somit ist für jedes f ∈ X die Fourier-Reihe konvergent, d. h. es gibt ein g ∈ X, so dass
∞
g= f, un un .
n=0
∞
f= cn un , cn = f, un .
n=0
Wir müssen zeigen, dass f = f ∗ ist. Nun gilt jedoch f −f ∗ , um = f, um −f ∗ , um =
f, um − cm = 0 für alle m = 0, 1, 2, . . .. Wegen der Vollständigkeit des ONS {un } folgt
f − f ∗ = 0.
U : X → l2 , U f := (f, un )∞
n=0 (1.12)
eine lineare, bijektive und isometrische Abbildung (zur Begriffsbildung siehe Abschnitt
1.2.1) von X nach l2 .
Vom funktionalanalytischen Standpunkt kann man nun die Räume X und l2 als „gleich“
ansehen. Sie unterscheiden sich lediglich durch ihre Repräsentanten. Da der Raum l2
separabel ist, d. h. er besitzt eine abzählbare dichte Teilmenge von Elementen aus dem
l2 , gelten alle gemachten Aussagen für separable Hilbert-Räume. Weiter kann man zeigen,
dass in jedem separablen Hilbert-Raum X über K mit X = {0} ein vollständiges ONS
existiert. Hat man eine abzählbare Menge {v0 , v1 , v2 , . . .}, die darüber hinaus dicht in
X liegt, dann kann man sie nach der Schmidtschen Orthogonalisierungsmethode (siehe
Zeidler (1995a), Abschnitt 3.3) zu einem ONS {u0 , u1 , u2 , . . .} machen.
Diese bilden die Grundlage für die Bifurkationstheorie im Kapitel 4. Wir werden zunächst
einige gebräuchliche Bezeichnungen und Sprechweisen für (nichtlineare) Operatoren ein-
führen.
Für diesen Abschnitt werden Vektorräume bzw. dort wo es erforderlich ist auch normierte
Räume X und Y zu Grunde gelegt. Zunächst folgen Schreibweisen für eine Abbildung:
Das Element v heißt Bild von u unter der Abbildung T (siehe Abbildung 1.1). Ist R(T ) =
Y
X
u T
v = Tu
0
R(T )
N (T )
Abb. 1.1 Begriffsbildungen anhand
einer Abbildung T : X → Y
Y , dann heißt T surjektiv. Man sagt: T bildet X auf Y ab, ansonsten bildet T die Menge
X in Y ab. Weiter bezeichnen wir mit
Das Urbild (auch inverses Bild ) eines Elementes v ∈ Y wird mit T (−1) (v) bezeichnet
und ist die folgende Menge
T (−1) (v) := {u ∈ X | T u = v}
T (−1) (W ) := {u ∈ X | T u ∈ W }.
1.2 Lineare Operatoren 19
X Y
T −1 (v) v
R(T )
T −1 (W ) W
Der Operator T −1 heißt dann inverser Operator bzw. Inverse von T , da er v nach u
eindeutig (zurück) abbildet. (Achtung: Man unterscheide T (−1) und T −1 !) Die Inverse
T −1 ist durch
T −1 : R(T ) → X, T −1 (T u) = u, ∀u ∈ X.
definiert. Falls R(T ) = Y (d. h. T ist surjektiv) und T auch noch injektiv ist, dann heißt
T bijektiv. Alle vorkommenden Typen einer Abbildung T findet man in den Beispielen
1.22 und 1.23.
Y
X
u1 T u 1 = v1
T u 2 = v2
u2
R(T )
Satz 1.20
Es seien X, Y normierte Räume und T : X → Y ein linearer Operator. Dann gilt:
Die nachfolgenden Begriffe werden nur für normierte Räume bzw. Banach-Räume benö-
tigt und somit auch nur in diesem Kontext formuliert, obwohl die Definitionen auch für
metrische Räume (topologische Räume) zutreffen.
Es seien zwei normierte Räume (X, ·X ) und (Y, ·Y ) und eine Abbildung T : X → Y
mit der Eigenschaft
gegeben. Dann heißt T eine Isometrie von X nach Y . Eine solche Abbildung ist stets
injektiv, da aus T (x) = T (y) sofort x = y folgt. Ist T sogar bijektiv, dann heißt T
isometrischer Isomorphismus und die Räume X und Y heißen isometrisch isomorph.
Im Fall normierter Räume spricht man auch von Norm-Isomorphismus. Die Aussage „X
und Y sind isometrisch isomorph“ wird üblicherweise als X ∼ = Y geschrieben. Die Ab-
bildung lässt also die Abstände zwischen den Bildern und den Urbildern von T invariant
(unverändert), wie Abbildung 1.4 zeigt.
X
Y
u
T Tu
u − v
T u − T v
v = u − v
Hinter dieser Begriffsbildung steckt die Vorstellung, wann zwei unterschiedliche Räume
„als gleich“ angesehen werden können: Nämlich dann, wenn man von der Darstellung
der Elemente der zugrunde liegenden Räume und den Namen der Relationen und Ver-
knüpfungen absieht. Als ein Beispiel für diesen Sachverhalt kann der Operator (1.12)
angeführt werden.
Ein Homöomorphismus T (nicht zu verwechseln mit Homomorphismus) ist ein zentraler
Begriff im mathematischen Teilgebiet Topologie. In diesem Buch bezeichnet T eine bi-
jektive, stetige Abbildung zwischen zwei normierten Räumen (bzw. Teilmengen), dessen
Umkehrabbildung ebenfalls stetig ist. Die dabei zugrunde gelegte Definition der Stetig-
1.2 Lineare Operatoren 21
keit ist abhängig von den betrachteten normierten Räumen. Zwei normierte Räume hei-
ßen homöomorph (auch „topologisch äquivalent“), wenn sie durch einen Homöomorphis-
mus ineinander überführt werden können. Sie sind unter topologischen Gesichtspunkten
gleichartig. Eine solche Abbildung spielt eine wesentliche Rolle beim Satz von Hartman
und Grobman (Satz 2.54).
3. Der Produktraum S(0; 1) × S(0; 1) des Einheitskreises mit sich selbst ist homöomorph
zum zweidimensionalen Torus, also zur Form eines Fahrradschlauches.
Ist der Homöomorphismus T darüber hinaus auch noch stetig differenzierbar, dann spre-
chen wir von einem Diffeomorphismus.
repräsentiert wird. Setzt man T11 = T21 = 1 und die restlichen Tij = 0, so ergibt sich
R(T ) = {y ∈ R2 | y1 = y2 } R2 ,
ker(T ) = {x ∈ R3 | x1 = 0}.
für die Dimension des Nullraumes dim ker(T ) ≥ 1 folgt. Der Rang von T ist durch
rang(T ) := dim R(T ) gegeben.
Falls T injektiv ist, kann niemals m < n sein. Dies würde wegen (1.13) sofort zu dem
Widerspruch n = rang (T ) ≤ min{n, m} = m führen. Somit hat man als notwendige
Bedingung für die Injektivität die Ungleichung m ≥ n. Ein Beispiel für eine injektive
Abbildung T = 0 mit m > n ist
T11
T :R→R , 2
T x := (x).
T21
Wegen rang(T ) = 1 folgt dim ker(T ) = 0, was man auch direkt nachrechnet.
Speziell hat man für n = m die folgende Situation: Ist die Determinante det(T ) = 0,
dann ist rang(T ) < n (mindestens zwei Zeilen der Matrix T sind linear abhängig) und
nach der Dimensionsformel (1.13) ist ker(T ) = {0}. Gilt hingegen für die Determinante
det(T ) = 0, dann ist rang(T ) = n und ker(T ) = {0}. Damit hat man die Aussage: T ist
entweder sowohl surjektiv als auch injektiv oder weder surjektiv noch injektiv.
Aus T u1 = T u2 folgt nämlich jetzt u1 = u2 , bzw. (u1 −u2 ) = 0, was wiederum bedeutet,
dass u1 − u2 = const. ist. Wegen u1 , u2 ∈ X folgt u1 (a) − u2 (a) = 0 = const. und damit
u1 (x) = u2 (x) für alle x ∈ [a, b]. Dies beweist die Injektivität.
Die Situation, dass man durch Einschränkung des Definitionsbereiches einer Funktion
f eine injektive Funktion erhalten kann, sieht man bereits ganz leicht an der Funktion
f (x) := sin(x). Betrachtet man f auf R, dann ist f wegen f (x1 + 2nπ) = f (x1 ) für jedes
x1 nicht injektiv, während f : [−π/2, π/2] → [−1, 1] sehr wohl injektiv ist. Die Inverse
ist definiert durch f −1 (y) := arcsin y.
1.2 Lineare Operatoren 23
Es folgt eine Auswahl an Begriffen und Sätzen über lineare stetige Operatoren. Dabei
wird kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben. Der Leser, der sich weitere Kenntnisse
über lineare Operatoren verschaffen möchte, sollte die Literatur (z. B. Appell und Väth
(2005), Alt (1992), Heuser (2006), Werner (1997), Kantorowitsch und Akilow (1978))
studieren. Die Auswahl an Begriffen und Sätzen ist jedoch so gewählt, dass auch ohne
weiteres Literaturstudium die nachfolgenden Kapitel verstanden werden können.
Wir betrachten lineare Abbildungen T : X → Y . Hierbei bezeichnen (X, · X ) und
(Y, · Y ) normierte Räume über demselben Körper K (= R ∨ C).
Mit diesem Begriff kann die Stetigkeit linearer Operatoren charakterisiert werden.
Lemma 1.24
Für lineare Operatoren T : X → Y sind die folgenden drei Bedingungen äquivalent:
(i) T ist stetig auf ganz X. (ii) T ist beschränkt. (iii) T ist stetig in x0 ∈ X.
Damit haben wir ein bemerkenswertes Ergebnis: Ein linearer Operator ist entweder in
jedem Punkt stetig oder in jedem Punkt unstetig.
Wir setzen
und nennen L(X, Y ) den Vektorraum der linearen stetigen Operatoren. Es lässt sich
nämlich leicht zeigen, dass L(X, Y ) mit den üblichen Operationen der Addition „+“ und
der skalaren Multiplikation „·“ ein Vektorraum ist.
Wir führen nun in L(X, Y ) eine geeignete Norm ein. Die kleinste Konstante C ≥ 0 mit
der die Ungleichung T u ≤ Cu gilt, wird mit T bezeichnet:
Die Zahl T heißt Operatornorm von T . Sie ergibt sich auch aus
T u
T = sup = sup T u = sup T u. (1.16)
u∈X u u≤1 u=1
u=0
L(X, Y ) → R+ , T → T
T − λI (T ∈ L(X, X), λ ∈ K) ,
die für jedes fest gewählte λ eine Abbildung von X in sich liefert.
Aus der Definition folgt, dass die Zahl λ = 0 dann und nur dann Eigenwert ist, wenn ein
x = 0 existiert, für das T x = 0 gilt, d. h. wenn T nicht injektiv ist. Mit Ausnahme der
Null sind also die Eigenwerte gerade die Kehrwerte der charakteristischen Werte von T
(und umgekehrt).
Beispiel 1.27
Es seien X := Rn und T ∈ L(Rn , Rn ). Dann ist T durch eine Matrix A := (aij )n i,j=1
darstellbar. Ist T invertierbar, so ist μ ∈ R genau dann charakteristischer Wert von
T , falls ker(I − μT ) = ker(λI − T ) = {0} ist. Die Zahlen λ = 1/μ sind genau die
Eigenwerte von T . Insbesondere gibt es höchstens n charakteristische Werte für T . Ist
T nicht invertierbar, so hat T noch den Eigenwert λ = 0 (der nicht Kehrwert eines
charakteristischen Wertes ist).
Wir wollen nun alle Werte λ kennzeichnen, für die die lineare Inverse (T − λI)−1 auf
(ganz) X existiert.
8
Studiert man reelle (bzw. komplexe) Banach-Räume X, so muss man auch λ ∈ R (bzw. λ ∈ C)
wählen.
1.2 Lineare Operatoren 25
R(λ; T ) ≡ Rλ (T ) := (T − λI)−1
ein (linearer) stetiger Operator ist, heißt Resolventenmenge ρ(T ) von T . Die Elemen-
te von ρ(T ) werden reguläre Werte von T genannt. Der Umkehroperator Rλ (T ) =
(T − λI)−1 des Operators T − λI heißt die Resolvente von T im Punkt λ. Die Komple-
mentärmenge der Resolventenmenge ρ(T ), die Menge
heißt Spektrum von T . Ein Element von σ(T ) wird Spektralwert von T genannt.
Ist T ∈ L(X, X), T = 0, so genügen alle charakteristischen Werte μ von T der Abschät-
zung |μ| ≥ 1/T . Das Spektrum eines linearen Operators ist also in einer Kreisscheibe
um Null mit Radius T enthalten.
Wenn U := T −λI eine lineare stetige Abbildung ist, die den normierten Raum X injektiv
auf sich abbildet, so existiert die Umkehrabbildung U −1 : X → X, d. h. die Gleichung
U x = y ist äquivalent zur Gleichung x = U −1 y für x, y ∈ X. Der Operator U −1 ist
linear, aber nicht notwendig stetig. Ist aber zusätzlich X ein Banach-Raum, dann muss
U −1 notwendig auch stetig sein. Dies wird durch das Open Mapping Theorem (Satz 1.34)
begründet.
Somit gehört eine Zahl λ genau dann zur Resolventenmenge eines auf einem Banach-
Raum X definierten linearen stetigen Operators T , wenn die Abbildung T − λI eine
injektive Abbildung von X auf sich (also bijektiv) ist. Die Gleichung
T x − λx = y
ist dann für jedes y ∈ X mit genau einem x lösbar und dieses x hängt stetig von y ab
(falls y variiert wird).
Die Resolventenmenge ρ(T ) und das Spektrum σ(T ) lassen sich auch noch wie folgt
charakterisieren:
Satz 1.29
Die Resolventenmenge ρ(T ) ist eine (in K) offene Menge, das Spektrum σ(T ) ist eine
abgeschlossene und beschränkte Menge.
Das Spektrum σ(T ) kann im Fall eines reellen Banach-Raumes (z. B. X := Rn ) auch
leer sein. Für komplexe Banach-Räume X kann man zeigen, dass für T ∈ L(X, X) das
26 1 Funktionalanalytische Grundlagen
Spektrum σ(T ) = ∅ ist. Der Nachweis beruht auf einem funktionentheoretischen Ergebnis
und wird nicht erbracht (siehe hierzu Heuser (2006), Satz 96.1).
Nicht in jedem Fall lässt sich das Spektrum eines linearen Operators in so einfacher Weise
wie in Beispiel 1.27 charakterisieren. Es zerfällt in mehrere qualitativ verschiedene Teile.
σp (T ) := {λ ∈ K | ker(λI − T ) = {0}},
Bemerkung 1.31
1. Es gilt die Gleichung σ(T ) = σp (T ) ∪ σc (T ) ∪ σr (T ) und die einzelnen Mengen sind
paarweise disjunkt.
2. λ ∈ ρ(T ) ⇔ T − λI ∈ L(X, X) ist bijektiv. Diese Äquivalenzaussage gilt, da aus
dem Satz von Banach (Open Mapping Theorem, Satz 1.34) die Stetigkeit der Inversen
(T − λI)−1 folgt.
3. Es sei ker(T − λI) = {0}. Nur dann gibt es ein x ∈ X, x = 0 mit (T − λI)x = 0.
Somit ist λ ein Eigenwert und sämtliche Eigenwerte liegen im Punktspektrum σp (T ).
4. Es sei X := Kn . Die Eigenwerte λ können durch die Berechnung der Determinate von
(T − λI) charakterisiert werden. Es gilt die Aussage: det(T − λI) = 0 ⇔ ker(T −
λI) = {0}. Dies hat – wie bereits in Beispiel 1.22 ausgeführt – zur Folge: T − λI ist
entweder sowohl surjektiv als auch injektiv oder weder surjektiv noch injektiv. Für einen
endlichdimensionalen Vektorraum besteht also das kontinuierliche Spektrum und das
Residualspektrum nur aus der leeren Menge: σc (T ) = σr (T ) = ∅. Somit kann ein solcher
Operator nur reguläre Werte und Eigenwerte besitzen.
5. Die Menge σs (T ) := σ(T )\σp (T ) = σc (T ) ∪ σr (T ) heißt Streckenspektrum. Für einen
unendlichdimensionalen Banach-Raum X ist im Allgemeinen σs (T ) = ∅. Dies ist der
wesentliche Unterschied zu dim X < ∞.
Das Beispiel 1.63 zeigt, dass das Spektrum nur aus dem Residual- bzw. aus dem konti-
nuierlichen Spektrum bestehen kann und dies sogar für (lineare) kompakte Operatoren
(siehe Definition 1.55) zutrifft. Damit hat man auch sofort ein Beispiel dafür, dass ein
linearer stetiger Operator T ∈ L(X, X) mit dim X = ∞ keine Eigenwerte haben kann!
1.2 Lineare Operatoren 27
Das nächste (wenn auch etwas künstliche) Beispiel zeigt, dass alle Typen von Spektral-
punkten tatsächlich vorkommen können.
Beispiel 1.32
Es seien die Räume
B[0, 1] := {x : [0, 1] → R | x beschränkt auf [0, 1]} , xB := sup |x(t)| ,
t∈[0,1]
Wir wollen eine wichtige Aussage über lineare stetige Operatoren vorbereiten und benö-
tigen dazu den Begriff der offenen Abbildung.
U offen in X ⇒ T (U ) offen in Y.
Ist T bijektiv, so ist T offen genau dann, wenn T −1 stetig ist. Sind X, Y normierte
Räume und ist T : X → Y linear, so gilt:
T ist offen ⇔ Es gibt ein δ > 0 mit KY (0; δ) ⊂ T (KX (0; 1)).
Beweis: Wir wollen hier nur die Richtung „⇐“ beweisen. Es sei U offen und x ∈ U .
Man wähle ein ε > 0 mit KX (x; ε) ⊂ U . Wegen KY (0; δ) ⊂ T (KX (0; 1)) folgt dann
KY (T x; εδ) ⊂ T (KX (x; ε)) ⊂ T (U ), also ist T (U ) offen.
Der nächste Satz, der die Begriffe surjektive und offene Abbildung in Beziehung setzt,
ist in Zeidler (1995b), Theorem 3.C und Proposition 1 bzw. auch in Alt (1992), Sätze 5.7
und 5.8 bewiesen.
Die letzte Aussage geht auf S. Banach zurück und wird auch als Satz über die stetige
Inverse bezeichnet. Nur diesen Teil der Aussage werden wir im Weiteren benutzen.
Für den später noch einzuführenden Begriff des adjungierten Operators ist es wichtig,
zunächst den Dualraum eines normierten Raumes X zu erklären. Dazu benötigen wir
den Begriff des Funktionals. Dieses ist eine Abbildung f : X → K. Der Dualraum
X ∗ bezeichnet nun alle linearen stetigen Funktionale auf einem normierten Raum X:
X ∗ := L(X, K). Der Dualraum X ∗ ist ein Banach-Raum und wird benötigt, um Lösbar-
keitsaussagen für lineare Gleichungen allgemein zu formulieren. Grundlage hierfür sind
Eigenschaften von linearen stetigen Funktionalen. Auf Beweise wird verzichtet. Sie sind
ausführlich in Zeidler (1995b) dargestellt.
Aus dieser Eigenschaft kann man Folgerungen ziehen, die für das Verständnis von Aus-
sagen, insbesondere Kapitel 4 betreffend, benötigt werden.
Korollar 1.36
Es seien X ein normierter Raum und f ∈ X ∗ gegeben. Dann gilt:
i. Zu jedem Element x0 ∈ X, x0 = 0, existiert ein lineares stetiges Funktional f ∈ X ∗
mit der Eigenschaft
fi (xj ) = δij , i, j = 1, . . . , n.
Zu der Eigenschaft ii. sagt man auch: Das System von Elementen {xj } ⊂ X (j =
1 . . . , n) lässt sich biorthogonalisieren, falls ein System von Funktionalen {fi } ⊂ X ∗
(i = 1, . . . , n) existiert, so dass die Relationen fi (xj ) ≡ fi , xj = δij (i, j = 1, . . . , n)
bestehen. Das Symbol δij heißt Kronecker 9 -Symbol und ist definiert als δij := 1 (für i =
j) und 0 (für i = j). Weitere Eigenschaften von Funktionalen sind in der Aufgabe 1.10
genannt.
9
Leopold Kronecker (1823–1891), deutscher Mathematiker, Mitherausgeber des von Crelle be-
gründeten Journals für Mathematik. Bekannt wurde sein Ausspruch: „Die ganzen Zahlen hat der
liebe Gott gemacht, alles andere ist Menschenwerk.“
1.2 Lineare Operatoren 29
So wie einem normierten Raum X mit dem Dualraum X ∗ kanonisch ein zweiter nor-
mierter Raum zugeordnet wird, soll nun zu einem stetigen linearen Operator ein weiterer
Operator assoziiert werden. Als ein besonders wichtiges Instrument bei der Untersuchung
linearer Operatoren bzw. Operatorgleichungen hat sich der Begriff des adjungierten Ope-
rators erwiesen. Er wird u. a. benötigt, um die Fredholmsche Alternative in geeigneter
Weise zu formulieren.
Im Folgenden seien (X, · ), (Y, · ) normierte Räume und X ∗ = L(X, K), Y ∗ =
L(Y, K) die dazugehörigen Dualräume. Elemente aus einem Dualraum werden zur besse-
ren Unterscheidung von jetzt ab mit einem ∗ versehen. Sie sind stets mit der Operator-
norm, also f ∗ X ∗ := supx=1 |f ∗ (x)| ausgestattet und wegen der Vollständigkeit von
K sind X ∗ und Y ∗ Banach-Räume. Man nennt „x, f ∗ “ auch ein Dualitätspaar.
Ist X := H ein Hilbert-Raum und X ∗ = H ∗ , dann bevorzugen wir für x∗ (x) die Schreib-
weise x, x∗ H := x∗ (x) mit x ∈ H und x∗ ∈ H ∗ . Der Ausdruck x, x∗ H bezeichnet
das Skalarprodukt im Hilbert-Raum H. Die Rechtfertigung für diese Schreibweise geht
auf einen Satz von Riesz zurück, der einen (schönen) Zusammenhang zwischen H und
H ∗ liefert.
Die Abbildung
Mit J als Isomorphismus, f ∗ = Jx0 und der eingeführten Schreibweise ergibt sich die
Formel
(Jx0 )(x) = x, x0 H .
Diese Überlegung erleichtert das Verständnis der folgenden
Bemerkung 1.39
1. Es seien X und Y Hilbert-Räume und T ∈ L(X, Y ). Dann ist der adjungierte Operator
T ∗ ∈ L(Y, X) und charakterisiert durch die Beziehung
T x, yY = x, T ∗ yX für x ∈ X, y ∈ Y .
Der Operator T ∈ L(X, X) heißt selbstadjungiert, falls T ∗ = T . In diesem Fall nennt
man T auch symmetrischen Operator. Dieser Begriff macht nur für Hilbert-Räume einen
Sinn, da dort aufgrund des Satzes 1.37 von Riesz zwischen den Räumen X und X ∗ ein
Norm-Isomorphismus besteht und somit die beiden Räume aus funktionalanalytischer
Sicht als „gleich“ angesehen werden können.
2. In beliebigen Banach-Räumen wird der adjungierte Operator im Allgemeinen in einem
anderen Raum als dem Ausgangsraum definiert sein. In diesem Fall ist also eine Verall-
gemeinerung des Begriffes „selbstadjungierter Operator“ nicht möglich.
3. T ∗ f ∗ ist die Komposition (Hintereinanderausführung) zweier linearer stetiger Abbil-
dungen und daher selbst wieder linear, stetig und es gilt T ∗ f ∗ ∈ X ∗ .
4. Die Abbildung T → T ∗ von L(X, Y ) nach L(Y ∗ , X ∗ ) ist linear und isometrisch, d. h.
T = T ∗ . Sie ist im Allgemeinen nicht surjektiv (siehe Werner (1997), Satz III.4.2).
Beispiel 1.40
Es seien X := Rn und Y := Rm (mit der Euklidischen Norm), T ∈ L(X, Y ) eine gege-
bene lineare Abbildung. Bekanntlich wird T (bei gegebenen Basen) durch eine (m, n)-
Matrix
A := (tij ) 1≤i≤m
1≤j≤n
dargestellt. Die zu T adjungierte Abbildung T ∗ ist dann durch die (n, m)-Matrix
A∗ := (t∗ij ) 1≤i≤n mit t∗ij := tji
1≤j≤m
Es seien T, S ∈ L(X, Y ) gegeben und X, Y normierte Räume. Dann gelten für den Über-
gang zu den adjungierten Operatoren T ∗ , S ∗ ∈ L(Y ∗ , X ∗ ) die folgenden Rechenregeln:
(i) (T + S)∗ = T ∗ + S ∗ ; (ii) (λT )∗ = λT ∗ (λ ∈ K); (iii) I ∗ = I;
(iv) (T −1 )∗ = (T ∗ )−1 (X, Y Banach-Räume);
(v) Es seien T ∈ L(X, Y ) und S ∈ L(Y, Z). Dann ist ST ∈ L(X, Z) und es gilt
(ST )∗ = T ∗ S ∗ .
(vi) Sind X und Y Banach-Räume und ist T ∈ L(X, Y ), so ist T genau dann kompakt,
wenn T ∗ : Y ∗ → X ∗ kompakt ist. (Kompakter Operator : siehe Abschnitt 1.2.6.)
1.2 Lineare Operatoren 31
Aus den Eigenschaften (i)-(iii) folgt speziell (T − λI)∗ = T ∗ − λI und für Banach-Räume
X, Y aus (iv) die Beziehung
Beispiel 1.41
Es sei k : [c, d] × [a, b] → R eine stetige Funktion zweier Variabler (s, t) ∈ [c, d] × [a, b].
Der lineare Operator
b
T : L2 [a, b] → L2 [c, d] , (T x)(s) := k(s, t)x(t) dt (s ∈ [c, d] , x ∈ L2 [a, b])
a
bildet den Hilbert-Raum X := L2 [a, b] stetig in den Hilbert-Raum Y := L2 [c, d] ab. Dies
folgt aus
d d b 2
T x2L2 [c,d] = [(T x)(s)] ds = 2
k(s, t)x(t) dt ds
c c a
(1.4) d " b b #
≤ [k(s, t)]2 dt · [x(t)]2 dt ds
c a a
d b
= [k(s, t)]2 dt ds · x2L2 [a,b]
c a
d b
2
= C · x2L2 [a,b] , 2
C := [k(s, t)]2 dt ds .
c a
Es wurde u. a. die Cauchy-Schwarzsche-Ungleichung (1.4) für den L2 [a, b] mit der Norm
!b
x2 := a [x(t)]2 dt verwendet.
Für die Herleitung des adjungierten Operators T ∗ benötigt man den Satz von Fubini
(siehe z. B. Hoffmann et al. (2006), S. 678), der eine Aussage über die Vertauschbarkeit
der Integrationsreihenfolge macht. Der zu T adjungierte Operator T ∗ berechnet sich aus
der Definitionsgleichung
d d b
T x, yL2 [c,d] = (T x)(s) · y(s) ds = k(s, t)x(t) dt · y(s) ds
c c a
d b b d
(Fubini)
= k(s, t)x(t)y(s) dt ds = k(s, t)x(t)y(s) ds dt
c a a c
b d b
= x(t) k(s, t)y(s) ds dt = x(s) · (T ∗ y)(s) ds
a
$c %& ' a
=: (T ∗ y)(t)
Der Nullraum einer Abbildung T und ihr Wertevorrat stehen in einem interessanten
und für spätere Anwendungen wichtigen Zusammenhang zum adjungierten Operator T ∗ .
Dazu führen wir zuvor zwei Notationen ein: Falls M ⊂ X, dann ist
M ⊥ := {f ∗ ∈ X ∗ | x ∈ M ⇒ f ∗ (x) = 0} ⊂ X ∗ .
N⊥ := {x ∈ X | f ∗ ∈ N ⇒ f ∗ (x) = 0} ⊂ X.
Der Leser möge dieses Symbol mit dem Begriff des orthogonalen Komplements, wie es
im Hilbert-Raum erklärt ist, vergleichen. Für lineares T sind ker(T ) und R(T ) stets
Untervektorräume; für stetiges T ist ker(T ) = T (−1) (0) stets abgeschlossen. Hingegen
braucht R(T ) nicht abgeschlossen zu sein (siehe Beispiel 1.52). Es gilt jedoch der folgende
Satz, für dessen Beweis wird auf Drábek und Milota (2007), Prop. 2.1.27, bzw. auch
Werner (1997), Satz III.4.5. verwiesen.
Mit R(T ) ist auch R(T ∗ ) abgeschlossen. Man beachte, dass die Bedingung R(T ) =
(ker(T ∗ ))⊥ aus dem Satz keine hinreichende Bedingung für die Lösbarkeit der Gleichung
Tx = b, x ∈ X, b ∈ Y (1.19)
T ∗ x∗ = b∗ , x∗ ∈ Y ∗ , b ∗ ∈ X ∗ : (1.20)
1.2 Lineare Operatoren 33
i. Für gegebenes b ∈ Y hat die Originalgleichung (1.19) eine Lösung, genau dann wenn
die Bedingung
x∗ (b) = 0 (1.21)
für alle Lösungen x∗ der adjungierten homogenen Gleichung (1.20) erfüllt ist.
ii. Umgekehrt gilt für gegebenes b∗ ∈ X ∗ , dass die adjungierte Gleichung (1.20) eine
Lösung genau dann hat, wenn die Bedingung
b∗ (x) = 0 (1.22)
x∗ (b) = x∗ (T x) = (T ∗ x∗ )(x) = 0 .
b∗ (x) = (T ∗ x∗ )(x) = x∗ (T x) = 0 .
Dies ist die Lösbarkeitsbedingung (1.22) für die adjungierte Gleichung (1.20).
Falls X und Y endlichdimensionale Räume sind, dann ist R(T ) automatisch abgeschlos-
sen. Die Aussagen i. und ii. stimmen mit den klassischen Resultaten für endliche lineare
Gleichungssysteme überein.
Einerseits gibt es Operatoren, deren Wertevorrat nicht abgeschlossen ist. Das Beispiel
1.52 untersucht diesen Sachverhalt. Mitunter ist es nicht schwer zu entscheiden, ob ein
Operator einen abgeschlossenen Wertevorrat hat oder nicht (siehe Aufgabe 2.11).
Andererseits gibt es eine (große) Klasse von Operatoren, die einen abgeschlossenen Wer-
tebereich haben, nämlich die so genannten Fredholm-Operatoren. Diesen werden wir uns
im Unterabschnitt 1.2.5 zuwenden.
Sind (X, · X ) und (Y, · Y ) zwei normierte Räume, so ist der Produktraum X × Y
wie üblich als Menge aller Paare (x, y) mit x ∈ X und y ∈ Y definiert. Als Norm auf
X × Y kann man etwa
wählen. Sind X und Y Banach-Räume, so ist X × Y mit jeder dieser Norm wieder ein
Banach-Raum.
34 1 Funktionalanalytische Grundlagen
X1 + X2 := {x1 + x2 | x1 ∈ X1 , x2 ∈ X2 }.
Im Fall X1 ∩ X2 = {0} schreibt man X1 ⊕ X2 statt nur X1 + X2 und nennt dies die
direkte Summe von X1 und X2 . Der Zusammenhang zu dem Produktraum X1 × X2 kann
durch die Zuordnung
hergestellt werden.
Darauf aufbauend wollen wir eine besonders einfache Klasse von linearen Operatoren
untersuchen, die wir auch Projektor bzw. Projektionsoperator nennen. Dies sind lineare
Operatoren P : X → X, für die P 2 = P gilt. Mit P ist dann auch Q := I − P
eine Projektion. Hierbei gilt ker(P ) = R(Q) und R(P ) = ker(Q). Die Darstellung x =
(x − P x) + (P x) liefert zu jeder Projektion P eine Zerlegung von X als direkte Summe
X = ker(P ) ⊕ R(P ). Dies sieht man leicht: Aus y ∈ ker(P ) ∩ R(P ) folgt P y = 0 und
y = P x für ein x ∈ X, also 0 = P y = P 2 x = P x = y.
Diese Argumentation kann man auch umkehren. Ist nämlich X = X1 ⊕ X2 mit zwei
Unterräumen X1 , X2 ⊂ X, so definiert man einen Projektionsoperator P wie folgt: Ist
x = x1 + x2 mit x1 ∈ X1 und x2 ∈ X2 , so setzt man P x := x2 . Die Abbildung
P : X → X ist offensichtlich linear und erfüllt X1 = ker(P ) und X2 = R(P ), sowie
P 2 = P . Man drückt diesen Sachverhalt durch die folgende Sprechweise aus: P ist eine
Projektion von X auf X2 längs X1 . Offensichtlich ist dann Q := I − P die Projektion
von X auf X1 längs X2 .
Beispiel 1.43
1. Es sei X = R2 = X1 ⊕ X2 , wobei X1 und X2 zwei Geraden sind (siehe Abbildung
1.5). Die Projektion P : X → X auf X1 entlang X2 entspricht der gewöhnlichen Paral-
lelprojektion auf X1 parallel zu X2 . Da P stetig ist, repräsentiert R2 = X1 ⊕ X2 eine
direkte Summe. Sowohl ker(P ) als auch R(P ) sind abgeschlossene Unterräume von R2 .
2. Wir betrachten im Folgenraum X := lp (1 ≤ p < ∞) für jedes n ∈ N den linearen
Operator
Man rechnet leicht nach, dass alle Pn Projektionsoperatoren und ker(Pn ) und R(Pn )
abgeschlossene Unterräume von lp sind.
Voran stehendes Beispiel lässt vermuten, dass es zwischen der Beschränktheit der Pro-
jektion P und den jeweiligen Unterräumen einen Zusammenhang gibt.
1.2 Lineare Operatoren 35
R2 X1
P x1
x1 + x2
Satz 1.44
Es sei X := X1 ⊕ X2 ein Banach-Raum und P die Projektion von X auf X2 längs X1 .
Genau dann ist P beschränkt, wenn X1 und X2 beide abgeschlossen in X sind.
Nach diesem Satz gibt es also bei gegebenem Banach-Raum X und abgeschlossenem
Unterraum X1 ⊂ X immer genau dann eine stetige Projektion von X auf X1 , wenn ein
weiterer abgeschlossener Unterraum X2 ⊂ X mit X = X1 ⊕ X2 existiert.
Nicht jeder Unterraum eines Banach-Raumes X kann als Wertebereich eines gewissen
stetigen Projektionsoperators dargestellt werden (siehe Dunford und Schwartz (1964),
Bd. I). Im Hilbert-Raum kann man auf jeden abgeschlossenen Unterraum projizieren.
Insbesondere kann man stets auf endlichdimensionale Unterräume X1 ⊂ X stetig proji-
zieren. Somit gibt es dann auch immer einen abgeschlossenen Unterraum X2 ⊂ X mit
X = X1 ⊕ X2 (nämlich X2 := ker(P )). Einen kurzen Beweis für die letzte Behauptung
findet man in Appell und Väth (2005).
Nun können wir die Kodimension eines linearen Teilraumes X1 von X erklären. Der
Begriff ist ein rein algebraischer Begriff, der nicht von einer Norm auf X abhängt. Wir
passen die Definition dieses Begriffes an die weitere Vorgehensweise an, indem wir im
Folgenden stets davon ausgehen, dass ein normierter Raum X vorliegt und dieser in eine
direkte Summe von abgeschlossenen Unterräumen X = X1 ⊕ X2 aufgesplittet werden
kann. Die Kodimension von X1 ist die Dimension eines beliebigen Unterraumes X2 von
X, der die Bedingung X = X1 ⊕ X2 erfüllt. Es ist dann codim X1 = dim X2 und
außerdem gilt für dim X < ∞: codim X1 = dim X − dim X1 .
codim X1 = n − m .
1.2.5 Fredholm-Operatoren
In Anwendung der Begriffsbildungen aus Abschnitt 1.2.4 beschäftigen wir uns mit der
linearen Operatorgleichung
Tx = b, x∈X. (1.23)
Satz 1.46
Es seien der Operator T : X → Y linear und X, Y lineare Räume über K. Es sei X1 ein
festes algebraisches Komplement des Nullraumes ker(T ), d. h. X1 ist linearer Teilraum
von X, so dass
X = ker(T ) ⊕ X1 . (1.24)
T : X1 → R(T ) (1.25)
ii. Zusätzlich wird vorausgesetzt, dass X und Y Banach-Räume, X1 und R(T ) abge-
schlossen und T : X → Y stetig sind. Dann ist der Operator (1.25) ein linearer
Homöomorphismus.
Wir erinnern noch einmal daran, dass R(T ) = T (X) und die Zahl dim R(T ) der Rang
von T genannt wird. Symbol: rang (T ) := dim R(T ).
Beweis: Zu i.: Die Abbildung 1.25 ist definitionsgemäß surjektiv. Aus T x = 0 mit
x ∈ X1 folgt x ∈ ker(T ) ∩ X1 und somit x = 0, folglich injektiv.
Zu ii.: Dies folgt aus dem Open Mapping Theorem 1.34.
Eine besonders einfache Situation ergibt sich für dim X < ∞ und dim Y < ∞. Es sei S :
X1 → R(T ) die Einschränkung des Operators T : X → R(T ) auf den linearen Unterraum
X1 von X. Dann ist für gegebenes b ∈ R(T ) die Lösungsmenge der Originalgleichung
(1.23) gegeben durch
S −1 b + ker(T ) := {S −1 b + x | x ∈ ker(T )} ,
Beispiel 1.47
Es seien X := l2 und der Operator
T : l2 → l2 , T (x1 , x2 , x3 , . . .) := (x2 , x3 , x4 , . . .)
als die so genannte Linksverschiebung gegeben. Die Gleichung T x = y hat für jedes
y = (y1 , y2 , y3 , . . .) ∈ X eine Lösung, diese ist jedoch nicht eindeutig bestimmt. Jedes
x = (a, y1 , y2 , y3 , . . .) mit beliebigem a ∈ R ist Lösung. Darüber hinaus ist λ = 0 ein
Eigenwert, da x = (a, 0, 0, 0, . . .) mit a ∈ R\{0} im Nullraum von T liegt, d. h. es ist die
Gleichung T x = 0 erfüllt.
Eine entsprechende Überlegung im Raum X := l2 kann mit der Rechtsverschiebung
T : l2 → l2 , T (x1 , x2 , x3 , . . .) := (0, x1 , x2 , . . .)
T x = y, x∈X (1.27)
T ∗ x∗ = y ∗ , x∗ ∈ Y ∗ (1.28)
38 1 Funktionalanalytische Grundlagen
für gegebene y ∗ ∈ X ∗ . Wir suchen eine Klasse linearer Operatoren T , für die die bekann-
ten Lösbarkeitseigenschaften klassischer linearer Gleichungssysteme mit X := Rn und
Y := Rm soweit wie möglich erhalten bleiben. Diese Klasse wird durch die Fredholm-
Operatoren geschaffen. Die wichtigste Aussage über die Lösung linearer Operatorglei-
chungen ist die Fredholmsche Alternative, die von Fredholm 10 zuerst für eine nach ihm
benannte Klasse von linearen Integralgleichungen gefunden wurde. Wir geben zunächst
den Begriff des Fredholm-Operators an.
Jeder Fredholm-Operator T ∈ L(X, Y ) mit Index Null erfüllt die Fredholmsche Al-
ternative, denn T ist genau dann injektiv (dim ker(T ) = 0), wenn T surjektiv ist
(codim R(T ) = 0).
Die Endlichkeit der Kodimension des Bildes von T bedeutet, dass der Raum Y die Dar-
stellung Y = R(T ) ⊕ Y0 mit einem endlichdimensionalen Unterraum Y0 ⊂ Y hat. Es
gilt dann: codim R(T ) := dim Y0 . Jedes Element y ∈ Y hat die einzige Darstellung
y = yR(T ) + yY0 mit yR(T ) ∈ R(T ) und yY0 ∈ Y0 . Allgemein gilt die folgende Aussage:
Gibt es einen abgeschlossenen Unterraum Y1 ⊂ Y mit Y = R(T ) ⊕ Y1 , so ist R(T )
abgeschlossen in Y (siehe Appell und Väth (2005), Satz 7.6 oder auch Zeidler (1986),
Proposition 8.14).
Den Prototyp eines Fredholm-Operators haben wir bereits (unbewusst) in der Theorie
der linearen Gleichungssysteme kennen gelernt, wie nachfolgendes Beispiel zeigt.
Beispiel 1.49
Für X := Kn und Y := Km ist jeder lineare Operator T : X → Y ein Fredholm-
Operator mit Index ind (T ) = n − m. Dies sieht man wie folgt: Es sei r := rang (T ). Um
den Index zu berechnen, schreiben wir
X = ker(T ) ⊕ X1 , Y = R(T ) ⊕ Y1 .
Der Operator T̂ := T |X1 mit T̂ : X1 → R(T ) ist bijektiv. Somit ist dim X1 = r und es
gilt
Beispiel 1.50
Es sei wie in Beispiel 1.47
Beispiel 1.51
Es sei wie in Beispiel 1.47
Wir betrachten ein Beispiel eines linearen stetigen Operators, der kein Fredholm-
Operator ist.
Beispiel 1.52
Es seien X = Y := C 0 [−1, 1] und beide Räume mit der Max-Norm ausgestattet. Der
Operator T sei definiert durch
s
T :X→Y , (T x)(s) := x(t) dt (s ∈ [−1, 1]) .
−1
Man rechnet leicht nach, dass T = 2 gilt. Aus (T x)(s) ≡ 0 folgt sofort x(s) ≡ 0, also
ist T injektiv. Nach dem Hauptsatz der Differenzial- und Integralrechnung bildet T den
Raum C 0 [−1, 1] tatsächlich in den Raum C 1 [−1, 1] ab. Der Wertevorrat von T ist
Damit ist klar, dass T nicht surjektiv ist. Wir überlegen uns, dass R(T ) nicht abgeschlos-
sen ist. Dazu ist zu zeigen, dass es eine Folge (yn ) mit (yn ) ⊂ R(T ), yn → y ∈ C 0 [−1, 1]
und y ∈ R(T ) gibt. Wir betrachten
⎧
⎪
⎨ 0, −1 ≤ t < 0
xn (t) := nt , 0 ≤ t < 1/n
⎪
⎩
1, 1/n ≤ t ≤ 1 .
40 1 Funktionalanalytische Grundlagen
ind(T + S) = ind(T ).
iv. Der duale Operator T ∗ ist ebenfalls ein Fredholm-Operator und es ist
Die duale Gleichung (1.28) hat eine Lösung für festes y ∗ ∈ X ∗ , genau dann, wenn
y ∗ (x) = 0 für alle x ∈ ker(T ).
1.2 Lineare Operatoren 41
Die Menge K(X, Y ) in iii. bezeichnet die Klasse der linearen kompakten Operatoren.
Diese werden in Abschnitt 1.2.6 ausführlich diskutiert.
Beweis: Zu i.: Der Operator T : X → Y ist wegen ker(T ) = {0} injektiv und ind(T ) = 0
impliziert codim (R(T )) = 0, d. h. R(T ) = Y . Damit ist T auch surjektiv. Die Stetigkeit
von T −1 folgt nun aus dem Open Mapping Theorem (Satz 1.34).
Zu ii.: Diese Aussage gilt bereits, wenn R(T ) lediglich abgeschlossenen ist. Wir zeigen
zuerst die Notwendigkeit der Bedingung. Es sei also T x = y lösbar (etwa durch x = x0 )
und T ∗ x∗ = 0. Aus Gründen der übersichtlicheren Darstellung setzen wir x∗ , y :=
x∗ (y). Dann ist x∗ , y = x∗ , T x0 = T ∗ x∗ , x0 = 0, x0 = 0. Damit ist x∗ , y = 0
eine notwendige Lösbarkeitsbedingung.
Nun gelte x∗ , y = 0 für alle x∗ ∈ ker(T ∗ ). Wäre T x = y nicht auflösbar, läge also y
nicht im (abgeschlossenen) Unterraum T (X), so gäbe es nach Korollar 1.36 ein x∗ in Y ∗
mit
Beispiel 1.54
Mit Hilfe des Index eines Fredholm-Operators kann man Eigenschaften einer Abbildung
charakterisieren: Es sei T : X → Y ein linearer Fredholm-Operator, X und Y normierte
Räume über K. Dann gilt:
i. T surjektiv ⇔ ind (T ) = dim ker(T ).
ii. T injektiv ⇔ dim ker(T ) = 0 (d. h. ind (T ) = −codim R(T )).
iii. T bijektiv ⇔ ind (T ) = dim ker(T ) = 0.
iv. Falls X und Y Banach-Räume sind, dann hat die Gleichung T x = b, x ∈ X, für
jedes b ∈ Y genau eine Lösung, genau dann wenn ind (T ) = dim ker(T ) = 0 gilt.
Weitere Eigenschaften über Fredholm-Operatoren lassen sich beweisen, wenn man den
Begriff des linearen kompakten Operators einbezieht. Im Zusammenhang mit Eigenwert-
gleichungen der Form (λI − T )x = y ist T stets aus L(X, X). Solche Operatoren können
sich als spezielle Fredholm-Operatoren erweisen. Wenn man darüber hinaus für lineare
42 1 Funktionalanalytische Grundlagen
stetige Operatoren den Begriff Stetigkeit durch Kompaktheit ersetzt, dann lassen sich Er-
gebnisse über lineare stetige Operatoren von dem Rn auf unendlichdimensionale Räume
in geeigneter Weise übertragen.
Während lineare stetige Operatoren beschränkte Mengen in beschränkte Mengen über-
führen, sind kompakte Operatoren durch die folgende Eigenschaft gekennzeichnet:
Bemerkung 1.56
1. Da jeder lineare Operator insbesondere homogen ist, genügt es für die Kompaktheit
eines Operators zu zeigen, dass er die Einheitskugel KX [0; 1] in eine präkompakte Teil-
menge von Y überführt.
2. Für T1 ∈ L(X, Y ) und T2 ∈ L(Y, Z) gilt:
T1 oder T2 kompakt ⇒ T2 T1 kompakt.
3. Ist Y ein Banach-Raum, so ist K(X, Y ) ein abgeschlossener Unterraum von L(X, Y )
(siehe Appell und Väth (2005), Lemma 5.2). Insbesondere gilt dann:
Hat man also Operatoren auf Banach-Räumen definiert, dann kann man unter Ausnut-
zung der Abgeschlossenheit von K(X, Y ) in L(X, Y ) neue kompakte Operatoren aus
1.2 Lineare Operatoren 43
Beispiel 1.57
Es sei X := Y := l1 und T : X → Y definiert durch
T (ξ1 , ξ2 , ξ3 , . . .) := ξ1 , 12 ξ2 , 13 ξ3 , . . . . (1.30)
Wegen
∞
1 1
∞
1
T x − Tn xl1 = |ξk | ≤ |ξk | ≤ xl1
k n+1 n+1
k=n+1 k=n+1
ist T − Tn ≤ 1/(n + 1), d. h. (Tn )n∈N ist normkonvergent gegen T . Somit ist nach der
Bemerkung 1.56 der Operator T kompakt.
Wir haben bis jetzt die Kompaktheit linearer Operatoren mit Hilfe der Aussage aus
Bemerkung 1.56 bewiesen. Hierzu musste man sich stets endlichdimensionale Operatoren
Tn einfallen lassen, die den zu untersuchenden Operator in Bezug auf die Normkonvergenz
beliebig genau approximieren. Falls man solche Operatoren nicht findet, kann man diese
Untersuchungsmethode nicht anwenden.
Wenn es sich jedoch um Abbildungen aus C 0 in C 0 handelt, kann man das Kompakt-
heitskriterium von Arzelà 11 und Ascoli 12 heranziehen. Einen Beweis dieses Satzes findet
man in Appell und Väth (2005), S. 49.
Wir untersuchen nun eine Klasse von (nichtlinearen) Integraloperatoren auf Kompakt-
heit.
11
Cesare Arzelà (1847–1912) war ein italienischer Mathematiker und wurde 1880 als Professor an
die Universität Bologna berufen. 1889 wurde der Satz von Ascoli von ihm zum Satz von Arzelà-Ascoli
verallgemeinert.
12
Giulio Ascoli (1843–1896) war ein italienischer Mathematiker. Auf ihn ist der Satz von Arzelà-
Ascoli zurückzuführen.
44 1 Funktionalanalytische Grundlagen
Beispiel 1.59
Gegeben seien X := C 0 [a, b] (−∞ < a < b < ∞) und der Integraloperator
b
(T x)(s) := F (s, t, x(t)) dt für alle s ∈ [a, b].
a
T : M → X, M := {x ∈ X | x ≤ r}
ist kompakt.
Die stetige Funktion F ist auf der kompakten Menge Q sogar gleichmäßig stetig. Dies
impliziert, dass es für jedes ε > 0 eine Zahl δ > 0 gibt, so dass
für alle (s1 , t, x1 ), (s2 , t, x2 ) ∈ Q mit |s1 − s2 | + |x1 − x2 | < δ. Wir zeigen zuerst die
Stetigkeit von T . Falls x ∈ M , dann ist die Funktion x : [a, b] → R und |x(t)| ≤ r für
alle t ∈ [a, b]. Somit ist die Funktion T x : [a, b] → R ebenfalls stetig. Es seien x1 , x2 ∈ M
und mit
Zu (ii): Sei |s1 − s2 | ≤ δ und s1 , s2 ∈ [a, b]. Dann folgt wegen (1.31)
b
|(T x)(s1 ) − (T x)(s2 )| ≤ |F (s1 , t, x(t)) − F (s2 , t, x(t))| dt
a
≤ (b − a)ε für alle x ∈ M. (1.32)
Beispiel 1.60
Wir setzen F (s, t, x(·)) := k(s, t)x(·), wobei k : [0, 1] × [0, 1] → R stetig und x ∈ C 0 [0, 1]
sind und betrachten den durch
1
T : C 0 [0, 1] → C 0 [0, 1] , (T x)(s) := k(s, t)x(t) dt (1.33)
0
definierten Operator. T heißt Fredholmscher Integraloperator und k ist sein Kern. Dass
T wieder in C 0 [0, 1] abbildet, entnimmt man der Abschätzung (1.32). Seine Linearität
ist offensichtlich, die Stetigkeit bzgl. der Maximumnorm sieht man wie folgt. Es gelten
die Abschätzungen
1
T x = max |(T x)(s)| = max k(s, t)u(t) dt
s∈[0,1] s∈[0,1] 0
1 1
≤ max |k(s, t)| max |u(t)| dt = max |k(s, t)| dt x .
s∈[0,1] 0 t∈[0,1] s∈[0,1] 0
1
T ≤ max |k(s, t)| dt . (1.34)
s∈[0,1] 0
y (j) bezeichnet die j-te Ableitung von y und [a, b] ist ein kompaktes Intervall. Dann ist
k
(C k [a, b], · C k ) mit der C k -Norm yC k := j=0 y
(j)
C 0 ein Banach-Raum, wobei
y (j) C 0 die Max-Norm von y (j) in C 0 [a, b] ist. Eine Funktion y ∈ C k+1 [a, b] liegt auch
in C k [a, b] und folglich gibt es eine sogenannte Inklusionsabbildung (auch Einbettung
genannt)
Man kann zeigen, dass diese Inklusion j : C k+1 [a, b] → C k [a, b] kompakt ist.
Das Spektrum eines kompakten Operators ist von besonders übersichtlicher Gestalt. Die
genannten Aussagen folgen aus Beweisen, die in Riesz und Nagy Riesz und Sz-Nagy
(1956) nachgelesen werden können.
46 1 Funktionalanalytische Grundlagen
Satz 1.62
Es sei (X, · ) ein Banach-Raum über K und T ∈ K(X, X), T = 0. Dann gilt:
i. T hat nur endlich viele oder abzählbar unendlich viele Eigenwerte von endlicher
Vielfachheit (d. h. 0 < dim ker(T − λI) < ∞), die sich bei Null häufen.
ii. Jede Zahl λ = 0, die zum Spektrum von T gehört, ist ein Eigenwert von T (gehört
also zum Punktspektrum σp (T )).
Das Eigenwertverhalten von kompakten Operatoren kann dennoch sehr vielgestaltig sein.
Die nächsten Beispiele 1.63 - 1.65 zeigen verschiedene Situationen auf. Im ersten Beispiel
wird an Hand eines Volterra-Integraloperators sichtbar, dass das Spektrum von T nur
aus der Null bestehen kann und Null selbst kein Eigenwert von T ist.
und es sei C 0 [0, 1] mit der Maximum-Norm ausgestattet. Wir berechnen das Spektrum
σ(T ) für zwei Situationen.
a): Für die Abbildung T mit Definitionsbereich C 0 [0, 1] gilt σ(T ) = σr (T ) = {0}. Um
!s
das einzusehen, betrachte man die Gleichung (T x)(s) = 0 x(t) dt = 0 (λ = 0). Nach
!s
dem Hauptsatz der Differenzial- und Integralrechnung folgt aus (T x)(s) = 0 x(t) dt =:
˙
x̃(s) = 0 mit x̃(·) ∈ C 1 [0, 1] sofort x̃(s) = x(s) = 0 (∀s ∈ [0, 1]). Das ist die Injektivität
von T und T hat kein dichtes Bild, da stets (T x)(0) = x̃(0) = 0 gilt. Also ist 0 ∈ σr (T ).
b): Wir schränken jetzt den Definitionsbereich von T auf die Menge X := {x ∈ C 0 [0, 1] |
x(0) = 0} ein und berechnen nun (von der Abbildung T : X → X) das Spektrum. Es
gilt σ(T ) = σc (T ) = {0}. In der Tat ist der Operator T für λ = 0 wieder injektiv. Wegen
gilt zunächst R(T ) X, jedoch gilt für die Abschließung von R(T ) die Beziehung
R(T ) = X, also ist diesmal 0 ∈ σc (T ).
c): Die Gleichung
λx − T x = y (λ = 0) (1.36)
kann für λ = 0 eindeutig nach x für jede rechte Seite y ∈ C 0 [0, 1] bzw. y ∈ X aufgelöst
werden. Es ist dann λI − T bijektiv, und die Stetigkeit des inversen Operators ergibt sich
aus dem Satz von Banach. Somit ist ρ(T ) = R\{0}.
13
Vito Volterra (1860-1940). Studium an der Universität von Pisa. Bekannt sind vor allem seine
Arbeiten zu Integralgleichungen und zur Populationsdynamik in Räuber-Beute-Beziehungen.
1.2 Lineare Operatoren 47
Wir wollen an einem weiteren Beispiel zeigen, dass ein kompakter Operator unendlich
viele charakteristische Werte haben kann, die eine unbeschränkte Folge ohne Häufungs-
punkte bilden. Für die Eigenwerte des Operators bedeutet dies, dass sie sich höchstens
bei Null häufen können.
Beispiel 1.64
Gegeben sei das Randwertproblem (RWP)
Wir schreiben das RWP in eine Operatorgleichung um, indem wir den Operator
C02 [0, 1] := {x | x ∈ C 2 [0, 1], x(0) = x(1) = 0}, xC 2 := xC 0 + ẋC 0 + ẍC 0
Lx = −μx . (1.38)
Damit der Operator L eine Abbildung in sich vermittelt, müsste man L wie folgt defi-
nieren: L : dom (L) ⊂ Y → Y mit dom (L) := X. Der Operator L ist jedoch nur als
Abbildung L : X → Y stetig:
Dies veranlasst uns, das RWP (1.37) in eine Integralgleichung zu überführen. Wir inte-
grieren (1.37) über [0, t] und erhalten
t t
ẍ(τ ) dτ = ẋ(t) − ẋ(0) = −μ x(τ ) dτ .
0 0
s r s s
x(s) − ẋ(0)s = −μ x(t) dt dr = −μ x(t) dr dt
0 0 0 t
s
= −μ (s − t)x(t) dt . (1.39)
0
48 1 Funktionalanalytische Grundlagen
Der Term ẋ(0)s folgt aus (1.39) in Verbindung mit der Randbedingung x(1) = 0:
1
ẋ(0) = μ (1 − t)x(t) dt .
0
Nach Einsetzen von ẋ(0) in (1.39) und Aufspalten der Integration über die Intervalle
[0, s] und [s, 1], wobei s ∈ [0, 1], ergibt sich
s 1 s
x(s) = ẋ(0)s − μ (s − t)x(t) dt = μs (1 − t)x(t) dt − μ (s − t)x(t) dt
0 0 0
s 1
= μ (s(1 − t) − (s − t)) x(t) dt + μ s(1 − t)x(t) dt .
0 $ %& ' s
= t(1−s)
Es sei
1
K : C 0 [0, 1] → C 0 [0, 1] , Kx(s) := k(s, t)x(t) dt
0
mit k aus (1.40) gegeben. Nach Beispiel 1.59 ist K ∈ K(C 0 , C 0 ). Wir zeigen, dass K
die charakteristischen Werte μn = n2 π 2 (n = 1, 2, . . .) hat. Zum Nachweis muss die
Gleichung
μKx = x (1.41)
untersucht werden. Aus dem RWP (1.37) wissen wir, dass die Funktionen xn (t) :=
sin(nπt) zusammen mit den Werten μn = n2 π 2 die Gleichung (1.37) erfüllen. Die fol-
gende Rechnung zeigt, dass auch
!1
μn (Kx)n (s) = n2 π 2 0
k(s, t)xn (t) dt
!
2 s
!1
= n2 π 0
t(1 − s) sin(nπt) dt + n2 π 2 s
s(1 − t) sin(nπt) dt
= sin(nπs) = xn (s)
gilt. Der Operator K hat also abzählbar unendlich viele charakteristische Zahlen, die sich
im Endlichen nicht häufen.
1.2 Lineare Operatoren 49
Wir zeigen im dritten Beispiel, dass ein nichtkompakter Operator T ∈ L(X, X) überab-
zählbar unendlich viele charakteristische Werte haben kann.
Beispiel 1.65
Es sei X := l2 und T die Linksverschiebung, d. h.
T (ξ1 , ξ2 , ξ3 , . . .) := (ξ2 , ξ3 , ξ4 , . . .) .
Die Norm ist T = 1. Die Nichtkompaktheit von T folgt aus der Tatsache, dass die
Einheitskugel in l2 nicht kompakt ist. Wir untersuchen die Gleichung
μT x = x . (1.42)
Die Werte von μ, für die die Gleichung (1.42) nichttriviale Lösungen hat, liegen im Bereich
|μ| ≥ T −1 = 1. Für beliebiges μ ∈ (−∞, −1) ∪ (1, ∞) erfüllt die Folge
∞
μ2
x̂μ 2l2 = μ−2n = .
μ2 − 1
n=0
Für μ = ±1 löst die Folge (1.43) zwar noch die Gleichung (1.42), liegt aber nicht mehr
im Raum X.
In Bezug auf das Spektrum zeigen also kompakte Operatoren ein recht übersichtliches
Verhalten. Nachfolgendes Lemma charakterisiert das Spektrum hinsichtlich endlicher-
bzw. unendlichdimensionaler Räume.
Lemma 1.66
Es sei T : X → X ein linearer Operator und X ein Banach-Raum. Dann gilt:
i. Ist dim X < ∞, so ist σ(T ) = σp (T ).
ii. Ist dim X = ∞ und T ∈ K(X, X), so ist 0 ∈ σ(T ). Im Allgemeinen ist 0 aber kein
Eigenwert.
Beweis: Zu i.: Ist λ ∈ σ(T ), so ist T − λI nicht bijektiv, also, da dim X < ∞, auch
nicht injektiv, d. h. λ ∈ σp (T ) (siehe Bemerkung 1.31).
Zu ii.: Es sei T ∈ K(X, X) und angenommen es sei 0 ∈ ρ(T ). Dann ist T −1 ∈ L(X, X)
und nach Bemerkung 1.56 (2) ist I = T −1 T ∈ K(X, X). Nun müsste die Einheitskugel
kompakt sein, was aber nur in endlichdimensionalen Banach-Räumen gilt (siehe Bemer-
kung 1.7 und Aufgabe 1.4). Dies ist ein Widerspruch zu dim X = ∞.
Der nachfolgende Satz zeigt, dass kompakte Störungen der Identität Fredholm-
Operatoren sind. Details des Beweises findet man in Alt (1992), S. 373–376.
50 1 Funktionalanalytische Grundlagen
Satz 1.67
Es sei X ein Banach-Raum und T ∈ K(X, X). Dann ist λI − T (λ = 0) ein Fredholm-
Operator mit Index 0. Die linearen homogenen Gleichungen
T x − λx = 0, x ∈ X und T ∗ x∗ − λx∗ = 0, x∗ ∈ X ∗ (λ = 0)
„Entweder “: λ ∈ ρ(T ) ,
„Oder “: λ ∈ σ(T )\{0} ⊂ σp (T ) .
Die „Entweder“-Aussage folgt aus Satz 1.53, i. Da in unserem Fall T ∈ K(X, X), folgt
aus Satz 1.67, dass ind (T − λI) = 0 ist. Dies hat zur Folge, dass wegen
0 = dim ker(T − λI) − codim R(T − λI) und dim ker(T − λI) = 0
der Operator T − λI auch surjektiv ist. Nach dem Satz von Banach über die Umkehrbar-
keit linearer stetiger Operatoren existiert der Umkehroperator als lineare stetige Inverse
(T − λI)−1 auf ganz X, d. h. dass die Gleichung T x − λx = y für jedes y ∈ X eindeutig
lösbar ist.
Im „Oder“-Fall ist ker(T − λI) = {0} und die Gleichung T x − λx = 0 hat nichttriviale
Lösungen. Es können nach Satz 1.67 nur endlich viele linear unabhängige Lösungen auf-
treten.
Die Fredholmsche Alternative hat aufgrund der verschiedenen Sätze über kompakte Ope-
ratoren die unterschiedlichsten Möglichkeiten der Formulierung. Zieht man Satz 1.42
heran, dann erhält man
Lemma 1.69
Es seien T ∈ K(X, X), X ein Banach-Raum und λ = 0 gegeben. Dann gilt:
i. ker(λI − T ) = {0} ⇔ R(λI − T ) = X,
1.2 Lineare Operatoren 51
Die algebraische Vielfachheit eines Eigenwertes λ ist im Allgemeinen größer als die geo-
metrische Vielfachheit. Ein Eigenwert λ heißt einfach, falls seine algebraische Vielfachheit
eins ist.
Man kann nun zeigen (siehe Appell und Väth (2005), S. 155-157), dass sich für T ∈
K(X, X) und λ = 0 eine einfache Berechnung der algebraischen Vielfachheit χ(λ) ergibt:
Unter den gemachten Voraussetzungen existiert ein (endliches) p ∈ N, so dass
Beispiel 1.71
Wir betrachten den linearen Operator T : R4 → R4 mit
⎛ ⎞
λ1 1 0 0
⎜ ⎟
⎜0 λ1 0 0⎟
T := ⎜
⎜
⎟,
⎟
⎝0 0 λ1 0⎠
0 0 0 λ2
x − Tx = y mit T ∈ K(X, X)
vor. Nachfolgendes Theorem ist genau auf diesen Gleichungstyp zugeschnitten. Es wird
in der Literatur als Satz von Riesz-Schauder bezeichnet. Alle darin enthaltenen Aussa-
gen sind bereits aus den vorangehenden Sätzen bekannt. Somit ist nachfolgender Satz
lediglich noch einmal eine Zusammenfassung bisheriger Resultate.
52 1 Funktionalanalytische Grundlagen
X = ker(I − T )k ⊕ R((I − T )k ).
Darüber hinaus sind beide Räume auf der rechten Seite T -invariant und es ist
dim ker(I − T )k < ∞.
Beispiel 1.73
Gegeben sei der Integraloperator T : X → X, X := C 0 [0, 2π] durch
2π
(T x)(s) := k(s, t)x(t) dt , k(s, t) := sin(s + t) .
0
Der Operator T ist kompakt (siehe Beispiel 1.60) und der Kern k sogar symmetrisch.
Die Voraussetzungen aus Satz 1.72 sind erfüllt. Zur Bestimmung der charakteristischen
Werte von T ist eine Lösung x(s) = 0 der Gleichung
2π
x(s) = μ sin(s + t) x(t) dt (1.44)
0
zu berechnen. Die Struktur der Gleichung zeigt, dass jede Lösung die Form
2π
x(s) = μ (sin s · cos t + cos s · sin t) x(t) dt
0
" 2π 2π #
= μ sin s cos(t) x(t) dt + cos s sin(t) x(t) dt
0 0
mit
2π 2π
ξ := cos(t) x(t) dt , η := sin(t) x(t) dt (1.46)
0 0
hat. Einsetzen von x(t) = μξ sin t + μη cos t in (1.46) liefert das Gleichungssystem
2π
ξ = cos t [μξ sin t + μη cos t] dt = μηπ ,
0
2π
η = sin t [μξ sin t + μη cos t] dt = μξπ ,
0
1 1 1 1
x1 (s) = sin s + cos s , x2 (s) = sin s − cos s .
π π π π
Ist dagegen μ = μ1 und μ = μ2 , dann muss (ξ, η) = (0, 0) sein und (1.44) hat nur die
triviale Lösung. Der Operator T besitzt genau zwei charakteristische Werte μ1 = π −1
und μ2 = −π −1 . Damit ist auch klar, dass die lineare inhomogene Gleichung
1 2π
x(s) − ± sin(s + t) x(t) dt = y(s)
π 0
nur für gewisse y ∈ X eine Lösung besitzt. Die Lösbarkeitsbedingung ergibt sich aus der
Lösungsstruktur
1
x(s) = ± [ξ sin s + η cos s] + y(s). (1.48)
π
Einsetzen von (1.48) in (1.46) liefert (wir arbeiten mit „+π −1 “):
! 2π ⎛ ⎞ ⎛ ⎞ ⎛! ⎞
2π
ξ = η+ cos(t)y(t) dt 1 −1 ξ cos(t)y(t) dt
⇔⎝ ⎠⎝ ⎠ = ⎝ ⎠.
0 0
! 2π ! 2π (1.49)
η = ξ+ 0
sin(t)y(t) dt −1 1 η 0
sin(t)y(t) dt
54 1 Funktionalanalytische Grundlagen
(bei festem x ∈ X) für alle h aus einer Umgebung um Null gilt. In diesem Fall heißt T
die Fréchet-Ableitung (F-Ableitung) von f in x. Wir schreiben für T = f (x) und das
Fréchet-Differential (F-Differential) in x ist definiert durch df (x; h) := f (x)h.
In Formel (1.50) erkennt man sehr gut das bereits in der Einleitung angesprochene Kon-
zept der Linearisierung, wie es beim klassischen Kalkül Anwendung findet. Mit anderen
Worten: Der Graph von f wird approximiert durch die „Tangente“ im Punkt (x, f (x)).
Diese hat die Darstellung h → f (x) + f (x) · h und stellt exakt den linear (affinen) Teil
von f dar.
Entsprechende Rechenregeln, wie für die klassische Differenzialrechnung bekannt (z. B.
Summen-, Produkt- und Kettenregel, Differentiation der Umkehrfunktion), können ana-
log hergeleitet werden.
für alle k ∈ X und alle reellen Zahlen t aus einer Nullumgebung gilt. Mit S = f (x)
wird die Gâteaux-Ableitung (G-Ableitung) von f im Punkt x bezeichnet. Das Gâteaux-
Differential (G-Differential) in x ist durch dG f (x; k) = Sk definiert.
Die Beziehung ergibt sich, indem man die Funktion s(t) := f (x + tk) an der Stelle t = 0
differenziert:
s(t) − s(0) f (x + tk) − f (x) d
s (0) = lim = lim = f (x + tk) = dG f (x; k).
t→0 t t→0 t dt t=0
Partielle Ableitungen und höhere Ableitungen von Funktionen sowohl einer als auch
mehrerer Variabler werden vollständig parallel zum klassischen Vorgehen gewonnen.
56 1 Funktionalanalytische Grundlagen
Hierbei ist f (x) ein Operator von X in L(X, Y ), d. h. f (x) ∈ L(X, L(X, Y )). Falls
man h, k ∈ X wählt, dann ist
Wir benutzen dafür die Abkürzung f (x)kh bzw. f kh. Außerdem gelten die Unglei-
chungen
Beispiel 1.77
Wir vergleichen die Fréchet- und Gâteaux-Differenzierbarkeit mit den Differentiations-
begriffen einer Funktion f : Ω ⊂ Rn → R in n Variablen, x = (x1 , . . . , xn ) ∈ Ω.
1. Die F-Differenzierbarkeit von f in x ist äquivalent mit der klassischen totalen Diffe-
renzierbarkeit von f in x.
2. Die Funktion f ist G-differenzierbar in x, genau dann, wenn ein a ∈ Rn existiert, so
dass für alle k ∈ Rn gilt:
f (x + tk) − f (x)
n
lim = ai ki = a, k .
t→0 t
i=1
Der Ausdruck a, k ist von der Form Sk := a, k, wobei S ein linearer stetiger
Operator von Rn in R ist. Man erkennt, dass es sich hierbei um die (klassische)
Richtungsableitung handelt.
Ohne Beweis führen wir die folgenden Eigenschaften an:
Satz 1.78
1. Falls das Gâteaux-Differential existiert, dann ist es eindeutig bestimmt.
2. Falls eine Abbildung f Fréchet-differenzierbar in einem Punkt ist, dann ist sie dort
auch Gâteaux-differenzierbar und beide Differentiale sind gleich.
3. Falls f als Gâteaux-Ableitung in einer Umgebung von x existiert und die Abbildung
x → f (x) stetig in x ist, dann ist f (x) auch die Fréchet-Ableitung im Punkt x.
1.3 Fréchet- und Gâteaux-Ableitung 57
Das nachfolgende Beispiel zeigt, dass es Funktionen gibt, die Gâteaux- jedoch nicht
Fréchet-differenzierbar sind. Somit kann die Voraussetzung der Stetigkeit der Abbildung
x → f (x) aus Satz 1.78 nicht fallen gelassen werden.
Beispiel 1.79
Es sei f : R2 → R durch
⎧ 3
⎨ x y , falls x2 + y 2 > 0
f (x, y) := x + y2
4
⎩
0, falls x=y=0
definiert. Es ist leicht zu prüfen, dass f im Punkt (0, 0) Gâteaux-differenzierbar ist und
das Gâteaux-Differential verschwindet. Gemäß (1.51) gilt mit k = (k1 , k2 ) ∈ R2 und für
jedes t ∈ R :
t3 k13 tk2
f (tk1 , tk2 ) − f (0, 0) = = t · S(k1 , k2 ) + r((0, 0), k; t) ,
t4 k14 + t2 k22 $ %& '
=0
r((0, 0), k; t) tk13 k2
:= −→ 0 (k2 = 0) .
t t k14 + k22
2 t→0
Wäre f auch Fréchet-differenzierbar im Punkt (0, 0), dann müssten Fréchet- und
Gâteaux-Ableitung übereinstimmen. Aus (1.50) ergibt sich
h3 h 2
f (h1 , h2 ) − f (0, 0) = f (0, 0)(h1 , h2 ) + 4 1 2 , h := (h1 , h2 ), h = 0
$ %& ' h1 + h 2
=0
1.4 Nemytski-Operator
Eine der wichtigsten nichtlinearen Abbildungen ist der so genannte Nemytski-Operator,
manchmal auch Substitutions-Operator genannt. Wie der letzte Name bereits signalisiert,
entsteht der Operator F durch Substitution von einer Funktion ϕ : G ⊂ Rn → R in die
Funktion f : G × R → R. Dies führt zu einem neuen Operator
F : ϕ → f (·, ϕ(·)),
der erklärt ist auf einem Raum X von Funktionen ϕ. Nun sucht man nach Bedingungen
an f , die F zu einer (differenzierbaren) Abbildung von X in X machen. In unseren
späteren Betrachtungen ist der Fall X := C 0 [0, 1] der Wichtigste unter allen anderen.
Es ist klar, dass die Stetigkeit von f auf [0, 1] × R die Stetigkeit von F garantiert. Da f
gleichmäßig stetig auf der kompakten Menge der Form
Nun überprüfen wir, ob dG F (0; h) = sin (0)h gilt. Für die Stelle ϕ = 0 ergibt sich die
Abschätzung (es muss mit obiger Norm gearbeitet werden)
( )
1 (h(x)=ex ) −x sin(tex ) − 0
(F (th) − F (0)) − dG F (0; h) = sup e − 1 · ex
t x∈[0,∞) t
sin y
= sup − 1 ≥ 1 für jedes t > 0.
y∈[t,∞) y
Der Ausdruck müsste für t → 0 gegen Null konvergieren, was jedoch nicht eintritt.
Weitere Beispiele zum Nemytski-Operator finden sich z. B. in Drábek und Milota (2007)
und Ambrosetti und Prodi (1993).
Man sucht nach Bedingungen, die die Auflösbarkeit der Gleichung (1.56) nach y in Ab-
hängigkeit von x sichern. Kennzeichnend für diesen zentralen Satz der Analysis ist, dass
sich die Auflösung der Gleichung (1.56) nach y im Wesentlichen an der Linearisierung der
Funktion F in Bezug auf die Variable y erkennen lässt. Die Bedingung Fy (x0 , y0 ) = 0
besagt im einfachen Fall, dass die Funktion F : R × R → R in dem Punkt (x0 , y0 ) ∈ R2
keine vertikale Tangente besitzt.
Diese Situation ist bereits bei der Gleichungen F (x, y) := x − y 2 = 0, (x, y) ∈ R2
gestört. In der Umgebung des Lösungselements (x0 , y0 ) = (0, 0) besitzt für x < 0 die
Gleichung keine reelle Lösung, für x > 0 zwei reelle Lösungen. Hier ist Fy (0, 0) = 0.
60 1 Funktionalanalytische Grundlagen
Es sei nun stets (x0 , y0 ) ein Lösungselement von (1.56), d. h. es gilt F (x0 , y0 ) = 0.
Gesucht ist eine Abbildung x → y ∗ (x) auf einer Umgebung von x0 , so dass y ∗ (x0 ) = y0
und F (x, y ∗ (x)) = 0 in U (x0 ) gilt. Die entscheidende Bedingung für die Existenz genau
einer Lösung (neben der Stetigkeit von F ) ist die folgende:
Fy (x0 , y0 )−1 : Z → Y existiert als linearer stetiger Operator. (1.57)
Da Y und Z als Banach-Räume vorausgesetzt sind, ist diese Bedingung äquivalent zu
der folgenden:
Die partielle F -Ableitung Fy (x0 , y0 ) : Y → Z ist bijektiv. (1.58)
Um zu sehen, wie diese Bedingung wirkt, kann man sich F (x, y) als Taylor-Reihe entwi-
ckelt denken:
F (x, y) = F (x0 , y0 ) + a(x − x0 ) + b(y − y0 ) + Terme höherer Ordnung
Man beachte: F (x0 , y0 ) = 0 und Fy (x0 , y0 ) = b.
Der Auflösungssatz (siehe Satz 1.80) macht nun die Aussage, dass unter zusätzlichen
Regularitätsbedingungen an F die Gleichung F (x, y) = 0 äquivalent zu
y − y0 = −b−1 a(x − x0 ) + Terme höherer Ordnung
ist. Die Bedingung (1.58) garantiert die Existenz der Inversen b−1 .
Der Satz wird in der modernen Literatur mit dem Banachschen Fixpunktprinzip bewie-
sen und kann in Zeidler (1986) nachgelesen werden.
Eine interessante Aussage ist die, dass im Raum X × Y durch den Punkt (x0 , y0 ) ei-
ne „glatte Kurve“ läuft. Die Abbildung y ∗ : K[x0 ; r] ⊂ X → Y genügt der Bedin-
gung y ∗ (x0 ) = y0 und ist Fréchet-differenzierbar auf K[x0 ; r]. Lösungen der Gleichung
F (x, y) = 0 sind die Punkte
{(x, y) ∈ X × Y | y = y ∗ (x), x ∈ K[x0 ; r]} = graph(y ∗ ),
denn es gilt F (x, y ∗ (x)) = 0 für alle x ∈ K[x0 ; r].
Bemerkung 1.81
Hat man das F als C m -Abbildung (m ∈ N) gegeben, dann kann man insbesondere
die Ableitung von y ∗ berechnen. Aus F (x, y ∗ (x)) = 0 für alle x ∈ U (x0 ) folgt durch
Differentiation nach x (an der Stelle x0 ):
Fx (x0 , y0 ) + Fy (x0 , y0 ) ◦ (y ∗ ) (x0 ) = 0 , (y ∗ (x0 ) = y0 ) .
Löst man diese Formel nach (y ∗ ) auf, ergibt sich:
Das bemerkenswerte an der Formel (1.59) ist, dass man (y ∗ ) (x0 ) ausrechnen kann, ohne
y ∗ explizit zu kennen, weil y ∗ (x0 ) = y0 ist.
Im Abschnitt 4.2 wird der Satzes über implizite Funktionen auf die Poincaré-Abbildung
(siehe Beispiel 4.23) angewendet.
1.6 Aufgaben
Aufgabe 1.1
Es sei X der Vektorraum aller auf dem Intervall [0,1] definierten Polynome höchstens
zweiten Grades. Welche der nachstehenden Abbildungen pi | X → R (i = a, . . . , e) sind
Normen auf X?
a) pa (f ) := max {|f (x)|} , b) pb (f ) := max {|f (x)|} + max {|f (x)|} ,
x∈[0,1] x∈[0,1] x∈[0,1]
!1
c) pc (f ) := |f (0)| , d) pd (f ) := 0 |f (x)| dx , e) pe (f ) := |f (0)| + |f (0)| + 12 |f (0)| .
Aufgabe 1.2
In einem normierten Vektorraum kann man in Analogie zum Zahlenraum R oder C den
Begriff der unendlichen Reihe einführen. Es sei (xn )n∈N eine beliebige Folge aus einem
normierten Raum (X, ·). Dann heißt die aus (xn ) gebildete unendliche Reihe ∞ k=1 xk
absolut konvergent, falls die Zahlenreihe ∞
k=1 xk konvergiert. Beweisen Sie:
62 1 Funktionalanalytische Grundlagen
Aufgabe 1.3
Beweisen Sie das Rieszsche Lemma: Ist Y ein echter abgeschlossener Unterraum des
normierten Raumes X, so gibt es zu jeder Zahl η ∈ (0, 1) einen Vektor xη ∈ X mit
Aufgabe 1.4
Beweisen Sie die folgenden Aussagen:
a) Im Rn sind alle Normen äquivalent.
b) In einem endlichdimensionalen normierten Raum ist jede abgeschlossene und be-
schränkte Menge kompakt.
c) Jeder endlichdimensionale normierte Raum ist vollständig.
d) Die nachfolgenden beiden Aussagen d1 ) und d2 ) sind äquivalent:
d1 ) X ist endlichdimensional.
d2 ) Die abgeschlossene Einheitskugel in X ist kompakt.
Zeigen Sie ohne Zuhilfenahme dieses Sachverhaltes, dass die abgeschlossene Einheits-
kugel des lp (p ∈ [1, ∞), siehe Beispiel 1.2, 2.) nicht kompakt ist.
Hinweis: Heuser (2006).
Aufgabe 1.5
Betrachten Sie die Funktionenräume C 0 [a, b] und C 1 [a, b] stetiger bzw. einmal stetig
differenzierbarer Funktionen auf [a, b]. C 0 [a, b] ist mit der Maximumnorm f ∞ :=
max{|f (t)| | t ∈ [a, b]} ausgestattet.
Zeigen Sie: C 1 [a, b] ist mit der Maximumnorm kein Banach-Raum. Ist C 1 [a, b] mit der
Norm f 1 := f ∞ + f ∞ ein Banach-Raum? Sind die Normen f ∞ und f 1 im
Raum C 1 [a, b] äquivalent?
Aufgabe 1.6
Es sei C 0 [0, 1] mit der Maximumnorm ausgestattet. Betrachten Sie die Teilmengen
* 1 +
X := {f ∈ C 0 [0, 1] | f (0) = 0} und X0 := g ∈ X g(t) dt = 0 .
0
1.6 Aufgaben 63
Überlegen Sie sich zunächst, dass X0 ein abgeschlossener Teilraum von X ist und zeigen
Sie dann: Es existiert kein f mit f = 1, so dass für alle g ∈ X0 gilt: f − g ≥ 1.
Aufgabe 1.7
Zeigen Sie: M := {x = (x1 , x2 , . . .) ∈ l2 | 0 ≤ xi ≤ 1i , i ∈ N} ⊂ l2 ist kompakt.
Hinweis: Man verwende Bemerkung 1.7.
Aufgabe 1.8
Die Voraussetzungen des Satzes von Arzelà-Ascoli (siehe Satz 1.58) können nicht mehr
abgeschwächt werden.
a) Zeigen Sie, dass die Funktionenfolge fn (x) = sin(nx) in C 0 [0, 2π] beschränkt ist, aber
keine konvergente Teilfolge enthält.
b) Betrachten Sie die Funktionenfolge (gn ) ⊂ C 0 [0, 1]
x2
gn (x) :=
x2 + (1 − nx)2
mit der Maximum-Norm. Zeigen Sie, dass die Folge (gn ) beschränkt ist, und dass (gn )
sogar punktweise konvergiert, aber keine konvergente Teilfolge in C 0 [0, 1] besitzt.
Aufgabe 1.9
Prüfen Sie nach, ob die Funktion
Aufgabe 1.10
Es seien X ein normierter Raum und f ∈ X ∗ gegeben. Beweisen Sie:
a) Die Zahl xX := sup {|f (x)| | f ∈ X ∗ mit f X ∗ ≤ 1} ist eine Norm auf X.
b) Gilt f (x) = 0 für jedes Funktional f ∈ X ∗ , dann ist x = 0.
c) Ist X1 ⊂ X eine lineare Menge und x0 ∈ X ein Element mit dem Abstand r > 0
von X1 (d(x0 , X1 ) := supx1 ∈X1 {d(x0 , x1 )} = r), dann gibt es ein Funktional f mit
f (x) = 0 (x ∈ X1 ), f = 1, f (x0 ) = r.
Aufgabe 1.11
Beweisen Sie folgende Aussage: Es seien X, Y Banach-Räume, T ∈ L(X, Y ) und T = 0
gegeben. Wenn T injektiv und der Wertevorrat R(T ) abgeschlossen sind, genau dann
gibt es eine positive Konstante c, so dass
Aufgabe 1.12
Es sei X := C 0 [−1, 1] und ausgestattet mit der Norm x := max |x(t)| . Gegeben sei
t∈[−1,1]
t
T : X → X, (T x)(t) := x(s) ds , t ∈ [−1, 1] .
−1
a) Ist T kompakt?
b) Ist das Bild T (K[0; 1]) abgeschlossen? (K[0; 1] abgeschlossene Kugel in C 0 [−1, 1].)
Aufgabe 1.13
Beweisen Sie, dass für einen linearen und kompakten Operator T : X → X Folgendes
gilt: dim N (I − T ) < ∞. (N (T ) bezeichnet den Nullraum von T .)
Aufgabe 1.14
Es seien
der Raum der beschränkten Zahlenfolgen mit der Norm x := sup |xi | und der Operator
i∈N
x2 x3
T : l∞ → l∞ , T (x1 , x2 , x3 , . . .) := x1 , , ,...
2 3
gegeben. Zeigen Sie: T ist ein kompakter Operator und sein Wertevorrat R(T ) ist nicht
abgeschlossen.
Aufgabe 1.15
Die Kompaktheit eines Operators kann auch noch durch Zuhilfenahme von Folgen cha-
rakterisiert werden (siehe Definition 1.55). Beweisen Sie folgende Aussage: Ein linearer
Operator T : X → Y ist genau dann kompakt, wenn folgendes gilt: Aus jeder beschränk-
ten Folge (xn )n∈N ⊂ X kann aus der Bildfolge (T (xn ))n∈N eine konvergente Teilfolge
ausgewählt werden.
Aufgabe 1.16
Zeigen Sie, dass die Inklusion j : C k+1 [a, b] → C k [a, b] eine kompakte Abbildung ist.
(Zum Begriff Inklusion vgl. man das Beispiel 1.61.)
Aufgabe 1.17
Es seien X, Y, Z normierte Vektoräume. Zeigen Sie: Falls f : X → Y F-differenzierbar,
und falls T : Y → Z eine lineare, stetige Abbildung ist, dann gilt:
(T ◦ f ) = T ◦ f .
1.6 Aufgaben 65
Aufgabe 1.18
Es sei X := C 0 [0, 1] mit der sup-Norm ausgestattet. Weiter seien ti ∈ [0, 1] und vi ∈
n
C 0 [0, 1] gegeben und f : C 0 [0, 1] → C 0 [0, 1] durch f (x) := i=1 x (ti ) · vi definiert.
2
Zeigen Sie: f ist F-differenzierbar in allen Punkten von x ∈ C [0, 1]. Berechnen Sie die
0
F-Ableitung f (x) für eine beliebige, aber fest gewählte Stelle x ∈ C 0 [0, 1].
Aufgabe 1.19
Es sei
x2 (1 + y1 ) , y=0
f : R2 → R mit f (x, y) :=
0, y=0
Aufgabe 1.20
Es sei G eine offene Menge in einem Banach-Raum X und F : G → X eine kompakte
Abbildung. Beweisen Sie: Falls die Fréchet-Ableitung F (x0 ) für ein x0 ∈ G existiert,
dann ist der (lineare) Operator F (x0 ) kompakt.
Aufgabe 1.21
Beweisen Sie die Behauptung: Falls f als Gâteaux-Ableitung in einer Umgebung von
x existiert und falls die Abbildung x → f (x) stetig in x ist, dann ist f (x) auch die
Fréchet-Ableitung im Punkt x.
Hinweis: Überlegen Sie sich zunächst den folgenden Sachverhalt: Die Funktion f : G ⊂
X → Y sei eine stetig differenzierbare Funktion auf der offenen Menge G und X und Y
seien Banach-Räume. Die Punkte x0 und x0 + h liegen mit ihrer Verbindungsstrecke S
in G. Dann gilt
1
f (x0 + h) − f (x0 ) = f (x0 + th)h dt .
0
Das Resultat ergibt sich, indem man die auf [0, 1] definierten Funktionen
s
F1 (s) := f (x0 + sh) , F2 (s) = f (x0 + th)h dt
0
betrachtet.
Aufgabe 1.22
Stellen Sie Bedingungen auf, unter denen die Integralgleichung
b
x(s) − μ K(s, t)G(t, x(t)) dt = 0
a
und setzen Sie voraus, dass (x0 , μ0 ) ∈ C 0 [a, b] × R ein Lösungselement von F (x, μ) = 0
ist. Des Weiteren seien die Funktionen
K : [a, b] × [a, b] → R
G, Gx : [a, b] × R → R
stetig. Was muss über die Linearisierung von F in Bezug auf x im Punkt (x0 , μ0 ) vor-
ausgesetzt werden?
2 Gewöhnliche
Differenzialgleichungen (DGL)
Übersicht
2.1 Einführende Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
2.2 Geometrische Interpretation einer DGL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
2.3 Existenz- und Eindeutigkeitssätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
2.4 Lineare DGL-Systeme 1. Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
2.5 Lineare DGL-Systeme 1. Ordnung mit konstanten Koeffizienten . . . . . . . . . . . 89
2.6 Autonome Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
2.7 Hilfsmittel zur Konstruktion von Phasenportraits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
2.8 Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
Die Theorie der gewöhnlichen Differenzialgleichungen (im Weiteren mit DGL1 abgekürzt)
ist ein zentrales Gebiet der Analysis. Es bestehen viele Querverbindungen zu anderen
Zweigen der Mathematik. Viele Prozesse in der Physik und den Ingenieurwissenschaften
werden durch Differenzialgleichungen beschrieben und sie werden inzwischen auch erfolg-
reich in der Chemie, Biologie, Medizin, der Umwelt und den Wirtschaftswissenschaften
– um nur einige zu nennen – angewendet.
Die wichtigsten Methoden, Sätze und Beweistechniken der allgemeinen Theorie der An-
fangswertprobleme bei DGL werden vorgestellt. Dabei haben wir uns nicht nur auf ele-
mentare analytische Techniken und damit auf das reine Lösen von DGL, sondern auch
auf qualitative oder geometrische Verfahren konzentriert. Diese führen oftmals zu einem
besseren Verständnis des globalen Verhaltens von Lösungen.
Die breite Verfügbarkeit von Computern mit enormer Rechnerleistung, einschließlich viel-
seitiger symbolischer Rechenpakete wirft die Frage auf, ob es überhaupt noch sinnvoll
ist, analytische elementare Lösungsverfahren zu behandeln. Aus unserer Sicht erfordert
das Lösen einer schwierigen Problemstellung zum einen (oftmals) den Einsatz sowohl
1
Abkürzungen werden nicht dekliniert.
analytischer als auch numerischer Mittel. Zum anderen beruht die Durchführung eines
effizienten numerischen Verfahrens vor allem auf vorbereitenden analytischen Untersu-
chungen, um qualitative Eigenschaften der Lösung zu bestimmen (z. B. Ermittlung von
Parameterbereichen, die besondere Aufmerksamkeit erfordern). Ein weiterer Grund be-
steht darin, dass ein komplexer Prozess in der Natur oftmals nur dadurch verständlich
wird, dass einfache und grundlegende Modelle zusammengefügt oder erweitert werden.
Ziel dieses Kapitels ist es, dem Leser eine kurze, zeitgemäße, anschauliche und vergleichs-
weise leicht verständliche Einführung in die Theorie der DGL zu geben. Nicht immer
kann man dabei die mathematische Strenge einhalten. Dort, wo Beweise zu den Sätzen
fehlen, werden entsprechende Literaturangaben zur Nacharbeitung gebracht. Zu einigen
Ergebnissen werden Beweise gebracht, um das mathematische Verständnis zu erhöhen.
Die numerischen Verfahren zur Lösungen von DGL werden in einem späteren Kapitel
abgehandelt. Für die „numerischen Kapitel“ werden hier die theoretischen Grundlagen
gelegt. Die Lösungsmethoden und -techniken, die mittlerweile auch vom Computer be-
herrscht werden, stehen nicht im Vordergrund dieses Kapitels. Vielmehr ist es die Ver-
mittlung des Wissens um die theoretischen Zusammenhänge, die man kennen muss, um
die vom Computer gelieferten Daten und Bilder in geeigneter Weise zu interpretieren
und mögliche Fehler zu erkennen. Die hier dargestellten Methoden verstehen sich als
Brücke, die Lücken zwischen einem elementaren Kurs über DGL und der inzwischen sehr
umfangreichen modernen Forschungsliteratur etwas zu schließen.
Gesucht wird eine Bahnkurve t → x(t) die der Gleichung (2.1) bei gegebener Kraft K
genügt. In unserem Fall hängt die gesuchte Funktion nur von einer reellen Variablen t
ab. Deshalb wird die zugehörige Differenzialgleichung als gewöhnlich bezeichnet.
Die Newtonsche Grundgleichung (2.1) beschreibt alle möglichen Bewegungen eines Punk-
tes der Masse m unter dem Einfluss der Kraft K. Möchte man jedoch die Bahn eines
bestimmten Himmelskörpers berechnen, dann muss man die Differenzialgleichung um ge-
2.1 Einführende Beispiele 69
wisse Informationen zu einer fest gewählten Anfangszeit t = t0 ergänzen. Man hat dann
folgendes Problem (Anfangswertproblem, siehe auch Definition 2.4) zu betrachten:
Beispiel 2.1
1. Die lineare Pendelbewegung eines Federschwingers führt unter Zuhilfenahme des New-
tonschen Kraftgesetzes und des Hookeschen Gesetzes zu der DGL
s̈(t) + ω 2 s(t) = 0 .
Die Funktion t → s(t) beschreibt die Auslenkung des Massenpunktes aus der Ruhelage
zum Zeitpunkt t und ω 2 ist eine Federkonstante (siehe Abbildung 2.1).
2. Die Stromstärke I(t) in einem RL-Stromkreis (R Ohmscher Widerstand, L Indukti-
vität) wird mittels Kirchhoffscher, Ohmscher und Faradayscher Gesetze aus der Modell-
gleichung
˙ + RI(t) = U (t)
LI(t)
R
U (t)
L
s
I(t)
Abb. 2.1 Federschwinger Abb. 2.2 RL-Kreis
3. Die logistische Funktion p(t) beschreibt die zeitliche Entwicklung einer (biologischen
oder ökonomischen) Population mit beschränktem Lebensraum:
Anhand der Beispiele wird klar, was gesucht wird bzw. was man unter einer Lösung einer
DGL versteht:
• Eine Lösung in Beispiel 2.1 ist eine 1- bzw. 2-mal differenzierbare Funktion, die, in
die jeweilige DGL eingesetzt, die Gleichung identisch erfüllt.
70 2 Gewöhnliche Differenzialgleichungen (DGL)
• Treten in einer DGL auch höhere Ableitungen auf, etwa bis zur n-ten Ordnung, so
spricht man von einer DGL n-ter Ordnung. Sie lässt sich immer in der Form
schreiben. Eine Lösung ist hier eine n-mal differenzierbare Funktion t → ϕ(t), welche
in F eingesetzt, die Gleichung (2.2) identisch erfüllt.
• Man nennt eine DGL n-ter Ordnung explizit, wenn sie nach der höchsten Ableitung
aufgelöst ist, also die Form
bzw.
(t, ϕ(t), ϕ̇(t), . . . , ϕ(n) (t)) bzw. (t, ϕ(t), . . . , ϕ(n−1) (t)) , t ∈ I
ẋ = f (t, x) (2.4)
mit (t, x) ∈ Ω ⊂ R2 , f : Ω → R, f stetig auf Ω, kann man sich auch geometrisch veran-
schaulichen, was es bedeutet, dass (2.4) eine Lösung ϕ : I → R besitzt. Die Abbildung
2.3 macht auch klar (zumindest anschaulich), dass es gewiss nicht offensichtlich ist, ob
es zu einer beliebig vorgegebenen Funktion f : Ω ⊂ R2 → R (f nicht notwendig stetig)
eine auf einem Intervall I erklärte Funktion ϕ : I → R gibt, die (2.4) identisch erfüllt.
Warum wir uns, wie in der Einleitung erwähnt, zunächst mehr mit den theoretischen
Grundlagen beschäftigen wollen, soll das folgende Beispiel demonstrieren.
Beispiel 2.2
Für die völlig harmlos wirkende DGL
ẋ = x2 − t
2.1 Einführende Beispiele 71
f (t, x)
f (t, x)
x
Ω
ϕ(t)
I
t ϕ : I → R von (2.4)
kann keine Lösung explizit angegeben werden, die sich als endliche Kombination von ele-
mentaren Funktionen und deren Integralen schreiben lässt. Diese etwas vage formulierte
Aussage wurde von Liouville 2 gezeigt. Der Beweis ist algebraischer Natur und kann in
diesem Rahmen nicht gegeben werden. Wir wenden uns in Beispiel 2.9 noch einmal dieser
DGL zu.
Es gibt einfache Beispiele von impliziten DGL, die keine reellwertige Lösung ϕ(·) besitzen,
z. B. ẋ2 + 1 = 0. Auch bei expliziten DGL kommt dieser Sachverhalt vor.
Beispiel 2.3
Betrachtet wird
0, t irrational
ẋ = d(t) mit d(t) := , t ∈ [0, 1] .
1, t rational
Die Funktion d(·) wird Dirichlet 3 -Funktion genannt. Hätte diese DGL eine Lösung ϕ,
dann müsste die Ableitung genau so aussehen, wie die Dirichlet-Funktion. Die Ableitung
einer differenzierbaren Funktion muss zwar nicht notwendig stetig sein, aber sie besitzt
die Zwischenwerteigenschaft (siehe Heuser (1980), Bd. I, S. 285). Danach muss eine dif-
ferenzierbare Funktion ϕ mit ϕ (a) = ϕ (b) (a, b ∈ [0, 1]) jeden Wert zwischen ϕ (a) und
ϕ (b) annehmen, was aber bei dieser rechten Seite der DGL unmöglich ist.
Wir haben in den voranstehenden Beispielen gesehen, dass bei der Untersuchung von
DGL die Frage nach der Existenz und Eindeutigkeit der Lösung eine wichtige Rolle
spielt. In diesem Zusammenhang muss hier auf den Begriff eines Anfangswertproblems
(AWP) eingegangen werden.
2
Joseph Liouville (1809–1882), bedeutender französischer Mathematiker, lieferte Beiträge zur
Algebra, Zahlentheorie, Geometrie und Analysis.
3
Peter Gustav Lejeune–Dirichlet (1805–1859) war Nachfolger von Carl Friedrich Gauß in Göttin-
gen, lieferte Beiträge zur Mathematik und mathematischen Physik.
72 2 Gewöhnliche Differenzialgleichungen (DGL)
Natürlich ist in (2.5) wieder verlangt, dass graph ϕ ⊂ I × Ω ist. Die Bezeichnung AWP
stammt von Anwendungen, in denen ϕ(t) und damit der Zustand des Systems (2.6) aus
dem Anfangszustand x(t0 ) = x0 und einer DGL für die Zustandsänderung bestimmt
werden soll. Für unseren Linearschwinger (Beispiel 2.1, 1.) ergibt sich das AWP
Diese Betrachtung lässt sich für jeden Punkt aus Ω anstellen. Sie führt auf die Begriffe
Linienelement und Richtungsfeld (siehe Abbildung 2.4).
x x
Ω
Ω
ϕ(t)
α
x0
t0 t t
Abb. 2.4 Steigung und Linienelement (links), Richtungsfeld (rechts)
Ein Zahlentripel (t, x, p) wird geometrisch so gedeutet, dass p den Anstieg einer durch
den Punkt (t, x) gehenden Geraden angibt (α mit tan α = p ist der Anstiegswinkel dieser
Geraden). Dieses Tripel heißt Linienelement. Gezeichnet wird dieses Linienelement als
ein (kleines) Geradenstück mit den genannten Eigenschaften. Die Gesamtheit aller Lini-
enelemente der Form (t, x, f (t, x)) ist ein Richtungsfeld. Der Zusammenhang zwischen
dem Richtungsfeld (t, x, f (t, x)) und der DGL (2.7) ergibt sich wie folgt: Eine Lösung ϕ
der DGL „passt“ auf das Richtungsfeld, d. h. in jedem Punkt des Graphen von ϕ stimmt
die Tangentenrichtung von ϕ mit der Richtung des Linienelementes überein.
Man kann sich also einen groben Überblick über den Verlauf der Lösungen dadurch
verschaffen, dass man das Richtungsfeld zeichnet und dann versucht, Kurven auf das
Richtungsfeld zu legen (siehe Abbildung 2.5). Ob durch jeden Punkt (t0 , x0 ) ∈ Ω genau
eine Lösungskurve ϕ geht, wird im nächsten Abschnitt erörtert.
Die soeben durchgeführte geometrische Betrachtungsweise ist umkehrbar. Ist eine Schar
von differenzierbaren Kurven gegeben, deren Graphen paarweise disjunkt sind und die die
Vereinigung Ω haben, so lässt sich dieser Kurvenschar eine DGL ẋ = f (t, x) zuordnen,
für die diese Kurven Lösungen der DGL sind. Dieser Zusammenhang vermittelt ein Bild
von den Möglichkeiten, die bei DGL auftreten können und ist überdies nützlich für die
Konstruktion von Beispielen. Ansonsten ist diese Betrachtungsweise mathematisch nicht
sehr ergiebig und wird deshalb auch nicht weiter verfolgt.
30
x(t) 20
10
–6 –4 –2 2 4 6 8 10
t
–10
–20
–30
Abb. 2.5 Richtungsfeld und Kurvenschar der DGL ẋ = −x cos t − sin t
genden Sätze der Existenz von Lösungen sind der Satz von G. Peano 4 und der Satz
von E. Picard 5 und E. Lindelöf 6 . Die beiden Sätze unterscheiden sich in ihrer Aussage
lediglich in Bezug auf die Eindeutigkeit der Lösung, nicht was die Existenz der Lösung
eines AWP betrifft. Die Problematik soll zunächst an Beispielen erläutert werden.
Beispiel 2.5
Wir suchen Lösungen der DGL
ẋ = |x| . (2.8)
Hier ist Ω = R2 . Aufgrund der Symmetrie des Richtungsfeldes ist mit ϕ auch die Funktion
ψ(t) := −ϕ(−t) eine Lösung von (2.8). In der Tat gilt
dx √
√ =2 x=t+C und damit
x
(t + C)2
x = ϕ(t; C) := , t ∈ (−C, ∞), C ∈ R. (2.9)
4
4
Guiseppe Peano (1858–1932), italienischer Mathematiker und Logiker.
5
Emile Picard (1856–1941) arbeitete vor allem auf dem Gebiet der algebraischen Geometrie, der
Analysis und der Mechanik.
6
Ernst Leonhard Lindelöf (1870–1946), finnischer Mathematiker, lieferte wichtige Beiträge zur
Funktionentheorie, Analysis und zur Theorie der Differenzialgleichungen.
2.3 Existenz- und Eindeutigkeitssätze 75
√
Man beachte, dass x positiv und somit t > −C zu wählen ist. Die angegebene Funktion
ϕ ist für t < −C keine Lösung der DGL (2.8). Man überlege sich, dass mit (2.9) alle
Lösungen von (2.8) gegeben sind. Ferner ist ϕ(t) ≡ 0 eine Lösung und −ϕ(−t; C) sind
die negativen Lösungen (siehe Abbildung 2.6).
x
(t+2)2 t2 (t−2)2
4 4 4
−2 −1 1 2 t
Aus diesen Funktionen kann man die Lösungen zusammensetzen, die auf ganz R erklärt
sind:
⎧
⎪
⎨ t2 /4 , für t > 0 ,
ϕ(t) = 0, für − 2 ≤ t ≤ 0 ,
⎪
⎩ −(t + 2)2 /4 , für t < −2 .
Der Leser möge sich überlegen, dass ϕ auch an den „Nahtstellen“ differenzierbar ist und
der DGL genügt.
Mit diesem Beispiel begegnen wir dem Phänomen der nichteindeutigen Lösbarkeit einer
DGL. Jedes AWP besitzt unendlich viele Lösungen. Beispielsweise sind Lösungen durch
den Punkt (t0 , x0 ) = (2, 1) durch
⎧
⎪
⎨ t2 /4, für t > 0,
t2 /4, für t > 0,
ϕ1 (t; a) = 0, für a ≤ t ≤ 0, und ϕ(t) =
⎪
⎩ −(t − a)2 /4, für t < a (a < 0) 0, für t ≤ 0
gegeben. Die Art der Mehrdeutigkeit ist aber verschieden, je nachdem ob der Anfangs-
punkt x(t0 ) = x0 Null oder verschieden von Null ist. Im ersten Fall verzweigen sich die
Lösungen direkt an der Stelle (t0 , x0 ), im zweiten Fall hat man zunächst eine Lösung,
die sich erst in einiger Entfernung von (t0 , x0 ) verzweigt. Beim zuletzt vorliegenden Fall
sagt man, dass das AWP lokal eindeutig lösbar sei. D. h. es gibt ein Intervall I (t0 ∈ I)
mit der Eigenschaft, dass eine auf I definierte, eindeutig bestimmte Lösung des AWP
existiert. Man sagt, die AWP mit x0 = 0 sind lokal eindeutig lösbar, die mit x0 = 0
nicht.
Anhand des nächsten Beispiels soll auf ein weiteres wichtiges Phänomen aufmerksam
gemacht werden.
76 2 Gewöhnliche Differenzialgleichungen (DGL)
Beispiel 2.6
Wir untersuchen die DGL
ẋ = ex sin t . (2.10)
Auch hier ist wieder Ω = R2 . Das Richtungsfeld ist symmetrisch zur x-Achse und
periodisch mit der Periode 2π, d. h. mit ϕ ist auch ψ1 (t) = ϕ(−t) und ψ2 (t) =
ϕ(t + 2kπ), k ∈ Z wieder Lösung. Durch Trennung der Variablen ergibt sich
c = − 12
1
c=0 c= 2
x
c=1
3
c= 2
1
−π −2 1 2 π t
c=2
c=3
Man überlege sich wieder, dass damit alle Lösungen gefunden sind und dass jedes AWP
eindeutig lösbar ist.
Dieses Beispiel zeigt ein neues Phänomen. Für C > 1 existieren die Lösungen für al-
le t und sind beschränkt. Im Fall −1 < C ≤ 1 wachsen sie sehr rasch an und sind
unbeschränkt. Wir betrachten das AWP (2.10) mit x(0) = x0 . Die Lösung dazu lautet
Die Lösung existiert in (−π, π) und ist nicht über dieses Intervall hinaus fortsetzbar.
Weiter gilt
lim ϕ(t; 0, − ln 2) = +∞ .
t→±π
2.3 Existenz- und Eindeutigkeitssätze 77
Lösungen mit x0 < − ln 2 existieren dagegen in R und sind beschränkt. Für x0 > − ln 2
existieren die Lösungen nur im Intervall |t| < arccos(1 − e−x0 ), die Länge des Intervalles
konvergiert gegen Null für x0 → ∞. Am Beispiel 2.6 sieht man, dass die Lösung eines
AWP eventuell nur in einem sehr kleinen Intervall existiert und zwar auch dann, wenn
die rechte Seite der DGL auf ganz R2 definiert und beliebig oft differenzierbar auf R2
ist.
Man kann allgemein zeigen, dass sich eine Lösung immer bis zum Rand von Ω (Ω De-
finitionsbereich der rechten Seite der DGL) fortsetzen lässt. Weiter sollte das Beispiel
2.6 zeigen, dass bei kleinen Änderungen der Anfangswerte – man betrachte etwa die Lö-
sungen für die Anfangswerte (t0 , x0 ) in der Nähe von (0, − ln 2) – sich das qualitative
Verhalten von Lösungen (z. B. beschränkt, unbeschränkt) sprunghaft ändern kann. Die
wichtige Frage, ob die Stetigkeit von f (rechte Seite einer DGL) bereits ausreicht, um
die Existenz einer Lösung zu beweisen, wurde zuerst von G. Peano (um 1890) positiv be-
antwortet. Einen sehr eleganten Beweis mittels Schauderschem Fixpunktprinzips findet
man z. B. in Zeidler (1995a), S. 63.
Es stellt sich jetzt die Frage, welche Bedingungen an f zusätzlich gestellt werden müssen,
um die Eindeutigkeit der Lösung von (2.6) durch den vorgegebenen Anfangspunkt (t0 , x0 )
zu gewährleisten. Dass die Stetigkeit von f allein nicht ausreicht, hat Beispiel 2.5 gezeigt.
Ein zentraler Satz innerhalb der Theorie der gewöhnlichen Differenzialgleichungen ist der
Existenz- und Eindeutigkeitssatz von E. Picard und E. Lindelöf. Er macht eine Aussa-
ge darüber, unter welchen Voraussetzungen das AWP (ein System von n gewöhnlichen
Differenzialgleichungen)
genau eine Lösung hat. Der Satz unterscheidet sich von dem Satz von Peano nur dadurch,
dass zur Stetigkeit von f zusätzlich eine Lipschitz-Bedingung (2.12) hinzukommt und
dafür die Eindeutigkeit der Lösung gefolgert werden kann.
Qa,b := {(t, x) ∈ R × Rn | |t − t0 | ≤ a, x − x0 ≤ b}
78 2 Gewöhnliche Differenzialgleichungen (DGL)
mit festem a, b > 0 gegeben. Weiter wird vorausgesetzt, dass f : Qa,b → Rn stetig ist
und
f (t, x) − f (t, y) ≤ Lx − y für alle (t, x), (t, y) ∈ Qa,b (2.12)
mit konstantem L ≥ 0 gilt. Wählt man c so, dass 0 < c ≤ min{a, b/K} mit K :=
max(t,x)∈Qa,b f (t, x), dann folgt:
ck+1
ϕk (t) − ϕ(t) ≤ K Lk . (2.13)
(k + 1)!
ϕk (·) bezeichnet die k-te Picard-Iterierte und ϕ(·) die Lösung des AWP (2.11).
iv. Stetige Abhängigkeit vom Anfangswert. Die Lösung ϕ(·) hängt stetig vom
Anfangswert x0 ab.
Beweis: Hier werden die Beweisschritte des Satzes nur grob skizziert. Dem Leser wird
empfohlen, den Beweis des Satzes von Picard und Lindelöf mit Hilfe der Literatur (siehe
z. B. Walter (1993) oder Aulbach (1997)) nachzuvollziehen. Der Beweis stellt gleichzeitig
eine eindrucksvolle Anwendung des Banachschen Fixpunktsatzes dar.
Um den Banachschen Fixpunktsatz anwenden zu können, wird die Differenzialgleichung
(2.11) in eine Integralgleichung
t
x(t) = x0 + f (τ, x(τ )) dτ, t ∈ [t0 − c, t0 + c] (2.14)
t0
umgeformt. Da f stetig ist, sind (2.11) und (2.14) äquivalent: Die Gleichung (2.14) folgt
durch Integration von (2.11) und (2.11) aus (2.14) durch Differentiation. Um beim Beweis
die Aussage iv. gleich mit zu erhalten, fasst man (2.14) parameterabhängig in der Form
t
x(t) = p + f (τ, x(τ )) dτ, t ∈ [t0 − c, t0 + c] (2.15)
t0
2.3 Existenz- und Eindeutigkeitssätze 79
auf, wobei (2.15) für p = p0 = x0 mit (2.14) übereinstimmt. Die zu betrachtende Fix-
punktgleichung lautet nun
x = Tp x, x∈M ⊂X, M := {x ∈ X | x − p0 ≤ b} ,
t
(Tp x)(t) := p + f (τ, x(τ )) dτ , t ∈ [t0 − c, t0 + c] .
t0
Für X nimmt man den Banach-Raum C 0 [t0 − c, t0 + c]. Mit diesem Operator Tp müssen
alle Voraussetzungen des Banachschen Fixpunkttheorems (siehe Hoffmann et al. (2006),
Satz 14.26 und Korollar 14.27) überprüft werden. M ist als abgeschlossene Teilmen-
ge des Banach-Raumes X wieder vollständig. Die Lipschitz-Bedingung (2.12) sichert
die Kontraktivität von Tp . Die Voraussetzungen Tp (M ) ⊂ M und Tp ist kontraktiv
im Banachschen Fixpunktsatz, sind für die eventuelle Verkleinerung des Definitions-
bereiches der Lösung von (2.11) verantwortlich. Das Maximum max(t,x)∈Qa,b f (t, x)
existiert, da f auf der kompakten Menge Qa,b stetig ist (Satz von Weierstrass). Der
Banachsche Fixpunktsatz liefert dann die Existenz und Eindeutigkeit der Lösung i., das
Näherungsverfahren ii. und dessen Fehlerabschätzung iii., sowie die stetige Abhängigkeit
vom Anfangswert.
Wir betrachten noch einmal die DGL aus Beispiel 2.2, deren Lösungen nachweislich nicht
explizit angegeben werden können, für die man aber trotzdem die Existenz und Eindeu-
tigkeit der Lösung auf einem Intervall I beweisen kann. Mit der Approximationsformel
(2.13) kann der Fehler der Picard-Iterierten abgeschätzt werden. Die graphische Dar-
stellung der Lösung und der Approximationsformeln im angegebenen Existenzintervall
überlassen wir dem Leser.
Beispiel 2.9
Wir betrachten die DGL aus Beispiel 2.2 als nichtlineares AWP (DGL nach F. Riccati 7
benannt)
ẋ = x2 − t , x(0) = 0 . (2.16)
Die Funktion f (t, x) := x2 − t ist für alle (t, x) ∈ R × R erklärt. Im Hinblick auf die
Fehlerabschätzung (2.13) betrachten wir die Einschränkung der rechten Seite der DGL
auf das Quadrat
, - . / . /
Q 1 , 1 := (t, x) ∈ R × R | |t| ≤ 12 , |x| ≤ 12 = − 12 , 12 × − 12 , 12 .
2 2
7
Francesco Riccati (1676–1754). Neben seinen Untersuchungen zu der nach ihm benannten DGL
ẋ = a(t) + b(t)x + c(t)x2 , widmete er sich den Anwendungen der Analysis auf Probleme der Hydro-
dynamik und Optik.
80 2 Gewöhnliche Differenzialgleichungen (DGL)
mit der möglichen Wahl der Lipschitz-Konstanten L := 1. Um die Größe des Lösungsin-
tervalls für die DGL (2.16) zu bekommen, schätzen wir f auf der Menge Q 1 , 1 nach oben
2 2
ab:
Da die Schranke 34 als Wert angenommen wird, gilt die Aussage (i) des Satzes 2.8 mit a =
,1 1 4- 1
2 , b = 2 und K = 4 . Wegen c := min 2 , 2 · 3 = 2 liefert der Satz dann die Existenz
1 1 3
Mit Hilfe der Fehlerabschätzung (2.13) können wir die Genauigkeit angeben, mit der
durch ϕk die Lösung ϕ approximiert wird. Für die k-te Näherung lautet die Fehler-
schranke 34 2k+1 (k+1)!
1
. Auf dem Intervall [− 12 , 12 ] ergibt sich somit für ϕ3 ein Fehler, der
kleiner als 3 1
4 24 4! ≈ 2 · 10−3 ist.
Aus dem Satz von Picard und Lindelöf lassen sich nun weitere Folgerungen ziehen, die
hier nur verbal beschrieben und nicht bewiesen werden. Der Leser möge die umfangreiche
Literatur (z. B. Amann (1983), Coddington und Levinson (1955)) konsultieren.
Zunächst sei noch einmal festgehalten: Die lokale Unität der Lösungen impliziert sofort
eine globale Unität in dem Sinn, dass sich Integralkurven in Ω nicht schneiden oder
verzweigen können. Anderenfalls würden in einer Umgebung des Schnittpunktes (t0 , x0 )
zwei verschiedene Lösungen existieren.
Eine globale Existenzaussage etwa, dass die Lösung zum Anfangswert (t0 , x0 ) auf belie-
big vorgegebenem I mit t0 ∈ I existiert, ist auch unter schärferen Voraussetzungen an
f (etwa Analytizität) nicht zu erzielen (siehe Beispiel 2.6). Erst starke Wachstumsbe-
schränkungen an f sichern globale Existenzaussagen (siehe Satz 2.11). Es gibt aber einen
Satz über das Maximalintervall eines AWP. Unter den Voraussetzungen des Satzes von
Picard und Lindelöf existiert zu jedem (t0 , x0 ) ∈ Ω ein eindeutig bestimmtes Intervall
I(t0 , x0 ) = (a(t0 , x0 ), b(t0 , x0 )) mit folgenden Eigenschaften:
iii. ist ϕ1 eine Lösung des AWP (2.11) auf einem Intervall I mit t0 ∈ I, dann ist
I ⊂ I(t0 , x0 ) und ϕ1 ist die Einschränkung der Lösung ϕ auf dieses Teilintervall I:
ϕ1 (· ; t0 , x0 ) = ϕ(· ; t0 , x0 )|I .
Beispiel 2.10
Für einen beliebigen Anfangswert (t0 , x0 ) ∈ R2 soll die maximale Lösung des AWP
ẋ = t x2 , x(t0 ) = x0 (2.17)
bestimmt werden. Durch Trennung der Variablen erhält man als Lösung ϕ die rationale
Funktion
2x0
ϕ(t; t0 , x0 ) := .
2 + x0 (t20 − t2 )
Das maximale Lösungsintervall I(t0 , x0 ) ergibt sich aus der Tatsache, dass sich eine ra-
tionale Funktion nicht über ihre Pole hinweg als differenzierbare Funktion und damit
nicht als Lösung einer DGL fortsetzen lässt. Daraus folgt (in Abhängigkeit von t0 und
x0 ) das jeweilige Maximalintervall. Dabei muss t0 in I(t0 , x0 ) liegen! Bei dieser einfachen
DGL treten bereits Lösungskurven mit maximalen beidseitig und einseitig unbeschränk-
tem und beschränktem Definitionsbereich auf. Der Leser möge einige Lösungen selbst
erstellen.
Im Zusammenhang mit Eigenschaften von maximalen Lösungen tritt die Frage auf, wie
sich eine maximale Lösung verhält, wenn t dem Rand des maximalen Existenzintervalles
zustrebt. Es wird auch hier wieder nur eine verbale und anschauliche Erläuterung gege-
ben. Legt man auf mathematisch präzise Formulierungen und Beweisführung wert, dann
sei auf das Buch von Aulbach (1997) verwiesen. Die Abbildung 2.8 macht das Verhalten
der maximalen Lösungskurve ϕmax sichtbar: Die Menge Ω ⊂ R1+n sei offen und die
ϕmax (t)
Ω
∂Ω
K
x0
Funktion f : Ω → Rn sei stetig und bzgl. x Lipschitz-stetig (siehe (2.12)). Dann verlässt
die Lösungskurve des AWP (2.11) einer maximalen Lösung jede kompakte Teilmenge K
82 2 Gewöhnliche Differenzialgleichungen (DGL)
von Ω in beiden Zeitrichtungen und kehrt nicht mehr in K zurück (einer der beiden Rand-
punkte von I(t0 , x0 ) ist dabei natürlich endlich). Man sagt, dass die Lösungskurve von
Rand zu Rand läuft, also in beiden Zeitrichtungen gegen ∂Ω konvergiert. Den Zeitpunkt
a(t0 , x0 ) bzw. b(t0 , x0 ) bezeichnet man auch als Explosionszeit (endliche Entweichzeit)
der Lösung ϕmax (t). In der Abbildung 2.8 ist es t = a(t0 , x0 ).
Der Leser möge am Beispiel der DGL
x2
ẋ = , x(1) = 1, Ω := {(t, x) ∈ R2 | t = 0}
t
den anschaulich erklärten Sachverhalt nachvollziehen.
Die DGL ẋ = ex sin t (siehe Beispiel 2.6) zeigt, dass selbst bei einem Definitionsbereich
Ω = R2 endliche Entweichzeiten auftreten können. Damit stellt sich die Frage: Gibt es
(möglichst allgemeine) Bedingungen an die rechte Seite einer DGL, die das Auftreten
endlicher Entweichzeiten verhindern?
mit stetigen Funktionen r, s : I → R+ . Dann existiert die maximale Lösung jedes AWP
Im Hinblick auf den letzten Satz kann man feststellen, dass die t-Abhängigkeit von f
gegenüber der x-Abhängigkeit eine untergeordnete Rolle spielt. In der Abschätzung (2.18)
für die Funktion f sind beliebige (lediglich stetige) Funktionen r und s zugelassen.
Beispiel 2.12
Die DGL
4
ẋ = t4 x sin x + et , (t, x) ∈ R × R (2.19)
hat eine stetig differenzierbare rechte Seite, die darüber hinaus auch noch linear be-
4
schränkt ist. Wählt man nämlich r(t) := t4 und s(t) := et dann genügt die rechte
Seite von (2.19) den Voraussetzungen des Satzes 2.11 (insbesondere der Abschätzung
(2.18)) und man hat somit eine eindeutig bestimmte maximale Lösung. Wegen des star-
4
ken Wachstums des Terms et verlaufen die Lösungskurven (von kleinen |t| abgesehen)
nahezu senkrecht. Die Abbildung 2.9 (rechts) suggeriert das Vorliegen einer endlichen
2.4 Lineare DGL-Systeme 1. Ordnung 83
20 20
x(t) 10 x(t) 10
–2 –1 0 1 2 –2 –1 0 1 2
t t
–10 –10
–20 –20
4
Abb. 2.9 Richtungsfeld der DGL ẋ = t4 x sin x + et (links). Verschiedene Lösungskurven der
4
DGL ẋ = t4 x sin x + et ; keine dieser Lösungskurven hat eine endliche Entweichzeit (rechts)
Entweichzeit, was jedoch aufgrund des Satzes 2.11 nicht möglich ist, da die Lösung für
alle t ∈ R existiert.
Beispiel 2.13
Wir betrachten die DGL
bringen. Man nennt A(t) := (aij (t)) ∈ Rn×n die Koeffizientenmatrix und den Funktio-
nenvektor b(t) := (b1 (t), . . . , bn (t))T die Störfunktion (auch Inhomogenität). Die Funk-
tionen aij , bi : I → R sind über einem gemeinsamen Intervall I ⊂ R definiert und stetig.
84 2 Gewöhnliche Differenzialgleichungen (DGL)
Das System (2.22) heißt homogen, wenn b(t) = 0 für alle t ∈ I, sonst inhomogen. Das
DGL-System
ẋ = A(t)x (2.23)
ist das dem DGL-System (2.22) zugeordnete lineare homogene DGL-System. Da nur
Ableitungen 1. Ordnung in (2.22) bzw. (2.23) vorkommen, handelt es sich um ein DGL-
System 1. Ordnung.
Das wesentliche Merkmal linearer Systeme ist die algebraische Struktur der Gleichungen,
sowie der dazugehörige Lösungsraum. Aufgrund von Satz 2.11 wissen wir bereits, dass
für jedes (t0 , x0 ) ∈ I × Rn das AWP
ϕ(·; t0 , x0 ) : I → Rn
besitzt. Somit können also im Inneren des Intervalls I keine Explosionszeiten von Lösun-
gen von (2.22) auftreten.
Wir stellen nun einige weitere wohl bekannte Tatsachen über lineare DGL-Systeme zu-
sammen.
(1) Superpositionsprinzip
Insbesondere ist mit je zwei Lösungen von (2.23) auch jede Linearkombination wieder eine
Lösung dieser Gleichung. Diese Überlagerung von Lösungen nennt man Superposition.
(2) Lösungsraum
Für ein DGL-System 1. Ordnung soll nach der Menge aller Lösungen gefragt werden.
Wir führen dazu einen linearen Operator L ein, der den reellen Vektorraum C 1 (I, Rn ) in
den Vektorraum C 0 (I, Rn ) nach der Vorschrift
d
L : C (I, R ) → C (I, R) , x → Lx :=
1 n 0
− A(·) x
dt
2.4 Lineare DGL-Systeme 1. Ordnung 85
und gegebenem b ∈ C 0 (I, Rn ) geschrieben werden. Wir führen zunächst noch die folgen-
den Lösungsmengen
L0 := {x ∈ C 1 (I, Rn ) | Lx = 0} = ker(L)
(Lösungsmenge des linearen homogenen DGL-Systems) und
L := {x ∈ C 1 (I, Rn ) | Lx = b, b ∈ C 0 (I, Rn ) gegeben}
(Lösungsmenge des linearen inhomogenen DGL-Systems) ein, um die Aussage präzise
formulieren zu können. Dann ist L0 ⊂ C 1 (I, Rn ) ein reeller Vektorraum und
L = xp + L0 := {x = xp + x0 | für jede Lösung xp von Lx = b, x0 ∈ L0 }.
Die Linearität von L0 rechnet man einfach nach. Die nächste Feststellung ist die, dass
mit zwei (beliebigen) Lösungen x1 , x2 ∈ L zunächst Lx1 = b und Lx2 = b und daraus
L(x1 − x2 ) = 0 folgt. Mit einer partikulären fest gewählten Lösung xp ∈ L folgt, dass
für jedes x ∈ L die Differenz x − xp =: x0 zu L0 gehört. D. h. jedes x ∈ L hat die
Darstellung x = xp + x0 und somit ist L ⊂ xp + L0 . Umgekehrt gilt mit festem xp ∈ L
und beliebigem x0 ∈ L0 die Relation L(xp + x0 ) = Lxp + Lx0 = b, also xp + x0 ∈ L
und somit xp + L0 ⊂ L. Diese hier durchgeführten Überlegungen gelten übrigens auch
ganz analog für jeden linearen Operator L, der eine Abbildung X x → Lx = y ∈ Y
zwischen Vektorräumen X und Y vermittelt.
Aus diesen Betrachtungen resultiert folgendes Lösungsverfahren für die Gleichung (2.22):
Man bestimme zunächst die Lösungsmenge L0 des homogenen Systems ẋ = A(t)x. Dar-
über erfolgen im Punkt (3) weitergehende Untersuchungen. Dann bestimme man eine
partikuläre Lösung der inhomogenen Gleichung Lx = b. Dies kann mittels spezieller Lö-
sungsansätze bzw. in jedem Fall mit der Methode der Variation der Konstanten erfolgen
(siehe Punkt (6)). Die allgemeine Lösung von (2.25) ergibt sich dann aus x = x0 + xp .
Wir wollen zeigen, dass dim ker(L) = n gilt, d. h. es gibt genau n linear unabhängi-
ge Lösungen des linearen homogenen DGL-Systems (2.23). Man benötigt also lediglich
die Konkretisierung des Begriffes der linearen Unabhängigkeit von Funktionen in einem
Funktionenraum (Vektorraum). In unserem Fall ist dies der Raum C 1 (I, Rn ). Für die
lineare Unabhängigkeit von Funktionen müssen wir überprüfen: Das Nullelement lässt
sich nur als triviale Linearkombination darstellen, also
n
{für alle t ∈ I gilt ci xi (t) = 0} ⇒ {ci = 0, i = 1, . . . , n}.
i=1
86 2 Gewöhnliche Differenzialgleichungen (DGL)
Wir machen zunächst eine weitere Beobachtung: Ist ϕ(·) eine Lösung von Lx = 0 und
existiert ein t0 ∈ I mit ϕ(t0 ) = 0, so ist ϕ(t) = 0 auf I. Dies folgt unmittelbar aus der
Unität der Lösung, da Lx = 0 stets die triviale Lösung besitzt.
Um dim ker(L) = n ≥ 1 zu zeigen, müssen wir einen geeigneten Vektorraum-Isomorphis-
mus zwischen Rn und einem Vektorraum V von C 1 (I, Rn ) finden. Für jedes feste t0 ∈ I
wird dies durch die Abbildung
Rn x0 → ϕ(·; t0 , x0 ) ∈ L0 ⊂ C 1 (I, Rn )
von Rn auf L0 geleistet. Dabei ist ϕ(·; t0 , x0 ) die (eindeutige) Lösung des AWP ẋ =
A(t)x, x(t0 ) = x0 . Diese Abbildung ist linear, denn für λ, μ ∈ R und x0 , x1 ∈ Rn folgt
aus der eindeutigen Lösbarkeit
Diese Gleichheit gilt, da auf beiden Seiten der Gleichung eine Lösung von Lx = 0 mit dem
Anfangswert λx0 + μx1 (zum Zeitpunkt t = t0 ) steht (Superpositionsprinzip). Aufgrund
der Eindeutigkeit folgt aus ϕ(·; t0 , x0 ) = 0 stets ϕ(t0 ; t0 , x0 ) = x0 = 0. Somit ist die
Abbildung injektiv, die Surjektivität ist offensichtlich. Damit ist gezeigt: Die Abbildung
ist ein Vektorraum-Isomorphismus von Rn auf sein Bild L0 . Es gilt also dim(L0 ) =
dim ker(L) = n.
(4) Fundamentalmatrix
Zunächst sei noch einmal festgestellt: Jede Linearkombination von Lösungen von Lx = 0
ist wieder eine Lösung von Lx = 0. Es gibt nach (3) genau n = dim Rn linear unabhängi-
ge Lösungen ϕ1 , . . . , ϕn ∈ C 1 (I, Rn ) von Lx = 0. Jedes System {ϕ1 , . . . , ϕn } von n linear
unabhängigen Lösungen heißt Fundamentalsystem von Lx = 0. Es sei {ϕ1 , . . . , ϕn } ein
Fundamentalsystem von (2.23). Dann heißt die Matrix X mit den Spalten ϕ1 , . . . , ϕn ,
also
Ẋ = A(t)X, X(t0 ) = I.
Ist Xt0 die Hauptfundamentalmatrix zum Zeitpunkt t0 für (2.23), so wird für jedes
x0 ∈ Rn die eindeutige globale Lösung ϕ(·; t0 , x0 ) ∈ C 1 (I, Rn ) des AWP
der Lösungsraum von (2.23). Allgemein heißt jede Lösung von Ẋ = A(t)X Lösungsmatrix
der homogenen DGL (2.23).
(5) Wronskideterminante
Ist X eine Lösungsmatrix von (2.23), d. h. jeder Spaltenvektor von X ist Lösung von
(2.23), so heißt die Funktion
n
ẏ = aii y, y ∈ R.
i=1
zu und erhalten aufgrund der Überlegungen in (2) sofort den Sachverhalt: Die Gesamtheit
der Lösungen von (2.28) bildet den affinen Unterraum ϕp +L0 von C 1 (I, Rn ), wobei ϕp ∈
C 1 (I, Rn ) eine beliebige Lösung der inhomogenen Gleichung (2.28) und L0 ⊂ C 1 (I, Rn )
der Lösungsraum der zugehörigen homogenen Gleichung ẋ = A(t)x sind.
88 2 Gewöhnliche Differenzialgleichungen (DGL)
Es muss also (2.28) „irgendwie“ integriert werden. Üblich ist in der Literatur die Metho-
de der Variation der Konstanten. Sie besteht darin, mit dem Ansatz ϕp (t) = X(t)u(t)
mit unbekanntem u ∈ C 1 (I, Rn ) und (bekannter) Fundamentalmatrix X(·) ein geeig-
netes u(·) derart auszurechnen, dass ϕp eine spezielle Lösung von (2.28) darstellt. Wir
berechnen u durch Einsetzen von ϕp (t) = X(t)u(t) in die DGL (2.28):
Wählt man für X(t) die Hauptfundamentalmatrix Xt0 (t), dann lautet die Lösung des
AWP (mit x(t0 ) = x0 ):
t
ϕ(t; t0 , x0 ) = Xt0 (t)x0 + Xt0 (t)Xt0 (s)−1 b(s) ds, t ∈ I. (2.29)
t0
Für das Auffinden einer partikulären Lösung ϕp muss man im Wesentlichen nur eine
Fundamentalmatrix invertieren. Der Rest ist „Rechenarbeit“.
Ist also eine reguläre differenzierbare n × n-Matrix X(·) gegeben, dann sind ihre Spalten
auf I linear unabhängige Lösungen der DGL ẋ = A(t)x mit der durch (2.31) gegebenen
Matrix A(·). Die Inverse X −1 einer Fundamentalmatrix X genügt ebenfalls einem DGL-
System. Aus der Beziehung X −1 X = I folgt zunächst durch Differenziation nach t und
Beachtung von Ẋ = AX
0 = (X −1 )˙X + X −1 Ẋ = (X −1 )˙X + X −1 AX
2.5 Lineare DGL-Systeme 1. Ordnung mit konstanten Koeffizienten 89
(X −1 )˙ = −X −1 A(t) . (2.32)
ẋ = Ax + b(t) (2.34)
mit konstanter Koeffizientenmatrix A = (aij ) ∈ Rn×n und b(·) ∈ C 0 (I, Rn ) lässt sich
– zumindest theoretisch – leicht ein Fundamentalsystem des zugehörigen homogenen
DGL-Systems ẋ = Ax angeben. Mit der allgemeinen Lösung des linearen homogenen
Systems kann dann nach der Methode der Variation der Konstanten eine partikuläre
Lösung des Systems (2.34) gemäß Abschnitt 2.4, (vi) bestimmt werden. Somit erfolgt
die Konzentration unserer Überlegungen auf das Lösen des linearen homogenen DGL-
Systems
Lässt man sich von der einfachsten Form eines solchen DGl-Systems, also
ẋ = ax, x ∈ R, a ∈ R (2.36)
leiten, dann besitzt diese Gleichung die allgemeine Lösung ϕ(t) = ceat . Die Idee, um
(2.35) zu lösen, ist nun die folgende: Man führt eine Matrix-Exponentialfunktion ein,
indem man in der Partialsumme rk=0 ak xk einer Potenzreihe ∞ k
k=0 ak x die Potenzen
xk durch die Potenzen Ak = A · A · · · A (k-mal, A0 = I) einer Matrix A ∈ Rn×n ersetzt.
Man erhält auf diese Weise für jedes r ∈ N0 eine n × n-Matrix
r
ak Ak = a0 I + a1 A + . . . + ar Ar . (2.37)
k=0
90 2 Gewöhnliche Differenzialgleichungen (DGL)
Die Matrixreihe ∞ k=0 ak Ak heißt konvergent mit Grenzwert S = (sij ) ∈ R
n×n
, wenn
jede der (i, j)-Komponenten von (2.37) (das sind jeweils Partialsummen von Zahlenrei-
hen) für r → ∞ gegen sij (1 ≤ i, j ≤ n) konvergiert.
tA
∞
t k 1
e := A = I + tA + t2 A2 + . . . (2.38)
k! 2!
k=0
Beispiel 2.15
1. Mit A := diag (λ1 , . . . , λn ) folgt Ak = diag (λk1 , . . . , λkn ) und daraus eA =
diag (eλ1 , . . . , eλn ).
2. Ist A eine nilpotente Matrix, d. h. Ak+1 = 0 für ein k ∈ N, dann bricht die Exponen-
tialreihe für eA nach endlich vielen Gliedern ab:
1 1
eA = I + A + . . . + Ak .
1! k!
⎛ ⎞ ⎛ ⎞
0 2 4 1 2 7
⎜ ⎟ ⎜ ⎟
⎜ ⎟ A 1 1 2
Speziell: A := ⎝0 0 3⎠ =⇒ e = I + 1! A + 2! A = ⎝0 ⎜ 3⎟
1 ⎠.
0 0 0 0 0 1
0 −1 2 −1 0 3 0 1
3. A := , A = , A = , A4 = I, . . . .
1 0 0 −1 −1 0
Daraus folgt:
t2 t4 t3
1− + 4! ∓ · · · 0−t+ 3! ∓ · · · cos t − sin t
e tA
= 2!
t3 t2 t4
= .
0+t− 3! ± · · · 1− 2! + 4! ∓ · · · sin t cos t
Man möge sich an einem einfachen Beispiel (2 × 2-Matrix) klarmachen, dass bei der
Rechenregel ii. aus AB = BA im Allgemeinen auch eA eB = eB eA = eA+B folgt. Die
Regel iv. folgt aus Satz 2.14, da die Reihe (2.38) gliedweise differenziert werden darf.
Mit der Matrix-Exponentialfunktion kann man nun die allgemeine Lösung des linearen
homogenen DGL-Systems (2.35) darstellen.
Sie ist für alle t ∈ R definiert. Ist C ∈ Rn×n eine invertierbare Matrix, dann ist
X(t) = etA C
Beweis: Der Nachweis für die Formeln (2.39) und (2.40) erfolgt durch Nachrechnen
(unter Zuhilfenahme der Rechenregel iv.). Die Unität der Lösung (2.40) des AWP ist
durch den Existenz- und Eindeutigkeitssatz von Picard und Lindelöf gesichert.
Bemerkung 2.17
Die Abbildung etA : Rn → Rn (mit t0 = 0) kann als die Beschreibung für die Bewegung
eines Punktes x0 ∈ Rn im Phasenraum Rn aufgefasst werden. Deshalb spricht man
bei dieser Abbildung ϕ(t; t0 = 0, ·) = etA (·) auch vom Fluss des linearen Systems.
Eigenschaften des Flusses werden in Satz 2.24 dargelegt.
Um zu einer Lösung von (2.35) zu kommen, müsste man jedes Mal eine unendliche Reihe
aufsummieren – eine im Allgemeinen sehr schwierige Aufgabe. Deshalb zeigen wir andere
Möglichkeiten, wie man zu einem Fundamentalsystem von (2.35) gelangen kann.
Warum das Bestimmen der Lösungen von (2.35) auf ein Problem der linearen Algebra
hinausläuft, soll die folgende Überlegung zeigen. Wir machen den Ansatz
und setzen A vorübergehend als konstante komplexe Matrix voraus. Diesen Ansatz in
(2.35) eingesetzt, liefert die Gleichung
ẋ = λceλt = Aceλt .
Somit ist x(t) genau dann eine Lösung von (2.35), wenn
Ac = λc (2.42)
gilt. Ein Vektor c = 0, der der Gleichung (2.42) genügt, wird ein Eigenvektor, die Zahl
λ, der zu c gehörige Eigenwert der Matrix A genannt (siehe Abschnitt 1.2.2). Somit sind
alle Eigenpaare (λ, c) der Gleichung (2.42) oder, was dasselbe bedeutet, alle Lösungen
von
(A − λI)c = 0 (2.43)
ist. Die Eigenwerte von A sind also die Nullstellen des sogenannten charakteristischen Po-
lynoms Pn (λ). Es besitzt n (reelle oder komplexe) Nullstellen, wobei jede Nullstelle gemäß
ihrer Vielfachheit gezählt wird. Die Vielfachheit χ(λ) der Nullstelle λ des charakteristi-
schen Polynoms Pn (·) heißt algebraische Vielfachheit des Eigenwertes. Bezeichnet man
mit σ(A) die Menge aller Eigenwerte von A, dann sagt der Fundamentalsatz der Algebra,
dass λ∈σ(A) χ(λ) = n gilt. Die Dimension des Eigenraumes, dim ker(A − λI) =: m(λ),
heißt geometrische Vielfachheit des Eigenwertes. Im Fall χ(λ) = 1 heißt λ ein einfacher
Eigenwert. Es gilt stets 1 ≤ m(λ) ≤ χ(λ). Ist m(λ) = χ(λ) so heißt λ halbeinfacher
Eigenwert. Für jedes λ ∈ σ(A) ist dim ker(A − λI)χ(λ) = χ(λ). Die von Null verschie-
denen Elemente von ker(A − λI)χ(λ) heißen verallgemeinerte Eigenvektoren von A und
ker (A − λI)χ(λ) heißt verallgemeinerter Eigenraum zu λ.
Der Beweis des Satzes ist aufgrund der voranstehenden Überlegungen klar.
2.5 Lineare DGL-Systeme 1. Ordnung mit konstanten Koeffizienten 93
Man erhält z. B. genau dann ein Fundamentalsystem von Lösungen, wenn die Matrix A
n verschiedene Eigenwerte besitzt. Der Satz (2.18) gilt natürlich auch für reelle Systeme.
Man ist jedoch dann auch an reellen Lösungen interessiert. Die Schwierigkeit ergibt sich
dadurch, dass eine reelle Matrix komplexe Eigenwerte besitzen kann, die dann auf kom-
plexe Lösungen gemäß Ansatz (2.41) führen. Man rechnet leicht nach, dass bei reeller
Matrix A der Realteil und auch der Imaginärteil einer komplexen Lösung zwei linear
unabhängige Lösungen für ẋ = Ax darstellen. Mit λ und c sind auch die konjugiert
komplexen Größen λ̄ und c̄ wieder Lösungen der Gleichung (2.42). Sie führen auf die zu
ϕ(t) = ceλt konjugiert komplexe Lösung ϕ(t) = c̄eλ̄t , bei der die Aufspaltung in Real-
und Imaginärteil auf dieselben Lösungen führt. Somit hat man
Beweis: Die lineare Unabhängigkeit der Lösungen rechnet man einfach nach.
ẏ = C −1 ACy. (2.45)
Besitzt nun die Matrix A die n linear unabhängige Eigenvektoren c1 , . . . , cn und setzt
man C := (c1 , . . . , cn ) so ist AC = (Ac1 , . . . , Acn ) = (λ1 c1 , . . . , λn cn ) = CD, wobei
eine Diagonalmatrix ist, also C −1 AC = D gilt. Das System (2.45) lautet dann
Zur Bestimmung eines Fundamentalsystems benötigen wir den Begriff des verallgemei-
nerten Eigenvektors bzw. Hauptvektors.
Hieraus folgt: Hauptvektoren 1. Stufe sind Eigenvektoren. Für Hauptvektoren kann man
folgendes zeigen:
i. Zu jedem k-fachen Eigenwert λ der Matrix A gibt es k linear unabhängige Haupt-
vektoren, d. h.
dim{x ∈ Cn | (A − λI)k x = 0} = k.
Wir konstruieren nun eine Fundamentalmatrix. Dabei ist nicht unbedingt etA zu berech-
nen, sondern man hat mit etA C ebenfalls eine Fundamentalmatrix, wenn nur die Matrix
C invertierbar ist. Wählt man also
C = (v1 , v2 , . . . , vn )
mit einer Basis aus Hauptvektoren von A, so ergeben sich in den Spalten der Fundamen-
talmatrix Lösungen ϕi (t) = etA vi in Form endlicher Summen:
Beweis: Zu i. klar.
Zu ii. Trick: Es gilt etA = eμtI+t(A−μI) = eμt et(A−μI) . Daraus folgt
∞ k
t
etA v = eμt (A − μI)k v.
k!
k=0
Beispiel 2.21
Wir betrachten das AWP
⎛ ⎞
−1 0 0
⎜ ⎟
ẋ = Ax, x(0) = x0 , 3 ⎜
x∈R , A=⎝ 1 −1 0⎟
⎠. (2.47)
0 1 0
Gesucht ist der Fluss von (2.47) (siehe Bemerkung (2.17)) und eine partikuläre Lösung
zu
Wie im vorigen Beispiel werden zunächst die Eigenwerte aus det(A−λI) = −λ(1+λ)2 =
0 ermittelt. Der Eigenwert λ1 = 0 tritt einfach auf, während λ2 = −1 die algebraische
Vielfachheit 2 und die geometrische Vielfachheit 1 besitzt.
96 2 Gewöhnliche Differenzialgleichungen (DGL)
Im Fall des Eigenwertes λ1 = 0 ergibt sich ein Eigenvektor zu v1 = (0, 0, 1)T . Für λ2 =
−1 ergibt sich ein Eigenvektor v2 = (0, −1, 1)T und v3 = (−1, 0, 1)T als Hauptvektor
der Stufe 2 aus (A + I)v3 = v2 . Die drei Basislösungen lauten
⎛ ⎞ ⎛ ⎞
0 0
⎜ ⎟ ⎜ ⎟
ϕ1 (t) = ⎜0⎟ , ϕ2 (t) = ⎜−1⎟ e−t ,
⎝ ⎠ ⎝ ⎠
1 1
ϕ3 (t) = eAt v3 = eλ3 t+(A−λ3 I) t v3 = e−t e(A+I) t v3
⎛ ⎞
( ) ( −1
t t ) ⎜ ⎟ −t
= e−t I + (A + I) v3 = e−t v3 + v2 = ⎜
⎝ −t ⎟
⎠e .
1! 1!
1+t
Damit ist der Fluss ϕ(t; ·) = etA (·) (siehe Bemerkung 2.17) berechnet und wir kommen
zur Bestimmung einer partikulären Lösung von (2.48). Eine partikuläre Lösung ϕp lautet:
⎛ ⎞⎛ ⎞
e−(t−s) 0 0 0
t t ⎜ ⎟⎜ ⎟
ϕp (t) = eA(t−s) b(s) ds = ⎜ (t − s)e−(t−s) e−(t−s) 0⎠ ⎝0⎟
⎟ ⎜
⎝ ⎠ ds
0 0
1 − (1 + t − s)e−(t−s) 1 − e−(t−s) 1 s
⎛ ⎞ ⎛ ⎞
0
t⎜ ⎟
0
⎜ ⎟
= ⎜0⎟ ds = ⎜ 0 ⎟ .
⎝ ⎠ ⎝ ⎠
0
s t2 /2
Die allgemeine Lösung ergibt sich nun aus ϕ(t; 0, x0 ) = ϕh (t) + ϕp (t) = eAt x0 + ϕp (t).
Steht an Stelle des Anfangswertes x(0) = x0 der Anfangswert x(t0 ) = x0 , dann lautet
die Lösung ϕ(t; t0 , x0 ) = ϕh (t) + ϕp (t) = e(t−t0 ) A x0 + ϕp (t) .
u = x1 , u̇ = x2 , ü = x3 , . . . , u(n−1) = xn .
Es gilt wieder der Existenz- und Eindeutigkeitssatz: Sind die ai (·) (i = 0, . . . , n − 1) und
b(·) auf einem Intervall I stetig und ist t0 ∈ I, dann hat das AWP
genau eine Lösung. Sie existiert auf ganz I und hängt in jedem kompakten Teilintervall
von I stetig von den ai und b ab.
98 2 Gewöhnliche Differenzialgleichungen (DGL)
ẋ = f (x) , x ∈ Ω ⊂ Rn (2.52)
Ausgehend von einem DGL-System ẋ = f (t, x) können wir dieses als mathematisches
Modell für ein naturwissenschaftliches oder ökonomisches Problem ansehen. Dabei cha-
rakterisiert der Vektor x = (x1 , . . . , xn ) einen Zustand des Systems. Mit der Zeit t be-
schreibt eine Lösung t → x(t) des DGL-Systems einen Prozess, wobei x(t) als die Phase
des Prozesses zur Zeit t betrachtet werden kann. Deshalb nennen wir die xi auch Phasen-
koordinaten und das Bild von t → x(t) wird Phasenkurve genannt. Der Vektor ẋ(t) ist
die Phasengeschwindigkeit. Dieser ist zu jedem Zeitpunkt t durch ẋ = f (t, x) eindeutig
definiert. Im Fall unseres autonomen DGL-Systems (2.52) legt der Zustand x – unabhän-
gig von der Zeit – eindeutig die Phasengeschwindigkeit fest. Unter dieser Besonderheit
wollen wir weitere Aussagen für unser DGL-System (2.52) treffen, da im Allgemeinen
die t-Abhängigkeit von f eine Beeinflussung des Systems von außen bestimmt. Solche
Prozesse verlaufen heteronom.
Wird ein physikalisches System durch eine autonome DGL modelliert und der Prozess
zu unterschiedlichen Anfangszeiten t0 und t1 (t0 = t1 ) jedoch bei gleicher Anfangs-
bedingung gestartet, so können wir vermuten und letztlich auch beweisen, dass beide
Prozesse identisch (bis auf eine Zeitverschiebung) verlaufen. Wir nennen diese Eigen-
schaft Translationsinvarianz der Lösung. Es wird auf die theoretische Ausführung dieser
Behauptung verzichtet. Stattdessen geben wir eine weitere charakteristische Eigenschaft
der Integralkurve in nachfolgender Bemerkung an.
2.6 Autonome Systeme 99
Bemerkung 2.22
1. Es sei ϕ(t; t0 , x0 ) die Lösung des AWP ẋ = f (x), x(t0 ) = x0 . Dann ist
⎫
graph ϕ(·; t0 , x0 ) = {(t, ϕ(t; t0 , x0 )) | t ∈ Imax (t0 , x0 )} ⎪
⎪
⎬
= {(t, ϕ(t − t0 ; 0, x0 ) | t − t0 ∈ Imax (0, x0 )} (2.53)
⎪
⎪
= {(s + t0 , ϕ(s; 0, x0 ) | s ∈ Imax (0, x0 )} . ⎭
Die letzte Menge ist die um t0 parallel zur t-Achse verschobene Integralkurve zum An-
fangswert (0, x0 ) (siehe Abbildung 2.10). Im Fall n = 1 besitzt eine autonome DGL keine
periodische Lösung. Ausgenommen sind die Punkte mit f (x) = 0. Dort ist die existie-
rende Lösung konstant und als solche periodisch mit jeder beliebigen Periode T > 0. In
allen anderen Punkten ist die Lösung streng monoton.
ϕ(t; t0 , x0 ) ϕ(t; t1 , x0 )
t1 − t 0
R×Ω
Ω
x0
2. Die Translationseigenschaft ist auch für das Studium periodischer Lösungen und für
die Theorie dynamischer Systeme wichtig.
Den voranstehenden Überlegungen entnimmt man, dass aufgrund der Unität der Lö-
sung des AWP die Phasenkurven entweder identisch oder disjunkt sind. Die Lösungen
t → ϕ(t) und t → ϕ(t − t0 ), die man erhält, sind zwar im (t, x)-Raum verschieden, aber
als Bild im x-Raum identisch. Der Raum, in dem das Verhalten der Variablen x1 , . . . , xn ,
parametrisiert durch die Zeit t, beschrieben wird, heißt Phasenraum. Ein Punkt im Pha-
senraum mit den Koordinaten x1 (t), . . . , xn (t) für ein festes t heißt Phasenpunkt. Für
wachsendes t wird der Phasenpunkt durch den Phasenraum transportiert. Phasenkurven
können sich im Phasenraum nicht schneiden. In unserer Ausgangsgleichung (2.52) ist Ω
der Phasenraum der DGL. Wir erläutern diese Begriffsbildungen noch einmal an einem
einfachen Beispiel.
100 2 Gewöhnliche Differenzialgleichungen (DGL)
Beispiel 2.23
Die Gleichung für den harmonischen Oszillator ist gegeben durch
ẍ + x = 0. (2.54)
Die Lösungen der skalaren Gleichung (2.54) sind Linearkombinationen aus cos t und sin t.
Es ist leicht, diese periodischen Lösungen im Lösungsraum G = R × R2 zu zeichnen (siehe
Abbildung 2.11 (links)). Die Lösungen können in den Ω:=R2 -Raum, d. h. in die (x, ẋ)-
ẋ
(x, ẋ) − Ebene
t x
Abb. 2.11 Spiralförmige Lösungen von (2.55) im (x, ẋ, t)-Raum (links), Phasenkurven von
(2.55) (rechts)
Ebene projiziert werden und erscheinen dort als geschlossene Phasenkurven bzw. Orbits
(Abbildung 2.11 (rechts)). Man erkennt also im Phasenraum Ω an den geschlossenen
Orbits eine periodisch ablaufende Bewegung.
Da die Zeit in der Gleichung (2.54) bzw. (2.55) nicht explizit auftritt, können diese
Projektionen auch für Lösungen der allgemeinen Gleichung (2.52) durchgeführt werden.
Um Verwechslungen zu vermeiden, werden die Begriffe Lösung, Lösungskurve und Pha-
senkurve (auch Orbit, Trajektorie oder Bahn) für die DGL (2.52) kurz erläutert. Eine Lö-
sung ist eine Funktion ϕ : I → Rn von einem Intervall I in den Rn , eine Lösungskurve ist
der Graph {(t, ϕ(t)) ∈ R1+n | t ∈ I} einer solchen Lösung, also eine Teilmenge des R1+n .
Zwischen beiden besteht kein großer Unterschied, da man Funktionen letztlich durch ihre
Graphen definiert. Eine Phasenkurve (Orbit etc.) ist die Bildmenge {ϕ(t) ⊂ Rn | t ∈ I}
einer (maximalen) Lösung ϕ, also eine durch die Funktion ϕ parametrisierte Kurve im
Rn . Wie auch im nichtautonomen Fall nennen wir Imax das maximale Lösungsintervall
zum AWP
Wegen der Translationsinvarianz der Zeit t kann in (2.56) stets t0 = 0 gesetzt werden.
Mit ϕ(t; x0 ) := ϕ(t; 0, x0 ) wird die allgemeine Lösung zu (2.56) mit maximalem Defini-
tionsintervall Imax (x0 ) := Imax (0, x0 ) bezeichnet.
Bisher galt unser Interesse dem Verlauf einzelner Lösungskurven der Abbildung t →
ϕ(t; x0 ) des Systems (2.56). Nun beziehen wir einen anderen Standpunkt. Wir halten
t fest und wollen wissen, was aus einer bestimmten Menge M von Startpunkten nach
der Zeit t wird, d. h. wie sich die Menge Mt := {ϕ(t; x0 ) | x0 ∈ M } im Laufe der Zeit
verhält. Wir betrachten also die Schar von Abbildungen ϕt und nennen
ϕt : Rn → Rn , x0 → ϕt (x0 ) := ϕ(t; x0 )
den Fluss zu der DGL (2.56) für jeden beliebigen Anfangswert x0 ∈ Ω ⊂ Rn . Man spricht
auch noch vom Fluss ϕt zum Vektorfeld f . Die Exponentialabbildung ϕt := eAt erfüllt die
folgenden grundlegenden Eigenschaften für alle x ∈ Rn : ϕ0 = I, ϕs (ϕt (x)) = ϕs+t (x)
für alle s, t ∈ R und ϕ−t (ϕt (x)) = ϕt (ϕ−t (x)) für alle t ∈ R. Diese Eigenschaften
lassen sich sofort aus den Rechengesetzen für die Matrix-Exponentialfunktion herleiten.
Der folgende Satz zeigt, dass diese Eigenschaften sogar für den Fluss der DGL (2.56)
erhalten bleiben.
I
x
ϕ(t;ϕ(τ;x0))
x0 α t0 = 0 τ τ +σ β t
ϕ(t; x0 )
ϕ(τ;x0)
D
ϕ(τ + σ; x0 )
Γ
σ σ t
0 σ τ τ +σ ϕ(σ; ϕ(τ ; x0 ))
ϕ(τ ; x0 )
Bemerkung 2.25
1. Auch bei Flüssen kann man Aussagen über ihr Randverhalten machen: Liegt der Fluss
ϕ(t; x0 ) der DGL ẋ = f (x) für alle t ∈ [0, I + (x0 )) in einer kompakten Menge K (siehe
Abbildung 2.8), so gilt I + (x0 ) = ∞. Ist I + (x0 ) endlich, so ist ϕ(t; x0 ) entweder auf dem
Intervall [0, I + (x0 )) unbeschränkt, oder der Orbit läuft zum Rand von Ω, d. h. es gilt
Beispiel 2.26
Wir betrachten das AWP ẋ = x(1 − x), x(0) = x0 , x ∈ R und wollen die Lösungen für
alle Anfangswerte x(0) = x0 , x0 ∈ R bestimmen. Die Nullstellen der rechten Seite der
DGL liefern sofort die stationären Lösungen ϕt (0) = ϕt (1) = 0 für alle Zeiten t ∈ R.
Als nächstes bestimmen wir die Lösungen für alle Anfangswerte x(0) = x0 mit x0 > 1.
Trennung der Variablen und Integration beider Seiten der DGL liefert die Lösung
x0 et
ϕt (x0 ) = ϕ(t; x0 ) = , Imax (x0 ) = (ln(1 − 1/x0 ), ∞) , x0 > 1 .
1 + x0 (et − 1)
Analog bestimmt man für die Fälle 0 < x0 < 1 und x0 < 0 die Lösungen ϕt . Sie lauten:
⎧
⎪ x0 et
⎪
⎨ 1 + x (et − 1) , Imax (x0 ) = R , 0 < x0 < 1 ,
0
ϕ(t; x0 ) =
⎪
⎪ x0 et
⎩ , Imax (x0 ) = (−∞, ln(1 − 1/x0 )) , x0 < 0 .
1 + x0 (et − 1)
3
Diese DGL besitzt keinen globalen Fluss ϕt , da x0 ∈R Imax (x0 ) = {0}.
2.6 Autonome Systeme 103
Um das Phasenportrait einer DGL zu entwerfen, benötigt man die Phasenkurven des
Systems. Diese können wir mit einem einfachen Trick gewinnen. Wir schreiben (2.52)
komponentenweise auf: ẋi = fi (x), i = 1, . . . , n. Dann benutzen wir eine der Koordina-
ten von x, z. B. x1 als neue Koordinate. Dies erfordert die Voraussetzung f1 (x) = 0.
Mittels Kettenregel ergeben sich dann n − 1 Gleichungen der Form
Die Lösungen dieses Systems im Phasenraum werden Orbits genannt. Die Existenz und
Eindeutigkeit der Lösung ist nach Satz 2.8 gesichert, falls die rechte Seite von (2.57)
Lipschitz-stetig ist. Die Lösungen von (2.57) beschreiben das Verhalten der Orbits im
Phasenraum. Die Orbits im Phasenraum schneiden sich nicht. Die Menge aller Orbits
stellen das Phasenportrait dar.
Falls f1 (x) Nullstellen besitzt, dafür aber f2 (x) keine Nullstellen hat, dann können wir
x2 als unabhängige Variable verwenden und in (2.57) die Rolle von f1 (x) und f2 (x)
vertauschen usw. Ist f1 (x0 ) = f2 (x0 ) = · · · = fn (x0 ) = 0 in irgend welchen Punkten
x0 ∈ Ω, dann nennt man x0 Fixpunkt oder Gleichgewichtspunkt (siehe Definition 2.28).
In der Umgebung solcher Punkte ist eine gesonderte Untersuchung erforderlich.
Beispiel 2.27
1. Wir betrachten noch einmal den harmonischen Oszillator ẍ + x = 0 (siehe Beispiel
2.23). Der Phasenraum ist zweidimensional (siehe System (2.55)) und die Orbits werden
durch eine der Gleichungen
dx2 x1 dx1 x2
=− , x2 = 0 bzw. =− , x1 = 0
dx1 x2 dx2 x1
beschrieben. Die Integration der ersten Gleichung liefert x21 + x22 = c (c = const).
Es handelt sich hierbei um eine Familie von Kreisen in der Phasenebene; (0, 0) ist ein
Gleichgewichtspunkt, der Zentrum genannt wird (siehe Abbildung 2.13 (links)).
2. Die Gleichung ẍ − x = 0 hat ebenfalls einen 2-dimensionalen Phasenraum und die
Orbits werden durch die Gleichung
dx2 x1
= , x2 = 0
dx1 x2
beschrieben. Die Integration liefert
Der kritische Punkt (0, 0) wird Sattel genannt (siehe Abbildung 2.13 (rechts)). In Defi-
nition 2.44 gehen wir auf diese Begriffsbildung näher ein. Die Pfeile zeigen die Richtung
der Bewegung der Phasenpunkte mit wachsender Zeit an. Die Bewegung einer Menge
von Phasenpunkten entlang der dazugehörigen Orbits wird der Phasenfluss genannt.
104 2 Gewöhnliche Differenzialgleichungen (DGL)
ẋ
ẋ
x x
Abb. 2.13 Der Fixpunkt (0, 0) ist ein Zentrum (links), der Fixpunkt (0, 0) ist ein Sattel (rechts)
Im Phasenraum betrachtet ist ein kritischer Punkt x0 ein Punkt, in dem keine Bewegung
stattfindet. Dieser Punkt stimmt mit der Gleichgewichtslösung ϕ(t) = x0 , (t ∈ R) der
DGL ẋ = f (x) überein. Man hat für ihn auch noch andere Begriffe geprägt.
Aus dem Existenz- und Eindeutigkeitssatz folgt weiter, dass ein Gleichgewichtspunkt
niemals in endlicher Zeit erreicht werden kann. Wäre dies der Fall, dann würden sich
zwei (verschiedene) Lösungen schneiden, was der Eindeutigkeit widerspricht.
Beispiel 2.29
Wir betrachten die DGL ẋ = −x, t ≥ 0. Hier ist x = 0 ein Fixpunkt, x(t) =
0 für alle t ≥ 0 ist Gleichgewichtslösung. Die Lösungen lauten ϕ(t, x0 ) = x0 e−t , x0 ∈ R.
Alle Lösungen, die in x0 = 0 zur Zeit t = 0 starten, laufen in unendlicher Zeit in den
Fixpunkt hinein: limt→∞ x(t) = 0.
Beispiel 2.30
Bei der DGL ẋ = −x2 , t ≥ 0 ist x = 0 wieder ein Fixpunkt, x(t) ≡ 0 ist Gleichge-
wichtslösung. Die Lösungen, die in x0 = 0 (für t = 0) starten, zeigen qualitativ ver-
schiedenes Verhalten für x0 > 0 bzw. x0 < 0. Dies ist klar, wenn man die Lösung
1
ϕ(t; x0 ) = t+1/x0
(x0 = 0) betrachtet. Für x0 < 0 werden die Lösungen in endlicher
Zeit unbeschränkt. Für x0 > 0 laufen die Lösungen zum Fixpunkt. Dieses Phänomen
nennt man Attraktion (Anziehung).
Der Leser möge für beide Beispiele die Lösungskurven und den (eindimensionalen) Pha-
senraum skizzieren.
2.6 Autonome Systeme 105
Für das Auffinden eines Attraktors (Repellers) ist die grundlegende analytische Heran-
gehensweise dabei die, dass wir stets mit der Linearisierung der DGL in einer Umgebung
des kritischen Punktes beginnen. Wir untersuchen die Frage, inwieweit Eigenschaften
des linearen Systems in einer noch näher zu erläuternden Art und Weise im nichtlinea-
ren DGL-System zumindest qualitativ erhalten bleiben. Wir setzen voraus, dass f eine
Taylor-Reihenentwicklung in der Nähe des kritischen Punktes x0 – man beachte, dass
dort f (x0 ) = 0 ist – besitzt:
Substituieren wir ȳ := y − x0 , dann erhalten wir das System ȳ˙ = Df (x0 )ȳ. Wir nennen
es wieder
ẏ = Df (x0 )y (2.60)
Mit A := Df (x0 ) handelt es sich um das in Abschnitt 2.5 ausführlich studierte System
(2.35).
Beispiel 2.32
Die DGL des mathematischen Pendels lautet:
8
Wir weichen hier von der bisher verwendeten Schreibweise f (x0 ) ab.
106 2 Gewöhnliche Differenzialgleichungen (DGL)
wobei x die Winkelauslenkung von der nach unten orientierten Vertikalen angibt. Die
Fixpunkte lauten (x1 , x2 ) = (0, 0), (−π, 0), (π, 0), die Linearisierung am Fixpunkt (0, 0)
ist
ẏ1 0 1 y1 y2
= = ,
ẏ2 − cos x1 0 y2 −y1
(0,0)
ẋ
x
−π π
Zwei charakteristische Orbits, die die Fixpunkte (±π, 0) miteinander verbinden, fallen
auf. Solche Orbits heißen heterokline Orbits. In diesem Zusammenhang kann man auch
von Separatrizen sprechen. Sie trennen geschlossene von nicht geschlossenen Orbits.
Wir wenden uns periodischen Lösungen zu (siehe Abbildung 2.14). Wir nehmen an, dass
ϕ(·) eine Lösung der Gleichung ẋ = f (x), x ∈ Ω ⊂ Rn ist und weiter ein T > 0
existiert, so dass ϕ(t + T ) = ϕ(t) für alle t ∈ R gilt. Eine solche Lösung heißt periodisch
mit Periode T . Falls ϕ die Periode T hat, dann hat ϕ auch die Perioden 2T , 3T usw.
Falls T die kleinste Periode ist, nennen wir ϕ(·) T -periodisch. Eine T -periodische Lösung
von ẋ = f (x) nimmt also nach der Zeit T wieder den gleichen Wert im Rn an. Solch eine
periodische Lösung erzeugt einen geschlossenen Orbit im Phasenraum. Insgesamt gilt der
folgende Zusammenhang:
2.7 Hilfsmittel zur Konstruktion von Phasenportraits 107
Satz 2.33
Jede periodische Lösung der DGL ẋ = f (x) stimmt mit einem geschlossenen Orbit (im
Rn ) überein und umgekehrt ist jeder geschlossene Orbit eine periodische Lösungskurve
(im Rn+1 ).
Der Leser sollte beachten, dass es bei nichtautonomen Systemen auch geschlossene Lösun-
gen in der x-y-Phasenebene gibt, die nicht periodisch sind. Dazu muss man als Beispiel
nur das heteronome System
ẋ = 2ty, ẏ = −2tx
betrachten, das Lösungen der Form x(t) = −c1 cos(t2 ) + c2 sin(t2 ), y(t) = c1 sin(t2 ) +
c2 cos(t2 ) besitzt. Die dazugehörigen Phasenkurven sind geschlossen, jedoch nicht peri-
odisch. Im autonomen Fall sind jedoch geschlossene Phasenkurven stets periodisch.
erklärt. Es sei wj = uj + ivj ein verallgemeinerter Eigenvektor der reellen Matrix A mit
zugehörigem Eigenwert λj = aj + ibj . Ist bj = 0, dann ist auch vj = 0. Weiter sei
Definition 2.34
Mit den Basiselementen uk , vk wird definiert:
Die Räume E s , E u und E c sind Unterräume des Rn , die durch die Real- und Imaginär-
teile der verallgemeinerten Eigenvektoren wj in bezug auf die Realteile der Eigenwerte
λj aufgespannt werden.
Beispiel 2.35
Die Matrix
⎛ ⎞
−2 −1 0
⎜ ⎟
⎜
A=⎝ 1 −2 0⎟
⎠
0 0 3
Es
C
i
−2 3
−i
Beispiel 2.36
Wir betrachten das Eigenwertdiagramm in Abbildung 2.16 (rechts). Wir können es uns
z. B. durch die Matrix
⎛ ⎞
0 −1 0
⎜ ⎟
A=⎜ ⎝ 1 0 0⎠
⎟
0 0 1
Ec
C
i
−i
Die Abbildung 2.16 suggeriert die Vorstellung, dass Lösungen mit einem Anfangspunkt
in E c beschränkt sind. Dass dies nicht so ist, zeigt das einfache
Beispiel 2.37
Gegeben sei das DGL-System
0 0 ẋ1 = 0
ẋ = Ax , A= , bzw.
1 0 ẋ2 = x1 .
Die gesamte x2 -Achse ist Fixpunktgerade und Null ist doppelter Eigenwert. Hierzu ge-
hören u1 = (0, 1)T als Eigenvektor und u2 = (1, 0)T als verallgemeinerter Eigenvektor.
Folglich ist E c = R2 . Die Lösungen lauten
x1 (t) = c1
x2 (t) = c1 t + c2 .
Nur die Lösungen mit c1 = 0 bleiben beschränkt, alle anderen (mit c1 = 0) nicht. Der
Leser möge sich das Phasenportrait klar machen.
110 2 Gewöhnliche Differenzialgleichungen (DGL)
betrachtet (siehe Abschnitt 2.5). Wie bekannt, ist die Lösung des AWP (2.63) durch
ϕ(t; 0, x0 ) = eAt x0
gegeben. Die Abbildung eAt : Rn → Rn hatten wir Fluss des linearen Systems genannt.
Eine wichtige Rolle spielt im weiteren der hyperbolische Fluss.
Mit diesen Definitionen lassen sich folgende Eigenschaften über die Unterräume E i , i =
s, u, c, hier ohne Beweis, formulieren.
Satz 2.40
Sei A eine reelle n × n-Matrix. Dann gilt
i. Rn = E s ⊕ E u ⊕ E c .
ii. Die E i , i = s, u, c, sind invariant unter dem Fluss eAt von (2.63).
Aus Lemma 2.40 ergibt sich noch eine einfache Folgerung. In Abwesenheit rein imaginärer
Eigenwerte von A haben wir die Zerlegung
Rn = E s ⊕ E u .
Wegen der Invarianz der Unterräume E s und E u in Bezug auf den Fluss etA , sind nur
die Halborbits (das sind Lösungen, die auf [t0 , ∞) betrachtet werden) beschränkt, deren
Anfangspunkt x(t0 ) in E s liegt.
Beispiel 2.42
Das lineare System ẋ = Ax mit
⎛ ⎞
−3 1 0
⎜ ⎟
A := ⎜
⎝−1 −3 0 ⎠
⎟
0 0 −1
hat die Eigenwerte λ1,2 = −3 ± i und λ3 = −1. Es ist E s = R3 und der Ursprung (er
ist einziger Fixpunkt des Systems) ist eine Senke. Der Leser möge sich den Verlauf der
Orbits klar machen.
In diesem Abschnitt sollen Voraussetzungen aufgestellt werden, unter denen sich das
Phasenportrait des nichtlinearen Systems
ableiten lässt. Im Allgemeinen ist es nicht möglich, das DGL-System (2.64) zu lösen.
Deshalb ist es wichtig, wenigstens qualitative Informationen über das lokale Verhalten
der Lösungen in der Nähe eines Fixpunktes zu erhalten. Wenn dies mit Hilfe des Systems
(2.65) möglich ist, dann ist das ein enormer Gewinn, da man von (2.65) (prinzipiell) den
Fluss und somit die Lösung
ϕt (x0 ) ≡ ϕ(t; x0 ) = etDf (x0 ) x0 , x0 = x0
kennt. Die Rechtfertigung dieser Vorgehensweise wird durch das Theorem von Hartman
und Grobman aus dem Jahr 1959 begründet.
Bei der Analyse des Systems (2.64) gehen wir so vor, dass wir zunächst alle Gleichge-
wichtspunkte von (2.64) bestimmen und dann das Verhalten der Lösung von (2.64) in
der Nähe dieser Fixpunkte untersuchen.
Nun wird dargelegt, dass das lokale Lösungsverhalten des nichtlinearen Systems (2.64)
in der Nähe eines hyperbolischen Gleichgewichtspunktes qualitativ durch seine Lineari-
sierung im Fixpunkt bestimmt ist. Ist x0 = 0 ein Fixpunkt von (2.64), dann ist f (0) = 0
und der Satz von Taylor (entsprechende Differenzierbarkeit vorausgesetzt) liefert
1
f (x) = Df (0)x + D2 f (0)(x, x) + . . . .
2
Die lineare Funktion Df (0)x ist in der Regel eine gute erste Approximation für f in der
Nähe von x0 = 0. Überträgt man diesen Approximationsgedanken auf die Phasenpor-
traits der nichtlinearen und linearisierten DGL-Systeme, dann wird sich herausstellen,
dass dies in der Tat nur für hyperbolische Fixpunkte gilt.
Zunächst werden wir die Begriffe Senke (Quelle) aus Definition 2.41 auf unser System
(2.64) übertragen.
Beispiel 2.45
Wir klassifizieren die Fixpunkte des Systems (2.64) mit
x1
f (x) := .
1 + x21 − x22
Somit ist der Fixpunkt (0, 1) ein Sattel und (0, −1) eine Quelle.
Für Aussagen wie „das System geht gegen einen Gleichgewichtszustand“ oder „das Sys-
tem nähert sich für große Zeiten einer periodischen Lösung“ benötigt man lediglich ein
Phasenportrait, das bis auf homöomorphe oder diffeomorphe Verzerrungen bekannt ist.
Es muss also untersucht werden, ob eine Linearisierung des Vektorfeldes am Fixpunkt
das Phasenportrait lediglich in diesem Rahmen verändert. Bei mathematischen Model-
lierungen von physikalischen Systemen hat man es in der Regel mit Parametern zu tun,
2.7 Hilfsmittel zur Konstruktion von Phasenportraits 113
die nicht exakt bekannt sind und die somit auch das Vektorfeld verändern. Da ist es
natürlich erwünscht, dass diese (kleinen) Störungen des Vektorfeldes f höchstens zu ho-
möomorphen (also stetigen) Veränderungen des Phasenbildes führen.
Der nächste Satz, der ohne Beweis angegeben wird, begründet die Existenz einer glatten
invarianten Mannigfaltigkeit in einem Fixpunkt des nichtlinearen Systems (2.64). Der hier
auftretende Begriff der Mannigfaltigkeit wird nur in dem Rahmen, wie er im Weiteren
benötigt wird, erklärt. Mit dem Begriff Invarianz ist wieder die Invarianz der Mannig-
faltigkeit unter dem Fluss ϕt von (2.64) zu verstehen. Wir können uns auf die Klasse
von Mannigfaltigkeiten, die man als Untermannigfaltigkeiten des Rn auffasst, beschrän-
ken. Diese sind reichhaltig genug, um damit beim Studium von Differenzialgleichungen
auszukommen.
ϕ : U → Uϕ
vermittelt, wobei Uϕ eine offene Menge des Rn ist. Die Abbildung ϕ heißt Kartenab-
bildung und Uϕ nennt man das Kartenbild von U . Das Paar (U, ϕ) heißt eine Karte
von M und xϕ = ϕ(x) = (x1 , . . . , xn ) heißt lokale Koordinate des Punktes x in der
Karte (U, ϕ).
ii. Wechsel der lokalen Koordinaten. Ist (V, ψ) eine zweite Karte für den Punkt x
mit der zugehörigen lokalen Koordinate
xψ = ψ(x),
dann ergeben sich für die beiden lokalen Koordinaten des Punktes x die folgenden
Transformationsformeln:
ϕ ◦ ψ −1 : Vψ → Uϕ bzw. ψ ◦ ϕ−1 : Uϕ → Vψ
Die Abbildung ϕ versteht sich hier als eine Kartenabbildung. Eine Verwechslung mit der
Lösung einer DGL besteht nicht.
114 2 Gewöhnliche Differenzialgleichungen (DGL)
xϕ
Uϕ
U
ϕ
x
ψ ◦ ϕ−1
V
ψ
xψ
Den Prototyp für eine eindimensionale Mannigfaltigkeit stellt die Kreislinie dar. Die
Kreislinie muss durch mindestens zwei Karten beschrieben werden, da sonst die Bijekti-
vität der Abbildung ϕ nicht gewährleistet ist. Dabei herrscht eine gewisse Willkür. Um
diese zu vermeiden, wird der maximale Atlas eingeführt. Darauf gehen wir hier nicht
weiter ein. Der interessierte Leser möge sich in den Büchern von Zeidler (1986) oder
Choquet-Bruhat (1983,1988) einen Überblick verschaffen.
Eine Mannigfaltigkeit kann auch durch ein System von Gleichungen
erfasst werden. Die Funktionen fj sind auf der offenen Menge Ω ⊂ Rn glatt, d. h. C k -
Funktionen. Wir verlangen weiter, dass die Funktionalmatrix
∂(f1 , . . . , fm )
(2.67)
∂(x1 , . . . , xn )
den maximalen Rang m für jeden Punkt x = (x1 , . . . , xn ) ∈ Ω besitzt. Dann gilt der
Satz 2.47
Die Menge aller Punkte x ∈ Ω, die Lösungen der Gleichung (2.66) sind und für die (2.67)
maximalen Rang besitzt, bildet eine (n − m)-dimensionale Mannigfaltigkeit.
Beweis: Die Aussage ist eine einfache Konsequenz des Satzes über implizite Funktionen.
Grob gesprochen heißt eine Teilmenge N ⊂ M (wobei M eine n-dimensionale Mannig-
faltigkeit im Sinne der gegebenen Definition 2.46 ist) eine m-dimensionale Unterman-
nigfaltigkeit von M , falls N lokal wie ein m-dimensionaler linearer Unterraum von Rn
aussieht. Der Tangentialraum Tx M von M im Punkt x besteht in diesem Spezialfall
(siehe das Gleichungssystem (2.66)) aus allen reellen n-Tupeln v = (v1 , . . . , vn ), die dem
linearisierten System
n
∂fj (x)
vk = 0, j = 1, . . . , m, (2.68)
∂xk
k=1
genügen. Da der Rang der Matrix (2.67) gleich m ist, stellt Tx M einen (n − m)-
dimensionalen linearen Vektorraum dar.
Beispiel 2.48
Für festes r > 0 bildet die Menge S n−1 ((n − 1)-dimensionale Sphäre im Rn ) aller
Lösungen (x1 , . . . , xn ) ∈ Rn der Gleichung
n
x2j − r2 = 0 (2.69)
j=1
Besitzt (2.67) in jedem Punkt x, der Lösung der Gleichung (2.66) ist, den Rang s mit
1 ≤ s ≤ m < n, dann bildet die Lösungsmenge von (2.66) eine (n − s)-dimensionale
Mannigfaltigkeit M . Der Tangentialraum Tx M wird wieder durch (2.68) gegeben.
Nach diesem kleinen Ausflug in die Begriffswelt der Mannigfaltigkeiten kehren wir zum
Studium des Phasenportraits unserer DGL (2.64) in Verbindung mit (2.65) zurück.
4) = 0 , ∀ x
lim ϕt (x 4∈S.
t→∞
116 2 Gewöhnliche Differenzialgleichungen (DGL)
4) = 0 , ∀ x
lim ϕt (x 4∈U.
t→−∞
Beweis: Die Idee besteht darin, eine geeignete Fixpunktgleichung in einem passenden
Banach-Raum aufzustellen, so dass der Fixpunkt eine C 1 -Abbildung zwischen Rn und
Rn−k wird und sein Graph die gewünschte invariante Mannigfaltigkeit darstellt (siehe
Perko (1996)).
Bemerkung 2.50
Falls f ∈ C r (Ω, Rn ), r ≥ 1, dann sind auch S und U von der Klasse C r . Ist f analytisch
in Ω, dann sind auch S und U invariante analytische Mannigfaltigkeiten.
Beispiel 2.51
Wir betrachten das System
Es hat die Fixpunkte (0, 0) und (−1, −1). Wir wollen die invariante stabile Mannigfaltig-
keit an E s im Fixpunkt (0, 0) näherungsweise berechnen. Die Linearisierung des Systems
(2.70) lautet
−1 0
ẏ = y, y ∈ R2 .
0 1
Daraus ergeben sich die stabilen und instabilen Unterräume E s = span {(1, 0)T } und
E u = span {(0, 1)T }. Nun wird die invariante Mannigfaltigkeit S näherungsweise mittels
Potenzreihenansatz gemäß Satz 2.49 und Bemerkung 2.50 berechnet. Wir machen den
Ansatz x2 = ψ(x1 ) = a2 x21 + a3 x31 + . . . . Aus dem System (2.70) ergibt sich zunächst
durch Einsetzen aus der zweiten Gleichung
(2a2 x1 + 3a3 x21 + 4a4 x31 + 5a5 x41 + · · · )[−x1 − a22 x41 − 2a2 a3 x51 − · · · ]
= a2 x21 + a3 x31 + a4 x41 + a5 x51 + · · · + x21
x2
Eu
U
Es
x1
S
Abb. 2.18 Stabile und instabile invariante Mannigfaltigkeiten
E s und E u
Da stabile und instabile Mannigfaltigkeit S und U sind nur in einer kleinen Umgebung
des Fixpunktes definiert sind, bezeichnen wir sie als lokale stabile und instabile Mannig-
faltigkeit. Wir definieren die globale stabile und instabile Mannigfaltigkeit von (2.64) im
Ursprung, indem wir Punkte aus S rückwärts in der Zeit fließen lassen und jene in U in
der Zeit vorwärts fließen lassen:
Man kann zeigen, dass die globalen Mannigfaltigkeiten W s (0) und W u (0) eindeutig
bestimmt und invariant unter dem Fluss ϕt sind. Außerdem erhält man:
„Nicht ganz analog“ stellt sich ein entsprechendes Resultat über die Zentrumsmannigfal-
tigkeit W c (0) dar. Sie ist zwar tangential zum Zentrumsunterraum E c , aber man kann
sie nicht einfach mit Hilfe des asymptotischen Verhaltens von Lösungen charakterisieren
wie Abbildung 2.20 zeigt. Es gilt aber der
Auf den Beweis verzichten wir und verweisen stattdessen auf die Literatur (Perko (1996)
bzw. Guckenheimer und Holmes (1983)).
Um den angekündigten Satz von Hartman und Grobman formulieren zu können, benö-
tigen wir noch eine
Mit anderen Worten: Die beiden DGL-Systeme ẋ = f (x) und ẏ = Df (0)y sind topo-
logisch äquivalent in einer Umgebung des Punktes 0. Darüber hinaus ist die Abbildung
H topologisch konjugiert. Sie bildet Orbits von ẋ = f (x) auf Orbits von ẏ = Df (0)y
nahe dem Ursprung ab und erhält die Parametrisierung der Orbits bzgl. der Zeit t. Der
interessierte Leser kann den Beweis in Perko (1996) nachlesen.
Manchmal gelingt es, den Homöomorphismus explizit anzugeben. Dies wollen wir an
folgendem Beispiel demonstrieren:
2.7 Hilfsmittel zur Konstruktion von Phasenportraits 119
Beispiel 2.55
Wir betrachten das System
ẋ1 = −x1 x01
x(0) = x0 = (2.72)
ẋ2 = x2 + x21 , x02
mit x0 ∈ R2 beliebig aber fest vorgegeben. Aufgrund der einfachen Struktur des nichtli-
nearen Systems kann der Fluss explizit angegeben werden:
x01 e−t
ϕt (x0 ) = ϕ(t; x0 ) = x2 , ∀ t ∈ R.
x02 et + 301 et − e−2t
Das System (2.72) besitzt als einzigen Fixpunkt den Ursprung. Wir suchen Men-
gen, die invariant unter dem Fluss bleiben und für die limt→∞ ϕt (x0 ) = 0 bzw.
limt→−∞ ϕt (x0 ) = 0 gilt, sofern man den Punkt x0 aus diesen Mengen nimmt. Wählen
wir die Anfangswerte x0 aus der Menge S := {x0 ∈ R2 | x02 = −x201 /3}, dann ist diese
Menge invariant unter dem Fluss ϕt :
x01 e−t
x0 ∈ S ⇒ ϕt (x0 ) = x201
∈S, (t ≥ 0) .
− 3 e−2t
x2
Eliminiert man t, dann erhält man im Phasenraum die Beziehung x2 = − 31 , was die
Zugehörigkeit zu S bedeutet.
Die Menge U := {x0 ∈ R2 | x01 = 0, x02 ∈ R} ist ebenfalls invariant unter dem Fluss
ϕt :
0
x0 ∈ U ⇒ ϕt (x0 ) = ∈U, (t ≥ 0) .
x02 et
Mit der Kenntnis der Mengen S und U lässt sich das Phasenportrait bereits qualitativ
zeichnen (siehe Abbildung 2.19, (rechts)). Da es sich bei dem Fixpunkt Null um einen
Sattelpunkt handelt, kann man zum Zeichnen der Orbits auch das linearisierte System
zu Hilfe nehmen (siehe Abbildung 2.19, (links)). Dabei ist auch schön zu sehen, dass
S und U tangential im Nullpunkt an E s = span {(0, 1)T } und E u = span {(1, 0)T }
anliegen. Man nennt diese Mengen S und U auch stabile und instabile Mannigfaltigkeiten.
Aus der Abbildung 2.19 geht hervor, was damit gemeint ist. Auf eine mathematische
Begriffsprägung wird verzichtet.
120 2 Gewöhnliche Differenzialgleichungen (DGL)
x2
y2 H U
Es
0 y1 x1
S
H −1
Eu x21
S : x22 = − 3
Die stabile Mannigfaltigkeit eignet sich als guter Kandidat für einen geeigneten Homöo-
morphismus H, der nach dem Satz von Hartman und Grobman existiert. Wir betrachten
die stetige Abbildung
x1 y1
H:R →R ,
2 2
H(x1 , x2 ) := x21
= . (2.74)
x2 + 3 y2
Sie ist wieder eine stetige Abbildung von R2 auf R2 . Darüber hinaus transformiert die
Abbildung unser nichtlineares System (2.72) in das linearisierte System (2.73). Aus (2.74)
und (2.72) folgt
Ersetzt man in der letzten Gleichung noch ẏ1 durch −y1 , dann lautet das transformierte
„y-System“:
Dabei handelt es sich genau um das aus der Linearisierung von (2.72) gewonnene System
(2.73). Für die jeweiligen Flüsse rechnet man mit H folgendes nach (Es wird aus Gründen
der Vereinfachung x̄ = x gesetzt.):
x1 e−t
H(ϕt x) = x21 x21
x2 et + 3 et − e−2t + 3 e−2t
⎛ ⎞
x1 e −t x1 e−t y e−t
= ⎝ ⎠ = 1
= x2 x2
x2 et + 31 et x2 + 31 et y2 et
e−t 0 y1
= = etA y = etA H(x) .
t
0 e y2
Beispiel 2.56
Wir betrachten das System
Die Abbildung 2.20 zeigt das Phasenportrait von (2.75). Jede Lösungskurve die in der
x2
W s (0)
W c (0)
x1
linken Halbebene startet, kann man sich im Fixpunkt mit der positiven x1 -Achse „zu-
sammengeflickt“ denken. Sie bilden eine eindimensionale Zentrumsmannigfaltigkeit, die
tangential zu E c im Ursprung ist. Der Fixpunkt x0 = (0, 0) des Systems (2.75) ist nicht
hyperbolisch, da die Linearisierung (2.76) einen Nulleigenwert aufweist. Der Satz von
122 2 Gewöhnliche Differenzialgleichungen (DGL)
Hartman und Grobman ist somit nicht anwendbar. Um zu sehen, dass die beiden Pha-
senportraits tatsächlich nichts miteinander zu tun haben, zeichnen wir die Orbits von
(2.76) (siehe Abbildung 2.21). Der stabile Unterraum E s von (2.76) ist die x2 -Achse, der
x2
x1
2.8 Aufgaben
Aufgabe 2.1
Skizzieren Sie folgende Kurvenscharen (c, c1 , c2 -Scharparameter) und bestimmen Sie ihre
dazugehörigen Differenzialgleichungen niedrigster Ordnung:
c c1 4
a) y = , c ∈ R, b) y = x + c2 , c1 , c2 ∈ R,
1 + x2 4
c) x2 + y 2 = c, c ∈ R, d) y = ecx , c ∈ R .
Aufgabe 2.2
Skizzieren Sie das Richtungsfeld von a) ẋ = t + x , b) ẋ = t2 + x2 .
Welche Gestalt der Integralkurven entnimmt man dem Richtungsfeld?
Aufgabe 2.3
Lösen Sie das AWP
1 1
ẋ = − √ , x(t0 ) = x0 , D = (0, 1) × R
t 2 1−t
Aufgabe 2.4
Lösen Sie das AWP
ẋ = 2tx2 , D = R2 , x(t0 ) = x0
Aufgabe 2.5
Es sei T : C 0 [0, 1] → C 0 [0, 1] definiert durch
t
1 2
(T u)(t) := 2 t + s · u(s) ds, t ∈ [0, 1], u ∈ C 0 ([0, 1]) .
0
a) Zeigen Sie: T ist kontraktiv.
b) Es sei (uk )k∈N rekursiv definiert durch u1 = 0 und uk+1 = T uk (k ∈ N). Geben Sie
eine Darstellung für uk (t), k ∈ N\{1}, t ∈ [0, 1] an.
c) Bestimmen Sie u∗ ∈ C 0 ([0, 1]) mit uk − u∗ → 0 für k → ∞.
d) Geben Sie über T u∗ = u∗ ein AWP an, für das u∗ eine Lösung ist.
Aufgabe 2.6
Berechnen Sie für ein festes α ∈ R die Lösung des AWP ẋ = αx, x(t0 ) = x0 mittels der
Picard-Iteration.
Hinweis: Die Methode der sukzessiven Approximation lässt sich auch auf Differenzi-
algleichungen übertragen, in dem man das AWP ẋ = f (t, x), x(t0 ) = x0 durch Inte-
!t
gration in eine Integralgleichung x(t) = x0 + t f (s, x(s)) ds umformt und dann die
0
Picard-Iteration definiert:
t
xk+1 (t) := x0 + f (s, xk (s)) ds , k ∈ N0 . (*)
t0
Als Startwert nimmt man x0 (t) ≡ x0 . Kann man die (gleichmäßige) Konvergenz der
Funktionenfolge (xk (t)) beweisen, dann folgt durch Grenzübergang in ((*))
t
x∞ = x0 + f (s, x∞ (s)) ds ,
t0
Aufgabe 2.7
Lösen Sie das AWP
(1 − x2 )y − xy = 2,
y(0) = y (0) = 0, |x| < 1,
durch einen Potenzreihenansatz y(x) = a0 + ∞ n
n=1 an x . Bekanntlich ist
1 x3 1 · 3 x5 1 · 3 · 5 x7
arcsin x = x + + + + ... , für |x| < 1 ,
2 3 2·4 5 2·4·6 7
124 2 Gewöhnliche Differenzialgleichungen (DGL)
x4 8 6
(arcsin x)2 = x2 + + x + ..., für |x| < 1.
3 45
Geben Sie unter Berücksichtigung, dass (arcsin x)2 dem oben gegebenen AWP genügt,
ein einfaches Bildungsgesetz für die Koeffizienten der entsprechenden Reihe an.
Aufgabe 2.8
Lösen Sie die Differenzialgleichung ẍ = g(x) mit der Energiemethode: Überführen Sie
.
ẍ = g(x) in ẍẋ = g(x)ẋ. Nutzen Sie die Beziehung ẍẋ = 12 (ẋ2 ) , um ẍ = g(x) in eine
Differenzialgleichung 1. Ordnung zu überführen. Lösen Sie die folgenden Differenzialglei-
chungen
a) x3 ẍ = 1 , b) ẍ = x
Aufgabe 2.9
Es seien zwei Lösungen der zu
0 1 cos t2
ẋ = 2t x+
−1 0 − sin t2
gegeben. Berechnen Sie durch das Verfahren der Variation der Konstanten eine spezielle
Lösung der angegebenen Differenzialgleichung.
Aufgabe 2.10
Gegeben sei die Differenzialgleichung
t3 x3
ẋ = + et cos(x) .
1 + x2
Geben Sie das maximale Lösungsintervall des zugehörigen AWP mit x(t0 ) = x0 an.
Begründen Sie ihre Aussage! Zeichnen Sie zusätzlich das Richtungsfeld und die Integral-
kurven unter Zuhilfenahme eines Computeralgebrasystems.
Aufgabe 2.11
Für die folgenden linearen inhomogenen DGL sind jeweils eine allgemeine Lösung der
linearen homogenen und eine partikuläre Lösung der linearen inhomogenen DGL zu be-
rechnen.
Hinweis: Man kann durch spezielle Ansätze partikuläre Lösungen linearer inhomogener
DGL n-ter Ordnung mit konstanten Koeffizienten berechnen. Hat die Inhomogenität die
Struktur
αx cos βx
(b0 + b1 x + . . . + bm x) e · ,
sin βx
so wählt man den Ansatz
falls α + iβ keine Nullstelle des charakteristischen Polynoms p ist. Ist α + iβ eine ν-fache
Nullstelle, so setzt man an
Aufgabe 2.12
Beweisen Sie für eine lineare homogene DGL n-ter Ordnung mit konstanten Koeffizienten
ai , i = 0 . . . , n − 1 (siehe (2.49)) die folgende Behauptung: Die geometrische Vielfachheit
eines k-fachen Eigenwertes λ0 ist m(λ0 ) = n − rg(A − λ0 I) = 1.
Hinweis: Verwenden Sie für die DGL die Darstellung (2.50) mit b(t) ≡ 0. A ist die
Matrix A(t) mit konstanten Einträgen ai , i = 0, . . . , n − 1.
Aufgabe 2.13
Lösen Sie folgende Systeme gewöhnlicher Differenzialgleichungen mit konstanten Koeffi-
zienten:
⎛ ⎞ ⎛ ⎞⎛ ⎞
ẋ −1 1 −1 x
ẋ 2 8 x ⎜ ⎟ ⎜ ⎟⎜ ⎟
a) = , b) ⎝ẏ ⎠ = ⎝ 2 −1 2 ⎠ ⎝y ⎟
⎜ ⎟ ⎜ ⎟ ⎜
⎠.
ẏ 3 −8 y
ż 2 2 −1 z
Aufgabe 2.14
Lösen Sie folgende Systeme gewöhnlicher Differenzialgleichungen mit zeitabhängigen Ko-
effizienten durch Umwandlung in eine Differenzialgleichung 2. Ordnung:
ẋ 0 −2/t2 x 2t2 ẋ −t 1 x
a) = , b) = .
ẏ −1 0 y 2tẏ t 1 y
126 2 Gewöhnliche Differenzialgleichungen (DGL)
Aufgabe 2.15
Lösen Sie die AWP
a) ẋ = x + y , ẏ = 4x − 2y , x(0) = 0 , y(0) = 5 ,
b) ẋ = 3x − 4y , ẏ = x − y , x(0) = 3 , y(0) = 1 ,
c) ẋ = 4x + y − 36t , ẏ = −2x + y − 2et , x(0) = 0 , y(0) = 10 .
Aufgabe 2.16
Bestimmen Sie ein reelles Fundamentalsystem zum System
⎛ ⎞
1 1 0 0
⎜ ⎟
⎜0 1 0 0 ⎟
ẋ = Ax, x ∈ R4 , A=⎜
⎜
⎟.
⎟
⎝2 −2 3 −2⎠
2 −1 4 −1
Aufgabe 2.17
Skizzieren Sie das Phasenportrait des Systems ẋ = Ax , x ∈ R2 , für jeden der angegebe-
nen Fälle. Untersuchen Sie den Fixpunkt x0 = (0, 0) auf Stabilität.
1 0 0 1 1 0
a) , b) , c) ,
0 −1 −1 0 0 1
0 0 0 0 −1 −1
d) , e) , f) .
0 −1 1 0 1 −1
Aufgabe 2.18
Skizziere Sie die Phasenportraits der folgenden nichtlinearen Systeme in der Nähe ihrer
Fixpunkte.
a) ẋ1 = x1 (1 − x2 ) b) ẋ1 = x1 (1 − x1 )
ẋ2 = x2 (1 − x1 ) , ẋ2 = −2x2 (1 − βx1 ) (β ∈ R) .
Aufgabe 2.19
Fertigen Sie eine Beweisskizze des Satzes von Hartman und Grobman (Satz 2.54) an,
indem Sie die Literatur zu Hilfe nehmen (z. B. Perko (1996) S.119).
3 Bifurkation bei gewöhnlichen
DGL
Übersicht
3.1 Strukturelle Stabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
3.2 Einige typische Bifurkationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
3.3 Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
weiterer Beispiele seien die Bücher von Guckenheimer und Holmes (1983), Chow und
Hale (1982) und Wiggins (1990) empfohlen.
Das Bifurkationsverhalten kann von zwei Faktoren abhängen:
1. Wie verändert sich das qualitative Verhalten der Lösung der DGL
wenn das Vektorfeld f geändert wird? Bleibt das qualitative Verhalten der Lösung bei
„kleinen Störungen“ (Begriff wird noch präzisiert) erhalten, dann nennt man das Sys-
tem (3.1) oder das Vektorfeld f strukturell stabil. Die Idee der strukturellen Stabilität
geht auf Andronov 1 und Pontrjagin 2 aus dem Jahr 1937 zurück. Für zweidimensionale
Systeme sind die strukturell stabilen Vektorfelder durch Peixoto’s Theorem vollstän-
dig charakterisiert. Ein entsprechendes Resultat ist für höherdimensionale Vektorfel-
der (n ≥ 3) nicht verfügbar.
2. Eine Änderung des qualitativen Verhaltens der Lösung in DGL-Systemen der Form
kann auch durch Änderung des Parameters μ hervorgerufen werden. Bei uns ist stets
μ ∈ R. Wir betrachten f in der Umgebung einer Ruhelage (x0 , μ0 ) ∈ Ω × R, d. h.
f (x0 , μ0 ) = 0 und untersuchen, ob es weitere Ruhelagen in der Nähe des Wertes μ0
gibt und von welchem Stabilitätstyp diese sind.
Ein wichtiges Prinzip der Bifurkationstheorie wird sich bei den Beispielen herausstellen:
Der Verlust der Stabilität in einem Punkt führt zur Bifurkation der DGL.
folgt, dass f und g topologisch äquivalent auf Ω sind. Strukturell instabil heißt f , falls
es nicht strukturell stabil ist. (In · C 1 bezeichnen | · | die Euklidische Norm im Rn und
· eine der üblichen Matrixnormen.)
Beispiel 3.2
Wir betrachten das lineare System
ẋ = Ax , x ∈ Rn
mit konstanter reeller Koeffizientenmatrix A ∈ Rn×n . Sind die Realteile der Eigenwerte
von A verschieden von Null, dann sind diese Systeme strukturell stabil.
Beispiel 3.3
Wir betrachten ein einfaches Zweipopulationenmodell, wobei
x(t) die Population der Beutespezies zur Zeit t und
y(t) die Population der Räuberspezies zur Zeit t
bezeichnen (z. B. Karpfen und Hechte). Für jede Population gilt die Wachstumsgleichung
ṗ = r(t, p)p.
Dabei ist r = pṗ die totale Änderungsrate (die zeitliche Änderung ṗ = dp
dt , bezogen auf die
Gesamtpopulation p) zur Zeit t. Bei zwei Populationen wird natürlich die Wachstumsrate
der einen Population durch die andere beeinflusst, d. h. es gilt
ẋ = r1 (t, x, y)x, ẏ = r2 (t, x, y)y.
In unserem Modell nehmen wir an, dass die Räuberspezies sich ausschließlich von den
Beutespezies ernähren, während die Beutespezies unbegrenzt Nahrung vorfinden. Ein
einfacher Ansatz ist von der Form
r1 (t, x, y) = α − βy, α, β > 0.
Er lässt die Interpretation zu: Wenn kein Räuber vorhanden ist (y = 0) entwickelt sich
die Beutepopulation mit der konstanten Wachstumsrate α. Die Anwesenheit der Räu-
berspezies verringert diese Wachstumsrate und zwar proportional zur Räuberpopulation.
Analog wird der Ansatz
r2 (t, x, y) = −γ + δx, γ, δ > 0
130 3 Bifurkation bei gewöhnlichen DGL
Der Fixpunkt (0, 0) ist ein Sattelpunkt (zwei im Vorzeichen unterschiedliche reelle Eigen-
werte). Der stabile Unterraum ist die y-Achse, der instabile Unterraum die x-Achse. Mit
dem Hartman-Grobman-Theorem (vgl. Satz 2.54) ist somit der Phasenverlauf lokal um
(0, 0) klar. Der andere kritische Punkt ( γδ , α γ α
β ) ist nicht hyperbolisch ((3.4) hat in ( δ , β )
den doppelten Eigenwert Null) und damit das Theorem von Hartman und Grobman nicht
anwendbar. In diesem konkreten Fall kommt man mit der Phasendifferentialgleichung,
also mit dem Berechnen eines ersten Integrals für die DGL (3.3) weiter. Die Orbits von
(3.3) liegen dann in den Niveaulinien des ersten Integrals. Die Phasendifferentialgleichung
lautet:
dy y(γ − δx)
=− (3.5)
dx x(α − βy)
Diese DGL ist trennbar:
α γ
β− y = − δ (x > 0, y > 0).
y x
Ihre Lösung lautet
βy − α ln y = γ ln x − δx + c, c ∈ R.
F (x, y) := βy − α ln y + δx − γ ln x = c. (3.6)
Damit kann auch das Phasenportrait in der Umgebung des Fixpunktes ( γδ , α β ) gezeichnet
werden. (Den Beweis, dass die Höhenlinien von (3.6) geschlossen sind, überlassen wir
dem Leser.) Die Populationsfluktuation der Räuber- und Beutespezies zeigt Abbildung
3.1 (links) während in Abbildung 3.1 (rechts) tatsächlich zu sehen ist, wie die Population
von Räubern und Beute oszilliert.
Aus dem Phasenportrait liest man das Langzeitverhalten der beiden Populationen ab,
wobei nur die Lösungskurven für uns von Interesse sind, die im 1. Quadranten liegen,
da es keine negativen Populationen gibt. Das Verhalten ist überdies stabil gegen kleine
Änderungen in den Anfangswerten x̄0 > 0, ȳ0 > 0.
3.1 Strukturelle Stabilität 131
2
1.8
1.6 1.5
y
1.4
1
1.2
0.5
1
0.8
–1 1 2 3 4
0.6
x
–0.5
0.4
0 10 20 30 40
–1
t
Gilt dagegen x̄0 = 0, ist also am Anfang keine Beutespezies da, so stirbt die Räuber-
spezies aus (y(t) → 0 für t → ∞). Ist ȳ0 = 0 (keine Räuberspezies vorhanden), so
wächst die Beutepopulation unbegrenzt (x(t) → ∞ für t → ∞). Eine kleine Änderung
in den Anfangsdaten (z. B. der Übergang von x0 = 0 zu x0 > 0) hat ein total anderes
Langzeitverhalten zur Folge.
Stört man das Vektorfeld in Gleichung (3.3), indem man die Nichtlinearität −(νx2 , μy 2 )T
hinzufügt, dann lautet das System
Die Linearisierung von (3.7) hat nicht wie die Linearisierung (3.4) einen doppelten Nullei-
genwert. Dieser wurde durch die Nichtlinearität −(νx2 , μy 2 )T „zerstört“. Die Fixpunkte
des Systems (3.7) sind wieder hyperbolisch und können mit dem Satz von Hartman und
Grobman diskutiert werden.
Die hyperbolischen Fixpunkte sind in einem gewissen Sinn stabil, d. h. kleine Änderungen
von f können den Charakter des Fixpunktes nicht „zerstören“. Genaue Voraussetzungen
macht der folgende
Eine andere Situation ergibt sich, wenn das DGL-System Orbits enthält, die Sattelpunkte
verbinden, sogenannte heterokline Orbits. Dann kann man nicht mehr von strukturell sta-
bilen Vektorfeldern sprechen. Das DGL-System in Beispiel 3.5 besitzt homokline Orbits.
Hierbei handelt es sich um Lösungen, die sich in der Vorwärts- und in der Rückwärtszeit
gegen ein und denselben Fixpunkt bewegen.
Beispiel 3.5
Wir betrachten das System
ẋ = y, ẏ = μy + x − x3 . (3.8)
Für μ = 0 liegt ein Hamiltonsches DGL-System zugrunde. Darunter versteht man ein
DGL-System im R2 der Form ẋ = ∂H ∂y (x, y) und ẏ = − ∂x (x, y), wobei H : R → R
∂H 2
eine C 1 -Funktion ist, die man Hamiltonfunktion nennt. Die Hamiltonfunktion für (3.8)
4
lautet: H(x, y) := 12 (y 2 − x2 ) + x4 . Sie hat die Eigenschaft, dass sie entlang jeder
Lösungskurve konstant ist. Die Kenntnis einer Hamiltonfunktion hat den Vorteil, dass
man das Phasenportrait zeichnen kann, ohne das DGL-System gelöst zu haben. Alle
Lösungen liegen in den Niveaulinien H(x, y) = const. Die Niveaulinien für H(x, y) = c
sind in Abbildung 3.2 b) gezeichnet. Wir sehen, dass für μ = 0 zwei Fixpunkte (±1, 0)
vorliegen, die Zentren sind. Die Linearisierung an den Fixpunkten (±1, 0) besitzt je
einen konjugiert komplexen, rein imaginären Eigenwert. Des Weiteren gibt es zwei, zur
x-Achse symmetrische homokline Orbits an den Fixpunkt (0, 0), die geschlossene von
nicht geschlossenen Orbits trennen. Ihre Vereinigung heißt in diesem Zusammenhang
auch Separatrix. Für μ = 0 ist dieses System strukturell instabil auf jeder kompakten
Teilmenge K ⊂ R2 .
y y y
x x x
a) μ < 0 b) μ = 0 c) μ > 0
Abb. 3.2 Phasenportrait für die Gleichung (3.8)
Das Phasenportrait wird in Abbildung 3.2 gezeigt und es ist klar, dass das Phasenportrait
für μ = 0 nicht topologisch äquivalent zu dem mit μ = 0 ist. Es ist sogar so, dass für
μ = 0 die Separatrix zerstört wird.
3.2 Einige typische Bifurkationen 133
deren rechte Seite f : Ω → R auf einer offenen Menge Ω ⊆ R2 von der Klasse C k , k ≥ 1
ist, und die für einen Parameterwert μ0 eine stationäre Lösung x0 (also f (x0 , μ0 ) = 0)
besitzt. Wir interessieren uns nun für folgende Fragestellungen:
Unter welchen Bedingungen besitzt die Gleichung (3.9) für Werte des Parameters μ
nahe μ0 weitere stationäre Lösungen in der Nähe von x0 ?
Wie viele Ruhelagen gibt es und welchen Stabilitätstyp besitzen sie?
Da die Begriffe Sattel und Knoten bei skalaren DGL keinen Sinn ergeben, wäre die Be-
zeichnung irreführend. Sie wird jedoch sofort verständlich, wenn man zu der Gleichung
(3.9) z. B. die Gleichung ẏ = −y hinzufügt und das Ganze als zweidimensionales System
betrachtet. Die Bifurkationscharakteristik wird dadurch nicht verändert. Im zweidimen-
sionalen Phasenraum sind dann wieder Sattel- bzw. Knotenpunkte erkennbar. Ein Pha-
senportrait im (x, μ)-Raum, aus dem insbesondere die Ruhelagen sichtbar sind, nennen
wir Bifurkationsdiagramm (auch Verzweigungsdiagramm).
Zunächst kann man mit Hilfe des Satzes über implizite Funktionen sofort Bedingun-
gen angeben, für die sich die Anzahl der stationären Lösungen in der Nähe von x0 bei
Variation des Parameters μ nicht ändern.
Außer den stationären Lösungen (g(μ), μ), μ ∈ V, besitzt die DGL (3.9) keine weiteren
stationären Lösungen in U × V .
Die Bedingung fx (x0 , μ0 ) = 0 sichert, dass (x0 , μ0 ) kein Bifurkationspunkt ist. Umge-
kehrt ist die Bedingung fx (x0 , μ0 ) = 0 notwendig, aber nicht hinreichend dafür, dass
(x0 , μ0 ) ein Bifurkationspunkt ist.
134 3 Bifurkation bei gewöhnlichen DGL
ẋ = μ − x2 , ẏ = −y (μ ∈ R). (3.10)
Die Fixpunkte ergeben sich aus ẋ = ẏ = 0. Für (3.10) gibt es (i) keinen, (ii) einen
oder (iii) zwei Fixpunkte, die von den Werten μ abhängen. Wir betrachten die drei Fälle
separat.
Fall (i): Falls μ < 0 ist, dann gibt es keine reellen Fixpunkte in der Ebene und der
Fluss fließt von „rechts nach links“, da ẋ < 0 ist. Die Sprechweise „der Fluss fließt von
rechts nach links“ wird sofort klar, wenn man sich das eindimensionale Phasenportrait
(Abbildung 3.3) ansieht. Es entsteht einfach durch Weglassen der zweiten Gleichung in
(3.10).
x
x x
μ<0 μ=0 μ>0
Abb. 3.3 Phasenportrait für ẋ = μ − x2 , x, μ ∈ R
Fall (ii): Falls μ = 0 ist, dann gibt es genau einen kritischen Punkt im Ursprung. Die
Lösungskurven für den Phasenraum ergeben sich aus der Phasendifferentialgleichung
dy y
= 2.
dx x
Diese separierbare DGL hat die Lösung
Es ist ẋ < 0 für alle x ∈ R\{0}. Im eindimensionalen Phasenraum ist der Fluss wieder
nach links gerichtet (siehe Abbildung 3.3 für μ = 0).
√ √
Fall (iii): Falls μ > 0, dann gibt es zwei reelle Fixpunkte x0 = μ und x1 = − μ.
Durch die Kurve μ − x2 = 0 wird die Position der kritischen Punkte der DGL ẋ = μ − x2
bestimmt. Den eindimensionalen Phasenverlauf entnehmen wir wieder Abbildung 3.3 für
μ > 0.
Das System (3.10) wird jetzt an den Fixpunkten linearisiert:
√
√ ∓2 μ 0
fx (± μ, 0) = .
0 −1
√
Die Eigenwerte und Eigenvektoren im Fall des Fixpunktes ( μ, 0) lauten λ1 =
√ √
−2 μ, v1 = (1, 0)T und λ2 = −1, v2 = (0, 1)T . Der Fixpunkt ( μ, 0) ist ein sta-
biler Knoten und die stabilen Mannigfaltigkeiten sind orthogonal zueinander. Für den
3.2 Einige typische Bifurkationen 135
√
Fixpunkt (− μ, 0) erhalten wir nach entsprechender Betrachtung einen Sattel. Aus dem
eindimensionalen Phasenraum (siehe Abbildung 3.3) ergibt sich das zweidimensionale
Phasenportrait wie folgt: Man trage in den Fixpunkten der Abbildung 3.3 jeweils eine
„stabile y-Richtung“ an (siehe Abbildung 3.4).
y y y
√
− μ
√
x x μ x
a) μ < 0 b) μ = 0 c) μ > 0
Abb. 3.4 Phasenbilder des Systems ẋ = μ − x2 , ẏ = −y
Aus den drei Bildern in Abbildung 3.4 kann man auch ein dreidimensionales Phasenpor-
trait zeichnen, indem man die drei Bilder entlang der μ-Achse „übereinanderlegt“ (siehe
Abbildung 3.6). Man erkennt deutlich die Bifurkationsparabel μ = x2 mit dem stabilen
und dem instabilen Zweig (verschiedene Punktdarstellungen).
μ
" "
# #
" "
# #
" "
# #
! ! ! ! " "
# #
$ $ $
% % %
& & & & & & & & & & &
' ' ' ' ' ' ' ' ' ' '
$ $ $
% % %
& & & & & & & & & & &
' ' ' ' ' ' ' ' ' ' '
$ $ $
% % %
& & & & & & & & & & &
' ' ' ' ' ' ' ' ' ' '
x
$
$
$
y
x
0
μ
Gleichgewichtspunkte vom Ursprung ab, die sich mit wachsendem μ immer weiter von-
einander entfernen. Dies ist klar, da die Fixpunkte die Gleichung μ = x2 erfüllen und das
Bifurkationsdiagramm die Form einer Parabel hat. Der durchgezogene Zweig ist der sta-
bile, der gestrichelte Zweig der instabile Fixpunkt. Der Verlust der Stabilität im Ursprung
führt also zur Bifurkation der DGL.
Allgemein kann man an einer skalaren parameterabhängigen Differenzialgleichung ẋ =
f (x, μ) ihren Sattel-Knoten-Charakter wie folgt erkennen: Zunächst sollte (0, 0) eine
nichthyperbolische Ruhelage sein. Dies ist gewährleistet durch die Bedingungen
f (0, 0) = 0, fx (0, 0) = 0.
1
f (x, μ) = fμ (0, 0)μ + [fxx (0, 0)x2 + 2fxμ (0, 0)xμ + fμμ (0, 0)μ2 ] + Rest (x, μ) .
2
Man kann sich nun überlegen, dass das Erfülltsein der Bedingungen
das Auftreten einer Sattel-Knoten-Bifurkation sichert. Kennt man das Vorzeichen von
fxx (0, 0), dann kann man Aussagen über die Stabilität der beiden Ruhelagen machen
(siehe Aulbach (1997), S. 358 ff.).
Bemerkung 3.7
Bei der skalaren DGL ẋ = f (x) kann man aus den Ableitungen der rechten Seite an
einem Fixpunkt x0 auf die Stabilität dieser Ruhelagen schließen:
Im Fall f (x0 ) = 0 müssen höhere Ableitungen herangezogen werden, wie wir im Fall der
Sattel-Knoten-Bifurkation gesehen haben.
ẋ = μx − x2 , μ∈R (3.11)
und aus den uns bekannten Gründen der besseren Veranschaulichung das zweidimensio-
nale System
ẋ = μx − x2 , ẏ = −y (μ ∈ R). (3.12)
3.2 Einige typische Bifurkationen 137
Die kritischen Punkte von (3.11) sind x = 0 und x = μ. Für μ = 0 gibt es nur einen
Fixpunkt x = 0 und dieser ist nicht hyperbolisch, da fx (0, 0) = 0 gilt. Das Vektorfeld
f (x) = −x2 ist strukturell instabil und μ = 0 ist ein Bifurkationspunkt. Für μ = 0
lautet die Zentrumsmannigfaltigkeit W c (0) = (−∞, ∞). Das Bifurkationsdiagramm ist
in Abbildung 3.7 gezeichnet. Man erkennt, dass am Fixpunkt x = 0 (μ = 0), der gleich-
zeitig Bifurkationspunkt ist, ein Stabilitätswechsel stattfindet. Der Verlust der Stabilität
im Ursprung führt wieder zur Bifurkation der DGL (3.11).
x x x
μ<0 μ=0 μ>0
Abb. 3.7 Phasenportrait für die DGL (3.11)
Etwas anschaulicher wird unser Phasenportrait, wenn wir die Gleichung ẏ = −y hin-
zunehmen. Man denke sich also wieder eine stabile Mannigfaltigkeit in den Fixpunkten
parallel zur y-Achse angetragen (siehe Abbildung 3.8). Falls μ < 0, dann ist der Ursprung
ein stabiler Knoten und x = μ ist ein Sattel. Falls μ = 0, dann ist x = 0 ein nichthyper-
bolischer Fixpunkt. Die Lösungskurven genügen der Phasendifferenzialgleichung
dy y
= 2, x = 0,
dx x
die die Lösung y(x) = c e−1/x mit c = const besitzt. Im Fall μ > 0 ist der Ursprung ein
Sattel und x = μ ist ein stabiler Knoten (siehe Abbildung 3.8). Das Stabilitätsverhalten
y y y
x x x
a) μ < 0 b) μ = 0 c) μ > 0
Abb. 3.8 Phasenportrait der DGL (3.12) bei verschiedenen Parameterwerten
μ>0
x
μ=0
μ
μ<0
a) b)
Abb. 3.9 Transkritische Bifurkation: ẋ = μx − x , ẏ = −y.
2
a) eindimensional, b) zweidimensional
ẋ = μx − x3 , μ∈R (3.13)
ẋ = μx − x3 , ẏ = −y (μ ∈ R). (3.14)
Eine einfache Rechnung zeigt, dass sowohl (3.13) als auch (3.14) entweder einen Fixpunkt
oder drei Fixpunkte besitzt. Für μ ≤ 0 ist x = 0 einziger Fixpunkt, für μ > 0 gibt es drei
√
Fixpunkte: x = 0 und x = ± μ. Für μ = 0 ist x = 0 nichthyperbolischer Fixpunkt, da
fx (0, 0) = 0 ist. Das Vektorfeld f (x) = −x3 ist strukturell instabil. Kleinste Störungen
können das Phasenportrait verändern (siehe Abbildung 3.10). Folglich ist μ = 0 ein
Bifurkationspunkt.
Das Phasenportrait für die Gleichung (3.13) ist in Abbildung 3.11 aufgezeichnet. Das
Bifurkationsdiagramm ist in Abbildung 3.12 a) zu sehen und der Typ der Bifurkation ist
treffend Pitchfork-Bifurkation (Heugabel-Bifurkation) genannt.
3.2 Einige typische Bifurkationen 139
x x x
μ≤0 μ>0
Abb. 3.11 Phasenportrait für die DGL (3.13)
Die Abbildung 3.12 b) zeigt das Phasenportrait von Gleichung (3.14). Für μ = 0 erhalten
wir aus
dy y
= 3
dx x
2
die Lösungen y(x) = c e−1/(2x ) . Der Fixpunkt x = 0 ist für μ ≤ 0 ein stabiler Knoten.
√
Für μ > 0 haben wir die drei Fixpunkte (0, 0) und (± μ, 0). Der Ursprung ist jetzt ein
√
Sattelpunkt und die Fixpunkte (± μ, 0) sind stabile Knoten.
Die Sattel-Knoten-, Transkritische- und Pitchfork-Bifurkation sind sicherlich die häufigs-
ten Typen von Bifurkationen, die in eindimensionalen Systemen auftreten können. Hier
ist nur für gewisse Prototypen das Bifurkationsverhalten erklärt worden. Diese Situa-
tionen lassen sich auch verallgemeinern und durch Bedingungen an die Ableitungen des
Vektorfeldes f (x, μ) charakterisieren, so wie es im Fall der Sattel-Knoten-Bifurkation
beschrieben ist. Beispielsweise tritt die transkritische Bifurkation mit ihrem typischen
Bifurkationsdiagramm (siehe Abbildung 3.9) stets dann ein, wenn folgende Bedingungen
an f erfüllt sind: f (0, μ) = 0 für alle μ ∈ (−δ, δ), δ > 0 und fx (0, 0) = 0. Hieran
erkennt man sofort, dass es sich um ein anderes Verzweigungsproblem handelt als bei der
Sattel-Knoten-Bifurkation. Dort wurde fμ (0, 0) = 0 vorausgesetzt (f (0, μ) = 0 für alle
μ verhindert dies). Des Weiteren wird für die transkritische Bifurkation fxμ (0, 0) = 0
und fxx (0, 0) = 0 benötigt. Unter diesen Voraussetzungen kann bis auf Homöomorphie
stets das Bifurkationsdiagramm aus Abbildung 3.9 nachgewiesen werden. Die stabilen
und instabilen Zweige sind lediglich eine Frage der Vorzeichen der Ableitungen. Auch
für die Heugabel-Bifurkation ist eine solche Betrachtungsweise möglich. Es sei hier noch
einmal auf Aulbach (1997) verwiesen, wo diese verschiedenen Bifurkationsphänomene
theoretisch vollständig ausgearbeitet sind.
140 3 Bifurkation bei gewöhnlichen DGL
μ>0
x
μ=0
μ
μ<0
a) b)
Allen bisher erwähnten Bifurkationsphänomenen ist gemeinsam, dass die Eigenwerte der
Jacobi-Matrix im Gleichgewichtszustand reell sind. Der Fall konjugiert komplexer Eigen-
werte ist bisher nicht aufgetreten, obwohl er der Interessanteste ist. Er führt zu einem
Klassiker unter den Verzweigungen – der Hopf-Bifurkation. Benannt nach dem Mathema-
3.2 Einige typische Bifurkationen 141
tiker Eberhard Hopf 3 , der diesen Verzweigungstyp 1942 für Systeme im Rn studierte. Die
Fixpunkte sind alle nicht hyperbolisch. Insofern handelt es sich um strukturell instabile
Systeme von DGL, die in Abhängigkeit vom Parameter μ ihr qualitatives Lösungsver-
halten ändern. Der Bifurkationstyp wird auch noch einmal im Abschnitt 4.3 behandelt.
Wir betrachten ein ebenes System
wobei die Matrix fx (x0 , μ0 ) ein Paar rein imaginärer Eigenwerte besitzt. Mit dieser For-
derung grenzen wir uns gegen die anderen drei Grundtypen von Bifurkationen aus dem
vorigen Abschnitt ab. Es ist zu vermuten, dass ein neues Bifurkationsphänomen entsteht.
Zunächst untersuchen wir die Fixpunkte von (3.15). Es möge (x0 , μ0 ) ein Fixpunkt von
(3.15) sein, d. h. es gilt f (x0 , μ0 ) = 0. Da die Linearisierung fx (x0 , μ0 ) nur ein paar
rein imaginärer Eigenwerte besitzt, garantiert der Satz über implizite Funktionen, dass
es für jedes μ nahe μ0 einen einzigen Fixpunkt xμ nahe x0 gibt. Falls die Eigenwerte
von fx (xμ , μ) die imaginäre Achse für μ = μ0 überqueren, dann werden sich die Dimen-
sionen von stabiler und instabiler Mannigfaltigkeit von xμ ändern; ebenfalls die lokalen
Phasenportraits von (3.15).
Um die nachfolgenden Betrachtungen zu erleichtern nehmen wir einige Vereinfachungen
vor, die sich in konkreten Fällen leicht bewerkstelligen lassen. Wir setzen voraus, dass
die Schar der Ruhelagen xμ nur aus trivialen Ruhelagen besteht, d. h. dass der Stabi-
litätswechsel beim Parameterwert Null stattfindet. Die parameterabhängige Koeffizien-
tenmatrix der Linearisierung möge bereits in reeller Jordanscher Normalform vorliegen.
Dann kann man das folgende ebene autonome System der Form
ẋ α(μ) −β(μ) x f (x, y, μ)
= + (3.16)
ẏ β(μ) α(μ) y g(x, y, μ)
mit
3
Eberhard Hopf (1902–1983), österreichisch-amerikanischer Mathematiker, arbeitete auf dem Ge-
biet der elliptischen DGL, der Hydro- und Aerodynamik und der Ergodentheorie.
142 3 Bifurkation bei gewöhnlichen DGL
Das Überschreiten der imaginären Achse durch das Eigenwertpaar α(μ) ± iβ(μ) setzen
wir als „transversal“ (d. h. die imaginäre Achse wird tatsächlich überquert) voraus. Die
entsprechende Transversalitätsbedingung lautet
α (0) = 0 . (3.19)
Die Bedingungen, die an die Ableitungen von f gestellt werden müssen, sind im vorlie-
genden Fall von komplizierterer Natur. Der Ausdruck
A2
+ A3 = 0 mit (3.20)
β(0)
A2 := f02 g02 − f20 g20 + f11 (f20 + f02 ) − g11 (g20 + g02 ),
A3 := f30 + f12 + g21 + g03 ,
∂ i+j f (0, 0, 0) ∂ i+j g(0, 0, 0)
fij := , gij :=
(∂x)i (∂y)j (∂x)i (∂y)j
sichert letztlich die Hopf-Bifurkation. Wir wollen unsere Ausführungen nun präzisieren.
i. Das System (3.16) besitzt in U × [−ε0 , ε0 ] keine Ruhelagen außer den trivialen
(0, 0, μ), μ ∈ [−ε0 , ε0 ].
ii. Für α (0) > 0 sind die trivialen Ruhelagen für μ ∈ [−ε0 , 0) asymptotisch stabil und
für μ ∈ (0, ε0 ] instabil. Im Fall α (0) < 0 gelten umgekehrte Aussagen.
iii. Für μ = 0 ist die triviale Lösung asymptotisch stabil bzw. instabil, je nach dem ob
A2
β(0) + A3 negativ oder positiv ist.
. A /
iv. Für β(0) 2
+ A3 α (0) > 0 gibt es für jedes μ ∈ [0, ε0 ] keine geschlossene Trajektorie
in U , während es für jedes μ ∈ [−ε0 , 0) genau eine geschlossene Trajektorie in U gibt.
Diese ist anziehend für α (0) < 0 und abstoßend für α (0) > 0. Ein entsprechendes
. A /
Resultat gilt für den Fall β(0) 2
+ A3 α (0) < 0.
Beweis: Die Idee besteht darin, dass System (3.16) in Polarkoordinaten zu transformie-
ren, was auf eine Gleichung der Form
führt. Die Trajektorien dieses Systems lassen sich dann mit Hilfe der Phasendifferential-
gleichung
dr α(μ)r + F (r, ϕ, μ)
= (3.21)
dϕ β(μ) + G(r, ϕ, μ)
3.2 Einige typische Bifurkationen 143
Beispiel 3.9
Wir betrachten das planare System
ẋ = −y + x(μ − x2 − y 2 )
(3.22)
ẏ = x + y(μ − x2 − y 2 ) .
Der Leser überlege sich, dass (3.22) als einzigen Fixpunkt (x(μ), y(μ)) = (0, 0) für alle
μ ∈ R besitzt. Weiter gilt für die Linearisierung am Fixpunkt
μ −1
Dxy f ((0, 0), μ) = . (3.23)
1 μ
Die Eigenwerte von (3.23) lauten: λ1,2 (μ) := μ ± i. Für μ < 0 ist der Gleichge-
wichtszustand ein stabiler Fokus (Re λ1,2 (μ) < 0), und für μ > 0 ein instabiler Fokus
(Re λ1,2 (μ) > 0). Man nennt einen Fokus auch noch Spiralpunkt. Er ist dadurch ge-
kennzeichnet, dass sich die Phasenkurven des DGL-Systems ẋ = Ax, A ∈ R2×2 mit
wachsender Zeit in den Fixpunkt „spiralen“ (stabiler Fokus). Ein instabiler Fokus „spi-
ralt“ sich mit t → −∞ in den Fixpunkt. Für μ = 0 besitzt (3.23) ein Paar rein imaginärer
Eigenwerte und man kann zeigen (siehe Perko (1996), S. 142, Theorem 5 und S. 188),
dass der Ursprung entweder ein Zentrum oder ein Fokus des Systems (3.22) ist. Für den
Entwurf des Phasenportraits ist es geeigneter, das System (3.22) in Polarkoordinaten zu
betrachten. Das ist u. a. auch ein Grund, warum in (3.22) die Nichtlinearität genau diese
Struktur hat. Führt man die Transformation
ṙ = r(μ − r 2 ) , ϕ̇ = 1 . (3.24)
Wir sehen, dass für μ = 0 der Ursprung ein stabiler Fokus ist und für μ > 0 ein stabiler
Grenzzyklus
√
γμ (t) = μ (cos t, sin t)T , t ∈ [0, 2π]
144 3 Bifurkation bei gewöhnlichen DGL
vorliegt (siehe Abbildung 3.13). Ein Grenzzyklus (engl.: limit cycle) ist eine geschlossene
Lösungskurve im Phasenraum (bzw. Phasendiagramm) gegen die entweder alle Orbits,
die in unterschiedlichen Startpunkten beginnen, konvergieren oder auf der Trajektorie
beginnen und dort verbleiben. Entsprechendes gilt für wachsende negative Zeiten.
y y
γμ (t)
x x
Die Kurve γμ (t) repräsentiert eine Familie von Grenzzyklen (Familienparameter μ) dieses
Systems. Das Bifurkationsdiagramm zeigt Abbildung 3.14. Die obere Kurve stellt eine
einparametrige Familie von Grenzzyklen γμ dar, die eine Oberfläche im R2 × R definieren.
Die Bifurkation des Grenzzyklus vom Ursprung tritt im Bifurkationswert μ = 0 auf. Im
Bifurkationspunkt μ = 0 tritt wieder ein Stabilitätswechsel ein, welches unser früheres
„Bifurkationsprinzip“ bestätigt.
y x
r
0
γμ
0 μ
Abb. 3.14 Das Bifurkationsdiagramm von (3.24) und die einparametrische Familie von Grenz-
zyklen γμ , die aus der Hopf-Bifurkation von (3.22) resultiert
r 1
√1
0
0
0 μ − 14 0 μ
Beispiel 3.10
Abhängig vom Vektorfeld in (3.16) gibt es auch Systeme mit zwei Grenzzyklen. Betrachten
wir das System
ṙ = r(μ + r2 − r4 ) , ϕ̇ = 1 . (3.25)
Der Ursprung ist Fixpunkt für jedes μ. Das System (3.25) durchläuft in μ = 0 eine
superkritische Hopf-Bifurkation, d. h. der Fixpunkt x = y = 0 ist stabil für μ < 0 und
instabil für μ > 0. Dann gibt es noch zwei weitere Fixpunkte:
5 6 5 6 " #
1 1 1 1 1 1
r1 (μ) = + + μ , μ ≥ − und r2 (μ) = − + μ, μ ∈ − ,0 .
2 4 4 2 4 4
Das Hopf-Bifurkationsdiagramm ist in Abbildung 3.16 gezeichnet. Daraus lesen wir das
folgende Bifurkationsszenario ab: Für μ ≥ 0 ist die triviale Lösung instabil, und es gibt
einen stabilen Grenzzyklus mit „großer“ Amplitude. (Mit dem Begriff „groß“ wollen
wir uns gegenüber der klassischen Hopf-Bifurkation in Abbildung 3.14 abgrenzen, wo
die Amplitude von Null auf nur kleine Werte wächst.) Im Parameterwert μ = 0 wird
ein weiterer Grenzzyklus, beginnend mit Amplitude Null geboren. Der Stabilitätswechsel
erfolgt in μ = 0, und zwar so, dass jetzt die triviale Lösung stabil ist, der Grenzzyklus
mit der kleineren Amplitude instabil und der äußere Grenzzyklus wieder stabil ist. Mit
fallendem μ, μ ∈ − 14 , 0 wächst die Amplitude des inneren Grenzzyklus an, bis beide
Grenzzyklen im Parameterwert μ = − 14 zu einem Grenzzyklus verschmelzen und der für
μ > − 14 verschwindet. Dabei bleibt für μ < 0 die triviale Lösung stets asymptotisch
stabil. In Abbildung 3.17 wird noch einmal im (μ, x, y)-Diagramm (und auch im (x, y)-
Diagramm) das Bifurkationsszenario dargestellt.
In einem weiteren Beispiel soll u. a. das Bestehen eines Grenzzyklus für alle μ ∈ R gezeigt
werden. Außerdem gibt es einen weiteren Grenzzyklus für alle μ > −1.
146 3 Bifurkation bei gewöhnlichen DGL
y
x
y
− 14 μ x
Beispiel 3.11
Wir betrachten das System
ẏ = x − y(x2 + y 2 − 1)(x2 + y 2 − 1 − μ)
oder in Polarkoordinaten
Aus (3.26) liest man unmittelbar die beiden Grenzzyklen ab: r = 1 für alle μ ∈ R und
√
r = 1 + μ für alle μ > −1. In den (x, y)-Koordinaten wird der zweite Grenzzyklus
durch
y r
rμ
1
1
1 √
1+μ x −1 0 μ
√
a) μ > 0 b) rμ = 1+μ
die entsprechenden Bifurkationszustände ein. Das Verhalten von Lage und Stabilität der
Gleichgewichtszustände in der Nähe des Bifurkationspunktes kann kurz wie folgt charak-
terisiert werden.
Sattel-Knoten Bifurkation
Ein stabiler und ein instabiler Gleichgewichtszustand bewegen sich aufeinander zu, ver-
schmelzen und verschwinden bzw. entstehen im Bifurkationspunkt neu und entfernen
sich wieder voneinander.
Transkritische Bifurkation
Ein stabiler und ein instabiler Gleichgewichtszustand bewegen sich aufeinander zu und
im Bifurkationspunkt erfolgt ein Stabilitätsaustausch; anschließend entfernen sich die
Gleichgewichtszustände voneinander.
Pitchfork-Bifurkation
Ein stabiler Gleichgewichtszustand behält seine Lage, verändert im Bifurkationspunkt
jedoch sein Stabilitätsverhalten; zusätzlich entstehen bzw. verschwinden zwei Gleichge-
wichtszustände derselben Stabilität.
Hopf-Bifurkation:
Bei den vorangegangenen Bifurkationstypen kam der Stabilitätswechsel dadurch zustan-
de, dass der parameterabhängige Koeffizient des Linearteils einer skalaren DGL das Vor-
zeichen wechselte. Hier betrachten wir ebene autonome Systeme mit der Eigenschaft,
dass die Koeffizientenmatrix der Linearisierung ein Paar konjugiert komplexer Eigenwer-
te besitzt, das bei der Änderung des Parameters die imaginäre Achse überquert. Beim
Durchgang der Eigenwerte durch die imaginäre Achse wird ein Stabilitätswechsel im Ur-
sprung vollzogen. Der Fixpunkt ist ein Fokus und beim Übergang vom stabilen zum
instabilen Fokus wird ein periodischer Orbit (Grenzzyklus) „geboren“. Dadurch entsteht
ein komplett neues Bifurkationsszenario.
148 3 Bifurkation bei gewöhnlichen DGL
Weiterhin existieren abgewandelte Bifurkationen, die aus einer Kombination der beschrie-
benen Arten bestehen. Die genaue Kenntnis dieser Bifurkationsphänomene ist z. B. für
die Synthese und den Entwurfsprozess von Schaltungen bei vorgegebenem Bifurkations-
verhalten wichtig. Die Struktursynthese führt über die Simulation des dynamischen Ver-
haltens zum Strukturbild und dem Schaltungsaufbau für diese Bifurkationsarten. Einen
ersten schönen Ansatz zu diesen möglichen Schaltungsaufbauten findet man in der Dis-
sertation von Mohr (2001).
3.3 Aufgaben
Aufgabe 3.1
Beweisen Sie, dass in Beispiel 3.3 die Höhenlinien von F (x, y) = c (siehe Gleichung (3.6))
geschlossen sind.
Aufgabe 3.2
Gegeben sei das konkrete Räuber-Beute-Modell (siehe Beispiel 3.3) der Form
ẋ = (4 − y)x, ẏ = (x − 3)y .
Untersuchen Sie die Fixpunkte auf Stabilität, geben Sie eine Lösung an und skizzieren
Sie das Phasenportrait.
Aufgabe 3.3
Skizzieren Sie für das System (3.7) das Phasenportrait in der Nähe der Fixpunkte. Kann
zur Untersuchung des Systems (3.7) der Satz von Hartman und Grobman (Satz 2.54)
heran gezogen werden?
Aufgabe 3.4
Für das System (3.8) in Beispiel 3.5 lautet für μ = 0 die Hamiltonfunktion H(x, y) :=
4
1
2 (y − x2 ) + x4 . Für welche c ∈ R sind die Höhenlinien {(x, y) ∈ R2 | H(x, y) = c}
2
geschlossene Orbits.
Aufgabe 3.5
Skizzieren Sie die Phasenportraits der zu den skalaren DGL
ü = μu̇ + νu, μ, ν ∈ R
Aufgabe 3.6
Skizzieren Sie das Phasenportrait des ebenen autonomen Systems
ẋ = xy − x3 , ẏ = 0.
3.3 Aufgaben 149
ẋ = μx − x3 , μ ∈ R.
Aufgabe 3.7
Erstellen Sie das von einem reellen Parameter μ abhängige Phasenportrait des zu der
Differenzialgleichung 2. Ordnung
ẍ = μx − x3
Aufgabe 3.8
Bestimmen Sie für die von dem reellen Parameter μ abhängige skalare DGL
ẋ = −x + μx3
Aufgabe 3.9
Gegeben sei eine parameterabhängige skalare DGL
mit einer C 1 -Funktion f : R2 → R. Die DGL besitze eine differenzierbare Schar (g(μ), μ),
μ ∈ (−ε, ε) von Ruhelagen und es gelte fx (g(0), 0) = 0. Zeigen Sie, dass damit für jeden
(betragsmäßig) hinreichend kleinen Parameterwert μ die Stabilität der Ruhelage g(μ)
festgelegt ist.
Aufgabe 3.10
Gegeben sei eine von zwei Parametern μ und ν abhängige DGL
ẋ = μ(1 + x) + (μ + ν)x2 , μ, ν ∈ R.
Zeigen Sie, dass für jedes feste ν = 0 bei (x, μ) = (0, 0) eine Sattel-Knoten-Bifurkation
auftritt und skizzieren Sie das jeweilige Phasenportrait. Welcher Verzweigungstyp liegt
für ν = 0 vor?
Aufgabe 3.11
Gegeben sie die von zwei Parametern μ und ν abhängige DGL
ẋ = μx + (μ + ν)x2 + x3 , μ, ν ∈ R.
Zeigen Sie, dass für jeden festen Wert ν = 0 bei (x, μ) = (0, 0) eine transkritische
Bifurkation oder eine Pitchfork-Bifurkation vorliegt und skizzieren Sie das jeweilige Pha-
senportrait.
150 3 Bifurkation bei gewöhnlichen DGL
Aufgabe 3.12
Zeigen Sie, dass in dem System
Aufgabe 3.13
Gegeben sei eine skalare DGL 2. Ordnung der Form
Stellen Sie mit Hilfe des Satzes 3.8 von Hopf eine Bedingung an die Funktion h auf, die
für betragsmäßig kleine Werte des Parameters μ nichtkonstante periodische Lösungen
dieser DGL liefert.
Aufgabe 3.14
Gegeben sei die skalare DGL 2. Ordnung
ẍ = ẋ(μ − x2 ) − x, μ ∈ R.
Untersuchen Sie, ob die DGL für betragsmäßig kleine Werte des Parameters μ nichtkon-
stante periodische Lösungen liefert.
4 Analytische Bifurkationstheorie
Übersicht
4.1 Bifurkationsgleichung von Ljapunov-Schmidt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
4.2 Anwendungsbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
4.3 Die Hopf-Bifurkation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
4.4 Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224
Mit dem Begriff Bifurkation werden Phänomene beschrieben, die bei nichtlinearen, para-
meterabhängigen Gleichungssystemen bzw. nichtlinearen DGL-Systemen auftreten. Falls
die Systemparameter geändert werden, kann für einen bestimmten Parameterwert ein
plötzlicher Wechsel der Lösungsstruktur auftreten. Dann sprechen wir von Bifurkation.
Neben der analytischen Bifurkationstheorie gibt es auch die topologische Bifurkations-
theorie. Beide Theorien unterscheiden sich jedoch lediglich durch ihre Untersuchungs-
methoden – analytische Techniken bzw. Abbildungsgrad-Techniken – nicht durch den
Gegenstand an sich. In diesem Kapitel werden (anders als in Kapitel 3) zwei verschiede-
ne Aspekte diskutiert.
Statische Bifurkationstheorie beschäftigt sich mit dem Wechsel der Struktur der Nullstel-
len in parameterabhängigen Gleichungen bei Änderung des Parameters. Der Parameter
kann dem Rn oder auch einem Funktionenraum entnommen sein und die entwickelten
Methoden arbeiten konstruktiv – ein Vorteil der analytischen Bifurkationsmethoden. Ei-
ne unmittelbare Anwendung für die statische Theorie sind die Differenzialgleichungen.
Die Gleichgewichtslösungen (Fixpunkte) eines DGL-Systems sind genau die Nullstellen
des Vektorfeldes.
Dynamische Bifurkationstheorie beschäftigt sich mit der Änderung des Lösungsverhal-
tens eines DGL-Systems, wenn der Parameter in dem Vektorfeld variiert. Diese Theorie
ist eng mit dem Wechsel des qualitativen Verhaltens von Systemen und dem Wechsel
ihres Stabilitätsverhaltens verknüpft. Betrachtet man z. B. eine Flüssigkeit, die um eine
Achse rotiert, dann bricht bei entsprechenden Winkelgeschwindigkeiten die existierende
Gleichgewichtsform in neue Formen auf. Ein anderes Beispiel für ein Bifurkationspro-
blem ist die Bestimmung der kritischen Kraft bei der Deformation von Stäben, Platten
und Schalen. Des Weiteren wird die Theorie auf verschiedene Probleme der nichtlinea-
B. Marx, W. Vogt, Dynamische Systeme,
DOI 10.1007/978-3-8274-2448-8_4, © Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg 2011
152 4 Analytische Bifurkationstheorie
F : R2 → R, F (x, μ) := x2 − μ = 0 (x, μ ∈ R)
tritt bereits Lösungsbifurkation am Punkt (x, μ) = (0, 0) ein. Für μ < 0 besitzt die
Gleichung keine reelle Lösung, während für μ > 0 die Gleichung zwei reelle Lösungen
besitzt.
Für DGL-Systeme kann man ebenfalls Bifurkation in Bezug auf die qualitative Änderung
des Phasenportraits an einem bestimmten Parameterwert feststellen. Betrachtet man das
DGL-System
dann hängen die beiden Eigenwerte stetig von μ ab. Nimmt man einmal an, dass die
Eigenwerte λ(μ) = α(μ) ± i β(μ) bei μ = 0 die imaginäre Achse überschreiten, dann
führt dies zu einem Stabilitätswechsel des Gleichgewichtspunkts x = 0 : Z. B. von einem
stabilen Spiralpunkt (Re α(μ) < 0) zu einem Zentrum (Re α(μ) = 0) und dann zu einem
instabilen Spiralpunkt (Re α(μ) > 0). Das System (4.1) wechselt also sein qualitatives
Verhalten, wenn μ von Werten μ < 0 über μ = 0 zu μ > 0 variiert und dabei die
Eigenwerte λ(μ) die imaginäre Achse überqueren.
Dies führt zu der Beobachtung: Ein Stabilitätswechsel kann dadurch verursacht werden,
dass durch äußere Einflüsse die strukturelle Stabilität gestört wird. Die alten Strukturen
verlieren ihre Stabilität und werden durch neue ersetzt.
4.1 Bifurkationsgleichung von Ljapunov-Schmidt 153
x x
x0 x0
μ0 μ μ0 μ
Abb. 4.1 a) Eindeutige Lösung durch (μ0 , x0 ), b) Bifurkationspunkt (μ0 , x0 )
eines Punktes μ0 ist in Abbildung 4.1 b) dargestellt. Dieses Lösungsphänomen kann bei
Gleichungen (4.2) auftreten, für die Fx (x0 , μ0 ) = 0 ist. Ein einfaches Beispiel liefert die
Gleichung F (x, μ) := (μ − μ0 )2 + (x − x0 )2 = 0.
Eine entsprechende Situation liegt vor, wenn F auf Banach-Räumen erklärt ist. Hierbei
ist μ die Parametervariable und x bezeichnet den Zustand des Systems.
Zunächst wird geklärt, was man unter einem Bifurkationspunkt versteht. Betrachtet wird
die Gleichung
2. Der Punkt μ0 ∈ Km heißt Bifurkationspunkt von (4.3), falls die Gleichung für alle μ
stets die triviale Lösung x = 0 besitzt, d. h. es gilt F (0, μ) = 0 für alle μ ∈ Rm , und vom
Punkt (0, μ0 ) mindestens eine (nichttriviale) Lösung x = 0 abzweigt (siehe Abbildung
4.2).
μ1 μ2 μ3 μ4 μ5 μ6 μ
in Abbildung 4.2, in denen nichttriviale Lösungen von der trivialen Lösung abzweigen,
nennt man Bifurkationspunkte.
Wenn man sich mit Bifurkationsproblemen in unendlichdimensionalen Banach-Räumen
beschäftigt, wird folgende Strategie verfolgt. Man verwendet Projektionsmethoden – je
nach Problemstellung von E. Schmidt 1 oder A. M. Ljapunov 2 – um das Problem auf eine
1
Erhard Schmidt (1876–1959), deutscher Mathematiker, promovierte 1905 bei David Hilbert.
Zusammen mit David Hilbert wird er als einer der Begründer der modernen abstrakten Funktional-
analysis angesehen. Er lieferte u. a. wesentliche Beiträge zur Theorie der Integralgleichungen.
2
Alexander Michailowitsch Ljapunov (1857–1918), russischer Mathematiker. Er leistete grundle-
gende Beiträge zur Potentialtheorie, der Theorie der Gleichgewichtsfiguren rotierender Flüssigkeiten,
der Stabilitätstheorie gewöhnlicher Differenzialgleichungen, sowie zur Wahrscheinlichkeitsrechnung.
4.1 Bifurkationsgleichung von Ljapunov-Schmidt 155
Beweis: Nimmt man an, dass Fx (x0 , μ0 ) invertierbar (auf Y ) ist, dann gibt es nach dem
Satz 1.80 über implizite Funktionen eine eindeutig bestimmte Lösung x = x∗ (μ) auf
U (μ0 ) im Widerspruch dazu, dass es in U (μ0 ) zu (μn ) ⊂ U (μ0 ) zwei Folgen (xn ), (yn )
mit xn = yn für alle n ∈ N und xn , yn → x0 gibt, sofern μn → μ0 strebt.
Die Bedingung „Fx (x0 , μ0 )−1 existiert nicht auf Y “ ist nicht hinreichend für das Vorlie-
gen eines Bifurkationspunktes, wie das folgende Beispiel zeigt:
Beispiel 4.3
Es seien X = R2 und x = (x1 , x2 ). Dann ist der Punkt μ0 = 1, x1 = x2 = 0 kein
Bifurkationspunkt für die Gleichung
x1 − μ(x1 − x32 ) 0
F (x1 , x2 , μ) := = ,
x2 − μ(x2 + x1 )
3
0
obwohl Fx (0, 0, 1)−1 nicht existiert. Es ist nämlich Fx (0, 0, 1) = ( 00 00 ) und somit
Fx (0, 0, 1) nicht invertierbar. Die Multiplikation der ersten Zeile mit x2 und der zweiten
Zeile mit −x1 und anschließender Addition liefert μ(x41 + x42 ) = 0, d. h. x1 = x2 = 0 für
μ = 0. Die Gleichung F = 0 besitzt für alle μ ∈ R nur die triviale Lösung.
hat. In diesem Fall ist Fx (x0 , μ0 ) = I −μ0 (A+G (x0 )) und man kann folgendes beweisen:
Korollar 4.4
Gegeben sei das nichtlineare Eigenwertproblem
mit A : X → X als linearen kompakten Operator auf dem Banach-Raum X (über K) und
G : U (0) ⊂ X → X, definiert auf einer Umgebung von Null in X mit G(x)/x → 0
für x → 0. Falls (0, μ0 ) (μ0 = 0) ein Bifurkationspunkt von (4.5) ist, dann ist μ0 eine
charakteristische Zahl für das linearisierte Problem x = μ0 Ax.
156 4 Analytische Bifurkationstheorie
Es ist also 1/μ0 ein Eigenwert von A und gehört somit zum Spektrum σ(A). Der einfache
Beweis wird in der Aufgabe 4.6 abgefragt.
Es kann Punkte μ geben, die zum Spektrum von A gehören, jedoch keine Bifurkations-
punkte von F = 0 sind, wie folgendes Beispiel zeigt:
Beispiel 4.5
Es seien X = Y = R2 , μ ∈ R, μ = 0,
gegeben. Die Gleichung F (x, y, μ) := (x, y)T − μ(I(x, y)T + G(x, y)) = 0 hat keine
Bifurkationspunkte, obwohl μ0 = 1 ein Eigenwert von A ist. Aus λx = x + y 3 und
λy = y − x3 (λ := 1/μ) folgt, dass x4 + y 4 = 0 und folglich x = y = 0 einzige Lösung
von F = 0 ist.
Wir stellen nun die allgemeine Prozedur von Ljapunov und Schmidt vor, die zur Gewin-
nung einer Bifurkationsgleichung führt. Beide Vorgehensweisen stellen ein grundlegendes
Werkzeug zum Auffinden von Lösungen nichtlinearer Gleichungen dar. Das Ziel besteht
darin, die Lösung eines Bifurkationsproblems in unendlichdimensionalen Banach-Räumen
auf die Lösung von endlich vielen Gleichungen mit endlich vielen reellen (oder komple-
xen) Variablen zu reduzieren. Diese Gleichungen enthalten quantitativ alle Lösungen,
die auch die Ausgangsgleichung besitzt und werden deshalb auch Bifurkationsgleichun-
gen genannt.
Die von E. Schmidt hergeleitete Bifurkationsgleichung wird mittels Schmidt-Operator
erzeugt und ist auf den Spezialfall ind Fx (0, μ0 ) = 0 ausgerichtet, während die Variante
von A. Ljapunov auch auf den allgemeinen Fall ind Fx (0, μ0 ) = n (n ∈ Z) anwendbar ist
(siehe Zeidler (1986), Abschnitt 8.6).
Weitere Ausführungen zu diesem Satz findet man in Wainberg und Trenogin (1973).
Hinzu kommen in diesem Buch umfangreiche Aussagen über Lösungsmethoden der Bi-
4.1 Bifurkationsgleichung von Ljapunov-Schmidt 157
Da T ein Fredholm-Operator ist, kann man die Räume X und Y in topologisch direkte
Summen zerlegen.
x = u+z, u ∈ X1 , z ∈ X2
b. R(T ) ist abgeschlossen und hat ein topologisches Komplement Y2 in Y mit endlicher
Dimension.
y = v +w, v ∈ Y1 , w ∈ Y2
Um die Projektoren explizit angeben zu können, statten wir die Unterräume X2 und Y2
mit Basen aus. Es bilden die x1 , . . . , xn ∈ X und die g1∗ , . . . , gm ∗
∈ Y ∗ jeweils eine Basis
∗ ∗ ∗
in ker(T ) und ker(T ). Dazu gibt es Funktionale fi ∈ X und Elemente yj ∈ Y , so dass
{fi∗ , xi } (i = 1, . . . , n) und {gj∗ , yj } (j = 1, . . . , m) biorthogonale Systeme bilden (siehe
Satz 1.36). Die Elemente yj ∈ Y (j = 1, . . . , m) sind eine Basis in dem Unterraum Y2 .
Nun kann eine Darstellung für die Projektionsoperatoren explizit angegeben werden:
n
m
P x := fi∗ , xxi ∈ X2 , Qy := gj∗ , yyj ∈ Y2 . (4.8)
i=1 j=1
F (x, μ) = 0
158 4 Analytische Bifurkationstheorie
(I − Q)F (u + z, μ) = 0 , (4.9)
QF (u + z, μ) = 0 , (4.10)
QF (γ(z, μ) + z, μ) = 0 . (4.11)
x = γ(ϕ(μ), μ) + ϕ(μ)
eine Lösung von F (x, μ) = 0. Man beachte, dass (4.11) aus dim(Q(Y ))-Gleichungen und
(dim(P (X)) + 1)-Variablen besteht.
Wir zeigen nun, dass (4.9) mittels impliziten Funktionentheorems nach u aufgelöst werden
kann. Zu diesem Zweck betrachten wir die Gleichung
ein linearer, stetiger und bijektiver Operator ist. Man nennt T7−1 auch Pseudoresolvente.
Die Abbildung G erfüllt die Bedingung G(0, 0, μ0 ) = 0 und hat in Bezug auf die Linea-
risierung nach u die Gestalt Gu (0, 0, μ0 ) = T7. Man beachte, dass (I − Q)T7 = T7 gilt.
Somit ist Gu (0, 0, μ0 ) ∈ L(X1 , Y1 ) bijektiv und das implizite Funktionentheorem liefert
die eindeutige Auflösung der Gleichung (4.12) nach u in einer Umgebung von (0, 0, μ0 ).
Zur Gewinnung von Lösungen der Bifurkationsgleichung ist es nützlich, folgende äquiva-
lente Umformung zu machen:
Die Umformung wird sofort klar, wenn man beachtet, dass QFx (0, μ0 )u = 0. Ist F eine
C k -Abbildung mit k ≥ 1 auf einer Umgebung von (0, μ0 ) ∈ X × R, dann erhalten
wir C k -Lösungen u = γ(z, μ) auf einer Umgebung (0, μ0 ) ∈ X2 × R mittels impliziten
Funktionentheorems durch sukzessive Approximation:
mit dem Startpunkt u0 = 0. Falls F analytisch in (0, μ0 ) ist, dann erhält man die Lösung
γ auch als analytische Funktion in z und μ. Wir können für z ∈ X2 setzen
z := s1 x1 + · · · + sn xn .
Benutzen wir noch die explizite Darstellung von Q in (4.8), dann erhalten wir die Bifur-
kationsgleichung (4.11) in der äquivalenten Form
gj∗ , F (γ(z, μ) + z, μ) = 0, j = 1 · · · , m. (4.14)
Dies sind (n − r)–Gleichungen für die (n + 1) Unbekannten s1 , · · · , sn , μ ∈ K. Da
QFx (0, μ0 ) = 0, prüft man leicht nach, dass keine Terme auftreten können, die linear in
den Variablen s1 , · · · , sn sind. Dies verkompliziert das Lösen der Bifurkationsgleichung
im allgemeinen Fall enorm.
Fx (0, μ0 )x = 0, x ∈ X. (4.16)
Der Operator F kann auch analytisch in einer Umgebung von (0, μ0 ) sein. Im Hinblick auf
die Beispiele ist der Parameter eindimensional (siehe Zeidler (1986) für eine ausführliche
Darstellung). Den Beweis haben wir wegen der besseren Übersichtlichkeit in mehrere
Schritte unterteilt.
1. Schritt: Wir setzen wieder T := Fx (0, μ0 ). Nach Voraussetzung ist dim ker(T ) = n.
Es sei {x1 , . . . , xn } eine Basis in ker(T ) und {g1∗ , . . . , gn
∗
} eine Basis in ker(T ∗ ). Dass
∗
die Dimension der Nullräume von T und T gleich sind, folgt unmittelbar aus Satz 1.53,
wenn man beachtet, dass ind(T ) = 0 vorausgesetzt wurde. Somit können wieder zwei
biorthogonale Systeme aufgebaut werden (siehe Satz 1.36):
n
Sx := T x + fi∗ , xyi . (4.18)
i=1
160 4 Analytische Bifurkationstheorie
Der Operator S ∈ L(X, Y ) besitzt eine lineare stetige Inverse S −1 ∈ L(Y, X). Die Bi-
jektivität von S wird dadurch „hergestellt“, dass die dem Wertevorrat von T fehlenden
∗
Dimensionen (in Bezug auf den Raum Y ) durch den Term n i=1 fi , xyi wieder hinzu-
gefügt werden. Somit ist die Surjektivität klar. Die Injektivität sieht man so. Aus Sx = 0
∗
folgt zunächst T x = − n i=1 fi , xyi und daraus
n
0 = T ∗ gj∗ , x = gj∗ , T x = − fi∗ , xgj∗ , yi
$ %& ' i=1
=0
n
= − fi∗ , xδji = −fj∗ , x, j = 1, . . . , n .
i=1
Weiter folgt aus (4.18) wegen fj∗ , x = 0, j = 1, . . . , n auch T x = 0, d. h. x ∈ ker(T )
n ∗
und somit die Darstellung x =
n i=1 αi xi mit αi ∈ K. Aus fj , x = 0 folgt jedoch
∗ ∗
fj , x = i=1 αi fj , xi = αj = 0, j = 1, . . . , n, was sofort x = 0 nach sich zieht.
n
Betrachtet man den additiven Anteil in (4.18) also U x := i=1 fi∗ , xyi , so handelt es
sich hierbei um einen endlichdimensionalen linearen Operator (d. h. einen Operator mit
endlichem Wertebereich), der kompakt ist. Nach dem Satz 1.53, ist dann S wieder ein
Fredholm-Operator mit Index Null. Nach der Aussage i. des gleichen Satzes ist wegen
ker(S) = {0} dann S −1 ∈ L(Y, X). Aus Sxj = yj ergibt sich nun auch noch xj =
S −1 yj , j = 1, . . . , n.
2. Schritt: Mit Hilfe des Schmidtschen Operators (4.18) kann die Gleichung (4.15) wie
folgt umgeformt werden:
0 = F (x, μ) = T x + F (x, μ) − T x
Der Operator T = Fx (0, μ0 ) wird gemäß (4.18) durch S ersetzt und man erhält
n
0 = Sx − si yi + F (x, μ) − Fx (0, μ0 )x (4.19)
i=1
mit si := fi∗ , x, i = 1, . . . , n. Löst man (4.19) nach Sx auf und beachtet man, das S
invertierbar ist und außerdem xj = S −1 yj , j = 1, . . . , n gilt, dann ergibt sich
n
x= si xi + S −1 [Fx (0, μ0 )x − F (x, μ)] (4.20)
i=1
Die Lösung der Gleichung (4.20) wird jetzt in (4.21) eingesetzt und man erhält die Bi-
furkationsgleichung zur Bestimmung der s1 , . . . , sn in Abhängigkeit von μ:
(i)
si = bk0 k1 ...kn (μ − μ0 )k0 sk1 1 . . . sknn , i = 1, . . . , n , (4.25)
n
ki ≥1
i=0
Die xk0 k1 ...kn in (4.23) können durch Koeffizientenvergleich gewonnen werden. Insofern
(i)
sind also die Zahlen bk0 k1 ···kn berechenbar. Die Reihen (4.23) und (4.25) konvergieren
absolut in einer Umgebung um μ = μ0 und s = 0. Jede nichttriviale Lösung der Bifur-
kationsgleichung (4.25) erzeugt eine Lösung der Ausgangsgleichung (4.15) und kann in
Form der Potenzreihe (4.23) als Funktion x = x(μ, s(μ)) repräsentiert werden.
Damit ist Satz 4.6 in den beiden angekündigten Varianten bewiesen.
Wir zeigen nun am Beispiel eines RWP, wie man eine Bifurkationsgleichung aufstellen
kann.
Beispiel 4.7
Wir betrachten das RWP
8
ẋ(t) = f (t, x(t)) , t ∈ (0, 1)
(4.26)
x(0) = x(1) .
für alle t aus ihrem Existenzintervall. Dies bedeutet, dass x(·) die Randbedingungen von
(4.26) genau dann erfüllt, wenn
1
G(x0 ) := f (s, x(s; x0 )) ds = 0
0
162 4 Analytische Bifurkationstheorie
gilt. Hier bezeichnet x(·; x0 ) die einzige Lösung von ẋ = f (t, x(t)) mit x(0; x0 ) = x0 . Es
besteht also das Problem des Lösens der Gleichung
G(x0 ) = 0 für G : Rn → Rn .
Man kann nicht direkt das implizite Funktionentheorem anwenden, da (4.26) keine Pa-
rameter enthält. Deshalb modifizieren wir das Problem durch Hinzufügen eines multipli-
kativen Parameters μ zu (4.26), d. h. wir untersuchen das Problem
8
ẋ(t) = μf (t, x(t)), t ∈ (0, 1)
(4.26μ )
x(0) = x(1).
Für μ = 0 ist eine n-dimensionale Konstante a eine Lösung. Um den (abstrakten) funk-
tionalanalytischen Kalkül einzusetzen, schreiben wir (4.26μ ) in Operatorform. Dazu de-
finieren wir Banach-Räume
L (x)h = Lh für h ∈ X.
Nun gibt es stetige lineare Projektoren P und Q, die auf die abgeschlossenen Unterräume
X2 und Y1 projizieren und durch
gegeben sind. Diese Projektoren bewirken die Zerlegung der Räume X und Y in topolo-
gisch direkte Summen: X = X1 ⊕ X2 und Y = Y1 ⊕ Y2 . Hierbei sind
Jetzt lässt sich auch leicht klären, dass L ein F-Operator ist. Es gilt nämlich dim ker(L) =
dim X2 = n und codim R(L) = dim Y2 = n. Somit ist L ein F-Operator mit ind L =
dim ker(L) − codim R(L) = 0. Damit sind die Vorbereitungen für die Ljapunov-Schmidt-
Reduktion abgeschlossen. Die Gleichung (4.27) mit x = x1 + a, x1 ∈ X1 , a ∈ X2 ist
genau dann lösbar, wenn das Paar von Gleichungen
Lösungen besitzt. Nun gilt R(Q) = Y1 und somit ist QLx1 = Lx1 . Hieraus folgt auch
sofort:
Mit diesen Vereinfachungen ergibt sich das zur Gleichung (4.27) äquivalente Gleichungs-
system
x1 := ϕ(a, μ)
genau eine Lösung für jedes c ∈ Rn besitzt. Die letzte Forderung bedeutet, dass die
!1
(n × n)–Matrix 0 fx (s, 4
a) ds regulär sein muss. Mit Blick auf die voran stehenden Be-
trachtungen hat man folgende Behauptung bewiesen:
Es sei f = (f1 , ..., fn ) : [0, 1] × Rn → Rn stetig und möge stetige partielle Ableitungen
∂fi
∂xj (i, j = 1, ..., n) besitzen. Weiter erfülle die Funktion f die Bedingungen
1 1
∂fi
f (s, 4
a) ds = 0, det (s, 4
a) ds = 0
0 0 ∂xj
für ein bestimmtes 4a ∈ R . Dann existieren ein δ > 0 und eine differenzierbare
n
Die Bifurkationsgleichung (4.25) zu lösen, ist ein schwieriges Problem. Es gibt eine Viel-
zahl von mathematischen Methoden, um Lösungen zu erhalten. Diese sind oft abhängig
vom vorausgesetzten Regularitätsgrad an F . Im Analytizitätsfall kann der Vorbereitungs-
satz von Weierstraß auf die Verzweigungsgleichungen angewendet werden. Falls nur Dif-
ferenzierbarkeit von F vorliegt, kann die Gleichung mittels Singularitätentheorie in Nor-
malform gebracht werden. Häufig werden auch Lösungen der Bifurkationsgleichung mit
dem Newtondiagramm erzeugt. Detaillierte Betrachtungen findet man z. B. in Wainberg
und Trenogin (1973), Zeidler (1986, 1988) und Krasnoselski et al. (1973).
Beispiel 4.8
Für den Fall, dass T := Fx (0, μ0 ) ein F-Operator mit ind(T ) = 0 und dim ker(T ) = 1 und
F (0, μ) = 0 für μ ∈ U (μ0 ) ⊂ R ist, wird gezeigt, wie man zu einer nichttrivialen Lösung
des Bifurkationsproblems F (x, μ) = 0 kommen kann. Die Voraussetzung F (0, μ) = 0
sichert bereits das Vorhandensein der trivialen Lösung x = 0 für alle μ-Werte. Wir
verwenden dieselben Bezeichnungen, wie wir sie bei der Herleitung des Gleichungssystems
(4.20) und (4.21) eingeführt haben. Die Gleichungen lauten mit s1 := s:
8
x = sx1 + S −1 [Fx (0, μ0 )x − F (x, μ)]
(4.30)
s = f1∗ , x.
4.1 Bifurkationsgleichung von Ljapunov-Schmidt 165
Da nach Voraussetzung F (0, μ) identisch Null ist, verschwinden auch alle partiellen Ab-
leitungen nach μ, d. h. es ist Fμ (0, μ) = Fμμ (0, μ) = . . . = 0. Da F keine Terme enthält,
die frei von x sind, besitzen folglich alle Terme von (4.31) den Faktor s. Setzt man die
Lösung (4.31) in die zweite Gleichung von (4.30) ein, dann ergibt sich
Wegen f1∗ , x1 = 1 und (S −1 )∗ f1∗ = g1∗ (letzteres folgt, indem man in (4.18) zum ad-
jungierten Operator übergeht und die Biorthogonalitätsrelationen (4.17) beachtet) erhält
man die Bifurkationsgleichung
Fordert man
(was wiederum bedeutet, dass Fxμ (0, μ0 )x1 ∈ / R(Fx (0, μ0 )) ist), dann kann man (4.33)
mittels impliziten Funktionentheorems in einer Umgebung von (μ, s) = (μ0 , 0) nach μ in
Abhängigkeit von s auflösen: μ = μ(s) mit μ0 = μ(0). Setzt man diese Lösung in (4.31)
ein, so ergibt sich ein nichttrivialer Lösungszweig x = x(s) := x(μ(s), s). Es gilt nämlich
x(s) = 0 für 0 < |s| < δ, δ > 0 und lims→0 x(s) = 0. Folglich hat man mit (x(s), μ(s))
außer der trivialen Lösung (0, μ) eine weitere Lösung von (4.15) gefunden.
Damit hat man auch sofort folgendes Resultat bewiesen (siehe Zeidler (1986), S. 383):
(äquivalent: g1∗ , Fxμ (0, μ0 )x1 = 0, g1∗ ∈ ker(Fx∗ (0, μ0 )) ) erfüllt. Dann existiert in
einer Umgebung von (x, μ) = (0, μ0 ) exakt ein C k−1 -Bifurkationszweig s → (x(s), μ(s)),
der durch (0, μ0 ) läuft. Falls F analytisch ist, dann kann man x(s) und μ(s) in Form
von absolut konvergenten Potenzreihen darstellen.
h(0, s) − h(0, 0)
b(0, s) − b(0, 0) = − hs (0, 0)
s
und nach Division durch s
b(0, s) − b(0, 0) h(0, s) − h(0, 0) − hs (0, 0) · s Taylor 1
= → hss (0, 0) ,
s s2 s→0 2
d. h. bs (0, 0) = (1/2)hss (0, 0).
4.1 Bifurkationsgleichung von Ljapunov-Schmidt 167
Wir zeigen
γz (0, μ0 ) = 0 . (4.41)
Wir überlegen uns zunächst, dass T7u = (I − Q)Fx (0, μ0 )u, u ∈ X1 gilt. Man rechnet
nach:
(I − Q)Fx (0, μ0 )u = Fx (0, μ0 )u − QFx (0, μ0 )u = Fx (0, μ0 )u − g ∗ , Fx (0, μ0 )u
= Fx (0, μ0 )u − Fx∗ (0, μ0 )g ∗ , u
$ %& '
=0
= Fx (0, μ0 )u = T7u , da u ∈ X1 .
Bereits gezeigt wurde, dass (4.12) die Lösung u = γ(z, μ) besitzt. Somit gilt auch die
Beziehung
für (z, μ) in einer Umgebung von (0, μ0 ). Differentiation nach z an der Stelle (0, μ0 )
liefert für alle h ∈ ker(Fx (0, μ0 ))
. /
γz (0, μ0 )h = T7−1 (I − Q) Fx (0, μ0 )γz (0, μ0 )h − Fx (γ(0, μ0 ), μ0 )[ γz (0, μ0 )h + h ]
. /
= T7−1 (I − Q) Fx (0, μ0 )γz (0, μ0 )h − Fx (0, μ0 )γz (0, μ0 )h = 0 .
168 4 Analytische Bifurkationstheorie
Wir benutzen die Formel (4.39), um die Ableitung hsλ (0, 0) zu berechnen:
Da g ∗ |R(T ) = 0 und Fx (0, μ0 )γzλ (0, μ0 )x1 ∈ R(T ) folgt g ∗ , Fx (0, μ0 )γzλ (0, μ0 )x1 = 0
und somit
Aus der Beziehung (4.38) folgt, wenn man λ = 0 setzt und dann nach s differenziert
durch direktes Nachrechnen
Nun sind wir in der Lage, den Beweis von Satz 4.9 zu beenden. Aus unseren Berechnungen
folgt:
Folglich ist die Menge S von nichttrivialen Lösungen von F (x, μ) = 0 in einer Umgebung
von (0, μ0 ) durch die einzige (kartesische) Kurve
8
μ = μ(s) = μ0 + λ(s) ,
(4.45)
x = x(s) = sx1 + γ(sx1 , μ0 + λ(s))
4.1 Bifurkationsgleichung von Ljapunov-Schmidt 169
X
(tx1 + γ(tx1 , μ0 + λ(t)), λ(t))
(0, 0)
R
gegeben, wobei s ∈ (−ε, ε), s = 0 (siehe Abbildung 4.3 mit μ0 = 0). Falls F analytisch
ist, ergeben sich diese Kurven als absolut konvergente Potenzreihen. Damit ist auch der
zweite Beweis von Satz 4.9 beendet.
Wir wollen zwei charakteristische Bifurkationsdiagramme betrachten, wie sie bereits bei
sehr einfachen Funktionen auftreten und welchen Einfluss sie auf den Stabilitätswechsel
bei DGL haben können.
Beispiel 4.10
Die folgenden zwei Funktionen stellen sehr einfache illustrative Beispiele von Bifurkatio-
nen dar:
f (x, μ) := μx − x2 , g(x, μ) := μx − x3 .
Das Bifurkationsdiagramm für die Gleichungen f (x, μ) = 0 und g(x, μ) = 0 zeigt Ab-
bildung 4.4. Wir benutzen diese Funktionen, um die typischen Beispiele des Wechsels
der Stabilität bei Differenzialgleichungen aufzuzeigen, wenn der nichthyperbolische sta-
tionäre Punkt überquert wird. Ein stationärer Punkt x0 heißt hyperbolisch für die Glei-
chung ẋ = f (x), wenn f (x0 ) = 0 und σ(f (x0 )) ∩ iR = ∅. In Abbildung 4.4 werden
Zweige stationärer Lösungen der Gleichungen ẋ = f (x, μ), ẋ = g(x, μ) mit Angabe ihrer
Stabilität gezeigt (s für stabil, u für instabil).
x x
s
s
s (0, 0) u s (0, 0) u
μ μ
u
s
a) b)
ist. Man sieht dies wie folgt. Setzt man μ = λ2 , dann ergibt sich aus ẅ + λ2 w = 0
die Lösungsschar w(t) = c1 cos λt + c2 sin λt. Ein negatives μ liefert keine periodischen
Lösungen. Mit den Randbedingungen in (4.47) wird man auf das Gleichungssystem
1 − cos 2πλ − sin 2πλ c1 0
= ,
λ sin 2πλ λ(1 − cos 2πλ) c2 0
4.1 Bifurkationsgleichung von Ljapunov-Schmidt 171
geführt. Dieses besitzt nichttriviale Lösungen c1 , c2 für alle λ mit 4λ sin2 πλ = 0. Der
Eigenwert λ = 0 liefert w(t) = const, was man natürlich auch sofort erhalten hätte,
wenn man die Gleichung ẅ = 0 unter Berücksichtigung der Randbedingungen löst. Die
anderen Eigenwerte μ = λ2 = n2 , n ∈ N, ziehen einen zweidimensionalen Kern von
Fx (0, n2 ) nach sich: ker(Fx (0, n2 )) = span {sin nt, cos nt}.
Aus ii. folgt, dass F ∈ C p (X × [0, 2π], Y ). Nach Satz 1.42 folgt:
, ! 2π -
Y1 := R(Fx (0, 0)) = w ∈ Y | 0 w(t) dt = 0 .
Hieraus resultiert auch, dass Y1 ein abgeschlossener Teilraum von Y der Kodimension 1
ist. In Beispiel 4.18 wird der Wertevorrat von Fx (0, 0) ohne Zuhilfenahme von Satz 1.42
ausführlich berechnet! Wir setzen
, ! 2π -
x1 = 1, X1 := span {1}, X2 := x ∈ X | 0 x(t) dt = 0 .
Wegen
Fx,μ (0, 0)x1 = x1 = 1 und 1 ∈ R(Fx (0, 0)),
ist die Bifurkationsbedingung (4.34) aus Satz 4.9 erfüllt. Somit zeigt sich, dass (0, 0) ein
Bifurkationspunkt von (4.46) ist. Insbesondere gehört der Punkt (0, 0) ∈ X × R sowohl
zum trivialen Lösungszweig (0, μ), als auch zu dem Zweig
8
μ = μ(s), μ(0) = 0,
s ∈ (−ε, ε),
x = x(s) = s · 1 + γ(s · 1, μ(s)), γ(0, 0) = 0,
der durch (0, 0) läuft. Man sieht, dass x(s) für jedes s ∈ (−ε, ε), s = 0 eine nichttriviale
Lösung ist, die sich aus der Summe einer konstanten Funktion s · 1 (in Bezug auf t) und
der Funktion γ(s · 1, μ(s)) ∈ X2 zusammensetzt.
Wir wollen nun für den Fall X = Y Lösungen der Gleichung F = 0 mit der speziellen
Gestalt
F (x, μ) := μx − G(x), G ∈ C 2 (X, X), G(0) = 0, μ ∈ R (4.49)
diskutieren. Mögliche Bifurkationspunkte für die Gleichung (4.49) sind Punkte μ0 = 0,
für die μ0 zum Spektrum von G (0) ∈ L(X, X) gehört. Wenn darüber hinaus G (0)
kompakt ist, dann ist μ0 tatsächlich ein Bifurkationspunkt. Dies wird in nachfolgendem
Satz bewiesen.
Satz 4.12
Es sei G ∈ C 2 (X, X) mit G(0) = 0 und G (0) ein kompakter Operator. Weiter sei μ0 = 0
ein einfacher Eigenwert von G (0) in dem Sinn, dass
Die Bifurkationsresultate aus den Sätzen 4.9 und 4.12 gelten im Allgemeinen nicht, wenn
wir nur dim ker(T ) = 1 und R(T ) abgeschlossen fordern, ohne (4.34) bzw. (4.51) vor-
auszusetzen. Dies zeigen die nachfolgenden Beispiele.
Beispiel 4.13
Wir setzen X = Y = R2 und
μx − y − y 3
F (x, y, μ) := .
μy + x3
Multipliziert man in F (x, y, μ) = 0 die erste Zeile mit y, die zweite mit x und subtrahiert,
dann führt dies auf y 2 + y 4 + x4 = 0. Somit hat F (x, y, μ) = 0 nur die triviale Lösung
und folglich keine Bifurkationspunkte.
Wir berechnen die Ableitung von F nach (x, y) (Jacobi-Matrix von F in Bezug auf (x, y))
im Punkt (0, 0, μ0 ):
x μ0 −1 x μ0 x − y
F(x,y) (0, 0, μ0 ) = = .
y 0 μ0 y μ0 y
nicht invertierbar. Folglich ist ker(F(x,y) (0, 0, 0)) = span {( 10 )} mit x1 = ( 10 ). Außerdem
gilt: R(T ) = span {( 10 )} ist abgeschlossen und codim R(T ) = 1. Andererseits ist die
gemischte Ableitung nach (x, y) und μ
1 0
F(x,y),μ (0, 0, 0) = =I
0 1
und folglich F(x,y),μ (0, 0, 0)x1 = x1 ∈ R(T ). Weder Satz 4.9 noch 4.12 kann angewendet
werden. Die Bedingungen (4.34) und (4.51) sind nicht erfüllt. Die Linearisierung
0 −1
F(x,y) (0, 0, 0) =
0 0
Beispiel 4.14
Wir legen Wert auf die Feststellung, dass Satz 4.12 nur auf Gleichungen der speziellen
Form F (x, μ) := μx − G(x) = 0 angewendet werden kann. Ansonsten kann man Satz
4.9 benutzen, da die Bedingung (4.51) in diesem Satz keine Rolle spielt. Wir betrachten
die Abbildung F : R2 × R → R2 ,
μx − y − y 3 1 0 x −y − y 3
F (x, y, μ) := =μ + .
μx + μy + x3 0 1 y μx + x3
Sie hat nicht die Darstellung (4.49), da G auch von μ abhängt. Somit ist Satz 4.12 nicht
anwendbar. Wie in Beispiel 4.13 ist für μ0 = 0
8
0 −1 1
T = und R(T ) = span .
0 0 0
und es gilt
1 1
A = ∈ R(T ) .
0 1
Somit ist (4.34) erfüllt und μ0 = 0 ist ein Bifurkationspunkt von F . Eine nichttriviale
Lösung des Gleichungssystems
8
μx − y − y 3 = 0
μ(x + y) + x3 = 0
erhält man, wenn man Lösungen der Form y = y ∗ (x) und μ = μ∗ (x) sucht. Man sieht
leicht, dass die Lösungen die Eigenschaft y ∗ (x) = −y ∗ (−x) und μ∗ (x) = μ∗ (−x) haben.
Der Potenzreihenansatz
y ∗ (x) := a1 x + a3 x3 + . . .
μ∗ (x) := b0 + b2 x2 + b4 x4 + . . . (b0 = 0)
Bemerkung 4.15
Wenn α := g1∗ , Fxμ (0, μ0 )x1 = 0 (d.h die Bedingung (4.34) ist verletzt), dann können
weitere verschiedene Bifurkationssituationen auftreten und eine umfangreichere Analyse
muss sich anschließen. Für die Lösung der Bifurkationsgleichung sind in der Literatur
vielfältige Verfahren entwickelt worden (siehe Chow und Hale (1982), Guckenheimer und
Holmes (1983), Krasnoselski et al. (1973), Wainberg und Trenogin (1973), Zeidler (1986)
u. a.). Unsere Diskussion beschränkt sich darauf, den „Verlauf der Bifurkationslösung“ in
der Nähe des Bifurkationspunktes (0, μ0 ) unter der Voraussetzung g1∗ , Fxμ (0, μ0 )x1 = 0
zu charakterisieren (siehe Abbildung 4.5). Zur einfacheren Darstellung setzen wir F ∈ C ∞
voraus.
μ0 μ μ0 μ μ0 μ
β = 0 β = 0, c > 0 β = 0, c < 0
(transkritisch) (superkritisch) (subkritisch)
Abb. 4.5 Verschiedene Lösungszweige
Wie in der zweiten Beweisvariante zu Satz 4.9 bereits gezeigt, löst λ = μ0 + λ(s) die
Gleichung b(λ, s) = 0 (siehe (4.36)). Wir differenzieren b(λ, s) = 0 implizit nach s und
erhalten
bs (μ0 , 0) β
λ (0) = − = − , (α = 0) (4.52)
bλ (μ0 , 0) α
wobei
1 ∗
α = g ∗ , Fxμ (0, μ0 )x1 , β= g , Fxx (0, μ0 )[x1 , x1 ] . (4.53)
2
Falls β = 0, dann ergibt sich
β
λ = μ0 − s + o(s)
α
und der Bifurkationszweig hat die Parameterdarstellung
α
x = − (λ − μ0 )x1 + o(λ − μ0 ) .
β
Die Gleichung F = 0 besitzt nichttriviale Lösungen, sowohl für λ > 0 als auch für λ < 0
(transkritische Bifurkation).
Falls β = 0, dann findet man
1 ∗
2c := λ (0) = − g , Fxxx (0, μ0 )[x1 , x1 , x1 ] (4.54)
3α
4.1 Bifurkationsgleichung von Ljapunov-Schmidt 175
In vielen Anwendungen tritt der Fall ein, dass ker(T ) nicht eindimensional ist. Deshalb
soll jetzt ein Bifurkationsresultat für dim ker(T ) > 1 diskutiert werden. Ein interessan-
tes Theorem zu dieser Situation findet man in Zeidler (1986), S. 392. Es ist für einen
mehrdimensionalen Parameterraum E aufgestellt, wobei eine der Voraussetzungen lau-
tet: dim(E) = codim (R(T )). Auf dieses Theorem wird nicht eingegangen. Hier wird ein
Ergebnis von Ambrosetti und Prodi gebracht.
Beweis: Bevor wir zum eigentlichen Beweis kommen, wird die Gleichung F = 0 ent-
sprechend den Voraussetzungen umgeformt. Mit Hilfe des Taylorschen Satzes erhält man
unter Beachtung von F (0, μ) ≡ 0 für F die Darstellung
Wir suchen Lösungen von F = 0 in der Form x = λ(u + z) mit u ∈ X1 , z ∈ ker(T ). Eine
solche Fragestellung werden wir im Beispiel 4.18 noch einmal aufgreifen. Das Einsetzen
von x = λ(u + z) in (4.56) und Beachten von T z = 0 führt auf die Gleichung
λ QT u +λ2 QM (u + z) + 12 λ2 QB[u + z, u + z]
$ %& '
=0
wobei Q die Projektion Q : Y → Y2 ist. Gemäß der Eigenschaften von ψ (siehe (4.57))
kann man schreiben
4 z, λ)
ψ(λ(u + z), μ0 + λ) = λ3 ψ(u,
4 Die Gleichungen (4.59) und (4.60) sind somit für λ = 0 äquivalent zu
mit glattem ψ.
4 z, λ) = 0 .
QM (u + z) + 12 QB[u + z, u + z] + λQψ(u, (4.62)
Mit Φ 4 = Φ(u,
4 z, λ) bezeichnen wir die linke Seite von (4.61). Es gilt sowohl Φ(0,
4 z, 0) = 0,
4 7 4 z, λ) = 0
als auch Φu (0, z, 0) = T = T |X1 , ∀ z ∈ X2 . Folglich kann auf die Gleichung Φ(u,
∗
der Satz über implizite Funktionen angewendet werden. Für jedes feste z ∈ X2 gibt es
eine eindeutig bestimmte glatte Lösung u = γ 4(z, λ) in einer Umgebung von (z, λ) =
(z ∗ , 0). Damit gilt die Beziehung
T7γ
4(z, λ) + λ(I − Q)M (γ
4(z, λ) + z) + 12 λ(I − Q)B[γ
4(z, λ) + z, γ
4(z, λ) + z]
4γ
+ λ2 (I − Q)ψ( 4(z, λ), z, λ) = 0 .
4(z, λ) = λγ(z, λ) .
γ (4.63)
4.2 Anwendungsbeispiele 177
Hier ist N wieder glatt und man beachte auch, dass γ von z ∗ abhängt. Gemäß der Vor-
aussetzungen des Satzes wird nun z ∗ so gewählt, dass man eine nichttriviale Lösung für
N = 0 nachweisen kann. Man gibt sozusagen Richtungen an, in denen Bifurkationslö-
sungen auftreten.
Wir kommen nun zum eigentlichen Beweis. Aus Voraussetzung a. unseres Satzes folgt
N (z ∗ , 0) = 0. Die Ableitung Nz (z ∗ , 0) = S ist nach Voraussetzung b. invertierbar. Das
implizite Funktionentheorem ist auf N (z, λ) = 0 anwendbar und es existiert genau eine
Lösung z = z(λ), definiert für kleine |λ| mit z(0) = 0 und N (z(λ), λ) = 0. Folglich
finden wir einen Bifurkationszweig der Form
Setzt man χ(λ) := λ(z(λ) + λγ(z(λ), λ)), dann ergibt sich χ (0) = z ∗ . Da x(λ) = 0 für
kleine |λ| mit λ = 0 ist, ergibt sich mit x = χ(λ) eine nichttriviale Lösung von F = 0
und damit ein Bifurkationszweig. Dies beweist, dass μ0 ein Bifurkationspunkt für F = 0
ist.
Bemerkung 4.17
1. Der Bifurkationszweig, der in Satz 4.16 gefunden wurde, ist im Allgemeinen nicht
eindeutig bestimmt. Dies kann daran liegen, dass z ∗ aus der Gleichung a. in Satz 4.16
nicht eindeutig bestimmt werden kann oder weil es andere Bifurkationslösungen von
F (x, μ) = 0, die nicht die Gestalt λ(u + z) haben, gibt.
2. Die Lösung der Bifurkationsgleichung N (z, λ) = 0 ist bezüglich λ parametrisiert. Dies
weist darauf hin, dass der Satz 4.16 Anlass zu transkritischen Bifurkationslösungen gibt.
4.2 Anwendungsbeispiele
Im Folgenden wollen wir anhand einiger Beispiele die Arbeitsweise der vorgestellten Me-
thoden und Sätze demonstrieren.
gilt. Folglich ist ker(Fx (0, μ)) nichttrivial genau dann, wenn μ = n2 , n ∈ N ∪ {0} und
t t t s
ḣ(s) ds = ḣ(0) ds + y(τ ) dτ ds
0 0 0 0
t t
h(t) − h(0) = ḣ(0) · t + y(τ ) ds dτ (Vertauschung der Integration)
0 τ
t
= ḣ(0) · t + (t − τ )y(τ ) dτ .
0
Des Weiteren gilt Fxμ (0, 0)(c, 1) = c für c ∈ ker(Fx (0, 0)) und die Voraussetzungen des
Satzes von Crandall-Rabinowitz sind erfüllt. Es ist nämlich
da konstante Funktionen nicht zu R(Fx (0, 0)) gehören. Vom Punkt (0, 0) zweigt also
eine nichttriviale Lösung s → (x(s), μ(s)) ab!
180 4 Analytische Bifurkationstheorie
2. Wir betrachten jetzt den Fall n ∈ N. Es ist nun dim ker(Fx (0, n2 )) = 2 und der
Satz von Crandall-Rabinowitz (Satz 4.9) nicht anwendbar. Wir greifen deshalb auf die
Ljapunov-Schmidt-Reduktion zurück. Wir bezeichnen mit T := Fx (0, n2 ). Der Werte-
vorrat von T ergibt sich aus der einfachen Rechnung T x = ẍ + n2 x = y mit x ∈ X und
y ∈ Y (Variation der Konstanten!). Eine partikuläre Lösung xp lautet:
sin nt t cos nt t
xp (t) = y(s) · cos ns ds − y(s) · sin ns ds . (4.67)
n 0 n 0
Anmerkung: Auch hier kann man sich eine Vorstellung vom Wertevorrat von T ma-
chen, indem man sich jede stetige 2π-periodische Funktion aus X bzw. Y wieder als eine
Fourier-Reihe y(t) = a0 /2 + ∞ k=1 (ak cos kt + bk sin kt) gegeben denkt. Die trigonome-
trischen Reihen liegen dicht in den Räumen C 0 bzw. C 2 (siehe Heuser (1980), Teil 2, S.
66, S. 158). Eingesetzt in die partikuläre Lösung xp (t) ergeben sich für die Terme
8
t
cos ns
y(s) · ds (n ∈ N) (4.68)
0 sin ns
die Integrale
t
sin(−k + n)t sin(k + n)t
cos ks · cos ns ds = + , k = n,
0 2(−k + n) 2(k + n)
t
cos(k + n)t cos(k − n)t n
cos ks · sin ns ds = − + + 2 , k = n,
0 2(k + n) 2(k − n) n − k2
t
sin(−k + n)t sin(k + n)t
sin ks · sin ns ds = − , k = n,
0 2(−k + n) 2(k + n)
t t
1 1 1 1
cos2 ns ds = t+ sin(2nt), sin2 ns ds = t− sin(2nt).
0 2 4n 0 2 4n
Die ersten drei Ausdrücke stellen 2π-periodische Funktionen, die letzten beiden Aus-
drücke stellen keine 2π-periodischen Funktionen dar. Somit gibt es zu jeder stetigen und
2π-periodischen Funktion y(t), bei der die „Anteile cos nt und sin nt fehlen“, ein Urbild
in C 2 . Dies besagt auch, dass der Komplementärraum zu R(T ) durch die Funktionen
cos nt und sin nt (n ∈ N) aufgespannt wird und die Kodimension von R(T ) zweidimen-
sional ist.
Wir wollen nun den Projektionsoperator Q : Y → Y aufstellen. Wir fassen Y als Unter-
raum von L2 ((0, 2π), R) auf und führen das Skalarprodukt
2π
1
u∗ , vL2 := u∗ (t) · v(t) dt (4.69)
π 0
ein. Wir setzen x1 = y1 := cos(n·), x2 = y2 = sin(n·) und bestimmen zu ker(Fx (0, 0)) =
span{x1 , x2 } und codim R(Fx (0, 0)) = span{y1 , y2 } biorthogonale Funktionale x∗i , yk∗ .
In unserem Fall sind das wieder die Funktionen cos(k·) und sin(k·). Damit ergibt sich
gemäß Skalarprodukt:
x∗i , yk∗ ∈ L2 mit x∗i , xj = δij und yk∗ , yl = δkl , i, j, k, l = 1, 2
4.2 Anwendungsbeispiele 181
2
2
P x := x∗i , xxi und Qy := yk∗ , yyk , x ∈ X, y ∈ Y.
i=1 k=1
Wegen der Auswahl der Funktionen und Funktionale kann man P ≡ Q setzen, genauer:
P = Q|X . Der Operator
2π 2π
sin nt cos nt
Qy : t → y(s) · sin ns ds + y(s) · cos ns ds, y ∈ Y,
π 0 π 0
ist ein Projektionsoperator, projiziert auf den Unterraum Z := span {sin(n·), cos(n·)}
und splittet den Raum Y in die topologisch direkte Summe
Der Operator F kann wie folgt dargestellt werden (man beachte: Fx (0, n2 )x = T x =
ẍ + n2 x):
F (u + v, μ + n2 ) = ü + v̈ + (μ + n2 ) sin(u + v)
= T (u + v) + μ(u + v) − (μ + n2 )(u + v) + (μ + n2 ) sin(u + v)
= T v + μ(u + v) + h(u, v, μ), u ∈ ker(T ), v ∈ V,
wobei
h(u, v, μ) := −(μ + n2 )(u + v) + (μ + n2 ) sin(u + v)
= μ[ sin(u + v) − (u + v) ] + n2 [ sin(u + v) − (u + v) ].
Wegen der speziellen Form von h werden wir versuchen, eine Lösung von (4.65) in der
Form x = μ(u + v) zu finden. Einsetzen in F liefert:
Nach Ausklammern von μ ist die Gleichung F (μ + n2 , μ(u + v)) = 0 genau dann erfüllt,
wenn
wobei
⎧
⎪
⎪ h(μu, μv, μ)
⎨ , μ=0
μ3
g(u, v, μ) :=
⎪
⎪ 2
⎩ − n (u + v)3 , μ = 0.
6
Zur Lösung der Gleichung (4.70) wird die Ljapunov-Schmidt-Methode benutzt. Wir pro-
jizieren dazu die Gleichung (4.70) mit Hilfe des Projektors Q in die Unterräume R(T )
und Z und erhalten das zu (4.70) äquivalenten Gleichungssystem:
Qu = u und (I − Q)(u + v) = v
ist. Danach ergibt sich (wenn man aus der zweiten Gleichung noch μ ausklammert):
T7 hat eine lineare stetige Inverse auf V und demzufolge ist die Gleichung (4.71) eindeutig
nach v in Abhängigkeit von u und μ in einer Umgebung von (u∗ , 0) auflösbar:
Da G(u∗ , 0) = u∗ , nehmen wir u∗ = 0 und lösen (4.73) in einer Umgebung von (0,0)
auf. Dies kann wieder unter Zuhilfenahme des impliziten Funktionentheorems erfolgen.
Es ist G(0, 0) = 0 und Gu (0, 0) = I|ker(T ) . Nun ist Gu (0, 0) ein Isomorphismus von
ker(T ) nach Z. Somit kann u in Abhängigkeit von μ eindeutig in einer Umgebung um
μ = 0 aufgelöst werden. Bezeichnen wir diese Lösung mit u = ω(μ), dann haben wir das
folgende Resultat bewiesen:
4.2 Anwendungsbeispiele 183
Jeder Punkt (0, n2 ) ist ein Bifurkationspunkt der Gleichung (4.65) und ein nichttri-
vialer Lösungszweig von 2π-periodischen Lösungen hat die Form
wobei λ ein reeller Parameter ist. Über Eigenschaften von L und Lösungen von (4.74),
(4.74 ) konsultiere man auch Ambrosetti und Prodi (1993), S. 7, Theorem 0.7.
Wir müssen (4.74), (4.74 ) in Form einer Operatorgleichung schreiben. Dazu setzen wir
und definieren
Wir verwenden dasselbe Symbol p für den Nemytski-Operator (siehe Abschnitt 1.4), wie
auch für die reellwertige Funktion p. Lösungen von (4.74), (4.74 ) sind dann die Paare
(u, λ) mit F (u, λ) = 0 und u ∈ X. Wir setzen weiter voraus, dass p = p(t, s, ξ) die
Bedingungen
3
Jacques Charles Francois Sturm (1803–1855), französischer Mathematiker, nach ihm und Joseph
Liouville ist das Sturm-Liouville-Problem benannt. Er ist namentlich auf dem Eiffelturm verewigt.
184 4 Analytische Bifurkationstheorie
Nach der Fredholmschen Alternative (siehe Satz 1.69) folgt für den Wertevorrat
Für jedes k = 1, 2, . . . gibt es eine stetige Familie uλ von nichttrivialen Lösungen von
(4.74), (4.74 ), so dass uλ C 2 → 0 (λ → λk ).
Wir wollen uns nun noch etwas mit dem geometrischen Charakter der Sätze 4.9-4.12
beschäftigen. Hat man die Ljapunov-Schmidt-Reduktion auf die Gleichung F (u, λ) = 0
angewendet, verbleibt die Diskussion der Verzweigungsgleichung. Dies ist eine endlichdi-
mensionale Gleichung der Form β(t, μ) = 0 mit einer C 2 -Funktion β. Sie hat die Eigen-
schaften
Die Rechnung liefert uns zwei Lösungszweige: die triviale Lösung und eine nichttriviale
Lösung, die Anlass zu einer Bifurkationslösung gibt. Angenommen, dass F durch eine
Funktion F4 mit F − F4C 2 < ε mit kleinem ε gestört wird. Die Störung von F durch
F4 wird sich auch auf β auswirken, in dem Sinn, dass β = 0 durch die gestörte Bifur-
kationsgleichung β4 = 0 mit β − β
4 C 2 < ε4 ersetzt wird. Im Allgemeinen ist es möglich
zu beweisen, dass die Nullstellen von β4 aus zwei Zweigen bestehen, die sich zwar nicht
schneiden, jedoch nahe beieinander liegen (siehe Abbildung 4.6).
Wir bringen jetzt noch ein Beispiel für den Fall, dass der Kern von Fu (0, λ∗ ) zweidimen-
sional ist (vgl. Satz 4.16).
4.2 Anwendungsbeispiele 185
t t
μ μ
a) b)
Sie diente damals der mathematischen Beschreibung von Oszillationen in einem elektri-
schen Schwingkreis mit Triode. In diesem Fall repräsentiert x(t) die Spannung zur Zeit t
(siehe Abbildung 4.7).
ia i0
C L L0 ia
iM
R iM i0 = 2
M
C0
u
Abb. 4.7 Elektrischer Schwingkreis für die Van-der-Pol-Gleichung (links), Kennlinie der span-
nungsgesteuerten Stromlinie (rechts)
Auf die Herleitung der Gleichung (4.77) wird nicht eingegangen, siehe dazu Philip-
pow (1971). Die Triodenkennlinie wird im Arbeitspunkt durch ia = a0 + a1 u −
a3 u3 (a0 , a1 , a3 > 0) approximiert. Darüber hinaus wird sie in vielen anderen physi-
kalischen Systemen und in bestimmten Modellen von chemischen Reaktionen zur Mo-
dellierung verwendet. Die Behandlung der Gleichung (4.77) erfolgt hier zunächst mit
den bereitgestellten funktionalanalytischen Hilfsmitteln. Wir vergleichen die gewonnene
Lösung dann auch mit der Mittelungsmethode.
Unser Ziel ist es, für die Gleichung (4.77) eine einzige periodische Lösung für kleine ε
nachzuweisen. Eine solche Lösung nennt man wieder Grenzzyklus. Dieser wird sich als ein
stabiler Grenzzyklus für ε > 0 erweisen, d. h. alle Lösungen mit Startwerten x(t0 ) = 0
laufen mit t → ∞ auf dem periodischen Orbit ein.
186 4 Analytische Bifurkationstheorie
Der Leser sollte beachten, dass es auch geschlossene Lösungen in der (x, y)-Phasenebene
gibt, die nicht periodisch sind. Dazu muss man als Beispiel nur das heteronome System
ẋ = 2ty, ẏ = −2tx
betrachten, welches Lösungen der Form x(t) = α cos t2 + β sin t2 , y(t) = −α sin t2 +
β cos t2 besitzt, deren Phasenkurven geschlossen, jedoch nicht periodisch sind. In unserem
Fall (autonome DGL) sind geschlossene Phasenkurven jedoch stets periodisch.
Wir wollen nun den Existenznachweis eines Grenzzyklus in der DGL (4.77) führen. Für
ε = 0 ist die (x, ẋ)-Phasenebene mit konzentrischen Orbits ausgefüllt (siehe Abbildung
4.8 (rechts)). Man fragt nun, was passiert, wenn man dieses Phasenportrait durch die
Nichtlinearität (1 − x2 )ẋ (ε = 0) stört. Das Ergebnis ist der oben beschriebene Grenz-
zyklus (siehe Abbildung 4.8 (links)), der jetzt nachgewiesen wird. Für ε = 0 liegen
Eigenlösungen der Form x(t) = a cos t mit beliebigem a ∈ R vor. Dies führt zu dem
Versuch, Lösungen in der Form
1
ω = 1 + η, x = a0 (1 + α) cos t + y
(4.78)
η = O(ε), α = O(ε), y = O(ε), ε→0
nachzuweisen.
3
2
2
y y
1
–2 –1 0 1 2 3 0
–3 –2 –1 1 2 3
x x
–1
–1
–2
–2
–3
Abb. 4.8 Nur ein (asymptotisch stabiler) periodischer Orbit (links, ε > 0 in (4.77)), ein Konti-
nuum periodischer Orbits (rechts, ε = 0 in (4.77))
Ein Ziel ist es wieder, die Gleichung (4.77) in ein äquivalentes System zu überführen,
welches aus einer eindeutig lösbaren Gleichung und den Bifurkationsgleichungen besteht.
Zunächst wird die Gleichung (4.77) in die Form
2 0
T x = F (x, ε), T : C2π → C2π , T x := ẍ + x, F (x, ε) := ε(1 − x2 )ẋ (4.79)
4.2 Anwendungsbeispiele 187
geht über in
(I − Q) [T x2 − F (x1 + x2 , ε)] = 0 ,
(4.81)
Q [T x2 − F (x1 + x2 , ε)] = 0 .
Die Gleichungen (4.82) und (4.83) sind äquivalent zur Ausgangsgleichung (4.79). Wie
bereits erwähnt, ist (4.82) eindeutig nach x2 in Abhängigkeit von x1 und ε (bei kleiner
Norm x1 , |ε|) auflösbar. Diese Lösung x2 = x∗2 (x1 , ε) mit x1 ≤ r1 und |ε| ≤
r2 , r1 , r2 > 0, in (4.83) eingesetzt, liefert das System der Bifurkationsgleichungen. In
unserem Fall zwei nichtlineare Gleichungen der Form
mit u1 (·) = √1π sin(·) und v1 (·) = √1π cos(·). Das Symbol ·, · bezeichnet das Skalar-
produkt, wie in (4.69) eingeführt. Wir lösen dieses nichtlineare Gleichungssystem in drei
Schritten.
188 4 Analytische Bifurkationstheorie
1. Schritt: Wir beginnen mit einer einfachen aber wichtigen Substitution, die es uns
erlaubt, das Aufsuchen von Schwingungen der Gleichung (4.79) mit einer derzeitigen
unbekannten Periode von T = 2π/ω (ω ≈ 1) auf die Periode 2π zu transformieren. Da-
durch wird es möglich, das Problem in 2π-periodischen Funktionenräumen zu betrachten.
Aus diesem Grund setzen wir τ = ωt. Die Gleichung (4.79) geht dann über in
Der „Ableitungspunkt“ wird beibehalten, natürlich bedeutet er jetzt die Ableitung nach
τ ; x ist nun eine Funktion von τ . Nun wird x(τ ) = a0 (1 + α) cos τ + y(t) in die Gleichung
(4.86) eingesetzt und man erhält mit a := a0 (1 + α) und 1 + η = ω1
2
ÿ + y = F (y, ε, η, α), y ∈ C2π . (4.87)
Die Gleichung ist nur erfüllt, falls 14 a20 − 1 = 0, also a0 = ±2 gewählt wird. Da −x
ebenfalls eine Lösung von (4.77) darstellt, liefert die Wahl a0 = −2 keine neue Lösung.
3. Schritt: Die Gleichung (4.87) wird jetzt mittels Projektionsmethode in ein äquivalentes
Gleichungssystem überführt. Wegen P = Q wird mit dem Projektor P gearbeitet. Gemäß
der Überführung der Gleichung (4.80) in das System (4.82) und (4.83) ergibt sich jetzt
mit Q = P, x1 = a0 (1 + α) cos τ und x2 = y :
Das System (4.89), (4.90) ist zur Gleichung (4.87) äquivalent. Jede Lösung von (4.87)
erzeugt eine Lösung des Systems und umgekehrt. Die Gleichung (4.89) lässt sich mittels
impliziten Funktionentheorems (siehe Satz 1.80) eindeutig nach y in Abhängigkeit von
ε, η, α auflösen. Wir bezeichnen die Lösung mit y = y ∗ (ε, η, α). Die Funktion y ∗ existiert
lediglich auf einer (hinreichend kleinen) Umgebung um ε = η = α = 0. (Die Voraus-
setzungen des impliziten Funktionentheorems sind erfüllt, da die rechte Seite in (4.89)
keine Linearteile in y enthält.) Nun werden aus der Gleichung (4.89) Eigenschaften der
Lösung y ∗ abgeleitet und einige Koeffizienten der Taylor-Reihe berechnet. Da die rechte
Seite von (4.89) analytisch ist, gilt entsprechendes auch für y ∗ in einer Nullumgebung
von ε, η und α. Somit können die Koeffizienten der Lösung y ∗ z. B. durch Koeffizienten-
vergleich gewonnen werden. Wir schreiben die Gleichung in der Form Sy = F − P F und
bezeichnen die rechte Seite mit F̃ := F − P F. Dann ergibt sich
.
F̃ (y, ε, η, α) = − 2ηy − η 2 y + ε(1 + η) 2(1 + α)3 sin 3τ
Für die Lösung y ∗ (ε, η, α) gilt für hinreichend kleine ε, η, α die Beziehung
Hieraus gewinnt man eine Strukturaussage für die Lösung y ∗ . Es gilt für ε = 0 die
Gleichung
Diese Gleichung besitzt jedoch nach dem Satz über implizite Funktionen genau eine
Lösung y ∗ . Nun ist y ∗ (0, η, α) = 0 einzige Lösung von (4.93), d. h. es gilt die Beziehung
Hieraus folgt sofort, dass alle Ableitungen nach η und α sowie auch alle gemischten
Ableitungen verschwinden. Dies erleichtert die Berechnung der Anfangsentwicklung von
y ∗ (ε, η, α) erheblich und liefert außerdem die angekündigte Strukturaussage über die
Lösungsdarstellung von y ∗ (ε, η, α):
ε 3 5
y ∗ (ε, η, α)(τ ) = − sin 3τ − cos 3τ + cos 5τ ε2
4 16 48
5 3
− (sin 3τ )εη − (sin 3τ )εα + O3 (ε, η, α), (4.95)
16 4
bzw. wegen (4.94)
ε
y ∗ (ε, η, α)(τ ) = − sin 3τ + O(ε2 ) + ε(O(η) + O(α)). (4.96)
4
Der Term O3 (ε, η, α) enthält Glieder der Ordnung ≥ 3.
Nun wird der Ausdruck P F (y, ε, η, α) berechnet und dann die Lösung (4.96) eingesetzt.
Die Gleichung P F = 0 zerfällt in zwei nichtlineare Gleichungen in ε, η, α. Im Einzelnen
ergeben sich aus u1 , F = v1 , F = 0 die Gleichungen
. √
ε(1 + η) 2 πα(1 + α)(2 + α) + 4(1 + α)2 v1 , (cos2 τ )y
1 /
+ 2(1 + α)v1 , (cos τ )y 2 + v1 , y 3 = 0, (4.97)
3
√ .
2 π(2η + η 2 )(1 + α) + ε(1 + η) 4(1 + α)2 u1 , (cos2 τ )y
1 /
+ 2(1 + α)u1 , (cos τ )y 2 + u1 , y 3 = 0. (4.98)
3
Als nächstes wird in (4.97) und (4.98) die Lösung (4.95) eingesetzt und somit die an-
gekündigten Bifurkationsgleichungen gewonnen. Da Lösungen mit Parameter ε = 0 ge-
sucht werden, kann in (4.97) zuvor noch durch ε dividiert werden. Die erforderlichen
Rechnungen werden dem Leser überlassen. Alle Terme, bis einschließlich zu den Gliedern
2. Ordnung sind exakt berechnet. Es ergibt sich aus (4.97)
1
4α − ε2 + O(ε4 ) + O3 (ε, η, α) = 0 (4.99)
8
1
4η − ε2 + 2η 2 + 4ηα + O(ε4 ) + O3 (ε, η, α) = 0. (4.100)
4
4.2 Anwendungsbeispiele 191
Das System (4.99), (4.100) ist linear in Bezug auf η und α. Der Satz über implizite
Funktionen liefert das folgende Resultat: Es existiert ein ε0 > 0, so dass das System
(4.99), (4.100) Lösungen η = η ∗ (ε) und α = α∗ (ε) mit η ∗ (0) = α∗ (0) = 0 besitzt. Die
Lösungen sind für |ε| < ε0 analytische Funktionen. Man kann auch hier die Koeffizienten
wieder durch Koeffizientenvergleich bestimmen. Die Potenzreihendarstellungen für η ∗
und α∗ (jeweils nach dem quadratischen bzw. kubischen Glied abgebrochen) lauten:
1 2 1 2
η ∗ (ε) = ε + O(ε3 ) , α∗ (ε) = ε + O(ε3 ) , |ε| < ε0 .
16 32
Setzt man diese Lösungen in (4.95) ein, erhält man für y ∗ die Darstellung (|ε| < ε0 )
ε 3 5 11ε3
y ∗ (τ, ε) = − sin 3τ − ε2 cos 3τ + cos 5τ − sin 3τ + O(ε4 ) . (4.101)
4 16 48 256
1
Nun muss man lediglich noch die Zeit τ gemäß τ = ωt nach t und 1 + η = ω nach ω
zurück transformieren. Damit ergibt sich abschließend
ε
x∗ (t, ε) = 2(1 + α∗ (ε)) cos ωt − sin 3ωt − O(ε2 ) , |ε| < ε0 (4.102)
4
mit
1 1 2
ω = ω ∗ (ε) = = 1− ε + O(ε4 ) , |ε| < ε0
1 + η ∗ (ε) 16
1 2
α∗ (ε) = ε + O(ε4 ) , |ε| < ε0 .
32
Damit ist die Auflösung des Systems (4.84) erfolgt.
Im engen Zusammenhang mit der nachgewiesenen periodischen Lösung (4.96) steht die
Frage nach der Stabilität des Grenzzyklus. Hierzu gibt es hinreichende Bedingungen für
Differenzialgleichungen der Form
ẍ + f (x) · ẋ + g(x) = 0
(siehe z. B. Bogoljubov und Mitropolski (1965), Verhulst (2000)). In unserem Fall erfül-
len die Funktionen f (x) := ε(x2 − 1) und g(x) := x die dort angegebenen Bedingungen
für ε > 0. Diese sichern die Existenz genau eines stabilen Grenzzyklus. Für große x ist
−ε(1 − x2 ) > 0. Dies verursacht einen Dämpfungseffekt, der die Stabilität des Grenzzyk-
lus vermuten lässt. Die Bifurkation der DGL tritt insofern ein, dass von der Schar kon-
zentrischer Kreise in der Phasenebene ((x, ẋ)-Ebene) für ε = 0 nur noch ein Grenzzyklus
mit der Amplitude nahe 2 für ε > 0 „übrig bleibt“. Das Phasenporträt der Differenzial-
gleichung hat sich also bei Durchgang von ε durch den Nullpunkt abrupt geändert. Es
ist dabei qualitativ ein völlig anderes Phasenporträt entstanden.
192 4 Analytische Bifurkationstheorie
mit hinreichend glatten Funktionen h und g. Für den Zweck der Interpretation werden
wir weiter annehmen, dass das entsprechende DGL-System
einen einzigen Fixpunkt bei (x, y) = (0, 0) besitzt, d. h. die Gleichung h(x, 0) + g(x) = 0
besitzt nur die Lösung x = 0 und es gelte außerdem g(0) = 0. Unter diesen Bedingungen
kann (4.103) als Modell für eine Feder (auch für einen elektrischen Schwingkreis) ange-
sehen werden, dessen freie Bewegung durch die Gleichung ẍ + g(x) = 0 (konservatives
System) beschrieben wird. Die „äußere Kraft −h(x, ẋ)“ beeinflusst die Bewegung des
Systems, indem sie Energie liefert oder absorbiert. Definiert man eine potenzielle Ener-
!
giefunktion für das Masse-Feder-System durch V (x, ẋ) := g(x) dx und eine kinetische
Energie durch T (x, ẋ) = 12 ẋ2 , dann lautet die Gesamtenergie
x
1 2
E(x, ẋ) := T (x, ẋ) + V (x, ẋ) = ẋ + g(ξ) dξ. (4.105)
2 0
Die zeitliche Ableitung längs Phasenkurven (der Kürze halber mit x statt mit x(t) be-
zeichnet) liefert
dE(x, ẋ)
= ẋ · ẍ + g(x) · ẋ = ẋ(−g(x) − h(x, ẋ)) + g(x) · ẋ = −ẋh(x, ẋ). (4.106)
dt
Aufgrund dieser Formel lassen sich ohne Kenntnis der Lösung der Gleichung (4.103)
Aussagen über das Verhalten von E längs eines Orbits und somit über die Stabilität
eines Fixpunktes machen. Darin liegt gerade die Bedeutung dieser Energiefunktion, die
man auch Ljapunov-Funktion nennt. Hier sei nur so viel gesagt, dass die Ljapunov-
Funktion benutzt wird, um die Stabilität eines Fixpunktes in einem dynamischen System
zu bestimmen. Leider gibt es keine allgemeine Methode, um eine Ljapunov-Funktion zu
konstruieren. Ein guter Kandidat für eine Ljapunov-Funktion sind Erhaltungssätze aus
der Physik.
!x
Setzt man in (4.105) G(x) := 0 g(ξ) dξ > 0 voraus (x = 0), dann ist E eine Ljapunov-
Funktion, wenn man noch ẋ · h(x, ẋ) > 0 für ẋ = 0 annimmt. Aus diesen Bedingungen
ergibt sich dann die asymptotische Stabilität des Fixpunktes (x, ẋ) = (0, 0) ∈ R2 . Der
Leser möge sich mit dem Begriff der Ljapunov-Funktion und der daraus folgenden Sta-
bilität anhand des Buches von Aulbach (1997) beschäftigen.
4.2 Anwendungsbeispiele 193
Für eine nichtlinearen Schwingung ohne Reibung mit h(x, ẋ) ≡ 0 und x · g(x) > 0
für x = 0 ist es naheliegend, die Energiefunktion E(x, ẋ) = 12 ẋ2 + G(x) als Ljapunov-
Funktion heranzuziehen. Es ist E(x, ẋ) > 0 für (x, ẋ) = (0, 0) und Ė(x(t), ẋ(t)) ≡ 0.
Also ist die Nullösung stabil.
Im Allgemeinen ist es schwierig, isolierte periodische Schwingungen nachzuweisen und
sie dann auch noch zu konstruieren. Vor einer weiteren komplizierten Aufgabe steht man
dann, wenn auch noch die Stabilität des Grenzzyklus untersucht werden soll. Solche
Untersuchungen wollen wir nun für die Familie von Gleichungen der Form
Wir nehmen an, dass | ε | 1 und h(0, 0) = 0 ist, so dass (0, 0) ein Gleichgewichts-
punkt ist. Bei der Van-der-Pol-Gleichung ist h(x, y) := −(1 − x2 )y (siehe (4.77)). Die
Gleichung (4.107) besitzt für ε = 0 die allgemeine Lösung x(t) = a cos(t + α), wobei
a und α willkürliche Konstanten sind. Soweit das Phasendiagramm der Differenzialglei-
chung betrachtet wird, kann man sich auf den Fall a > 0 und α = 0 einschränken, da
verschiedene Werte von α lediglich zu verschiedenen Zeitanfängen korrespondieren. Die
Orbits bleiben unverändert. Die Familie von Orbits der Gleichung
ẋ = y, ẏ = −x (ε = 0 in (4.108)) (4.109)
Die Periode all dieser Orbits ist T = 2π. Für kleines ε = 0 haben wir gezeigt, dass sich
ein Grenzzyklus einstellt, der in der Nähe einer dieser Lösungen (4.110) liegt und mit
ε → 0 dagegen konvergiert. Folglich kann man annehmen, dass der Grenzzyklus ungefähr
das Aussehen
besitzt, wobei T seine Periode ist. Aus (4.106) folgt mit εh anstelle von h durch Integra-
tion über eine Periode T für die Energie E(t) (ẋ = y)
T
E(T ) − E(0) = −ε h(x(t), y(t)) y(t) dt. (4.112)
0
194 4 Analytische Bifurkationstheorie
Da der Orbit geschlossen ist, stimmt die Energie im Periodenpunkt T mit E(0) nach
einem Umlauf überein. Folglich gilt
T
h(x(t), y(t)) y(t) dt = 0 (4.113)
0
entlang des Grenzzyklus. Setzt man die Approximation (4.111) in das Integral ein, ergibt
sich
2π
h(a cos t, −a sin t) sin t dt = 0 (4.114)
0
(nachdem man durch den Faktor −εa dividiert hat). Dies ist eine Gleichung, aus der
man die unbekannte Amplitude a des Grenzzyklus bestimmen kann. Für den Fall der
Van-der-Pol-Gleichung (4.77) ergibt sich mit h(x, y) = −(1 − x2 )y die Gleichung
2π
(1 − a2 cos2 t)(−a sin t) sin t dt = 0 .
0
Dies führt zu der Bestimmungsgleichung für die Amplitude:
1
1/4a3 π − aπ = 0 ⇐⇒ 1 − a2 = 0 , (a = 0)
4
mit der positiven Lösung a = 2. Diese Amplitude kann also für kleine Störungen εh als
eine Näherung für die Amplitude des Grenzzyklus angesehen werden.
Wir nehmen vorübergehend an, dass die Existenz des Grenzzyklus bereits nachgewiesen
ist. Dann kann man auch seine Stabilität für kleine ε zeigen. Dazu nehmen wir weiter an,
dass die nicht geschlossenen Orbits, die in der Nähe des Grenzzyklus liegen, sich auf die
periodische Lösung „aufwickeln“. Diese sind dann näherungsweise durch x ≈ a cos t, y ≈
−a sin t gegeben, wobei a nahezu konstant über dem Zeitintervall 0 ≤ t ≤ 2π (keine
Periode) ist. Über diesem Intervall ist die approximierte Engergie E(2π) − E(0) gegeben
durch (4.112) und die Funktion f sei definiert durch
2π
f (a) := −εa h(a cos t, −a sin t) sin t dt , (4.115)
0
mit a ∈ K(2; δ0 ) (δ0 > 0). Weiter sei a0 ≈ a die Amplitude für den Grenzzyklus, so
dass f (a0 ) = 0 (kein Energieverbrauch!) gilt. Falls der Grenzzyklus stabil ist, dann ist in
dem inneren Spiralsegment (a < a0 ) ein Energiegewinn und im äußeren Spiralsegment
(a > a0 ) ein Energieverlust vorhanden. D. h., dass für δ > 0 (hinreichend klein) gilt:
Folglich gilt f (a) = πεa(2 − a2 ) und f (2) = −4πε, was für ε > 0 die Stabilität und für
ε < 0 die Instabilität des Grenzzyklus bewirkt. In Abbildung 4.8 (links) ist ein stabiler
Grenzzyklus dargestellt.
Amplituden und Frequenzabschätzungen können auch mittels Polarkoordinatentransfor-
mation erfolgen. Wir starten wieder mit der Gleichung (4.107) bzw. dem äquivalenten
System (4.108) und wir nehmen an, dass (4.108) mindestens eine periodische Lösung
besitzt. Jede Phasenkurve kann durch zeitabhängige Polarkoordinaten r(t) und ϕ(t) pa-
rametrisiert werden. Mit x = r(t) cos ϕ(t) und y = r(t) sin ϕ(t) geht (4.108) über in
ṙ cos ϕ − rϕ̇ sin ϕ = r sin ϕ
ṙ sin y + rϕ̇ cos ϕ = −εh(r cos ϕ, r sin ϕ) − r cos ϕ
und liefert ein DGL-System in ṙ, ϕ̇ der Form
⎛ ⎞
ṙ cos ϕ sin ϕ r sin ϕ
= ⎝ sin ϕ cos ϕ ⎠
ϕ̇ − −εh − r cos ϕ
r r
−εh sin ϕ
= (h steht für h(r cos ϕ, r sin ϕ)) . (4.117)
−1 − rε h cos ϕ
Die Differenzialgleichung für die Phasenkurven lautet folglich
dr εh sin ϕ
= . (4.118)
dϕ 1 + rε h cos ϕ
Wir nehmen an, dass ein periodischer Orbit die Periode T (ε) besitzt. Dann besitzen
r(t), ϕ(t) und auch h die Periode T (ε), d. h. es gilt r(t0 + T (ε)) = r(t0 ) für alle t0
und ebenso für alle anderen Größen. In Bezug auf die Koordinate ϕ sind in (4.118) alle
Größen 2π-periodisch. Die Abbildung 4.9 zeigt das Phasendiagramm und die Relation
y ε=0
ε = 0
r r
ϕ
ϕ t = T, ϕ = 0
x
t = 0, ϕ = 2π
Abb. 4.9 Phasenportrait für ε = 0 und ε = 0 (links), Relation zwischen ϕ und t (rechts)
zwischen ϕ und t. Ein typischer Grenzzyklus ist folglich durch folgende Randbedingungen
beschrieben:
r = r0 , ϕ = 2π zum Zeitpunkt t = 0,
(4.119)
r = r0 , ϕ = 0 zum Zeitpunkt t = T.
196 4 Analytische Bifurkationstheorie
Wir nehmen jetzt an, dass |ε| 1 gilt und weiter der Grenzzyklus aus einer kleinen
Verzerrung, einer Störung einer der Kreise des linearisierten Systems ẍ + x = 0 besteht.
Wie kann man nun die Periode T und die Kreisfrequenz ω = 2π T angenähert unter
Benutzung der Gleichungen (4.117) und (4.118) berechnen? Dazu wird die rechte Seite
von (4.118) in Bezug auf ε approximiert. Es ergibt sich
dr
= εh sin ϕ + O(ε2 ). (4.120)
dϕ
Integriert man (4.120) bezüglich ϕ, beginnend mit ϕ = 2π, dann erhält man
da r(2π) = r0 gemäß (4.119) gilt. Somit ist die Abweichung vom Kreis vom Radius r0
von der Ordnung O(ε). Integriert man (4.120) über das gesamte Zeitintervall des Kreises
(4.119) von ϕ = 2π bis ϕ = 0, dann ergibt sich
0
r 0 − r0 = ε h(r cos ϕ, r sin ϕ) sin ϕ dϕ + O(ε2 ) bzw.
2π
2π
0 = − h(r cos ϕ, r sin ϕ) sin ϕ dϕ + O(ε) (ε = 0) .
0
Substituiert man r durch (4.121) und entwickelt h an der Stelle r0 (nullte Näherung),
dann ergibt sich
2π
h(r0 cos ϕ, r0 sin ϕ) sin ϕ dϕ = O(ε) .
0
Da diese Beziehung für alle ε (hinreichend klein) gelten muss und die linke Seite der
Gleichung nicht von ε abhängt, folgt
2π
h(r0 cos ϕ, r0 sin ϕ) sin ϕ dϕ = 0 . (4.122)
0
Diese Beziehung dient zur näherungsweisen Berechnung der Amplitude r0 des Grenzzy-
klus. Die entsprechend aussehende Bedingung (4.114) kann aus (4.122) gewonnen werden,
indem man die zweite Gleichung in (4.117) nach t integriert und ϕ = 2π − t + O(ε) in
(4.122) einsetzt. Der führende Term in (4.122) ist dann genau (4.113).
Um die angenäherte Periodendauer T des Grenzzyklus zu erhalten, geht man wie folgt
vor. Für T gilt die Beziehung
T 0 2π
dϕ dϕ
T = dt = = 2 ,
0 2π ϕ̇ 0 1+ r h(r cos ϕ, r sin ϕ) cos ϕ
4.2 Anwendungsbeispiele 197
wobei (4.117) benutzt wurde. Ersetzt man wieder r durch r0 + O(ε), entwickelt h in
Bezug auf r0 in eine Taylor-Reihe, entwickelt 1/(1 + εr0−1 h cos ϕ) mittels geometrischer
Reihe und verwendet nur die Glieder bis zur Ordnung O(ε), dann ergibt sich für T der
Ausdruck
2π
T = (1 − εr0−1 h(r0 cos ϕ, r0 sin ϕ) cos ϕ + O(ε2 )) dϕ
0
2π
ε
≈ 2π − h(r0 cos ϕ, r0 sin ϕ) cos ϕ dϕ + O(ε2 ) (4.123)
r0 0
mit einem Fehler der Ordnung O(ε2 ). Daraus ergibt sich die Kreisfrequenz
2π
2π ε
ω = ≈ 1+ h(r0 cos ϕ, r0 sin ϕ) cos ϕ dϕ + O(ε2 ) (4.124)
T 2πr0 0
Die in diesem Abschnitt allgemein beschriebene Methode wird nun auf die Van-der-Pol-
Gleichung angewendet.
ẋ = y, ẏ = −x + ε(1 − x2 )y (4.125)
eine äquivalente Gleichung her. Dies ist bereits allgemein für die Gleichung (4.107) getan.
Dort ist (ẋ = y)
h(x, ẋ) = h(x, y) = −(1 − x2 )y und h(r cos ϕ, r sin ϕ) = −(1 − r2 cos2 ϕ) r sin ϕ.
Für die Frequenz des Grenzzyklus der Van-der-Pol-Gleichung mit h(x, ẋ) := −(1 − x2 )ẋ
und der Amplitude r0 = 2 ergibt sich aus (4.124) der Wert
2π
ε
ω = 1+ (1 − 4 cos2 ϕ)(−2 sin ϕ) cos ϕ dϕ + O(ε2 )
4π 0
= 1 + 0 + O(ε2 ) .
Der Integrand ist eine ungerade Funktion in Bezug auf ϕ = π. Somit ist die Frequenz
gleich 1 und mit einem Fehler von O(ε2 ) behaftet.
198 4 Analytische Bifurkationstheorie
Die hier dargestellte Methode erweist sich als durchaus praktikabel und programmierfä-
hig. Falls gewünscht, ist mit dieser Herangehensweise eine noch bessere Approximation
von Amplitude und Schwingungsdauer möglich. Es sei jedoch noch einmal bei dieser
Methode kritisch angemerkt, dass die Existenz eines Grenzzyklus mit einer anderen Me-
thode (z. B. Ljapunov-Schmidt-Methode oder Poincaré-Methode) gezeigt werden muss.
Erst dann macht es Sinn, Amplitude und Frequenz des Grenzzyklus näherungsweise nach
den vorgestellten Methoden zu berechnen.
Das Lösungsverhalten einer DGL in der Nähe einer periodischen Lösung kann mit der
Poincaré-Abbildung 4 untersucht werden. Sie kann als Nachweis für die Existenz eines
Grenzzyklus herangezogen werden. Hierbei ergibt sich eine schöne Anwendung des Satzes
1.80 über implizite Funktionen.
kennen. Wir setzen voraus, dass f ∈ C 1 (G), G ⊂ Rn , G offen und bezeichnen mit
ϕ(·; ξ) die Lösung des Anfangswertproblems von (4.126), die ϕ(0; ξ) = ξ erfüllt. Wir
interessieren uns für das Verhalten weiterer Lösungen, die zur Zeit t = 0 nahe ϕ0 (0) =
x0 = ϕ0 (T ) starten. Es sei
Σ := {x ∈ Rn | x − x0 , f (x0 )Rn = 0}
und ·, ·Rn bezeichnet das Skalarprodukt im Rn . Um zu zeigen, dass eine Lösung ϕ(·; ξ)
auf einem solchen Intervall [0, t(ξ)] existiert, d. h. Σ ∩ U (U ist eine Umgebung von
x0 ) nach einer positiven Zeit t(ξ) (t(ξ) nahe der Periode T von ϕ0 ) erreicht wird (siehe
Abbildung 4.10), benutzt man den Auflösungssatz. Wir lösen dazu die Gleichung
in der Nähe des Punktes (T, x0 ). Der Punkt (T, x0 ) ist ein Lösungselement von (4.127),
denn es gilt ϕ(T ; x0 ) − x0 , f (x0 ) = ϕ0 (T ) − x0 , f (x0 ) = 0. Weiter folgt für die
Ableitung
Damit sind alle Voraussetzungen des Auflösungssatzes erfüllt und im Ergebnis erhalten
wir eine Funktion ξ → t(ξ), so dass
f (x0 )
Rn
Σ
x0 ϕ0 (·)
ξ
Γ
ϕ(t(ξ); ξ) = P (ξ)
ϕ(·; ξ)
Σ∩U
zu untersuchen.
Beispiel 4.24 (Nachweis eines Grenzzyklus mittels Poincaré-Abbildung)
Am Beispiel der Van-der-Pol-Gleichung soll nun gezeigt werden, wie mittels Poincaré-
Abbildung (siehe Beispiel 4.23) eine periodische Lösung nachgewiesen und deren Stabi-
lität untersucht werden kann. Es sei Γ ein periodischer Orbit des Systems
der durch den Punkt x0 geht und Σ eine Hyperebene, die senkrecht zu Γ im Punkt x0
verläuft. Die Lösung von (4.128) durch den Punkt ξ zum Zeitpunkt t = 0 wird mit
ϕt (ξ) = ϕ(t; ξ) bezeichnet und Fluss der DGL (4.128) genannt. Man startet nun mit
diesem Punkt ξ ∈ Σ, der nahe bei x0 liegt und gelangt nach einer Zeit τ (ξ) wieder
nach Σ zurück. Dieser Punkt wird mit P (ξ) bezeichnet und die Abbildung P : Σ → Σ,
ξ → P (ξ) wird Poincaré-Abbildung genannt (siehe Abbildung 4.10). Eigenschaften der
Poincaré-Abbildung wurden bereits in Beispiel 4.23 untersucht.
Wir betrachten die nichterregte, schwach gedämpfte Van-der-Pol-Gleichung (4.77). Die
ungestörte Gleichung ẍ+x = 0 ist explizit lösbar. Die Lösungen mit dem Anfangszustand
(x0 , ẋ0 ) sind durch
gegeben. Die Situation, die für ε = 0 bzw. ε = 0 eintritt, zeigt Abbildung 4.8. Wir
untersuchen nun, ob die Differenzialgleichung (4.77) eine periodische Lösung besitzt und
was über ihre (orbitale) Stabilität ausgesagt werden kann. Die Gewinnung des DGL-
Systems wird mit der Einführung der neuen Variablen x = x1 , ẋ = −x2 vorgenommen.
Dies sichert einen Durchlaufsinn der Phasenkurven im mathematisch positiven Sinn und
liefert das Van-der-Pol-System (es wird nun wieder x1 = x und x2 = y gesetzt)
Belässt man ε hinreichend klein, dann bleiben die Orbits des Systems (4.129) mit den An-
fangsbedingungen (x(0), y(0)) = (ξ, 0) in der Nähe des Kreises mit Radius ξ mindestens
bis zur Rückkehr zur x-Achse. Präziser gilt: Falls
eine Lösung des Systems (4.129) mit den Anfangsbedingungen x(0; ξ, ε) = ξ und
y(0; ξ, ε) = 0 ist, dann wird diese Lösung zur positiven x-Achse mit dem Schnittpunkt
x(T (ξ, ε); ξ, ε) zurückkehren. Der Nachweis, dass eine solche Rückkehrzeit T (ξ, ε) exis-
tiert, wurde in Beispiel 4.23 erbracht. Die Funktion (ξ, ε) → P (ξ, ε) mit P (ξ, ε) :=
x(T (ξ, ε); ξ, ε) heißt auch parametrisierte Rückkehrabbildung. Die Situation wird durch
die Abbildung 4.11 illustriert.
Jeder Fixpunkt der Poincaré-Abbildung (bei festem ε = 0) liefert eine periodische Lö-
sung des Systems (4.129) mit der Lösung (4.130) und der Periodenzeit T (ξ, ε). Falls
also ξ ein Fixpunkt der Abbildung ξ → P (ξ, ε) bzw. eine Nullstelle der dazugehörigen
Abstandsfunktion
y Poincaré−Schnitt y
Σ Σ P (ξ, ε)
x (ξ, 0) x
ist, dann ist (ξ, 0) der Anfangspunkt für eine periodische Lösung des gestörten Systems
(4.129). Nun ist klar, dass alles auf das Lösen der Gleichung δ(ξ, ε) = 0 hinausläuft
und man Lösungen ξ = ξ ∗ (ε) sucht. Dazu nutzt man Eigenschaften der Funktion δ :
U × V → R, U und V sind offene Teilmengen von R, aus. Wegen δ ∈ C k (U × V ) und
δ(ξ, 0) ≡ 0 ist das implizite Funktionentheorem nicht unmittelbar auf die Gleichung
δ(ξ, ε) = 0 anwendbar, da δξ (ξ, 0) ≡ 0 und das besagte Theorem gerade δξ (ξ, 0) = 0
fordert. Mit einem kleinen Trick wird das implizite Funktionentheorem jedoch wieder
anwendbar. Dazu wird eine Taylor-Reihenentwicklung im Punkt ε = 0 durchgeführt. Sie
liefert
wobei O(ε2 ) das Restglied bezeichnet. Führt man Δ(ξ, ε) := δε (ξ, 0) + O(ε) ein, dann
schreibt sich (4.132) in der Form δ(ξ, ε) = εΔ(ξ, ε). Nun wird versucht, das implizite
Funktionentheorem auf die Gleichung Δ(ξ, ε) = 0 anzuwenden, da jede Lösung ξ ∗ (ε)
mit Δ(ξ ∗ (ε), ε) = 0 auch eine Lösung der Gleichung δ(ξ, ε) = 0 darstellt. Damit ist
klar, welche Bedingungen Δ(ξ, ε) erfüllen muss: Δ(ξ, 0) = 0 und Δξ (ξ, 0) = 0, oder in
Bezug auf δ muss δε (ξ, 0) = 0 und δξε (ξ, 0) = 0 gelten. Man sagt auch, dass unter den
genannten Bedingungen ξ > 0 eine einfache Nullstelle der Funktion ξ → Δ(ξ, 0) ist.
Um das an der Van-der-Pol-Gleichung nachzuweisen, kann man wieder den Übergang zu
Polarkoordinaten durchführen und dann die Phasen-DGL (4.118) diskutieren. Hier wird
ein Weg eingeschlagen, der die so genannte Variationsgleichung benutzt.
Zunächst muss mittels Kettenregel die Ableitung δε (ξ, 0) berechnet werden:
Wegen ẋ(T (ξ, 0); ξ, 0) = −y(0, ξ, 0) = 0 verschwinden alle Ableitungen der Funktion
ξ → ẋ(T (ξ, 0); ξ, 0) (in Bezug auf ξ). Folglich genügt es, die partielle Ableitung von
xε (T (ξ, 0); ξ, 0) zu ermitteln. Dazu wird das System (4.129) in Bezug auf ε (an der
202 4 Analytische Bifurkationstheorie
dar. Bekanntermaßen ergibt sich für (4.134) die Lösungsdarstellung mittels der Formel
der Variation der Konstanten
t
w(t) = Φ(t)w(0) + Φ(t) Φ−1 (s)b(s) ds (4.135)
0
! 2π
sin s [(1 − ξ 2 cos2 s) ξ sin s] ds
= ! 02π .
0
cos s [(1 − ξ 2 cos2 s) ξ sin s] ds
π
δε (ξ, 0) = ξ (4 − ξ 2 ) , ξ>0 (4.136)
4
und folglich ξ = 2 als einfache Nullstelle der Funktion ξ → δε (ξ, 0), da δεξ (2, 0) = −2π =
0 gilt. Folglich bleibt der ungestörte periodische Orbit mit Radius 2 bestehen und da ξ = 2
einzige Nullstelle ist, werden alle anderen periodischen Orbits des ungestörten Systems
4.2 Anwendungsbeispiele 203
durch die ε-Störung „zerstört“. Insbesondere gibt es genau eine Funktion ε → ξ ∗ (ε),
die in einer Umgebung von ε = 0 definiert ist, für die ξ ∗ (0) = 2 gilt und für jedes ε
(ε hinreichend klein) das Van-der-Pol-System (4.129) eine periodische Lösung mit den
Anfangsbedingungen (x(0), y(0)) = (ξ ∗ (ε), 0) besitzt.
Für die Stabilitätsuntersuchung einer (festen) periodischen Lösung Γε , ε = 0 fixiert,
gehen wir wie folgt vor. Wir wissen, dass bei gewähltem Startpunkt (ξ ∗ (ε), 0) ein peri-
odischer Orbit Γε vorliegt. Für diesen ist
δ(ξ ∗ (ε), ε) = P (ξ ∗ (ε), ε) − ξ ∗ (ε) = 0.
Um die Stabilität dieses Grenzzyklus nachzuweisen, starten wir mit einem Anfangspunkt
(ξ, 0), der nahe bei (ξ ∗ (ε), 0) liegt (siehe Abbildung 4.12). Die Stabilität von Γε bestimmt
Σ
P (ξ)
∗ ξ x
ξ
Γε
sich allein aus der Kenntnis von Pξ (ξ ∗ , ε). Dies sieht man so. Unsere Abstandsfunkti-
on δ(ξ, ε) = P (ξ, ε) − ξ hat folgende Eigenschaften: Es ist δ(ξ ∗ , ε) = 0, δ ist nach ξ
differenzierbar und es gilt δξ (ξ ∗ , ε) = Pξ (ξ ∗ , ε) − 1. Nach dem Mittelwertsatz der Diffe-
rentialrechnung gilt für |ξ − ξ ∗ | < r1 , r1 > 0, die Beziehung
Da δξ (ξ, ε) stetig ist, besitzt δξ (ξ, ε) dasselbe Vorzeichen wie δξ (ξ ∗ , ε), sofern δξ (ξ ∗ , ε) =
0 gilt. Beachtet man noch, dass δ(ξ ∗ , ε) = 0 ist, dann kann man folgende Fallunterschei-
dung durchführen: Falls δξ (ξ ∗ , ε) < 0, dann folgt auch δξ (ξ ∗ + ϑ(ξ − ξ ∗ ), ε) < 0 und aus
(4.137) folgt für ξ − ξ ∗ < 0, dass δ(ξ, ε) > 0 ist. D. h., es ist auch P (ξ, ε) − ξ > 0 bzw.
P (ξ, ε) > ξ. Hierbei ist δξ (ξ ∗ , ε) < 0 gleichbedeutend mit Pξ (ξ ∗ , ε) < 1. Für ξ−ξ ∗ > 0 ist
δ(ξ, ε) < 0. Daraus folgt P (ξ, ε) < ξ (siehe Abbildung 4.12). Wertet man dieses Ergebnis
aus, dann nähert man sich nach jedem Umlauf (unabhängig davon ob man links oder
rechts von (ξ ∗ , 0) startet) der periodischen Lösung Γε an. Da sich die Phasenkurven im
Phasenraum nicht schneiden, läuft man auf die periodische Lösung Γε ein. Es ist also Γε
unter der Voraussetzung Pξ (ξ ∗ , ε) < 1 asymptotisch stabil. In analoger Vorgehensweise
ergibt sich für Pξ (ξ ∗ , ε) > 1, dass Γε instabil ist.
204 4 Analytische Bifurkationstheorie
Ob Pξ (ξ ∗ , ε) größer bzw. kleiner als eins ist, kann man auch über die folgende Beziehung
(ohne Heranziehung des Mittelwertsatzes der Differentialrechnung) gewinnen. Man geht
von (4.132) aus, differenziert nach ξ und beachtet, dass δξ (ξ, ε) = Pξ (ξ, ε) − 1 gilt. Es
ergibt sich dann die Beziehung
Für die Van-der-Pol-Gleichung kann man nun leicht mittels (4.138) die Stabilität des
Grenzzyklus entscheiden. Aus (4.136) folgt
womit das Vorzeichen der runden Klammer in (4.138) festliegt. Somit ist für ε < 0 der
Wert Pξ > 1 und für ε > 0 der Wert Pξ < 1, was die Instabilität bzw. die Stabilität des
Grenzzyklus beweist.
Wir bringen im nächsten Beispiel eine Anwendung für den Satz 4.16.
Beispiel 4.25
Gegeben sei eine stetige 2π-periodische Funktion h. Gesucht sind 2π-periodische Lösun-
gen der Gleichung
Der Nachweis erfolgt mit dem Satz 4.16. Dazu setzen wir X := C2π
2
, Y := C2π , wobei C2π
k
(bzw. C2π ) den Raum der 2π-periodischen C -Funktionen (bzw. 2π-periodischen stetigen
0 k
schreiben. Für die Operatoren T, M und B aus Satz 4.16 ergeben sich
T hat die Eigenwerte μ0 = λk = k2 . Der Kern von T wird durch die Eigenfunktionen
{cos(kt), sin(kt)} aufgespannt. Der Wertevorrat R(T ) ist L2 -orthogonal zu ker(T ). Der
Projektor
Q : Y → ker(T ) , Qy(t) := y, cos k(·) cos(kt) + y, sin k(·) sin(kt)
auf. Nun müssen die Bedingungen (a) und (b) aus Satz 4.16 überprüft werden. Mit
z ∗ := A · cos(kt) + B · sin(kt) und
QM z ∗ + 1
2 QB[z ∗ , z ∗ ] = Qz ∗ + 1
2 Q(2hz ∗ z ∗ ) = 0
wobei P, Q homogene Polynome vom Grad zwei sind und deren Koeffizienten von h
abhängen. Vom geometrischen Standpunkt kann man sich die Lösungen als transversa-
len Schnitt zweier Kegelschnitte durch den Ursprung vorstellen. Für ein „generisches“
h besitzt (4.141) eine nichttriviale Lösung (A∗ , B ∗ ) ∈ R2 . Wegen M v = v folgt aus
Bedingung b. (Satz 4.16) zunächst QM (v) = Qv = v, da v ∈ ker(T ). Damit bekommt
S die Gestalt
Sv = v + QB[z ∗ , v] = v + Q(2hz ∗ v)
2 2π
= v(·) + h(τ )[A cos(kτ ) + B sin(kτ )]v(τ ) dτ cos k(·)
π 0
2 2π
+ h(τ )[A cos(kτ ) + B sin(kτ )]v(τ ) dτ sin k(·) . (4.142)
π 0
206 4 Analytische Bifurkationstheorie
Nun muss überprüft werden, unter welchen Bedingungen an A und B die Gleichung
Sv = r genau eine Lösung hat. Die (eindeutige) Lösung v hat notwendigerweise das
Aussehen
wobei die ξ und η für die „runden Klammern“ in (4.142) stehen. Wir können schluss-
folgern, dass für „gewisse“ h ∈ Y , jedes λk = k2 für k = 1, 2 . . . eine Bifurkation für
F = 0 auslöst. Jeder Bifurkationszweig (siehe (4.55)) gibt Anlass zu einer Familie von
2π-periodischen Lösungen der Gleichung (4.139).
d2 ũ
ω2 = f (ũ) . (Sω )
dτ 2
Die Gleichung (Sω ) stellt eine Hilfsgleichung zur Lösung des Problems (S) dar. Falls für
ein ω > 0 die Lösung ũ(τ ) von (Sω ) 2π-periodisch ist, dann ist
τ 2π 2π
ũ(τ ) = ũ(τ + 2π) = u + =u t+ = u(t), ∀t ∈ R (4.143)
ω ω ω
und somit u eine T -periodische Lösung von (S) mit T = 2π/ω.
Das Problem der Existenz von kleinen Schwingungen nahe ũ ≡ 0 kann nun präzisiert
werden. Es sei ω ∗ > 0 ein Wert mit folgenden Eigenschaften:
a. Es gibt eine Folge (ωn ) mit ωn → ω ∗ .
b. Es gibt eine Folge (ũn ) von 2π-periodischen Lösungen von (Sωn ), so dass ũn ∞ ↓ 0.
Nach Definition ist dann un (t) := ũn (ωn t) und (un ) ist eine Folge von (2π/ωn )-
periodischen Lösungen von (S) mit un ∞ ↓ 0.
Falls ω ∗ > 0 die Bedingungen a. und b. erfüllt, dann sprechen wir davon, dass (S) kleine
Oszillationen in Bezug auf ω ∗ besitzt. Damit passt das Problem (Sω ) in den Rahmen der
Bifurkationstheorie, die Frequenz ω spielt die Rolle eines Parameters.
4.2 Anwendungsbeispiele 207
Wir suchen Lösungen (u, ω) (die Tilde über u lassen wir weg!) der Gleichung
d2 u
F (u, ω) := ω 2 − f (u) = 0, f (u)(τ ) := f (u(τ )) . (4.144)
dτ 2
Diese Lösungen korrespondieren mit Lösungen von (Sω ) (u aus einem Raum glatter
2π-periodischer Funktionen). Gemäß Voraussetzung gilt F (0, ω) ≡ 0 und falls ω ∗ > 0
ein Bifurkationspunkt von F = 0 ist, dann existiert eine Folge (un , ωn ) → (0, ω ∗ ), so
dass un = 0 und F (un , ωn ) = 0, für alle n ∈ N gilt. Dies bedeutet gerade, dass (a) und
(b) erfüllt sind. Da die Umkehrung ebenfalls gilt, können wir schließen, dass (S) kleine
Oszillationen in Bezug auf ω ∗ genau dann besitzt, wenn ω ∗ ein Bifurkationspunkt von
(4.144) ist. Wir setzen nun Folgendes voraus:
k
Beweis: Es bezeichne C2π den Raum der 2π-periodischen Funktionen der Klasse
C (R, R ) und F : C2π × R → C2π
k n 2 0
ist definiert durch
d2 u
F (u, ω) := ω 2 − f (u).
dτ 2
Mit Hilfe des Satzes 4.9 wollen wir zeigen, dass μ0 = ωj ein Bifurkationspunkt der
Gleichung F = 0 ist. Zu diesem Zweck haben wir die Ableitung
d2 u
2
L := Fu (0, ωj ) ∈ L(C2π 0
, C2π ), L : u → ωj2 − Au (A := f (0)) (4.145)
dτ 2
zu untersuchen. Es ist leicht zu sehen, dass für n = 1 und A := −ωj2 der Kern von L
durch die Funktionen sin τ und cos τ aufgespannt wird, also zweidimensional ist. Dieser
Fall wird ausführlich in Abschnitt 4.3.2 diskutiert. Für die Anwendung des Satzes 4.9
benötigen wir jedoch einen eindimensionalen Kern. Deshalb schränken wir F auf die
Teilräume
2 0
X := {u ∈ C2π | u(τ ) = u(−τ )}, Y := {v ∈ C2π | v(τ ) = v(−τ )}
208 4 Analytische Bifurkationstheorie
ein. Die Einschränkung F |X wird ebenfalls wieder mit F bezeichnet. Es ist klar, dass
F (·, ω) den Raum X in Y abbildet, da (S) ein autonomes DGL-System ohne die Ableitung
u̇ ist. Die Fourier-Reihenentwicklung von u ∈ X lautet
1 π
u = u0 + u1 cos τ + u2 cos 2τ + . . . = uk cos kτ, uk := u(τ ) cos kτ dτ,
π −π
k≥0
Lemma 4.28
Es gilt
i. ker(L) = span{ξ cos τ },
! 2π
ii. R(L) = {v ∈ Y | Πv1 = 0, v1 = 1
π 0
v(τ ) cos τ dτ } (Π siehe (4.148)).
Für k = 1 ist
und die Lösbarkeitsbedingung für diese Gleichung wird mit Hilfe der adjungierten Glei-
chung
M1T (η ∗ ) = ζ ∗ (4.147)
formuliert. Nach Satz 1.53 ist M1 (u1 ) = v1 lösbar genau dann, wenn η ∗ , v1 = 0 für
alle η ∗ ∈ ker(M1T ). Wegen
η ∗ , v1 = η ∗ , M1 (u1 ) = M1T (η ∗ ), u1 = 0
Π : Rn → Rn , Πx := η ∗ , xξ (4.148)
mit M1 u1 = v1 und
−1
ũ(τ ) := uk cos kτ = Mk vk cos kτ. (4.151)
k≥2 k≥2
Da A beschränkt ist, existiert eine gleichmäßige Schranke für 1/(k 2 ωj2 )A. Es gilt
1 1 −1 1
2 2 A ≤ 1 − δ < 1 und (I − 2 2 A) ≤
k ωj k ωj δ
für ein δ > 0 und für alle k > k0 , wobei k0 hinreichend groß ist. Für k > k0 folgt, das
Mk invertierbar ist und das gilt
−1 1 −1
Mk−1 = (−k 2 ωj2 I − A)−1 = 2 2 I + 2 2 A
k ωj k ωj
−1 ( 1 1 )
= 2 2 I − 2 2 A + 2 2 2 A2 ∓ . . . (Neumannsche Reihe)
k ωj k ωj (k ωj )
−1 1
= 2 2 I + Nk , wobei Nk := O 4 (k → ∞). (4.152)
k ωj k
Wir betrachten von der Funktion ũ den Reihenrest für k > k0 und bezeichnen ihn wieder
mit ũ. Er lässt sich darstellen als
−1
ũ(τ ) = I + Nk vk cos kτ = w(τ ) + z(τ ) mit
k 2 ωj2
k>k0
1
w(τ ) := − 2 2 vk cos kτ und z(τ ) := Nk vk cos kτ. (4.153)
k ωj
k>k0 k>k0
sofort
1
Nk vk = O 4 (k → ∞)
k
folgt. Damit ist auch das durch (4.151) gegebene ũ in C2π 2
gelegen. Da u durch (4.150)
gegeben ist, folgt auch u ∈ C2π und gleichzeitig ist u eine Lösung von Lu = v. Dies zeigt
2
F (u, μ, ω) = 0 (4.154)
herleiten, dass sich dann auf autonome DGL-Systeme der Form (Sμ ) bzw. (Sμ,ω ) anwen-
den lässt. Wir setzen der Einfachheit halber
und präzisieren die Voraussetzungen: Die Abbildung F möge die Bedingungen (4.155)
erfüllen. Weiter fordern wir, dass L die Voraussetzungen (H1) und (H2) erfüllt:
212 4 Analytische Bifurkationstheorie
(H1) dim(ker(L)) = 2,
(H2) codim(R(L)) = 2.
X = V ⊕ W, Y = Z ⊕ R, (4.156)
mit dim(Z) = 2. Wegen der Voraussetzung (H2) kann man auf Z stetig projizieren.
Somit existiert ein linearer stetiger Operator Q : Y → Z mit Q(Y ) = Z und es gilt
Y = Q(Y ) ⊕ (I − Q)(Y ) = R(Q) ⊕ ker(Q). Wir setzen noch
Bei Abbildungen der Form F : X × R → Y , die von einem reellen Parameter abhängen,
ist die gemischte Ableitung Fu,μ (u0 , μ0 ) eine lineare Abbildung von R auf L(X, Y ):
Fu,μ (u0 , μ0 ) ∈ L(R, L(X, Y )). Wir können (und werden) Fu,μ (u0 , μ0 ) mit der linearen
Abbildung h → Fu,μ (u0 , μ0 )[h, 1] identifizieren. Diese Identifikation ist gerechtfertigt,
wenn man den kanonischen Isomorphismus i : L(R, Y ) → Y , i(A) = A(1) einführt.
Das bedeutet, dass wir statt Fu,μ (u0 , μ0 )[h, 1] den Ausdruck Fu,μ (u0 , μ0 )[h] betrachten
können.
sind. Dann ist (μ0 , ω0 ) ein Bifurkationspunkt für die Gleichung F (u, μ, ω) = 0.
Die Voraussetzung (4.157) hängt nicht von der Wahl des Projektors Q bzw. von der
Wahl des komplementären Teilraumes Z ab.
auf. Wie bereits mehrfach in Abschnitt 4.1 dargelegt, kann die erste Gleichung von (4.158)
mit dem impliziten Funktionentheorem gelöst werden. (Es sei daran erinnert, das L :
W → R stetig invertierbar ist und (I − Q)L = L gilt.) Dies liefert die Funktion
w = ψ(v, μ, ω),
4.3 Die Hopf-Bifurkation 213
ψ(0, μ, ω) ≡ 0, ψv (0, μ0 , ω0 ) = 0.
Der Wert der Ableitung ψv (0, μ0 , ω0 ) = 0 berechnet sich aus der ersten Gleichung in
(4.158), indem man w = ψ(v, μ, ω) einsetzt und dann die Identität nach v ableitet. Die
Ableitung an der Stelle (0, μ0 , ω0 ) lautet
Daraus folgt zunächst L ◦ [ψv (0, μ0 , ω0 )v] = 0. Wegen ψv (0, μ0 , ω0 )v ∈ W und der
Invertierbarkeit von L auf W folgt auch ψv (0, μ0 , ω0 )v = 0 für alle v, was sofort
ψv (0, μ0 , ω0 ) = 0 nach sich zieht. Substitution der Lösung ψ(v, μ, ω) in die zweite Glei-
chung von (4.158) führt uns zu der Gleichung
Unter Berücksichtigung der Voraussetzung (4.157) suchen wir Lösungen von (4.159) in
der Form v = sṽ mit s ∈ R. Damit ergibt sich die zu lösende Gleichung
Für h ∈ C 2 gilt:
Wir setzen
h(s, μ, ω) = χ(s, μ, ω) · s
und bemerken, dass χ eine Funktion mit Werten in Z und von der Klasse C 1 ist. Dies
folgt aus der Beziehung
h(s, μ, ω) − h(0, μ, ω)
= χ(s, μ, ω), s = 0.
s
Nach dem Grenzübergang (s → 0) folgt wegen der Differenzierbarkeit von h:
∂h(0, μ, ω)
= χ(0, μ, ω).
∂s
Damit ergibt sich für χ:
∂h(0, μ, ω) (4.160)
χ(0, μ, ω) = = QFu (0, μ, ω)[ṽ + ψv (0, μ, ω)ṽ] .
∂s
Da ψv (0, μ0 , ω0 ) = 0 folgt, dass
Unter Benutzung der Tatsache, dass ψ(0, μ0 , ω0 ) = 0 und QFu (0, μ0 , ω0 )u = QLu = 0
für alle u ist, finden wir
∂χ
(0, μ0 , ω0 ) = QFu,μ (0, μ0 , ω0 )[ṽ] = M ṽ.
∂μ
Entsprechend ergibt sich
∂χ
(0, μ0 , ω0 ) = QFu,ω (0, μ0 , ω0 )[ṽ] = N ṽ .
∂ω
Aus Voraussetzung (4.157) schließen wir, dass die Determinante der Jacobi-Matrix
det(∂χ/∂(μ, ω)), betrachtet an der Stelle (0, μ0 , ω0 ), verschieden von Null ist. Folglich
kann man wieder das implizite Funktionentheorem auf die Gleichung χ = 0 anwenden
und man erhält (lokal) Funktionen μ und ω, die von s abhängen. Genauer: Es existie-
ren C 1 -Funktionen μ(s) und ω(s) (definiert auf einer Umgebung um s = 0), so dass
μ(0) = μ0 , ω(0) = ω0 und χ(s, μ(s), ω(s)) = 0 gelten. Es folgt, dass
QF (sṽ + ψ(sṽ, μ(s), ω(s)), μ(s), ω(s)) = 0
und hier der Zweig u = us = sṽ + ψ(sṽ, μ(s), ω(s)) zu einer Familie von nichttrivialen
Lösungen von F = 0 Anlass gibt. Da us = 0 für s = 0 und us → ψ(0, μ0 , ω0 ) = 0 für
s → 0 ist (μ0 , ω0 ) ein Bifurkationspunkt für F = 0.
dṽ
F : X × R2 → Y, F (ṽ, μ, ω) := ω − f (ṽ, μ) = 0. (4.162)
dτ
zu betrachten. Wir setzten voraus, dass ein μ0 existiert, so dass für A0 := Aμ0 Folgendes
gilt:
(A0 -1) A0 ist nicht-singulär (d. h. λ = 0 ist kein Eigenwert) und hat ein Paar von
einfachen, rein imaginären Eigenwerten ±iω0 , ω0 > 0;
(A0 -2) A0 hat keine weiteren Eigenwerte der Form ±ikω0 , k ∈ N, k = 1.
Die Forderung (A0 -1) bedeutet für den Eigenwert iω0 : dim ker(−iω0 I + A0 ) = 1 und
falls c ∈ Cn (c = 0) ein zugehöriger Eigenvektor ist, dann ist c ∈ R(−iω0 I + A0 ).
Wir verwenden wieder die Notationen aus Abschnitt 4.3.1:
Lu = y, u ∈ X, y∈Y (4.163)
216 4 Analytische Bifurkationstheorie
ω0 u − A0 u = y . (4.164)
Zum Auffinden periodischer Lösungen von (4.164) benutzen wir die Fouriersche Methode
und setzen
u= ck [u] · eikτ , y= ck [y] · eikτ ,
k∈Z k∈Z
bezeichnen (mit z bezeichnen wir wie gewohnt die komplex konjugierte Zahl von z).
Wir benötigen einige Resultate aus der Theorie der Fourier-Reihen, die wir kurz zusam-
menstellen. Für die Fourier-Koeffizienten ck [y] (respektive ck [u]) gilt
2π
1
ck [y] := y(τ )e−ikτ dτ.
2π 0
Da y eine reellwertige Funktion ist, gilt c−k [y] = ck [y]. Für jedes N ∈ N ist PN (y) die
endliche Fourier-Reihe von y:
(PN (y))(τ ) := ck [y] · eikτ .
|k|≤N
n
(a, b)Cn := a i bi für alle a, b ∈ Cn .
i=1
Der Raum YC besteht aus allen (formalen) Ausdrücken x + iy mit x, y ∈ Y und den
bekannten Rechenoperation für komplexe Zahlen, z. B.
Die endliche Reihe PN (y) konvergiert für N → ∞ im L2 ((0, 2π), Rn ) gegen y ∈ Y genau
dann, wenn k∈Z ck [y]2 < ∞ (Satz 1.18). Konvergenz im L2 ((0, 2π), Rn ) bedeutet:
Diese Abschätzung folgt aus der Tatsache, dass u̇ ∈ Y ⊂ L2 ((0, 2π), Rn ) und somit
2
ck [u̇]2 = k ck [u]2 < ∞.
k∈Z k∈Z
Da auch k∈Z ck [u]2 < ∞, folgt die Konvergenz der Reihe (4.165). Mit der Cauchy-
Schwarzschen-Ungleichung ergibt sich daraus
2 2
1
ck [u] = √ 1 + k2 ck [u]
k∈Z k∈Z
1 + k2
1
≤ (1 + k2 )ck [u]2 < ∞.
1 + k2
k∈Z k∈Z
Dies impliziert, dass u(τ ) = limN →∞ (PN (u))(τ ) gleichmäßig für alle t ∈ R konvergiert.
Dies gilt für jedes u ∈ X.
Wir nehmen nun an, dass u ∈ X und y ∈ Y die Gleichung Lu = y erfüllen. Da A0 ein
linearer stetiger Operator ist und die Fourier-Reihe von u gleichmäßig konvergiert, liefert
der Koeffizientenvergleich das unendliche Gleichungssystem
gilt. Mit Δ∗k wird die Adjungierte von Δk bezeichnet und es gilt
Lemma 4.30
Es gelten (A0 -1)-(A0 -2). Dann erfüllt L die Voraussetzungen (H1)-(H2) aus Abschnitt
4.3.1, d. h. L ist ein Fredholm-Operator mit dim ker(L) = codim(R(L)) = 2.
Aus den Voraussetzungen (A0 -1)-(A0 -2) folgt, dass die Matrix (ikω0 I − A0 ) für k = ±1
invertierbar ist. Somit folgt ck [u] = 0 für k = ±1. Für k = ±1 gilt die Eigenwertgleichung
Nach Voraussetzung sind ±iω0 einfache Eigenwerte von A0 . Falls ξ ∈ Cn ein Eigenvektor
ist, der ker(iω0 I − A0 ) aufspannt, dann wird ker(−iω0 I − A0 ) durch den konjugiert
komplexen Eigenvektor ξ aufgespannt. Damit folgt, dass die Funktionen ξeiτ und ξe−iτ
eine Basis für ker(L) bilden. Um eine reellwertige Funktion zu erhalten setzen wir
Folglich ist
2. Als Nächstes untersuchen wir den Wertevorrat von L. Dazu betrachten wir die Glei-
chung (4.164) in Verbindung mit Gleichung (4.166). Wie zuvor sichern die Vorausset-
zungen (A0 -1)-(A0 -2), dass (4.166) für k = ±1 eindeutig lösbar ist. Dies führt formal zu
einer Fourier-Reihe
ck [u] · eikt , ck [u] := Δ−1
k ck [y], (4.171)
k=±1
von der wir nun zeigen, dass sie zu X gehört. Δk wird umgeformt:
1
Δk := ikω0 I − A0 = ikω0 I − A0 .
ikω0
Da A0 beschränkt ist, existiert eine gleichmäßige Schranke für 1/(ikω0 )A0 . Es gilt
−1
1 1 1
A0 ≤ 1 − δ < 1 und I − A0 ≤
ikω0 ikω0 δ
für ein δ > 0 und für alle |k| > k0 , wobei k0 hinreichend groß ist. Für |k| > k0 folgt, das
Δk invertierbar ist und
1 1
Δ−1
k ≤ C1 =C
kω0 k
für ein C > 0 gilt. Sei ck , k ∈ Z, irgend eine Lösung von (4.166) mit c−k = ck . Wir
zeigen, dass die dazugehörige Fourier-Reihe gegen ein x ∈ X konvergiert und dass damit
Lx = y gilt. Für |k| > k0 folgt ck = Δ−1
k ck [y] und
1
ck ≤ C ck [y]. (4.172)
k
Daraus folgt
1
2 2
1
ck ≤ C2 ck [y] ≤ C2 ck [y]2 < ∞ .
k k2
|k|>k0 |k|>k0 |k|>k0 |k|>k0
4.3 Die Hopf-Bifurkation 219
ikτ
Damit ist die Reihe k∈Z ck e gleichmäßig konvergent gegen eine stetige, 2π-perio-
dische Funktion x ∈ X. Wir behaupten
Da dim ker(Δ∗k ) = dim ker(Δk ) und R(L) abgeschlossen (sofern man (4.173) bewiesen
hat), folgt aus dem Closed-Range-Theorem (Satz 1.42): R(L)⊥ = ker(L∗ ). Damit hat
man sofort dim R(L)⊥ = codim(R(L)) = dim ker(L∗ ) = dim ker(L), d. h. L ist ein
Fredholm-Operator mit ind(L) = 0. Es genügt also, die Behauptung (4.173) zu beweisen.
i.: Es sei y ∈ R(L). Dann sind
dx
ω0 (τ ) − A0 x(τ ) = y(τ ), ∀τ ∈ R und
dτ
Δk · ck [x] = ck [y], ∀k ∈ Z, (4.174)
(Lösbarkeitsbedingung für (4.174)). Nun ist ker(Δ∗k ) = {0} für k = ±1 und da c∗k ∈
ker(Δ∗k ) genau dann gilt, wenn c∗k ∈ ker(Δ∗−k ), folgt, dass y zu der Menge auf der
rechten Seite von (4.173) gehört.
ii.: Umgekehrt, falls y ein Element der rechten Seite von (4.173) ist, dann ist y ∈ Y und
(4.175) ist erfüllt. Dies impliziert, dass die Gleichung
Δk · ck = ck [y] (4.176)
mindestens eine Lösung ck ∈ Cn für jedes k ∈ Z besitzt. Falls ck eine Lösung von (4.176),
dann ist ck eine Lösung von Δ−k · c−k = c−k [y].
Nun sei {ck | k ∈ Z} irgendeine Lösung von (4.176) mit c−k = ck . Wir betrachten
die Fourier-Reihe k∈Z ck e
ikτ
und werden zeigen, dass diese Reihe gegen ein x ∈ X
konvergiert und Lx = y gilt. Damit ist y ∈ R(L) und (4.173) bewiesen. Mit Hilfe
ikτ
der Beziehung (4.172) wurde bereits gezeigt, dass die Reihe k∈Z ck e gleichmäßig
konvergiert und damit die Grenzfunktion eine stetige, reellwertige und 2π-periodische
Funktion x(τ ) ist. Wir definieren eine Funktion z : R → Rn durch
τ
1
z(τ ) := x(0) + (A0 x(s) + y(s)) ds . (4.177)
ω0 0
Der Integrand in (4.177) ist stetig und 2π-periodisch. Folglich ist z ∈ X und es gilt
z(0) = x(0). Falls wir zeigen können, dass z(τ ) = x(τ ), ∀τ ∈ R, dann ist x ∈ X und es
d
gilt Lx = y, gemäß (4.177). Aus (4.176) und (4.177) folgt, dass PN ż = dτ PN x ist. Es
sei nun g : R → R eine C -Funktion. Dann gilt
n 1
τ =2π
ġ, x = lim ġ, PN x = lim (g(τ ), (PN x)(τ ))τ =0 − lim g, dτ d
PN x
N →∞ n→∞ N →∞
τ =2π τ =2π
= (g(τ ), x(τ ))τ =0 − lim g, PN ż = (g(τ ), z(τ ))τ =0 − g, ż = ġ, z.
N →∞
220 4 Analytische Bifurkationstheorie
Somit hat man ġ, x − z = 0 für alle ġ ∈ C 0 . Nun gibt es eine Folge von trigonome-
trischen Polynomen, die gleichmäßig auf R gegen eine stetige und periodische Funktion
konvergiert (vgl. Heuser (1980), Teil 2, Abschnitt 116). Daraus folgt x = z.
Damit ist das Lemma bewiesen.
gelten. Man kann die b1 und b∗1 so wählen, dass sie der Normalisierungsbedingung
Weiter sei u1 (τ ) := Re ζ(τ ) und u2 (τ ) = Im ζ(τ ). Dann folgt aus (4.169) und (4.173),
dass
ker(L) = span{u1 , u2 } = {Re(aζ) | a ∈ C} und
∗
(4.181)
R(L) = {z ∈ Y | ζ , z = 0}.
1 1
P (z) = Re(ζ ∗ , A0 zζ) = Re(AT ∗
0 ζ , zζ)
ω0 ω0
1 1
= Re(−iω0 ζ ∗ , zζ) = Re(iω0 ζ ∗ , zζ)
ω0 ω0
= Re(iζ ∗ , z ζ) = Q(z) für alle z ∈ Y. (4.182)
Setzt man ζ = u1 + iu2 und ζ ∗ = −u2∗ + iu∗1 , dann erhält (4.182) die Form
u∗i , uj = δij , i, j = 1, 2.
Man rechnet auch nach, dass P 2 = P gilt. Mit diesem Projektor folgt
Analog gilt
dṽ
Fu (0, μ, ω)ṽ = ω − Aμ ṽ = iωb1 eiτ − Aμ (b1 eiτ ) . (4.186)
dτ
Für die Ableitung in Bezug auf ω ergibt sich zunächst
d
Fu,ω (0, μ0 , ω0 )ṽ = ib1 eiτ = ṽ = ṽ˙ .
dτ
Mit (4.182) folgt
Um Fu,μ (0, μ0 , ω0 )ṽ zu berechnen, sind einige Vorüberlegungen erforderlich. Wir be-
zeichnen mit λ(μ) = α(μ) + iβ(μ) den Teil von Eigenwerten von Aμ , für die λ(μ0 ) = iω0
(nämlich α(μ0 ) = 0, β(μ0 ) = ω0 ) gilt. Da f ∈ C 2 , folgt für die Eigenwerte λ ∈ C 1 bzw.
α, β ∈ C 1 . Da darüber hinaus iω0 einfacher Eigenwert ist, kann man schlussfolgern, dass
Aμ eine Familie vμ von Eigenvektoren mit folgenden Eigenschaften hat:
Aμ v = Aμ (v − vμ ) + Aμ vμ = Aμ (v − vμ ) + λ(μ)vμ .
Die Differentiation nach μ (an der Stelle μ = μ0 ) unter Verwendung der Abkürzungen
Aμ0 := dAμ /dμ|μ=μ0 , v := dvμ /dμ|μ=μ0 ergibt:
Wir differenzieren jetzt (4.186) nach μ an der Stelle (0, μ0 , ω0 ) und erhalten mit (4.188):
QFu,μ (0, μ0 , ω0 )ṽ = Re(iζ ∗ , −λ (μ0 )ṽζ) = Re(i(b∗1 , −λ (μ0 )b1 )ζ)
= Re(i(2i · λ (μ0 ))ζ) = −2 Re(λ (μ0 )ζ). (4.189)
Um Satz 4.29 anwenden zu können, müssen die Ausdrücke (4.187) und (4.189) linear
unabhängig sein, d. h. aus
Mit ζ = u1 + iu2 folgt Re(iζ) = −u2 und Re(λ (μ0 )ζ) = α (μ0 )u1 − β (μ0 )u2 . Wegen
der linearen Unabhängigkeit der Funktionen u1 und u2 folgt aus
zunächst
Die lineare Unabhängigkeit der Vektoren (4.187) und (4.163) tritt also genau für
Lemma 4.31
Angenommen die Bedingungen (A0 -1)-(A0 -3) gelten. Dann erfüllt F die Voraussetzung
(4.157) aus Satz 4.29.
iβ
iω0
−iω0
Man überlegt sich, dass das gleiche Ergebnis gilt, wenn man für ṽ die Darstellung
ṽ = ξei(τ +α) + ξe−i(τ +α) für beliebiges α verwendet. Dies liegt daran, dass (Sμ ) eine
autonome Differenzialgleichung ist und die Lösungen unter der Translation θ → (· + θ)
invariant bleiben. Dies gilt auch für die Bifurkationslösungen.
wobei μ ein reeller Parameter ist. Gleichung (4.190) ist äquivalent zu dem System
ẋ = y + μx − x3 , ẏ = −x. (4.191)
y y
y = x3 − μx (μ > 0)
x x
a) b)
Abb. 4.14 a) Phasenportrait von (4.191), b) Grenzzyklus von (4.191)
In diesem speziellen Fall eines Systems im R2 ist es möglich, eine direkte Analyse in der
(x, y)-Phasenebene zu machen. Man findet leicht, dass für μ ≤ 0 das System (4.191)
keine periodischen Orbits hat, aber sehr wohl die triviale Lösung x = y = 0 vorhanden
ist. Außerdem ist die triviale Lösung x = y = 0 stabil für alle μ < 0 und instabil für
μ > 0. Für μ > 0 hat (4.191) genau eine periodische Lösung, die asymptotisch stabil ist
(siehe Abbildung 4.14 b)).
4.4 Aufgaben
Aufgabe 4.1
Gegeben sei der lineare Operator T : X → Y , X, Y lineare Räume über K. Es sei L ein
festes algebraisches Komplement zum Nullraum ker(T ), d. h. L ist linearer Teilraum von
X, so dass X = ker(T ) ⊕ L gilt. Beweisen Sie die folgenden Behauptungen:
a) Die Einschränkung
ist linear und bijektiv. Folglich gilt codim ker(T ) = dim R(T ).
b) Es seien zusätzlich X und Y Banach-Räume, L und R(T ) abgeschlossen und der
Operator T : X → Y stetig. Dann ist der Operator aus (4.193) ein linearer Homöo-
morphismus.
Aufgabe 4.2
Es seien dim X < ∞, dim Y < ∞ und S : L → R(T ) bezeichnet die Einschränkung des
Operators T : X → R(T ) ⊂ Y auf einem linearen Teilraum L von X. L bezeichnet ein
festes algebraisches Komplement zum Nullraum ker(T ). Zeigen Sie, dass die Originalglei-
chung T x = b für jedes gegebene b ∈ R(T ) die Lösungsmenge
S −1 b + ker(T )
4.4 Aufgaben 225
Aufgabe 4.3
Es seien X := C 1 [a, b], Y := C 0 [a, b] und
Aufgabe 4.4
Es sei T : X → Y ein linearer Fredholm-Operator, X und Y normierte Räume über K.
Dann gilt:
a) T surjektiv ⇔ ind (T ) = dim ker(T ).
b) T injektiv ⇔ ind (T ) = codim R(T ).
c) T bijektiv ⇔ ind (T ) = dim ker(T ) = 0.
d) Falls X und Y Banach-Räume sind, dann hat die Gleichung
T x = b, x∈X
für jedes b genau eine Lösung genau dann, wenn ind (T ) = dim ker(T ) = 0 gilt.
Aufgabe 4.5
Es sei X ein Banach-Raum und T : X → X ein linearer kompakter Operator. Man
beweise: Ist R(T ) abgeschlossen, dann ist dim R(T ) < ∞.
Aufgabe 4.6
Geben Sie einen Beweis des Korollars 4.4.
Hinweis: Führen Sie den Beweis indirekt (μ0 ist also keine charakteristische Zahl von
A) und benutzen Sie an Stelle der Gleichung (4.5) den äquivalenten Term
Aufgabe 4.7
Bestimmen Sie für das Randwertproblem
8
ü + λ(u − u3 ) = 0 , t ∈ (0, π) ,
(4.194)
u(0) = u(π) = 0 .
Aufgabe 4.8
Beweisen Sie den Satz 4.12.
Aufgabe 4.9
Wenden Sie den Satz 4.9 auf das RWP (mit den Dirichlet-Bedingungen)
ẍ(t) + μx(t) + g(t, x(t), ẋ(t), μ) = 0, t ∈ (0, π),
x(0) = x(2π) = 0,
an und zeigen Sie, dass jeder Punkt (0, μ) = (0, k 2 ), k ∈ N, ein Bifurkationspunkt ist.
Aufgabe 4.10
Ersetzen Sie die Dirichletschen-Randbedingungen aus Aufgabe 4.9 durch die Neumannschen-
Randbedingungen
ẋ(0) = ẋ(π) = 0
und beweisen Sie, dass jeder Punkt (0, μ) = (0, k2 ), k ∈ N ∪ {0}, ein Bifurkationspunkt
ist.
Aufgabe 4.11
Wenden Sie den Satz 4.9 auf das RWP
⎧ 4
⎨ d x (t) − μx(t) + g(t, x(t), ẋ(t), ẍ(t), ...
x (t), μ) = 0, t ∈ (0, π),
dt4
⎩ x(0) = ẍ(0) = x(π) = ẍ(π),
an und zeigen Sie unter passenden Voraussetzungen an g, dass jeder Punkt (0, μ) =
(0, k 2 ), k ∈ N, ein Bifurkationspunkt ist.
Aufgabe 4.12
Berechnen Sie alle Bifurkationslösungen der folgenden Integralgleichung:
π
2
λx(s) = [ a sin s sin t+b sin(2s) sin(2t)] [x(t)+x3 (t)] dt, x ∈ C 0 [0, π], 0 < b < a.
π 0
5 Numerik der
Gleichgewichtslösungen
Übersicht
5.1 Berechnung von Gleichgewichtslösungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228
5.2 Parametrisierung von Lösungskurven und Fortsetzungsmethoden . . . . . . . . . . 243
5.3 Stabilitäts- und Bifurkationsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273
5.4 Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
dx
ẋ = f (x, λ), f : D × R → Rn , D ⊂ Rn , offen, ẋ ≡ (5.1)
dt
definiert wird. Dabei ist λ ∈ Λ ein reeller Parameter aus einem vorgegebenen endlichen
Intervall Λ = [a, b]. Reale dynamische Systeme besitzen meist eine Vielzahl von Parame-
tern, die wir der Einfachheit wegen bis auf einen einzigen Parameter λ, den sogenannten
Systemparameter (auch Kontrollparameter genannt), konstant halten wollen.
Beispiel 5.1
1. W. F. Langford (1984) betrachtet ein dynamisches System der Fluiddynamik, das
nach mehreren Problemtransformationen auf das DGL-System
ẋ1 = (x3 − 0.7) · x1 − ω · x2
ẋ2 = ωx1 + (x3 − 0.7) · x2 (5.2)
ẋ3 = 0.6 + x3 − x33 /3 − (x21 + x22 )(1 + ρ · x3 ) + ε · x3 · x31
B. Marx, W. Vogt, Dynamische Systeme,
DOI 10.1007/978-3-8274-2448-8_5, © Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg 2011
228 5 Numerik der Gleichgewichtslösungen
mit den positiven reellen Parametern ω, ρ und ε führt. Mit festen Werten ω = 3.5,
ε = 0.03 und dem Systemparameter λ = ρ ergibt sich die Darstellung (5.1).
2. Der Meteorologe E. N. Lorenz untersuchte bereits in den 1960er Jahren ein verein-
fachtes Modell von Grundgleichungen (vgl. Argyris et al. (1995))
ẋ1 = x2 − x1
ẋ2 = λx1 − x2 − x1 x3 (5.3)
ẋ3 = x1 x2 − x3
mit dem positiven Kontrollparameter λ. Wie (5.2) zeigt auch dieses System trotz
scheinbar einfacher Struktur ein erstaunlich reichhaltiges Lösungsverhalten.
In diesem Kapitel wollen wir Gleichgewichtslösungen parameterabhängiger Systeme (5.1)
berechnen, die zugleich Fixpunkte des Flusses darstellen. Die dabei gewonnenen numeri-
schen Techniken werden sich auch für weitere Lösungstypen, wie periodische und quasi-
periodische Lösungen, als grundlegend erweisen.
Definition 5.2 aus und halten vorerst den Kontrollparameter λ∗ ∈ Λ = [a, b] fest. Damit
sind Gleichgewichtspunkte nun als Lösungen eines parameterlosen Gleichungssystems
f (x) = 0, f : D ⊂ Rn → Rn (5.4)
gesucht. Der Einfachheit halber werde vorausgesetzt, dass f auf D mindestens zweimal
stetig differenzierbar ist.
5.1.1 Newton-Verfahren
Der bekannteste Lösungsansatz besteht darin, die Funktion f an einer zuvor ermittelten
Näherungslösung xk zu linearisieren. Entwickeln wir dazu f (x) an der Stelle xk in die
Taylor-Reihe
so liefert die rechte Seite bei Vernachlässigung des Restgliedes R(x, xk ) die Linearisie-
rung der Funktion f am Näherungspunkt xk . Anstelle der Gleichung f (x) = 0 lösen wir
nun die linearisierte Gleichung mit der Lösung x = xk+1
Das Verfahren nimmt eine iterative Linearisierung der gegebenen Funktion an den be-
rechneten Näherungswerten xk vor. Dieser einfache Zugang, im eindimensionalen Falle
auch als Tangenten-Näherungsverfahren bekannt, bildet zugleich eines der grundlegends-
ten und leistungsfähigsten Näherungsverfahren für differenzierbare Abbildungen.
Bevor wir seine Konverenzeigenschaften näher betrachten, wollen wir eine effiziente al-
gorithmische Darstellung angeben. Die Implementation des Newton-Verfahrens erfordert
die Berechnung von f (xk ) und der Jacobi-Matrix F (xk ) sowie die Bestimmung der
Näherung xk+1 . Nehmen wir an, die Jacobi-Matrix sei voll besetzt, und direkte Ver-
fahren werden zur Lösung der linearen Gleichungssysteme eingesetzt. In jedem Schritt
des Newton-Verfahrens ist dann die Invertierung der Jacobi-Matrix F (xk ) erforderlich.
1
Sir Isaac Newton (1643–1727), engl. Physiker, Mathematiker und Astronom; Entdeckung der
Gravitation; Newtonsche Axiome; Grundlagen der Differenzial- und Integralrechnung.
230 5 Numerik der Gleichgewichtslösungen
Der beträchtliche arithmetische Aufwand lässt sich jedoch auf 13 reduzieren, wenn man
stattdessen in jedem Schritt ein lineares Gleichungssystem löst. Das erreichen wir, wenn
wir die Verfahrensgleichung (5.5) nach der Newton-Korrektur dk = xk+1 − xk umstellen
und mit der Jacobi-Matrix F (xk ) multiplizieren. So entsteht eine praktikablere Form des
Newton-Verfahrens:
Der arithmetische Aufwand pro Newton-Schritt besteht nun in der Lösung eines linea-
ren Gleichungssystems mit n Unbekannten, wofür die LU-Zerlegung oder QR-Zerlegung
eingesetzt werden kann (vgl. Hoffmann et al. (2005)). Dafür sind O(n3 ) Gleitpunktopera-
tionen (floating point operations, flops) erforderlich. Allerdings sind die n Funktionswerte
von f (xk ) und die n2 partiellen Ableitungen von F (xk ) ebenfalls zu berechnen, was zu
einem beträchtlichen Funktionsaufwand des Newton-Verfahrens führen kann. Der zuge-
hörige Algorithmus 5.3 erfordert als Input die Funktionen f und F , einen Startwert x0
und die (absolute und relative) Toleranz tolabs, tolrel.
Wir wollen nun die Frage behandeln, unter welchen Bedingungen das Newton-Verfahren
gegen eine Nullstelle x∗ von f konvergiert. Entsprechend den angenommenen Voraus-
setzungen unterscheidet man drei Formen, die lokale, semilokale und globale Konvergenz:
Wenn vorausgesetzt wird, dass eine Lösung x∗ existiert und der Konvergenzsatz dann
garantiert, dass eine (Kugel-)Umgebung K = K[x∗ ; δ] dieses Punktes existiert, so
dass das Iterationsverfahren für alle x0 ∈ K gegen x∗ konvergiert, so heißt dieses
Verfahren lokal konvergent. Über die Lage und Größe der Umgebung K ist in praxi
5.1 Berechnung von Gleichgewichtslösungen 231
meist nichts bekannt; man weiß nur, dass für hinreichend nahe der Lösung liegende
Startpunkte das Verfahren konvergieren wird.
Muss die Existenz von x∗ nicht vorausgesetzt werden und können die Voraussetzun-
gen eines Konvergenzsatzes bereits am Startpunkt x0 verifiziert werden, so heißt das
betreffende Verfahren semilokal konvergent. Dazu ist häufig eine Menge D zu be-
schreiben, so dass für Startpunkte x0 ∈ D die Iteration konvergiert. Satz 5.9 liefert
ein Beispiel für eine semilokale Konvergenzaussage.
Ist D ⊂ Rn ein im Allgemeinen großer vorgegebener Bereich (z. B. eine Kugelumge-
bung von 0, ein n-dimensionales endliches oder unendliches Intervall), so heißt ein
Iterationsverfahren global konvergent auf D, falls es für jeden Startpunkt x0 ∈ D
gegen eine Lösung x∗ in D konvergiert. Verfahren dieser Art werden in Abschnitt
5.1.4 behandelt.
Wir wollen zuerst einen lokalen Konvergenzsatz für das Newton-Verfahren formulieren.
Dazu betrachten wir Gleichung (5.21) und setzen die Existenz einer regulären Lösung
x∗ ∈ D voraus.
Die Regularität der Nullstelle stellt in der Tat eine Standardvoraussetzung an das zu
lösende Problem dar. Bei singulärer Jacobi-Matrix F (x∗ ) ist das Verhalten des Newton-
Verfahrens überaus kompliziert: Während in einigen Fällen eine lineare Konvergenz ein-
tritt (z. B. bei skalaren Nullstellenproblemen), versagt das Verfahren in höherdimensio-
nalen Systemen häufig.
Bemerkung 5.5
1. Eine Lösung x∗ ist geometrisch isoliert, falls eine Umgebung K existiert, in der keine
weitere Lösung x∗∗ = x∗ liegt. Die Regularität einer Nullstelle darf deshalb nicht mit
deren geometrischer Isoliertheit verwechselt werden. Aus der Regularität folgt im übrigen
stets die geometrische Isoliertheit einer Lösung.
2. Falls f ∈ C 2 (D) auf der gesamten Menge D ist, so lässt sich leicht zeigen, dass die
Bedingung rang F (x∗ ) = n bzw. det(F (x∗ )) = 0 hinreichend für die Regularität einer
Lösung x∗ ∈ int(D) .
Beispiel 5.6
Für das System mit zweimal stetig differenzierbarem f ∈ R2
f1 (x1 , x2 ) = (x1 − x2 )2 = 0
f2 (x1 , x2 ) = x1 + x2 − 2 = 0
232 5 Numerik der Gleichgewichtslösungen
xk+1 − x∗ ≤ Q+ xk − x∗ p
xk+1 − x∗ ≥ Q− xk − x∗ p .
iii. Die Folge (xk ) konvergiert genau mit der Q-Ordnung p ≥ 1, falls sie mindestens und
höchstens mit Q-Ordnung p konvergiert.
iv. Das Iterationsverfahren xk+1 = g(xk ) konvergiert bezüglich x∗ mindestens mit der
Q-Ordnung p , wenn jede damit erzeugte Folge (xk ) mindestens mit Q-Ordnung p
konvergiert.
v. Existiert eine Folge (xk ) genau mit Q-Ordnung p, so konvergiert auch das
Iterationsverfahren xk+1 = g(xk ) bezüglich x∗ genau mit Q-Ordnung p .
5.1 Berechnung von Gleichgewichtslösungen 233
Verfahren der Q-Ordnungen 1, 2 bzw. 3 werden als linear, quadratisch bzw. kubisch kon-
vergent bezeichnet. Definition 5.7 setzt allerdings nicht voraus, dass die Fehler xk − x∗
verschieden von Null sind. Tritt dieser Fall für ein k = k1 > k0 bei einem Verfahren ein,
das mit genau der Q-Ordnung p konvergiert, so verschwinden alle Fehler der Iterationen
für k ≥ k1 . Andererseits bedeutet xk − x∗ > 0 für ein k ≥ k0 , dass alle weite-
ren Fehler ungleich Null sind . Wir setzen desweiteren diesen nichttrivialen Fall und ein
Verfahren der genauen Q-Ordnung p voraus. Existiert der Grenzwert
||xk+1 − x∗ ||
q := lim ,
k→∞ ||xk − x∗ ||p
überlinear konvergent.
Den beträchtlichen Vorteil eines Verfahrens mit Konvergenzordnung p > 1 verdeutlicht
man am besten, wenn man die Definition 5.7 rekursiv anwendet, was zur Darstellung
pk −1 k
xk − x∗ ≤ Q+p−1 x0 − x∗ p (5.8)
so dass sich in jedem Iterationsschritt die Zahl der richtigen Ziffern verdoppelt!
Wir können nun einen lokalen Konvergenzsatz für das Newton-Verfahren angeben. Den
umfangreichen Beweisgang dazu findet man z. B. bei Hoffmann et al. (2005).
xk+1 − x∗ ≤ Qxk − x∗ 2 ∀ k ≥ k0 .
2β
xk − x∗ ≤ k = 0, 1, 2, . . . .
2k
Falls in Voraussetzung iv. sogar αβγ < 1/2 gilt, so kann zusätzlich nachgewiesen
werden, dass die Folge (xk ) mindestens Q-quadratisch konvergiert.
5.1 Berechnung von Gleichgewichtslösungen 235
Für großdimensionale Systeme ist der Aufwand pro Iterationsschritt auch in der prakti-
kablen Form 5.7 des Newton-Verfahrens zu hoch. Man approximiert die Jacobi-Matrix
F (xk ) dann durch eine geeignete konstante Matrix A. Im einfachsten Fall kann man
A = F (x0 ) wählen und erhält so das vereinfachte Newton-Verfahren (Sehnenverfahren,
engl. chord method):
Offenbar ist nun jeder Iterationsschritt wesentlich effizienter, denn der arithmetische Auf-
wand für eine Vorwärts-Rückwärts-Elimination ist nur von der Ordnung O(n2 ), und
es sind lediglich n Funktionswerte in f (xk ) zu berechnen. Dem steht eine langsamere
Konvergenz gegenüber. Im Gegensatz zum Newton-Verfahren kann für das Sehnenver-
fahren nur lineare Konvergenz erwartet werden. Um die Konvergenz des Verfahrens zu
garantieren, wird wie im Falle des Newton-Verfahrens die Regularität der Nullstelle x∗
vorausgesetzt (vgl. Kelley (1995)).
Algorithmus 5.10 erfordert als Input die Funktionen f und F , einen Startwert x0 und
die (absolute und relative) Toleranz tolabs, tolrel. Auch diesen Algorithmus kann man
leicht als MATLAB-Funktion implementieren.
Falls sich die Jacobi-Matrix F (xk ) von Iteration zu Iteration nur wenig ändert, empfeh-
len sich mehrere Zwischenschritte mit ein- und derselben Matrix A. Dafür ist jedesmal
nur eine LU-Zerlegung erforderlich. Man erhält so eine Kombination aus Newton- und
Sehnenverfahren, die häufig als Shamanskii-Verfahren bezeichnet wird. Es lässt sich als
eine Variante des Newton-Verfahrens mit m inneren Iterationsschritten interpretieren:
Für k = 0, 1, 2, . . . iteriere
y0 = xk − [F (xk )]−1 f (xk ) ,
yj+1 = yj − [F (xk )]−1 f (yj ) , j = 0(1)m − 1 (5.12)
xk+1 = ym .
Beispiel 5.13
Wir betrachten die Gleichungen
und wenden (a) das Newton-Verfahren, (b) das Shamanskii-Verfahren mit den inneren
Iterationszahlen m = 1, 2, 5, 10 und (c) das Sehnenverfahren mit denselben Parameter-
sätzen an. In Tabelle 5.3 wird die Anzahl k aller Iterationen des Newton-, des Shamanskii-
und des Sehnenverfahrens gegenübergestellt. In den mit ∗ markierten Fällen wurde die
geforderte Genauigkeit tol nicht vollständig erreicht. Beachtet man jedoch, dass das
Newton-Verfahren in dritten Aufruf k = 6 Berechnungen der Jacobi-Matrix und einen
arithmetischen Aufwand von k · 23 n3 erfordert, so liefert das Shamanskii-Verfahren die
9 k−1 :
Lösung bereits für k = 16, m = 10 mit m+1 + 1 = 2 Jacobi-Matrizen und einem
arithmetischen Aufwand von 2 · 3 n .
2 3
Häufig sind die Ableitungen von f nur mit erheblichem Aufwand exakt zu berechnen.
Dann kann man das für skalare Gleichungen bekannte Sekantenverfahren verallgemeinern
und approximiert die Jacobi-Matrix F (xk ) = f (xk ) durch eine leichter zu berechnende
Matrix Ak ∈ Rn×n mittels Differenzenquotienten
xk+1 = xk − A−1
k f (xk ) , k = 0, 1, 2, ... (5.13)
gilt. Ist jede Folge mit x0 ∈ S Newton-ähnlich, so bezeichnet man das Verfahren selbst
als Newton-ähnlich.
Für das Newton-Verfahren selbst trifft die Definition offenbar zu. Man kann unter der
Voraussetzung einer regulären Lösung x∗ nachweisen, dass ein Verfahren genau dann
überlinear konvergiert, wenn es Newton-ähnlich ist (vgl. Schwetlick (1979)).
Betrachten wir nun Verfahren der Gestalt (5.13) und stellen die Matrix Ak durch
Differenzenquotienten dar. Als einfachste Approximation Ak bietet sich die Einpunkt-
Approximation mittels der Vorwärts-Differenzenquotienten von f (x)
1
{∇f (x, h)}ij = [fi (x1 , ..., xj + hj , ..., xn ) − fi (x)] , i, j = 1...n ,
hj
1
∇f (x, h)ej = [f (x + hj ej ) − f (x)] , j = 1...n (5.14)
hj
notiert werden kann. Zuerst ist zu klären, unter welchen Bedingungen das entstehende
Verfahren (5.13) durchführbar ist und die erzeugte Folge der Näherungslösungen (xk ),
k = 0, 1, 2, . . . gegen eine Lösung x∗ konvergiert. Da anstelle der einfachen Differenzen-
quotienten (5.14) auch andere Approximationen denkbar sind, soll folgende Verallgemei-
nerung eingeführt werden:
5.1 Berechnung von Gleichgewichtslösungen 239
Damit ist das Verfahren Newton-ähnlich im Sinne der angegebenen Definition, falls die
Schrittweitenfolge (hk ) gegen Null konvergiert. In praxi können allerdings wegen der
begrenzten Stellenzahl der benutzten Gleitpunktzahlen die Schrittweiten hj der Differen-
zenapproximation (5.14) nicht beliebig nahe bei Null gewählt werden, sondern müssen
auf jeden Fall größer als die relative Maschinengenauigkeit εM sein. Damit erfüllt die
reale Schrittweitenmenge Hreal nicht die Voraussetzung aus Definition 5.15 und der
Konvergenzsatz ist nur bedingt aussagekräftig. Beantworten wir deshalb die Frage, wie
die Diskretisierungsschrittweiten hj in h = (h1 , h2 , . . . , hn ) passend zu wählen sind.
Neben dem Diskretisierungsfehler f (x) − ∇f (x, h) sind dazu nun auch andere Feh-
lerquellen, insbesondere Rundungsfehler, zu berücksichtigen. Wird nämlich anstelle von
f (x) der fehlerbehaftete Funktionswert f˜(x) = f (x) + ε(x) , ||ε(x)|| < εM mit der
Maschinengenauigkeit εM benutzt, so erhält man mit der Voraussetzung f ∈ C 2 (Rn )
240 5 Numerik der Gleichgewichtslösungen
mit einer funktionsabhängigen Konstanten C > 0. Minimierung der rechten Seite über hj
√
ergibt den Minimalwert hj = 2εM /C , womit h = O( εM ) gilt. Um für betragsgroße
Werte xj auch entsprechend große Diskretisierungsschrittweiten hj zu erhalten, hat sich
eine kombinierte Absolut-Relativ-Wahl
√
hj = εM (1 + |xj |) , j = 1(1)n (5.16)
gut bewährt. Damit wird zugleich garantiert, dass für Werte von xj nahe Null keine
Stellenauslöschung in den Differenzenquotienten erfolgt. Das entstehende Verfahren ist
allerdings nun nicht mehr Newton-ähnlich im engeren Sinne der Definition.
Die bisher behandelten Verfahren sind lokal konvergent, da unter geeigneten Vorausset-
zungen (Glattheit, Regularität) stets eine Konvergenzumgebung S der Nullstelle x∗ der
Gleichung
existiert. Über die Lage und Größe der Umgebung S ist in praxi meist nichts bekannt.
Um den semilokalen Konvergenzsatz 5.9 von L.V. Kantorovics anwenden zu können,
sind schwer nachzuvollziehende Abschätzungen in der Umgebung des Startwertes x0
durchzuführen, der zudem nahe der Lösung x∗ liegen sollte.
Die Menge S(x∗ ) aller Startwerte x0 , für die das jeweils betrachtete Verfahren gegen die
Nullstelle x∗ konvergiert, bildet den Einzugsbereich von x∗ . Um ihn zu vergrößern, kann
man zur Bestimmung der Nullstelle x∗ von f auch das zugehörige Minimierungsproblem
1
ψ(x) = f (x)2 ⇒ M in! über x ∈ D ⊂ Rn , (5.18)
2
mit der Euklidischen Norm x betrachten. Gesucht ist dann eine Minimalstelle x∗ mit
ψ(x∗ ) = 0 . Ausgehend von einer k-ten Lösungsnäherung xk lässt sich der neue Wert
xk+1 = xk + dk mit der Newton-Richtung (bei Minimierungsverfahren auch „Such-
Richtung“ genannt) dk = −f (xk )−1 f (xk ) ermitteln und anschließend kontrollieren, ob
die einfache Abstiegsbedingung
ψ(xk+1 ) < ψ(xk )
für die Funktion ψ erfüllt ist. Andernfalls kann man den Korrekturvektor dk mit einem
Faktor τk ∈ (0, 1] dämpfen und mit dem zurückgesetzten Testpunkt
definiert, die als kompakt vorausgesetzt wird. Ist die Jacobi-Matrix f (x) für alle x ∈ S
invertierbar, so gelten folgende Behauptungen:
i. Das gedämpfte Newton- Verfahren (5.19) mit Armijo-Regel (5.20) ist für jedes
x0 ∈ S durchführbar mit xk ∈ S und streng monoton fallenden Funktionswerten
f (xk ) .
ii. Die Folge (xk ) konvergiert gegen eine Nullstelle x∗ von f in der Menge S.
iii. Falls das Verfahren nicht nach endlich vielen Schritten mit einer Nullstelle endet, so
existiert ein K ∈ N, bei dem das Verfahren für k > K in das gewöhnliche Newton-
Verfahren übergeht und Q-quadratische Konvergenz eintritt.
Die hier eingeführte Dämpfungsstrategie lässt sich nunmehr auch erfolgreich auf das ver-
einfachte Newton-Verfahren, das Shamanskii-Verfahren und das Newton-Verfahren mit
Differenzenquotienten anwenden und dafür globale Konvergenz erreichen. Die kompli-
zierte Konvergenztheorie übersteigt jedoch den Rahmen dieses Buches. Sehr gute und
detaillierte Darstellungen des Stoffes findet man bei Deuflhard (2004) und Kelley (1995).
5.2 Parametrisierung von Lösungskurven und Fortsetzungsmethoden 243
1.5 L
1
x3
1
L2
0.5
0
1.5 L
0
1
0.5
0
x (x )
1 2
−0.5
3
2.5
−1
1.5
2 λ
1
−1.5 0.5
0
Abb. 5.1
Lösungszweige L0 (schwarz) und L1 , L2 (blau) im Lösungsdiagramm zu Beispiel 5.20
Beispiel 5.20
Für λ ∈ [0, 3] berechnen wir alle Gleichgewichtspunkte des Lorenz-Systems (5.3) mittels
x2 − x1 = 0
λx1 − x2 − x1 x3 = 0
x1 x2 − x3 = 0.
gefunden werden. Wegen x1 = x2 für alle Lösungen wählen wir eine dieser beiden Koordi-
naten aus und stellen die Lösungszweige im (λ, x1 , x3 )-Lösungsdiagramm der Abbildung
5.1 dar. Beim Durchlaufen des Parameterwertes λ∗ = 1 tritt offenbar eine Lösungsver-
zweigung ein. Zugleich wird für λ > λ∗ die triviale Lösung L0 instabil.
244 5 Numerik der Gleichgewichtslösungen
Abbildung 5.1 legt nahe, die Variablen x und λ zu einer einzigen Variablen y = (x, λ) mit
y ∈ Rn+1 zusammenzufassen und System (5.21) als unterbestimmtes Gleichungssystem
nur aus regulären Punkten von f besteht. Andernfalls heißt w singulärer Wert.
Wir nehmen desweiteren an, dass 0 ∈ Rn ein regulärer Wert von f ist, also die Jacobi-
Matrix Df (y) vollen Rang für alle Lösungen von f (y) = 0 besitzt. Mit
bezeichnen wir die Menge aller Lösungen von (5.22), die reguläre Punkte von f sind.
Beispiel 5.22
Mit y = (x1 , x2 , x3 , λ) = (y1 , y2 , y3 , y4 ) lautet die Jacobi-Matrix des Lorenz-Systems
⎛ ⎞ ⎛ ⎞
−1 1 0 0 y2 − y1
⎜ ⎟ ⎜ ⎟
Df (y) = ⎜ ⎝y4 − y3 −1 −y1 y1 ⎠
⎟ wegen f (y) = ⎜y4 y1 − y2 − y1 y3 ⎟ ,
⎝ ⎠
y2 y1 −1 0 y1 y2 − y3
womit sich für den Lösungszweig L0 : y0 = (0, 0, 0, y4 ) nur dann rangDf (y0 ) = 3 ergibt,
wenn y4 ≡ λ = 1 ist. Der Punkt y0 = (0, 0, 0, 1) ist hingegen singulär. Also ist 0 ∈ R3
kein regulärer Wert von f . Schränken wir den Parameterbereich jedoch auf Λ = [1.5, 3]
ein, so sind alle entsprechenden Lösungen reguläre Punkte von f .
Ist für einen Lösungspunkt y0 = (x0 , λ0 ) die Teilmatrix Dx f (x0 , λ0 ) ∈ Rn×n regulär,
so kann der natürliche Parameter λ zur lokalen Parametrisierung der Lösungsmenge M
benutzt werden. Nach dem impliziten Funktionentheorem (vgl. Hoffmann et al. (2005))
existiert lokal eine Funktion x : [λ0 − ε, λ0 + ε] → Rn mit ε > 0 und (x(λ), λ) ∈ M.
Ist Dx f (x, λ) sogar regulär für alle (x, λ) ∈ D × Λ, so ist die Funktion x(λ) auf ganz Λ
definiert. Wir treffen dazu folgende
5.2 Parametrisierung von Lösungskurven und Fortsetzungsmethoden 245
Mit dieser Regularitätsvoraussetzung gewinnen wir den für das Verfahren grundlegenden
Satz 5.24
Unter Voraussetzung 5.23 existiert die implizit definierte Funktion x : Λ → D mit den
Eigenschaften:
i. f (x, λ) = 0 besitzt für jedes λ ∈ Λ genau eine Lösung x = x(λ) ∈ D.
ii. Es gilt die Abschätzung x − x(λ) ≤ M0 · f (x, λ) ∀ (x, λ) ∈ D × λ, M0 > 0.
iii. x(λ) ist in λ ∈ Λ stetig differenzierbar und genügt der Einbettungsgleichung
x
x3
x2 xN −1
xP
3 xP
xP
N
x0
1
xP
2
xN
x1
h1 h2 h3 hN
λ
0 a = λ0 λ1 λ2 λ3 ...... λN −1 b = λN
Abb. 5.2 Fortsetzung mit natürlicher Parametrisierung
Prädiktorschritt
Für den Prädiktorschritt nutzen wir Informationen über zuvor bestimmte Kurvenpunkte
und extrapolieren die Lösungskurve bis zu λj :
1. Der Basis-Prädiktor nimmt den vorhergehenden Kurvenpunkt als Startwert für den
folgenden Korrektorschritt:
xP := xj−1 = x(λj−1 ) (5.26)
2. Der Tangenten-Prädiktor – auch Euler-Prädiktor2 genannt – ersetzt die Kurve lokal
durch ihre Tangente im vorhergehenden Kurvenpunkt
xP
Sekante
xP
T angente
xP
T angente
xj−1
xj
xj
xj−1
xP
Basis xj−2
hj hj−1 hj
Sie besitzt wie in Abbildung 5.3 links dargestellt eine höhere Genauigkeit als (5.26),
erfordert allerdings die Ableitungen Dx f und Dλ f sowie die Lösung eines linearen
Gleichungssystems.
2
Leonhard Euler (1707–1783), Schweizer Mathematiker, arbeitete auf fast allen Gebieten der
Mathematik; Leistungen zur Mechanik, Technik, Optik und Astronomie.
5.2 Parametrisierung von Lösungskurven und Fortsetzungsmethoden 247
3. Legt man durch die zwei Knoten (xj−2 , λj−2 ) und (xj−1 , λj−1 ) die Sekante und
extrapoliert bis zum Parameterwert λj , so liefert dieser Sekanten-Prädiktor den in
Abbildung 5.3 rechts dargestellten Wert
λj − λj−1
xP := xj−1 + · [xj−1 − xj−2 ] . (5.28)
λj−1 − λj−2
Er benötigt für xP bereits an der Stelle λ1 zwei Startwerte, die man sich z. B. mittels
des Basis-Prädiktors verschaffen muss. Dieser Ansatz stellt einen praktikablen Zugang
dar.
4. Durch Nutzung weiterer zurückliegender Kurvenpunkte (xj−1 , λj−1 ), (xj−2 , λj−2 )
. . . , (xj−k , λj−k ) kann man mittels polynomialer Extrapolation sehr genaue Prädik-
torformeln der allgemeinen Form
für h ∈ Iε = [−ε, ε], ε > 0. Die drei angeführten Prädiktoren lassen sich dann ebenfalls
in Abhängigkeit von h angeben:
Wir führen nun eine Approximationsordnung p ein: u(h) und uP (h) seien zwei gegebene
Funktionen mit u, uP : Iε → Rn . Dann approximiert uP (h) die Kurve u(h) mit der
Ordnung p ∈ N an der Stelle h = 0, falls es Konstanten 0 < h0 ≤ ε und K > 0 gibt, so
dass
u(h) − uP (h) ≤ K · |h|p ∀ |h| < h0 (5.31)
gilt, d. h. u(h) − uP (h) = O(|h|p ) ist. Für die drei Prädiktoren beweist man dann
Satz 5.25
Unter Voraussetzung 5.23 approximieren der Basis-Prädiktor und der Sekanten-Prädiktor
mit Ordnung 1, während der Tangenten-Prädiktor mit Ordnung 2 approximiert.
248 5 Numerik der Gleichgewichtslösungen
Beweis: Es sei |h| < h0 . Für die drei Prädiktoren erhalten wir
(i) u(h) − uK (h) = u(h) − xj−1 = u(h) − u(0)
!1 !1
= u (th)dt h ≤ u (th)dt · |h|
0 0
≤ KB · |h| mit KB := max u (t).
t∈[−ε,ε]
(ii) u(h) − uT (h) = u(h) − xj−1 − h · u (0)
= u(0) + u (0) · h + 12 u (σ) · h2 − u(0) − u (0) · h
≤ 1
2 max u (t) · |h|2 = KT · |h|2 .
t∈[−ε,ε]
Berücksichtigen wir auch (xj−3 , λj−3 ) und interpolieren mit den Punkten (xj−3 , λj−3 ),
(xj−2 , λj−2 ), (xj−1 , λj−1 ), so gewinnen wir einen Parabel-Prädiktor, der unter der Vor-
aussetzung f ∈ C 3 (D × Λ) ebenfalls die Approximationsordnung 2 besitzt.
Korrektorschritt
Wegen seiner schnellen Konvergenz wird für den Korrektorschritt häufig das Newton-
Verfahren (5.5) genutzt. Mit dem berechneten Prädiktorpunkt (xP , λj ) setzen wir
u0 := xP und gewinnen formal die Näherungslösungen
Der ermittelte Punkt (xj , λj ) mit dem Wert xj := uK liegt im Allgemeinen nicht auf der
Kurve L, da der Abbruch des Verfahrens bereits nach endlich vielen Iterationen erfolgt.
Ein geeignetes Abbruchkriterium muss deshalb vorgesehen werden. Um die aufwändigen
Berechnungen der Jacobi-Matrizen zu vermeiden, werden oft Newton-ähnliche Verfahren
mit konstanter Matrix A0 ∼ Dx f (xP , λj ) bevorzugt, so dass (5.33) nun die Form
1
{A0 }ij := {fi (xP P P P
1 , . . . , xj + Δxj , . . . , xn , λ) − fi (x , λ)}, i, j = 1(1)n. (5.35)
Δxj
5.2 Parametrisierung von Lösungskurven und Fortsetzungsmethoden 249
Die Verifikation des Fortsetzungsverfahrens erfordert den Nachweis der lokalen Konver-
genz dieses Korrektorschrittes bei geeigetem Prädiktorwert. Damit ist die Endlichkeit der
Anzahl von Fortsetzungsschritten über dem Parameterintervall Λ = [a, b] zu begründen.
Bei Deuflhard und Hohmann (1993) findet man dazu folgendes
mit u(h) = x(λj−1 +h), λj−1 ∈ Λ und Prädiktorwert uP (h). Dann konvergiert das Kor-
rektorverfahren (5.33) mit Startwert u0 := xP
j = uP (hj ) gegen die Lösung u(hj ) = x(λj )
von
f (x, λj ) = f (x, λj−1 + hj ) = 0, (5.38)
falls 0 < hj < hmax := max ε, p 2/(Kω) ist.
Wechselweise Anwendung des Prädiktor- und Korrektorschrittes zusammen mit der Er-
höhung des Parameterwertes λj ergibt den Algorithmus 5.28 für das Prädiktor-Korrektor-
Verfahren (PECE) zur numerischen Lösungsfortsetzung. Um dessen unbeschränkte Aus-
führbarkeit zu verifizieren, ist eine Auswahlregel für die Schrittweiten hj anzugeben, die
die Durchführbarkeit und Endlichkeit der Fortsetzung sichert.
Die Endlichkeit des Korrektorschrittes wird damit allerdings nicht gesichert (vgl.
Schwetlick (1979)). Wir verzichten auf den Induktionsbeweis und verweisen auf die sehr
guten Darstellungen bei Deuflhard und Hohmann (1993) sowie Deuflhard (2004).
Schrittweitensteuerung
Die richtige Wahl der Fortsetzungsschrittweite hj = λj − λj−1 ist oft entscheidend für
den Erfolg der Fortsetzungsmethode. Bei zu großem Wert kann der Prädiktorpunkt au-
ßerhalb des Einzugsbereiches der zu bestimmenden Lösung liegen. Dies führt meist zur
Divergenz des Korrektors, mitunter auch zur Konvergenz gegen eine andere unerwünsch-
te Lösung. Die theoretisch korrekte Wahl (5.39) führt oft auf extrem kleine Schrittweiten
hj , womit sich die Zahl N der Fortsetzungsschritte und somit der Gesamtaufwand über
alle Maßen erhöht. Eine einfache aber zuverlässige Strategie soll solche λ-Schrittweiten
h = hj > 0 wählen, die die Konvergenz des Korrektors gegen die verfolgte Lösung garan-
tiert und zugleich die Anzahl der Rechenoperationen minimiert. Heuristisch lässt sich der
von h abhängige Rechenaufwand A(h), bezogen auf einen Einheits-Fortsetzungsschritt,
durch die Anzahl
ansetzen. Wird mit einer „optimalen“ Schrittweite hopt = · h der minimale Aufwand
ρ := kopt /k . (5.40)
Eine zusätzliche Begrenzung 12 ≤ ≤ 2 (safeguarding) erhöht die Sicherheit der Wahl von
hopt = ·h. Wir erhalten so die Schrittweitensteuerung in Algorithmus 5.28. Sie passt die
aktuelle Fortsetzungsschrittweite hj nach jedem Schritt so an, dass eine „optimale“ Zahl
kopt von Korrektorschritten ausgeführt wird. Für das Newton-Verfahren hat sich kopt = 5
oder kopt = 6 bewährt. Bei zu geringer Fortsetzungsschrittweite h, insbesondere bei
Unterschreiten der relativen Maschinengenauigkeit εM , sollte der Algorithmus definiert
abgebrochen werden.
Konvergiert der Korrektorschritt nicht, so versagt diese „a-posteriori“-Steuerung aller-
dings. Deshalb wurden zusätzliche Strategien entwickelt, die nach dem Start des Kor-
rektors dessen Schrittweite „a-priori“ neu bestimmen und den Korrektor wiederholen
können. Ein Zugang von Allgower und Georg (1990) wertet das asymptotische Verhal-
ten von Prädiktor und Korrektor aus. Nach Satz 5.49 hat der Tangenten-Prädiktor xP
die Ordnung 2 bezüglich der Fortsetzungsschrittweite h. Benutzen wir als Korrektor das
Newton-Verfahren, so liefert (5.32) den ersten Näherungswert
Nach Ausführung eines vereinfachten Newton-Schrittes mit Dx f (xP , λj ) ergibt sich auf
Grund derselben LU-Zerlegung der Jacobi-Matrix mit geringem Zusatzaufwand
Aus beiden Werten lässt sich eine Näherung für die lineare Konvergenzrate
gilt. Zu gegebenem Prädiktorwert xP steht uns die Kontraktionsrate κalt = κ mit dieser
Asymptotik zur Verfügung. Gefordert wird eine neue Kontraktionsrate κneu mit
Der Schrittweiten-Faktor sei wieder ρ := hneu /h. Division der Kontraktionsraten liefert
wegen hneu = ρ · h
2
κneu K(xP ) · h2neu + O(h3neu ) hneu
= = + O(h),
κalt K(xP ) · h2 + O(h3 ) h
woraus sich nach Vernachlässigung der Terme O(h) die einfache Regel für
6 6
κneu κneu
hneu := h · bzw. ρ := . (5.43)
κalt κalt
ergibt. In praxi setzt man häufig κneu := 1/2. Bei Benutzung des Sekantenprädiktors
lässt sich unter geeigneten Voraussetzungen ebenfalls eine asymptoische Darstellung
κ = K(xP ) · h + O(h2 ) mit Konstante K(xP ) > 0 (5.44)
nachweisen; folglich ist
κneu
hneu := h · . (5.45)
κalt
Eine Implementation dieser verbesserten Schrittweiten-Strategie wird empfohlen, da sie
nicht unwesentlich zur numerischen Stabilität von Algorithmus 5.28 beiträgt.
2.5 2.5
2 2
x
x
1.5 1.5
1 1
0.5 0.5
0 0
0 1 2 3 4 5 6 λ 7 8 0 5 10 15 λ 20
Abb. 5.4 Exakte Lösungskurve L zu Beispiel 5.29 mit μ = 0 (links) und μ = 1 (rechts)
Beispiel 5.29
Betrachten wir das eindimensionale Beispiel f (x, λ) = 0 aus Abbildung 5.4 mit
f (x, λ) := 40μx5 − 200μx4 + (342μ + 8)x3 − (226μ + 24)x2 + 0.5(91μ + 37)x − λ,
wobei λ ≥ 0 der Systemparameter ist. Für festen Parameter μ = 0 treten z. B. bei λ = 1
drei Lösungen (links), für μ = 1 sogar fünf Lösungen (rechts) auf. Wegen Dλ f (x, λ) = −1
ist jede Lösung y = (x, λ) von f (y) = 0 ein regulärer Punkt von f im Sinne der Definiti-
on 5.21. Die natürliche Parametrisierung nach Algorithmus 5.28 liefert mit Startwerten
(x0 , λ0 ) = (0, 0) die Lösung zuverlässig bis zum ersten Umkehrpunkt (vgl. Abbildung
5.5 links). Dann bricht das Verfahren mit extremer Schrittweitenreduktion zusammen –
wie in Abbildung 5.5 rechts dargestellt.
5.2 Parametrisierung von Lösungskurven und Fortsetzungsmethoden 253
0.2 0.45
0.18 0.4
x
0.16 0.35
h
0.14
0.3
0.12
0.25
0.1
0.2
0.08
0.15
0.06
0.04 0.1
0.02 0.05
0 0
0 1 2 3 4 5 6 λ7 8 0 1 2 3 4 5 6 λ7 8
5.2.2 Bogenlängen-Parametrisierung
Obwohl in jedem Punkt y = (x, λ) des Beispiels 5.29 die vollständige Jacobi-Matrix
f (y) = (Dx f (y), Dλ f (y)) maximalen Rang n hat, versagt der Fortsetzungsalgorithmus
an den Stellen y0 = (x0 , λ0 ), an denen Dx f (x0 , λ0 ) singulär wird. Betrachten wir das
unterbestimmte System (5.22) und treffen nun folgende
Voraussetzung 5.30
D ⊂ Rn+1 sei offen.
i. f ∈ C r (D), r ≥ 2
ii. Es existiert ein y0 ∈ D ⊂ Rn+1 mit f (y0 ) = 0.
iii. Die erweiterte Jacobi-Matrix f (y0 ) = (Dx f (y0 ), Dλ f (y0 )) hat maximalen Rang n.
Bedingung iii. schwächt die bisherige Regularitätsvoraussetzung ab. Sie garantiert je-
doch nach Satz 2.47 aus Abschnitt 2.7, dass die Menge aller Lösungen der Gleichung
(5.22) eine eindimensionale Untermannigfaltigkeit L des Rn bildet. Aus dem impliziten
Funktionentheorem (vgl. Hoffmann et al. (2005)) gewinnen wir dann
Satz 5.31
Unter Voraussetzung 5.30 existiert eine glatte Kurve L ∈ Rn+1 mit Parametrisierung
y = y(s), s ∈ J = (s0 − δ, s0 + δ), δ > 0, y : J −→ Rn+1 , so dass für alle s ∈ J
i. y(s0 ) = y0 , ii. f (y(s)) = 0, iii. rang(f (y(s))) = n, iv. y (s) = 0 gilt.
Satz 5.32
Die Bedingung rang(f (y)) = n ist genau dann erfüllt, wenn
i. Dx f (x, λ) regulär ist oder
ii. dim N (Dx f (x, λ)) = 1 und Dλ f (x, λ) ∈ R(Dx f (x, λ)) gilt.
Ein Kurvenpunkt y(s0 ) = (x(s0 ), λ(s0 )) ∈ L wird im Falle ii. als Umkehrpunkt (einfa-
cher Grenzpunkt, turning point, simple limit point) bezeichnet. Unter Voraussetzung 5.30
besteht jeder reguläre Lösungspfad deshalb nur aus Punkten mit regulärer Jacobi-Matrix
Dx f (x(s0 ), λ(s0 )) und einfachen Grenzpunkten. Echte Singularitäten der Ordnung k ≥ 1
treten hier nicht auf.
Welche praktikablen Parametrisierungen y = y(s) der Kurve L sind nun einsetzbar? Eine
auf Chua und Ushida (1976) zurückgehende Idee führt einen Parameterwechsel (parame-
ter switching) in der Umgebung von Umkehrpunkten durch. Der natürliche Parameter
λ = yn+1 wird dabei lokal durch eine „geeignetere“ andere Komponente yp , p = n + 1,
des Vektors y ersetzt. Offenbar ist yp besonders dann geeignet, wenn sich diese Kompo-
nente beim Durchlaufen des Lösungspfades lokal am stärksten ändert. Benutzt man den
Tangenten-Prädiktor y (sj ) mit y (sj )s = 1, kann man den Index p so bestimmen,
dass
der Auswahl von p dient. Dieser Parameterwechsel kann nach jedem Fortsetzungsschritt
erfolgen, womit die Sonderrolle des Parameters λ nach dem ersten Wechsel mit yp voll-
kommen entfällt. Wählt man zu p den neuen Parameter η := yp , so erhält man das
bestimmende System mit n Gleichungen in den n Variablen y1 , ..., yp−1 , yp+1 , . . . , yn+1
betrachtet werden, die so als gewichtetes Maximum interpretierbar ist. Wir wollen die
theoretische Rechtfertigung dieser Strategie jedoch nicht weiter verfolgen, sondern die
auf Doedel et al. (2002) zurückgehende Idee der „Pseudo-Bogenlänge“ präferieren, die
diesen abrupten Parameterwechsel vermeidet und sich vielfach bewährt hat.
Führen wir – ggf. durch Umparametrisierung der Kurve L – die Bogenlänge s von [0, σ]
;
σ <n+1 σ
<
s(σ) := = 2
[yi (σ)] dσ = y (σ)2 dσ
0 i=1 0
als Kurvenparameter ein, so genügt der Tangentenvektor in jedem Punkt der Beziehung
y (s)2 = 1 ∀s ∈ J. (5.49)
Die Durchlaufgeschwindigkeit einer Kurve ist tatsächlich genau dann in jedem Punkt
s ∈ J gleich Eins, wenn der Parameter s gleich der Bogenlänge ist. Der Tangentenvektor
y (s) wird durch das um (5.49) erweiterte System
⎫ ⎛ ⎞
f (y(s)) · y (s) = 0 ⎬ f (y(s))
mit det ⎝ ⎠ > 0 (5.50)
y (s)T y (s) − 1 = 0 ⎭ y (s)T
y(s) − y(sj−1 )
y (sj−1 )T − 1 = 0,
s − sj−1
woraus wir nach Multiplikation mit s − sj−1 die skalare Zusatzbedingung für y
mit der eingeführten skalarwertigen Funktion g(y). Die Jacobi-Matrix dieses Systems
f (y(s)) f (y(s))
h (y(s)) = = (5.53)
g (y(s)) y (sj−1 )T
ist regulär für s ∈ J0 = (sj−1 − δ0 , sj−1 + δ0 ), δ0 > 0. Denn nach (5.46) ist h (y(sj−1 ))
regulär. Wegen der Stetigkeit von f (y) ist dann auch h (y(s)) regulär.
256 5 Numerik der Gleichgewichtslösungen
x x L
L
y (sj+1 )
xj+1
yj+1
xj+1 yj+1
G
P
y
P y (sj )
y
yj
yj xj
H
xj
s − sj
λ
λ
λj λj+1 λj λj+1
Geometrisch lässt sich die Zusatzbedingung mit Abbildung 5.6 (rechts) leicht interpre-
tieren: Wegen der Gleichung ỹ(s) = yj−1 + (s − sj−1 ) · y (sj−1 ) der Kurventangente G
durch yj−1 hat der Prädiktorpunkt
den Abstand s − sj−1 von yj−1 , da y (sj−1 )2 = 1 ist. Die Normal-Hyperebene H zu
G durch y P lautet dann
y (sj−1 )T · (y − y P ) = 0.
Satz 5.33
Mit den Voraussetzungen 5.30 sei yj−1 = y(sj−1 ) ∈ L gegeben. Dann existiert ein
δ > 0, so dass für alle s mit |s − sj−1 | < δ das erweiterte System
f (y) = 0
(5.55)
g(y) = y (sj−1 ) · (y − yj−1 ) − (s − sj−1 )
T
= 0
Der Bogenlängen-Parameter wird in Abbildung 5.6 rechts anschaulich durch den Tangen-
tenparameter s ersetzt, weshalb man nun von der Pseudo-Bogenlänge spricht. Anders als
bei der natürlichen Parametrisierung in Abbildung 5.6 links werden nun Umkehrpunkte
leicht überwunden. Algorithmus 5.34 nutzt dafür den Tangenten-Prädiktor.
Beispiel 5.35
Deuflhard (2004) behandelt ein fünfdimensionale Stabilitätsproblem aus dem Flugzeug-
bau mit den Gleichungen
0.2 0.8
0 0.6
0.4
−0.2
0.2
−0.4
0
−0.6
−0.2
−0.8
−0.4
−1 −0.6
−1.2 −0.8
−1 −0.5 0 0.5 1 −1 −0.5 0 0.5 1
0.14 0.4
0.12 0.3
0.2
0.1
0.1
0.08
0
0.06
−0.1
0.04
−0.2
0.02 −0.3
0 −0.4
−1 −0.5 0 0.5 1 −1 −0.5 0 0.5 1
Abb. 5.7 Darstellung der Lösungskomponenten x2 (links oben), x3 (rechts oben) und x4 (links
unten), x5 (rechts unten) über dem Parameter λ
Es bleibt die Frage zu klären, wie wir den in Algorithmus 5.34 – sowohl im Prädiktor-
als auch im Korrektorschritt – benötigten normierten Tangentenvektor y (sj ) effektiv
bestimmen. Es sei A := f (y(sj )) ∈ Rn×(n+1) die im j-ten Schritt ermittelte Jacobi-
Matrix. Nach Voraussetzung 5.30 ist ihr Nullraum N (A) eindimensional. Deshalb kann
y (sj ) ∈ N (A) an Stelle der üblicherweise benutzten Singulärwertzerlegung in diesem
speziellen Fall mittels QR-Zerlegung oder LU-Zerlegung gefunden werden. Die QR-
Zerlegung der transponierten Jacobi-Matrix AT führt auf die Darstellung
⎛ ⎞ ⎛ ⎞
q11 ··· q1,n+1 r11 ··· r1n
⎜ ⎟ ⎜ ⎟
⎜ q21 ··· q2,n+1 ⎟ ⎜ .. ⎟
T ⎜ ⎟ ⎜ 0 . ⎟
A = Q·R = ⎜ .. ⎟·⎜ ⎟
⎜ . ⎟ ⎜ ⎟
⎝ ⎠ ⎝ rnn ⎠
qn+1,1 ··· qn+1,n+1 0 ... 0
mit der orthogonalen Matrix Q = (qik ) ∈ R(n+1)×(n+1) und der hier dargestellten oberen
Dreiecksmatrix R = (rik ) ∈ R(n+1)×n , deren letzte Zeile nur Nullen enthält. Mit dem
5.2 Parametrisierung von Lösungskurven und Fortsetzungsmethoden 259
(n+1)-ten Einheitsvektor en+1 = (0, ..., 0, 1)T und der Darstellung z := Qen+1 gewinnen
wir die letzte Spalte der Matrix Q. Wegen der Orthogonalitätsbedingung QT Q = I ist
z22 = eT T
n+1 Q Qen+1 = 1,
womit der Vektor y (sj ) := z bis auf das Vorzeichen bereits das gesuchte Nullraumele-
ment ist. Das Vorzeichen des Tangentenvektors muss nun so gewählt werden, dass ein
y (sj−1 )
ϕ
y (sj )
Abb. 5.8
y(sj ) Darstellung zweier aufeinander folgen-
y(sj−1 )
der Tangentenvektoren y (sj−1 ) und
L y (sj ) mit der Lösungskurve L
Durchlaufwechsel der Lösungskurve L vermieden wird. Dazu betrachten wir zwei aufein-
ander folgende Tangentenvektoren y (sj−1 ) und y (sj ), wie in Abbildung 5.8 dargestellt.
Um einen spitzen Winkel ϕ zwischen beiden Tangentenrichtungen zu garantieren, fordern
wir für das Skalarprodukt der Vektoren
Falls τ < 0 ist, so kehren wir das Vorzeichen von y (sj ) um und erhalten insgesamt den
fehlenden Schritt 3.1. von Algorithmus 5.34:
Man überlegt sich leicht, dass in analoger Weise auch die LU-Zerlegung von AT mit
Zeilenvertauschungen zur Ermittlung des Tangentenvektors y (sj ) genutzt werden kann.
5.2.3 Gauß-Newton-Fortsetzung
Betrachten wir nochmals Abbildung 5.6, so erkennen wir, dass bei zu groß gewähl-
ter Fortsetzungsschrittweite h auch die Pseudo-Bogenlänge keinen Schnittpunkt yj der
260 5 Numerik der Gleichgewichtslösungen
Normal-Hyperbene mit der Kurve liefern muss. Daher sind folgende Schritte naheliegend,
um vom Bogenlängen-Parameterwert sj−1 zu sj überzugehen:
1. Gegeben sei der Kurvenpunkt yj−1 = y(sj−1 ). Festlegung einer geeigneten Fortset-
zungsschrittweite hj > 0 und des neuen Parameterwertes sj = sj−1 + hj .
2. Vorgabe eines Prädiktorpunktes v0 = v = y P für den neuen Kurvenpunkt yj , z. B.
mit dem Tangenten-Prädiktor
y P := yj−1 + hj · y (sj−1 ) , y (sj−1 )2 = 1 (5.56)
oder dem Sekanten-Prädiktor (vgl. Abb. 5.9)
hj
y P := yj−1 +
· (yj−1 − yj−2 ) . (5.57)
hj−1
3. Bestimmung eines Kurvenpunktes yj ∈ L mit minimalem Abstand von v = y P , d. h.
iterative Lösung der Minimierungsaufgabe im Korrektorschritt (vgl. Abb. 5.9)
yj − v2 = min y − v2 . (5.58)
f (y)=0
x L
H
xj yj
v0 = y P
xj−1
yj−1
G
yj−2
xj−2
1
n+1 n
1
L(y, μ) = y − v22 − μ f (y) = (yi − vi )2 − μi fi (y). (5.59)
2 2
i=1 i=1
Durch Differentiation gewinnen wir die notwendige Bedingung an yj für ein lokales Mi-
nimum in Komponentenform
∂L
(i) = fk (y) = 0, k = 1(1)n,
∂μk
∂L
n
∂fi
(ii) = (yl − vl ) − μi = 0, l = 1(1)n + 1
∂yl ∂yl
i=1
5.2 Parametrisierung von Lösungskurven und Fortsetzungsmethoden 261
bzw. in Vektorschreibweise
(i) f (y) = 0
(5.60)
(ii) y − v = [f (y)] · μ, μ ∈ Rn .
Multiplikation von Bedingung (ii) an der Lösung yj mit dem Tangentenvektor y (sj )
ergibt
y (sj ) · (yj − v) = [f (y(sj )) · y (sj )] μ = 0
wegen Voraussetzung 5.30, womit das bestimmende System für yj ∈ Rn+1 nunmehr
(i) f (y) = 0
(5.61)
(ii) y (sj ) · (y − v)
T
= 0
lautet. Anschaulich wird also ein Minimalpunkt yj durch die in Abbildung 5.9 dar-
gestellte Orthogonalitätsbedingung y (sj )T · (yj − v) = 0 mit dem Tangentialvektor
y (sj ) definiert. Linearisierung des Systems (5.61) am Näherungspunkt v ∈ Rn+1 mit zu-
gehörigem Tangentenvektor v (sj ) liefert das lineare Gleichungssystem für den Wert vneu :
A · x = b, t(A) · x = 0. (5.63)
Ax = b beschreibt eine Gerade und die Lösung x∗ von (5.63) ist ein Punkt mit t(A)⊥x.
Geometrisch bedeutet dies, eine Lösung des unterbestimmten linearen Gleichungssystems
Ax = b zu finden, die die Minimierungsaufgabe
x∗ 2 = min x2 (5.64)
Ax=b
löst. Deren Lösungen x∗ kann man mit der Pseudoinversen A+ von A formal in der
Form x∗ = A+ b darstellen. Dabei wird A+ folgendermaßen erklärt:
Die geometrische Beobachtung aus Abbildung 5.9 wird durch folgenden Äquivalenzsatz
auch theoretisch abgesichert (vgl. Allgower und Georg (1990)):
Satz 5.37
Es sei A ∈ Rn×(n+1) , rang(A) = n, und ϕ = t(A) der normierte Tangentenvektor,
bestimmt durch
A
(i) A · ϕ = 0, (ii) ϕ2 = 1, (iii) det > 0. (5.65)
ϕ
Die Berechnung von A+ im allgemeinen Fall einer (m, n)−Matrix ist allerdings aufwän-
dig und bei Fortsetzungsverfahren nicht praktikabel. Wegen A ∈ Rn×(n+1) mit den
Voraussetzungen 5.30 des zeilenregulären Falles kann A+ jedoch als Rechtsinverse
direkt ausgerechnet werden. Anwendung der Pseudoinversen von A := f (v) auf (5.62)
ergibt somit den Newtonschritt
Satz 5.39
Für f : D ⊂ Rn+1 → Rn seien die Voraussetzungen 5.30 erfüllt. Dann existiert eine
offene Umgebung U (L) ⊂ D des Lösungspfades, mit der folgende Behauptungen gelten:
i. Zu jedem v ∈ U (L) existiert genau ein y ∗ ∈ L mit
iii. Zu jedem v0 ∈ U (L) konvergiert die Folge (vk ), k = 0, 1, 2, ... der Iterierten gemäß
(5.67) gegen ein v∞ ∈ L.
iv. Für v0 ∈ U (L) gelten folgende Abschätzungen gleichmäßig für vk ∈ U (L):
v2 − v1 ≤ C1 v1 − v0 2
v∞ − v1 ≤ C2 v∞ − v0 2
(AAT ) · b = f (vk ), b ∈ Rn
(d) vk+1 := vk − AT b, k := k + 1
(e) Falls AT b2 > tol, so gehe zu Schritt (b).
(f) Setze yj := vk .
3.4. (Schrittweiten-Anpassung) wie in Algorithmus 5.28
4. Return N := j, yj = (xj , λj ) , j = 0(1)N
264 5 Numerik der Gleichgewichtslösungen
2 2
x
x
Näherungslösung
1.5 Endpunkt 1.5 (Linie)
1 1
exakte Lösung
(Punkte)
Startpunkt
0.5 0.5
0 0
0 5 10 15 λ 20 0 1 2 3 4 5 6 λ7 8
Abb. 5.10 Berechnete Lösung L zu Beispiel 5.29 mit μ = 1 (links) und μ = 0 (rechts)
Beispiel 5.40
Wir wenden den Algorithmus auf Beispiel 5.29 mit der Funktion
an. Für festen Parameter μ = 1 erhalten wir mit Startwerten (x0 , λ0 ) = (0, 0) und ma-
ximaler Fortsetzungsschrittweite hmax = 0.005 in Abbildung 5.10 (links) die Lösung mit
Genauigkeit tol = 10−3 über alle vier Umkehrpunkte hinweg (vgl. die exakte Darstellung
in Abbildung 5.6). Auch bei μ = 0 arbeitet die Fortsetzung zuverlässig und liefert in
Abbildung 5.10 (rechts) die Näherungslösung. Zum Vergleich wurden hier exakte Kur-
venpunkte eingezeichnet.
Die üblichen Anwendungsprobleme aus der Praxis hängen meist von mehreren Parame-
tern λ1 , λ2 , . . . , λp ab. Um das Lösungsverhalten über einem Bereich des Parameter-
raumes Rp zu studieren, ist dann ein mehrdimensionales Fortsetzungsproblem zu lösen.
Anstelle einer Lösungskurve ist nun eine Lösungsmannigfaltigkeit des n-dimensionalen
Problems
f (y) = 0 mit y = (x, λ) ∈ D ⊂ Rn+p , p ≥ 1, D offen (5.68)
Voraussetzung 5.41
i. f : D ⊂ Rn+p → Rn sei C r −glatt mit r ≥ 2 sowie
ii. Die n × (n + p)-Matrix f (y) = Df (y) hat maximalen Rang n für alle y ∈ D.
Dann ist die Menge M = {y ∈ D | f (y) = 0} eine p-dimensionale Mannigfaltigkeit in
Rn+p mit C r -Glattheit (vgl. Rheinboldt (1994)). Zu einem Punkt yj ∈ M bilden
Tyj M = N (Df (yj )) den p-dimensionalen Tangentialraum von M bei yj und
Nyj M = {N (Df (yj ))}⊥ = R(Df (yj )T ) den n-dimensionalen Normalraum,
der das orthogonale Komplement von Tyj M in Rn+p ist. Nehmen wir nun an, wir hätten
p paarweise orthonormierte Vektoren b1 , b2 , . . . , bp ∈ Rn+p zur Verfügung, so dass die
damit erweiterte (n + p) × (n + p)-Matrix
Df (yj )
C := mit B = (b1 , b2 , . . . , bp ) ∈ R(n+p)×p (5.69)
BT
regulär ist. Dies ist während der Lösungsfortsetzung realisierbar, wenn beispielsweise
B = {b1 , b2 , . . . , bp } eine orthonormale Basis des Tangentialraumes Tyj−1 M eines vor-
hergehenden Lösungspunktes yj−1 darstellt.
Zur Bestimmung von yj bilden wir in Analogie zu (5.61) am Prädiktorpunkt y P das
erweiterte System
f (y)
g(y) := = 0, g : D ⊂ Rn+p → Rn+p , (5.70)
B T (y − y P )
ergänzen. Wegen Voraussetzung 5.41(i) ist g(y) C 2 −glatt, und mit (5.69) ist die
Jacobi-Matrix Dg(yj ) regulär. Damit sind Newton-Verfahren und vereinfachtes Newton-
Verfahren aus Abschnitt 5.1 für g(y) = 0 lokal in der Umgebung von yj ausführbar und
konvergieren Q-quadratisch bzw. Q-linear gegen eine gesuchte Lösung yj mit g(yj ) = 0.
Nach Erhalt von yj ist allerdings noch die Frage zu klären, wie eine Orthonormalbasis
Bneu = {b1 , b2 , . . . , bp } von T = Tyj M für den nächsten Fortsetzungsschritt zu bestim-
men ist. Dazu lösen wir mit der verfügbaren Matrix B die p linearen Gleichungssysteme
Df (yj )
τ = en+i , i = 1(1)p, (5.71)
BT
Satz 5.42
Die Lösungen τ1 , τ2 , . . . , τp von (5.71) sind eindeutig bestimmt und liefern eine Basis
des Tangentialraumes Tyj M.
266 5 Numerik der Gleichgewichtslösungen
Beweis: Die Koeffizientenmatrix ist offenbar regulär. Aus den ersten n Gleichungen
von (5.71) folgt Df (yj )τi = 0 für i = 1(1)p, womit τi ∈ Tyj M ist. Aus der zusam-
mengefassten Darstellung B T (τ1 , τ2 , . . . , τp ) = Ip der übrigen p Gleichungen mit der
Einheitsmatrix Ip ergibt sich dann die lineare Unabhängigkeit der Vektoren τ1 , τ2 , . . . , τp .
y = yj + Bs + w mit s ∈ Rp und w ∈ T ⊥
darstellen. Betrachten wir an einem derartigen Punkt y das erweiterte System für die
Unbekannte w ∈ Rn+p
f (yj + Bs + w)
h(w, s) := = 0 (5.72)
BT w
yj + Nyj M
w(sj+1 )
y j + Ty j M
b2
b1
yj+1 = y(sj+1 )
yj
w(sj+1 )
M0 M
yj+1 = y(sj+1 )
Abb. 5.11 Darstellung von yj = y(sj ) und vier neuer Punkte yj+1 = y(sj+1 ) auf der Mannig-
faltigkeit M
Wird eine feste Matrix B = (b1 , b2 , . . . , bp ) ∈ R(n+p)×p so gewählt, dass die erweiterte
Matrixfunktion
Df (y)
C(y) :=
BT
für alle y ∈ M0 regulär ist, so bilden die p Lösungen τi (y) der Gleichungssysteme
mit den (n + p)-dimensionalen Einheitsvektoren en+i einen Moving Frame für M0 . Ein
Prädiktor-Korrektor-Schritt dieser Vorgehensweise wird in Algorithmus 5.43 vorgestellt.
Er berechnet zu gegebenem Punkt yj und zugehöriger Orthonormalbasis B für die imax
i
Parametervektoren s1 , . . . , simax die zugehörigen Punkte yneu , i = 1(1)imax , und aktua-
lisiert die Orthonormalbasis in Bneu . Zur weiteren Umsetzung dieses Verfahrens, z. B.
mit geeigneten Triangulierungen der Mannigfaltigkeit, empfehlen sich die Darstellungen
von Henderson (2007) und Mei (2000).
268 5 Numerik der Gleichgewichtslösungen
In den nachfolgenden Kapiteln sind die Fortsetzungsprobleme für periodische und quasi-
periodische Orbits durch folgende erschwerende Umstände charakterisiert:
f (x, λ) ist nicht durch einen exakten arithmetischen Ausdruck definiert, sondern
Resultat eines numerischen Integrationsverfahrens für DGL. Die Jacobi-Matrix
Dx f (x, λ) ist so nicht exakt verfügbar und das Newton-Verfahren nicht anwendbar.
Der Zeitaufwand zur Berechnung eines einzigen Funktionswertes f (x, λ) beträgt ein
Vielfaches des algebraischen Aufwandes zur Lösung des linearen Gleichungssystems
im Korrektorschritt. Rechenzeitverhältnisse des „Funktionswertaufwandes“ zum rein
algebraischen Aufwand von über 100 : 1 sind damit keine Seltenheit!
Die Stabilitäts- und Bifurkationsanalyse erfordert zudem eine gute Approximation
der Jacobi-Matrizen A∗ := Dx f (xj , λj ) , j = 0, 1, 2, . . ., um deren Spektren σ(A∗ )
genau ermitteln zu können.
5.2 Parametrisierung von Lösungskurven und Fortsetzungsmethoden 269
Beispiel 5.45
Aj := Dx f (xj , λj ) bezeichne die Jacobi-Matrizen an den Punkten λj mit xj = x(λj ).
Dann konstruieren wir für die Ableitung an der Stelle λj den
Basis-Prädiktor: AP := Aj−1 ,
λj − λj−1
Sekanten-Prädiktor: AP := Aj−1 + · [Aj−1 − Aj−2 ] sowie die
λj−1 − λj−2
Polynom-Prädiktoren: AP := α1 Aj−1 + α2 Aj−2 + . . . + αk Aj−k , αi ∈ R,
mittels polynomialer Extrapolation.
Um den modifizierten Fortsetzungsschritt in [λj−1 , λj ] zu verifizieren, benutzen wir einen
Konvergenzsatz für approximative Newton-Verfahren von Kelley (1995). Wir betrachten
dazu das nichtlineare System f (x, λj ) = 0 mit festem Parameterwert λj .
Satz 5.46
Falls xj eine reguläre Nullstelle von f (x, λj ) im Sinne der Definition 5.4 ist, so existieren
Konstanten K0 > 0, δ1 > 0 und δ2 > 0, so dass für alle u0 mit ||u0 − xj || < δ1 und für
alle A ∈ Rn×n mit ||A − Dx f (xj , λj )|| < δ2 die Iteration uk+1 = uk − A−1 f (uk , λj ),
k = 0, 1, 2, . . . , Q-linear gegen xj konvergiert. Mit ek := uk − xj gilt die Abschätzung
Die Fehlerschätzung (5.76) zeigt eine gleiche Wichtung der Prädiktoren xP und AP ,
weshalb sich dieselbe Approximationsordnung für beide, d. h. xP − xj = O(hp ) und
AP − Dx f (xj , λj ) = O(hp ) empfiehlt. In Algorithmus 5.47 benutzen wir dazu den
bewährten Sekanten-Prädiktor. Um den Fortsetzungsalgorithmus zu verifizieren, führen
wir entsprechend Formel (5.31) eine Approximationsordnung für beide Prädiktoren ein.
Die Schrittweiten hj seien darin beschränkt durch hmax := maxj=1(1)N hj .
Voraussetzung 5.48
1. Der Lösungsprädiktor besitze die Ordnung p1 , d. h. es existiert ein K1 > 0, so dass
||xP (λ) − x(λ)|| ≤ K1 hp1 , |h| < hmax (5.77)
für λ = λj−1 + h, mit λj−1 , λ ∈ Λ, gilt.
270 5 Numerik der Gleichgewichtslösungen
Lemma 5.49
Unter den Voraussetzungen 5.23 und 5.48 existieren Konstanten K0 > 0, δ1 > 0 und
δ2 > 0 , so dass folgende Behauptungen gelten:
i. f (x, λ) = 0 besitzt für alle λ ∈ Λ eine eindeutige Lösung x(λ).
5.2 Parametrisierung von Lösungskurven und Fortsetzungsmethoden 271
Um Algorithmus 5.47 abzusichern, ist wie in Satz 5.27 eine explizite Auswahlregel für die
Schrittweiten hj anzugeben, die die Durchführbarkeit und Endlichkeit der Fortsetzung
garantiert. Mittels vollständiger Induktion über j zeigt man leicht
Satz 5.50
Die Voraussetzungen 5.23 und 5.48 seien erfüllt. Ferner genügen die Startwerte xP und
AP am Startpunkt λ0 = a den Voraussetzungen
mit den nach Lemma 5.49 garantierten Konstanten δ1 > 0, δ2 > 0. Wählt man die
Schrittweite hj := λj − λj−1 gemäß
hj := min {H/2, b − λj−1 } , mit H aus Teil iii. des Lemmas, (5.80)
Eine effiziente Wahl der Fortsetzungsschrittweiten hj kann wie in Algorithmus 5.28 erfol-
gen. Die Berechnung der Jacobi-Matrizen Aj = Dx f (xj , λj ) in Schritt 3.6 sollte mit der
Stabilitätsanalyse verbunden werden, die im nachfolgenden Abschnitt behandelt wird.
Beispiel 5.51
Dhooge und Kuznetsov (2002) betrachten das Bratu-Gelfand-System mit Parameter λ
ẋ = f (x, y, λ) = y − 2x + λex
(5.81)
ẏ = f (x, y, λ) = x − 2y + λey .
Im Parameterintervall λ ∈ [0.01, 0.367879] besitzt das System zwei Gleichgewichts-
punkte, die am kritischen Wert λ∗ = 0.367879... zusammenfallen. Abbildung 5.12
zeigt die beiden Lösungszweige L1 (stabil) und L2 (instabil) sowie den Fold-Punkt
(λ, x, y) = (0.367879..., 1, 1). Wir notieren nun dieses System zu Testzwecken
8
ẋi = fi (x, y, λ) = yi − 2xi + λexi n
yi
für i = 1, 2, . . . , (5.82)
ẏi = fi (x, y, λ) = xi − 2yi + λe 2
272 5 Numerik der Gleichgewichtslösungen
instabiler Lösungszweig L2
6
4 Fold−Punkt bei
λ = 0.367879
3
y
1
Abb. 5.12 Lösungszwei-
8 ge L1 und L2 stabiler
0
6
4
und instabiler Gleichge-
−1 stabiler Lösungszweig L1
0 0.05 2 x wichtslagen des Bratu-
0.1 0.15 0.2 0.25 0.3 0.35 0.4 0 Gelfand-Systems (5.81)
λ
mit Systemgrößen n = 2, 20, 100, 200, 400, um damit folgende vier Versionen der Appro-
ximation der Jacobi-Matrizen zu vergleichen:
Beginnend mit λ = 0.01 verfolgen wir den instabilen Zweig L2 bis zu λ = 0.36787
und analysieren bei jedem λj zudem die Stabilität. Startwerte sind xi = yi = 10 für
i = 1, 2, . . . , n2 ; die Genauigkeit ist stets tol = 10−10 . Tabelle 5.2 zeigt die Überlegenheit
Tab. 5.2 Anzahl N der Fortsetzungsschritte und Rechenzeit in sec (Pentium 4 M 1.60 GHz)
der Versionen 3 und 4 mit gleicher Approximationsordnung von Lösung und Jacobi-
Matrix. Version 4 kann so mit den größten internen Fortsetzungsschrittweiten arbeiten,
wie man in Abbildung 5.13 leicht erkennt.
5.3 Stabilitäts- und Bifurkationsanalyse 273
0.01 0.018
0.009
0.016
0.008
0.014
0.007
0.012
0.006
0.005 0.01
0.004
0.008
0.003
0.006
0.002
0.004
0.001
0 0.002
0 0.05 0.1 0.15 0.2 0.25 0.3 0.35 0.4 0 0.05 0.1 0.15 0.2 0.25 0.3 0.35 0.4
Parameter λ Parameter λ
Die Idee, Prädiktoren hoher Ordnung für die benötigten Jacobi-Matrizen zu benutzen,
lässt sich mit entsprechendem Aufwand auch bei Bogenlängen-Parametrisierung und
Gauß-Newton-Fortsetzung in den Algorithmen 5.34 und 5.38 leicht anwenden.
5.3.1 Stabilitätsanalyse
Beispiel 5.52
Betrachten wir das eindimensionales Beispiel mit dem Systemparameter λ ∈ [−1, 1]
1.5
1 L1
y1
0.5
L0 y0 L0
0
−0.5 y2
Abb. 5.14 Lösungszweige L0
−1
L1 und L1 zu Beispiel 5.52: stabi-
le Zweige (blau) und instabile
−1.5
−1 −0.8 −0.6 −0.4 −0.2 0 0.2 0.4 0.6 0.8 1
Zweige (schwarz)
und betrachten deren trivialen Lösungszweig L0 = {(x, λ) | x = 0}. Wegen der Ableitung
Dx f (x, λ) = 4x3 − 2x − λ2 lautet der Eigenwert μ = −λ2 < 0 für alle λ = 0. Also ist
die Lösung x0 = 0 asymptotisch stabil für alle λ = 0. Bei λ0 = 0 verschwindet zwar der
Realteil Re μ, es findet jedoch kein Stabilitätswechsel statt.
Stabilitätsanalyse
(a) Berechne die Jacobi-Matrix Aj := Dx f (xj , λj ) .
(b) Bestimme die Eigenwerte μ1 , μ2 , ..., μn von Aj
und die Spektralabszisse ν := ν(Aj ).
(c) Falls ν < 0 , so “asymptotisch stabil“,
sonst falls ν > 0 , so “instabil“,
sonst “Keine Aussage möglich“.
Beispiel 5.53
Wir betrachten nochmals Beispiel 5.35 mit f (x, λ), x = (x1 , x2 , x3 , x4 , x5 )T , gegeben
durch die fünf dortigen Funktionen. Die Steuervariable ist u = 0 und der Parameterbe-
reich −1 ≤ λ ≤ 1. Abbildung 5.15 zeigt die numerisch berechnete Lösung x4 , dargestellt
über dem Parameter λ, wobei nun die Punkte mit nachgewiesener Instabilität schwarz
gezeichnet wurden. Offenbar sind die Stabilitätswechsel noch genauer einzugrenzen.
0.14
0.12
0.1
0.08
Mit der Stabilitätsanalyse kann das Auftreten lokaler Bifurkationen während der Lö-
sungsfortsetzung entdeckt (detektiert) werden. In Abschnitt 2.7.1 werden zur Jacobi-
Matrix A := A(λ) = Dx f (x0 (λ), λ) der
stabile Unterraum E s der Dimension ns = dim E s = Zahl der μi mit Re μi < 0
instabile Unterraum E u der Dimension nu = dim E u = Zahl der μi mit Re μi > 0
Zentrumsunterraum E c der Dimension nc = dim E c = Zahl der μi mit Re μi = 0
mit ns + nu + nc = n definiert. Bestimmen wir im j-ten Fortsetzungsschritt diese Dimen-
sionen njs , nju und njc , so signalisiert eine Änderung dieser Werte bei zwei aufeinander
276 5 Numerik der Gleichgewichtslösungen
folgenden Schritten die Möglichkeit einer lokalen Bifurkation im (hinreichend kleinen) In-
tervall [λj−1 , λj ]. Damit kann Schritt 3.6 in Algorithmus 5.47 leicht modifiziert werden:
Bifurkationsdetektierung
(a) Berechne die Jacobi-Matrix Aj := Dx f (xj , λj ) .
(b) Bestimme die Eigenwerte μ1 , μ2 , ..., μn von Aj und
die Dimensionen njs , nju , njc der Unterräume E s , E u , E c .
(c) Falls njs = nj−1
s ∨ nju = nu
j−1
∨ njc = nj−1
c , so
“Bifurkation in [λj−1 , λj ] möglich“.
Mit der zusammenfassenden Bezeichnung y = (x, λ) und f (y) = f (x, λ) sei y 0 = (x0 , λ0 )
mit dem Gleichgewichtspunkt x0 gegeben, d. h. f (y 0 ) = 0. Am Punkt y 0 definieren wir
die Matrizen der Dimension n × n und n × (n + 1)
Über die Nullräume von A und B gestattet die Theorie der Kapitel 3 und 4 dann folgende
Aussage:
Satz 5.54
Es sei f ∈ C r (D × Λ), r ≥ 2. Dann sind die Nullraumdimensionen
0, falls x0 regulärer oder Hopf-Punkt
dim N (A) =
1, falls x0 Falten-Punkt, transkritischer oder Heugabel-Punkt ist.
⎧
⎪
⎪ falls x0 regulärer Punkt
⎨1,
dim N (B) = 1, falls x0 Falten- oder Hopf-Punkt
⎪
⎪
⎩2, falls x0 transkritischer oder Heugabel-Punkt ist.
5.3 Stabilitäts- und Bifurkationsanalyse 277
Bei Parametrisierung der Lösungskurve y = y(s) = (x(s), λ(s)) nach ihrer Bogenlänge
oder Pseudo-Bogenlänge s steht zudem der normierte Tangentenvektor y (s0 ) am be-
trachteten Punkt y 0 = (x0 , λ0 ) = (x(s0 ), λ(s0 )) zur Verfügung. Damit definieren wir die
erweiterte Matrix
f (y(s0 )) B
C := = , C ∈ R(n+1)×(n+1) .
T T
y (s0 ) y (s0 )
dass s0 eine reguläre Nullstelle ist und der Bifurkationspunkt (x0 , λ0 ) direkt während der
Lösungsfortsetzung beobachtet werden kann. Wir wollen nun geeignete Testfunktionen
für die genannten Bifurkationstypen einführen.
278 5 Numerik der Gleichgewichtslösungen
so können ψF (x(s), λ(s)) und ψB (x(s), λ(s)) als Testfunktionen fungieren. Aus Tabelle
5.3 und der Eigenwertdarstellung ψF (y) = det(Dx f (y)) = μ1 μ2 · · · μn gewinnen wir
zusammen mit den Eigenschaften der betreffenden Bifurkationstypen aus Kapitel 3
Satz 5.56
Es sei f ∈ C r (D × Λ), r ≥ 2. y 0 = (x0 , λ0 ) gegeben mit f (y 0 ) = 0.
i. ψF (y) und ψB (y) sind stetig differenzierbar.
ii. Ist x0 regulärer oder Hopf-Punkt, so ist ψF (y 0 ) = 0.
iii. Liegt bei x0 eine Falten-Bifurkation vor, so ist ψF (y 0 ) = 0 und ψB (y 0 ) = 0.
iv. Ist x0 ein Falten-Punkt, so wechselt ψF (y) bei y = y 0 das Vorzeichen.
Beispiel 5.57
In Beispiel 5.52 mit der Funktion f (x, λ) = x(x3 − x − λ) verfolgen wir nun den
Lösungszweig L1 = {(x, λ) | x3 − x − λ = 0} aus Abbildung 5.14. In der Umgebung des
√ √
Kurvenpunktes y 1 = (x1 , λ1 ) = ( 3/3, −2 3/9) parametrisieren wir die Kurve nach x,
d. h. y(s) = (x(s), λ(s)) = (s, s3 − s), und erhalten damit den Wert der Testfunktion
erfolgt bei y 1 ein Nulldurchgang. Für den Tangentenvektor am Punkt y 1 erhalten wir
y (s1 ) = (x (s1 ), λ (s1 ))T = (1, 0)T , womit wir die erweiterte Matrix
√
f (y(s1 )) 0 − 3/3
C = =
y (ss )T 1 0
√
berechnen und für die zweite Testfunktion ψB (y1 ) = det C = 3/3 = 0 erhalten.
Beispiel 5.58
Wir setzen Beispiel 5.57 fort und untersuchen den Punkt y 0 = (x0 , λ0 ) = (0, 0). Offenbar
ist ψF (y 0 ) = 4x(s)3 − 2x(s) − λ(s) = 3s3 − s, also ψF (y 0 ) = 0. Wir berechnen nun
ψB (y 0 ) auf beiden Lösungszweigen: Auf L0 = {(x, λ) | x = 0} ist f (0, 0) = (0, 0) und
der Tangentenvektor trivialerweise y (0) = (0, 1)T , womit ψB (y 0 ) = det C = 0 folgt.
Auch auf dem zweiten Lösungszweig L1 erhalten wir für y 0 = 0 den Wert ψB (y 0 ) = 0,
womit bei der numerischen Verfolgung beider Zweige stets ein Verzweigungspunkt im
engeren Sinne – in diesem Falle mit transkritischer Bifurkation – signalisiert wird.
x
L
L
y∗ K
U
y j+1
yP
L
yj
K U
L
λ
Abb. 5.16 Darstellung der sich schneidenden Lösungszweige L und L in der Umgebung des
Verzweigungspunktes y ∗ sowie der Umgebung U und des Kegels K
Satz 5.59
Es sei y ∗ ∈ Rn+1 transkritischer oder Heugabel-Bifurkationspunkt. Dann existieren
eine offene Umgebung U von Lreg = {y | f (y) = 0, y regulärer Punkt von L } und
Konstanten ε > 0, δ > 0, so dass gilt:
i. Der Gauß-Newton-Korrektor in Algorithmus 5.38 konvergiert für jeden Startpunkt
y 0 ∈ U gegen einen Punkt y ∞ ∈ L.
ii. Die Abschätzungen des Satzes 5.39 bleiben für y 0 , y 1 , y ∞ gültig.
iii. In der Umgebung U existiert ein Kegel K ⊂ U mit
K = {y | y = y ∗ + [y (s0 ) + z]s } für 0 < |s| < ε und z2 < δ.
In Abbildung 5.16 sind die sich in y ∗ schneidenden Lösungszweige L und L mit der Um-
gebung U und dem Kegel K dargestellt. Um vom letzten bestimmten Kurvenpunkt y j
während der Fortsetzung stets in der Kegelmenge zu verbleiben, wird ein „Überspringen
des Bifurkationspunktes“ y ∗ empfohlen: Mit hinreichend großer Fortsetzungsschrittweite
ist ein Prädiktorwert y P für den nächsten Kurvenpunkt y j+1 so zu bestimmen, dass er
wiederum im Kegel K liegt. Dafür empfehlen sich besonders die in Abschnitt 5.2.1 an-
geführten Prädiktoren hoher Ordnung unter Benutzung zurückliegender Kurvenpunkte.
Die algorithmische Umsetzung überlassen wir jedoch dem interessierten Leser.
Führen wir einige Eigenschaften von ψH an, um sie als Testfunktion einsetzen zu können:
Satz 5.60
Es sei f ∈ C r (D × Λ), r ≥ 2. y ∗ = (x∗ , λ∗ ) gegeben mit f (y ∗ ) = 0.
i. ψH : D × Λ → R ist eine glatte reellwertige Funktion.
ii. Falls y ∗ Hopf-Punkt ist, so ψH (y ∗ ) = 0.
iii. Bei Parameterfortsetzung nach λ wechselt Re ψH (y) für λ = λ∗ das Vorzeichen.
Eigenschaft (ii) folgt ohne Beschränkung der Allgemeinheit für einen Hopf-Punkt aus
μ2 (y ∗ ) = μ1 (y ∗ ) mit Re μ1 (y ∗ ) = 0 wegen μ1 (y ∗ ) + μ2 (y ∗ ) = 2Re μ1 (y ∗ ) = 0. Ver-
5.3 Stabilitäts- und Bifurkationsanalyse 281
mittels der Transversalitätsbedingung (3.19) des Satzes 3.8 zeigt man unmittelbar, dass
d ∗ ∗
dλ Re ψH (x(λ), λ) = 0 für λ = λ gilt. Ist y ein Falten-, Heugabel- oder transkritischer
Bifurkationspunkt mit μ1 (y ) = 0, so ist zusätzlich zu fordern, dass μi (y ∗ ) = −μk (y ∗ )
∗
Satz 5.62
Die Matrix A besitze die Eigenwerte μ1 , μ2 , . . . , μn . Dann hat die Matrix A % A die
Eigenwerte μi μk und die Matrix 2A % I die Eigenwerte μi + μk , wobei i = 2(1)n,
k = 1(1)i − 1, und I die Einheitsmatrix ist.
ergibt. Wir können damit die Testfunktion (5.87) für Hopf-Bifurkation in der Darstellung
angeben, die das Produkt aller Eigenwerte von 2Dx f (y) % I liefert.
Beispiel 5.63
⎛ ⎞
2 2 7
⎜ ⎟
A = Dx f (y ∗ ) = ⎜
⎝−5 −5 −7⎟
⎠ mit Eigenwerten μ1,2 = ±7i, μ3 = −3
−2 5 0
Für große Dimension n der DGL ist der numerische Aufwand T (n) zur Determinanten-
berechnung von B = 2A % I allerdings beträchtlich. Nutzt man die LU-Zerlegung der
m × m−Matrix B, so ergibt sich wegen m = n(n − 1)/2 asymptotisch
3
1 1 1 2 1 6
T (n) ≈ m3 ≈ n ≈ n ,
3 3 2 24
5.4 Aufgaben
Aufgabe 5.1
Betrachten Sie für den Parameter s ∈ R folgendes Differenzialgleichungssystem:
a) Zeichnen Sie ein Phasenportrait dieses Systems für [−2, 2] × [−2, 2].
b) Bestimmen Sie sämtliche Gleichgewichtslösungen (Ruhelagen, stationäre Lösungen)
des Differenzialgleichungssystems. Charakterisieren Sie diese Punkte nach Hyperbo-
lizität und Senke-Sattel-Quelle-Eigenschaft.
Aufgabe 5.2
Bestimmen Sie sämtliche Gleichgewichtslösungen des Differenzialgleichungssystems
ẋ1 = x2 , ẋ2 = x1 + x21 .
Aufgabe 5.3
Untersuchen Sie sämtliche Gleichgewichtslösungen der Differenzialgleichung
ẋ = x · (x3 − x − λ)
mit Parameter λ ∈ R daraufhin, ob sie hyperbolisch, Sättel, Quellen oder Senken sind!
Welcher Zusammenhang besteht zum Regularitätsbegriff?
Aufgabe 5.4
Bestimmen Sie sämtliche Lösungen der Gleichung f (x, λ) = 0 zu gegebenem Parame-
ter λ ∈ R, und entscheiden Sie, ob diese regulär oder singulär sind. Dabei ist jeweils
x = xx12 ∈ R2 .
x21 − λ2 1
a) f (x, λ) = für λ = 0, , 1.
x2 + λ − 1
2 2 2
2x21 − 4 + λ · (x1 + x2 )
b) f (x, λ) = für beliebiges λ ∈ R.
2x22 − 4 + λ · (x1 + x2 )
Aufgabe 5.5
Beweisen Sie, dass unter den Voraussetzungen des Satzes 5.24
a) der klassische Prädiktor die Approximationsordnung 1,
b) der Tangenten-Prädiktor die Approximationsordnung 2,
c) der Sekanten-Prädiktor die Approximationsordnung 1
besitzt.
284 5 Numerik der Gleichgewichtslösungen
Aufgabe 5.6
Entwickeln Sie in Analogie zu Formel (5.27) einen Taylor-Prädiktor, der den Prädiktor-
punkt xP bei Kenntnis der 1. und 2. Ableitung x (λj−1 ) und x (λj−1 ) bei λ = λj−1
ermittelt. Geben Sie Berechnungsvorschriften für x (λj−1 ) und x (λj−1 ) an, und be-
stimmen Sie die Approximationsordnung dieser Prädiktorformel. Bewerten Sie den nu-
merischen Aufwand dieser Formel!
Aufgabe 5.7
Entwickeln Sie eine MATLAB-Funktion continuation für Algorithmus 5.28 zum
Prädiktor-Korrektor-Verfahren mit klassischem Prädiktor bei natürliche Parametrisie-
rung.
Aufgabe 5.8
√
Zur Bestimmung der Quadratwurzel x = λ, λ > 0 soll das Prädiktor-Korrektor-
Verfahren auf das Nullstellenproblem
f (x, λ) = x2 − λ = 0 , a≤λ≤b,
angewendet werden.
a) Notieren Sie die Formeln für den Tangenten-Prädiktor und den Newton-Korrektor.
b) Starten Sie mit λ0 = a = 1, x0 = 1, und bestimmen Sie numerisch für 1 ≤ λ ≤ 5
√
die Werte x = λ mit dem Fortsetzungsverfahren und den Schrittweiten s = 1,
s = 2, s = 4.
c) Vergleichen Sie die Effizienz der drei Rechnungen, und versuchen Sie, die getroffene
Aussage zu verallgemeinern.
Aufgabe 5.9
a) Ermitteln Sie alle nichtnegativen Gleichgewichtslagen x = (x1 , x2 )T , d. h. mit
x1 , x2 ≥ 0, des DGL-Systems
ẋ1 = x1 · (s − x21 ) , ẋ2 = x2 · λ − (x22 − 1)2
Aufgabe 5.10
Welche sind die regulären Lösungspfade der Gleichgewichtslösungen von
ẋ = x · (x3 − x − λ) , λ ∈ [−1, 1] ?
Aufgabe 5.11
Untersuchen Sie die Gleichgewichtslage y 0 = (x01 , x02 , λ0 ) = (0, 0, 0) des Systems
daraufhin, ob sie regulär, singulär bzw. Umkehrpunkt ist. Führen Sie dabei notwendige
Fallunterscheidungen durch!
Aufgabe 5.12
Für die Pseudo-Bogenlängen-Parametrisierung der Kurve y = y(s) nach Algorithmus
5.34 wird der normierte Tangentenvektor y (sj ) im Punkt sj benötigt.
a) Geben Sie eine Methode zur Berechnung von y (sj ) mit dem richtigen Vorzeichen
an, die die LU-Zerlegung benutzt!
b) Entwickeln Sie eine MATLAB-Funktion pseudoarclength zur Fortsetzung mit Pseu-
do-Bogenlängen-Parametrisierung gemäß Algorithmus 5.34 unter Benutzung des
Tangenten-Prädiktors und des vereinfachten Newton-Korrektors.
c) Erproben Sie diese Funktion anhand der Aufgabe 5.9.
Aufgabe 5.13
Das DGL-System von L. Chua wird im R3 durch
⎧
α · (y − x − f (x)) ⎪
ẋ = ⎨b · x + a − b für x ≥ 1
⎪
ẏ = x−y+z mit f (x) = a · x für |x| < 1
⎪
⎪
ż = −β · y ⎩b · x − a + b für x ≤ −1
Aufgabe 5.14
Entwickeln Sie eine MATLAB-Funktion gaussnewton zur Gauß-Newton-Fortsetzung ge-
mäß Algorithmus 5.38 unter Benutzung des Sekanten-Prädiktors und des (vereinfachten)
Gauß-Newton-Korrektors.
286 5 Numerik der Gleichgewichtslösungen
Aufgabe 5.15
Das Differenzialgleichungssystem
ẋ1 = ε · x1 + x21
ẋ2 = x2
ẋ3 = −x3
Aufgabe 5.16
Die Dynamik eines einfachen Jäger-Beute-Ökosystems mit skalierten Populationszahlen
x1 > 0 und x2 > 0 wird durch die Differenzialgleichungen
ẋ1 = x1 · (λ + x1 ) · (1 − x1 ) − 3x1 · x2
ẋ2 = −2λ · x2 + x1 · x2
Aufgabe 5.17
Programmieren Sie in MATLAB eine Funktion B = bialt(A) zur Bestimmung des
bialternierenden Produkts B = 2A % I der Matrix A ∈ Rn×n .
a) Überprüfen Sie anhand der Testmatrizen A = magic(n), n = 3, 4, 5, . . . aus MATLAB
und selbst gewählter Matrizen A die Richtigkeit des Programms.
b) Verifizieren Sie mit den Testmatrizen aus MATLAB
A = magic(n) − magic(n)T , n = 3, 4, . . .
und den Funktionen eig(A), eig(B), det(B) die Aussagen des Satzes 5.62 über die
Eigenwerte von B.
c) Vergleichen Sie mit selbst gewählten n und Testmatrizen A den Rechenaufwand, ge-
messen in der Zahl der Gleitpunkt-Operationen (Flops), zur Bestimmung aller Ei-
genwerte über eig(A) mit der Zahl der Flops bei det(bialt(A)). Versuchen Sie eine
theoretische Aussage zur Zeitkomplexität T (n) für beide Varianten.
6 Numerik periodischer Lösungen
Übersicht
6.1 Periodisch erregte Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
6.2 Autonome Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306
6.3 Die Poincaré-Abbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318
6.4 Lösungsfortsetzung und Bifurkationsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
6.5 Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358
sei ein Grenzzykel gemäß Kapitel 3. Dann ist der Orbit γ isoliert, d. h. es existiert eine
Umgebung U (γ), die keine weiteren periodischen Orbits enthält.
1.5
1
x3
0.5
Beispiel 6.1
Für feste Parameterwerte ε > 0 und ω > 0 besitzt das nichtlineare autonome System
ẋ1 = εx1 − ωx2 − x1 (x21 + x22 ), ẋ2 = ωx1 − εx2 − x2 (x21 + x22 ) (6.2)
√ T
zum Anfangswert x0 = ( ε, 0) einen isolierten periodischen Orbit mit der Darstellung
√
ϕt (x0 ) = ε(cos ωt, sin ωt)T ,
wie man leicht nachrechnet. Dagegen hat bei vorgegebenem ω > 0 das lineare System
ẋ1 = −ωx2 , ẋ2 = ωx1 (6.3)
zu x0 = (c, 0) mit beliebig gewähltem c ∈ R stets einen periodischen Orbit
ϕt (x0 ) = c (cos ωt, sin ωt)T, so dass keiner dieser Orbits isoliert ist.
Falls ϕt (x) periodisch mit Periode T > 0 ist, so ist aufgrund der Translationsinvarianz
zu jedem festen τ ∈ R auch ϕt+τ (x) periodisch. Dann gilt
ϕt+T (x) = ϕt (x) ∀t ∈ R. (6.4)
Die Phasenkurve γ eines Zyklus ist zudem geschlossen und einfach zusammenhängend
(doppelpunktfrei), wie in Abbildung 6.1 dargestellt.
Bemerkung 6.2
Existenz- und Eindeutigkeitsaussagen über periodische Orbits allgemeiner n-dimensio-
naler nichtlinearer Systeme (5.1) mit numerisch leicht überprüfbaren Voraussetzungen
sind nicht verfügbar. Andererseits schränken spezielle Zusatzannahmen die Problemklas-
se meist stark ein. Typische Sätze mit hinreichenden Bedingungen für ebene Systeme in
R2 liefert die Poincaré-Bendixson-Theorie, die man u. a. bei Perko (1996) findet. Eine
Verallgemeinerung auf Systeme in Rn stellt der Satz von R. A. Smith dar (vgl. Reitmann
(1996)), dessen Voraussetzungen jedoch im Allgemeinen schwer verifizierbar sind. In der
Umgebung eines Hopf-Bifurkationspunktes garantiert der Satz 3.8 von E. Hopf ebenfalls
die Existenz eines Grenzzykels.
6.1 Periodisch erregte Systeme 289
Um die Problemklasse nicht von vornherein einzuschränken, wollen wir deshalb die Exis-
tenz eines Grenzzykels stets voraussetzen, sobald dies erforderlich wird.
Wegen Voraussetzung i. ist offenbar x∗ ∈ C r+1 (R). Zudem genügt es nach Voraussetzung
ii., die Aufgabe auf einem Intervall I = [t0 + T, t0 ] zu betrachten. wobei stets t0 = 0
gesetzt werden kann. Denn ist x∗ (t) für t ∈ [0, T ] bekannt, so kann die Lösung für alle
t ∈ R periodisch fortgesetzt werden. Betrachten wir drei typische praxisnahe Beispiele:
Beispiel 6.4
1. Die Duffing-Van-der-Pol-Gleichung (vgl. Abraham und Shaw (1989), Lynch (2001))
mit α, β, δ, λ, ω > 0
ẍ + δ ẋ − βx + αx3 = λ · cos(ωt)
beschreibt ein periodisch angetriebenes Pendel mit kubischer Rückstellkraft. Mit der
Auslenkung x1 = x und der Geschwindigkeit der Masse x2 = ẋ ergibt sich das System
mit der Erregungsperiode T0 = 2πω
und nehmen vorerst an, dass (6.7) zu jedem s ∈ D eine auf I eindeutige Lösung x(t, s)
besitzt. Die geforderte Periodizitätsbedingung x(T, s) = x(0, s) wird damit im Allge-
meinen nicht zu erfüllen sein. Definieren wir deshalb die Differenzfunktion g : D → D
mit
so löst x(t, s∗ ) mit s∗ ∈ D genau dann das Randwertproblem (6.6), wenn der n-dimensio-
nale Vektor s = s∗ eine Lösung des Gleichungssystems
g(s) = 0, s ∈ D ⊂ Rn (6.9)
6.1 Periodisch erregte Systeme 291
ist. Damit wird das Schwingungsproblem für eine reelle Vektorfunktion formal auf ein
endlich dimensionales Nullstellenproblem in Rn reduziert, wofür leistungsfähige Verfah-
ren verfügbar sind (vgl. Hoffmann et al. (2005), Kapitel 21).
Um den gesamten Integrationsaufwand für das Randwertproblem niedrig zu halten, set-
zen wir ein überlinear konvergentes Verfahren zur Gleichungslösung ein. Das Newton-
Verfahren für das Gleichungssystem (6.9) lautet in der Standardform
Um hieraus einen Algorithmus zu entwickeln, sollten wir zuerst folgende Fragen klären:
Beantworten wir die erste Frage, indem wir eine Lösung x(t, s) des AWP (6.7) in die
DGL einsetzen
∂x
(t, s) = f (x(t, s), t), x(0, s) = s.
∂t
Differenzieren wir diese Gleichungen nach den Anfangswerten s, so erhalten wir mit der
Glattheitsvoraussetzung ein AWP für die Matrixfunktion X(t, s) = ∂x ∂s (t, s)
∂ ∂x ∂f ∂x ∂x
(t, s) = (x(t, s), t) · (t, s), (0, s) = In . (6.12)
∂t ∂s ∂x ∂s ∂s
Zur Vereinfachung der Notation führen wir nun folgende Begriffe ein:
292 6 Numerik periodischer Lösungen
∂
Ẋ = A(t, s) · X, Ẋ = X(t, s) (6.13)
∂t
Wegen der Darstellung (6.12) für die gesuchte Matrix gilt offenbar
∂x
X(t, s) ≡ (t, s), (t, s) ∈ I × D,
∂s
womit sich die gesuchte Ableitung g (sk ) des Newton-Verfahrens zu
ergibt. Die Hauptfundamentalmatrix X(t, s) kann also durch eine simultane Integration
des linearen Variationssystems (6.14) gewonnen werden, womit sich am Intervallende die
Newton-Matrix g (sk ) ergibt. Der Algorithmus 6.6 des einfachen Schießverfahrens (sim-
ple shooting) liefert zu vorgegebener Startnäherung s0 ∈ Rn und Toleranz tol in Schritt
1 eine Lösung s∗ des Gleichungssystems. Mit dem Startvektor x∗ (0) = s∗ gewinnen wir
durch Integration des AWP in Schritt 2 anschließend die gesuchte periodische Lösung
x∗ (t) = x(t, s∗ ).
Um die Fragen 2 und 3 zu beantworten, erinnern wir uns daran, dass ein Gleichungssystem
g(s) = 0 mit dem Newton-Verfahren lokal eindeutig lösbar ist, wenn die Lösung s∗
regulär ist (vgl. Hoffmann et al. (2005), Kap.21). Den entsprechenden Begriff für die
Lösung x∗ (t) des Randwertproblems liefert
3. Return s∗
Die Eindeutigkeit der Null-Lösung z bedeutet, dass die Linearisierung nicht singulär
ist, womit numerische Verfahren wie das Newton-Verfahren anwendbar werden. Jede
reguläre Lösung x∗ (t) ist insbesondere lokal eindeutig (auch: geometrisch isoliert), d. h.
es existiert eine Konstante r > 0 , so dass in einer Umgebung U [x∗ ; r] := {x ∈ C(I) |
supt∈I x(t) − x∗ (t) ≤ r} um die Lösung keine von x∗ (t) verschiedene Lösung des
Randwertproblems existiert. Für derartige Lösungen findet man bei Keller (1976) den
Satz 6.8
Die reguläre Lösung x∗ (t) erfülle die Voraussetzungen 6.3 mit f ∈ C 2 (I × D) und der
Lipschitz-Konstanten L := supI×D |Dx f (t, x)|. Dann existiert eine Umgebung
K[s∗ ; ] = {s ∈ D | s − s∗ ≤ }, mit := re−LT
des Anfangswertes s∗ = x∗ (0) mit folgenden Eigenschaften:
i. Das AWP (6.7) besitzt zu jedem s ∈ K[s∗ ; ] eine eindeutige Lösung x(t, s) ∈ C 1 (I).
ii. Die bei t = 0 normierte Fundamentalmatrix X(t, s) existiert als Lösung von (6.14)
und genügt der Identität
294 6 Numerik periodischer Lösungen
∂x
X(t, s) ≡ (t, s), (t, s) ∈ I × K[s∗ ; ].
∂s
iii. x∗ (t) = x(t, s∗ ) ist genau dann eine reguläre Lösung des Randwertproblems (6.6),
wenn s∗ = x∗ (0) reguläre Lösung des Gleichungssystems g(s) = 0 ist.
Dieser Satz garantiert die Durchführbarkeit des Schießverfahrens 6.6, wenn nur die Start-
näherung s0 hinreichend nahe der Lösung s∗ gewählt wird. Aussage iii. sichert die lokale
quadratische Konvergenz der Startwerte sk → s∗ des Newton-Verfahrens auf Grund des
Satzes 5.8.
π−periodische Erregungsschwingung
1.5
4−fach subharmonische Lösung
x(t)
0.5
−0.5
−1
Abb. 6.2 System (6.17) – Erregungsschwingung sowie 2-fach und 4-fach subharmonische Sys-
temantworten
Beispiel 6.9
Das folgende 2-fach subharmonisch reagierende System beschreibt ein elektrisches Netz-
werk, das bei harmonischer Erregung als Systemantwort eine subharmonische Schwin-
gung erzeugt. Die Modellgleichung von E. Philippow und W. Büntig (vgl. Philippow und
Büntig (1992)) lautet
ẋ1 = x2 , x1 (0) − x1 (T ) = 0
(6.17)
ẋ2 = ε(1 − x21 − x22 )x2 − 2bx1 x2 − x1 + B̂ sin 2t, x2 (0) − x2 (T ) = 0
6.1 Periodisch erregte Systeme 295
1.5
0
x(t)
−1
−2
π−periodische Erregungsschwingung
2π
1
s1
0
4π 2π
−1
−2
−3 3π
−4
−0.5 0 0.5 1 1.5 2 2.5 3
ε
Abb. 6.4 (ε, s1 )-Diagramm der periodischen Lösungen des Systems (6.17)
hinaus existieren aber auch 3-fach bzw. 4-fach subharmonische Lösungen. Die Abbil-
dungen 6.2 und 6.3 zeigen diese Schwingungen. Betrachten wir die 3π-periodische Lö-
sung, deren Anfangswert s1 = x1 (0) in Abhängigkeit vom Parameter ε in Abbildung 6.4
durch eine geschlossene schwarze Kurve dargestellt ist. Der Versuch einer Lösungsfort-
setzung nach dem Kontrollparameter ε, ausgehend von ε = 0.36 und dem Startpunkt
s0 = x(0) = (0.38697629, 0.09266292)T, scheitert mit dem Schießverfahren schon nach
wenigen Fortsetzungsschritten. Grund hierfür ist offenbar ein „stark instabiles“ Verhalten
der periodischen Lösungen, das zum Versagen jedes numerischen Integrationsverfahrens
bereits vor Erreichen des Intervallendes T = 3π führt.
296 6 Numerik periodischer Lösungen
6.1.2 Stabilitätsanalyse
1.5
1.5 Γ
2
1 (0,s1) 1.0603
0.6111
Γ1 0.5
2
0
x
2
x
(0,s2)
−0.5 −0.5
−1 −1
−1.5 −1.5
2 1.5
1.5 1
1.027 14
14 0.5 12
0.5 12 0.2413
0 0 10
10 8
x1 −0.5 8 −0.5
6 x1 6
−1 t 4
−1.5 4 −1 t
2 2
0 −1.5 0
Abb. 6.5 Lösungen in der Umgebung der stabilen Lösung Γ1 (links) und der instabilen Lösung
Γ2 (rechts)
Auch für periodische Orbits soll nun ein algebraisches Stabilitätskriterium entwickelt wer-
den. Voraussetzung 6.3 sei erfüllt und die Folge der Anfangsvektoren {sk }, k = 0, 1, 2, . . . ,
in Algorithmus 6.6 konvergiere gegen eine Nullstelle s∗ von g(s) := x(T, s) − s. Wegen
(6.7) ist dann mit x(0, s∗ ) = s∗ die Funktion x(t, s∗ ) eine gesuchte T -periodische Lösung.
Wir betrachten dazu eine benachbarte Lösung x(t, s) des AWP
mit der nach Satz 6.8 garantierten Umgebung K[s∗ ; ]. Für die Differenzfunktion
z(t) := x(t, s) − x(t, s∗ ) gewinnen wir durch Taylor-Entwicklung
A(t + T, s∗ ) = Dx f (x(t + T, s∗ ), t + T )
= Dx f (x(t, s∗ ), t + T ), da x(t, s∗ ) periodisch ist
= Dx f (x(t, s∗ ), t) = A(t, s∗ ) ∀t ∈ R,
darstellen lässt. Damit ist das Verhalten der mit s = s∗ gebildete Matrixfunktion
X(t, s∗ ), die auch Hauptlösungsmatrix genannt wird, für t → ∞ maßgeblich. Die Floquet-
Theorie liefert eine interessante Darstellung für diese Funktion. In Pontrjagin (1965) fin-
det man den vollständigen Beweis des Satzes von Floquet:1
notiert werden. Dabei ist G(t) eine reguläre stetig differenzierbare T -periodische Matrix-
funktion und R ∈ Rn×n eine konstante Matrix.
Für t = 0 ergibt (6.21) die Einheitsmatrix G(0) = I, während die T -Periodizität von
G(t) die konstante Matrix M = X(T, s∗ ) = G(T ) · eT R = eT R liefert:
1
Gaston Floquet (1847–1920), französischer Mathematiker, Arbeiten zur Theorie gewöhnlicher
Differenzialgleichungen.
298 6 Numerik periodischer Lösungen
Worin liegt nun die Bedeutung dieser Matrix? Wegen der T -Periodizität von G(t) erhält
man sofort
woraus induktiv
folgt. Die Monodromiematrix zur k-fachen Periode Tk = k · T ist also gleich der k-ten
Potenz der Monodromiematrix M . Die Störungsfunktion (6.20) erhält damit die Form
bzw. mit t = 0
z(kT ) = M k (s − s∗ ), k = 0, 1, . . . . (6.25)
z(kT ) entsteht also durch eine Vektoriteration mit M , angewandt auf die Anfangsstörung
s − s∗ . Falls t = 0 in Formel (6.24) ist, so erfolgt eine nachträgliche Korrektur von z(kT )
mittels der Matrix X(t, s∗ ). Über das Verhalten von z(kT ) für k → ∞ entscheiden wie
bei der allgemeinen Vektoriteration zk = M zk−1 , k = 1, 2, 3, . . . , zur Approximation
von Eigenwerten einer Matrix M (vgl. dazu Hoffmann et al. (2005), Kapitel 20), die
betragsgrößten Eigenwerte von M . Es gilt
Lemma 6.13
Unter der Voraussetzung 6.3 seien mi die Floquet-Multiplikatoren zu x(t, s∗ ).
i. Ist |mi | = 1 für alle i = 1(1)n, so heißt x(t, s∗ ) hyperbolisch.
ii. Ist |mi | < 1 für alle i = 1(1)n, so ist x(t, s∗ ) asymptotisch Ljapunov-stabil.
iii. Ist |mi | > 1 für ein i, so ist x(t, s∗ ) Ljapunov-instabil.
6.1 Periodisch erregte Systeme 299
1.2 1
x2
1
0.5
0.8
0.6
–1 –0.5 0.5 1
x1
0.4
–0.5
0.2
0 –1
0.4 0.6 0.8 1 1.2 1.4 1.6 1.8
Beispiel 6.14
Das subharmonisch reagierende System aus Beispiel 6.4 mit b = B̂ = 1
ẋ1 = x2 , x1 (0) − x1 (T ) = 0
(6.26)
ẋ2 = ε(1 − x21 − x22 )x2 − 2bx1 x2 − x1 + B̂ sin 2t, x2 (0) − x2 (T ) = 0
besitzt für jeden reellen Parameterwert ε die Lösung x1 (t, s∗ ) = sin t, x2 (t, s∗ ) = cos t.
Durch partielle Ableitung und Einsetzen der Lösung mit s∗ = (0, 1)T berechnen wir die
Jacobi-Matrix
∗ ∗ 0 1
A(t, s ) = Dx f (x(t, s ), t) =
−2ε sin t cos t − 2 cos t − 1 −2ε cos2 t − 2 sin t
und gewinnen so das Variationssystem
d x11 x12 ∗ x11 x12 x11 (0) x12 (0) 1 0
= A(t, s ) · , = ,
dt x21 x22 x21 x22 x21 (0) x22 (0) 0 1
das allerdings nicht analytisch lösbar ist. Numerisch erhalten wir zum Parameterwert
ε = 1.4 mittels eines Runge-Kutta-Verfahrens – die Werte wurden mit dem Standardver-
fahren dsolve von MAPLE mit Genauigeit von 10−7 ermittelt – die Hauptlösungsmatrix
X(t, s∗ ), womit sich bei t = 2π die Monodromiematrix
∗ 0.526710116094 −0.0733313105237
M = X(2π, s ) =
−0.232313402738 0.0326311502789
ergibt. Die Floquet-Multiplikatoren berechnen wir anschließend zu m1 = 0.5590706
und m2 = 0.0002706468, womit Satz 6.13 die asymptotische Stabilität der Lösung
garantiert. In Abbildung 6.6 (rechts) ist das Konvergenzverhalten dreier Phasenkurven
gegen die Lösung x(t, s∗ ) = (sin t, cos t) dargestellt.
300 6 Numerik periodischer Lösungen
Wiederholung dieser Rechnung für weitere Parameterwerte ε ∈ [0.4, 1.8] liefert ein inter-
essantes Stabilitätsverhalten dieser Lösung. In Abbildung 6.6 (links) sind die Absolutbe-
träge |m1 | (blau) und |m2 | (schwarz) der Floquet-Multiplikatoren dargestllt. Offenbar ist
die Lösung für ε < 0.45 instabil und ansonsten asymptotisch stabil. Im Intervall [0.6, 0.8]
werden die Multiplikatoren konjugiert komplex, womit aber kein Stabilitätsverlust ver-
bunden ist. Mit der genauen Bestimmung des kritischen Parameterwertes ε0 ≈ 0.45
werden wir uns in Abschnitt 6.4.3 beschäftigen.
Mittels der Floquet-Multiplikatoren lässt sich die Regularität einer periodischen Lösung
x(t, s∗ ) wesentlich leichter nachweisen als mit der unhandlichen Definition 6.7. Denn mit
der Defektfunktion g(s) := x(T, s) − s lautet die Newton-Matrix g (s) = X(T, s) − In
des Schießverfahrens (6.6) bzw. an der Lösungsstelle s = s∗
Lemma 6.15
Neben Voraussetzung 6.3 mit f ∈ C 2 (I × D) seien alle n Floquet-Multiplikatoren mi von
x(t, s∗ ) verschieden von 1. Dann ist s∗ = x(0, s∗ ) eine reguläre Lösung von g(s) = 0,
und das Newton-Verfahren konvergiert lokal quadratisch gegen s∗ .
σ0 := sk , σj := sk + δj · ej , j = 1(1)n. (6.29)
Die Schritte 1.1 und 1.2 von Algorithmus 6.6 verändern sich damit und liefern das prakti-
kable Schießverfahren 6.16 ohne Nutzung des Variationssystems. Eine erprobte Strategie
wählt zu sk = (sk1 , sk2 , . . . , skn )T die Schrittweiten im k-ten Iterationsschritt zu
√
δj = εM (1 + |skj |), j = 1(1)n, mit Maschinengenauigkeit εM .
6.1 Periodisch erregte Systeme 301
Anders als der Lösungsvektor s∗ werden jetzt die Monodromiematrix M und somit die
√
Floquet-Multiplikatoren nur mit einer maximalen Genauigkeit von εM approximiert.
6.1.3 Mehrfach-Schießverfahren
Die Durchführbarkeit der einfachen Schießverfahren 6.6 und 6.16 ist oft nur in unmittelba-
rer Lösungsnähe gesichert, denn die darin vorkommenden AWP müssen auf dem gesamten
Periodizitätsintervall I = [0, T ] lösbar sein. Der Konvergenzbereich des Schießverfahrens
kann deshalb bei großer Lipschitz-Konstante L und langem Intervall I wegen der Kon-
302 6 Numerik periodischer Lösungen
x x(t; t1 , s1 )
x(t; t0 , s0 ) s3
x(t; s∗0 )
s0 s2
sm−1
s1
s∗0 sm
0
t
t0 t1 t2 t3 ..... tm−1 tm = T
Satz 6.17
Die (hinreichend glatte) Lösung x∗ (t) nach Voraussetzung 6.3 sei regulär. Mit
s∗ = (s∗0 , s∗1 , . . . , s∗m−1 )T gilt:
i. s∗ ist Lösung von F (s) = 0 genau dann, wenn x∗ (t) = x(t; tk , s∗k ), k = 0(1)m − 1,
Lösung des Randwertproblems (6.6) ist.
ii. Eine Lösung s∗ des Gleichungssystems (6.32) ist genau dann regulär, wenn die
Lösung x∗ (t) des Randwertproblems (6.6) regulär ist.
iii. Gleichung (6.32) kann mit dem Newton-Verfahren gelöst werden, das Q-quadratisch
(0) (0) (0)
konvergiert, falls die Startnäherung s(0) = (s0 , s1 , . . . , sm−1 )T hinreichend nahe
∗
bei s liegt.
auf F an. Darin bezeichnet s(ν) die ν-te Newton-Näherung, wogegen sk die k-te Kompo-
nente von s ist. Die Jacobi-Matrix hat wegen (6.32) die zyklisch bidiagonale Blockstruktur
⎛ ⎞
G0 −In 0 ··· 0
⎜ ⎟
⎜ 0 G1 −In ··· 0 ⎟
⎜ ⎟
⎜ . . ⎟ ∂x
⎜
F (s) = ⎜ .. . .. . .. .. ⎟ mit Gk := (tk+1 ; tk , sk ),
⎟ ∂sk
⎜ ⎟
⎜ 0 0 · · · Gm−2 −In ⎟
⎝ ⎠
−In 0 ··· 0 Gm−1
∂x
A(t; tk , sk ) := Dx f (x(t; tk , sk ), t) und Gk = X(tk+1 ; tk , sk ) = (tk+1 ; tk , sk )
∂sk
definiert. Mit diesen Erweiterungen lässt sich aus den Grundalgorithmen 6.6 und 6.16
das Mehrfach-Schießverfahren 6.18 konstruieren. Was ist bei dessen Anwendung zu be-
achten?
304 6 Numerik periodischer Lösungen
Die Durchführbarkeit des Mehrfach-Schießverfahrens ist somit bei hinreichend feiner Zer-
legung von I theoretisch gesichert.
2. Problematisch bleibt die Bestimmung einer Startlösung s0 und der Schießpunkte tk .
Mittels geeigneter Parameterfortsetzung (vgl. dazu Kapitel 5.2) lassen sich in komplizier-
ten Anwendungen die Schießpunkte schrittweise anpassen. Da der arithmetische Aufwand
mit zunehmender Gitterfeinheit rasch ansteigt, sollten möglichst wenige Schießpunkte
verwendet werden. Algorithmusschritt 2.1 zeigt übrigens, dass der numerische Integrati-
onsaufwand gegenüber dem Einfach-Schießverfahren nicht zunimmt. Der Mehraufwand
resultiert lediglich aus den entstehenden größeren linearen Gleichungssystemen. Diese
6.1 Periodisch erregte Systeme 305
sollten mittels LU-Zerlegung mit Pivotisierung gelöst werden, wobei die schwache (spar-
se) Besetzungsstruktur der Jacobi-Matrix bei der Speicherung zu berücksichtigen ist.
3. Mit der ermittelten Lösung s∗ = (s∗0 , s∗1 , . . . , s∗m )T und zugehörigem Lösungsvektor
x∗ (t) := x(t; tk , s∗k ), t ∈ Ik , k = 0(1)m − 1, ergeben sich die Hauptlösungsmatrizen
X(t; tk , s∗k ), k = 0(1)m − 1, in den m Teilintervallen Ik . Man überlegt sich leicht, dass
für beliebiges t ≥ tk die Hauptlösungsmatrix die Produktdarstellung
X(t; t0 , s∗0 ) = X(t; tk , s∗k ) · X(tk ; tk−1 , s∗k−1 ) · · · X(t2 ; t1 , s∗1 ) · X(t1 ; t0 , s∗0 )
besitzt. Für die gesuchte Monodromiematrix M = X(T ; 0, s∗0 ) erhalten wir folglich:
In Algorithmus 6.18 wird das Variationssystem zur genauen Berechnung der Floquet-
Multiplikatoren benutzt. Die Variante mittels Differenzenapproximation aus Algorithmus
6.16 dürfte jedoch insgesamt einfacher umzusetzten sein.
14
10
10
12
10 5
11
10
10
7 9
8
10
8
maxi=1(1)n|mi|
6 p≥12
10
6
4
10 3
2 4
1
2
10
0
10
−2
10
0 0.5 1 1.5 2 2.5 3 3.5
Bogenlänge
Beispiel 6.19
Kommen wir auf das subharmonisch reagierende System aus Beispiel 6.9 mit 3π-perio-
discher Lösung zurück. Abbildung 6.4 zeigt die 1. Komponente s∗1 dieser Lösung in Ab-
hängigkeit vom Parameter ε, die durch eine geschlossene schwarze Kurve dargestellt ist.
Beginnend mit ε = 0.36 und einem Startpunkt s0 = x(0) = (0.38697629, 0.09266292)T
versagen die Einfach-Schießverfahren 6.6 bzw. 6.16 schon nach wenigen Fortsetzungs-
schritten für ε mit einem Floquet-Multiplikator der Größenordnung 104 . Abbildung 6.8
stellt die maximalen Multiplikatoren der Lösungskurve in Abhängigkeit von deren Bo-
genlänge logarithmisch skaliert dar. Setzen wir das Mehrfach-Schießverfahren 6.18 mit
306 6 Numerik periodischer Lösungen
Bemerkung 6.20
Umfangreichere Darstellungen zu diesen und weiteren Verfahrensklassen, wie Finite-Dif-
ferenzenverfahren und Kollokationsverfahren, findet man in der Spezialliteratur Ascher
et al. (1995), Ascher und Petzold (1998), Hermann (2004). Hat man eine gute Lösungs-
näherung s∗k ≈ x∗ (tk ), k = 0(1)m − 1, auf einem hinreichend feinem Gitter {tk } mit
einem dieser Verfahren ermittelt, so lässt sich die Monodromiematrix M stets mittels der
Darstellung (6.35)
bestimmen. Dazu sind auf den Teilintervallen Ik die Hauptlösungsmatrizen X(tk+1 ; tk , s∗k )
durch Integration von (6.34) zu berechnen.
ist wegen der häufig unbekannten Lösungsperiode T ∗ komplizierter als im gerade behan-
delten periodisch erregten Fall. Wir treffen für diese Problemklasse folgende grundlegende
Anders als im periodisch erregten Fall des vorhergehenden Abschnittes sind nun eine
T -periodische Lösung x ∈ C 1 (D) und ihre Periodendauer T > 0 gesucht, die auf dem
Intervall I = [0, T ] dem Zweipunkt-Randwertproblem
T
genügen. Diese Aufgabe lässt sich mittels der Zeittransformation t = 2π τ mit τ ∈ [0, 2π]
dx T T
wegen dτ = 2π ẋ(t) = 2π f (x(τ )) auf das Einheitsintervall transformieren und in der
Form
dx T
= f (x), x(2π) = x(0), 0 < τ < 2π (6.38)
dτ 2π
numerisch leichter bearbeiten, da die unbekannte Konstante T nun lediglich in der DGL
auftritt. Wir wollen diese Darstellung erst im nächsten Abschnitt nutzen und vorerst
bei der untransformierten Aufgabe (6.37) bleiben. Wegen der Translationsinvarianz der
Lösung autonomer DGL (vgl. Abschnitt 2.6) kann jede Lösung x(t; x0 ) = ϕt (x0 ), t ∈ R,
von (6.37) um eine beliebige reelle Phase t0 verschoben werden.
Beispiel 6.22
Das autonome System in R2 mit reellen Parametern λ > 0, ω > 0
ẋ1 = λx1 − ωx2 − x1 (x21 + x22 ), ẋ2 = ωx1 + λx2 − x2 (x21 + x22 ) (6.39)
√
besitzt mit x0 = ( λ, 0)T zu jedem λ > 0, ω > 0 die T -periodische Lösung
√ cos ωt
ϕt (x0 ) = λ ,
sin ωt
die einen Grenzzykel bildet. Offenbar ist mit jedem t0 ∈ R dann auch
√ cos ω(t + t0 )
ψt (x0 ) = ϕt+t0 (x0 ) = λ
sin ω(t + t0 )
Nach Satz 6.8 existiert zu jedem (s, T ) in einer Umgebung von (s∗ , T ∗ ) mit s∗ = x∗ (0)
eine eindeutige Lösung x = x(t; s, T ), t ∈ [0, T ] von (6.40). Definieren wir nun die
Abbildung g: D × R+ → D mit D ⊂ Rn durch
g(s, T ) = 0. (6.42)
308 6 Numerik periodischer Lösungen
Unter Voraussetzung 6.21 ist x(t; s∗ , T ∗ ) genau dann eine periodische Lösung mit Periode
T ∗ , wenn (s∗ , T ∗ ) dieses Gleichungssystem (6.42) löst. Wie im periodisch erregten Fall
definieren wir zu einer Lösung x(t; s, T ) des AWP (6.40) das Variationssystem
Mit der Lösung (s∗ , T ∗ ) der Gleichung (6.42) und x(t; s∗ , t∗ ) erhalten wir daraus ebenfalls
die Hauptlösungsmatrix und die Monodromiematrix
∂x ∂x ∗ ∗ ∗
X(t; s∗ , T ∗ ) = (t; s∗ , T ∗ ), M = X(T ∗ ; s∗ , T ∗ ) = (T ; s , T ). (6.44)
∂s ∂s
Lemma 6.23
Unter Voraussetzung 6.21 ist m1 = 1 stets ein Eigenwert der Monodromiematrix M mit
zugehörigem Eigenvektor v(0) = ẋ(0; s∗ , T ∗ ) = f (s∗ ).
Beweis: Einsetzen der periodischen Lösung x(t; s∗ , T ∗ ) und Differentiation nach t lie-
fert
d d
ẋ(t; s∗ , T ∗ ) = Df (x(t; s∗ , T ∗ )) · x(t; s∗ , T ∗ ) bzw. v̇ = A(t; s∗ , T ∗ ) · v
dt dt
mit der Jacobi-Matrix A(t; s∗ , T ∗ ) := Df (x(t; s∗ , T ∗ )) und der Ableitung
v(t) := ẋ(t; s∗ , T ∗ ), d. h. v genügt dem Variationssystem. Die Hauptlösungsmatrix
X(t; s∗ , T ∗ ) bildet jedoch ein Fundamentalsystem von Lösungen, so dass v(t) als Line-
arkombination ihrer (linear unabhängigen) Spaltenvektoren notiert werden kann:
Beispiel 6.24
Für das DGL-System (6.39) erhalten wir mit der dort angegebenen periodischen Lösung
√ √
x(t; s∗ , T ∗ ) = ( λ cos ωt, λ sin ωt)T die periodische Jacobi-Matrix
∗ ∗ ∗ ∗ −2λ cos2 ωt −ω − λ sin 2ωt
A(t; s , T ) = Df (x(t; s , T )) = .
ω − λ sin 2ωt −2λ sin2 ωt
6.2 Autonome Systeme 309
Man überzeugt sich leicht durch Einsetzen in das Variationssystem, dass die Hauptlö-
sungsmatrix die Form
∗ ∗ e−2λt cos ωt − sin ωt cos ωt − sin ωt e−2λt 0
X(t; s , T ) = = ,
e−2λt sin ωt cos ωt sin ωt cos ωt 0 1
besitzt, also die Floquet-Gestalt X(t; s∗ , T ∗ ) = G(t) · e tR mit den Matrizen
cos ωt − sin ωt −2λ 0
G(t) = und R = .
sin ωt cos ωt 0 0
6.2.2 Phasenbedingungen
Wenden wir uns nun der Lösung der Nullstellenaufgabe g(s, T ) = 0 zu. Mit der partiellen
Ableitung Ds g(s, T ) ist die Matrix G ∈ Rn×n mit
∂x ∗ ∗ ∗
G := Ds g(s∗ , T ∗ ) = (T ; s , T ) − In = M − In (6.45)
∂s
an der gesuchten Lösung stets singulär, denn sie besitzt wegen des Floquet-Multiplikators
m1 = 1 stets den Eigenwert 0. Wäre also selbst T ∗ bekannt, so ist die Nullstelle s∗ von
g(s, T ∗ ) = 0 nicht regulär. Eine Regularisierung kann jedoch durch Einführung einer
zusätzlichen Phasenbedingung erreicht werden. Wir ergänzen dazu das unterbestimmte
System g(s, T ) = 0 mittels der Funktion h : D × R → R durch eine skalare Bedingung
h(s, T ) = 0, die die „Phase“ der Lösungsfunktion festlegt. Das erweiterte System
g(s, T ) = 0, h(s, T ) = 0 (6.46)
besitzt nunmehr n + 1 Gleichungen für die n + 1 Unbekannten (s, T ) ∈ R n+1
. Die Wahl
∂(g, h)
von h soll zudem sichern, dass die erweiterte Jacobi-Matrix am Lösungspunkt
∂(s, T )
(s∗ , T ∗ ) regulär ist. Folgende Phasenbedingungen werden empfohlen:
1. Die einfache Komponentenbedingung von Kubíček und Marek (1983) legt die i-te
Komponente von s durch
h(s, T ) := si − α für ein i ∈ {1, ..., n} (6.47)
mit der Konstanten α ∈ R fest. Abbildung 6.9 zeigt, dass α im Variationsbereich
der Lösungskomponente xi (t; s∗ , T ∗ ) liegen muss, weshalb die Auswahl von α und
i problematisch sein kann. Wählen wir andererseits s∗ so, dass ẋi (0; s∗ , T ∗ ) = 0
wird, so ergibt sich in Abbildung 6.9 die Komponentenbedingung für die Ableitung
von Seydel (1991)
h(s, T ) := fi (s) für ein i ∈ {1, ..., n}, (6.48)
310 6 Numerik periodischer Lösungen
bei der wiederum die Wahl des i entscheidend für die Verfahrenskonvergenz ist.
2. Bei der Poincaré-Bedingung aus Keller (1987), Kubíček und Marek (1983), Seydel
(1991) wird ein nahe der Lösung liegender Startpunkt s0 vorausgesetzt. Nutzt man
eine Parameterfortsetzung, so eignet sich dafür meist der betreffende Prädiktorwert
(vgl. dazu Kapitel 5.1). Mit dem Tangentenvektor ṡ0 = f (s0 ) an das Vektorfeld –
x2 x2 s0
s0
s∗ Γ Γ
s∗
h(s, T ) = 0
h(s, T ) = f1 (s) = 0
x1 x1
α
Abb. 6.9 Komponentenbedingung (links) und Ableitungsbedingung (rechts)
aus Abbildung 6.10 (rechts). Der Korrekturvektor jedes Iterationsschrittes wird also
stets orthogonal zum Tangentenvektor an das Vektorfeld gefordert.
3. Berücksichtigen wir die zu x(0; s0 , T0 ) = s0 gehörende Lösung x0 (t) = x(t; s0 , T0 )
des AWP auf dem gesamten Periodizitätsintervall [0, T ], so lässt sich mit dem Ska-
. /n
larprodukt u , v des Hilbert-Raumes L2 ([0, T ]) eine Orthogonalitätsbedingung
T
für die Abweichung x(t; s, T ) − x0 (t) der gesuchten Funktion formulieren. Nach Ein-
setzen der DGL fordert die integrale Phasenbedingung von E. Doedel Beyn (1991),
Kuznetsov (1995)
6.2 Autonome Systeme 311
x2 x2
f (s∗ )
f (s2 ) f (s1 )
H0
H f (s0 )
f (s0 )
s3
s2
s∗
s1
H1 s2 s1
s∗
s0
H2 s0
Γ
Γ
x1 x1
erhalten. Über die erwünschte Regularität der Lösung (s∗ , T ∗ ) ∈ Rn+1 zeigen wir
folgenden
Satz 6.25
Voraussetzung 6.21 sei erfüllt, und x(t; s∗ , T ∗ ) ist reguläre periodische Lösung, d. h.
m1 = 1 ist geometrisch einfacher Eigenwert von M . Dann gilt für s∗ = x(0; s∗ , T ∗ ):
i. H ist regulär und (s∗ , T ∗ ) eine reguläre Lösung des erweiterten Systems (6.52).
ii. Das Newton-Verfahren konvergiert lokal quadratisch gegen (s∗ , T ∗ ).
312 6 Numerik periodischer Lösungen
Beweisidee: Ersetzt man in (6.49) s0 durch s∗ , so lässt sich für diese „ideale“ Pro-
jektionsbedingung h∗ (s, T ) = f (s∗ )T (s − s∗ ) = 0 die Regularität der zugehörigen
Jacobi-Matrix leicht nachweisen. Man zeigt dazu, dass das homogene lineare Gleichungs-
system
M − In f (s∗ ) σ
· = 0, σ ∈ Rn , τ ∈ R
∗ T
f (s ) 0 τ
nur die triviale Lösung (σ, τ )T = 0 besitzt. Also ist seine Koeffizientendeterminante
verschieden von Null. Wegen der stetigen Abhängigkeit dieser Determinante von s0 ist
dann auch det H = 0 für hinreichend nahe bei s∗ liegende Werte s0 , womit (s∗ , T ∗ ) eine
reguläre Nullstelle von (g, h) ist. Zusammen mit der Glattheit von f folgt daraus die
lokale Konvergenz des Newton-Verfahrens.
Zum entsprechenden Regularitätsnachweis für die integrale Phasenbedingung verweisen
wir auf Doedel et al. (2003). Die Monodromiematrix M aus Formel (6.53) gewinnen wir
als Nebenprodukt der Lösung: Denn konvergieren die Iterierten (sk , Tk ) des Newton-
Verfahrens, so trifft das auch auf die entsprechenden Newton-Matrizen zu. Damit steht
uns eine gute Approximation der Matrix H zur Verfügung. Durch Streichen der letzten
Zeile und Spalte dieser Matrix entsteht G = M − In , woraus wir nach Addition der
Einheitsmatrix In die Monodromiematrix M erhalten.
Wir versuchen nun, den Algorithmus 6.16 des Schießverfahrens ohne Nutzung des Variati-
onssystems mit möglichst geringen Modifikationen auf den autonomen Fall zu übertragen
T
und transformieren dazu das Problem mittels t = 2π τ auf das Standardintervall [0, 2π]
T
ẋ = f (x), x(2π) = x(0), 0 < t < 2π. (6.54)
2π
Die unabhängige Variable haben wir nachfolgend wiederum mit t bezeichnet. Führen
wir die konstante Funktion T (t) = const ein, so ist zu den Näherungen (sk , Tk ) das
transformierte AWP
⎫
ẋ = 2π T
f (x), x(0; sk , Tk ) = sk ⎬
für t ∈ [0, 2π] (6.55)
Ṫ = 0, T (0; sk , Tk ) = Tk ⎭
zu lösen. Die nach Satz 6.8 garantierte Lösung sei x(t; sk , Tk ), T (t; sk , Tk ). Das bestim-
mende Gleichungssystem mit Phasenbedingung (6.49)
g(sk , Tk ) = x(2π; sk , Tk ) − sk = 0
(6.56)
h(sk , Tk ) = f (s0 )T (sk − s0 ) = 0
6.2 Autonome Systeme 313
ist dann mit einem Newton-ähnlichen Verfahren zu lösen. Um auf die Notation von Algo-
rithmus 6.16 zurück zu kommen, bezeichnen wir nun die um eine Komponente erweiterten
Funktionenvektoren xx : [0, 2π] → Rn+1
T
x(t) f (x)
xx(t) := , ff (xx) := 2π mit ff : DD ⊂ Rn+1 → Rn+1
T (t) 0
sowie die konstanten Vektoren in Rn+1 der Einfachheit wegen mit Doppelbuchstaben
s sk ∗ s∗ g(s, T )
ss := mit ssk := , ss := und gg(ss) := .
T Tk T∗ h(s, T )
Mit diesen Vektoren und Funktionen kann Algorithmus 6.16 leicht angepasst werden,
indem statt der n Systeme nun stets n + 1 Gleichungen, definiert durch (6.56), (6.57)
und (6.58), gelöst werden. Zu Startnäherungen s0 und T0 liefert der Algorithmus einen
Punkt s∗ des periodischen Orbits und zugleich dessen Periode T ∗ bis auf vorgegebene
Genauigkeit tol. Schritt 3 in Algorithmus 6.16 ist abzuändern zu:
Die Monodromiematrix M kann auch hier nur mit einer maximalen Genauigkeit von
√
εM mit der relativen Maschinengenauigkeit εM approximiert werden.
Beispiel 6.26
Das autonome System in R3 von W. F. Langford aus Beispiel 5.1
0.8 1.4
0.78
1.2
0.76
0.74 1
0.72
0.8
z 0.7 z
0.6
0.68
0.66 0.4
0.64
0.2
0.62
0.6 0 –1
–0.6 –1
–0.6 –0.4 –0.5
–0.4 –0.2 –0.5
–0.2 0 0 0 0
0.2 0.2 x 0.5 0.5 x
y 0.4 0.4 y
0.6 0.6 1 1
Abb. 6.11 Einschwingen der periodischen Lösungen für = 2.0 (links) und = 0.7 (rechts)
Die Phasenraum-Darstellung der Lösungen in Abbildung 6.11 lässt den langsamen Ein-
schwingprozess für den Parameterwert = 0.7 erkennen. Die exakte Periodendauer
∗
Tex = 2π/ω = 1.795 195 802 051 310... ist bekannt und kann damit zur Kontrol-
le der Resultatgenauigkeit genutzt werden. Algorithmus 6.16 liefert mit Startwerten
s0 = (1, 0, 1)T , T0 = 2.0 und Genauigkeitsschranke tol = 10−9 die Werte in Tabelle 6.1.
Während die Periodendauer T ∗ als 4. Lösungskomponente hier mit hoher Genauigkeit
approximiert wurde, wird der Standardmultiplikator m1 = 1 (der stets als Kontroll-
wert dienen kann) nur auf sechs Dezimalstellen geliefert. Die beiden restlichen Floquet-
Multiplikatoren m2,3 sind in diesem Beispiel stets konjugiert komplex.
Die technische Umsetzung der integralen Phasenbedingung (6.51) gestaltet sich schwie-
riger als die soeben angewandte Poincaré-Bedingung. Da sie in der Regel auf ein zuver-
lässigeres Lösungsverfahren führt, notieren wir sie nun ebenfalls für die transformierten
Gleichungen (6.54):
2π
Ist die darin auftretenden benachbarte Lösung x0 (t) selbst 2π-periodisch – wenn diese
z. B. durch eine Lösungsfortsetzung ermittelt wurde – so ergibt partielle Integration in
(6.60) das zu lösende Randwertproblem mit einer Integralnebenbedingung
2π
T
ẋ = f (x), x(2π) = x(0), x(t)T ẋ0 (t) dt = 0, 0 < t < 2π. (6.61)
2π
0
Mit einem kleinen Trick gelingt es, diese Aufgabe in die Standardform für Zweipunkt-
Randwertprobleme zu überführen. Wir definieren dazu den neuen Funktionenvektor
y : [0, 2π] → Rn+2 durch
t
Bei gegebener Startlösung y0 (t) = (y10 (t), y20 (t), . . . , yn0 (t))T liefert deren Einsetzen
in die DGL die hier benötigten Ableitungen ẏi0 (t). Auf die Aufgabe (6.62) können dann
die bekannten Standardverfahren aus Hoffmann et al. (2006) angewendet werden. Die
Umsetzung dieses Zuganges wird dem Leser überlassen.
6.2.4 Stabilitätsanalyse
Anders als im speziellen Beispiel 6.26 hängt die Periodendauer T ∗ in autonomen Syste-
men oft vom Kontrollparameter ab. So ensteht das Problem, dass benachbarte periodische
Orbits {ϕt (s∗ )} und {ϕt (s)} verschiedene Periodendauer T ∗ und T haben können. Für
das mathematische Pendel mit der Gleichung
ẍ + sin x = 0 bzw. als System ẋ1 = x2 , ẋ2 = − sin x1 (6.63)
∗ ∗ T ∗
sind in Abbildung 6.12 zahlreiche periodische Orbits mit s = (α , 0) , 0 < α < π in
blau dargestellt.
316 6 Numerik periodischer Lösungen
1.5
0.5
x2
−0.5
−1
−1.5
−2
−3 −2 −1 0 1 2 3
x
1
Abb. 6.12 Verlauf der Orbits in (6.63) zu identischen Zeitpunkten
Für kleine Auslenkung α∗ wird (6.63) approximativ durch die harmonische Gleichung
mit Periodendauer T ∗ = 2π beschrieben, während für α∗ → π die Periode T ∗ gegen
Unendlich tendiert, denn (±π, 0)T sind Gleichgewichtspunkte. Durch s∗ = (α∗ , 0) ver-
laufe der in Abbildung 6.12 mit schwarzen Punkten gekennzeichnete Orbit. Der Abstand
ϕt (s) − ϕt (s∗ ) des benachbarten periodischen Orbits durch s = (α, 0) (schwarz
eingezeichnet) wächst für t → ∞ sogar über den Wert α∗ an. Obwohl beide Orbits im
Phasenraum geometrisch nahe beieinander liegen, kann {ϕt (s∗ )} nicht Ljapunov-stabil
sein! Wir betrachten deshalb den geometrischen Abstand zweier Phasenkurven, ohne aber
dieselbe Zeit t für je zwei Punkte zu fordern. Es sei γ ∗ = {x ∈ D|x = ϕt (s∗ ), t ≥ 0}
der (nicht notwendig periodische) positive Semiorbit durch s∗ ∈ D. Zu s ∈ D bezeichnet
dann
d(s, γ ∗ ) := inf s − ϕt (s∗ ) (6.64)
t≥0
den geometrischen Abstand des Punktes von γ ∗ im Phasenraum. Damit gewinnen wir
x2 ε
Abstand d(s, γ ∗ )
∗
γ ε s∗
s
s
ft (s) γ∗
x1
ε ε
Abbildung 6.13 demonstriert den Begriff der orbitalen Stabilität in der Phasenebene.
Wegen
Beispiel 6.29
Wir betrachten die Ergebnisse aus Beispiel 6.26 für den periodischen Orbit der Periode
∗
Tex = 2π/ω = 1.795 195 802 051 310... Während der Satz von Andronov & Witt für
den Kontrollparameter = 2.0 die asymptotische Stabilität garantiert, ist der Orbit für
die Parameterwerte = 0.6 und = 0.25 instabil (vgl. Tabelle 6.1). Genauere Rech-
nung liefert für den „kritischen“ Wert = 0.615 444 65... Floquet-Multiplikatoren mit
m1 = 1, |m2,3 | = 1, so dass mit dem Satz dann keine Stabilitätsaussage möglich ist.
318 6 Numerik periodischer Lösungen
ẋ = f (x), f : D ⊆ Rn → Rn (6.65)
x3
P (x)
W = Σ ∩ Uδ (x0 )
x
Σ
x0
x2
T , die eine gegebene Anfangsbedingung ϕ0 (x0 ) = x0 erfüllt. Wir legen nun, wie in
Abbildung 6.14 dargestellt, eine Hyperebene Σ durch x0 , die senkrecht auf dem Orbit
γ = {ϕt (x0 )} steht und betrachten Lösungen ϕt (x), die an Punkten x ∈ Σ aus einer δ-
Umgebung W = Σ ∩ U δ (x0 ) starten. Liegt x hinreichend nahe bei x0 , so ist zu erwarten,
dass ϕt (x) die Hyperebene ebenfalls nahe x0 in einem Punkt P (x) schneiden wird. Die
6.3 Die Poincaré-Abbildung 319
Abbildung x → P (x) wurde von Henri Poincaré 2 bereits 1881 eingeführt und später
nach ihm benannt. Die Existenz und stetige Differenzierbarkeit dieser Abbildung wird
z. B. von Perko (1996) nachgewiesen. Die benötigte Rückkehr-Zeit τ (x) hat folgende
Eigenschaft:
Satz 6.30
Es sei D ⊂ R eine offene Menge und f ∈ C 1 (D). Die periodische Lösung ϕt (x0 ) habe
die Periode T und der durch diese Lösung definierte Orbit γ liege in D.
Σ = {x ∈ Rn | f (x0 )T (x − x0 ) = 0 } (6.66)
beschreibt die zu γ orthogonale Hyperebene bei x0 . Dann existieren ein δ > 0 und eine
eindeutig bestimmte Funktion τ (x), definiert und stetig differenzierbar für alle x aus
einer δ-Umgebung U δ (x0 ), so daß τ (x0 ) = T ist und ϕτ (x) (x) ∈ Σ ∀ x ∈ U δ (x0 ) gilt.
Die Rückkehr-Zeit τ (x) ist also diejenige Zeit, die ein bei x ∈ W beginnender Orbit
ϕt (x) benötigt, um wieder in Σ anzukommen. Dieses τ (x) hängt im Allgemeinen vom
Startpunkt x ab und muss nicht identisch mit der Periode T von γ sein. Allerdings kon-
vergiert τ (x) → T für x → x0 . Die lokal definierte eindeutige Abbildung P : W → Rn
mit W = U δ (x0 ) ∩ Σ und
heißt lokale Poincaré-Abbildung (auch: first return map) für den Orbit γ an der Stelle
x0 . Folgende Eigenschaften lassen sich für die Abbildung P nachweisen:
1. P ∈ C 1 (W ). Falls f sogar analytisch in D ist, so ist auch P analytisch in W .
2. P hat eine stetig differenzierbare inverse Abbildung P −1 ; damit ist P ein C 1 -
Diffeomorphismus (d. h. eine C 1 -Funktion mit C 1 -Inverser).
3. x ∈ Σ ist ein Fixpunkt von P , d. h. P (x) = x genau dann, wenn ϕt (x) ein periodi-
scher Orbit von (6.66) ist.
Der Begriff der Poincaré-Abbildung lässt sich auch auf periodische Orbits verallgemei-
nern, die auf den in Abschnitt 2.7.3 eingeführten Mannigfaltigkeiten verlaufen: Es sei
γ(t) ein periodischer Orbit eines Flusses ϕt mit Periode T auf einer Mannigfaltigkeit M .
Weiterhin sei x0 ein Punkt des Orbits mit x0 = γ(0) und Σ ein lokaler transversaler
Schnitt, d. h. eine Untermannigfaltigkeit der Kodimension 1, transversal zu γ (also ist
γ (0) nicht tangential zu Σ ). Es sei D ⊂ M × R ein offenes Gebiet, auf dem der Fluss
ϕt definiert ist.
2
Mit epochalen Werken zu mathematischen Methoden der Himmelsmechanik gilt Jules Henri
Poincaré (1854–1912) als einer der herausragenden Mathematiker und theoretischen Astronomen
unserer Zeit und zugleich als Pionier der Theorie dynamischer Systeme.
320 6 Numerik periodischer Lösungen
W1 Σ W2
x
P (x)
ist eine globale Poincaré-Abbildung mit der Rückkehrzeit τ (x). Zur Anwendung notieren
wir periodisch erregte DGL-Systeme als autonome DGL:
P (x0 ) θ
θ = θ0
x0
Σ
0
θ = θ0
θ=t
definieren, da wegen θ̇ = 1 alle Lösungen Σ transversal schneiden (vgl. Abb. 6.16). Die
Poincaré-Abbildung P : Σ → Σ wird nun definiert durch
worin ϕt der Fluss von (6.68) ist und π seine Projektion auf die x-Komponente bedeutet.
Offenbar ist die Zeit zwischen zwei Abbildungspunkten stets gleich T für alle x ∈ Σ.
Wählen wir ohne Beschränkung der Allgemeinheit θ0 = 0 und bezeichnen die Projektion
des Flusses auf die x-Komponente mit ψt (x) := πϕt (x, 0), x ∈ D ⊂ Rn , so kommen wir
zur Stroboskop-Abbildung3 P : D ⊂ Rn → Rn mit
Die k-te Iteration der stroboskopischen Abbildung liefert den Systemzustand zur Zeit
t0 + kT , d. h. das System wird periodisch „beleuchtet“. Unter den Voraussetzungen 6.3
ist diese eindeutige Abbildung für alle x in einer Umgebung Uρ (x0 ) ⊂ D des Punktes
x0 = x∗ (0) definiert.
3
Stroboskop (griech.): optisches Gerät zum Beobachten und Messen rasch ablaufender Vorgänge
(z. B. Drehzahlmessung) mit Hilfe eines periodisch unterbrochenen Lichtstrahls.
322 6 Numerik periodischer Lösungen
Bemerkung 6.32
Mittels der Poincaré-Abbildung P lassen sich oft Konvergenz- und Stabilitätsaussagen
für Fixpunktaufgaben in Rn , z. B. Fixpunktsätze, anwenden. Denn zu k ∈ Z bedeutet die
k-fache Anwendung der Poincaré-Abbildung auf ein x ∈ D den Übergang vom betrach-
teten zeitkontinuierlichen dynamischen System DS1 = (R, D, ϕt ) zu einem zeitdiskreten
System DS2 = (Z, D, ψk ) mit
Der Übergang von DS1 zum zeitdiskreten System DS2 transformiert insbesondere
T -periodische Lösungen ϕt (x0 ) in Fixpunkte x0 von P
m-fach subharmonische Lösungen, d. h. mT -periodische Lösungen mit m ∈ N, m > 1,
in m-periodische Orbits von DS2 sowie
quasi-periodische Lösungen von DS1 mit 2 Basisfrequenzen in geschlossene Invarianz-
kurven. von DS2
Die Ableitung DP (x0 ) der Poincaré-Abbildung in einem Punkt x0 des periodischen Or-
bits γ = {ϕt (x0 )} erhalten wir, indem wir den Effekt kleiner Variationen der Anfangs-
bedingungen x0 ∈ Rn analysieren. Zur Vereinfachung der Darstellung verschieben wir
den Koordinatenursprung in den Punkt x0 und benutzen als xn -Achse den normierten
Tangentenvektor ξn = f (x0 )/||f (x0 )|| an den Orbit im Punkt x0 . Die restlichen n−1 or-
thogonalen Basisvektoren ξ1 , ξ2 , . . . , ξn−1 sollen die Hyperebene Σ aufspannen, wie dies
in Abbildung 6.17 für den 3-dimensionalen Fall dargestellt ist. Unter diesen Annahmen
x2
Σ
W = Σ ∩ Uδ (x0 )
x3
x0 = 0
x1
γ
Satz 6.33
Es sei f ∈ C 1 (D) und ϕt (0) bezeichne den periodischen Orbit γ mit Periode T ∗ in
D. Für hinreichend kleines δ > 0 und x ∈ Σ ∩ U δ (0) sei P (x) die gerade eingeführte
Poincaré-Abbildung. Dann wird die Ableitung DP (0) durch die Matrix
∂ϕi
DP (0) = (0, T ∗ ) , i, j = 1(1)n − 1, (6.70)
∂xj
definiert, wobei ϕ(x, t) = ϕt (x) der durch (6.66) gegebene Fluss ist.
Beispiel 6.34
Das um eine Gleichung erweiterte Beispiel 6.22 mit Parameter λ > 0
ẋ1 = −x1 + 2
ẋ2 = λx2 − x3 − x2 (x22 + x23 ) (6.71)
ẋ3 = x2 + λx3 − x3 (x22 + x23 )
√
besitzt zum Punkt s∗ = (2, λ, 0)T und T ∗ = 2π die periodische Lösung mit Hauptlö-
sungsmatrix (vgl. dazu Bsp. 6.24)
⎛ ⎞ ⎛ ⎞
2 e−t 0 0
⎜ √ ⎟ ⎜ ⎟
x(t; s∗ , T ∗ ) = ⎜ ⎟ ∗ ∗ ⎜
⎝ √λ cos t ⎠ , X(t; s , T ) = ⎝ 0 e
−2λt
· cos t − sin t ⎟
⎠,
−2λt
λ sin t 0 e · sin t cos t
was man leicht durch Lösung des Variationssystems bestätigt. Die Monodromiema-
trix M = X(T ∗ ; s∗ , T ∗ ) = diag(e−2π , e−4λπ , 1) liefert außer dem Hauptmultiplikator
m3 = 1 nun die beiden Eigenwerte m1 = e−2π , m2 = e−4λπ der Ableitung DP (s∗ ) der
in Abbildung 6.17 dargestellten Poincaré-Abbildung.
Notieren wir periodisch erregte Systeme wie in (6.68) ebenfalls als autonome DGL in
Rn+1
ẋ = f (x, θ), θ̇ = 1, (x, θ) ∈ Rn × S1 , (6.72)
324 6 Numerik periodischer Lösungen
Beweis: Mit dem erweiterten Vektor y = (y1 , y2 , . . . , yn , yn+1 )T = (x, θ)T lautet das
erweiterte Variationssystem an der periodischen Lösung
Dx f (x∗ (t), t) Dt f (x∗ (t), t)
Ẏ = , Y (0) = In+1 ,
0 0 ... 0 0
erhalten. Darin ist X(T ) die Monodromiematrix des periodisch erregten Systems mit den
n Floquet-Multiplikatoren m1 , m2 , . . . , mn , womit die Behauptung folgt.
n
H(x) := v, x − ξ = v T (x − ξ) = vi (xi − ξi ) = 0, x ∈ Rn (6.73)
i=1
v
x2
s = F (tα )
xα v
ξ
x(tβ )
f (x(tα ))
f (x0 )
x0
x1
Σ Abb. 6.18 Hyperebene
Σ und Poincaré-Schnitt
in R2
sung der DGL ẋ = f (x) vereinfachend mit x(t) = ϕ(t; t0 , x0 ) bezeichnen. Eine nu-
merische Integration liefert für t = tα den letzen „vor der Hyperebene“ liegenden Lö-
sungswert x(tα ), während der folgende Lösungspunkt x(tβ ) mit Integrationsschrittweite
h = tβ − tα > 0 bereits jenseits von Σ liegt. Projizieren wir – wie in Abbildung 6.18
dargestellt – den Punkt x(tα ) orthogonal auf die Hyperbene in den Punkt xα , so erhalten
wir mit x(tα ) = xα + sv aus der Hyperebenen-Gleichung (6.73)
Offenbar ist diese Funktion nach Voraussetzung 6.21 stetig differenzierbar mit F (tα ) < 0,
F (tβ ) > 0 und Ḟ (t) = v T ẋ(t) = v T f (x(t)) > 0 für hinreichend kleines h > 0 wegen
der Transversalitätsbedingung v T f (ϕ(t∗ ; t0 , x0 )) > 0. Damit erhalten wir das Newton-
Verfahren zur Bestimmung des Durchstoß-Zeitpunktes t∗ zu
F (tk ) v T (x(tk ) − ξ)
tk+1 = tk − = tk − T , k = 1, 2, 3, . . .
Ḟ (tk ) v f (x(tk ))
Als Startwert wählen wir t1 = tα mit dem zuvor berechneten Lösungspunkt x1 = x(tα ).
Die Hyperebene Σ legen wir durch einen Punkt ξ möglichst nahe bei x(t∗ ), z. B. durch
den Urbildpunkt ξ = x0 , und wählen den Normalvektor v = f (ξ)/f (ξ), um so die
Transversalitätsbedingung zu erfüllen:
326 6 Numerik periodischer Lösungen
H(x(tk )) = v T (x(tk )−ξ) gibt den Abstand des k-ten Näherungspunktes von der Hyper-
ebene Σ an, während v T f (x(tk )) die Komponente des Vektorfeldes an x(tk ) liefert, die in
Richtung von Σ zeigt. Damit liefert die Newton-Korrektur (v T (x(tk ) − ξ))/(v T f (x(tk )))
diejenige Zeit, die die Lösung benötigen würde, um von x(tk ) zur Hyperebene zu gelan-
gen, falls das Vektorfeld konstant mit dem Wert f (x(tk )) wäre. Wegen der lokal quadra-
tischen Konvergenz kommt das Newton-Verfahren so mit sehr wenigen Zusatzschritten
aus.
2. M. Hénon entwickelte 1982 ein noch schnelleres Verfahren (vgl. Anishchenko (1987)),
das meist mit einem einzigen Zusatzschritt zur Bestimmung von x(t∗ ) auskommt. Der
Abstand eines beliebigen Punktes x ∈ Rn von der eingeführten Hyperebene Σ ist wegen
der Darstellung x = xα + sv
H(x) = v T (x − ξ) = v T (xα − ξ) + sv T v = s.
Hénons Idee besteht darin, diesen Abstand s als neue unabhängige Variable anstelle von
t mittels s = s(t) einzuführen und die DGL zu transformieren. Für deren Lösung
x(t) = ϕ(t; t0 , x0 ) liefert s = s(t) = v T (x(t) − ξ) die Ableitung ṡ(t) = v T f (x(t)),
womit sich die Ableitung der inversen Funktion t = t(s) zu
1 1
t (s) = = T
ṡ(t) v f (x(t(s)))
ergibt. Führen wir die Funktion y(s) = x(t(s)) ein, so transformieren wir sofort die DGL
mittels
f (y(s))
y (s) = ẋ(t(s)) t (s) =
v T f (y(s))
auf die neue unabhängige Variable s. Zum Zeitpunkt t = tα liegt der Lösungswert x(tα )
vor, womit wir unmittelbar die Anfangswerte
gewinnen. Eine Integration des Systems für (y, t) ∈ Rn+1 im Intervall [sα , 0] ergibt dann
die „Endwerte“ für den Abstand s = 0, d. h. den Durchstoß-Zeitpunkt t(0) = t∗ und
den Bildpunkt y(0) = x(t(0)) = x(t∗ ) in der Hyperebene Σ:
6.4 Lösungsfortsetzung und Bifurkationsanalyse 327
Gegeben sind tα und xα = x(tα ) sowie die Hyperebene Σ mit (ξ, v).
(1) Anfangswert: Bestimme sα = v T (xα − ξ) < 0.
(2) Integrationsschritt: Integriere die n + 1 DGL in [sα , 0]
f (y(s))
y (s) = , y(sα )= xα ,
v T f (y(s))
1
t (s) = T , t(sα ) = tα .
v f (y(s))
Beispiel 6.36
Wir vergleichen die beiden numerischen Methoden an Beispiel 6.26 von W. F. Langford
mit Parametern ω = 3.5, = 0.25 und ε = 0. Als „Aufpunkt“ der Hyperebene wählen
wir stets ξ = (0, 0.9, 0.7)T und verändern nur den Normalvektor v. Um den Zusatzauf-
wand zur Errechnung der Durchstoßpunkte zu ermitteln, integrieren wir die DGL mit
5000 Auswertungen der rechten Seiten (desweiteren als f -Bestimmungen bezeichnet).
Tab. 6.2 Zahl der f -Bestimmungen für die Poincaré-Abbildung zu Beispiel 6.36
Tabelle 6.2 gibt diejenige Zahl von f -Bestimmungen an, die davon für die Berechnung der
Poincaré-Abbildung benötigt werden. Obwohl beide Methoden zuverlässig und präzise
arbeiten, erweist sich die Hénon-Methode stets als effizienter.
Weitere in der Literatur Parker und Chua (1989) empfohlene Ansätze, wie das Bisekti-
onsverfahren zur Nullstellenbestimmung der Abstandsfunktion F (t) aus (6.74) oder die
Approximation der Durchstoßzeit t∗ durch genaue Interpolation dieser Funktion sind den
beiden vorgestellten Verfahren durchweg unterlegen und werden deshalb nicht empfohlen.
Alle Betrachtungen lassen sich unmittelbar auf den numerisch einfacheren periodisch
erregten Fall mit bekannter Lösungsperiode aus Abschnitt 6.1 übertragen, was nach dem
Studium der folgenden Ausführungen gewiss leicht fallen dürfte. Zuerst notieren wir die
Voraussetzungen 6.21 für den parameterabhängigen Fall:
Voraussetzung 6.37
Es sei Λε = (a − ε, b + ε) ⊃ Λ mit ε > 0.
i. f ∈ C r (D × Λε ), r ≥ 2.
ii. System (6.75) besitzt für alle λ ∈ Λε einen Grenzzykel x∗ (t, λ), t ∈ R, der Periode
T ∗ (λ) > 0, der keine Gleichgewichtslage ist.
Wir wollen diesen Grenzzykel x∗ (t, λ) samt seiner Periodendauer T ∗ (λ) nun für alle
Parameterwerte λ ∈ Λ approximieren. Dazu überführen wir die Schwingungsaufgabe in
ein Fortsetzungsproblem in Rn+1 . Ist λ ∈ Λ ein fester Parameterwert, so können wir wie
in Abschnitt 6.36 vorgehen. Zu gegebenen Näherungen sk ∈ D, Tk > 0 betrachten wir
das folgende transformierte AWP:
⎫
ẋ = T f (x, λ), x(0; sk , Tk , λ) = sk ⎬
für t ∈ [0, 1] (6.76)
Ṫ = 0, T (0; sk , Tk , λ) = Tk ⎭
mit der Lösung x = x(t, sk , Tk , λ), T = T (t, sk , Tk , λ) auf [0, 1]. Zusammen mit der
Phasenbedingung (6.49) definieren wir die n + 1 Funktionen g und h durch
g(sk , Tk , λ) := x(1; sk , Tk , λ) − sk
(6.77)
h(sk , Tk , λ) := f (s0 , λ)T (sk − s0 ),
deren Nullstellen (s∗ , T ∗ ) mit einem Newton-ähnlichen Verfahren zu ermitteln sind. Wie
im vorigen Abschnitt führen wir die Notation xx, ss, ff etc. für Vektoren in Rn+1 mit
x s T f (x, λ)
xx := , ss := , ff (xx) := mit ff : DD ⊂ Rn+1 → Rn+1
T T 0
xx
˙ = ff (xx, λ), xx(0, ssk , λ) = ssk (6.78)
6.4 Lösungsfortsetzung und Bifurkationsanalyse 329
mit vorausgesetzter Lösung xx = xx(t, ssk , λ). Definieren wir nun die Abbildung gg durch
g(sk , Tk , λ) x(1; sk , Tk , λ) − sk
gg(ssk , λ) := = (6.79)
h(sk , Tk , λ) f (s0 , λ)T (sk − s0 )
2. Korrektorschritt: Mit dem Startpunkt ssP lösen wir das erweiterte System (6.80)
in Rn+1 mit einem Newton-ähnlichem Verfahren mit approximierter Jacobi-Matrix
D(ss) gg(ss, λ). Dazu greifen wir auf Algorithmus 6.16 (Schießverfahren ohne Variati-
onssystem) zurück und bauen dessen Schritt 1 komplett als Korrektor-Verfahren in
den Algorithmus 6.38 zur numerischen Fortsetzung periodischer Orbits im autonomen
Fall ein. Natürlich sind darin die Vektoren sk , x, f, g durch die erweiterten Vektoren
ssk , xx, ff, gg zu ersetzen!
Durchführbarkeit und Konvergenz von Algorithmus 6.38 lassen sich – allerdings mit be-
trächtlichem theoretischen Aufwand – nachweisen. Erschwerend ist, dass die Vorausset-
zungen (z. B. Glattheit) für das Vektorfeld f , nicht aber für die Funktion gg in (6.80)
vorliegen.
Satz 6.39
Voraussetzungen 6.37 seien erfüllt sowie folgende Annahmen:
i. Die periodische Lösung x∗ (t, λ) ist nicht-entartet für alle λ ∈ Λε .
ii. Der Startwert ss0 = (s0 , T0 ) von Algorithmus 6.38 liegt hinreichend nahe bei
ss(a) = (s(a), T (a)), a = λ0 .
330 6 Numerik periodischer Lösungen
Dann existiert ein hmax > 0, so dass für alle Schrittweiten hj := λj − λj−1 < hmax der
Algorithmus durchführbar ist, d. h. zu j = 0, 1, 2, ... existieren λj und ss(λj ) mit
gg(ss(λj ), λj ) = 0, j = 0, 1, 2, ...,
wobei ss(λj ) reguläre Lösung von (6.80) ist. Der Algorithmus ist endlich, d. h. λN = b
für ein N ∈ N.
Beweisidee: Es sei λj−1 ∈ Λε , j ≥ 1 fest vorgegeben. Zur Lösung von gg(ss, λj−1 ) = 0
im Korrektorschritt verifiziert man die Voraussetzungen des Konvergenzsatzes des be-
nutzten Newton-ähnlichen Verfahrens, d. h. gg ∈ C r (DD × Λε ), r ≥ 2 und ggss (ss, λ)
regulär für alle (ss, λ) ∈ Uδ (ss(λ)) × Λε . Ist die Fortsetzungsschrittweite hj hinrei-
chend klein, so kann garantiert werden, dass der Prädiktorwert ssP in dieser Umgebung
6.4 Lösungsfortsetzung und Bifurkationsanalyse 331
Uδ (ss(λ)) liegt. Anwendung des Satzes 5.26 liefert eine hinreichende Schrittweitenschran-
ke hmax . Wählt man also die Startnäherung ss0 = (s0 , T0 ) des ersten Fortsetzungschrittes
mit ss0 ∈ Uδ (ss(λ)) und die konstante Schrittweite hj := 12 hmax , so konvergiert die Kor-
rektoriteration in jedem Fortsetzungschritt. Zudem erreicht man das rechte Intervallende
b in endlich vielen Schritten.
Bemerkung 6.40
1. Für periodisch erregte parameterabhängige Systeme
ẋ = f (x, t, λ), t ∈ [0, T ], λ ∈ Λ (6.83)
g(s, λ) = 0, g : D × Λ → D, D ⊂ Rn . (6.84)
Algorithmus 6.38 und Konvergenzsatz 6.39 lassen sich dafür leicht anpassen.
2. Wie bereits für Gleichgewichtslagen in Kapitel 5.1 behandelt, sind auch zur Lösung
von (6.80) weitere Parametrisierungen möglich. Empfohlen werden Parametrisierungen
mittels
– Pseudo-Bogenlänge gemäß Algorithmus 5.34
– Gauß-Newton-Fortsetzung gemäß Algorithmus 5.38.
Die Angabe von Konvergenzbedingungen anhand der ursprünglich gegebenen Differenzi-
algleichungen ẋ = f (x, λ) ist allerdings auch hier nicht trivial.
Zur numerischen Stabilitätsanalyse nutzen wir den Satz 6.28 von Andronov & Witt in je-
dem Fortsetzungsschritt und ergänzen Schritt 3 in Algorithmus 6.38 durch den Teilschritt:
Bei periodisch erregten Systemen (6.83) ermitteln wir den Spektralradius über alle n
charakteristischen Multiplikatoren mi (λj ).
Beispiel 6.41
1. Für das 2-fach subharmonisch reagierende System von E. Philippow und W. Büntig
aus Beispiel 6.9
1
s1
0
−1
−2
Abb. 6.19
−3 (ε, s1 )-Diagramm
mit Stabilitätsver-
halten der periodi-
−4 ε
−0.5 −0.4 −0.3 −0.2 −0.1 0 0.1 0.2 0.3 0.4 0.5 schen Lösungen
1.5
1
Instabile Lösung
0.8 stabil
1
0.6
0.5 0.4
x
2 0.2
s1
0 0
instabil
−0.2
−0.5 −0.4
−0.6
−1
−0.8
Stabile Lösung
−1
−1.5
1.5 1 0.5 0 −0.5 −1 −1.5 0 0.5 1 1.5 2 2.5 3
x λ
1
Abb. 6.20 2π-periodische Lösungen für λ = 1.88 (links) und (λ, s1 )-Lösungsdiagramm (rechts)
6.4 Lösungsfortsetzung und Bifurkationsanalyse 333
2. Philippow und Büntig (1992) entwickelten auch eine Modellgleichung eines dreifach
subharmonisch reagierenden Systems der Elektrotechnik
mit festen Parametern b = 1.0 und ε = 3.0, worin nun die Erregungsamplitude
λ := B̂ als Kontrollparameter dient. Neben 43 π-periodischen Lösungen besitzt das Sys-
tem (mit x1 = x, x2 = ẋ ) auch 2π-periodische Lösungen, z. B. für λ = 1.88 die in
Abbildung 6.20 links dargestellte stabile und instabile Lösung. Eine Parameterverfol-
1.5
0.5
0
Abb. 6.21
3 (λ, s1 , s2 )-Diagramm
−0.5 2.5 mit Stabilitätsverhal-
−1
2 ten der 2π-periodi-
1.5 1.5 λ schen Lösungen (blau
1
0.5
0
1 – stabil, schwarz –
−0.5
−1 0.5 instabil)
mit zugehörigem Fluss ϕt (x; λ). Autonome Systeme (6.75) können analog zu vorigem
Abschnitt untersucht werden. Jeder Parameterwert λ∗ , für den der Fluss ϕt (x; λ∗ ) nicht
strukturell stabil ist, stellt gemäß Abschnitt 3.1 einen Bifurkationswert für λ dar.
Für jeden betrachteten Parameterwert λ ∈ Λ = [a, b] wollen wir einen isolierten peri-
odischen Orbit (Grenzzykel) voraussetzen, der die Periode T = 2π besitzt. Nach Ab-
schnitt 6.3 existiert dazu eine λ-abhängige stroboskopische Abbildung als global definier-
334 6 Numerik periodischer Lösungen
Notwendig für eine lokale Bifurkation an einem Parameterwert λ∗ ist dann die Nicht-
Hyperbolizität des Fixpunktes x∗ = x∗ (λ∗ ), d. h. für ein i ∈ {1, . . . , n} ist |mi (λ∗ )| = 1.
Verschiebt man den Bifurkationspunkt (x∗ , λ∗ ) in den Nullpunkt – das ist zumindest
theoretisch leicht möglich – so lautet die Gleichung am Bifurkationswert nun P (0, 0) = 0.
Wir erinnern daran, dass nach Guckenheimer und Holmes (1983), Kapitel 1.4., die Jacobi-
Matrix B = Dx P (0, 0) die invarianten (stabilen, zentralen und instabilen) Unterräume
Es = span{ns verallgemeinerte Eigenvektoren zu Eigenwerten mit |mi (0)| < 1 }
Ec = span{nc verallgemeinerte Eigenvektoren zu Eigenwerten mit |mi (0)| = 1 }
Eu = span{nu verallgemeinerte Eigenvektoren zu Eigenwerten mit |mi (0)| > 1 }
der Dimensionen ns ≥ 0, nc ≥ 0, nu ≥ 0 besitzt. Analog zum Fall der Fixpunkte von
Flüssen existiert der folgende grundlegende Reduktionssatz von A. N. Shoshitaishvili für
Abbildungen, den wir hier in der Darstellung von Reitmann (1996) zitieren:
Wegen der Bedingungen ii. des Satzes enthält h(u, λ) den nichtlinearen Anteil von
g(u, λ).
Beispiel 6.44
Die parameterabhängige Poincaré-Abbildung P : R3 × R → R mit
⎛ ⎞
λx1 − ωx2 − x1 (x21 + x22 )
⎜ ⎟
P (x, λ) = ⎜
⎝ ωx 1 + λx2 − x 2 (x 2
1 + x 2 ⎟
2 )⎠ und Konstanten ω = 0.1, α = 0.995
αx3
besitzt für alle reellen λ den Fixpunkt x∗ (λ) = (0, 0, 0)T , so dass keine x-Verschiebung
√ √
nötig ist. Setzen wir λ∗ = 1 − ω 2 = 99/10 = 0.9949874371 . . ., so hat nach Parame-
terverschiebung die Poincaré-Abbildung
⎛ ⎞
(λ + λ∗ )x1 − ωx2 − x1 (x21 + x22 )
⎜ ⎟
P (x, λ) = ⎜ ∗ 2 ⎟ ∗
⎝ωx1 + (λ + λ )x2 − x2 (x1 + x2 )⎠ mit λ = 0.9949874371 . . .
2
αx3
den Fixpunkt 0 = P (0, 0). Die zugehörige Jacobi-Matrix und ihre Eigenwerte sind
⎛ ⎞
λ∗ −ω 0 m1 (0) = λ∗ + iω
⎜ ⎟
B = Dx P (0, 0) = ⎜ ⎝ω λ
∗
0⎟⎠ m2 (0) = λ∗ − iω
0 0 α m3 (0) = α.
336 6 Numerik periodischer Lösungen
0.3
0.2
0.25
x3
0.2 0.15
x
3
0.15
0.1
0.1
0.05
0.05
0 0.1
0 0.15
0.1 0.05
0.05 0.05
0.05 0
0 0 0
x2 −0.05
−0.05
x
−0.05 −0.05 x x −0.1 −0.1 1
1 2
Wegen |m1,2 (0)| = 1 und |m3 (0)| = 0.995 < 1 besitzen die invarianten Unterräume
die Dimensionen nc = dim Ec = 2, ns = dim Es = 1 und nu = dim Eu = 0. In
Abbildung 6.22 werden Punktfolgen (xk ), k = 0, 1, 2, . . . mit xk = P (xk−1 , λ) für
die Parameterwerte λ = −0.004987 (links) und λ = 0.015013 (rechts) dargestellt. Die
0.15
0.08
0.06
0.1
0.04
0.02 0.05
u
u2
0 2
−0.02 0
−0.04
−0.05
−0.06
−0.08
−0.1
−0.1
−0.12
−0.08 −0.06 −0.04 −0.02 0 0.02 0.04 0.06 0.08 0.1 −0.1 −0.05 0 0.05 0.1 0.15
u1 u
1
Abb. 6.23 Abbildungspunkte (uk ) ∈ Ec des Beispiels 6.44 für λ = −0.004987 (links) und
λ = 0.015013 (rechts)
∂g ∂g 1 ∂2g
g(0, 0) = 0, (0, 0) = mi (0) = 1, (0, 0) = α = 0, (0, 0) = β = 0 .
∂x ∂λ 2 ∂x2
In diesem ersten Fall setzen wir voraus, dass α = 0 und β = 0. Ist αβ < 0, so hat
P (x, λ) für λ > 0 zwei Fixpunkte, für λ = 0 einen Fixpunkt und für λ < 0 keinen
Fixpunkt. Bei (0, 0) tritt eine superkritische Fold-Bifurkation ein. Ist αβ > 0, so hat
P (x, λ) für λ < 0 zwei Fixpunkte, für λ = 0 einen Fixpunkt und für λ > 0 keinen
Fixpunkt, weshalb hier eine sogenannte subkritische Fold-Bifurkation eintritt. In Ana-
logie zu den Gleichgewichtslagen aus Kapitel 5 nennt man diese Verzweigung oft auch
Sattel-Knoten-Bifurkation. Sie stellt den generischen Fall dar, wenn ein Multiplikator
mi (0) = 1 algebraisch einfacher Eigenwert von Dx P (0, 0) ist.
Beispiel 6.45
Wir betrachten die in den Ursprung (0, 0) transformierte Abbildung
Σ
stabil stabil
0 λ
instabil instabil
Abb. 6.24 Superkritische Fold-Bifurkation (links) und periodische Lösungen für λ > λ∗ (rechts)
Offenbar ist hier α = 1, β = −1, weshalb bei (x∗ , λ∗ ) eine superkritische Fold-Bifurkation
vorliegt (vgl. Abb. 6.24 links). Für Parameterwerte λ > λ∗ liegen zwei periodische Lösun-
gen vor, die in Abbildung 6.24 (rechts) mit ihren Poincaré-Abbildungen veranschaulicht
werden.
∂g ∂g ∂2g 1 ∂2g
g(0, 0) = 0, (0, 0) = 1, (0, 0) = 0, (0, 0) = α = 0, (0, 0) = β = 0.
∂x ∂λ ∂λ∂x 2 ∂x2
Hier tritt bei (0, 0) eine transkritische Bifurkation ein, die häufig mit einem Stabilitäts-
wechsel verbunden ist. Im Gegensatz zu Fall (1a) tritt diese nicht-generische Bifurkation
höherer Ordnung seltener in praktischen Anwendungen auf.
Beispiel 6.46
Die in den Ursprung (0, 0) transformierte Abbildung laute
Wir stellen fest, dass α = 1, β = −1 ist und so bei (x∗ , λ∗ ) eine transkritische Bifurka-
tion mit Stabilitätswechsel eintritt, die in Abbildung 6.25 (links) dargestellt ist.
(1c) Heugabel-Bifurkation
Taylor-Entwicklung von g(x, λ) in (6.89) ergibt nun g(x, λ) = x + αλx + βx3 + · · ·
mit
∂g ∂g
g(0, 0) = 0, (0, 0) = 1, (0, 0) = 0 sowie
∂x ∂λ
x x
stabil
0 instabil λ 0 λ
instabil
stabil
v1 Σ v1 Σ
stabil
stabil instabil
v2 v2
Abb. 6.26 Flip-Bifurkation: Eine T -periodische Lösung für λ < λ∗ (links) und zusätzlich eine
2T -periodische Lösung für λ > λ∗ (rechts)
Beispiel 6.48
Die in den Ursprung (0, 0) transformierte Abbildung laute
Wegen α = −1, β = 0 und γ = 1 ist α(β 2 + γ) = −1 < 0, weshalb bei (x∗ , λ∗ ) eine
Flip-Bifurkation eintritt. Abbildung 6.26 zeigt links die stabile periodische Lösung für
Parameterwerte λ < λ∗ , während rechts die nunmehr instabile Lösung sowie die Lösung
mit doppelter Periode 2T dargestellt ist. Man erkennt leicht, dass die Poincaré-Abbildung
nun zwei Fixpunkte der Periode 2 besitzt.
Mit den Konstanten ω = 3.5, = 0.25, β = 0.7 und dem Kontrollparameter ε erhalten
wir die in Abbildung 6.27 dargestellten Lösungen. Zwischen ε = 0.03 und ε = 0.06
tritt eine erste Flip-Bifurkation auf; die nächsten Periodenverdopplungen einer Flip-
Bifurkationskaskade liegen vor den Werten ε = 0.0675 und ε = 0.07.
1.5 1.5
1 1
z z
0.5 0.5
0 0
–1.5 –1.5
–1.5 –1 –1.5 –1
–1 –0.5 –1 –0.5
–0.5 0 –0.5 0
0 0
0.5 0.5 x 0.5 0.5 x
y 1 1 y 1 1
1.5 1.5
1.5 1.5
1 1
z z
0.5 0.5
0 0
–1.5 –1.5
–1.5 –1 –1.5 –1
–1 –0.5 –1 –0.5
–0.5 0 –0.5 0
0 0
0.5 0.5 x 0.5 0.5 x
y 1 1 y 1 1
1.5 1.5
Abb. 6.27 Langford-System des Beispiels 6.26: Parameterwerte sind ε = 0.03 (links oben),
ε = 0.06 (rechts oben), ε = 0.0675 (links unten) und ε = 0.07 (rechts unten)
iii. Ist σ < 0, so heißt die Torus-Bifurkation für λ > 0 superkritisch, bei σ > 0 liegt eine
subkritische Torus-Bifurkation für λ > 0 vor.
Das komplizierte Verhalten der Lösungen für λ > 0 wird durch Abbildung 6.28 veran-
schaulicht: Die bei x ∈ Γ startende Lösung windet sich um die instabile triviale Lösung
Im(mi )
v1 Σ m1 (λ)
P (x)
x ϕ 1
x∗
−1
v2 −ϕ Re(mi )
Γ
C
instabil m2 (λ)
Abb. 6.28 Torus-Bifurkation für λ > λ∗ : Invarianter Torus und Invarianzkurve Γ ⊂ Σ (links)
sowie Multiplikatoren m1,2 (λ) (rechts)
x∗ = 0 und liegt auf einem invarianten 2-dimensionalen Torus (daher auch die Be-
zeichnung „Torus-Bifurkation“). Der Poincaré-Schnitt dieser Torusfläche ist die im Satz
postulierte Invarianzkurve Γ ⊂ Σ. Die Rotationsgeschwindigkeit der Lösung wird für
kleines r durch den Winkel ϕ = | arg m(0)| aus (6.93) bestimmt (vgl. Abb. 6.28 rechts).
Beispiel 6.50
Es sei x = (x1 , x2 ) ∈ R2 und die Poincaré-Abbildung P : R2 × R → R2
sx1 − ωx2 − cx1 (x21 + x22 )
P (x, λ) = , s, ω, c ∈ R, c > 0. (6.94)
ωx1 + sx2 − cx2 (x21 + x22 )
√
Setzen wir s = ω = 12 2(1+λ), so ist die Gleichgewichtslage x∗ = (0, 0) für λ < 0 asymp-
totisch stabil und wird für λ > 0 instabil. Verifizieren wir deshalb die Voraussetzungen
des Satzes 6.49 mit λ∗ = 0. Die Eigenwerte der Jacobi-Matrix
√
s −ω m1 (λ) = s + iω = 12 2(1 + λ)(1 + i)
Dx P (0, λ) = sind √
ω s m2 (λ) = s − iω = 12 2(1 + λ)(1 − i).
Mit |m1,2 (λ)| = 1 + λ ist Voraussetzung i. erfüllt. Offenbar ist die reduzierte Abbildung
√
g ≡ P , womit auch ii. gilt. Dx g(0, λ) hat damit die Eigenwerte m(λ) = 12 2(1+λ)(1+i)
und m(λ) für alle λ ∈ R , welche die Transversalitätsbedingung iii. mit
d
d = |m(λ)|λ=0 = 1
dλ
6.4 Lösungsfortsetzung und Bifurkationsanalyse 343
erfüllen. Wegen ϕ = | arg m(0)| = π/4 gilt schließlich auch Voraussetzung iv. Gehen
wir nun zu Polarkoordinaten (r, θ) mit
x1 = r cos θ, x2 = r sin θ bzw. mit z = x1 + ix2 = reiθ
über, so transformiert sich die Poincaré-Abbildung (6.94) in der Umgebung von (0, 0) in
⎛ ⎞ ⎛ ⎞
1√ 3
r (1 + λ)r − 2cr + O(r5 )
⎝ ⎠ → ⎜ ⎝
2 ⎟
4 ⎠
π c . (6.95)
θ θ+ + √ 2
r + O(r )
4 2(1 + λ)
Dabei wurden die entstehenden Funktionen in Taylor-Reihen nach r entwickelt und die
Restterme zusammengefasst. Der Vergleich mit der Darstellung in Formel (6.93) liefert
√
den Parameterwert σ = − 12 2c < 0, weshalb der Satz von Neimark-Sacker eine super-
kritische Torus-Bifurkation für λ∗ = 0 garantiert.
Wenn bei der Beschreibung der drei Bifurkationsszenarien vom „Übergang asymptotisch
stabiler in instabile Lösungen“ die Rede ist, so trifft dies nach dem Reduktionssatz 6.43
offenbar nur zu, wenn die Dimension nu des instabilen Unterraumes Eu gleich Null ist.
Dies ist der praktisch interessanteste Fall, da nur asymptotisch stabile Lösungen physika-
lisch sind, also in der Praxis auftreten. Selbstverständlich können auch instabile Lösungen
bifurkieren und in instabile Lösungen übergehen, die beim Studium dynamischer Systeme
bedeutsam sind.
Beispiel 6.51
Das autonome System von W. F. Langford aus Beispiel 5.1
ẋ1 = (x3 − 0.7)x1 − ωx2
ẋ2 = ωx1 + (x3 − 0.7)x2 (6.96)
ẋ3 = 0.6 + x3 − x33 /3 − (x21 + x22 )(1 + x3 ) + εx3 x31
liefert mit den Konstanten ω = 3.5, ε = 0, β = 0.7 und dem Kontrollparameter
die in Abbildung 6.29 dargestellten Lösungen. Zwischen = 0.70 und = 0.60 tritt
offenbar eine Torus-Bifurkation ein. Den genauen Bifurkationswert ∗ = 0.61544465...
ermitteln wir mit den nachfolgend behandelten Verfahren.
die wir mit Algorithmus 6.38 numerisch fortsetzen. Mit der Wahl Rn+1 lassen sich die
folgenden Betrachtungen stets in Rn durchführen. Periodisch erregte Systeme (6.87) kön-
nen in Rn analog dazu untersucht werden. Während der Lösungsfortsetzung soll das
344 6 Numerik periodischer Lösungen
1.4 1.4
1.2 1.2
1 1
0.8 0.8
z z
0.6 0.6
0.4 0.4
0.2 0.2
0 –1 0
–1 –0.8
–0.5 –0.8 –0.4
–0.5 –0.4
0 0 0
0 0.2
0.5 0.5 x 0.2 0.4 x
y y 0.4
1.4 1 1 2.5 0.8 0.8
1.2 2
1 1.5
0.8 1
z z
0.6 0.5
0.4 0
0.2 –0.5
0 –1 –1 –1.5
–1 –1.5 –1
–0.5 –1 –0.5
–0.5 0 –0.5 0
0 0
x 0.5 0.5 x
y 0.5 0.5 y 1 1
1 1 1.5
Abb. 6.29 Langford-System des Beispiels 6.26: Parameterwerte sind = 0.70 (links oben),
= 0.62 (rechts oben), = 0.60 (links unten) und = 0.25 (rechts unten)
Auftreten der lokalen Bifurkationen des vorigen Abschnitts detektiert werden, um die
kritischen Parameterwerte einzugrenzen und numerisch zu bestimmen. Eine direkte al-
gorithmische Umsetzung des Reduktionssatzes 6.43 erscheint höchst unrealistisch, da in
c
jedem Fortsetzungsschritt die auf die lokale Zentrumsmannigfaltigkeit Wloc (0) reduzierte
Poincaré-Abbildung approximiert werden müsste. Gerade bei höherdimensionalen Sys-
temen ist der Aufwand deshalb nicht vertretbar und sollte durch einfachere notwendige
Bedingungen ersetzt werden.
Neben der periodischen Lösung x(t, λ) mit Anfangswert s(λ) = x(0, λ) und Periode T (λ)
approximiert Algorithmus 6.38 auch deren Floquet-Multiplikatoren m1 (λ), m2 (λ), . . . ,
mn (λ), mn+1 (λ). Im vorliegenden autonomen Fall ist der Hauptmultiplikator
mn+1 (λ) = 1 zu eliminieren. Anschließend prüfen wir, ob ein Multiplikator mi (λ)
mit i ∈ {1, 2, . . . , n} existiert, der eine der folgenden notwendigen Bedingungen erfüllt:
mi (λ) = +1 für eine Fold–, Pitchfork- oder transkritische Bifurkation
mi (λ) = −1 für eine Flip–Bifurkation
|mi (λ)| = 1 , /R
mi (λ) ∈ für eine Torus–Bifurkation.
Wir führen dazu wie in Kapitel 5 eine skalare Testfunktion ψ ein (vgl. dazu Definition
5.55). Mit C = (s(λ), T (λ), λ) bezeichnen wir den verfolgten Zweig periodischer Lösun-
6.4 Lösungsfortsetzung und Bifurkationsanalyse 345
gen mit Parameter λ ∈ Λ. U sei eine Umgebung von C. Eine stetige Funktion ψ : U → R ,
die genau in λ = λ∗ (strikt) ihr Vorzeichen ändert, werden wir wiederum Testfunktion
für den Bifurkationspunkt (s∗ , T ∗ , λ∗ ) = (s(λ∗ ), T (λ∗ ), λ∗ ) nennen. Dies trifft zu, wenn
die Funktion stetig differenzierbar ist und die Eigenschaften
d
ψ(s(λ∗ ), T (λ∗ ), λ∗ ) = 0, ψ(s(λ), T (λ), λ) =0 (6.98)
dλ λ=λ∗
>
n
τFold (λ) = (mi (λ) − 1) für Fold-, Pitchfork- oder
i=1
transkritische Bifurkationen
>
n
τFlip (λ) = (mi (λ) + 1) für Flip-Bifurkationen
i=1
>n
τTorus (λ) = (mi (λ)mj (λ) − 1) für Torus-Bifurkationen
i,j=1
i>j
Der Vorzeichenwechsel einer dieser Funktionen ist offenbar notwendig für das Auftreten
der entsprechenden Bifurkation. Darstellungen dieser Testfunktionen, die die Eigenwerte
der Monodromiematrix M nicht benötigen, lassen sich mit dem bialternierenden Produkt
A % B zweier Matrizen definieren, das wir bereits mit Definition 5.61 in Kapitel 5 einge-
führt haben. Das bialternierende Produkt C = A % B zweier Matrizen A = (aik ) ∈ Rn×n
und B = (bik ) ∈ Rn×n ist eine m × m-Matrix mit m = n(n − 1)/2, deren Zeilen von
C mit dem Multiindex (p, q), p = 2(1)n, q = 1(1)p − 1, und deren Spalten mit dem
Multiindex (r, s), r = 2(1)n, s = 1(1)r − 1 bezeichnet werden. Die Matrixelemente
berechnen wir gemäß
8
1 apr aps bpr bps
C(p,q),(r,s) := + . (6.99)
2 bqr bqs aqr aqs
berechnen und nach dem Schema (5.89) anordnen. Liegt ein konjugiert komplexes Paar
von Eigenwerten auf dem Einheitskreis, so verschwindet die Determinante von M %M −I.
Damit lassen sich folgende Testfunktionen angeben, die lediglich Determinantenberech-
nungen erfordern:
346 6 Numerik periodischer Lösungen
Die Rechenzeiten zur Berechnung des bialternierenden Produktes nehmen allerdings mit
größerer Dimension n extrem zu, so dass dieser Zugang nur für kleine Systeme empfohlen
werden kann. Man überprüfe dies mit selbst gewählten Matrizen M verschiedener Größe.
Es sei betont, dass das Verschwinden der Testfunktion lediglich notwendig für eine ent-
sprechende Bifurkation ist. Außer den drei generischen Kodimension-1-Bifurkationen
Fold, Flip und Torus sind sogenannte Bifurkationen höherer Ordnung möglich, ins-
besondere die Pitchfork- und transkritische Bifurkation. Für diese beiden Typen ist
τFold (λ) = det(M − I) = 0 notwendig. Kann man die auf die lokale Zentrumsman-
c
nigfaltigkeit Wloc (0) reduzierte Poincaré-Abbildung g(u, λ) in der Darstellung
transkritische Bifurkation:
∂g 1 ∂2g
(0, 0) = 0 und (0, 0) = 0
∂λ 2 ∂x2
Heugabel-Bifurkation:
∂g 1 ∂2g
(0, 0) = 0 und (0, 0) = 0.
∂λ 2 ∂x2
Wir wollen der Einfachheit wegen die drei generischen Bifurkationstypen Fold, Flip und
Torus voraussetzen. Wie approximieren wir dann die auftretenden Bifurkationswerte λ∗ ?
Nehmen wir an, dass während der Fortsetzung der periodischen Lösung zwei Parameter-
werte λ0 < λ1 ermittelt werden, für die ein Vorzeichenwechsel der Testfunktion eintritt,
d. h.
Mit der Stetigkeit von ψ folgt dann, dass ein Wert λ∗ ∈ (λ0 , λ1 ) existieren muss, für den
τ (λ∗ ) = ψ(s(λ∗ ), T (λ∗ ), λ∗ ) Null wird. Diese Nullstelle λ∗ lässt sich mittels Bisekti-
onsverfahren oder mittels Regula falsi mit Intervallschachtelung sicher eingrenzen. Beide
Verfahren haben sich als zuverlässig erwiesen, da eine einmal detektierte und erfasste
Nullstelle damit nicht mehr verloren geht. In Abbildung 6.30 wird das Verhalten von
Algorithmus 6.52 bei einer Torus-Bifurkation veranschaulicht.
6.4 Lösungsfortsetzung und Bifurkationsanalyse 347
Im(mi )
τ (λ)
m1 (λ1 ) I1
m1 (λ0 )
1 λ0 λ1
−1 0 Re(mi ) λ
I2
m2 (λ0 ) I0
m2 (λ1 )
Bemerkungen 6.53
1. Wegen der Regularitätsvoraussetzung (6.98) liefern Newton-Verfahren die Nullstel-
lenapproximationen zwar schneller; sie bergen wegen der genäherten Berechnung der
Testfunktion und deren Ableitung allerdings oft die Gefahr einer Divergenz.
2. Im Falle der Fold-Bifurkation stehen keine geeigneten Parameterwerte λ0 = λ1 des
natürlichen Parameters zur Verfügung, die der Bedingung (6.101) genügen. Hier
wird eine Neuparametrisierung – z. B. mittels Pseudo-Bogenlänge – erforderlich. Die
Ausführungen zu den Testfunktionen lassen sich jedoch leicht auf allgemeine Parame-
terisierungen der Lösungskurve übertragen und wie Algorithmus 6.52 darstellen.
348 6 Numerik periodischer Lösungen
Als Anwendung wollen wir ein allgemeines energetisches Dreiphasen-System der Elektro-
technik betrachten, das von Vogt und Büntig (1998), Büntig und Vogt (1998) modelliert
und in Vogt und Büntig (2003) ausführlich analysiert wird. Die Gleichungen beschrei-
ben ein grundlegendes mathematisches Modell für Stromversorgungssysteme. Es trägt
dem nichtlinearen Verhalten solcher Systeme Rechnung und soll Auslastungsaussagen
ermöglichen.
Die Schaltung des Systems ist in Abbildung 6.31 dargestellt. Darin werden drei nichtli-
neare Ferroresonanzkreise zum Dreiphasen-System gekoppelt. Die einzelnen Phasen wer-
den mit R, S bzw. T bezeichnet. Die Rückführung erfolgt über den rechts gezeichneten
Nullleiter. Dabei steht R0 für den Leitungswiderstand und L0 für die Induktivität des
-
-
-
Abb. 6.31 Stern-Stern Schaltung des Dreiphasen-Systems aus Vogt und Büntig (1998)
eR (t) = Ê0 sin(ωt), eS (t) = Ê0 sin(ωt − 2π/3), eT (t) = Ê0 sin(ωt − 4π/3).
Ein wesentlicher Bestandteil der nichtlinearen Belastung ist die Induktivität mit dem
nichtlinearen Kennlinien-Ansatz
ẋR = zR
q0 2 4
ẏR = (p2 p0 sin t − lS p0 sin (t − π) − lT p0 sin (t − π))
q1 3 3
−(r1 p2 p0 )yR + (s1 lR p0 )yS + (t1 lR p0 )yT
1
−ρlR p0 (yR + yT + yS ) + (−p2 p0 zR + lS p0 zS + lT p0 zT )
r0
żR = q1 (yR − xR (a + b x8R )) − q2 zR
ẋS = zS
q0 2 4
ẏS = (−lR p0 sin t + p3 p0 sin (t − π) − lT p0 sin (t − π))
q3 3 3
+(r1 lS p0 )yR − (s1 p3 p0 )yS + (t1 lS p0 )yT (6.103)
1
−ρlS p0 (yR + yT + yS ) + (lR p0 zR − p3 p0 zS + lT p0 zT )
s0
żS = q3 (yS − xS (a + b x8R )) − q4 zS
ẋT = zT
q0 2 4
ẏT = (−lR p0 sin t − lS p0 sin (t − π) + p4 p0 sin (t − π))
q5 3 3
+(r1 lT p0 )yR + (s1 lT p0 )yS − (t1 p4 p0 )yT
1
−ρlT p0 (yR + yT + yS ) + (lR p0 zR + lS p0 zS − p4 p0 zT )
t0
żT = q5 (yT − xT (a + b x8R )) − q6 zT
350 6 Numerik periodischer Lösungen
Die erste Gleichung jeder Phase R, S, T basiert auf dem Induktionsgesetz und verknüpft
den normierten Fluss mit der normierten Spannung. Die zweite Gleichung beschreibt die
Kopplung zwischen den einzelnen Phasen des Systems. Hier sind auch die Amplituden
der Erregerfunktion enthalten. Die dritte Gleichung jeder Phase enthält das Modell der
Nichtlinearität und die Belastungsparameter des Systems. Typische Parameterwerte sind
a = 0.25, b = 0.75, ρ = 0.10 und lR = lS = lT = 1.0
q1 = 1.0, q2 = 0.50, q3 = 1.0, q4 = 0.50, q5 = 1.0, q6 = 0.50
r0 = s0 = t0 = 0.05 und r1 = s1 = t1 = 0.10,
1.4
1.2
1
Abb. 6.32
0.8 Darstellung der Strobo-
skop-Abbildung:
0.6 In den Parameterinter-
0.4 vallen 34 ≤ λ ≤ 38 und
41 ≤ λ ≤ 43 erkennt
0.2 man das Auftreten nicht-
20 25 30 35 40 45 λ 50 periodischer Attraktoren
Einfaches Bifurkationsdiagramm
Mittels Lösungssimulation verschaffen wir uns einen ersten Eindruck vom Auftreten stabi-
ler periodischer Lösungen. Beginnend bei λ = 20 lassen wir das System über k0 Perioden
einschwingen und stellen dann m Stroboskop-Punkte xS (2πk), k = k0 (1)k0 + m − 1,
einer Lösungskomponente grafisch über dem Kontrollparameter λ dar. Diese einfache
Fixpunkt-Iteration der Stroboskop-Abbildung – im Ingenieurwesen oft auch “Brute-
force“-Methode genannt – veranschaulicht allerdings nur Attraktoren; andere Lösun-
gen können hingegen nicht detektiert werden. Fortsetzung über das Parameterintervall
20 ≤ λ ≤ 50 ergibt das Diagramm in Abbildung 6.32.
6.4 Lösungsfortsetzung und Bifurkationsanalyse 351
xT xT λ = 30,0
λ = 20,0
1.5 1.5
0.5 0.5
0 0
−0.5 −0.5
−1.5 −1.5
−1.5 −1.5
−1 −1 −1 −1
−0.5 −0.5 −0.5 −0.5
x 0 0 xR 0 0 xR
S 0.5 0.5 xS 0.5 0.5
1 1 1 1
−1.5 −1.5 −1
−1 −1 −1 −0.5
−0.5 −0.5 −0.5 0
0 0 0.5
xS 0 x 0.5 1 xR
0.5 0.5 R xS 1 1.5
1 1 1.5
1.8
1.6
1.4
1.2
1
Abb. 6.36 (λ, yR )-Dia-
gramm (blau – stabil,
s2
0.8
schwarz – instabil). Ne-
0.6
ben dem Primärzweig S1
0.4
wurden auch die ermittel-
0.2
ten abzweigenden Lösun-
0
10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 gen eingetragen
λ
onsdiagramme sowohl monoton wachsend in Abbildung 6.35 links als auch fallend in
Abbildung 6.35 rechts. Mit etwas Übung lässt der “Torus-Bubble“ bei λ ≈ 41.5 eine
superkritische und bei λ ≈ 42.5 eine subkritische Torus-Bifurkation vermuten. Instabile
periodische Lösungen sowie abzweigende Lösungen können wir mit derartigen Diagram-
men nicht erhalten, womit eine genaue Bifurkationsdetektierung nicht möglich ist.
1.6
1.4
1.2
s2
0.8
0.6
0.4
0.2
0
0
−0.5
s
1 −1 90
80
70
−1.5 60
40
50 λ
30
20
−2 10
0
für (λ, yR (0)) (vgl. Abb. 6.36) wurden neben dem Primärzweig S1 auch die ermittelten
abzweigenden Lösungen eingetragen.
Bifurkationsdetektierung
Wesentlich informativer sind 3D-Bifurkationsdiagramme, die zwei ausgewählte Lösungs-
komponenten über dem Kontrollparameter darstellen; in Abbildung 6.37 sind dies
(λ, xR (0), yR (0)), 0 ≤ λ ≤ 80. Offenbar existiert für 0 ≤ λ ≤ 34 eine stabile 2π-
periodische Lösung. Mit der vorgestellten indirekten Methode liefert Algorithmus 6.52
die Bifurkationspunkte in der ersten Spalte von Tabelle 6.3 sowie die detektierten Bifur-
kationstypen. An den berechneten charakteristischen Multiplikatoren mit |mi | ≈ 1 lässt
sich die geringere Genauigkeit der Fold-Bifurkationswerte und der Torus-Bifurkation bei
λ ≈ 93.70913803 erkennen. Für ausgewählte Grafiken wie in Abbildung 6.38 sind die
durchweg richtigen Typangaben jedoch nützlich.
354 6 Numerik periodischer Lösungen
1.3
1.2
torus
1.1 torus
1 torus
0.9
s2
0.8
torus
0.7
0.6
0.5
−0.8 torus torus
−1
−1.2
−1.4 43
41 42
39 40
37 38
s −1.6 36
1 35
λ
1.6
1.5
torus
1.4 torus
torus fold
1.3
1.2 torus
s2
flip
1.1 flip
flip
0.9 torus
flip torusfold
0.8
−0.5
−1
−1.5 60 62
56 58
52 54
−2 48 50
s
1 λ
endet, wenn alle Multiplikatoren in den Einheitskreis zurückgekehrt sind und die Lösung
wieder stabil ist. Jedes Szenario kann durch ein dafür typisches Lösungsdiagramm und
gegebenenfalls durch ein “brute-force“-Diagramm beschrieben werden. Untersuchen wir
das einfache, aber häufig auftretende Szenario des primären Lösungszweiges S1 mit zwei
Bifurkationen in Diagramm 6.39, das auch in Abbildung 6.38 erkennbar wird. Die Tabelle
6.4 enthält zu jedem Bifurkationspunkt den berechneten Parameterwert λ, den Bifurka-
tionstyp, die drei betragsgrößten Multiplikatoren(paare) und eine schematische Darstel-
lung des Einheitskreises mit den für die Bifurkation wichtigen Floquet-Multiplikatoren.
Das zweite in Abbildung 6.38 erkennbare Szenario liegt im Intervall 34 ≤ λ ≤ 42. Neben
dem primären Lösungszweig S1 ist der darin dargestellte sekundäre Zweig S2 mit sei-
nen Stabilitätsverhältnissen dargestellt. Die zugehörigen „brute-force“-Diagramme 6.40
sind nicht aussagekräftig und scheinen nicht mit den Werten in Abbildung 6.38 zu kor-
respondieren. In Tabelle 6.5 wird das Bifurkationsverhalten beider Lösungszweige S1
356 6 Numerik periodischer Lösungen
1.3
y2 (0)
1.2
1.1
0.9
0.8
0.7
0.6
34 35 36 37 38 39 40 λ 41
Abb. 6.40 „brute force“-Darstellung von Szenario 2 (aufwärts und abwärts)
und S2 verdeutlicht. Hier interagieren eine Torus- und eine Pitchfork-Bifurkation des
Primärzweiges. Die stabilen Sekundärzweige S2 für λ > 37.45021 führen offensichtlich
zu den dargestellten Diagrammen. Weitere Bifurkationen bei größeren Parameterwerten
λ < 100 – wie in Abbildung 6.38 dargestellt – wurden von Ernst (2004) mit dem an der
TU Ilmenau von Peterseim (2004) entwickelten MATLAB-Paket CPO (Continuation of
Periodic Orbits) analysiert und mittels der Ergebnisse des bekannten Paketes Auto2000
(vgl. Doedel et al. (2002)) verifiziert. Tabelle 6.3 zeigt in der letzten Spalte die mit Auto
berechneten Parameterwerte samt den übereinstimmenden signifikanten Dezimalstellen
(unterstrichen) sowie die von beiden Codes stets richtig erkannten Bifurkationstypen.
Beide Programmpakete haben eine Torus-Bifurkation bei λ ≈ 80.47679 nicht detek-
tiert, da sie sehr nahe an einer Fold-Bifurkation eintritt. Die gesamte Fortsetzung des
primären Lösungszweiges S1 über das Intervall [0.1, 100] inklusive der Ermittlung aller
Verzweigungspunkte aus Tabelle 6.3 nahm auf einem PC (1.5 GHz) mit CPO lediglich
2:30 Minuten in Anspruch.
Generell lässt sich die Vielzahl von Methoden zur Approximation von Bifurkationspunk-
ten in zwei grundlegende Klassen einteilen:
Indirekte Methoden bestimmen zu einer Folge (λk ), k = 0, 1, 2, . . . von Parameterwer-
ten die zugehörigen periodischen Lösungen und berechnen damit die Werte τ (λk ) einer
oder mehrerer ausgewählter Testfunktionen. Mittels iterativer Nullstellenbestimmung
bzw. durch Interpolation kann so ein lokaler Bifurkationspunkt (s(λ∗ ), T (λ∗ ), λ∗ )
detektiert werden. In vielen Fällen ist die erreichte Genauigkeit indirekter Methoden
zur Bestimmung von Bifurkationspunkten in praxi ausreichend, wie die CPO-Werte
6.4 Lösungsfortsetzung und Bifurkationsanalyse 357
6.5 Aufgaben
Aufgabe 6.1
Analysieren Sie das dynamische System aus Moore (1996) mit Parameter λ > 0
ẋ = (λ − 3)x − 4y + x(z + 15 (1 − z 2 ))
ẏ = 4x + (λ − 3)y + y(z + 15 (1 − z 2 ))
ż = λz − (x2 + y 2 + z 2 ).
Aufgabe 6.2
Betrachten Sie für den Parameter λ ∈ R folgendes DGL-System
a) Bestimmen Sie periodische Lösungen dieses Systems für Werte λ > 0. Wie groß ist
die Periode?
b) Stellen Sie das zugehörige Variationssystem auf, und lösen Sie es. Wie lauten die
Monodromiematrix M und die zugehörige Matrix R ?
c) Bestimmen Sie die charakteristischen Multiplikatoren und die charakteristischen Ex-
ponenten. Welche Stabilitätseigenschaft besitzen die Lösungen?
Aufgabe 6.3
Die Monodromiematrix M eines periodischen Orbits der Periode T hat die Darstellung
∞
1
M = eT ·R = · (T · R)k
k!
k=0
Aufgabe 6.4
Entwickeln Sie eine MATLAB- oder eine C-Funktion shooting zu Algorithmus 6.16
„Einfaches Schießverfahren ohne Variationssystem“ für periodische Orbits im nicht-
autonomen Fall ohne Benutzung des Variationssystems. Ermitteln Sie darin auch die
Eigenwerte und zugehörige normierte Eigenvektoren der Monodromiematrix M .
Aufgabe 6.5
Gegeben ist die DGL 2. Ordnung von E. Philippow
ẍ − ε(1 − x2 − ẋ2 )ẋ + x + b(4x3 − 3x) = B cos 3t
mit Parametern b, B, ε, die ein subharmonisch erregtes elektrisches Netzwerk beschreibt.
Bestimmen Sie 2π−periodische Lösungen für die Parameterwerte
Versuchen Sie, im Fall a) exakte Lösungen zu bestimmen. Welche der erhaltenen Lösun-
gen sind asymptotisch stabil, welche sind instabil?
Aufgabe 6.6
Entwickeln Sie eine MATLAB- oder eine C-Funktion contperiodauto zu Algorithmus
6.38 „Fortsetzung periodischer Orbits“ im autonomen Fall mit Stabilitätsanalyse unter
Nutzung des Variationssystems. Stellen Sie damit auch die charakteristischen Multipli-
katoren zusammen mit dem Einheitskreis in der komplexen Ebene grafisch dar. Beachten
Sie dazu Bemerkung 6.40.
Aufgabe 6.7
Gegeben ist das DGL-System 2. Ordnung von Philippow und Büntig (1992)
ẍ + αẋ3 − β ẋ + (1 + B sin 2t)x = 0
mit Amplitude B = 0.1, den Werten α = ε − B , β = ε/2 − B und dem reellen
Parameter ε > 0. Es beschreibt ein parametrisch erregtes elektrisches Netzwerk mit sub-
harmonischer Systemantwort. Bestimmen Sie 2π-periodische Lösungen, verschieden von
der trivialen Lösung x ≡ 0, für den Parameterbereich 0 < ε < 2 durch Lösungsfortset-
zung. Detektieren Sie dabei Bifurkationen und analysieren Sie deren Typen!
360 6 Numerik periodischer Lösungen
Aufgabe 6.8
Zu gegebener (n, n)-Monodromiematrix M sollen die Testfunktionen für Bifurkationen
periodischer Orbits
Aufgabe 6.9
Gegeben ist die parameterabhängige Poincaré-Abildung Pμ : R2 → R2 eines dynami-
schen Systems durch
x sx − ωy − cx(x2 + y 2 )
Pμ =
y ωx + sy − cy(x2 + y 2 )
1
√
mit den parameterabhängigen Größen s = ω = 2 2(1 + μ) und der Konstanten c > 0.
a) Stellen Sie für Punkte (x, y) ∈ R2 die Poincaré-Abildung grafisch dar. Wählen Sie
c = 1 und verschiedene μ-Werte. Welche Lösungstypen für das dynamische System
sind zu vermuten?
b) Weisen Sie nach, daß Pμ am Bifurkationswert μ = 0 alle Voraussetzungen des Satzes
von Neimark-Sacker für die Torusbifurkation erfüllt.
c) Wie sieht der Zweig invarianter Tori für μ > 0 formelmäßig aus?
Aufgabe 6.10
Auf C̄ := C ∪ {∞} sei die Möbius-Transformation f : C̄ → C̄ gegeben durch
1+z
f (z) := ;
1−z
1+z
das heißt insbesondere f (1) = ∞ , f (∞) = lim = −1.
|z|→∞ 1−z
B := (I − A)−1 (I + A) , I − Einheitsmatrix.
Aufgabe 6.11
W. F. Langford betrachtet ein dynamisches System der Hydrodynamik, das nach meh-
reren analytischen Problemtransformationen auf folgendes DGL-System
ẋ = (z − 0.7)x − ωy
ẏ = ωx + (z − 0.7)y (6.104)
1
ż = 0.6 + z − z 3 − (x2 + y 2 )(1 + z) + εzx3
3
Übersicht
7.1 Quasi-periodische Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364
7.2 Parametrisierung invarianter Tori . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380
7.3 Quasi-periodische invariante Tori . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399
7.4 Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420
“The world is full of periodic and quasi-periodic motions and oscillations. That is mul-
tifrequency oscillations. Mathematically, to a large extend, that means the study of inva-
riant tori of dynamical systems. These constitute the more systematic part of the phase
space of a dynamical system as opposed to the chaotic parts and their study is just as
(perhaps more) important as the study of chaos.“ (zitiert aus Samoilenko (1991))
Periodische Lösungen nichtlinearer dynamischer Systeme wurden in den vergangenen
Jahren gründlich analysiert. Ein umfangreiches numerisches Instrumentarium steht dem
Anwender zur Verfügung, wovon wir in Kapitel 6 grundlegende Komponenten vorgestellt
haben.
Wesentlich weniger untersucht sind hingegen quasi-periodische Bewegungen mit mehreren
Basisfrequenzen, treffender auch als „multifrequentielle Schwingungen“ bezeichnet. Der-
artige Lösungen bilden ein kompliziertes und sensitives Studienobjekt. Denn sie gehen
bei kleinen Änderungen an den Differenzialgleichungen leicht in periodische Lösungen
über, weshalb ein „stabilerer Träger“ dieser multifrequentiellen Schwingungen gesucht
ist. Bereits Jules Henry Poincaré (vgl. Kapitel 6.3) wusste, dass eine derartige Menge
ein Torus ist. Als Träger quasi-periodischer Lösungen wurden deshalb invariante Tori
von N. N. Bogoljubow und Y. A. Mitropolski untersucht. Eine spezielle Theorie exis-
tiert für bestimmte Hamiltonsche Systeme, die sogenannte KAM-Theorie (vgl. dazu die
Darstellung in Argyris et al. (1995)), und theoretische Resultate liegen für lineare und
„schwach nichtlineare“ dissipative Systeme vor. Wichtige Aussagen zu dieser praktisch
wesentlichen Problemklasse findet man bei Iooss und Joseph (1990), Samoilenko (1991)
und Broer et al. (1996). Numerische Verfahren zur Berechnung, Verfolgung und Stabili-
B. Marx, W. Vogt, Dynamische Systeme,
DOI 10.1007/978-3-8274-2448-8_7, © Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg 2011
364 7 Quasi-periodische Lösungen und invariante Tori
tätsnalyse derartiger Schwingungen sind jedoch bisher nur eingeschränkt verfügbar und
weiterhin Gegenstand der aktuellen Forschung.
Wir wollen uns in diesem Kapitel der recht anschaulichen Terminologie aus Samoilenko
(1991) bedienen und nach Einführung wesentlicher Grundbegriffe die bekannten nume-
rischen Zugänge betrachten, die wir auf konkrete praktische Probleme anwenden.
Der p-dimensionale Standardtorus Tp = (R/2π Z)p – desweitern auch kurz als p-Torus
bezeichnet – mit den Winkelkoordinaten θ1 , θ2 , . . . , θp modulo 2π ist die Menge
Tp = {θ | θ = (θ1 , . . . , θp )T , θi ∈ R mod 2π, i = 1, . . . , p }, (7.1)
die über [0, 2π)p parametrisiert ist. Speziell ist der 1-Torus T1 = S 1 und der 0-Torus T0
ist ein einziger Punkt. In Abbildung 7.1 wird der 2-Torus T2 mit den (lokalen) Winkelko-
ordinaten θ1 und θ2 in R3 dargestellt. Die Mannigfaltigkeit wird umkehrbar eindeutig auf
das Quadrat [0, 2π)2 im Parameterraum abgebildet. Die Koordinatenlinien θ1 = const
und θ1 = const sind in beiden Darstellungen eingezeichnet.
θ2
2π
θ1 = const
θ2
θ2 = const
θ1
θ1 θ2 = const θ1 = const
2π
einführen können. Für einen beliebigen Vektor F ∈ Rn soll desweiteren das Betragszei-
chen |F | stets die Euklidische Norm bezeichnen. Dieser vollständige normierte Raum ist
7.1 Quasi-periodische Funktionen 365
ein Banach-Raum und wird mit C 0 (Tp ) abgekürzt. Falls F r-mal stetig differenzierbar
ist, d. h. F stetige partielle Ableitungen bezüglich aller Variablen θi , i = 1, . . . , p, bis
zur Ordnung r besitzt, so können wir dafür die C r -Norm
∂ |α| F
F r := Dα F 0 mit Dα F := α (7.2)
∂θ1 ∂θ2α2 · · · ∂θp p
α1
|α|≤r
einführen. Dabei ist α = (α1 , α2 , . . . , αp ) ein Multi-Index mit |α| := pi=1 αi und Dα
der klassische Differenzialoperator der Ordnung |α| zum Multi-Index α. Mit C r (Tp ), r ≥
0 bezeichnen wir dann den Raum der r-mal stetig differenzierbaren Torusfunktionen,
welcher mit dieser Norm zu einem vollständigen normierten Raum wird.
Beispiel 7.1
Die stetig differenzierbare Funktion F : T3 → R mit
nur in C 0 (T2 ).
Betrachten wir nun trigonometrische Polynome N -ten Grades in C 0 (Tp ), die sich mit
p-fachen Summen in der Form
P (θ) = ak cos(k, θ) + bk sin(k, θ) = Pk ei(k,θ) (7.3)
|k|≤N |k|≤N
darstellen lassen. Darin ist k = (k1 , k2 , . . . , kp ) ein Vektor mit ganzzahligen Komponen-
ten, |k| seine Euklidische Norm und (k, θ) = k1 θ1 +· · ·+kp θp . Die Summenzeichen stehen
für p-fache Summation. Zwischen den reellen Fourierkoefizienten ak und bk und den kom-
plexen Koeffizienten Pk besteht der Zusammenhang ak = Re Pk und bk = −Im Pk
sowie P−k = Pk für reelle Funktionen P . Mit dem Weierstraß’schen Approximationssatz
erhalten wir
Satz 7.2
Jede Funktion F ∈ C 0 (Tp ) kann gleichmäßig durch trigonometrische Polynome ap-
proximiert werden, d. h. es existiert eine Folge trigonometrischer Polynome (Pm ),
m = 1, 2, . . . , mit limm→∞ F − Pm 0 = 0.
Damit ist der Banach-Raum C 0 (Tp ) der Abschluss des Raumes P(Tp ) der trigonometri-
schen Polynome bezüglich der Norm F 0 . In diesem Polynomraum P(Tp ) können wir
nun ein Skalarprodukt einführen. Für die zwei trigonometrischen Polynome
P (θ) = Pk ei(k,θ) und Q(θ) = Qk ei(k,θ)
|k|≤N |k|≤N
366 7 Quasi-periodische Lösungen und invariante Tori
definieren wir folgendes Produkt mit den üblichen Eigenschaften eines Skalarproduktes
2π 2π
1
P, Q0 := ··· P, Qdθ1 . . . dθp = Pk , Q−k . (7.4)
(2π)p
0 0 |k|≤N
das bekannte Skalarprodukt zweier Vektoren im Euklidischen Raum Rn . Mit dem Ska-
larprodukt (7.4) definieren wir die zugehörige Norm P in P(Tp ) mittels
2π 2π
2 1
P = P, P 0 = ··· |P |2 dθ1 . . . dθp = |P |2 . (7.5)
(2π)p
0 0 |k|≤N
Der Abschluss von P(T ) bezüglich dieser Norm liefert uns den Hilbert-Raum H0 (Tp ),
p
gegeben sind. Zp bezeichnet darin die Menge aller Vektoren k = (k1 , . . . , kp ) mit ganz-
zahligen Komponenten. Nach dem Satz von Riesz-Fischer ist jede Reihe k Fk ei(k,θ) mit
k |Fk | die Fourier-Reihe einer quadratisch summierbaren Funktion
2
endlicher Summe
F . Deshalb kann H (T ) mit dem Raum L2 (Tp ) der auf Tp quadratisch summierbaren
0 p
p
(k, ω) = k l ωl = 0 stets k = (0, . . . , 0) gilt.
l=1
Abb. 7.2 Oben: Quasi-periodische Tori M mit Basisfrequenzen ω1 = exp(1), ω2 = 3/10 (links)
und ω1 = 3/10, ω2 = exp(1) (rechts);
Unten: Resonante Tori M mit Frequenzen ω1 = 7, ω2 = 1 (links) und ω1 = 1, ω2 = 7 (rechts)
Beispiel 7.4
(a) Mit der Torusfunktion F (θ1 , θ2 , θ3 ) aus Beispiel 7.1 und den inkommensurablen Fre-
√
quenzen ω1 = 1, ω2 = π, ω3 = 2 ist
√ √
f (t) = F (ω1 t, ω2 t, ω3 t) = π sin t + cos(πt) · sin( 2 t) − ecos(t− 2 t)
eine quasi-periodische (triperiodische) Funktion mit drei Basisfrequenzen ω1 , ω2 , ω3 .
(b) Dagegen ist f (t) = cos(2.718t) − sin(3.141592t) nicht quasi-periodisch mit zwei
Basisfrequenzen (biperiodisch), da die beiden approximierten Frequenzen ω1 = 2.718 ≈ e
und ω2 = 3.141592 ≈ π wegen (ω, k) = 392699ω1 + (−339750)ω2 = 0 nicht rational
unabhängig sind.
368 7 Quasi-periodische Lösungen und invariante Tori
den Fluss ϕt (x0 ) = (sin t, cos t, sin πt, cos πt)T . Dieser ist biperiodisch wegen der In-
kommensurabilität von ω1 = 1 und ω2 = π mit der Torusfunktion
1 1
0.5 0.5
0 2 4 6 8 10 12 0 2 4 6 8 10 12
t t
–0.5 –0.5
–1 –1
dargestellt. Gemäß Definition 7.3 sind beide biperiodisch. Wir wollen nun zwei nützliche
Eigenschaften quasi-periodischer Funktionen anführen:
Satz 7.5
Die Menge der Werte einer quasi-periodischen Funktion f (t) = F (ωt) ist dicht in der
Menge der Werte der Torusfunktion F (θ).
Insbesondere ist das Supremum von |f | damit gleich der Norm von F , d. h.
woraus folgt, dass f (t) = 0 für alle t ∈ R genau dann gilt, wenn F (θ) = 0 für
alle θ ∈ Tp ist. Anschaulich werden quasi-periodische Tori von jedem Orbit γ, der
darauf verläuft, dicht gefüllt. Die gesamte Bewegung ist deshalb ergodisch, jedoch nicht
chaotisch, da sie nicht sensitiv von den Anfangsbedingungen abhängt (vgl. Abb. 7.4).
Da jedes F ∈ C 0 (Tp ) nach Satz 7.2 durch ein trigonometrisches Polynom der Form (7.3)
approximiert werden kann, können wir jede quasi-periodische Funktion f (t) = F (ωt)
2.5
6
2
1.5 5
1
4
0.5
3
0 6
6 5
2
5 4
4 3
3 θ1 1
θ2 2
2
1 1
0
0 0 0 1 2 3 4 5 6
6
3
5
2
1 4
0 6
3
6 5
5 4 2
4 3
3 θ1
θ2 2 1
2
1 1
0
0 0 0 1 2 3 4 5 6
Satz 7.6
Für jede quasi-periodische Funktion f (t) = F (ωt) existiert der Grenzwert
T +τ 2π 2π
1 1
f0 := lim f (t) dt = ··· F (θ) dθ1 . . . dθp (7.10)
T →∞ T (2π)p
τ 0 0
Die Menge aller quasi-periodischen Funktionen bildet einen Vektorraum, für den wir
ebenfalls eine Norm
n
f 0 := sup |f (t)| mit der Euklidischen Vektornorm |f |2 := |fi |2
t∈R i=1
einführen können und den normierten Raum C 0 (ω) erhalten. Aus der Vollständig-
keit des normierten Raumes C 0 (Tp ) folgt zusammen mit der Eigenschaft (7.8), dass
C 0 (ω) ebenfalls ein Banach-Raum ist. Das Skalarprodukt F, G0 zweier Torusfunktio-
nen F, G ∈ C 0 (Tp ) induziert mittels (7.10) ein entsprechendes Skalarprodukt f, g0 der
quasi-periodischen Funktionen f (t) = F (ωt) und g(t) = G(ωt)
T
1
f, g0 = lim f (t), g(t) dt = F, G0 (7.11)
T →∞ T
0
sowie eine Norm f := f, f 0 . Die Funktionen ei(k,ω)t , k ∈ Zp , bilden dann ein
vollständiges Orthonormalsystem in C 0 (ω). Jede Funktion f ∈ C 0 (ω) kann durch eine
Fourier-Reihe
T
1
f (t) = i(k,ω)t
fk e mit Koeffizienten fk := lim f (t)e−i(k,ω)t dt
T →∞ T
k∈ Zp 0
erfüllt. Auch im Banach-Raum C 0 (ω) können wir den Unterraum C r (ω) aller quasi-
periodischen Funktionen f konstruieren, für die eine Torusfunktion F ∈ C r (Tp ), r ≥ 0,
mit f (t) = F (ωt) existiert. Jede Funktion f ∈ C r (ω) ist dann r-mal stetig differenzierbar
in t ∈ R und ihre Ableitungen sind quasi-periodisch. Führen wir auch hier eine Norm
ein, so ist der Raum C r (ω) ebenfalls vollständig. Betrachten wir schließlich eine Funktion
F (θ) = k Fk e
i(k,θ)
aus dem Hilbert-Raum H0 (Tp ). Mit einer gegebenen Frequenz-
basis ω = (ω1 , . . . , ωp ) bilden wir die quasi-periodische Funktion f (t) = F (ωt) mit der
Reihe
f (t) = Fk ei(k,ω)t .
k∈ Zp
Diese Funktionen bilden einen Vektorraum, den wir mit H0 (ω) bezeichnen. Zu zwei
Funktionen f, g mit Fourier-Reihen f (t) = k Fk ei(k,ω)t und g(t) = k Gk ei(k,ω)t
können wir Skalarprodukt und Norm durch
f, g0 := Fk , G−k , f 2 = f, f 0
k∈ Zp
definieren. Für trigonometrische Polynome P (θ) = |k|≤N Pk e
i(k,θ)
aus P(Tp ) be-
zeichne P(ω) den Raum der univariaten Polynome
p(t) = Pk ei(k,ω)t zur Frequenzbasis ω = (ω1 , . . . , ωp ).
|k|≤N
Nach Einführung der Grundbegriffe wenden wir uns nun wieder der Betrachtung auto-
nomer DGL-Systeme
beschrieben werden. Das dadurch erzeugte Bild des Standardtorus Tp werden wir mit
M bezeichnen. Welche Eigenschaften besitzt diese Menge?
1. Die Menge M ist invariant bezüglich des Systems (7.13), d. h. sie besteht aus Punkten
von Orbits dieses Systems. Setzen wir dazu die Lösung (7.26) in die DGL ein, so liefert
die Integration
t
F (ωt) = F (0) + f (F (ωτ )) dτ, t ∈ R.
0
woraus x(t, F (θ)) = F (ωt + θ) für t ∈ R, ∈ Tp folgt. Also ist die Menge M invariant
bezüglich (7.13).
2. Wegen (7.26) gehört die Lösung x(t, x0 ) zu C r (ω). Angenommen, es kann eine zweite
Frequenzbasis Ω = (Ω1 , Ω2 , . . . , Ωq ) mit q < p Basisfrequenzen gefunden werden, so dass
x(t, x0 ) ∈ C 0 (Ω) mit einer entsprechenden Torusfunktion gilt. Dann lässt sich nachweisen,
dass die Lösung auch zu C r (Ω) gehört. Für den Fall, dass dies nicht gelingt, führen wir
folgenden Begriff ein:
Die reale Dimension p∗ beschreibt zugleich die Dimension der Menge M in jedem ihrer
Punkte. Dies kann folgendermaßen formuliert werden (vgl. Samoilenko (1991), S. 72ff.):
Satz 7.8
Es sei x(t, x0 ) = F (ωt) ∈ C r (ω) mit r ≥ 1 und ω = (ω1 , ω2 , . . . , ωp ) eine Frequenzbasis
mit p Frequenzen. Dann ist
∂F (θ)
rang = p∗ , θ ∈ Tp , (7.16)
∂θ
worin p∗ ≤ p die reale Dimension der Frequenzbasis von x(t, x0 ) ist.
Insbesondere ist die reale Dimension p∗ kleiner als die Dimension n des Phasenraumes
und gibt die Maximalzahl linear unabhängiger Spalten der Jacobi-Matrix ∂F∂θ(θ) an.
7.1 Quasi-periodische Funktionen 373
Beispiel 7.9
Beispiel 7.4(d) lieferte zum Anfangswert x0 = (0, 1, 0, 1)T die quasi-periodische Lösung
x(t, x0 ) = (sin t, cos t, sin πt, cos πt)T . Mit der Frequenzbasis ω = (ω1 , ω2 ) = (1, π)
lautet die Torusfunktion
Die Jacobi-Matrix
⎛ ⎞
cos θ1 0
⎜ ⎟
∂F (θ) ⎜− sin θ1 0 ⎟
=⎜
⎜
⎟
⎟
∂θ ⎝ 0 cos θ2 ⎠
0 − sin θ2
besitzt für alle θ = (θ1 , θ2 ) ∈ T2 den Rang 2, womit p∗ = 2 die reale Dimension der
Frequenzbasis ist.
Die Anzahl p∗ der Frequenzen in einer maximalen Basis ist offenbar gleich der Dimen-
sion der realen Frequenzbasis der Lösung x(t, x0 ). Sind zwei Frequenzbasen ω und Ω
maximal, so sind P und P −1 ganzzahlige Matrizen. Im periodischen Spezialfall besteht
die maximale Basis aus der größten Frequenz ω = 2π/T der Lösung x(t, x0 ), die durch
die kleinste Periode T bestimmt wird. Die Frage nach der Existenz einer maximalen Fre-
quenzbasis und der Eigenschaften von F beantwortet
374 7 Quasi-periodische Lösungen und invariante Tori
Satz 7.11
Für jede quasi-periodische Lösung x(t, x0 ) = F (ωt) ∈ C 0 (ω) der DGL (7.13) gilt:
i. Die Funktion x(t, x0 ) besitzt eine maximale Frequenzbasis.
ii. Die Abbildung F : θ → F (θ) definiert einen Homöomorphismus genau dann, wenn
die Frequenzbasis ω = (ω1 , ω2 , . . . , ωp ) maximal ist.
iii. Ist darüber hinaus x(t, x0 ) ∈ C r (ω) mit r ≥ 0, so ist die Menge M (der Abschluss
des Orbits durch x0 ) C r -homöomorph zu einem p-Torus, wobei p die reale Dimension
der Frequenzbasis der Lösung x(t, x0 ) ist.
Die Menge M, die C r -homöomorph zu einem p-Torus ist, werden wir als p-dimensionale
toroidale Mannigfaltigkeit mit C r -Glattheit r bezeichnen bzw. kürzer als C r -glatten p-
Torus.
Wir wollen nun voraussetzen, dass das autonome DGL-System (7.13) eine quasi-
periodische Lösung
besitzt, die der Rangbedingung (7.16) mit p∗ = p genügt. Dann stellt p die reale Di-
mension der Frequenzbasis ω = (ω1 , ω2 , . . . , ωp ) dar. Nach Satz 7.11 kann daraus eine
maximale Basis gewonnen werden. Um die p-dimensionale Torusmannigfaltigkeit global
in der Form
M = {x | x = F (θ) , θ ∈ Tp } (7.18)
x3
Σ
x = b(θ)
u
θ2
b2
x2
b1
θ1
x1
Wird eine Toruslösung bezüglich eines Parameters λ fortgesetzt, so steht für λ0 ein
invarianter „Referenztorus“ M0 mit Parametrisierung b(θ) zur Verfügung, dessen
Normalraum N(θ,u) M0 durch die q Spaltenvektoren von B(θ) aufgespannt wird. Der
zum Parameter λ gesuchte benachbarte Torus M kann nun durch (7.19) parametri-
siert werden, wie dies der Poincaré-Schnitt Σ in Abbildung 7.6 für n = 3 zeigt.
Wir suchen nun eine Darstellung des invarianten p-Torus M mit der Torusfunktion
u : Tp → Rq . Wenden wir die Transformation (7.19) auf eine Lösung der DGL an, d. h.
setzen wir x(t) = B(θ(t))u(t) + b(θ(t)), so geht bei Differenziation in (θ, u)-Koordinaten
Σ
N(θ,u) M0
u(θ)
Abb. 7.6 Koordinaten-
transformation in R3 :
θ2
renztorus M0 (schwarz)
θ1
bestehende Matrix und L2 (θ, u) entsprechend die aus den verbleibenden q Zeilen von
C(θ, u)−1 bestehende Matrix. Die vorausgesetzte 2π-Periodizität von B(θ) , b(θ) und
u(θ) bezüglich jeder θ-Komponente überträgt sich unmittelbar auf Ω(θ, u) und R(θ, u).
Wegen der Regularität von C(θ, u) sind diese Funktionen zudem C s -glatt, wenn B(θ)
und b(θ) als C s+1 -glatt vorausgesetzt werden. Die Regularität der n × n-Matrix C(θ, u)
auf Tp × D, D ⊂ Rq muss allerdings im konkreten Fall stets verifiziert werden.
Beispiel 7.12
Betrachten wir das System zweier schwach linear gekoppelter Van-der-Pol-Oszillatoren
d2 x1 dx1
− e(1 − x21 ) + x1 = b(x2 − x1 )
dt2 dt
d2 x2 dx2
− e(1 − x22 ) + (1 + d)x1 = b(x1 − x2 )
dt2 dt
mit Dämpfung e > 0, Verzerrung d ≥ 0 und mit b ≥ 0 als Parameter für die lineare
Kopplung der beiden Systeme. In Kapitel 2 wird gezeigt, dass bei fehlender Kopplung
7.1 Quasi-periodische Funktionen 377
ẋ1 = y1
ẏ1 = −x1 + b(x2 − x1 ) + e(1.0 − x21 )y1
(7.23)
ẋ2 = y2
ẏ2 = −x2 − dx2 + b(x1 − x2 ) + e(1.0 − x22 )y2
bieten sich deshalb Polarkoordinaten zur Transformation in das (θ, u)-System mit
an, wobei u1 > 0, u2 > 0 gilt. Die Transformation (7.19) lautet dann mit b(θ) = 0
⎛ ⎞
cos θ1 0
⎜ ⎟
⎜− sin θ1 0 ⎟
x = B(θ)u + b(θ) = ⎜ ⎟ · u1 ,
⎜ ⎟
⎝ 0 cos θ2 ⎠ u2
0 − sin θ2
erhalten. Deren Determinante ist det(C(θ, u)) = −u1 u2 < 0 für alle (θ1 , θ2 ) ∈ T2 . Das
partitionierte System (7.21) mit p = q = 2 bekommt dann die recht komplizierte Form
b e
θ̇1 = 1.0 + c12 cos θ1 + c1 sin 2θ1 =: Ω1 (θ1 , θ2 , u1 , u2 )
u1 2
b e
θ̇2 = 1.0 + d cos2 θ2 − c12 cos θ2 + c2 sin 2θ2 =: Ω2 (θ1 , θ2 , u1 , u2 )
u2 2
u̇1 = bc12 sin θ1 + ec1 u1 sin2 θ2 =: R1 (θ1 , θ2 , u1 , u2 )
d
u̇2 = u2 sin 2θ2 − bc12 sin θ2 + ec2 u2 sin2 θ2 =: R2 (θ1 , θ2 , u1 , u2 )
2
mit den Abkürzungen c12 := u1 cos θ1 − u2 cos θ2 , c1 := 1.0 − u21 cos2 θ1 und
c2 := 1.0 − u22 cos2 θ2 .
378 7 Quasi-periodische Lösungen und invariante Tori
dθ du
= ω, = u(1 − u2 ) mit Frequenz ω > 0 (7.27)
dt dt
besitzt zu beliebigem u(0) > 0 eine Lösung mit limt→∞ u(t) = 1. Also ist die Menge
M = {(θ, u) | u = u(θ) = 1, θ ∈ S1 } ⊂ S1 × R
eine attraktive invariante Mannigfaltigkeit dieser DGL. Wir koppeln nun zwei Systeme
des Typs (7.27) und führen dazu eine Kopplungsfunktion g : S1 × S1 × R2 → R4 ein,
die als C ∞ -glatt vorausgesetzt wird. Mit dem Kopplungsparameter ε erhalten wir die
Drastellung in partitionierter Form
Mit den Toruskoordinaten θ = (θ1 , θ2 ) und u = (u1 , u2 ) besitzt dieses System bei feh-
lender Kopplung (ε = 0) die invariante Mannigfaltigkeit
als kartesisches Produkt der zwei invarianten Einheitskreise. M0 ist damit diffeomorph
zum Standard-2-Torus T2 = S1 × S1 . Orbits auf der Mannigfaltigkeit sind quasi-
periodisch, falls die Basisfrequenzen ω1 und ω2 rational unabhängig sind; andernfalls
liegt ein periodischer Orbit vor.
Was geschieht nun mit dem invarianten Torus M0 bei vorhandener Kopplung? Für kleine
Kopplung |ε| ≤ εs liefert die analytische Störungstheorie eine Existenzausssage für den
gestörten Torus Mε (vgl. Lorenz (1991)):
Satz 7.14
Zu jedem s ∈ {1, 2, 3, . . .} existieren eine Schranke εs > 0 und eine C s -glatte Funktion
us : T2 × (−εs , εs ) → R2 , mit der die Mannigfaltigkeit
Bei weiterem Anwachsen der Kopplung |ε| muss allerdings mit dem Zusammenbruch des
Torus gerechnet werden, der dann in der Regel in eine periodische Bewegung übergeht.
Um die Klasse der numerisch zu behandelnden Probleme nicht unnötig einzuschränken,
wollen wir für allgemeine nichtlineare Systeme in partitionierter Form (7.21) die folgende
Voraussetzung treffen:
Für derartige p-Tori lassen sich Stabilitätsbegriffe einführen, die sich an der Ljapunov-
Stabilität von Orbits orientieren, nun aber den gesamten Torus M betreffen.
Die euklidische Länge des Vektors θ = (θ1 , . . . , θp )T auf dem Torus Tp sei durch
definiert, und (θt , ut ) sei die Lösung des partitionierten Systems (7.21) mit den Anfangs-
werten θ(0) = θ0 und u(0) = u0 . Den Abstand dt eines Punktes (θt , ut ) vom Torus M
in Tp × Rq führt Samoilenko (1991) in der Form
1
dt := minp { θt − θ 2Tp + ut − u(θ) 2 } 2 (7.31)
θ∈T
Ein invarianter Torus der nicht stabil ist, wird als instabil (unstable) bezeichnet. Eine
genauere Aussage bezüglich der Konvergenzgeschwindigkeit in (7.32) liefert folgende
für positive, von t0 und d0 unabhängige Konstanten γ und K und t0 ∈ [0, ∞) erfüllt ist.
Aus dieser Definition folgt sofort, dass jeder exponentiell stabile Torus auch asympto-
tisch stabil ist. Stabilitätsnachweise anhand dieser Definitionen sind bei konkreten DGL-
Systemen (7.21) meist nicht möglich. Die in den vorhergehenden Kapiteln benutzten
algebraischen Stabilitätskriterien mittels der Eigenwerte der
Jacobi-Matrix im Falle von Gleichgewichtslösungen (Kapitel 5) bzw.
Monodromiematrix (Floquet-Multiplikatoren) für periodische Lösungen (Kapitel 6)
stehen bei invarianten p-Tori allerdings nicht zur Verfügung.
gewinnen. Diese Mannigfaltigkeit ist jedoch genau dann invariant unter dem Fluss des
Systems
dθ du
= Ω(θ, u), = R(θ, u),
dt dt
wenn zu jedem Punkt (θ, u) ∈ M der Vektor (Ω(θ, u), R(θ, u))T ∈ Rp × Rq im Tangenti-
alraum T(θ,u) M von M liegt. Da dieser Unterraum durch die p Vektoren t1 , t2 , . . . , tp mit
⎛ ⎞T
⎜ ∂u1 ∂uq ⎟
tk = ⎜ ⎟
⎝ 0, 0, . . . , 1, . . . , 0, 0, ∂θk , . . . , ∂θk ⎠ ∈ R × R
p q
$ %& '
k-ter Einheitsvektor
aufgespannt wird, stellen wir (Ω(θ, u), R(θ, u))T als Linearkombination dieser Vektoren
p
Ω(θ, u)
αk (θ, u)tk = mit Koeffizientenfunktionen αk (θ, u)
k=1 R(θ, u)
dar. Einsetzen der tk liefert unmittelbar αk (θ, u) = Ωk (θ, u) für k = 1(1)p. Die zu
bestimmende Funktion u = (u1 , . . . , uq ) : Tp → Rq löst damit das System partieller
Differenzialgleichungen (PDGL) 1. Ordnung mit q Gleichungen
p
∂u
Ωk (θ, u) = R(θ, u), θ ∈ Tp . (7.35)
∂θk
k=1
Da sowohl die Koeffizientenfunktionen Ωk (θ, u), k = 1(1)p, als auch die rechten Seiten
Rk (θ, u), k = 1(1)q, von den Größen θ1 , . . . , θp , u1 , . . . , uq abhängen können, ist das
System quasilinear. Zudem sind die skalaren Koeffizientenfunktionen Ωk (θ, u) in allen q
Gleichungen identisch, so dass (7.35) ein PDGL-System mit gleichem Hauptteil darstellt.
Gemäß der Theorie partieller DGL (vgl. z. B. Courant und Hilbert (1968)) ist dieses
PDGL-System dem charakteristischen DGL-System
dθj
= Ωj (θ, u) , j = 1(1)p
dt (7.36)
duk
= Rk (θ, u) , k = 1(1)q
dt
382 7 Quasi-periodische Lösungen und invariante Tori
hinzuzufügen. Der gesuchte p-Torus M kann dann als numerische Lösung des Randwert-
problems (7.35),(7.37) bestimmt werden.
Beispiel 7.18
1. Das System zweier linear gekoppelter Van-der-Pol-Oszillatoren aus Beispiel 7.12 führt
mit den dort definierten Funktionen Ω1 , Ω2 und u1 , u2 auf das PDGL-System
∂u1 ∂u1
Ω1 (θ1 , θ2 , u1 , u2 ) + Ω2 (θ1 , θ2 , u1 , u2 ) = R1 (θ1 , θ2 , u1 , u2 )
∂θ1 ∂θ2
(7.38)
∂u2 ∂u2
Ω1 (θ1 , θ2 , u1 , u2 ) + Ω2 (θ1 , θ2 , u1 , u2 ) = R2 (θ1 , θ2 , u1 , u2 )
∂θ1 ∂θ2
mit den Torusbedingungen
u1 (θ1 , θ2 ) = u1 (θ1 + 2π, θ2 ), u2 (θ1 , θ2 ) = u2 (θ1 + 2π, θ2 ),
u1 (θ1 , θ2 ) = u1 (θ1 , θ2 + 2π), u2 (θ1 , θ2 ) = u2 (θ1 , θ2 + 2π).
2. Das einfache partitionierte System (7.28) liefert ebenfalls eine derartige quasilineare
PDGL, die im entkoppelten Fall (ε = 0) zur Darstellung
∂u1 ∂u1
ω1 + ω2 = u1 (1 − u21 )
∂θ1 ∂θ2
(7.39)
∂u2 ∂u2
ω1 + ω2 = u2 (1 − u22 )
∂θ1 ∂θ2
führt. Die Lösung u1 (θ1 , θ2 ) = u2 (θ, θ2 ) = 1 auf dem Intervall [0, 2π]2 genügt trivialer-
weise den Torusbedingungen.
Eine Approximation von M entlang der Charakteristiken ist zwar möglich, indem wir
das charakteristische System (7.36) als Anfangswertproblem integrieren. Dieser Zugang
besitzt jedoch beträchtliche Nachteile in folgenden Fällen:
Ist der Torus kein Attraktor, so erhalten wir numerisch keine auf M verlaufenden
Orbits. Auch bei „schwach“ attraktiven Tori ist der Zugang ineffizient.
Sind die Basisfrequenzen rational abhängig, so ist der Torus nicht ergodisch und die
berechneten quasi-periodischen bzw. periodischen Orbits füllen den Torus nicht dicht.
Durch die – numerisch zwar ungleich aufwändigere – Integration der PDGL mit den
Torusbedingungen können wir uns von diesen Einschränkungen weitgehend befreien.
7.2 Parametrisierung invarianter Tori 383
Beispiel 7.19
Für das System von W. F. Langford aus Beispiel 5.1 mit den Konstanten ω = 3.5,
= 0.25, β = 0.7 und dem Kontrollparameter ε liefert die Integration der gewöhnlichen
DGL die in Abbildung 7.7 dargestellten Orbits. Während für ε = 0 der Orbit den ergo-
dischen Torus dicht füllt, gewinnen wir bei ε = 0.06 keine wesentliche Information über
die Mannigfaltigkeit.
2.5
1.5
1.5
1
z 1
0.5 z
0.5
0
–0.5 0
–1 –1.5
–1.5 –1 –1.5
–1 –1 –1
–0.5
–0.5 0 –0.5 –0.5
0 0 0
0.5 0.5 x 0.5 x
y 1 1 y 1 0.5
1.5 1.5 1
Abb. 7.7 Langford-System des Beispiels 6.26: Orbits für ε = 0 (links) und ε = 0.06 (rechts)
Die numerische Lösung der p-dimensionalen PDGL (7.35) stellt für p ≥ 2 und große
Systemdimension q ein ernstes Problem dar. In den vergangenen Jahren wurden unter-
schiedliche Ansätze entwickelt und im Falle von 2-Tori erfolgreich erprobt. So erfolgt die
Lösung der Torusgleichungen (7.35), (7.37) auf Tp durch
Wir treffen dazu folgende Voraussetzung, die in der Regel häufig erfüllt ist:
Voraussetzung 7.20
Es existiert ein j ∈ N mit 1 ≤ j ≤ p, so dass die Funktion Ωj (θ, u) = 0 für alle
(θ, u) ∈ Tp × D mit D ⊂ Rq ist.
Durch einfaches Umnummerieren lässt sich stets j = p erreichen. Wir dividieren sämt-
liche Gleichungen der PDGL (7.35) durch Ωp (θ, u), womit in dieser „normalisierten“
Gleichung nunmehr Ωp (θ, u) ≡ 1 ist. Somit kann θp := t gesetzt und mit der Zeitvaria-
blen t identifiziert werden. Die verbleibenden p − 1 Variablen bezeichnen wir wiederum
abkürzend mit θ := (θ1 , . . . , θp−1 ) und erhalten so die normalisierte Darstellung der
PDGL
∂u
p−1
∂u
+ Ωj (θ, t, u) = R(θ, t, u) (7.40)
∂t ∂θj
j=1
Ωj (θ, t, u) R(θ, t, u)
Ωj (θ, t, u) := und R(θ, t, u) := .
Ωp (θ, t, u) Ωp (θ, t, u)
dx
= f (x, t), f : Rn × R, → Rn (7.42)
dt
mit periodischer Erregung in t. Nach einer eventuellen Zeittransformation kann die Pe-
riode stets mit T = 2π vorausgesetzt werden, d. h. f (x, t + 2π) = f (x, t) für alle (x, t).
Identifizieren wir θp mit t, so ergibt sich nach Transformation ein partitioniertes System
für (θ, t) ∈ Tp . Hieraus folgt unmittelbar die normalisierte Darstellung (7.40), die damit
bei periodisch erregten DGL stets erreicht wird.
7.2 Parametrisierung invarianter Tori 385
Beispiel 7.21
Das System 6.4 von Philippow und Büntig (1992) eines subharmonisch reagierenden
elektrischen Netzwerkes
ẋ = y
ẏ = ε(1 − x2 − y 2 )y − x − b(4x3 − 3x) + B cos 3t ,
x = u cos θ1 , y = u sin θ1
∂u ∂u
+ Ω(θ1 , θ2 , u) = R(θ1 , θ2 , u) (7.46)
∂θ2 ∂θ1
mit den in (7.45) erhaltenen Funktionen Ω, R und den Torusbedingungen
beschrieben. Die Gleichung (7.46) ist bereits in normalisierter Darstellung (7.40), so dass
keine weiteren Umformungen notwendig sind.
386 7 Quasi-periodische Lösungen und invariante Tori
Wenden wir uns nun der numerischen Lösung des Problems (7.40) mit Periodizitätsbe-
dingungen (7.41) zu. Wenn wir – wie bei partiellen DGL üblich – t als „Zeitvariable“
und θ als „Ortsvariablen“ auf dem Grundgebiet D = [0, T ]p mit T = 2π interpretie-
ren, so stellt die PDGL ein quasilineares hyperbolisches System 1. Ordnung dar, dessen
Lösungen allerdings die Randbedingungen für j = 1(1)p − 1
auf dem Rand ∂D erfüllen müssen. Dazu fassen wir bei festem Wert t ∈ T1 die Funktion
u(θ, t) als Element des Banach-Raumes C r -glatter Torusfunktionen in p − 1 Variablen
mit r ≥ 2 auf und bezeichnen für festes t die Elemente dieses Funktionenraumes mit
v(t) := u(θ, t). Sodann führen wir den Differenzialoperator F : Br × T1 → Bs mit
1 ≤ s < r ein, der durch
p−1
∂u(θ, t)
F(v, t) := − Ωj (θ, t, u(θ, t)) + R(θ, t, u(θ, t)) (7.49)
∂θj
j=1
definiert wird. Beachten wir anschließend die Abhängigkeit der Abbildung v(t) = u(θ, t)
von t, so ergibt sich bei variablem Wert t eine Banach-Raum-wertige Funktion
v ∈ C r ([0, T ], Br ). Damit kann (7.40), (7.41) äquivalent durch das Zweipunkt-
Randwertproblem (RWP)
dv
= F (v, t), v(0) = v(T ) mit T = 2π (7.50)
dt
für v beschrieben werden. Die Periodizität der Funktionen Ω und R bezüglich t überträgt
sich wegen u ∈ C r (Tp ) gemäß Voraussetzung auf den Operator F mit
Bemerkung 7.22
Da (7.50) wegen der Wahl der Banach-Räume Br lediglich eine Umformulierung der ur-
sprünglichen Aufgabe darstellt, entspricht jede periodische Lösung v ∗ von (7.50) genau
einer Toruslösung u∗ von (7.40) und umgekehrt. Voraussetzung 7.15 sichert somit zusam-
men mit Voraussetzung 7.20 die Existenz einer periodischen Lösung v ∗ des Zweipunkt-
Randwertproblems. Zudem folgt auch die stetige Differenzierbarkeit von F bezüglich v
und t im Sinne von Fréchet.
7.2 Parametrisierung invarianter Tori 387
Schießverfahren
Als Lösungsverfahren für das RWP (7.50) bietet sich die Rückführung dieser Aufgabe
mittels des Schießverfahrens 6.6 aus Kapitel 6 an, das nun nicht im endlichdimensionalen
Raum Rn , sondern im unendlichdimensionalen Banach-Raum B ausgeführt wird. Wir
betrachten dazu das entsprechende AWP
dv
= F (v(t), t) , v(0) = s ∈ Br (7.52)
dt
für t ∈ [0, T ]. Gesucht ist ein Element s∗ ∈ Br , mit dem die Periodizitätsbedingung
v(0) = v(T ) = s∗ erfüllt ist. Wir wollen wie in Kapitel 6 davon ausgehen, dass für
Anfangselemente s in einer hinreichend kleinen Umgebung U (s∗ ) um s∗ dieses AWP eine
eindeutige Lösung auf ganz [0, T ] besitzt. Bezeichnen wir mit v(t; s) diese Lösung für
festes s ∈ Br , so lässt sich auf U(s∗ ) die Abbildung
definieren. Offenbar ist v ∗ (0) = s∗ genau dann eine gesuchte Anfangsbedingung von
(7.52), wenn s∗ die Gleichung
löst. Zur Bestimmung asymptotisch und speziell exponentiell stabiler Tori kann dafür die
Fixpunktiteration (Picard-Iteration) eingesetzt werden. In diesen Fällen ergeben sich die
Fixpunktiterierten in der Form
Basisdiskretisierungen 1. Ordnung
In der nachfolgenden Darstellung beschränken wir uns auf den praxisrelevanten Fall von
2-Tori mit der Variablenbezeichnung (θ, t) ∈ T2 . System (7.40) erhält dann die Form
∂u ∂u
+ Ω(θ, t, u) = R(θ, t, u), (θ, t) ∈ T2 (7.56)
∂t ∂θ
mit Ω : T2 × Rq → R , R : T2 × Rq → Rq und den Torusbedingungen
mit den Gitterfunktionen un j ∼ u(θj , tn ) angeben. Offenbar stellt dieses Verfahren ein
6-Punkt-Differenzenschema dar, bei dem die drei Lösungswerte un+1 n+1
j−1 , uj , un+1
j+1 auf
n n n
der (n + 1)-ten Zeitschicht tn+1 aus den drei Werten uj−1 , uj , uj+1 der n-ten Schicht
ermittelt werden (vgl. Abb.7.8). Sμ∗ ∈ Rq×q und Sμ ∈ Rq×q mit μ = −1, 0, 1 sind sechs
un+1
j un+1
j+1
un+1
j−1
un
j un
j+1
t un
j−1
tn+1
tn+1
τ τ
tn tn
h h
Ein allgemeiner Konsistenz- und Konvergenzsatz sowohl für explizite als auch linear im-
plizite Verfahren 1. Ordnung der Form (7.59) wurde von Bernet (1995) bewiesen. Mit
allen Voraussetzungen lautet er:
1
v. μ(Sμ∗ (θ, t, u) − Sμ (θ, t, u)) ≡ λC mit C = diag(ci )
μ=−1
und ci = Ω(θ, t, u) , i = 1(1)q.
Dann ist das Verfahren konsistent in h und τ mit der Ordnung 1. Gilt weiterhin:
vi. (7.59) ist von positivem Typ, die Diagonalmatrizen Sμ∗ , μ = −1, 0, 1, sind
Lipschitz-stetig in u mit der zusätzlichen Bedingung, dass zwei der drei
Matrizen Sμ∗ nur Diagonalelemente (s∗μ )k ≤ 0 , k = 1(1)q, besitzen und
vii. bezüglich der Anfangswerte sei u0j − s(θj ) ∞ ≤ K0 h für alle j ≥ 0,
h ≤ h0 , K0 > 0 erfüllt,
en n
j ∞ = zj − z(tn ; θj ) ∞ ≤ Kh , K>0 für alle j, n.
λ
un+1
j = un
j + Ω(θj , tn , un n n
j )(uj−1 − uj+1 ) +
2
λ
+ Φ(Ω(θj , tn , un n n n
j ))(uj−1 − 2uj + uj+1 ) + (7.64)
2
+ τ R(θj , tn , un
j ), j = 0(1)J − 1.
Wie man leicht erkennt, wird neben den Differenzenapproximationen der 1. Ableitungen
nach t und θ ein künstlicher Diffusionsterm 2. Ordnung eingeführt und durch einen
zentralen Differenzenquotienten approximiert. Das Differenzenschema zur Berechnung
von un+1
j ist in Abbildung 7.9 dargestellt.
unj
tn+1
Abb. 7.9 Differenzensche-
ma des expliziten Upwind-
tn und Friedrichs-Verfahrens
θj−1 θj θj+1
1 n λ n
un+1
j = uj+1 + un
j−1 + Ω(θj , tn , un n n
j ) uj−1 − uj+1 + τ R(θj , tn , uj ). (7.66)
2 2
Wenn die Lösungswerte un j auf der n-ten Zeitschicht vorliegen, können mit beiden Ver-
fahren die neuen Werte für j = 0, 1, 2, . . . , J − 1 leicht bestimmt werden. Eine spezielle
Randapproximation in der Umgebung von θ0 = 0 und θJ−1 = 2π − h ist nicht erforder-
lich, wenn alle Rechnungen bezüglich des Index j modulo J ausgeführt werden.
Für die beiden Verfahren (7.64) und (7.66) sind gemäß ihrer Konstruktion die Vorausset-
zungen (iv) und (v) des Konvergenzsatzes 7.25 erfüllt, womit ihre Konsistenz gesichert
ist. Um auch die Voraussetzung (vi) zu garantieren, bedarf es einer CFL-Bedingung:1
1
Die CFL-Bedingung ist nach den Mathematikern R. Courant, K. Friedrichs und H. Lewy be-
nannt, die sie 1928 einführten.
392 7 Quasi-periodische Lösungen und invariante Tori
Satz 7.26
Auf der Menge G = { (θ, t, u) | (θ, t) ∈ T2 , u ≤ M , M ∈ R , const} sei die
Schrittweitenbedingung (Courant-Friedrichs-Lewy-Zahl, CFL-Bedingung)
1
λ≤ mit D := max max | ci (θ, t, u) | (7.67)
D G i=1(1)q
erfüllt. Dann sind das explizite CIR-Verfahren und das explizite Friedrichs-Verfahren von
positivem Typ. Ist jedoch die schärfere CFL-Bedingung
1
λ≤ √ , δ = 0, (7.68)
δ2 + D2
erfüllt, so ist auch das explizite glatte Upwind-Verfahren von positivem Typ.
Beweis: (a) CIR-Verfahren: Auf Grund von (7.61) und (7.63) gilt sofort S−1 ≥ 0 und
S1 ≥ 0. Die Diagonalelemente si0 , i = 1(1)q von S0 lassen sich in der Form
λ λ
si0 = 1 − (ci + | ci |) + (ci − | ci |) = 1 − λ | ci | ≥ 1 − λD
2 2
abschätzen. Daraus folgt wegen λ ≤ 1/D unmittelbar S0 ≥ 0.
(b) Explizites Friedrichs-Verfahren: In diesem Fall gilt S0 = 0. Für die Diagonalelemente
si1 , i = 1(1)q, von S1 erhalten wir die Abschätzung
1 1 1
si1 = (1 − λci ) ≥ (1 − λ | ci |) ≥ (1 − λD),
2 2 2
woraus wegen λ ≤ 1/D sofort S1 ≥ 0 folgt. Für die Diagonalelemente si−1 , i = 1(1)q,
von S−1 gilt
1 1
si−1 = (1 + λci ) ≥ (1 − λ | ci |),
2 2
womit analog zu S1 folgt, dass auch S−1 ≥ 0 erfüllt ist.
(c) Explizites glattes Upwind-Verfahren: Aus Φ(d) ≥| d | folgt sofort S−1 ≥ 0 und
S1 ≥ 0. Analog zu (a) zeigen wir für die Diagonalelemente si0 , i = 1(1)q, von S0
A
si0 = 1 − λΦ(ci ) = 1 − λ δ 2 + c2i ≥ 1 − λ δ 2 + D2 ,
√
woraus wegen λ ≤ 1/ δ 2 + D2 unmittelbar S0 ≥ 0 folgt.
Bei allen drei expliziten Verfahren sind die Diagonalmatrizen Sμ∗ , μ = −1, 0, 1, unab-
hängig von u und damit stets Lipschitz-stetig bezüglich u. Ist also zusätzlich die CFL-
Bedingung (7.67) bzw. (7.68) erfüllt, so sind die Verfahren für geeignete Startwerte gemäß
Voraussetzung (vii) des Satzes 7.25 konvergent.
7.2 Parametrisierung invarianter Tori 393
−
mit den beiden Matrizen C + (θj , tn , un n
j ) und C (θj , tn , uj ). Diese genügen den Bezie-
hungen (7.61) für das CIR-Verfahren bzw. (7.62) für das glatte Upwind-Verfahren mit
√
der Funktion Φ(d) := δ 2 + d2 , δ = 0, const.
Die Diagonalmatrizen Sμ und Sμ∗ , μ = −1, 0, 1, erhalten dann für alle linear impliziten
Verfahren vom Upwind-Typ die Form
∗
S−1 = 0, S−1 = −λC +
S0 = I, S0∗ = I − λC − + λC + (7.69)
S1 = 0, S1∗ = λC . −
Setzen wir diese Matrizen in die allgemeine Darstellung (7.59) ein, so gewinnen wir die
übliche FDM-Notation für das linear implizite Verfahren vom Upwind-Typ:
λ
un+1
j = un
j + Ω(θj , tn , un n+1 n+1
j )(uj−1 − uj+1 ) +
2
λ
+ Φ(Ω(θj , tn , un n+1 n+1
j ))(uj−1 − 2uj + un+1
j+1 ) + (7.70)
2
+ τ R(θj , tn , un
j ), j = 0(1)J − 1.
Mit Φ(d) = |d| ergibt sich auch hier das linear implizite CIR-Verfahren als Grenzfall.
Wie man aus (7.70) und dem Differenzenschema zur Berechnung der Werte un+1 n+1
j−1 , uj
n+1
und uj+1 auf der (n + 1)-ten Zeitschicht in Abbildung 7.10 erkennt, ist nun ein linea-
res Gleichungssystem mit Block-tridiagonaler Koeffizientenmatrix zu lösen. Mit je einer
Vorwärts- und einer Rückwärtselimination pro t-Schritt verdoppelt sich lediglich der nu-
merische Aufwand gegenüber den expliziten Verfahren.
An den drei Matrizen Sμ , μ = −1, 0, 1, in (7.69) ist sofort erkennbar, dass das Verfahren
für alle λ > 0 von positivem Typ ist. Zudem sind die Diagonalmatrizen Sμ∗ , μ = −1, 0, 1,
Lipschitz-stetig bezüglich u, und wegen der Darstellung (7.62) von C + und C − gilt
394 7 Quasi-periodische Lösungen und invariante Tori
un+1
j−1 un+1
j un+1
j+1
tn+1
Abb. 7.10 Differenzensche-
ma des impliziten Upwind-
tn und CIR-Verfahrens
θj−1 θj θj+1
∗
weiterhin S−1 ≤ 0 und S1∗ ≤ 0. Somit ist das linear implizite Verfahren vom Upwind-
Typ unter den Voraussetzungen (i)–(iii) des Satzes 7.25 konsistent und mit geeigneten
Startwerten gemäß Voraussetzung (vii) auch konvergent.
Als Anwendungsbeispiel wollen wir das in Abbildung 7.11 dargestellte parametrisch erreg-
te Netzwerk analysieren, das von Philippow und Büntig (1992) entwickelt wurde. Dieser
Schwingkreis beinhaltet eine Kapazität C, einen nichtlinearen Widerstand R und eine
lineare zeitveränderliche Induktivität L und wird auch als 2:1-Frequenzteiler genutzt.
iC iL
1.30
Abb. 7.12 Lösungs-
6 5 diagramm der peri-
1.25
odischen Lösung von
1.20 DGL (7.71): Für ε ≈
0.1 (Label 2) und
1.15 ε ≈ 0.3 (Label
3) treten Periodenver-
1.10 dopplungen auf und
es zweigt jeweils ei-
1.05 ne 2π-periodische Lö-
2 sung von der trivia-
1.00 len Gleichgewichtslö-
1 sung ab. Diese Lösun-
3
0.95 gen verschmelzen bei
0.00 0.25 0.50 0.75 1.00 1.25 1.50 1.75 2.00 ε ≈ 1.56081 (Label 5)
Für 0.3 < ε < 1.56081 besitzt System (7.71) vier periodische Lösungen, zwei stabi-
le und zwei vom Satteltyp, die auf einem 1:2-resonanten invarianten Torus liegen. Für
ε > 1.56081 existieren quasi-periodische bzw. resonante Tori, abhängig vom Verhältnis
der Basisfrequenzen an ε. Sind die Basisfrequenzen rational abhängig, so sind in diesen
Gebieten alle Verfahren, die Quasi-Periodizität voraussetzen, nicht anwendbar.
Das Bifurkationsdiagramm in der ε − B-Ebene wird in Abbildung 7.13 dargestellt. Die
grauen Bereiche heißen Arnold-Zungen. Für Parameterwerte innerhalb solcher Arnold-
Zungen tritt ein sogenanntes phase-locking auf, d. h. auf dem Torus liegt ein stabiler und
ein instabiler periodischer Orbit. Die Diagramme in Abbildung 7.12 und 7.13 wurden mit
dem Programm Auto2000 von Doedel et al. (2002) erzeugt.
Abb. 7.13
Das Bifurkati-
onsdiagramm in
der ε − B-Ebene.
Die grauen Be-
reiche zeigen die
Arnold-Zungen
der 1:2-, 1:3- und
1:4-Resonanzen
396 7 Quasi-periodische Lösungen und invariante Tori
Um die DGL in die Form des Modellproblems (7.56) zu bringen, transformieren wir sie
in das System erster Ordnung
x1 = u cos θ1 , x2 = u sin θ1
ein und setzen t ≡ θ2 . Mit der Abkürzung cs = cos θ1 sin θ1 entsteht das partitionierte
System
dθ1
= βcs − sin2 θ1 − αu2 sin3 θ1 cos θ1 − (1 + B sin 2θ2 ) cos2 θ1 = Ω(θ1 , θ2 , u)
dt
dθ2
= 1 (7.73)
dt
du
= u(cs + β sin2 θ1 ) − αu3 sin4 θ1 − u(1 + B sin 2θ2 )cs = R(θ1 , θ2 , u).
dt
Der gesucht invariante Torus M wird dann durch die partielle DGL
∂u ∂u
+ Ω(θ1 , θ2 , u) = R(θ1 , θ2 , u), (θ1 , θ2 ) ∈ T2 (7.74)
∂θ2 ∂θ1
mit den in (7.73) definierten Funktionen Ω, R beschrieben. Wir diskretisieren diese PDGL
mit dem linear impliziten Verfahren vom Upwind-Typ (7.70) auf einem (θ, t)-Gitter der
Dimension 40 × 80 und wenden das Schießverfahren für Tori (vgl. Algorithmus 7.23)
an. In Abbildung 7.14 werden die Torusquerschnitte, zurücktransformiert in kartesische
Abb. 7.14 Torusquerschnitte von System (7.74) mit (∗) stabilen periodischen Lösungen sowie
() instabilen periodischen Lösungen
7.2 Parametrisierung invarianter Tori 397
(x1 , x2 )-Koordinaten, für den Parameterwert ε = 1.0 (links) und den kritischen Wert
ε = 1.56081 (rechts) dargestellt. Die zuvor berechneten Stroboskop-Abbildungen P1 , P2
der periodischen Lösungen vom Satteltyp und der stabilen periodischen Lösungen P3 , P4
wurden ebenfalls eingezeichnet. Am kritischen Parameterwert ε ≈ 1.56081 verschmelzen
je eine stabile und eine Lösung vom Satteltyp durch eine Sattel-Knoten-Bifurkation auf
dem Torus. Für ε > 1.56081 existieren dann die in Abbildung 7.15 dargestellten invari-
anten Tori, deren Attraktivität mit wachsendem ε zunimmt. In Abbildung 7.16 wird das
Abb. 7.16 Gittermodell des Torus für ε = 5.0, berechnet mit dem Programm TORUS von
Bernet (1995)
Gittermodell des invarianten Torus mit ε = 5.0 in zwei Ansichten dargestellt. Informati-
ver ist allerdings die ermittelte Torusfunktion u(θ, t) über dem (θ, t)-Gitter in Abbildung
398 7 Quasi-periodische Lösungen und invariante Tori
7.17, an der wir die erhebliche Abweichung von M gegenüber dem Standardtorus T2 für
den Parameter ε = 9.0 deutlich erkennen können. Aus den Abbildungen wird zugleich
ersichtlich, dass sowohl die 1:2-resonanten invarianten Tori für ε ≤ 1.56081, als auch
sämtliche für ε > 1.56081 entstehenden quasi-periodischen und resonanten Tori mit dem
vorgestellten Verfahren zuverlässig bestimmbar sind.
1 1
Abb. 7.17 Torusfunktion u(θ, t) auf dem (θ, t)-Gitter für System (7.74). Links: B = 0.1, ε = 3,
rechts: B = 0.1, ε = 9.0
Fassen wir abschließend die Vorteile dieser Methode zur numerischen Approximation
invarianter p-Tori zusammen:
Während die in den 1980er Jahren von Kaas-Petersen (1985) und Van Veldhuizen
(1987) entwickelten ersten Verfahren stark vom Verlauf der Orbits auf dem Torus
abhängig waren, besitzt der vorgestellte Zugang über die Lösung des partiellen DGL-
Systems (7.40) den Vorteil einer weitgehenden Unabhängigkeit von den Orbits. Wie
am vorgestellten System (7.71) verdeutlicht, unterscheidet er nicht zwischen quasi-
periodischen und resonanten p-Tori und ist damit universell einsetzbar.
Die partielle DGL (7.40) kann numerisch als quasilineares hyperbolisches System zu-
verlässig mit FDM vom Upwind-Typ gelöst werden – allerdings nur mit Konvergenz-
ordnung 1. Mittels Extrapolation ist eine höhere Konvergenzordnung erreichbar, falls
die gegebenen Funktionen hinreichend glatt sind. Dabei lassen linear implizite Ver-
fahren (7.70) große t-Schrittweiten zu, womit wegen der θ-Dimension p − 1 des ent-
stehenden diskreten Problems der Rechen- und Speicheraufwand erheblich reduziert
wird.
Mit dem Schießverfahren 7.23 lassen sich nicht nur asymptotisch stabile p-Tori gemäß
Definition 7.16, sondern auch instabile Tori approximieren. Allerdings sollte bei „star-
ker“ Instabilität das Mehrfach-Schießverfahren 6.18 aus Kapitel 6 eingesetzt werden.
Den Schwachpunkt des Verfahrens stellt gewiss die erforderliche Ausgangsform (7.21)
der DGL in Toruskoordinaten (θ, u) ∈ Tp × Rq dar. Der Übergang von kartesischen
Koordinaten mittels einer Transformation (7.19) gelingt numerisch oft nur bei zuvor
bekanntem Lösungsverhalten.
7.3 Quasi-periodische invariante Tori 399
dx
= ẋ = f (x, Ω1 t, Ω2 t, . . . , Ωm t) (7.75)
dt
und untersuchen fneu auf rationale Unabhängigkeit usw. Wie im vorigen Kapitel können
wir System (7.75) in eine autonome DGL umwandeln, wenn wir es um m Toruskoordi-
naten θ ∈ Tm erweitern und das autonome Modellproblem erhalten:
Bemerkung 7.27
Durch die DGL (7.76) wird das C r -Vektorfeld f (x, θ) ∂x ∂ ∂
+ Ω ∂θ auf Rn × Tm gegeben.
Unser Modellproblem besitzt einen invarianten p-Torus M mit parallelem Fluss (par-
alleler Dynamik), wenn ein Diffeomorphismus M → Tp existiert, der das restringierte
∂
C r -Vektorfeld f (x, θ) ∂x
∂
+ Ω ∂θ T
in ein konstantes Vektorfeld
m
∂
p
∂
Ωj + ωj
∂θj ∂θj
j=1 j=m+1
Voraussetzung 7.28
i. f ist 2π−periodisch in allen Ωi t , d. h. für alle (x, θ1 , . . . , θm ) ∈ Rn × Rm gilt
ii. System (7.75) besitzt eine lokal eindeutige quasi-periodische Lösung x∗ ∈ C r (R, Rn ),
r ∈ N , mit p Basisfrequenzen (m ≤ p < m + n) und der Frequenzbasis
Für die freien Frequenzen ω ∈ Rp−m der Frequenzbasis (Ω, ω) einer quasi-periodischen
Funktion wird im Folgenden stets die verschobene Indizierung ω = (ωm+1 , . . . , ωp ) ver-
wendet. Analog zu Kapitel 6 lassen sich nun folgende Modellprobleme unterscheiden:
Speziell für p = 1, m = 0 erhalten wir hieraus den autonomen periodischen Fall, während
für p = m = 1 ein periodisch erregtes System mit periodischer Systemantwort vorliegt.
Zur vorausgesetzten quasi-periodischen Lösung x∗ ∈ C(R, Rn ) suchen wir eine zugehö-
rige Torusfunktion u∗ ∈ C(Tp , Rn ) und p − m Basisfrequenzen ωm+1 , . . . , ωp mit
Wir setzen diesen Ansatz in die DGL (7.75) ein und erhalten nach Differentiation
m
∂u∗
p
∂u∗
Ωi (Ωt, ωt) + ωi (Ωt, ωt) = f (u∗ (Ωt, ωt), Ωt).
∂θi ∂θi
i=1 j=m+1
so verschwindet g auf R, wenn u = u∗ gilt und damit eine Lösung gemäß (7.77) vorliegt.
Nach Voraussetzung 7.28 ist g ∈ C r−1 (R, Rn ) und quasi-periodisch mit Basisfrequen-
zen Ω1 , . . . , Ωm , ωm+1 , . . . , ωp . Die zugehörige Torusfunktion G : Tp → Rn mit der
Darstellung
g(t) = G(Ωt, ωt) = G(Ω1 t, . . . , ωp t)
lautet dann
m
∂u
p
∂u
G(θ) := Ωi (θ) + ωi (θ) − f (u(θ), θ). (7.79)
∂θi ∂θi
i=1 i=m+1
Gemäß Satz 7.5 gilt damit auch für die Funktionen g und G die Normgleichheit
sup |g(t)| = maxp |G(θ)|,
t∈R θ∈T
womit g(t) = 0 für alle t ∈ R genau dann gilt, wenn G(θ) = 0 für alle θ ∈ Tp ist.
Jede Lösung u∗ ∈ C(Tp , Rn ) des Torussystems
m
∂u
p
∂u
Ωi (θ) + ωi (θ) = f (u(θ), θ), θ ∈ Tp (7.80)
∂θi ∂θi
i=1 i=m+1
liefert folglich eine quasi-periodische Lösung x∗ (t) = u∗ (Ωt, ωt) der Gleichung g(t) = 0,
t ∈ R, mit dem durch (7.78) definierten g und damit auch der gegebenen DGL (7.75).
Die Existenz einer Lösung dieser PDGL ergibt sich mit Voraussetzung 7.28 und Satz 7.5
nach Samoilenko (1991), S.83:
Satz 7.29
x ∈ C r (R, Rn ) sei eine quasi-periodische Funktion mit Frequenzbasis ω ∈ Rp und dem
Graphen
Dann existiert eine Torusfunktion u ∈ C r (Tp , Rn ) mit x(t) = u(ωt), deren Graph
M := {(u(θ), θ) ∈ Rn × Tp | θ ∈ Tp } = γ,
C r -homöomorph zu Tp ist.
402 7 Quasi-periodische Lösungen und invariante Tori
für beliebiges festes β ∈ Rp . Der Torus u(θ) hat also (p − m) freie Phasen.
3. Autonomer Fall: m = 0 < p stellt den „autonomen Grenzfall“ dar, bei dem alle p
Phasen frei und damit zu ermitteln sind. Hier verschwindet die erste Summe in (7.80).
Wegen der Vorgabe aller Erregungsfrequenzen Ω bietet der Response-Fall theoretisch und
praktisch die geringsten Schwierigkeiten, wogegen die beiden Fälle mit p > m zusätzliche
Phasenbedingungen zur gleichzeitigen Bestimmung der unbekannten Basisfrequenzen ω
erfordern.
Bemerkung 7.30
Die Invarianzgleichung (7.80) verallgemeinert die in den beiden vorhergehenden Kapiteln
aufgestellten Bestimmungsgleichungen für Gleichgewichte und periodische Orbits:
Gleichgewichtslage (Ruhelage): Für p = 0 ist m = 0, und (7.80) reduziert sich auf
0 = f (u) , u ∈ Rn . (7.81)
Bevor wir die numerische Lösung der PDGL (7.80) in Angriff nehmen, wollen wir sie als
Operatorgleichung in geeigneten Sobolew-Räumen Hs := [Hs (Tp )]n notieren. Hs (Tp )
kann mit dem Raum der bezüglich jeder Variablen θj (j = 1, . . . , p) 2π-periodischen
Funktionen identifiziert werden, die auf Tp quadratisch summierbar sind und verallge-
meinerte Ableitungen bezüglich θ bis einschließlich der Ordnung s besitzen. Im Raum
Hs (Tp ) sind das Skalarprodukt
α
x, yHs (Tp ) := ∂ x, ∂ α yH0 (Tp )
|α|≤s
1
x, yH0 (Tp ) := x(θ)y(θ)dθ
(2π)p Tp
gegeben, weshalb speziell H0 (Tp ) = L2 (Tp ) ist. Desweiteren genügen die Räume der
Einbettungskette
Nach Voraussetzung 7.28 ist für s > r − 1 + p2 die Einbettung von Hs+1 (Tp ) in C r (Tp )
kompakt. Gemäß Samoilenko (1991) lassen sich diese Aussagen auch auf die Räume
Hs := [Hs (Tp )]n übertragen. Stattet man die Räume Hs mit den Skalarprodukten für
Räume der Form [X]n aus, so werden sie Hilbert-Räume. In diesen Hilbert-Räumen
definieren wir den verallgemeinerten Differenzialoperator F : Hs+1 → Hs mit
m
∂u
p
∂u
F (u) := Ωi (θ) + ωi (θ) − f (u(θ), θ), (7.87)
∂θi ∂θi
i=1 i=m+1
der wohldefiniert und 2-mal Fréchet-differenzierbar ist. Damit wird im Response-Fall mit
p = m das Newton-Verfahren auf die Operatorgleichung
Im Fall freier Phasen mit p > m ist die Parametrisierung von u bezüglich θm+1 , . . . , θp
nicht eindeutig durch die Invarianzgleichung festgelegt. Ähnlich wie im autonomen Fall
periodischer Orbits in Abschnitt 6.2 können wir nun die unbekannten Basisfrequenzen
ωm+1 , . . . , ωp als künstliche Variablen wählen und die Bestimmungsgleichung um p − m
„Phasenbedingungen“ erweitern. Dazu setzen wir voraus, dass während der numerischen
Lösungsfortsetzung bereits eine Näherungslösung ũ ∈ Hs+1 ermittelt wurde. Bestimmen
wir den Nullraum
∂ ũ
K̃ := span{k̃m+1 , . . . , k̃p }, k̃i := , i = m + 1, . . . , p,
∂θi
m
∂u
p
∂u
Ωi + ωi = f (u(θ), θ)
∂θi ∂θi
i=1 i=m+1
B C B C (7.90)
∂ ũ 1 ∂ ũ
,u := ,u dθ = 0 , i = m + 1, . . . , p .
∂θi H0
(2π)p ∂θi
Tp
notiert werden. Mit beträchtlichem Aufwand kann auch für diesen Fall nachgewiesen wer-
den, dass unter Zusatzvoraussetzungen an F und insbesondere an die Näherungslösung
ũ das Newton-Verfahren
(u(k+1) , ω (k+1) ) = (u(k) , ω (k) ) − [F (u(k) , ω (k) )]−1 F (u(k) , ω (k) ) (7.92)
behandeln, für die eine quasi-periodische Lösung x(t) mit zwei Basisfrequenzen gesucht
ist. Typische Anwendungen stellen mechanische und elektrische Schwingkreise dar, z. B.
die energetischen Systeme des Abschnittes 6.4.4. Ohne wesentliche Änderungen ist ei-
ne Übertragung auf quasi-periodisch erregte Systeme mit zwei Basisfrequenzen möglich,
wogegen die Behandlung autonomer Systeme aufwendiger wäre.
Die Voraussetzungen 7.28 seien mit p = 2 erfüllt, wobei dann für die gegebene Erre-
gungsfrequenz Ω = 1 angenommen werden kann. Gesucht sind damit die unbekannte
Basisfrequenz ω ∈ R und eine Lösung der Invarianzgleichung (7.85). Mit den vereinfach-
ten Bezeichnungen θ1 = t und θ2 = θ lautet diese PDGL nun
∂u ∂u
+ω = f (u, t) für u = u(t, θ). (7.94)
∂t ∂θ
Um die Galerkin-Methode bezüglich der Variablen θ1 = t anzuwenden, wählen wir peri-
odische Basisfunktionen ϕk : T1 → C mit
√
ϕk (t) := eikt , k ∈ Z, i= −1. (7.95)
Da wir eine Lösung u ∈ Hs der Gleichung (7.94) suchen, definieren wir zu gegebenem
Diskretisierungsparameter N ∈ N die linearen Unterräume HN
0
(T2 ) ⊂ H0 (T2 ) mit
0
HN (T2 ) := span{ u · ϕk | u ∈ H0 (T1 ), k = −N (1)N }
N
(PN u)(t, θ) := uk (θ)ϕk (t) (7.96)
k=−N
406 7 Quasi-periodische Lösungen und invariante Tori
N
uN = uN (t, θ) := uk (θ)ϕk (t) (7.97)
k=−N
setzen wir nun in PDGL (7.94) ein und wenden darauf den Projektionsoperator PN an
N
∂u ∂uN
PN +ω − f (uN , t) = 0.
∂t ∂θ
Mit der Linearität des Operators PN und der Ableitung ϕ̇k (t) = ikϕk (t) der Basisfunk-
tionen gewinnen wir hieraus die Gleichung
N
N
N
rN(t, θ) := ikuk (θ)ϕk (t) + ωuk (θ)ϕk (t) − h(uN )ϕk (t) = 0,
k=−N k=−N k=−N
wobei der k-te Fourier-Koeffizient der rechten Gleichungsseite f (uN (t, θ), t)
2π
N 1
hk (u ) := f (uN (t, θ), t) ϕk (t) dt (7.98)
2π
0
lautet und damit nicht von t abhängt. Anwendung der Galerkin-Bedingung, d. h. der Or-
thogonalität des Residuums rN(t, θ) zu allen 2N + 1 Basisfunktionen ϕl (t), l = −N (1)N,
2π
1
rN(t, θ)ϕl (t) dt = 0, l = −N (1)N,
2π
0
Bevor wir das Spektralsystem und insbesondere die Funktionen hk (uN ) generieren, füh-
ren wir eine kompaktere Notation der (2N + 1)n DGL ein. Dazu fassen wir mit der
Matrixfunktion U : T1 → Cn×(2N +1) und der Vektorfunktion ϕ : T1 → Cn gemäß
U (θ) = (u−N (θ), . . . , u0 (θ), . . . , uN (θ)) und ϕ(t) = (ϕ−N (t), . . . , ϕ0 (t), . . . , ϕN (t))T
die Funktionen zusammen und können den Ansatz (7.97) damit in der Form
notieren. Analog fassen wir die Fourier-Koeffizienten hk (uN ) aus (7.98) zur Matrix
Aus der Herleitung dieses Systems gewinnen wir im Grenzfall N → ∞ leicht folgenden
Satz 7.31
Unter den Voraussetzungen 7.28 gilt für N → ∞: x(t) = U (θ)ϕ(t) ist eine quasi-
periodische Lösung des Originalsystems (7.93) mit zwei Basisfrequenzen (1, ω) genau
dann, wenn U (θ) eine 2π-periodische Lösung des (unendlich-dimensionalen) Spektral-
systems (7.101) mit irrationaler Frequenz ω ist.
Da in der Regel die zweite Basisfrequenz ω unbekannt ist, kann diese formal elimi-
niert werden. Setzen wir θ = ωτ und damit U (θ) = U (ωτ ) =: Y (τ ) , so lautet das
transformierte Spektralsystem
Bemerkung 7.32
1. Mit der Lösungsdarstellung (7.97) lässt sich die Invarianzkurve γ1 der Stroboskop-
Abbildung bezüglich θ1 genauso leicht approximieren wie die zweite Stroboskop-
Abbildung γ2 bezüglich θ2 :
N
N
γ1 (θ2 ) := uk (θ2 )ϕk (0) und γ2 (θ1 ) := uk (0)ϕk (θ1 ). (7.103)
k=−N k=−N
408 7 Quasi-periodische Lösungen und invariante Tori
Diese Aussage stellt ein klassisches Resultat dar (vgl. Hale (1963)), das durch Satz 7.31
auf den Fall quasi-periodischer Lösungen des Originalsystems verallgemeinert wurde. Die
Voraussetzung über die Inkommensurabilität der Basisfrequenzen ist dabei unabdingbar,
so dass der Fall resonanter Tori gesondert untersucht werden muss.
ẋ1 = x2
1
ẋ2 = −k1 x2 − (x21 + 3x23 )x1 + B cos t (7.105)
8
1
ẋ3 = − k2 (3x21 + x23 )x3 + B0
8
reduziert sich für x3 ≡ 0 und B0 = 0 auf die klassische Duffing-Gleichung. Wir wollen
das qualitative Verhalten der Lösungen für die Parameterwerte B0 = 0.03, B = 0.22,
k2 = 0.05 und den Kontrollparameter k1 ∈ [0.043, 0.09] untersuchen. Mit numerischer
Integration kann eine Torus-Bifurkation der 2π-periodischen Lösung für k1∗ ≈ 0.1214
beobachtet werden. Für kleinere Werte k1 < k1∗ entsteht eine stabile quasi-periodische
2
Das System wurde von Yoshinga und Kawakami (1995) behandelt und in Arbeiten von Vogt et
al. (2005) und Engert (2009) weiter analysiert.
7.3 Quasi-periodische invariante Tori 409
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1.35 .... .. .. ... .⊕ . . . . . . . . . .. . .. . . . .. . .. . . . . . . .. ... . . .. .... .... ...... ... .. . .. . . . . .. .. .. . . . . . .. .. ....
1.327 ... ... .. .. .⊕ . . . . . . . .. .. .. .. ...... ..... . .. .. . .. .. ... . ... .. .. ⊕ .
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1.04 0.926
-1.8 -2.1
1.65 0.00 1.81 0.00 -1.81
-1.65
k1 = 0.06 k1 = 0.05
Abb. 7.19 Lösungsszenarien des dynamischen Systems (7.105). Lösungen im Bild oben links:
k1 = 0.15 (periodisch), k1 = 0.12 (schwarz) und k1 = 0.09 (blau)
Lösung mit zwei Basisfrequenzen, die in Abbildung 7.19 weiter verfolgt wird. Es wird
eine Kaskade von Periodenverdopplungen bezüglich einer der beiden Basisfrequenzen
(Torusdopplungen) erkennbar, die schließlich in eine chaotische Lösung übergeht. Die
stroboskopische Poincaré-Abbildung mit Periode T = 2π wird in Abbildung 7.19 durch
die dick eingezeichneten Punkte dargestellt. Zur Bestimmung der 2-Tori mittels Semi-
diskretisierung der PDGL (7.94) wählen wir einen reellen Ansatz erster Ordnung für das
Spektralsystem (7.96)
⎛ ⎞ ⎛ ⎞ ⎛ ⎞
u1 (t, θ) y1 (θ) y2 (θ) y3 (θ) 1
⎜ ⎟ ⎜ ⎟ ⎜ ⎟
⎜ u2 (t, θ) ⎟ = ⎜ y4 (θ) y5 (θ) y6 (θ) ⎟ · ⎜ sin(t) ⎟ (7.106)
⎝ ⎠ ⎝ ⎠ ⎝ ⎠
u3 (t, θ) y7 (θ) y8 (θ) y9 (θ) cos(t)
y1 = y4
y2 = y5 + y3
y3 = y6 − y2
y4 = −0.1875 y1 y8 2 − k1 y4 − 0.1875 y1 y9 2 − 0.1875 y1 y2 2 − 0.375 y1 y7 2
− 0.375 y2 y7 y8 − 0.375 y3 y7 y9 − 0.1875 y1 y3 2 − 0.125 y1 3
Für dieses System sind nun Ruhelagen und periodische Lösungen gesucht, wobei erstere
periodischen und letztere quasi-periodischen Lösungen des Originalsystems (7.105) ent-
sprechen. Die numerische Analyse des Spektralsystems wurde mit dem Programmpaket
Auto2000 durchgeführt (vgl. Doedel et al. (2002)), die Ergebnisse sind in den Abbildun-
gen 7.20 und 7.21 grafisch dargestellt. Die Identifikation periodischer Lösungen des Spek-
tralsystems mit quasi-periodischen Lösungen des Originalsystems gemäß Tabelle 7.1 ist
prinzipiell erfolgreich, jedoch stimmen die Stabilitätsverhältnisse der einander zugeordne-
7.3 Quasi-periodische invariante Tori 411
2.20
14
13
2.15 8 12
16 11
2.10 15
17 9
7
2.05 10
4
6 5
2.00 2
3 1
1.95
1.90
0.025 0.050 0.075 0.100 0.125 0.150 0.175 0.200
Tab. 7.1 Interpretation des Bifurkationsdiagramms in Abbildung 7.20 für das Spektralsystem
1.25 1.5
1.00 1.0
0.75
0.5
0.50
0.0
0.25
-0.5
0.00
13
-0.25 6 -1.0
-0.50 -1.5
-1.50 -1.25 -1.00 -0.75 -0.50 -0.25 0.00 -2.0 -1.5 -1.0 -0.5 0.0 0.5 1.0
k1 = 0.09 k1 = 0.06
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-1.5 0.88
-2.1
-2.0 -1.5 -1.0 -0.5 0.0 0.5 1.0 1.9 -0.0 -1.9
k1 = 0.05 k1 = 0.043
Abb. 7.21 Drei periodische Orbits des Spektralsystems; es tritt offenbar eine Sequenz von
Periodenverdopplungen auf. Für k1 = 0.043 wird ein Orbit zusammen mit den Stroboskop-
Punkten (fette Punkte) dargestellt
Abgesehen von 2-Tori bei periodisch erregten Systemen ist eine vollständige Diskretisie-
rung zur Lösung der Invarianzgleichung (7.80)
m
∂u p
∂u
Ωj (θ) + ωj (θ) = f (u(θ), θ), θ ∈ Tp (7.107)
∂θj ∂θj
j=1 j=m+1
m
∂u
p
∂u
F (u, ω)(θ) := Ωj (θ) + ωj (θ) − f (u(θ), θ) (7.108)
∂θj ∂θj
j=1 j=m+1
m
∂u
p
∂u
D(u, ω)(θ) := Ωj (θ) + ωj (θ) (7.109)
∂θj ∂θj
j=1 j=m+1
notieren. Diese Gleichung ist im Fall p > m mit p − m freien Basisfrequenzen ω ein
schlecht gestelltes Problem, da keine Eindeutigkeit der Lösung vorliegt. Nach der Diskre-
tisierung wollen wir diese Tatsache berücksichtigen und die entstehenden nichtlinearen
Gleichungssysteme mit dem Gauß-Newton-Verfahren lösen.
Wir setzen die Lösung u der nichtlinearen Operatorgleichung (7.111) als Fourier-Polynom
uN (θ) = uk ϕk (θ) (7.112)
k≤N
p
ϕk (θ) = ei(k,θ) , (k, θ) = kj θj , (7.113)
j=1
an. Wir wollen vereinbaren, dass k ≤ N soviel wie |kj | ≤ Nj , j = 1(1)p mit dem Dis-
kretisierungsparameter N := min{N1 , N2 , . . . , Np } bedeutet. Die partiellen Ableitungen
von uN (θ) berechnen wir nach
∂uN
(θ) = ikj uk ϕk (θ) , j = 1(1)p,
∂θj
k≤N
Wenden wir die Galerkin-Bedingung (d. h. die Forderung nach Orthogonalität des Res-
duums bezüglich aller Basisfunktionen) auf den Operator F an, so bedeutet dies
1
[D(uN , ω)(θ) − f (uN (θ), θ)]ϕk (θ) dθ = 0, k ≤ N,
(2π)p
Tp
wobei das Integral komponentenweise auszuwerten ist. Mit (7.114) und unter Beachtung
der Orthonormalität der Basisfunktionen ϕk (θ) erhalten wir
m
N
p
D(u , ω)(θ)ϕk (θ)dθ = Ωj k j + ωj kj iuk .
j=1 j=m+1
Tp
D
mit den m := pj=1 (2Nj + 1) vektoriellen Koeffizienten uk ∈ Cn und den reellen Unbe-
kannten ω = (ωm+1 , . . . , ωp )T . Dieses Gleichungssystem ist im Allgemeinen nichtlinear,
da die uk implizit in die Fourier-Koeffizienten fk eingehen. Im Response-Fall fällt bei
obigem Gleichungssystem die zweite Summe weg und das System ist normalbestimmt.
Wir fassen die Unbekannten uk ∈ Cn in dem Supervektor ũ in lexikographischer Ordnung
bezüglich der p Indizes zusammen mittels
⎛ ⎞
u−N1 |−N2 |···|−Np−1 |−Np
⎜ ⎟
⎜u−N |−N |···|−N |−N +1 ⎟
⎜ 1 2 p−1 p ⎟
⎜ .. ⎟
⎜ ⎟
⎜ . ⎟
⎜ ⎟
ũ = (uk )l≤N := ⎜ u−N1 |−N2 |···|−Np−1 |Np ⎟
lex ⎜
⎟∈C
n·m
. (7.116)
⎜ ⎟
⎜u−N1 |−N2 |···|−Np−1 +1|−Np ⎟
⎜ ⎟
⎜ .. ⎟
⎜ . ⎟
⎝ ⎠
uN1 |N2 |···|Np−1 |Np
In analoger Weise bilden wir mit den Vektoren Gk (ũ, ω) in lexikographischer Anordnung
einen Supervektor G̃(ũ, ω) = (Gk (ũ, ω))lex
k≤N und erhalten so die Nullstellenaufgabe
an. Dabei bezeichnet [G̃ (ũν , ω ν )]+ die Pseudoinverse von G̃ (ũν , ω ν ) (vgl. Definition
5.36). Wir notieren dieses Verfahren in der praktikableren Form für ν = 0, 1, 2, . . .
ν ν z ν ν ũν+1 ũν z
G̃ (ũ , ω ) = −G̃(ũ , ω ), = + (7.119)
ξ ω ν+1 ων ξ
∂f 1
(u(θ), θ) =: A(θ) ∼
= Al ϕl (θ) mit Al := A(θ)ϕl (θ)dθ
∂u (2π)p
l≤M Tp
(7.120)
∂u 1
− (θ) =: hj (θ) ∼
= hjl ϕl (θ) mit hjl := hj (θ)ϕl (θ)dθ
∂θj (2π)p
l≤M Tp
416 7 Quasi-periodische Lösungen und invariante Tori
∂u
mit j = m+1, . . . , p ein und beachten, dass ikj uk der k-te Fourier-Koeffizient von ∂θj (θ)
ist, so erhalten wir
⎧
⎪
⎪ −Ak−l , k=l
⎪
⎨
∂
Gk (ũ, ω) =
∂ul ⎪
⎪
m p
⎪
⎩ Ωj k j + ωj kj iIn − A0 , k = l
j=1 j=m+1
und
∂
Gk (ũ, ω) = −hjk .
∂ωj
Schließlich setzen wir zur Berechnung der rechten Seite des Systems (7.119) die Funktion
m
∂u
p
∂u
b(θ) := f (u(θ), θ) − Ωj (θ) − ωj (θ) (7.121)
∂θj ∂θj
j=1 j=m+1
k1 = 0.121 k1 = 0.1
k1 = 0.09 k1 = 0.079
k1 = 0.0517 k1 = 0.04
Abb. 7.22 Der einfache invariante Torus des Systems (7.124) für sechs Parameterwerte. Die
Darstellung erfolgt in x1 -x2 -x3 . Der Torusschnitt erfolgt stets für θ1 = 0
an und beachten, dass bk = −Gk (ũ, ω) gilt. Damit gewinnen wir in jedem Newton-Schritt
die explizite Darstellung des unterbestimmten linearen Gleichungssystems (7.119) für alle
Multiindizes k ≤ N in der Form
m
p
p
Ωj kj + ωj kj izk − Ak−l zl − ξj hjk = bk (7.123)
j=1 j=m+1 l≤N j=m+1
Dp
mit den m = j=1 (2Nj + 1) unbekannten Vektoren zl ∈ Cn und den p − m reel-
len Unbekannten ξj . Eine Lösung minimaler Norm dieses Systems kann nunmehr mit
Standard-Software für unterbestimmte lineare Gleichungssysteme, z. B. mit MATLAB
ermittelt werden. Eine empfehlenswerte Darstellung zu diesem Thema findet der inter-
essierte Leser bei Gramlich und Werner (2000).
418 7 Quasi-periodische Lösungen und invariante Tori
Bemerkung 7.34
1. Algorithmus 7.33 stellt das Newton-Verfahren (7.119) lediglich in seiner Grundform
vor. Zu seiner praktischen Realisierung sollten allerdings die in Kapitel 5.1 eingeführ-
ten Newton-ähnlichen Verfahren implementiert werden.
2. Bei Vorliegen parameterabhängiger Systeme empfiehlt sich der Einbau des Newton-
Verfahrens aus Algorithmus 7.33 als Korrektorverfahren in ein leistungsfähiges
Prädiktor-Korrektor-Fortsetzungverfahren (vgl. Kapitel 5.2). Damit stehen die in der
Regel schwer zu beschaffenden Startlösungen u(0) und ω (0) in jedem Fortsetzungs-
schritt – mit Ausnahme des Anfangsschrittes – stets zur Verfügung.
Beispiel 7.35
Wir greifen das System (7.105) des nichtlinearen elektrischen Resonanzkreises von Ch.
Hayashi
ẋ1 = x2
1
ẋ2 = −k1 x2 − (x21 + 3x23 )x1 + B cos t (7.124)
8
1
ẋ3 = − k2 (3x1 + x23 )x3 + B0
2
8
0 0
10 10
max|l | ≤ N ||u(l ,l )||
1 2
−2
−2 10
2
10
2
−4
10
−4
10
−6
10
−7 −6 −5 −4 −3 −2 −1 0 1 2 3 4 5 6 7 −7 −6 −5 −4 −3 −2 −1 0 1 2 3 4 5 6 7
l1 l1
0
10 0
10
max|l | ≤ N ||u(l ,l )||
1 2
−2
10
1
−2
10
1
−4
10
−6 −4
10 10
−17 −12 −7 −2 3 8 13 18 −17 −12 −7 −2 3 8 13 18
l2 l2
Abb. 7.23 System (7.124): Normmaximale Fourier-Koeffizienten bzgl. θ1 (oben) und θ2 (unten)
des einfachen Torus (links) und des gedoppelten Torus (rechts) am Parameterwert k1 = 0.07
Mit dem Fourier-Galerkin-Verfahren ist die Fortsetzung der stabilen Tori bezüglich des
Parameters k1 in Bereiche mit sich ändernder Stabilitätseigenschaft problemlos möglich,
7.3 Quasi-periodische invariante Tori 419
k1 = 0.079 k1 = 0.076
k1 = 0.073 k1 = 0.06
k1 = 0.0517 k1 = 0.04
Abb. 7.24 Der gedoppelte invariante Torus des Systems (7.124) zu ausgewählten Parameter-
werten sowie der Torusschnitt für θ1 = 0
7.4 Aufgaben
Aufgabe 7.1
Untersuchen Sie, welche der folgenden Funktionen f : R → Rn quasi-periodisch sind:
√ √
a) f (t) = a · exp(cos t − cos( 5 · t) + 1) − cos( 10 · t) für a ∈ R,
b) f (t) = cos(exp(1) · t) − sin(π · t)
c) f (t) = cos(2.71828 · t) − sin(3.14159 · t)
d) f (t) = cos(2.718281828 · t) − sin(3.141592654 · t)
⎛ √ ⎞
sin(2t) − cos( 2 · t)
⎜ √ √ ⎟
e) f (t) = ⎜
⎝ sin ( 8 · t) + cos ( 8 · t) ⎠
2 2 ⎟
√
cos( 2 · t) + sin(2t)
⎛ √ ⎞
cos( 8 · t) · sin t
⎜ √ ⎟
f ) f (t) = ⎜
⎝ exp(cos(π · t)) + cot(π 2 · t)
⎟
⎠
√
tan( 2 · t) · cos t
Aufgabe 7.2
Gegeben sei das System zweier linear gekoppelter Oszillatoren, modelliert durch
Aufgabe 7.3
Gegeben ist die DGL (7.71) von Philippow und Büntig (1992)
mit Amplitude B = 0.1, den Werten α = ε − B , β = ε/2 − B und dem reellen Para-
meter ε > 0, die ein parametrisch erregtes elektrisches Netzwerk mit subharmonischer
Systemantwort beschreibt.
a) Überführen Sie die DGL in ein System 1. Ordnung und danach mittels Polarkoordi-
naten in die partitionierte Form (7.21). Geben Sie die entsprechende PDGL (7.35)
an.
b) Lösen Sie die PDGL (7.35) auf dem Torus T2 mittels des expliziten Upwind-Verfahrens
(7.64) für Parameterwerte ε = 1.5, 1.6, 3.0, 6.0, 9.0. Stellen Sie die Torusquerschnitte
wie in Abbildung 7.15 graphisch dar.
c) Wie verhält sich das Verfahren in der Nähe von Resonanzen bei ε = 1.344, ε = 5.493
und ε = 7.054?
422 7 Quasi-periodische Lösungen und invariante Tori
Aufgabe 7.4
Die DGL (7.125) aus Aufgabe 7.3 mit den Parameterwerten B = 0.1, α = ε − B,
β = ε/2 − B und ε > 0 soll mit dem Fourier-Galerkin-Verfahren gelöst werden.
a) Notieren Sie die vereinfachte Invarianzgleichung der Form (7.94) mit n = 2 für quasi-
periodische 2-Tori. Entwickeln Sie auf der Basis von Algorithmus 7.33 ein Fourier-
Galerkin-Verfahren zur Lösung dieser Invarianzgleichung für 2-Tori periodisch erregter
Gleichungen, d. h. mit m = 1 und p = 2.
b) Erproben Sie das Verfahren am parametrisch erregten Netzwerk für Parameterwerte
ε = 1.5, 1.6, 3.0, 6.0, 9.0 und in der Nähe von Resonanzen bei ε = 1.344 ε = 5.493
und ε = 7.054.
c) Vergleichen Sie die Resultate, die mit unterschiedlichen Diskretisierungsparametern
N1 und N2 erhalten wurden. Stellen Sie die Beträge der Fourier-Koeffizienten wie in
Abbildung 7.23 grafisch dar und bewerten Sie die erhaltenen Approximationen.
Aufgabe 7.5
Entwickeln Sie mit einem Computeralgebra-System, z. B. MAPLE oder MATHEMATI-
CA, ein Verfahren zur Generierung des Spektralsystems (7.102)
Y (τ ) = H(Y (τ )) − Y (τ )Φ
bei Semidiskretisierung im Falle m = 1 und p = 2. Wenden Sie das Verfahren (a) auf
das Modell (7.105) des elektrischen Resonanzkreises und (b) auf das parametrisch erregte
elektrisches Netzwerk (7.125) an.
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Symbolverzeichnis
Die Zahlen geben die Nummern von Seiten an, auf denen das Symbol erscheint.
Umgebung, 4
Umkehrpunkt, 254
Ungleichung
Cauchy-Schwarzsche, 10
Untermannigfaltigkeit, 114
Unterraum
instabiler, 107
stabiler , 107
Zentrums-, 107