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Reinhard Knodt Fichte, Nation und geistige Weltkultur Rede vor den Fakultäten der Universität Charkov am 9.9.1994 Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Freunde, Ich selbst habe so meine Probleme mit dem "Nationalen". Einer meiner Großväter war naturalisierter Amerikaner. Die Schwester meines Vaters lebt seit 30 Jahren in Portugal, eine meiner Cousinen heiratete nach Frankreich. Zwei Schwestern meiner aus Polen stammenden Mutter waren vor dem Krieg Hausmädchen bei jüdischen Familien in New York; ihre Männer, - also meine Onkels - kämpften auf amerikanischer Seite, mein Vater und Großvater auf deutscher. Dies alles gibt Ihnen einen ganz guten Eindruck von der sehr skeptischen Perspektive, aus der ich seit meiner Kindheit "nationale" Fragen aufzufassen gewohnt bin. - Aber gerade durch diese "internationale" Situation meiner Familie erlebte ich auch etwas anderes. - Ich spürte, dass Nationen selbst dann noch etwas verbindet, wenn sie im Krieg miteinander liegen. Es ist ein geistiges Band, eine trotz aller Unterschiede bestehende Verbindung, die keineswegs erst durch Computervernetzung, CNN oder globale Wirtschaftsstrukturen entsteht. Es ist etwas, das man auch nicht einfach als die Summe oder das gemeinsame Vielfache der Nationalkulturen bezeichnen darf. Vielmehr ist es eine Perspektive, ein transkultureller Raum, den man durch das Nachdenken über nationale Probleme sich sogar verdecken kann. Wir leben nämlich in Ordnungsbezügen, die anthropologisch gesehen grundlegender sind als jene, die wir in der "Geschichte" einzelner Nationen suchen, und ein Beleg dafür scheint mir zu sein, daß wir ein sogenanntes "historisches Ereignis" - etwa den Zusammenbruch des kommunistischen Systems – jedenfalls nicht nur nationalgeschichtlich, sondern auch „räumlich“ und atmosphärisch auffassen. Bei Phänomenen wie dem Kommunismus, der Popkultur, der asiatischen Handelswelt usf. geht es also längst um Ereignisse, die wir uns nicht mehr national, sondern in geographischen, institutionellen, technischen und informationstechnischen Ordnungsbezügen denken, die gewissermaßen eine gemeinsame Atmosphäre schaffen, einen Raum, den wir bewohnen, der nicht nur geostrategisch definiert werden darf. Nationalgeschichte ist gegenüber solchen Bezügen das Kleinere, das nur Korrespondierende. II. Durch Gottlieb Fichtes Überlegungen lässt sich die Relativität, nicht nur des Nationalhistorischen, sondern des Historischen überhaupt und damit der zeitlichen Betrachtungsweise bestimmter Phänomene sehr gut zeigen, und zwar, weil er sich selber so eigenartig stark darauf versteift. Was ihm (Fichte) vor nun fast 200 Jahren vorschwebte, war, - dass man in Anknüpfung an das einzige, was nach der französischen Eroberung des deutschen Reichsbundes durch die Franzosen unter Napoleon noch bestand, - die Sprache nämlich - nunmehr anknüpfen und mithilfe dieser Sprache eine ortlose, geostrategisch nicht mehr bestimmbare aber dennoch „nationale Identität“ schaffen könne und zwar, wenn schon nicht im Raume, dann eben in der Zeit. Dieses Denkmuster einer „Nation in der Zeit“ lautet folgendermassen: Solange ein Volk, so Fichte, von einem anderen Volk unterworfen ist, hat es keine "eigene Zeit". Es "wickelt seine Zeit nicht mehr selber ab". Es gehört vielmehr ab nun zur Zeit eines anderen Volkes, und "wird abgewickelt". Die Zeit geht an solch einem Volk vorüber wie etwas, das ihm nicht gehört. Es lebt nicht mehr aus seinen eigenen Anfängen, aus seinen eigenen Hoffnungen, es lebt vom Zeitpunkt seiner Eroberung ab nur noch mit, es ist fremden Strebungen unterworfen, von seiner Sprache, seinem Wollen, wie auch seiner Gegenwart, und das heißt, seinen eigenen Formen der Öffentlichkeit und der gemeinsamen Schicksalsgestaltung – und zwar in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft - abgeschnitten. Dies scheint mir der Kern. Ein Volk, so Fichte, ist also eine Gemeinschaft der Zeitinterpretation, heute würde man sagen, eines Narrativs als eigener Vergangenheit, eigener Gegenwart und eigener Zukunft, welche auch gemeinschaftlich gestaltet, ja gewissermaßen hergestellt wird. Eine Nation muss mithin also nicht ein konkreter souveräner Staat auf dem Erdboden sein sein, der zu einem konkreten Zeitpunkt auf einer Landkarte zu finden wäre. Er kann auch ein Postulat sein; - eine "Anmuthung". Die Konstruktion ist verwegen genug, das gebe ich zu. Eine "Nation", die politisch oder geostrategisch gar nicht da ist, wird zum idealen Maßstab einer Geschichtsinterpretation, und soll eben durch diese "wirklich" werden. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus haben wir – zumindest für die Staten des ehemaligen Warschauer Paktes genau dieses Problem. Wir reden heute so obenhin (und auch unverantwortlich, wie ich finde) vom „Erwachen“ der Nationalstaaten. Dahinter steht nichts anderes als jenes verspätete Denkmuster der Klassik, das Fichte „Anmuthung“ nennt. Fichte sieht das Wagnis seiner Konstruktion. "Zu wem rede ich denn?" fragt er gleich zu Anfang seiner sogenannten Reden an die deutsche Nation. Gibt es denn die Deutsche Nation? Ist sie nicht gerade eben untergegangen, als Kriegsbeute einer anderen? Ist sie nicht ihrer eigenen Zukunft genauso beraubt wie ihrer Vergangenheit und ihrer Gegenwart? Ist sie nicht zurückgeworfen auf das, wofür sich der Gegner zunächst einmal gar nicht interessiert, auf naive Volksmusik, ein par nationale Lieder, Volks- Märchen, die nur noch Kinder und Provinzler interessieren, weil sich die Intellektuellen gerade umorientieren und die Sprache des Siegers lernen, bzw. das Idiom der neuen Herren zu sprechen beginnen? Auch bei uns in Deutschland beginnt zur zeit unter manchen Literaten tatsächlich eine Diskussion darüber, ob deutsche, italienische, spanische usf. Literatur auf dem „globalen Markt“ überhaupt noch existiere, ob man also nicht gleich von vornherein englisch schreiben sollte oder jedenfalls dafür zu sorgen habe, dass die eigene Sprache ins Englische übersetzt werde. Der Nationalgedanke hat sich ansonsten nicht nur in Deutschland, sondern fast immer in Situationen der äußersten Bedrohung geregt. Irland und sein mythologisches Revival, Tschechien oder die Bildung des Staates "Israel" wären ganz ähnliche Beispiele! Immer ist es eine Bedrohungssituation, gegen die eine national-identität sich entwickelt. "Nation" ist also historisch gesehen sogar ein emanzipativer Begriff, ein Halt gegenüber einem supranationalen „Unterdrücker“, einem Eroberer, einer größeren staatlichen oder gar überstaatlichen Einheit, wie es heute etwa die technisch kommunikativen Strukturen der „Globalisierung“ sein könnten, gegen die sich ja auch allerhand Nationales und Neo-Nationales in Deutschland und in Frankreich regt. Die Menschen schaffen es nicht ohne „Heimat“, könnte man hier anmerken, wenngleich für bestimmte menschen die Heimat größer ist als nur die Grenzen ihrer Stadt, ihres Landes oder einer gewissen Religion. Doch kehren wir zu fichte zurück. Ein erobertes "Volk", so Fichte, wünscht die Rückkehr seiner Zeit. Es wünscht sich - sehnsüchtig dargestellt in seiner Dichtung, seinen Liedern und Märchen - seinen Anfang, seine Zukunft und den Sinn seiner Gegenwart, einen Sinn, den es als "Gemeinsinn" definiert. Die Hoffnung auf die Rückkehr der eigenen Zeit mag von mancherlei rationalen Überlegungen und Hoffnungen überlagert sein - etwa auf Besserung der Situation durch den Untergang des Feindes, auf die Vorteile supranationaler Strukturen oder die Hilfe anderer Nationen. Solche Hoffnungen aber sind nach Fichte deswegen verfehlt, weil sie den Kern dessen nicht treffen, worum es im "Verfügen über die eigene Zeit" geht. Das "Verfügen über die eigene Zeit" ist nämlich nicht einfach Befreiung von einem Zwang. Der Ausdruck weist auf kein fakultatives "Frei- sein" Einzelner, die etwa subjektiven Zwecken nachstreben oder ihre "Selbstverwirklichung" leben, während alles andere im größeren Staatsverband schon organisiert ist. Freiheit - und das ist der Generaltopos klassischer europäischer Philosophie von Schiller bis in die letzten existenzialistischen Ausläufer Frankreichs - ist überhaupt nur verständlich, wenn man sie als schöpferische Selbsttätigkeit denkt. Schöpferische Selbsttätigkeit aber ist gestaltete eigene Zeit - als "eigene Vergangenheit", "eigene Gegenwart" und "eigene Zukunft". Dies gilt Fichte für ein „Ich“ genausogut wie für eine Nation. Somit gilt. Ein "Volk" kann nur frei sein, wenn es zu "seiner" spezifischen Art schöpferischen Selbsttätigkeit findet, seine eigene Vergangenheit (die Nationalgeschichte) seine eigene Zukunft (Nationalutopie) und seine eigene Gegenwart (sein nationales Gemeinwesen) unabhängig und souverän gestaltet. Dies wiederum ist nur möglich, wenn bestimmte Identifikationen geleistet sind, etwa die von "Staat" und "Volk", Einzelwille und Gemeinwille, Individualinteresse und Gemeinsinn, usf. denn nur im Fall dieser Deckung besteht ja jene Verfügung über die "eigene Zeit", die dann als "Nation" überhaupt eine historische Form und damit sinnvolle historische Existenz erhält. „Nationale Gesinnung“ – und hier haben wir auch schon die Achillesferse der ganzen theorie – Nationale Gesinnung wird damit Freiheitsvorraussetzung und ist damit – das ist das Spezifikum Fichtes - Bildungsaufgabe die mit der Abkehr von allen Spekulationen auf Hilfe von außen, auf die Schwäche des Feindes oder den Nutzen des supranationalen Zusammenhangs verbunden sind. - Das Verbrechen der deutschen Nation an den Juden, oder sagen wir schärfer, der Ausrottungsversuchs den das deutsche „Volk“ am jüdischen unternommen hat, steht mit dieser Denkstruktur in engem Zusammenhang, wie ja auch die deutschen nationaldichter – etwa Achim von Arnim – zum Teil recht unappetitliche Antisemiten waren. III. Doch lesen wir weiter. Wir sagten, die „Fragen des Gemeinwesens" sind mit Fichte auch Fragen der „eigenschöpferischen Gestaltung der Zeit als Vergangenheit Gegenwart und Zukunft des Gemeinwesens. -Ich bitte Sie, diesen Gedanken einmal genauer zu betrachten. Es ist zunächst nur der Gedanke der „Organisation“ von Zeit, ein ganz allgemeiner Gedanke, der sich etwa im "american way of life" , Europas „unsere Art zu leben“ oder in Indien oder in China genauso gut ausformt, wie in der europäischen Kultur. Er bedeutet: Ein "Gemeinwesen" ist im Sinne eines bürgerlichen Besitzindividualismus das „Eigene“ als „gestaltete Zeit“. Man braucht in diese Formel eigentlich nur noch das Volk einfügen und hat damit schon die Grundlage allen Nationaldenkens als Distanz zum Fremden von Hitlers Faschismus bis zum Ausrottungsversuch der Palästinenser in der Hand. – Wie man dies verstehen kann, lässt sich aus der Unterscheidung von technischen und ethischen Problemlösungen in der Politik verstehen. Die berühmteste Definition einer technischen Problemlösung gibt der Utilitarismus, der an der Eigensucht der Einzelnen ansetzt und staatlich Gewünschtes mit der Vorteilsberechnung der Individuen verknüpft. Dahinter steht der Grundsatz des englischen Liberalismus, dass Eigennutz und Gemeinnutz in den meisten Fällen zusammenfallen. Man müsse also nur bestimmte grenzen ziehen und schon habe man ein bestmögliches Rezept für den Reichtum der Nationen. Diese Ansicht ist nun zwar bestimmt sehr nützlich und in vieler Hinsicht die Grundlage erfolgreicher Entscheidungen gewesen. Aber man muß - doch die Frage stellen dürfen, ob sie wirklich für alle Probleme ein Erfolgsrezept sein kann. So gilt die wirtschaftsliberale Formel doch sicher nicht, wenn man sie auf die Regierenden anwendet. Sollte man das nämlich tun, würde aus opferbereiten und am Gemeinwohl interessierten Menschen eine bloße Organisation von Vorteilsnehmern werdenoder Lobbyisten , die sich gegenseitig die Pfründen zuschieben, und das wäre dann ja das Ende eines "Gemeinwesens“. Es wäre die Herrschaft der Kleptokraten, bzw der Vorteilsnehmer Liebe, große künstlerische Leistungen, Tapferkeit und Durchhalten, politischer Mut, Durchhaltekraft, wahrheitsgemäße Erinnerung, Großzügigkeit und die Bildung eines Menschen in diesen ethischen "Disziplinen", dies meine Damen und Herren, sind alles Dinge, die nicht durch den Satz vom Eigennutz abgedeckt werden, den man heute ja beginnt, mit der banalen Formel der Win-Win Situation abzudecken. – Schon Fichte sagte "darin liegt die Schlechtigkeit, daß man nur sein sinnliches Wohlsein liebe und nur durch Furcht oder Hoffnung für dieses... bewegt werden könne.." – "Gemeinwesen" ist für Fichte nun keineswegs irgend eine „gemeinde“ oder ein Staat, vielmehr ist Gemeinwesen der Inbegriff bildbarer persönlicher Eigenschaften eines Menschen. Die praktische Frage: Wie erzeugt man ein Gemeinwesen? Ist für ihn also durch krieg, eroberung, nationalstaatliches Denken usf gar nicht zu lösen., sondern ganz anders , durch ein Ethos, das die oben genannten Tugenden in der Persönlichkeitsbildung fördert? In Fichtes Worten: das gemeinwesen liegt „in der Selbsttätigkeit eines geistigen Subjekts.“ - Der Gedanke der „Bildung“ von "Gemeinwesen" als einer Art Vorbedingung einer „deutschen Nation“ ist, historisch betrachtet, enorm praktisch geworden. Er hat aus Deutschland tatsächlich eine „Bildungsnation“ gemacht und die deutschen „Bildungsanstalten“ hatten zeitweise Weltruhm. Fichte formuliert: das deutsche Volk sei "durch Not gedrungen", anstelle einer Politik der Eroberungen und Hoffnungen auf äußere Umstände eine "neue Bildung" zu setzen, welche dann eben auch zur "Bildung der Nation" führen würde. Anders Ausgedrückt: Nur die „Bildung" in einem humanistischen Sinne führt aus als Erziehung des Einzelnen – hin zum Ideal schöpferischer Selbsttätigkeit - im Sinne seiner Gemeinschaft, womit die Hoffnung auf eine hierbei zu bildende nation das Ergebnis und nicht die Voraussetzung sei. Nation ist damit keineswegs ein allgemein herrschendes Pathos, das man aufnehmen oder ablegen könnte, wie man will. Sie ist ganz im Unterschied dazu als auf das geistige, bzw. "ewige Leben" gegründet, und kann daher nicht im Fluss der allgemeinen Weltgeschichte vergehen. Mit heutigen worten: Der american way of life kann in Indien oder China genauso stattfinden, wie in New York oder Kenucky, ja er ist dort womöglich sogar viel besser entwickelt, weil er in der amerikanischen Provinz eben nur provinziell entwickelt ist. Die Nation selber ist auf diese Weise zwar "ewig", weil sie auf geistiger Selbsttätigkeit - und das ist für Fichte "ewiges Leben" beruht, aber sie ist kein ewiger Staat, weil sie eben nur das "Schicksal" derer ist, die "national gebildet" sind, anders ausgedrückt, weil sie als Form der Gemeinsamkeit persönliches Schicksal geworden ist, das keinen Nationalstaat mehr braucht. Von hier stammt übrigens auch ie Rede vom „deutschen Wesen“, das überall in der Welt einführbar sei. Man bräuchte dazu keinen Staat und auch keinen Panzer. Es genügt gewissermassen as auftreten als Reiseschriftsteller – denken sie an Karl May – aber dies ist nun eher ein humoristischer Seitenhieb, den sie mir bitte verzeihen. Für unsere Ohren klingt das Wort Schicksal heute etwas altertümlich dröhnend. Wir sind, wie Sie wissen, bereits dabei, das "Schicksal" unseres "Volkes" in eine europäisches Identität einzubringen, eine Identität, die übrigens genauso gewollt und gebildet und unterstützt und gepflegt werden muß, wie die Nation vor zweihundert Jahren gewollt und gebildet werden mußte; und auch diese Bildung und Pflege eines Europäischen Geistes hätte nun wieder mit einem bereits angeklungenen Gesichtspunkt im Bildungsprogramm Fichtes zu tun, der Sprache. Daher einige Bemerkungen zur Sprache: IV. Sprache ist nach Fichte "Selbsttätigkeit der geistigen Natur" des Menschen und Ausdruck des "ewigen Lebens", bzw. des "Lebens des Geistes". Sie ist kein semantischer Mechanismus, sie enthält keine willkürlichen Bezeichnungen. Alles an ihr ist notwendig, und sie ist - ideal genommen und seit dem ersten Laut, der über menschliche Lippen drang - reiner Ausdruck schöpferischer Korrespondenz, selbstbewegtes Leben, geistige, lebendige „Urschöpfung“ und deren lebenserhaltende Weiterzeugung durh alle Sprecher. Hinter diesen Gedanken steht die Sprachentstehungstheorie Herders. Wir sprechen nicht, so hatte dieser gesagt, um irgend welchen Dingen Namen zu geben oder um uns bei der Jagd besser verständigen zu können, wie vielleicht einige glauben. Vielmehr "erfahren wir sprechend die Welt". Der Sprachlaut bricht schöpferisch angesichts unseres Umgangs miteinander und mit der Natur aus uns heraus. Nicht wir sprechen die Sprache. Die Sprache ist vielmehr jene lebendige Selbsttätigkeit, die uns formt, was Heidegger einmal zu der Vereinfachung "die Sprache spricht und nicht der Mensch" gebracht hat. Der Prozess der Sprache ist unabschließbar und findet bis heute statt. Über die Sprache - oder vielleicht sollte ich jetzt diesen Gedanken verwandelnd besser sagen, über die Sprachen - ist jeder Mensch als Glied in der ewigen Kette eines geistigen Lebens der Menschheit im Ganzen. Goethe sprach vier Sprachen und machte ständig übungen in weiteren vier oder fünf anderen – sogar arabisch versuchte er zu lernen und zu schreiben. Er wurde damit d e r deutsche Dichter schlechthin. Und hier, meine sehr verehrten Damen und Herren und leibe ukrainische Feeunde, liegt vermutlich auch der Schlüssel zu viel Leid in der Geschichte der letzten zweihundert Jahre. Eine "Nation" ist definierbar (ich sage nicht, sie ist es, aber sie ist definierbar) als ein "Volk" gemeinsamer Sprache, das über seine "eigene Zeit" verfügt. Aus diesem Verhältnis leitet sich nun aber eine höchst problematische Argumentation ab: - Es gibt Völker, so Fichte, deren Sprache „überfremdet“ ist - etwa die durch Rom besiegten Teile der Germanen in Frankreich (womit die Franzosen in Fichtes Augen also gewissermaßen schlechtere Germanen sind als die Deutschen!) - und im Gegensatz dazu andere (damit meint er die Deutschen), die ihre Sprache kontinuierlich zwar in der Zeit lautlich und grammatisch sich ändernd, aber doch immer in Kontakt mit ihrer "Ursprache" gesprochen haben und diese somit aus den frühesten Jahrhunderten "fortbildeten", statt eine andere zu übernehmen und die eigene zu vergessen. Fichte knüpft an diese Beobachtung die wissenschaftlich wohl eher zweifelhafte These, dass das unterbrechungslose Fortsprechen einer Sprache, diese trotz aller Verwandlungen am "lebendigsten", d.h. im Sinne geistig schöpferischer Selbsttätigkeit am formkräftigsten erhält und ihre Sprecher damit kulturschöpferisch macht. - Dass also ein Teil der Germanen (naheliegenderweise die Deutschen) Rom besiegte und damit seine Sprache von lateinischer Überfremdung reiner erhielt als jener andere, der von Rom besiegt wurde, (Frankreich) ist für ihn der Anlass, zumindest implizit von einer sprachschöpferischen und damit auch kulturellen Überlegenheit Deutschlands gegenüber Frankreich als dem Sieger von 1806 zu sprechen. Ich möchte nicht auf diese zeitbedingten Fragwürdigkeiten eigehen, die schon dadurch widerlegbar wären, dass das Zusammentreffen von vielen Sprachen im Allgemeinen zu besonders hohen Kulturleistungen führt, während Sprachinseln meist auch Provinziell bleiben. Fichtes Argumente sind vor allem den Hintergrund zu verstehen, dass es zum Beispiel Bestrebungen gab, deutsche Schulbücher durch französische zu ersetzen. - Ich möchte aber auf eine interessante Nebenerwägung eingehen. Fichte ist der Ansicht, daß eine Sprache, deren abstrakter Bestand - also deren Wertvorstellungen, Rechtsbezeichnungen oder Ideale - durch die Sprache einer anderen Nation ersetzt wird, an kultureller Selbsttätigkeit verliert, weil die zur fremden Bezeichnung gezwungenen Sprachindividuen nur oberflächlich mit den neuen Ausdrücken umgehen, aber keine echte Verbindung zu ihrem sinnlichen Sprach- und Anschauungsteil herstellen, der an der Muttersprache hängt - d.h. zu jenen Teilen ihrer Sprache (und damit auch ihrer Weltauffassung) die durch sinnliche Eindrücke, Spontaneität, Tiefenassoziation usf. geprägt ist. Fichte wählt, um seine Ansicht zu begründen drei Beispiele politischer Begrifflichkeit, die Deutschlands Hintertreffen im Europa des beginnenden 19. Jh. Erklären sollen und wählt dazu die romanischen Worte Humanität, Liberalität und Popularität. Währen diese, das politische Denken der aufgeklärten Welt zentral beherrschenden Vokabeln in Deutschland mit deutschen Worten übersetzt in Gebrauch gekommen, es gäbe nicht den „geheimen deutschen Widerwillen“ dagegen, so Fichte. Hätte man statt Humanität "Menschlichkeit" gesagt, keinem Deutschen wäre es eingefallen, den Humanitätsbegriff ablehnend mit jenem gleichzusetzen, was ihm in Gestalt französisch sprechender Höflinge an deutschen Fürstenhöfen in die Ohren kam. Hätte man ihm gesagt, "Liberalismus" sei so etwas wie "Edelmut" oder Freiheitlichkeit, dann gäbe es vielleicht nicht die verschwiegene Abwehr gegen das 'Liberale' in Deutschland, so als sei Liberalismus eine besondere Form der Schwächlichkeit und Unentschiedenheit oder der geschickten Vorteilsnehmerei. Und auch der Ausdruck "Popularität" hat in Deutschland bis heute nie wirklichen Wert erhalten. Ja er hat einen negativen Beiklang, und dass etwas "populär" ist, bedeutet in Deutschland fast immer auch, daß man es als wirklich Gebildeter selbstverständlich für minderwertig zu halten hat. Ich gebe zu: Universitätsprofessoren gebrauchen das Wort bis heute als Schimpfwort um die beneidete Popularität eines Kollegen durch dessen „populäre“ Ausdrucksweise und damit Seichtheit zu erläutern. Ich selber habe erfahren, dass man mir vorgeworfen hat, durch meine Rundfunkzeit hätte ich die Angewohnheit, vor allem verständlich sprechen zu wollen und eben damit auch „zu leicht“, wie einer meiner gegner bemerkte. Möge er verstanden werden! Politisch wirft man sich in Deutschland auch "Populismus" vor, wenn man andeuten will, daß jemand um schneller Effekte willen etwas gerade Poluläres sagt, statt aus Verantwortung für die Sache sich etwa differenziert auszudrücken. Hätte man hier das deutsche Wort "Leutseeligkeit" verwendet, so Fichte, dann hätte sich auch die Tugend, die im Versuch liegt, in allem idealen Streben "volksnah" - und das heißt ja auch, in Verbindung mit den Menschen - zu bleiben, vielleicht einmal günstiger auf das deutsche Schicksal auswirken können. Sie sehen, ich müßte mich nach deutschen Vorstellungen auch Ihnen gegenüber lieber menschlich, freiheitlich und leutselig ausdrücken, statt human, liberal und populär. Nun ist Fichte selbst aber auch in den Ressentiments der Ablehnung von Humanität, Liberalität und Popularität durchaus inbegriffen. Er hat diesen Zusammenhang nicht nur entdeckt. Er ist durchaus auch ein illiberales im Nationaldeutschen schwadronierendes Produkt der Distanz zur alten "Roma", und seiner Nähe zur „Germania“ wie er sich ausdrückt, er stand im Übrigen nicht nur auf der Predigerkanzel oder am Philosophiekatheder, er ging auch martialisch aufgemacht mit Schleppsäbel durch Berlin, um populär zu werden. Das Zentrum seiner Überlegungen liegt also nicht auf den weltbürgerlichen Begriffen der Humanität, Liberatlität und Popularität. Es ist schlicht national begrenzt und nach heutiger Perspektive abzulehnen. "Volk" ist seiner ansicht nach das was sich als „Schicksalsgemeinschaft von Menschen gleicher Sprache“ akzeptiert und „Fremdes nicht als Rettung“ akzeptiert. Es allein bringt „gültige Literatur“ hervor und ist somit die Quelle geistigen Lebens in der "Nationalliteratur", die eben deswegen zu Bedeutung und Rang kommt, weil sie in Anbindung an die ursprachlichen Schöpfungen verfertigt wird. Es ist von hier aus ganz folgerichtig, dass Fichte für die neue "Bildung" seiner Nation einen Pädagogen fordert, der Erziehung zur geistigen Selbsttätigkeit als oberstes Ziel und die sinnliche Erfahrung und Erläuterung der Erfahrung in der Muttersprache zum didaktischen Prinzip gemacht hat – Pestalozzi, jener „Erzieher der Deutschen“ von dem er nicht genug schwelgen kann. Die höchste Schule einer Nation und ihres Selbstbewusstseins - ich kann Ihnen versichern, wir sind wir heute von solchen Vorstellungen in Deutschland weit entfernt - wäre somit die Dichtung, und zwar, weil sie das schöpferische Urphänomen des sprechenden Menschen nicht nur birgt, sondern auch anzuregen und fortzuzeugen imstande ist. Seltsam aktuell -jedenfalls angesichts des ungeheuren Erfolges amerikanischer Filme und Literatur auf dem europäischen Markt - klingt dabei die Erläuterung Fichtes für den Trend der Intellektuellen, seit 1806 dem französischen Zeitgeist zu huldigen: "Was will denn der vernünftige Schriftsteller, und was kann er wollen? Nichts anderes als eingreifen in das allgemeine und öffentliche Leben, und dasselbe nach seinem Bilde gestalten und umschaffen; und wenn er dies nicht will, so ist alles sein Reden leerer Laut zum Kitzel müßiger Ohren..". V. Heute hat man in Deutschland Bedenken, wenn die "Nation" als Bildungsinhalt oder die Literatur als Schule der Nation anstehen sollten. Was das Nationale angeht, denken wir aber – ob zum Glück oder Unglück, das sei dahingestellt - nach wie vor in Kategorien des 19. Jh. Wir haben eine deutsche Vereinigung erlebt und ich glaube, daß dabei jeder der Beteiligten die Angelegenheit doch als Reparatur dessen auffasste, was im 19 Jh. geschaffen, zwischenzeitlich durch nationale Hybris zerbrochen und nun eben unter (berechtigter) Zurechtstutzung des Nationaldenkens gerade noch einmal unter starken Verlusten 'repariert' werden konnte. Die deutsche Wiedervereinigung - und ich sage also bewußt "wieder" - war also keinensfalls eine Neuerweckung der deutschen Nation, wie mir dies im Fall der Ukraine jetzt ja auf vielen Gebieten versucht zu werden scheint. In Deutschland hat man sich trotz des nationalen Themas der letzten Jahre alles in Allem durchaus an den politisch tragfähigeren Modellen angelsächsischer Politik orientiert, an einer Verbindung vom Prinzip des Eigennutzes mit den durch den Staat aufrechterhaltenen und gepflegten und verteidigten menschlichen Idealen, so wie uns das Amerika, England, und andere - übrigens auch mit einem sehr hohen Ethos in seiner Oberschicht - vorleben. Die "Reparatur" Deutschlands erfolgte weiterhin keinesfalls aus der eifersüchtigen Bewahrung von Hoheitsrechten, sie erfolgte unter Aufgabe aller Hoheitsrechte der alten "DDR" und sie wird jetzt und in dan nächsten Jahren verstärkt in die teilweise Aufgabe vieler Hoheitsrechte der jetzigen "Bundesrepublik" münden. Es ist für unsere deutschen "Volksstämme", die sich in den Bundesländern ausbilden, wie für die deutsche "Nation", wie auch für "Europa" eben ein Unterschied, ob etwas eine Bildungsangelegenheit, eine Steuerfrage, eine strafrechtliche Bestimmung, eine Währungsentscheidung oder eine Verteidigunsfrage ist. Es treten hier jetzt also Tatbestände ein, die sich Fichte nicht vorstellen konnte, ja, die er sogar für unmöglich hielt, und es bleiben dabei viele Fragen offen, die weit über Fichtes klerikalen und nationalen Horizont gehen: Leben wir womöglich schon in einer "Kultur ohne Zentrum", wie es der amerikanische Philosoph Richard Rorty behauptet, in einer Kultur also, in der zum Beispiel ethische Normen gar nicht mehr staatlich durchgesetzt werden können? Ja, gibt es neuerdings sogar ein Ethos der Nichtdurchsetzung ethischer Vorstellungen? Wer sorgt weltweit dafür, dass eine Bevölkerung an einer Stelle der Welt nicht zum wirtschaftlichen Kolonialreich einer großen „Firma“ verkommt? - Und schließlich -: Müssen all diese Entwicklungen nicht jede Art von "nationaler" Sichtweise immer weiter regionalisieren? - Ist das Nationaldenken nicht selbst schon eine nostalgische, nicht nur rückwärtsgewandte, sondern auch intellektuell obsolet gewordene Anstrengung, die nur ins Unglück führen kann? Wenn ich Ihnen als einer "Nation" die um ihre Identität ringt und in all dieser Unsicherheit nun einen Hinweis geben dürfte, so würde ich in Anbetracht Ihrer eigenen emanzipativen Bemühungen und des Sprachproblems in der Ukraine die Formel wählen: Im Blick auf eine Weltkultur Nationen bilden. Das „bilden“ dürfen sie als Didaktikaufforderung verstehen und nicht als Ergebnis von Waffengängen! - Diese Aufforderung als eine 'nationale' Aufgabe mit dem Anspruch an Gemeinsinn einerseits und im Blick auf Bildung an einer geistigen Weltkultur andererseits versucht an den Beschränkungen vorbeizukommen, die gerade Deutschland einmal zu weit in den Vordergrund gestellt und bitter bezahlt hat. - Daß wir durch unsere Sprache anderen Völkern an kulturschöpferischer Kraft „überlegen“ sein sollten, ist nichts als eine zeitbedingte eitle These gewesen, die die Identität gegenüber dem rationaleren und daher auch kriegsstärkeren Frankreich aufrechterhalten half. - Goethe ist übrigens zur selben Zeit, in der Fichte die Reden an die deutsche Nation schrieb in Weimar mehrfach mit dem von Napoleon verliehenen "Pour le merite" öffentlich aufgetreten. Ich denke, er tat es, um darauf hinzuweisen, daß es auch im Fall einer zu bildenden Nation eine unhintergehbare geistige Weltkultur gibt, in die sich jede "Nation" hineinentwickeln muß, wenn sie Bestand haben will. Die Pyramiden, Stonehenge, chinesiche Gärten und das griechische Theater - das Meiste, was "Bildung" im Weltsinne ausmacht, wäre jeder Nation zur Anverwandlung zu wünschen, wenn sie sich in jenem vielfachen Sinne zu „bilden“ wünscht - und natürlich würden zu diesen unverzichtbaren Inhalten - auch die Sprachen gehören, deren Vielfalt und korrespondierende Anwesenheit erst die Grundlage dessen schaffen, was Bildung im alten und neuen Sinn von je her mitbedeutet. Ich danke Ihnen PAGE 12