Weltliteratur im Comic
Joachim Trinkwitz
Ein Themenheft von
Joachim Trinkwitz
In Deutschland hatte der Comic es lange Zeit schwer, von Eltern und Erziehern akzeptiert zu wer‐
den. Nach 1945 war der Import aus Amerika, ebenso wie Kaugummi, Rock’n’Roll und Coca Cola, als
›Unkultur‹ der Besatzer verschrieen, und man war der Meinung, das triviale ›Blasenfutter‹ mit seiner
primitiven Sprache behindere den kindlichen Spracherwerb und vor allem auch den Zugang zu
›richtiger‹ Literatur. Noch in meiner Kindheit in den späten 1960er‐Jahren gab es nur ein Comicheft,
das meine Eltern duldeten, die Illustrierten Klassiker. Jede Folge der Serie, in der Monat für Monat
auf 64 Seiten etwas hölzerne Adaptionen von Werken der Weltliteratur erschienen, endete mit der
Mahnung: »Jetzt hast Du die ›Illustrierte Klassiker‹‐Ausgabe gelesen. Vergiß auf keinen Fall, Dir die
Original‐Ausgabe dieses Buches zu besorgen!« Nur als ›Brücke zur Literatur‹, die man natürlich als‐
bald hinter sich abbrechen sollte, war der Comic also halbwegs tolerabel – bleibt die Frage, wie
viele der halbwüchsigen Leserinnen und Leser diese Aufforderung wirklich beherzigten, ich kann
mich jedenfalls nicht daran erinnern, sie jemals ernst genommen zu haben …
Die vielleicht paradoxe Hoffnung, durch Comics zur humanistischen Bildung beizutragen, ist bis
heute nicht erloschen, ebensowenig wie das zwiespältige Verhältnis zu diesem Medium. Allerdings
scheint sich das einstige Negativ‐Image etwas zu verlieren, mittlerweile versuchen Lehrerinnen und
Lehrer ganz offiziell, ihren Schülern Literaturklassiker mit Comic‐Adaptionen schmackhaft zu ma‐
chen, und sogar der vornehme Suhrkamp Verlag hat begonnen, geeignet erscheinende Titel aus
seinem Verlagsprogramm zur Umsetzung in Auftrag zu geben – durchaus nicht ohne ein erstes
beachtliches Ergebnis (Nicolas Mahler: Alte Meister, nach Thomas Bernhard), aber eben hauptsäch‐
lich mit dem Gedanken im Hinterkopf, den Originalen neue Leser zu verschaffen.
An einigen kürzlich erschienenen Beispielen können ganz unterschiedliche Möglichkeiten der Um‐
setzung beobachtet werden.
Eric Corbeyran und Richard Horne: Die Verwandlung. Von Franz Kafka. Knesebeck 2011 •
48 S. • 19,95 € • ISBN 978‐3‐86873‐266‐5
Franz Kafka ist neben Goethe (vgl. die Rezension der Comicversion von
Faust. Der Tragödie erster Teil hier auf Alliteratus) bei Comiczeichnern mit
Abstand der beliebteste deutsche Schriftsteller, vielleicht in Entsprechung
seines internationalen Bekanntheitsgrads. Der Knesebeck Verlag hat kurz
hintereinander gleich zwei Adaptionen von Erzählungen des Prager Autors
vorgelegt, beide französischen Ursprungs. Die in Umfang und Anmutung
konform aufgemachten Bände haben erkennbar didaktische Hintergründe,
auf den Homepages des französischen Verlags können umfangreiche, de‐
tailliert ausgearbeitete Arbeitsblätter für Gymnasiallehrer heruntergeladen
werden – eigentlich schade, dass Knesebeck diese nicht gleich mit hat übersetzen las‐
sen, sicher würde ein ähnlicher Service auch hierzulande auf dankbare Abnehmer stoßen.
Der pädagogische Zweck des Unternehmens – die ansonsten wenig bekannten Zeichner/Texter‐
Gespanne beider Comics wurden anscheinend direkt mit einer entsprechenden Umsetzung beauf‐
tragt – steht einer wirklich ansprechenden Ausführung allerdings im Wege, zu routiniert und lei‐
denschaftslos erscheint die Machart der Bände, und ein wirkliches Verhältnis zu den Erzählungen
1
Ein Themenheft von
Joachim Trinkwitz
Kafkas ist in keiner der Adaptionen erkennbar. Dass eine enge Anlehnung an den Text der Vorlage
Originalität und Einbringung der Zeichnerpersönlichkeit nicht unmöglich macht, hat vor einigen
Jahren der Amerikaner Peter Kuper bewiesen, der ebenfalls eine Comicversion der Verwandlung
(The Metamorphosis, New York: Crown Publishers 2003) sowie eine Sammlung kürzerer Erzählun‐
gen veröffentlicht hat (Give It Up! and other short stories, New York: NBM 1995); leider hat bislang
keiner der Bände einen deutschen Verleger gefunden. Neben den kraftvollen, eigenwilligen Zeich‐
nungen Kupers, die mit verfremdend anachronistischen Anspielungen auf seine und unsere
Gegenwart eine Aktualisierung der Kafka‐Texte
anstreben, wirken die beiden französischen Pro‐
dukte eigentümlich steril, interesse‐ und leblos.
Corbeyran und Horne haben für ihre Verwandlung
einen realistischen Stil gewählt, bei dem vor allem
die Gestaltung des Kafkaschen »Ungeziefers« auf‐
fällt, das als geradezu hyperrealistisch gezeichnete
Kakerlake visualisiert wird, verstärkt durch die Vor‐
satzblätter des Buchs, auf denen durch einen Lexi‐
konartikel nebst dazugehöriger, durch Beschrif‐
tungen aufbereiteter Abbildung diese Festlegung
noch untermauert wird.
Das mag zwar vielleicht mit einer Art Horrorfilmästhetik die Sehgewohnheiten junger Leser anspre‐
chen, aber dass Kafka eine solche Identifizierung gerade nicht beabsichtigt hat, ist aus vielen, nicht
zu einer einzelnen biologischen Spezies passenden Details der Erzählung ablesbar. Die auf Co‐
mictraditionen vertrauende Darstellung Peter Kupers dage‐
gen hält die biologische Zuordnung mit einfachen Mitteln in
der Schwebe und hebt darüber hinaus mit ihrer Mischung
aus Komik und dennoch problemlos damit zu vereinbaren‐
der Tragik eine Sinnschicht Kafkas hervor, die seinen Texten
ein Gutteil ihrer unverwechselbaren Eigenart verleiht. Ne‐
benbei bringt er durch das Zickzackmuster auf dem Bauch
des verwandelten Gregor Samsa noch eine Parallele unter,
die Literatur und Comic auf Augenhöhe bringt, nämlich die
zum großen ›Loser‹ Charlie Brown der Peanuts, der ein eben‐
solches Muster auf seinem Pullover trägt und, wenn wir
ernsthaft darüber nachdenken, bei aller vordergründigen Komik Elend und Entfremdung in ebenso
großem Maße über sich ergehen lassen muss wie Kafkas Held …
Wie seine französischen Kollegen hält sich Peter Kuper genau an Kafkas Wortlaut, aber er fokus‐
siert die Erzählung durch solche und andere visuelle Anspielungen und Metaphern behutsam auf
eine gegenwärtige, politische Dimension hin und kann damit eine eigenständige Interpretation
vorweisen. Auf eine solche Aneignung verzichten Corbeyran und Horne, und genau das ist die
Schwäche ihrer Comicversion. Im Interesse einer möglichst neutralen Vermittlung gerät ihnen die
Adaption zur bloßen Illustration, die vermeintlich bescheiden hinter den Text zurücktritt; die Eigen‐
art ihres Mediums jedoch bedingt eine allzu direkte Artikulation von Sachverhalten, die in der
sprachlichen Form der Vorlage in der Schwebe gehalten wird.
2
Ein Themenheft von
Joachim Trinkwitz
Sylvain Ricard und Maël: In der Strafkolonie. Nach Franz Kafka. Knesebeck 2012 • 48 S. •
19,95 € • ISBN 978‐3‐86873‐459‐1
Sylvain Ricard, der Szenarist, und der als Maël signierende Zeichner der
Strafkolonie‐Adaption Knesebecks haben einen weniger realistischen,
mehr karikaturhaft erscheinenden Stil für ihren Comic gewählt. Die bei‐
den Hauptfiguren, der die alte, fanatisch‐rigide Ordnung vertretende Offi‐
zier und der liberalere, gegen die auf der Insel praktizierte grausame To‐
desstrafe eingestellte Besucher werden als gegensätzliches Paar visuali‐
siert, ein militaristisch gestraffter, freudlos hagerer Asket der eine, ein
unförmig verfetteter, Genusssucht ausstrahlender Biedermann der ande‐
re. Die Darstellung verleiht beiden, vor allem dem hauptsächlich im Fokus
stehenden Offizier grotesk‐lächerliche Züge, was speziell bei diesem sehr
eindringlichen, Komik kaum zum Vorschein kommen lassenden Text Kaf‐
kas nicht ganz einleuchtend erscheint, zumal angesichts des strikt Neutralität wahrenden und lako‐
nisch die Handlung wiedergebenden Erzählers des Originals. Eine rigide, häufig 3 × 3 gleichformati‐
ge Bilder auf der Seite kombinierende und breite Ränder aufweisende Panelanordnung soll diesen
Eindruck möglicherweise etwas ausbalancieren und die Unerbittlichkeit der alten Rechtsordnung
verdeutlichen.
Das eigentliche Problem der Adaption ist jedoch, dass der größte Teil der Erzählung aus den langen,
monologartigen Ausführungen des Offiziers besteht, dessen Konterpart, die zurückhaltend be‐
schreibende Erzählerrede, in der Comicversion medial bedingt wegfällt. Infolgedessen sehen wir
seitenlang Panel für Panel nur die schon das Umschlagcover zierende Figur, in wechselnder Per‐
spektive, aus näherer und weiterer Entfernung, mit Hintergründen in unterschiedlichen Farben und
wild grimassierend und gestikulierend, damit die talking heads Parade nicht zu eintönig wirkt. Der
Offizier gerät dadurch stellenweise zu einem Standup Comedian, der seine eigene Botschaft mit
mal stier‐dämonischen Blicken, mal grotesk vorgeschobener Unterlippe oder gar herausgestreckter
Zunge und schielendem Blick eher untergräbt als unterstreicht. Die Darstellungen haben für sich
genommen zwar durchaus ihren eigenen Reiz, aber dem furchtbaren Ernst der Kafkaschen Erzäh‐
lung wird damit doch wesentlich Abbruch getan.
Natürlich hat eine ironische Subversion hochliterarischer Vorlagen in Comic‐Adaptionen durchaus
ihre Berechtigung, um einen allzu respektvollen Umgang mit den Klassikern zu verhindern (vgl. die
schon einmal erwähnte Faust‐Adaption von Flix), aber bei Kafkas ohnehin festgefügte Hierarchien
und Positionen untergrabendem Text hat das hier eher gegenteilige Effekte (und ist wohl auch gar
nicht so gemeint).
Beide Kafka‐Adaptionen aus dem Hause Knesebeck – wie übrigens auch Peter Kupers Metamorpho‐
sis – halten sich zwar eng an den Handlungsverlauf der jeweiligen Vorlage und bieten durchgängig
(wenn auch gekürzt) den Originaltext, machen aber schon deutlich, dass die visuelle Ebene ganz
verschiedene Möglichkeiten der Abweichung (ge)bietet. Dass die Umsetzung literarischer Werke in
ein visuelles Medium noch auf ganz andere Art gelöst werden kann, zeigen die folgenden Beispiele.
3
Ein Themenheft von
Joachim Trinkwitz
Enki Bilal: Julia & Roem. Ehapa Comic Collection 2011 • 96 S. • 24,99 € • ISBN 978‐3‐7704‐
3494‐7
mics zu
in die Antike zurück.
Schon im Titel seiner neuesten Comic‐Veröffentlichung signalisiert der ur‐
sprünglich aus Belgrad stammende Zeichner Enki Bilal, heute einer der
erfolgreichsten Comickünstler Frankreichs, eine Abweichung vom literari‐
schen Ursprung. Die Umkehrung der beiden Namen erschwert zunächst
noch zusätzlich die Identifikation des Shakespeareschen Romeo und Julia,
die der durch seine Nikopol‐Trilogie weithin bekannt gewordene Bilal zur
Vorlage genommen hat, aber ein Blick auf das Covermotiv genügt, um Klar‐
heit zu schaffen. Das Liebesdrama Shakespeares, weltweit der wohl am häu‐
figsten adaptierte Autor überhaupt und auch im Medium Comic hoch beliebt,
hat seit Jahrhunderten unzählige Künstler gereizt, Theaterstücke und Opern,
musikalische und literarische Werke, Filme und Musicals sowie eben auch Co‐
produzieren; bekanntlich geht das Stück seinerseits auf literarische Ahnen bis
Bilal stellt seine Version in einen Kontext, den sein eigenes Werk Animal’z vorgibt, eine düstere Zu‐
kunftsvision, die durch den sogenannten ›Blutsturz‹ geprägt ist, eine Klimakatastrophe gewaltigen
Ausmaßes, mit der die Natur in einem »Wutausbruch« den Planeten buchstäblich auf den Kopf ge‐
stellt hat: Die Wüste Gobi schwankt beständig, weil sie »wie eine Bettdecke« auf der Ostsee treibt,
die Wolken schicken organisch rot gefärbte, vage an Blutgefäße oder Synapsen erinnernde Ausläu‐
fer in Richtung Erde, und der Nordpol ist schlichtweg nicht mehr auffindbar. Trinkwasser ist eine
umkämpfte Seltenheit. Durch diese postapokalyptische, mit einer fast komplett in Umbratönen
gehaltenen Landschaft irren Roem und sein Freund Merkit. Nach dem letzten Wunsch, »bevor du
abtrittst« (wohl nicht zufällig eine Theatermetapher) gefragt, nennt Roem »eine Liebesgeschichte,
die eine, große Liebe«. Kurz vor dem Verdursten rettet sie der überkonfessionelle Militärgeistliche
Howard George Lawrence, der mit einem mit neuesten militärischen Wundermitteln wie ›Wasser‐
tabletten‹ ausgestatteten solarbetriebenen Ferrari durch die Wüste fährt.
Kurz darauf trifft die kleine Gruppe auf einen
gewissen Tybb, und Lawrence, einem der
beiden Ich‐Erzähler im Comic, fällt eine mys‐
teriöse Namensgleichheit auf: Roem/
Romeo, Merkit/Mercutio, Tybb/Tybalt, und
natürlich er selbst, Lawrence/Laurence (Lo‐
renzo im Deutschen) – »jetzt fehlt nur noch
ein Mädchen, und das müsste Julia heißen«,
dann nämlich wäre das Personenverzeichnis
von Romeo und Julia komplett. Die unwillkür‐
liche Assoziation trügt nicht, Tybb ist Ange‐
höriger einer Familie, die sich in einem vor
dem Blutsturz noch nicht ganz fertiggebau‐
ten Hotel eingenistet hat und die dort einge‐
4
Ein Themenheft von
Joachim Trinkwitz
lagerten Wasser‐ und Lebensmittelvorräte gegen Außenstehende verteidigt. Natürlich heißt die
Tochter der Familie Julia, und sie steht kurz davor, einen einflußreichen Mann namens Kyle Parrish
(Shakespeares Paris) zu heiraten.
Und natürlich setzt sich die alte Dramenmaschinerie in Gang: Julia und Roem verlieben sich inei‐
nander, es kommt zu Reibereien zwischen ihm, Merkit und Tybb, die beiden letzteren sterben im
sich daraus entwickelnden Kampf, und Roem muss vor dem rachedurstigen Rest des Clans aus dem
Hotel fliehen. Um den Liebenden zu helfen, entwickelt Lawrence einen Plan, nach dem Romeo,
pardon, Roem für tot erklärt und Julia per Wundermittel aus dem militärischen Zubehörkoffer Law‐
rences in einen todesähnlichen Schlaf versetzt wird …
Soweit scheint das eine weitere der zahlreichen Adaptionen zu sein, die wie die West Side Story den
Plot Shakespeares lediglich in ein modernes Setting und moderne Sprache gegossen haben – wenn
sich nicht plötzlich die Sprache des englischen Barden hinterrücks wieder in den Comictext hinein‐
schleichen würde. Zuerst bricht Roem in Shakespearesche Verse aus, wenn er Merkit sein erstes
Zusammensein mit Julia schildert, und dann geschieht es immer öfter, dass Bilals Sprechblasen mit
Originalzitaten aus Romeo und Julia gefüllt sind (hier natürlich in der Schlegel‐Tieckschen Überset‐
zung). Wieder ist es vor allem Lawrence, dem die Zitate zuerst auffallen, und ihm wird auch die
Zwanghaftigkeit klar, mit der die Tragödie ihren Lauf nimmt. Er will sich gegen die »uhrwerkhafte
Mechanik« des Ablaufs stemmen, »retten, was noch zu retten ist. ROMEO und JULIA retten.«
Die Adaption als feindliche Übernahme des späteren Textes durch die Vorlage? Hier scheint ein
klassischer Fall von ›Einflussangst‹ vorzuliegen, wie sie der amerikanische Literaturwissenschaftler
Harold Bloom als Reaktion eines Autors auf übermächtige literarische Vaterfiguren beschreibt; Bilal
hat selbst in einem Interview davon gesprochen, dass er bewusst die Auseinandersetzung mit ei‐
nem großen literarischen Text suchte. Lawrence fragt Roem an einem Punkt: »Bist du dir deiner
Liebe ganz sicher? Ich meine, kannst du sie in deinen eigenen Worten beschreiben? Nicht nur in
denen von Shakespeare?«, und der Gefragte antwortet: »Unsere Worte wollen nicht mehr heraus
… Aber wir wissen, es gibt sie.« Es gilt also, eine eigene Sprache zu finden gegenüber der vorge‐
fundenen der literarischen Tradition. Und der Comic findet sie, findet ein robustes Happy End, an
dem der Geistliche mit den beiden Liebenden »in die untergehende Sonne« fährt, auch wenn die
Sonne möglicherweise »nicht mehr ganz im Westen untergeht«.
Martin Rowson: Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman. Nach Laurence
Sterne. Knesebeck 2011 • 176 S. • 24,95 € • ISBN 978‐3‐86873‐370‐9
Sind die beiden Kafka‐Versionen aus dem Hause Knesebeck in mancher
Hinsicht nicht ganz so glücklich gewählt, so hat der Verlag jedoch mit
einer anderen literarischen Adaption einen grandiosen Glücksgriff ge‐
tan, und das gleich in doppelter Hinsicht: Nicht genug, dass mit Martin
Rowsons wunderbarer Comic‐Übersetzung des Tristram Shandy ein
Höhepunkt des Genres vorliegt, ist es dem Verlag auch noch gelungen,
den hochgepriesenen Übersetzer der jüngsten deutschen Ausgabe des
Romans, Michael Walter, für die sprachliche Übertragung des Comic‐
Textes zu gewinnen.
5
Ein Themenheft von
Joachim Trinkwitz
Der englische Zeichner hat es dabei nicht leicht: Kaum ein anderer Roman der Weltliteratur er‐
scheint ungeeigneter für eine Adaption als gerade dieser, in dem die Handlung kaum vom Fleck
kommt, da der Erzähler fortwährend vom berühmten Hölzchen aufs Stöckchen gerät und dank
diesem ausgeprägten Hang zu Abschweifungen in seiner Lebensbeschreibung für den Zeitraum
von der Zeugung bis zur Geburt allein schon fast drei Bände (von neun erschienenen) benötigt.
Rowson löst das Problem der nur ru‐
dimentär vorhandenen Handlung
durch die Einführung einer Erzählerfi‐
gur, Tristram Shandy selbst, der eine
Gruppe von drei Personen zügigen
Schrittes durch seinen persönlichen
Kosmos führt und diesen lautstark
erläutert, zu Fuß oder mit den diver‐
sesten Fahrzeugen, Weltraumrakete
einbegriffen. Nach einiger Zeit wird
klar, dass das Trio, das, ihren naiven
Nachfragen nach zu urteilen, wenig
von seinen wortreichen Ausführun‐
gen zu verstehen scheint und zeitwei‐
lig von Shandy an der Nase (genauer:
an Nasenringen) hinter sich her(um)
geführt wird, eine Personifikation der Leserschaft sein muss (mit etwas Mühe kann man aber auch
James Joyce, Virginia Woolf und Rowson selbst in ihnen identifizieren).
Der Zeichner versucht aus Kräften, die Sternesche Technik der Digression noch zu übertreffen, in‐
dem er selbst eigene Exkurse in das Original einflicht. Die Comicadaption nimmt hier noch einmal
eine ganz andere Qualität an: »Glaub nicht, das hier sei bloß ein Comic – das wird eine grafische
Dissertation, mein Wort drauf, jawohl«, so behauptet es zumindestens nach einem guten Dutzend
Seiten eine neu auftretende Figur, die man alsbald als Stellvertreter des Adaptors selbst erkennt,
und man wäre dazu geneigt, dies angesichts des souveränen Umgangs mit der Vorlage für bare
Münze zu nehmen, wenn – ja wenn nicht der Gesprächspartner des derart selbstbewusst sich Äu‐
ßernden comicgerecht ein Hund wäre, der seinem Herrn kurz darauf temperamentvoll eine dicklei‐
bige Abhandlung an den Kopf wirft, die jener ihm zum Lesen aufgetragen hatte (für Kenner: ein
Zitat aus dem amerikanischen Zeitungscomic Krazy Kat).
Rowson, selbst Karikaturist, erreicht eine visuelle Annäherung an Sternes Zeit durch einen karika‐
turhaft‐grotesken Stil, der unter anderem vielleicht auch auf satirische Karikaturen des 19. Jahrhun‐
derts zurückgeht, in denen Historiker aufgrund ihrer Verwendung von Sprechblasen erste Vorläufer
des Comics gesehen haben. Gleichzeitig greift er bekannte Bildvorlagen quer durch die Kunstge‐
schichte auf, unter denen visuelle Zitate aus so unterschiedlichen Quellen wie Piranesis berühmten
Carceri d’invenzione, Dürers Tierdarstellungen und Hogarths Satiren ins Auge fallen. Ungeniert mixt
der Comic heterogenste Quellen und Zeiten, der Erzähler rammt dem ihm über den Weg laufenden
Aristoteles, Hüter der klassischen Einheiten von Raum, Zeit und Handlung, wortwörtlich das Knie in
den Schritt. Hochkulturelle lateinische Zitate erscheinen neben populären Figuren, Karl Marx taucht
ganz beiläufig auf und verschwindet ebenso beiläufig wieder, eine »ausgelassene Schar hüpfender
6
Ein Themenheft von
Joachim Trinkwitz
französischer Dekonstruktivisten« zerlegt das Panel samt Sprechblasen, den darin befindlichen
Adaptor sowie seinen Hund fröhlich in ihre Einzelteile und hüpft dann weiter – nicht die einzige
Szene übrigens, in denen Rowson die Literaturwissenschaft aufs boshaft satirische Korn nimmt.
Dabei geht es im Geschwindschritt durch die Erzählung, denn eines der Probleme einer Comicadap‐
tion ist, dass sie bedeutend mehr Platz braucht als reiner Text. Die ersten zehn Seiten des Romans
nehmen bei Rowson schon fast fünfzehn ein, und etwa 140 Seiten später geht ihm nach dem vier‐
ten Band Sternes die Luft aus, die verbleibenden fünf Bände erledigt er durch einen miesen (aber
hinreißend komischen) kleinen Kunstgriff im Schnellverfahren auf den letzten zwanzig Seiten.
Ist es bei den teilweise sehr umfänglichen Abschweifungen und humoristisch gelehrten Erläuterun‐
gen Sternes ein Wunder, dass der Hund des Adaptors nach einem Drittel der Comicversion die Ge‐
duld verliert und sich verziehen will? Sein Herr läuft ihm mit dem vielsagenden Ausruf nach: »Aber
Pete! Es sind doch bloß noch 549 Seiten, dann gibt’s richtig Action!« Wie Rowson dann die Situation
rettet und zur nächsten Digression überleitet (im Übrigen seine eigene), ist jedenfalls höchst kurz‐
weilig, ich will sie keinem Leser vorwegnehmen. Überhaupt ist der Comic – den man in diesem Fall
auch ungeniert so nennen darf, das euphemistische »Graphic Novel« des Klappentexts erscheint
angesichts der anarchischen Spottlust des Buchs kaum angebracht – so voller Bild‐ und Situations‐
witz, dass man niemandem um das Vergnügen bringen wollte, die vielen, teilweise als kleines Detail
in den Panels (oder auch außerhalb davon) versteckten Lustigkeiten selbst zu entdecken.
*
Um ein kleines Resümee zu ziehen: Sich eng an ihre Vorlagen haltende Comic‐Adaptionen literari‐
scher Werke haben durchaus ihre Berechtigung, sind in Ausnahmefällen sogar kongenial (neben
Kupers Metamorphosis wäre noch diejenige von Paul Austers Roman City of Glass durch David Maz‐
zucchelli und Paul Karasik zu nennen) und erscheinen allgemein für didaktische Zwecke vielleicht
gut geeignet (hauptsächlich dann, wenn sie einen Mehrwert, eine eigene Interpretation zustande
bringen). Sie laufen aber auch Gefahr, zur bloßen duplizierenden Illustration des Textes zu geraten
und damit schnell etwas langweilig zu wirken, sowie im schlimmeren Fall ihn durch eine allzu deut‐
liche Verbildlichung sogar zu verfehlen.
Sehr frei mit ihren literarischen Vorlagen umgehende Adaptionen wie die beiden zuletzt bespro‐
chenen können dagegen die Möglichkeiten und Vorzüge des anderen Mediums besser ausspielen,
indem sie den Stoff mit ihren eigenen Mitteln gestalten und damit das Verlorengegangene des Lite‐
rarischen durch eigenständige Qualitäten ersetzen. Das kann luftig amüsant sein wie Flix’ sympa‐
thische Parodie des Schulklassikers Faust, es kann aber auch kämpferische Auseinandersetzung
oder gar Fortsetzung des Originals mit dessen eigenen Mitteln sein wie bei Bilal oder Rowson.
Joachim Trinkwitz
www.facebook.com/alliteratus
https://twitter.com/alliteratus
© Alliteratus 2013 • Abdruck erlaubt unter Nennung von Quelle und Verfasser
7