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VERDRÄNGUNG
Verdrängung in der
unternehmerischen Stadt
Zum Beispiel Hamburg-St. Georg
von Moritz Rinn
Im Oktober 2016 besetzte eine Gruppe junger Menschen die
Räume des KIDS, einer Anlaufstelle „für Kinder und Jugendliche auf der Straße“ im Bieberhaus am Hamburger
Hauptbahnhof. Sie wehrten sich gegen die Räumung, die die
Eigentümerin Alstria office REIT-AG durch ihre Kündigung erzwungen hatte, und verließen das Gebäude erst unter
polizeilichem Druck. Grund für die Kündigung war eine
umfassend Sanierung und anschließende Vermarktung als
hochwertige Bürofläche. Das vom Verein basis & woge getragene und von der Sozialbehörde finanzierte Straßensozialarbeitsprojekt war hier seit 1993 verortet und arbeitete
mit einem ausstiegsorientierten, aber dabei niedrigschwelli-
An der Regierung dieser städtischen Räume lassen sich
Transformationen von Stadtentwicklungs-, Sozial- und Innenpolitik beobachten, in denen sich unternehmerische, autoritär-ausschließende und integrativ-sozialpolitische Strategien miteinander verschränken. Diese verschiedenen Dimensionen der Neuordnung innerstädtischer Räume und der
Neuzusammensetzung ihrer Bewohner_innen in der „neoliberalisierenden Stadt“ (Mayer 2013) prägen die umstrittenen Realitäten gegenwärtiger Verdrängungsprozesse. Ich
werde sie deshalb in diesem Artikel knapp geschichtlich
nachzeichnen und in ihren Beziehungen diskutieren. Verdrängung ist, so lässt sich zuspitzen, Bestandteil der politisch-administrativen Arbeit an einer Verbürgerlichung der
Stadt.
Kontinuitäten der Ordnungspolitik
in „repräsentativen Räumen“
Foto: C. Polzin
gen und akzeptierenden Ansatz. Es war im Kontext parteilicher, kritisch-sozialarbeiterischer Positionierungen entstanden, die den autoritären Bearbeitungsweisen „jugendlicher
Abweichung“ durch Jugendamt und Polizei alternative Angebote entgegensetzten.
1993 war allerdings auch das Jahr jener Bürgerschaftswahl,
in der die SPD zwar ihre absolute Mehrheit an Sitzen verlor,
aber gemeinsam mit der STATT-Partei weiterregieren
konnte – und ein Jahr später Hartmuth Wrocklage zum Innensenator machte. In der Folgezeit tat gerade er sich mit einer besonders repressiven Programmatik der Ordnung innerstädtischer Räume hervor, deren Schwerpunkt das bahnhofsnahe St. Georg bildete. Insbesondere der Hauptbahnhof
sollte als eine der „Visitenkarten“ der Stadt einladend für
Tourist_innen gemacht und St. Georg als entsprechender
Hotel- und Gastronomiestandort gestärkt werden. „Störende“ Personengruppen sollten dafür aus der Bahnhofs- und
Stadtteilöffentlichkeit verschwinden.
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Als die Innenbehörde Anfang der 1990er Jahre ihre stadträumlichen Ordnungspolitiken intensivierte, wurde dies von
einer skandalisierenden medialen Berichterstattung über die
„offene Drogenszene“ und vom stadtentwicklungspolitischen Diskurs um „soziale Brennpunkte“ begleitet. Im Fokus standen dabei die sogenannten „Randständigen“, die
„Trinker- und Drogenszene“ und das Sexarbeitsgeschäft am
Hauptbahnhof sowie zwischen Langer Reihe und Steindamm, vor allem rund um den Hansaplatz. Dieser Teilraum
sei, so das Hamburger Abendblatt Anfang 1995 in einer Reportage, mittlerweile „gekippt“, „durch Spielhallen, SexShops, billige Absteigen und 32.000 Quadratmeter leerste-
Ein zentraler Teil von
Stadtentwicklungspolitik ist Arbeit an
spezifischen normativen „ Raumordnungen“ .
henden Büroraum kaum mehr zu retten“ (vgl. Hamburger
Abendblatt, 12. 1. 1995). Der Sanierungsträger ASK sprach
in derselben Reportage von einer Spaltung des Stadtteils:
„Single- und Juppie-Viertel einerseits, Bronx und Slum andererseits“. Die Polizei wurde trotz erhöhter Präsenz, Razzien gegen „Dealer“ und Vertreibungen von Drogennutzer_innen als machtlos beschrieben, viele Anwohner_innen
Verdrängung in der unternehmerischen Stadt
Foto: Rasande Tyskar_flickr
hätten resigniert. Ebenfalls berichtet wird über eine gemeinsame Stadtteilbesichtigung des Innensenators mit Sozialsenatorin Fischer-Menzel, in deren Folge ein Konzept ausgearbeitet werden solle, „das eine bessere Ergänzung von Sozialarbeitern und Polizisten ermöglicht, nämlich etwa den
verstärkten Einsatz von Sozialarbeitern dort, wo die Polizei
mit ihren Mitteln nicht mehr weiterkommt“ (ebd.). Die Rede
ist hier vom „Handlungskonzept für die Polizei im Stadtteil
St. Georg“, das im Sommer 1995 veröffentlicht wurde. Kurz
darauf folgten weitere programmatische Papiere wie etwa
der berüchtigte Drucksachenentwurf „Maßnahmen gegen
die drohende Unwirtlichkeit der Stadt“ (1996, vgl. Peddinghaus/Hauer 1998; Häfele/Sobczak 2002).
In der Folge stiegen Platzverweise und Ingewahrsamnahmen in St. Georg sprunghaft an (vgl. Wehrheim 2012, S.
96), wobei besonders jugendliche Geflüchtete im Fokus polizeilicher Kontrollpolitik standen. Insbesondere die Verlagerung des Konflikts ins Schanzenviertel führte zu einer
massiven öffentlichen Auseinandersetzung. Anwohner_innen mobilisierten gegen „Dealer“, junge Schwarze Menschen organisierten eine Demonstration gegen rassistische
Kontrollen, Kriminalisierung und Vertreibung im Schanzenviertel und es folgten einige „spektakuläre“ Interventionen linker Gruppen gegen die neue Sicherheitspolitik rund
um den Hauptbahnhof (vgl. Häfele/Sobczak 2002).
Diese knappe Rückblende lässt Kontinuitäten sichtbar werden: Heute geht eine „Task Force Drogen“ der Hamburger
Polizei massiv gegen „Dealer“ in St. Georg, St. Pauli und im
Schanzenviertel vor, Gerichte fällen generalpräventiv motivierte, auf Abschreckung zielende Urteile und belegen den
Besitz von Kleinstmengen Marihuana mit Haftstrafen (vgl.
taz, 2. 6. 2016) – gerade dann, wenn angesichts eines ungesicherten Aufenthaltsstatus der Angeklagten „Fluchtgefahr“
bestünde. Und auch heute – daran muss erinnert werden –
sterben Menschen, die sich wegen Verdachts auf Drogenhandel in der Gewalt der Polizei oder in Untersuchungshaft
befinden: 2001 Achidi John nach einem (vom kurzzeitigen
Innensenator Olaf Scholz eingeführten) Brechmitteleinsatz
in der Hamburger Rechtsmedizin; 2016 Jaja Diabi, der erhängt in seiner Zelle im Untersuchungsgefängnis Hahnöfersand aufgefunden wurde (vgl. taz, 17. 2. 2017). Gleichzeitig
organisieren sich die Betroffenen vor allem in St. Pauli Süd
gemeinsam mit Anwohner_innen und anderen stadtteilpolitischen und antirassistischen Initiativen, kritisieren die repressive Polizeipraxis als „racial profiling“ und mobilisieren
zu Protesten.
Der Hauptbahnhof und St. Georg, aber auch das Schanzenviertel und St. Pauli sind seit mehr als zwei Jahrzehnten
Schauplätze und Gegenstände stadtpolitischer Ordnungsund Aufwertungsstrategien, die auf die räumliche Verdrängung und Vertreibung von als „störend“, „gefährlich“ oder
„kriminell“ klassifizierten Personengruppen zielen. Das
trifft vor allem sichtbar arme und andere Menschen, die von
bürgerlich normierten Subjektpositionen und Lebensweisen
abweichen. Polizeiliche Kontrollpraktiken arbeiten vor dem
Hintergrund einer patriarchalen normativen Ordnung des
„öffentlichen Raumes“ (vgl. Frank 2003) und mit rassistischen Differenzierungspraktiken: Im Fokus stehen Menschen, denen eine Herkunft bzw. Migration etwa aus osteuropäischen oder afrikanischen Ländern und zugleich ein un-
Verdrängung betrifft Wohnraum und
nutzbare soziale, kulturelle und
ökonomische Stadtteilinfrastrukturen.
rechtmäßiger Aufenthalt und kriminalisierte Handlungen
(vom Handel mit illegalisierten Substanzen über Sexarbeit
im Sperrgebiet bis zu „organisiertem aggressivem Betteln“)
zugeschrieben werden. Öffentliche Präsenz und Alltagspraktiken der so kategorisierten Menschen gelten als Beeinträchtigung des „Sicherheitsgefühls“ anderer Bewohner_innen und Besucher_innen. Sie überstrapazieren offenbar
auch die im Stadtteilmarketing gern hervorgehobene „urbane Toleranz“ (1).
An der Zielsetzung, zentrale innerstädtische Räume zu „attraktivieren“, arbeiten politisch-administrative Akteur_innen aus den Innen- und Stadtentwicklungsressorts im Verbund mit der Deutschen Bahn AG und ihren Sicherheitsdiensten, Grundeigentümer_innen, Gewerbetreibenden und
Investor_innen, aber auch der Sozialbehörde und teils organisierten Anwohner_innen. Bahnhof und Stadtteil sind da-
Foto: C. Polzin
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VERDRÄNGUNG
bei zentrale Interventionsräume „unternehmerischer Stadtpolitik“, wie sie in Hamburg seit den 1980er Jahren betrieben wird (vgl. Rinn 2016). Betrachten wir die jüngere Geschichte St. Georgs, wird zudem deutlich, wie die unternehmerisch und ordnungspolitisch orientierten Strategien und
„soziale“ Stadtteilpolitiken miteinander korrespondieren.
Der Stadtteil steht seit fast 40 Jahren im Fokus „behutsamer“
und „integrierter“ Stadterneuerung und Quartiersentwicklung, die auf eine Verbesserung der Wohnbedingungen
und Lebensverhältnisse zielen sollen und dabei auch die Bearbeitung verräumlichter „sozialer Probleme“ versprechen.
Dass es sich bei diesen unterschiedlichen Stadtentwicklungsstrategien nicht um Gegensätze handelt, wird mit Blick
auf die verschiedenen Dimensionen stadträumlicher Verdrängung deutlich.
... wie rassistisch konstituierter
Re-Produktionsverhältnisse sollen
durchgesetzt werden.
konzepten, so erwiesen sich gerade letztere im Rückblick als
Katalysatoren für die folgenden Gentrifizierungsprozesse
(vgl. Rinn 2016).
Denn einen Schub erhielt die Politik der sozialen Neuzusammensetzung der Sanierungsgebiete im Rahmen der sozial- und stadtpolitischen Bearbeitung der „städtischen KriFoto: C. Ganzer
Verdrängung als Teil staatlich geförderter
Gentrifizierung
Ein zentraler Bestandteil von Stadtentwicklungspolitik ist
die Arbeit an spezifischen normativen „Raumordnungen“.
In St. Georg zeichnet sich dabei ein staatlich mitinitiierter
Prozess der Gentrifizierung deutlich ab – also die Aufwertung von Wohngebieten bei gleichzeitigem „Bevölkerungsaustausch“, sprich der Verdrängung von Bewohner_innen
mit niedrigeren Einkommen durch besserverdienende und
„statushöhere“ Bewohner_innen. Seit 1979 mit der Langen
Reihe ein erster Teilraum zum Sanierungsgebiet erklärt wurde, wird der Stadtteil mit Sanierungsprogrammen aufgewertet, die auf Instandsetzung des Wohnungsbestandes, Verbesserung des Wohnumfeldes und der Stadtteilinfrastruktur
und dabei auch auf Bewohner_innenbeteiligung setzen. Diese wurden auch von städtischen sozialen Bewegungen gegen die damals noch immer dominante Abriss- und Neubausanierung durchgesetzt.
Es ging darum, die Lebensbedingungen in den von Eigentümer_innen spekulativ heruntergewirtschafteten Stadtteilen
grundlegend zu verbessern. Eine solche Transformation innerstädtischer, zentrumsnaher Stadtteile lag aber auch in der
strategischen Ausrichtung unternehmerischer Stadtpolitik,
die in der Konkurrenz mit anderen Großstädten und Metropolregionen um Unternehmensansiedlungen, Events, Kul-
Normen und Normalitäten
lohnarbeitszentrierter und patriarchal ...
tureinrichtungen sowie hochqualifizierte Arbeitskräfte und
entsprechende Steuereinnahmen auf die Stärkung „weicher“
Standortfaktoren setzte. Und dazu gehörte zentral ein ansprechendes Wohnungsangebot und „urbane“ Stadtteilkultur. Stand diese Strategie, die Mitte der 1980er Jahre mit der
„Unternehmen Hamburg“-Rede des Ersten Bürgermeisters
Dohnanyi Programm wurde, zunächst in einem gewissen
Spannungsverhältnis zu „behutsamen“ Stadterneuerungs-
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se“ der 1990er Jahre: Konstatiert wurde eine anhaltende
„Flucht der Mittelschicht“ aus den innerstädtischen Wohnvierteln, die dortige „Konzentration“ neuer und alter Armut
und die Überlagerung entsprechender „Problemlagen“. Um
die „Abwärtsspiralen“ zu stoppen, wurde dabei vor allem
die Programmatik der „sozialen Mischung“ zum Einsatz gebracht. Als Kernproblem wurden nämlich „negative Kontexteffekte“ ausgemacht: Die benachteiligten Stadtteile, in
denen sich „benachteiligte Bevölkerungsgruppen“ konzentrierten, würden zu benachteiligenden Quartieren: Sozialisationsdefizite und Alltagsdevianz, „Sozialhilfeabhängigkeit“
und „Verwahrlosung“ würden sich potenzieren, so die Annahme, wenn in der unmittelbaren Nachbarschaft jene Bewohner_innen fehlten, die die Normen bildungs- und lohnarbeitsorientierter bürgerlicher Lebensweisen repräsentieren könnten. Der Verbleib und Zuzug von Mittelschichtsangehörigen, und eine entsprechende, zunehmend auch „familienorientierte“ Attraktivierung innerstädtischer „Problemgebiete“ wurde so zur expliziten Strategie gegen Ausgrenzung und stadt- bzw. sozialräumliche „Exklusion“ armer
und marginalisierter Bewohner_innen. Die Zielgruppen sozialer und unternehmerischer Stadtpolitik wurden sich insofern immer ähnlicher, und Stadtteilentwicklungspolitik bedeutete in den innenstadtnahen Wohngebieten de facto eine
Arbeit an der Verdrängung.
St. Georg ist heute einer der hot spots der Gentrifizierung innerstädtischer Wohngebiete in Hamburg. Der Stadtteil belegte in den 2000er Jahren einen Spitzenplatz bei steigenden
Verdrängung in der unternehmerischen Stadt
Mieten: Zwischen 2000 und 2011 stiegen die Angebotsmieten um 72% auf 13 €/m² netto kalt und lag dabei weit über
dem Hamburger Durchschnitt (38% Steigerung auf 11,21 €;
vgl. Pohl/Wischmann 2014). Seit 2010 stiegen zudem Umwandlungen von Miet- in Eigentumswohnungen sprunghaft
an (vgl. Bezirksamt Hamburg-Mitte 2011). Auf diese Entwicklungen musste schließlich auch die Bezirkspolitik reagieren – auch angesichts der stadtweiten und in St. Georg
vor allem vom „Einwohnerverein“ getragenen Proteste und
Mobilisierungen gegen Gentrifizierung und für ein „Recht
auf Stadt für alle“ (vgl. Füllner/Templin 2011). 2012 erließ
das Bezirksamt Hamburg-Mitte für weite Teile des Gebiets
eine „Soziale Erhaltungsverordnung“, mit der Luxusmodernisierungen und Wohnungsumwandlungen eingedämmt
bzw. reguliert werden sollten (vgl. zur kritischen Einschätzung Vogelpohl 2013).
Verdrängungsprozesse im Rahmen von Gentrifizierung haben nun verschiedene Dimensionen und unterschiedliche
Verläufe. Dabei lassen sich mehrere Formen von Verdrängung unterscheiden (vgl. etwa Davidson 2008): Direkte
Verdrängung etwa kann sich durch die „physische“ Zerstörung der Wohnung oder als ökonomisch erzwungener Wegzug aus dem Viertel aufgrund von Mietsteigerungen vollziehen. Wenn es Menschen mit geringen Einkommen aufgrund
steigender Angebotsmieten unmöglich wird, eine Wohnung
im Stadtteil zu finden, spricht man von „ausschließender
Verdrängung“ – also einer sozial selektiven Schließung des
lokalen Wohnungsmarktes. Neben Armut und niedrigen
Einkommen ist auch der alltägliche wie institutionalisierte
nutzen. Verdrängung betrifft also nicht nur den Wohnraum,
sondern auch nutzbare soziale, kulturelle und ökonomische
Stadtteilinfrastrukturen – und das sind eben auch allgemeinzugängliche, „öffentliche“ städtische Räume. Diese für
Gentrifizierung typischen Formen von Verdrängung überlagern sich in St. Georg mit solchen, die mit den Durchsetzungsstrategien „repräsentativer“ Raumordnungen im
„Empfangsbereich“ der inneren Stadt zusammenhängen, die
auf jene „sozialen Probleme“ gerichtet sind, die sich offenbar vor allem in den Bahnhofsvierteln großer Städte
verdichten.
Konflikte um die Aneignung und Nutzung
städtischer Räume
An den Versuchen, eine spezifische bürgerlich-urbane normative Ordnung städtischer Räume herzustellen, sind jedoch auch zahlreiche staatliche wie nicht-staatliche Akteur_innen beteiligt. Beispielhaft deutlich wird das am jahrzehntelangen Konflikt um die Aneignungs- und Nutzungsweisen des Hansaplatzes (vgl. etwa Schrader 2011). Hier
wird zugleich sichtbar, dass solche stadträumlichen Ordnungspolitiken umstritten sind und bleiben: Politisch-administrative Akteur_innen versuchen, den Platz mittels stadtplanerisch-städtebaulicher und ordnungspolitisch-polizeiliFoto: Rasande Tyskar_flickr
Integrierende, sozialstaatlich fundierte
Unterstützungs-, Hilfs- und
Kontrollstrukturen sollen gesellschaftliche
Beziehungen stabilisieren.
Rassismus bei der Wohnungsvergabe ein zusätzlicher Faktor, der Verdrängungsprozesse im Kontext von Gentrifizierung verschärft. Mit den verschiedenen Aufwertungspolitiken und -prozessen verändern sich zugleich auch nachbarschaftliche Beziehungen und Stadtteilinfrastrukturen: Die
neu zuziehenden, besserverdienenden Bewohner_innen eignen sich die Stadtteile physisch-symbolisch an und prägen
sie entsprechend ihrer spezifischen Lebensweisen, Normund Normalitätsvorstellungen um, es entstehen neue kommerzielle Versorgungs- und Dienstleistungsangebote. So
verändern sich Ressourcen, Infrastrukturen und Nutzbarkeiten städtischer Räume – auch deshalb, weil die mitunter lautstark artikulierten Interessen von Bewohner_innen aus der
„Mittelschicht“ von politisch-administrative Akteur_innen
nicht selten zum „Allgemeininteresse“ erhoben werden (vgl.
Rinn 2016).
Dies hat Auswirkungen auf die Alltage derjenigen, die es
trotz Armut und rassistischer Diskriminierung geschafft haben, im Stadtteil wohnen zu bleiben bzw. diesen weiterhin
cher Strategien sowie neuer rechtlicher Regulierungen (wie
dem „Kontaktverbot“ für Freier und horrenden Bußgeldern
für Sexarbeiter_innen) zu normalisieren, ein Zusammenschluss direkter Anwohner_innen macht öffentlich Stimmung gegen Prostituierte und Trinker, und fordert ein
„Recht auf Straße auch für unsere Kinder“, die von Kriminalisierung und Vertreibung Betroffenen finden alltägliche, renitente und eigensinnige Umgangsweisen, es intervenieren
lokale Gewerbetreibende und verhalten sich solidarisch,
parteilich arbeitende Sozialarbeiterinnen bieten unterstützende Infrastrukturen, stadtteilpolitische und feministische
Initiativen schalten sich ein und protestieren gegen Verdrängung und Kriminalisierung. Dieser Konflikt wird sich, so ist
zu erwarten, auch in den kommenden Jahren fortschreiben.
Er ist durch Machtasymmetrien gekennzeichnet, die fatale
Folgen für die (Über-)Lebensbedingungen der Zielgruppen
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VERDRÄNGUNG
Es sind die „ unwürdigen Armen“ , das
„ Lumpenproletariat“ , die „ Asozialen“ ,
„ Unangepassten“ oder „ Gefährlichen“ ...
der Vertreibungspolitiken haben. Fundamentale Anrechte
werden hier praktisch in Frage gestellt.
Kehren wir zur Räumung des KIDS zurück, wird aber auch
eine weitere Dimension von Konflikten um die Aneignung
und Nutzung städtischer Räume sichtbar. Denn an der Immobilie Bieberhaus lässt sich auch die jüngere Geschichte
der Neoliberalisierung der Hamburger Stadtentwicklungspolitik nachvollziehen – hier vor allem die innere Ökonomisierung von Staatlichkeit und die Re-Regulierung städtischer Immobilienpolitik. 2006 wurde das Geschäftshaus gemeinsam mit 180 weiteren Immobilien in städtischem Besitz
privatisiert und wird seitdem von der Alstria REIT AG verwaltet. Als Teil des Kaufvertrags wurde die Rückmietung
durch die Stadt (bei unterschiedlichen Laufzeiten) vereinbart (vgl. FHH 2006). Dieser Verkauf stand ganz im Zeichen
des damaligen Leitbildes der „Wachsenden Stadt“, mit dem
der CDU-Schill-Senat unter anderem die konsequente
Orientierung städtischer Liegenschafts- und Grundstücksvergabepolitik an einer ökonomischen Inwertsetzung städtischer Räume durchsetzte.
Der Senat argumentierte, so entledige sich die Stadt ihrer Risiken als Eigentümerin, könne in Zukunft flexibler auf veränderte Flächenbedarfe der Verwaltung reagieren und erziele kurzfristig Einnahmen zur Haushaltskonsolidierung sowie für notwendige öffentliche Investitionen. Heute werden
die Konsequenzen und Widersprüche dieser Privatisierungspolitik deutlich: Obwohl das KIDS ein breit anerkannter Teil des sozialarbeiterischen Angebotes ist, konnten politisch-administrative Akteur_innen keine Lösung des Konflikts anbieten, hatten sie doch entsprechende Steuerungsmöglichkeiten aus der Hand gegeben. Der Sozialbehörde
blieb offenbar nichts anderes übrig, als den Auszug des
KIDS öffentlich zu bedauern. Doch auch ein Bieberhaus in
städtischem Besitz wäre noch kein Garant für eine mögliche
Weiternutzung der Räume durch („unrentable“) Einrichtungen wie das KIDS, wirtschaften doch die städtischen Immobiliengesellschaften weitgehend nach denselben Prinzipien
wie Privatunternehmen.
sozialstaatlich fundierte Unterstützungs-, Hilfs- und Kontrollstrukturen sollen gesellschaftliche Beziehungen stabilisieren, die aus sich heraus Ungleichheit hervorbringen. Mit
den Normen bürgerlicher Subjektivitäten werden auch die
Abweichungen produziert, und diese müssen bearbeitet
werden: Es sind die „unwürdigen Armen“, das „Lumpenproletariat“, die „Asozialen“, „Unangepassten“ oder
„Gefährlichen“, die vertrieben und ausgeschlossen oder
auch eingeschlossen und gebessert – und dabei eben auch
unsichtbar gemacht – werden sollen.
Möglicherweise kam der sozialarbeiterische Ansatz des
KIDS Anfang der 1990er Jahre dem Ansinnen des Innensenats, die „Visitenkarte“ Hamburgs von störenden Erscheinung zu säubern, gar nicht so ungelegen – ließ sich doch eine
gewisse Einflussnahme auf die „Szene“ erwarten und auch,
dass die „unangepassten Jugendlichen“ weniger häufig störend in der Bahnhofsöffentlichkeit in Erscheinung treten
würden. Aus einer Perspektive des ordnungspolitischen Managements städtischer Räume jedenfalls war die Arbeit mit
Foto: C. Polzin
solchen „szenenahen“ Angeboten Sozialer Arbeit durchaus
naheliegend. Das wird etwa auch an der immer wieder neu
entflammenden Diskussion um bahnhofsnahe „Trinkerräume“ deutlich. Sozialarbeiterische Angebote für Menschen,
die mit stadträumlichen Ausschließungen, Vertreibungen
und Kriminalisierung zu kämpfen haben, müssen sich immer mit ihrer möglichen ordnungs- und kontrollpolitischen
Funktion auseinandersetzen. Alternativen dazu liegen, so
lässt sich annehmen, nicht so sehr in „besseren“ Sozialarbeitsangeboten – worin aber dann? Diese Frage bedarf einer
praktischen Auseinandersetzung, auch innerhalb (städtischer) sozialer Bewegungen.
Ausblick
Die autoritären, „revanchistischen“ Politiken der Ordnung
städtischen Raumes und auch die Einbindung „sozialer“
bzw. sozialarbeiterischer Strategien stehen in St. Georg in
einem breiteren historisch-stadtpolitischen Kontext. Durchgesetzt werden sollen die Normen und Normalitäten lohnarbeitszentrierter und patriarchal wie rassistisch konstituierter
Re-Produktionsverhältnisse, und mit ihnen zugleich gesellschaftliche Kohäsion und „sozialer Friede“: Integrierende,
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... die vertrieben und ausgeschlossen
oder eingeschlossen und gebessert –
und dabei eben auch unsichtbar
gemacht – werden sollen.
Verdrängung in der unternehmerischen Stadt
Foto: C. Polzin
Aus Perspektive des ordnungspolitischen
M anagements war die Arbeit
mit „ szenenahen“ Angeboten
Sozialer Arbeit naheliegend.
Ein erster Schritt wäre, Verdrängung, Vertreibung, Kriminalisierungen und Ausschließungen, wie sie in St. Georg,
aber auch anderswo sichtbar werden, nicht als „Sonderproblematiken“ zu behandeln. Sie müssten vielmehr im Zentrum der Auseinandersetzungen um alltägliche städtische
Aneignung, Anrechte und Teilhabe positioniert werden.
Dass diese durch Konflikte hindurch erkämpft werden müssen, haben soziale Bewegungen in Hamburg – wie etwa zuletzt die Gruppe „Lampedusa in Hamburg“ – deutlich gemacht. Um der gesellschaftlichen Ausschließung der „Anderen“ der gegenwärtigen Stadt entgegenzutreten, führt
kaum ein Weg an solchen Selbstorganisierungen vorbei. Es
geht aber nicht allein um die Organisierung derjenigen, die
zu „Anderen“ gemacht werden, sondern all jener gemeinAnmerkungen:
1) Diese Auseinandersetzung ist seit den 2000er Jahren auch von
Artikulation antimuslimischen Rassismus‘ mitgeprägt (vgl.
Tsianos 2014).
sam, die eine andere als die bürgerliche Stadt wollen: Eine
Stadt für „alle“. Dafür bedarf es einer Arbeit an bestehenden
Ungleichheiten und Differenzen auch innerhalb dieses
„alle“, und es müssen Wege gefunden werden, diese im
Alltag wie auch in öffentlichen Interventionen nicht als
einfache Trennlinien bestehen zu lassen.
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M orit z Rinn
arbeitet als wissenschaftlicher M itarbeiter am Institut für Soziale Arbeit und Sozialpolitik an der Universität Duisburg-Essen.
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