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Verdrängung in der unternehmerischen Stadt. Zum Beispiel Hamburg-St. Georg

2017

l VERDRÄNGUNG Verdrängung in der unternehmerischen Stadt Zum Beispiel Hamburg-St. Georg von Moritz Rinn Im Oktober 2016 besetzte eine Gruppe junger Menschen die Räume des KIDS, einer Anlaufstelle „für Kinder und Jugendliche auf der Straße“ im Bieberhaus am Hamburger Hauptbahnhof. Sie wehrten sich gegen die Räumung, die die Eigentümerin Alstria office REIT-AG durch ihre Kündigung erzwungen hatte, und verließen das Gebäude erst unter polizeilichem Druck. Grund für die Kündigung war eine umfassend Sanierung und anschließende Vermarktung als hochwertige Bürofläche. Das vom Verein basis & woge getragene und von der Sozialbehörde finanzierte Straßensozialarbeitsprojekt war hier seit 1993 verortet und arbeitete mit einem ausstiegsorientierten, aber dabei niedrigschwelli- An der Regierung dieser städtischen Räume lassen sich Transformationen von Stadtentwicklungs-, Sozial- und Innenpolitik beobachten, in denen sich unternehmerische, autoritär-ausschließende und integrativ-sozialpolitische Strategien miteinander verschränken. Diese verschiedenen Dimensionen der Neuordnung innerstädtischer Räume und der Neuzusammensetzung ihrer Bewohner_innen in der „neoliberalisierenden Stadt“ (Mayer 2013) prägen die umstrittenen Realitäten gegenwärtiger Verdrängungsprozesse. Ich werde sie deshalb in diesem Artikel knapp geschichtlich nachzeichnen und in ihren Beziehungen diskutieren. Verdrängung ist, so lässt sich zuspitzen, Bestandteil der politisch-administrativen Arbeit an einer Verbürgerlichung der Stadt. Kontinuitäten der Ordnungspolitik in „repräsentativen Räumen“ Foto: C. Polzin gen und akzeptierenden Ansatz. Es war im Kontext parteilicher, kritisch-sozialarbeiterischer Positionierungen entstanden, die den autoritären Bearbeitungsweisen „jugendlicher Abweichung“ durch Jugendamt und Polizei alternative Angebote entgegensetzten. 1993 war allerdings auch das Jahr jener Bürgerschaftswahl, in der die SPD zwar ihre absolute Mehrheit an Sitzen verlor, aber gemeinsam mit der STATT-Partei weiterregieren konnte – und ein Jahr später Hartmuth Wrocklage zum Innensenator machte. In der Folgezeit tat gerade er sich mit einer besonders repressiven Programmatik der Ordnung innerstädtischer Räume hervor, deren Schwerpunkt das bahnhofsnahe St. Georg bildete. Insbesondere der Hauptbahnhof sollte als eine der „Visitenkarten“ der Stadt einladend für Tourist_innen gemacht und St. Georg als entsprechender Hotel- und Gastronomiestandort gestärkt werden. „Störende“ Personengruppen sollten dafür aus der Bahnhofs- und Stadtteilöffentlichkeit verschwinden. 4 FORUM für Kinder und Jugendarbeit 2 / 2 0 1 7 Als die Innenbehörde Anfang der 1990er Jahre ihre stadträumlichen Ordnungspolitiken intensivierte, wurde dies von einer skandalisierenden medialen Berichterstattung über die „offene Drogenszene“ und vom stadtentwicklungspolitischen Diskurs um „soziale Brennpunkte“ begleitet. Im Fokus standen dabei die sogenannten „Randständigen“, die „Trinker- und Drogenszene“ und das Sexarbeitsgeschäft am Hauptbahnhof sowie zwischen Langer Reihe und Steindamm, vor allem rund um den Hansaplatz. Dieser Teilraum sei, so das Hamburger Abendblatt Anfang 1995 in einer Reportage, mittlerweile „gekippt“, „durch Spielhallen, SexShops, billige Absteigen und 32.000 Quadratmeter leerste- Ein zentraler Teil von Stadtentwicklungspolitik ist Arbeit an spezifischen normativen „ Raumordnungen“ . henden Büroraum kaum mehr zu retten“ (vgl. Hamburger Abendblatt, 12. 1. 1995). Der Sanierungsträger ASK sprach in derselben Reportage von einer Spaltung des Stadtteils: „Single- und Juppie-Viertel einerseits, Bronx und Slum andererseits“. Die Polizei wurde trotz erhöhter Präsenz, Razzien gegen „Dealer“ und Vertreibungen von Drogennutzer_innen als machtlos beschrieben, viele Anwohner_innen Verdrängung in der unternehmerischen Stadt Foto: Rasande Tyskar_flickr hätten resigniert. Ebenfalls berichtet wird über eine gemeinsame Stadtteilbesichtigung des Innensenators mit Sozialsenatorin Fischer-Menzel, in deren Folge ein Konzept ausgearbeitet werden solle, „das eine bessere Ergänzung von Sozialarbeitern und Polizisten ermöglicht, nämlich etwa den verstärkten Einsatz von Sozialarbeitern dort, wo die Polizei mit ihren Mitteln nicht mehr weiterkommt“ (ebd.). Die Rede ist hier vom „Handlungskonzept für die Polizei im Stadtteil St. Georg“, das im Sommer 1995 veröffentlicht wurde. Kurz darauf folgten weitere programmatische Papiere wie etwa der berüchtigte Drucksachenentwurf „Maßnahmen gegen die drohende Unwirtlichkeit der Stadt“ (1996, vgl. Peddinghaus/Hauer 1998; Häfele/Sobczak 2002). In der Folge stiegen Platzverweise und Ingewahrsamnahmen in St. Georg sprunghaft an (vgl. Wehrheim 2012, S. 96), wobei besonders jugendliche Geflüchtete im Fokus polizeilicher Kontrollpolitik standen. Insbesondere die Verlagerung des Konflikts ins Schanzenviertel führte zu einer massiven öffentlichen Auseinandersetzung. Anwohner_innen mobilisierten gegen „Dealer“, junge Schwarze Menschen organisierten eine Demonstration gegen rassistische Kontrollen, Kriminalisierung und Vertreibung im Schanzenviertel und es folgten einige „spektakuläre“ Interventionen linker Gruppen gegen die neue Sicherheitspolitik rund um den Hauptbahnhof (vgl. Häfele/Sobczak 2002). Diese knappe Rückblende lässt Kontinuitäten sichtbar werden: Heute geht eine „Task Force Drogen“ der Hamburger Polizei massiv gegen „Dealer“ in St. Georg, St. Pauli und im Schanzenviertel vor, Gerichte fällen generalpräventiv motivierte, auf Abschreckung zielende Urteile und belegen den Besitz von Kleinstmengen Marihuana mit Haftstrafen (vgl. taz, 2. 6. 2016) – gerade dann, wenn angesichts eines ungesicherten Aufenthaltsstatus der Angeklagten „Fluchtgefahr“ bestünde. Und auch heute – daran muss erinnert werden – sterben Menschen, die sich wegen Verdachts auf Drogenhandel in der Gewalt der Polizei oder in Untersuchungshaft befinden: 2001 Achidi John nach einem (vom kurzzeitigen Innensenator Olaf Scholz eingeführten) Brechmitteleinsatz in der Hamburger Rechtsmedizin; 2016 Jaja Diabi, der erhängt in seiner Zelle im Untersuchungsgefängnis Hahnöfersand aufgefunden wurde (vgl. taz, 17. 2. 2017). Gleichzeitig organisieren sich die Betroffenen vor allem in St. Pauli Süd gemeinsam mit Anwohner_innen und anderen stadtteilpolitischen und antirassistischen Initiativen, kritisieren die repressive Polizeipraxis als „racial profiling“ und mobilisieren zu Protesten. Der Hauptbahnhof und St. Georg, aber auch das Schanzenviertel und St. Pauli sind seit mehr als zwei Jahrzehnten Schauplätze und Gegenstände stadtpolitischer Ordnungsund Aufwertungsstrategien, die auf die räumliche Verdrängung und Vertreibung von als „störend“, „gefährlich“ oder „kriminell“ klassifizierten Personengruppen zielen. Das trifft vor allem sichtbar arme und andere Menschen, die von bürgerlich normierten Subjektpositionen und Lebensweisen abweichen. Polizeiliche Kontrollpraktiken arbeiten vor dem Hintergrund einer patriarchalen normativen Ordnung des „öffentlichen Raumes“ (vgl. Frank 2003) und mit rassistischen Differenzierungspraktiken: Im Fokus stehen Menschen, denen eine Herkunft bzw. Migration etwa aus osteuropäischen oder afrikanischen Ländern und zugleich ein un- Verdrängung betrifft Wohnraum und nutzbare soziale, kulturelle und ökonomische Stadtteilinfrastrukturen. rechtmäßiger Aufenthalt und kriminalisierte Handlungen (vom Handel mit illegalisierten Substanzen über Sexarbeit im Sperrgebiet bis zu „organisiertem aggressivem Betteln“) zugeschrieben werden. Öffentliche Präsenz und Alltagspraktiken der so kategorisierten Menschen gelten als Beeinträchtigung des „Sicherheitsgefühls“ anderer Bewohner_innen und Besucher_innen. Sie überstrapazieren offenbar auch die im Stadtteilmarketing gern hervorgehobene „urbane Toleranz“ (1). An der Zielsetzung, zentrale innerstädtische Räume zu „attraktivieren“, arbeiten politisch-administrative Akteur_innen aus den Innen- und Stadtentwicklungsressorts im Verbund mit der Deutschen Bahn AG und ihren Sicherheitsdiensten, Grundeigentümer_innen, Gewerbetreibenden und Investor_innen, aber auch der Sozialbehörde und teils organisierten Anwohner_innen. Bahnhof und Stadtteil sind da- Foto: C. Polzin FORUM für Kinder und Jugendarbeit 2 / 2 0 1 7 5 l VERDRÄNGUNG bei zentrale Interventionsräume „unternehmerischer Stadtpolitik“, wie sie in Hamburg seit den 1980er Jahren betrieben wird (vgl. Rinn 2016). Betrachten wir die jüngere Geschichte St. Georgs, wird zudem deutlich, wie die unternehmerisch und ordnungspolitisch orientierten Strategien und „soziale“ Stadtteilpolitiken miteinander korrespondieren. Der Stadtteil steht seit fast 40 Jahren im Fokus „behutsamer“ und „integrierter“ Stadterneuerung und Quartiersentwicklung, die auf eine Verbesserung der Wohnbedingungen und Lebensverhältnisse zielen sollen und dabei auch die Bearbeitung verräumlichter „sozialer Probleme“ versprechen. Dass es sich bei diesen unterschiedlichen Stadtentwicklungsstrategien nicht um Gegensätze handelt, wird mit Blick auf die verschiedenen Dimensionen stadträumlicher Verdrängung deutlich. ... wie rassistisch konstituierter Re-Produktionsverhältnisse sollen durchgesetzt werden. konzepten, so erwiesen sich gerade letztere im Rückblick als Katalysatoren für die folgenden Gentrifizierungsprozesse (vgl. Rinn 2016). Denn einen Schub erhielt die Politik der sozialen Neuzusammensetzung der Sanierungsgebiete im Rahmen der sozial- und stadtpolitischen Bearbeitung der „städtischen KriFoto: C. Ganzer Verdrängung als Teil staatlich geförderter Gentrifizierung Ein zentraler Bestandteil von Stadtentwicklungspolitik ist die Arbeit an spezifischen normativen „Raumordnungen“. In St. Georg zeichnet sich dabei ein staatlich mitinitiierter Prozess der Gentrifizierung deutlich ab – also die Aufwertung von Wohngebieten bei gleichzeitigem „Bevölkerungsaustausch“, sprich der Verdrängung von Bewohner_innen mit niedrigeren Einkommen durch besserverdienende und „statushöhere“ Bewohner_innen. Seit 1979 mit der Langen Reihe ein erster Teilraum zum Sanierungsgebiet erklärt wurde, wird der Stadtteil mit Sanierungsprogrammen aufgewertet, die auf Instandsetzung des Wohnungsbestandes, Verbesserung des Wohnumfeldes und der Stadtteilinfrastruktur und dabei auch auf Bewohner_innenbeteiligung setzen. Diese wurden auch von städtischen sozialen Bewegungen gegen die damals noch immer dominante Abriss- und Neubausanierung durchgesetzt. Es ging darum, die Lebensbedingungen in den von Eigentümer_innen spekulativ heruntergewirtschafteten Stadtteilen grundlegend zu verbessern. Eine solche Transformation innerstädtischer, zentrumsnaher Stadtteile lag aber auch in der strategischen Ausrichtung unternehmerischer Stadtpolitik, die in der Konkurrenz mit anderen Großstädten und Metropolregionen um Unternehmensansiedlungen, Events, Kul- Normen und Normalitäten lohnarbeitszentrierter und patriarchal ... tureinrichtungen sowie hochqualifizierte Arbeitskräfte und entsprechende Steuereinnahmen auf die Stärkung „weicher“ Standortfaktoren setzte. Und dazu gehörte zentral ein ansprechendes Wohnungsangebot und „urbane“ Stadtteilkultur. Stand diese Strategie, die Mitte der 1980er Jahre mit der „Unternehmen Hamburg“-Rede des Ersten Bürgermeisters Dohnanyi Programm wurde, zunächst in einem gewissen Spannungsverhältnis zu „behutsamen“ Stadterneuerungs- 6 FORUM für Kinder und Jugendarbeit 2 / 2 0 1 7 se“ der 1990er Jahre: Konstatiert wurde eine anhaltende „Flucht der Mittelschicht“ aus den innerstädtischen Wohnvierteln, die dortige „Konzentration“ neuer und alter Armut und die Überlagerung entsprechender „Problemlagen“. Um die „Abwärtsspiralen“ zu stoppen, wurde dabei vor allem die Programmatik der „sozialen Mischung“ zum Einsatz gebracht. Als Kernproblem wurden nämlich „negative Kontexteffekte“ ausgemacht: Die benachteiligten Stadtteile, in denen sich „benachteiligte Bevölkerungsgruppen“ konzentrierten, würden zu benachteiligenden Quartieren: Sozialisationsdefizite und Alltagsdevianz, „Sozialhilfeabhängigkeit“ und „Verwahrlosung“ würden sich potenzieren, so die Annahme, wenn in der unmittelbaren Nachbarschaft jene Bewohner_innen fehlten, die die Normen bildungs- und lohnarbeitsorientierter bürgerlicher Lebensweisen repräsentieren könnten. Der Verbleib und Zuzug von Mittelschichtsangehörigen, und eine entsprechende, zunehmend auch „familienorientierte“ Attraktivierung innerstädtischer „Problemgebiete“ wurde so zur expliziten Strategie gegen Ausgrenzung und stadt- bzw. sozialräumliche „Exklusion“ armer und marginalisierter Bewohner_innen. Die Zielgruppen sozialer und unternehmerischer Stadtpolitik wurden sich insofern immer ähnlicher, und Stadtteilentwicklungspolitik bedeutete in den innenstadtnahen Wohngebieten de facto eine Arbeit an der Verdrängung. St. Georg ist heute einer der hot spots der Gentrifizierung innerstädtischer Wohngebiete in Hamburg. Der Stadtteil belegte in den 2000er Jahren einen Spitzenplatz bei steigenden Verdrängung in der unternehmerischen Stadt Mieten: Zwischen 2000 und 2011 stiegen die Angebotsmieten um 72% auf 13 €/m² netto kalt und lag dabei weit über dem Hamburger Durchschnitt (38% Steigerung auf 11,21 €; vgl. Pohl/Wischmann 2014). Seit 2010 stiegen zudem Umwandlungen von Miet- in Eigentumswohnungen sprunghaft an (vgl. Bezirksamt Hamburg-Mitte 2011). Auf diese Entwicklungen musste schließlich auch die Bezirkspolitik reagieren – auch angesichts der stadtweiten und in St. Georg vor allem vom „Einwohnerverein“ getragenen Proteste und Mobilisierungen gegen Gentrifizierung und für ein „Recht auf Stadt für alle“ (vgl. Füllner/Templin 2011). 2012 erließ das Bezirksamt Hamburg-Mitte für weite Teile des Gebiets eine „Soziale Erhaltungsverordnung“, mit der Luxusmodernisierungen und Wohnungsumwandlungen eingedämmt bzw. reguliert werden sollten (vgl. zur kritischen Einschätzung Vogelpohl 2013). Verdrängungsprozesse im Rahmen von Gentrifizierung haben nun verschiedene Dimensionen und unterschiedliche Verläufe. Dabei lassen sich mehrere Formen von Verdrängung unterscheiden (vgl. etwa Davidson 2008): Direkte Verdrängung etwa kann sich durch die „physische“ Zerstörung der Wohnung oder als ökonomisch erzwungener Wegzug aus dem Viertel aufgrund von Mietsteigerungen vollziehen. Wenn es Menschen mit geringen Einkommen aufgrund steigender Angebotsmieten unmöglich wird, eine Wohnung im Stadtteil zu finden, spricht man von „ausschließender Verdrängung“ – also einer sozial selektiven Schließung des lokalen Wohnungsmarktes. Neben Armut und niedrigen Einkommen ist auch der alltägliche wie institutionalisierte nutzen. Verdrängung betrifft also nicht nur den Wohnraum, sondern auch nutzbare soziale, kulturelle und ökonomische Stadtteilinfrastrukturen – und das sind eben auch allgemeinzugängliche, „öffentliche“ städtische Räume. Diese für Gentrifizierung typischen Formen von Verdrängung überlagern sich in St. Georg mit solchen, die mit den Durchsetzungsstrategien „repräsentativer“ Raumordnungen im „Empfangsbereich“ der inneren Stadt zusammenhängen, die auf jene „sozialen Probleme“ gerichtet sind, die sich offenbar vor allem in den Bahnhofsvierteln großer Städte verdichten. Konflikte um die Aneignung und Nutzung städtischer Räume An den Versuchen, eine spezifische bürgerlich-urbane normative Ordnung städtischer Räume herzustellen, sind jedoch auch zahlreiche staatliche wie nicht-staatliche Akteur_innen beteiligt. Beispielhaft deutlich wird das am jahrzehntelangen Konflikt um die Aneignungs- und Nutzungsweisen des Hansaplatzes (vgl. etwa Schrader 2011). Hier wird zugleich sichtbar, dass solche stadträumlichen Ordnungspolitiken umstritten sind und bleiben: Politisch-administrative Akteur_innen versuchen, den Platz mittels stadtplanerisch-städtebaulicher und ordnungspolitisch-polizeiliFoto: Rasande Tyskar_flickr Integrierende, sozialstaatlich fundierte Unterstützungs-, Hilfs- und Kontrollstrukturen sollen gesellschaftliche Beziehungen stabilisieren. Rassismus bei der Wohnungsvergabe ein zusätzlicher Faktor, der Verdrängungsprozesse im Kontext von Gentrifizierung verschärft. Mit den verschiedenen Aufwertungspolitiken und -prozessen verändern sich zugleich auch nachbarschaftliche Beziehungen und Stadtteilinfrastrukturen: Die neu zuziehenden, besserverdienenden Bewohner_innen eignen sich die Stadtteile physisch-symbolisch an und prägen sie entsprechend ihrer spezifischen Lebensweisen, Normund Normalitätsvorstellungen um, es entstehen neue kommerzielle Versorgungs- und Dienstleistungsangebote. So verändern sich Ressourcen, Infrastrukturen und Nutzbarkeiten städtischer Räume – auch deshalb, weil die mitunter lautstark artikulierten Interessen von Bewohner_innen aus der „Mittelschicht“ von politisch-administrative Akteur_innen nicht selten zum „Allgemeininteresse“ erhoben werden (vgl. Rinn 2016). Dies hat Auswirkungen auf die Alltage derjenigen, die es trotz Armut und rassistischer Diskriminierung geschafft haben, im Stadtteil wohnen zu bleiben bzw. diesen weiterhin cher Strategien sowie neuer rechtlicher Regulierungen (wie dem „Kontaktverbot“ für Freier und horrenden Bußgeldern für Sexarbeiter_innen) zu normalisieren, ein Zusammenschluss direkter Anwohner_innen macht öffentlich Stimmung gegen Prostituierte und Trinker, und fordert ein „Recht auf Straße auch für unsere Kinder“, die von Kriminalisierung und Vertreibung Betroffenen finden alltägliche, renitente und eigensinnige Umgangsweisen, es intervenieren lokale Gewerbetreibende und verhalten sich solidarisch, parteilich arbeitende Sozialarbeiterinnen bieten unterstützende Infrastrukturen, stadtteilpolitische und feministische Initiativen schalten sich ein und protestieren gegen Verdrängung und Kriminalisierung. Dieser Konflikt wird sich, so ist zu erwarten, auch in den kommenden Jahren fortschreiben. Er ist durch Machtasymmetrien gekennzeichnet, die fatale Folgen für die (Über-)Lebensbedingungen der Zielgruppen FORUM für Kinder und Jugendarbeit 2 / 2 0 1 7 7 l VERDRÄNGUNG Es sind die „ unwürdigen Armen“ , das „ Lumpenproletariat“ , die „ Asozialen“ , „ Unangepassten“ oder „ Gefährlichen“ ... der Vertreibungspolitiken haben. Fundamentale Anrechte werden hier praktisch in Frage gestellt. Kehren wir zur Räumung des KIDS zurück, wird aber auch eine weitere Dimension von Konflikten um die Aneignung und Nutzung städtischer Räume sichtbar. Denn an der Immobilie Bieberhaus lässt sich auch die jüngere Geschichte der Neoliberalisierung der Hamburger Stadtentwicklungspolitik nachvollziehen – hier vor allem die innere Ökonomisierung von Staatlichkeit und die Re-Regulierung städtischer Immobilienpolitik. 2006 wurde das Geschäftshaus gemeinsam mit 180 weiteren Immobilien in städtischem Besitz privatisiert und wird seitdem von der Alstria REIT AG verwaltet. Als Teil des Kaufvertrags wurde die Rückmietung durch die Stadt (bei unterschiedlichen Laufzeiten) vereinbart (vgl. FHH 2006). Dieser Verkauf stand ganz im Zeichen des damaligen Leitbildes der „Wachsenden Stadt“, mit dem der CDU-Schill-Senat unter anderem die konsequente Orientierung städtischer Liegenschafts- und Grundstücksvergabepolitik an einer ökonomischen Inwertsetzung städtischer Räume durchsetzte. Der Senat argumentierte, so entledige sich die Stadt ihrer Risiken als Eigentümerin, könne in Zukunft flexibler auf veränderte Flächenbedarfe der Verwaltung reagieren und erziele kurzfristig Einnahmen zur Haushaltskonsolidierung sowie für notwendige öffentliche Investitionen. Heute werden die Konsequenzen und Widersprüche dieser Privatisierungspolitik deutlich: Obwohl das KIDS ein breit anerkannter Teil des sozialarbeiterischen Angebotes ist, konnten politisch-administrative Akteur_innen keine Lösung des Konflikts anbieten, hatten sie doch entsprechende Steuerungsmöglichkeiten aus der Hand gegeben. Der Sozialbehörde blieb offenbar nichts anderes übrig, als den Auszug des KIDS öffentlich zu bedauern. Doch auch ein Bieberhaus in städtischem Besitz wäre noch kein Garant für eine mögliche Weiternutzung der Räume durch („unrentable“) Einrichtungen wie das KIDS, wirtschaften doch die städtischen Immobiliengesellschaften weitgehend nach denselben Prinzipien wie Privatunternehmen. sozialstaatlich fundierte Unterstützungs-, Hilfs- und Kontrollstrukturen sollen gesellschaftliche Beziehungen stabilisieren, die aus sich heraus Ungleichheit hervorbringen. Mit den Normen bürgerlicher Subjektivitäten werden auch die Abweichungen produziert, und diese müssen bearbeitet werden: Es sind die „unwürdigen Armen“, das „Lumpenproletariat“, die „Asozialen“, „Unangepassten“ oder „Gefährlichen“, die vertrieben und ausgeschlossen oder auch eingeschlossen und gebessert – und dabei eben auch unsichtbar gemacht – werden sollen. Möglicherweise kam der sozialarbeiterische Ansatz des KIDS Anfang der 1990er Jahre dem Ansinnen des Innensenats, die „Visitenkarte“ Hamburgs von störenden Erscheinung zu säubern, gar nicht so ungelegen – ließ sich doch eine gewisse Einflussnahme auf die „Szene“ erwarten und auch, dass die „unangepassten Jugendlichen“ weniger häufig störend in der Bahnhofsöffentlichkeit in Erscheinung treten würden. Aus einer Perspektive des ordnungspolitischen Managements städtischer Räume jedenfalls war die Arbeit mit Foto: C. Polzin solchen „szenenahen“ Angeboten Sozialer Arbeit durchaus naheliegend. Das wird etwa auch an der immer wieder neu entflammenden Diskussion um bahnhofsnahe „Trinkerräume“ deutlich. Sozialarbeiterische Angebote für Menschen, die mit stadträumlichen Ausschließungen, Vertreibungen und Kriminalisierung zu kämpfen haben, müssen sich immer mit ihrer möglichen ordnungs- und kontrollpolitischen Funktion auseinandersetzen. Alternativen dazu liegen, so lässt sich annehmen, nicht so sehr in „besseren“ Sozialarbeitsangeboten – worin aber dann? Diese Frage bedarf einer praktischen Auseinandersetzung, auch innerhalb (städtischer) sozialer Bewegungen. Ausblick Die autoritären, „revanchistischen“ Politiken der Ordnung städtischen Raumes und auch die Einbindung „sozialer“ bzw. sozialarbeiterischer Strategien stehen in St. Georg in einem breiteren historisch-stadtpolitischen Kontext. Durchgesetzt werden sollen die Normen und Normalitäten lohnarbeitszentrierter und patriarchal wie rassistisch konstituierter Re-Produktionsverhältnisse, und mit ihnen zugleich gesellschaftliche Kohäsion und „sozialer Friede“: Integrierende, 8 FORUM für Kinder und Jugendarbeit 2 / 2 0 1 7 ... die vertrieben und ausgeschlossen oder eingeschlossen und gebessert – und dabei eben auch unsichtbar gemacht – werden sollen. Verdrängung in der unternehmerischen Stadt Foto: C. Polzin Aus Perspektive des ordnungspolitischen M anagements war die Arbeit mit „ szenenahen“ Angeboten Sozialer Arbeit naheliegend. Ein erster Schritt wäre, Verdrängung, Vertreibung, Kriminalisierungen und Ausschließungen, wie sie in St. Georg, aber auch anderswo sichtbar werden, nicht als „Sonderproblematiken“ zu behandeln. Sie müssten vielmehr im Zentrum der Auseinandersetzungen um alltägliche städtische Aneignung, Anrechte und Teilhabe positioniert werden. Dass diese durch Konflikte hindurch erkämpft werden müssen, haben soziale Bewegungen in Hamburg – wie etwa zuletzt die Gruppe „Lampedusa in Hamburg“ – deutlich gemacht. Um der gesellschaftlichen Ausschließung der „Anderen“ der gegenwärtigen Stadt entgegenzutreten, führt kaum ein Weg an solchen Selbstorganisierungen vorbei. Es geht aber nicht allein um die Organisierung derjenigen, die zu „Anderen“ gemacht werden, sondern all jener gemeinAnmerkungen: 1) Diese Auseinandersetzung ist seit den 2000er Jahren auch von Artikulation antimuslimischen Rassismus‘ mitgeprägt (vgl. Tsianos 2014). sam, die eine andere als die bürgerliche Stadt wollen: Eine Stadt für „alle“. Dafür bedarf es einer Arbeit an bestehenden Ungleichheiten und Differenzen auch innerhalb dieses „alle“, und es müssen Wege gefunden werden, diese im Alltag wie auch in öffentlichen Interventionen nicht als einfache Trennlinien bestehen zu lassen. Peddinghaus, Pia; Hauer, Dirk (1998): Der Sozialstaat zeigt die Zähne; in: StadtRat (Hg.): Umkämpfte Räume, Hamburg u.a., 103-119 Rinn, Moritz (2016): Konflikte um die Stadt für alle. Das Machtfeld der Stadtentwicklungspolitik in Hamburg; Münster Literatur: taz, 17. 2. 2017: In der Zelle erhängt; Katharina Schipkowski Bezirksamt Hamburg-Mitte (2011): Begründung zum Erlass einer Sozialen Erhaltungsverordnung gemäß § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Baugesetzbuch für St. Georg; Hamburg taz, 2. 6. 2016: Hafenstraße ist kein Ponyhof; Katharina Schipkowski Davidson, Mark (2008): Spoiled Mixture: Where Does State-led ‚Positive‘ Gentrification End?; in: Urban Studies, 45 (12), 2385-2405 FHH (2006): Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft, Drucksache 18/3678; Hamburg Frank, Susanne (2003): Stadtplanung im Geschlechterkampf; Opladen Füllner, Jonas; Templin, David (2011): Stadtplanung von unten. Die „Recht auf Stadt“-Bewegung in Hamburg; in: Holm, Andrej; Gebhardt, Dirk (Hg.): Initiativen für ein Recht auf Stadt; Hamburg, 79-104 Häfele, Joachim; Sobczak, Olaf (2002): Der Bahnhof als Laboratorium der Sicherheitsgesellschaft?; in: Widersprüche, 22 (86), 71-86 Hamburger Abendblatt, 12. 1. 1995: Das Arrangement mit dem Elend; Sylke Pottharst Mayer, Margit (2013): Urbane soziale Bewegungen in der neoliberalisierenden Stadt; in: sub/urban. zeitschrift für kritische stadtforschung, 1 (1), 155-168 Tsianos, Vassilis S. (2014): Homonationalismus und new metropolitan mainstream; in: sub/urban. zeitschrift für kritische stadtforschung, 2 (3), 59-80 Vogelpohl, Anne (2013): Mit der Sozialen Erhaltungssatzung Verdrängung verhindern?; Arbeitspapier, Hamburg Wehrheim, Jan (2012): Die überwachte Stadt. 3. Aufl.; Opladen Schrader, Kathrin (2011): Biopolitischer Rassismus der bürgerlichen Mitte im Hamburger Stadtteil St. Georg; http://www.feministisches-institut.de/biopolitischerrassismus-der-buergerlichen-mitte-im-hamburgerstadtteil-st-georg-2 M orit z Rinn arbeitet als wissenschaftlicher M itarbeiter am Institut für Soziale Arbeit und Sozialpolitik an der Universität Duisburg-Essen. Pohl, Thomas; Wischmann, Katharina (2014): Wohnungsmarktdynamik und stadtpolitische Konflikte in Hamburg. Ein Beitrag zur Gentrificationforschung. In: Europa Regional 19 (2), 41-55 FORUM für Kinder und Jugendarbeit 2 / 2 0 1 7 9