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Kritische Theorie und feministisches Urteilen heute

2023, Zeitschrift für kritische Theorie

Kritische Theorie tröstet nicht, und doch setzt sie an der Trauer an, im Kleinen wie im Großen – Trauer über den Tod geliebter Menschen ebenso wie Trauer um verlorene Freiheit und um verpasste Möglichkeiten der Emanzipation. Diese Formen von Trauer sind universell. Deshalb stellt kritische Theorie das Subjekt ins Zentrum, an dessen Erfahrung des Leids, der Endlichkeit und des Schmerzes die kritische Reflexions- und Denkbewegung ihren Ausgang nimmt. Das leidende Subjekt bekommt den ganzen Raum, den es zum Ausdruck seines Schmerzes braucht, ohne dass der Schmerz, die Trauer und die Untröstlichkeit begrifflich zurückgenommen würden. Kritische Theorie hebt am alltäglichen Erleben von Leid und Zorn an und fragt, wo die Verbindungen liegen, die Gemeinsamkeit in den subjektiven Erfahrungen, durch welche die Vereinzelung Lügen gestraft wird und die zum Ausgangspunkt von Solidarität werden kann. Trauer ist eine Praxis der Verbundenheit, in der sich Protest und Widerstand äußern können. Das wurde in der jüngsten feministischen Revolte im Iran deutlich, die nach dem gewaltsamen Tod Jina Mahsa Aminis durch iranische Repressionsorgane entbrannte.

Zeitschrift für kritische Theorie Heft 56 – 57/2023 herausgegeben von Sven Kramer und Dirk Stederoth in Verbindung mit Gerhard Schweppenhäuser zu Klampen 202 Karin Stögner DEBATTE Karin Stögner Kritische Theorie und feministisches Urteilen heute Kritische Theorie tröstet nicht, und doch setzt sie an der Trauer an, im Kleinen wie im Großen – Trauer über den Tod geliebter Menschen ebenso wie Trauer um verlorene Freiheit und um verpasste Möglichkeiten der Emanzipation. Diese Formen von Trauer sind universell. Deshalb stellt kritische Theorie das Subjekt ins Zentrum, an dessen Erfahrung des Leids, der Endlichkeit und des Schmerzes die kritische Reflexions- und Denkbewegung ihren Ausgang nimmt. Das leidende Subjekt bekommt den ganzen Raum, den es zum Ausdruck seines Schmerzes braucht, ohne dass der Schmerz, die Trauer und die Untröstlichkeit begrifflich zurückgenommen würden. Kritische Theorie hebt am alltäglichen Erleben von Leid und Zorn an und fragt, wo die Verbindungen liegen, die Gemeinsamkeit in den subjektiven Erfahrungen, durch welche die Vereinzelung Lügen gestraft wird und die zum Ausgangspunkt von Solidarität werden kann. Trauer ist eine Praxis der Verbundenheit, in der sich Protest und Widerstand äußern können. Das wurde in der jüngsten feministischen Revolte im Iran deutlich, die nach dem gewaltsamen Tod Jina Mahsa Aminis durch iranische Repressionsorgane entbrannte. Das Subjekt als Resultante gesellschaftlicher und intersubjektiver Prozesse ist in ein Netz von Narrationen und Ideologien eingebettet. Es ist charakterisiert durch handelnde Vermittlung mit Gesellschaftlichem, nicht durch unwissbare, willkürliche Geworfenheit. Deshalb bleibt kritische Theorie beim unmittelbar subjektiven Empfinden nicht stehen, sondern sucht nach dem Ausdruck einer allgemeineren Erfahrung, die einer bestimmten gesellschaftlich-historischen Situation geschuldet ist. Sie ringt um bewegliche Begriffe, die alle brauchen, um ihr eigenes Leid für sich und andere überhaupt erfahrbar zu machen. So wie die Erkenntnis des subjektiven Leids einen allgemeinen Begriff braucht, der über das unmittelbar Subjektive hinausgeht, braucht das Objektive umgekehrt das Subjekt, um ZkT 56 – 57/2023 Kritische Theorie und feministisches Urteilen heute 203 überhaupt Ausdruck zu finden. Das Objekt ist nicht einfach als solches erfahrbar, sondern erscheint im Subjekt. Deshalb ist der in der kritischen Theorie so prominente Primat des Objekts1 ebenso prominent mit der Wendung zum Subjekt vermittelt. Wird jedoch aus dem subjektiven Leiden ein abstrakter Begriff von Vulnerabilität als anthropologische Konstante geschmiedet, dann besteht die Gefahr des Relativismus – das Leiden der Herrschenden wird gleich gültig mit dem der Beherrschten. Deshalb ist die Einbettung sowohl des Leids als auch der Erfahrung damit in die konkrete Herrschaftsgeschichte notwendig.2 Zudem strebt der subjektive Ausdruck des Leidens an Herrschaft und Ausbeutung nicht immer emanzipatorisch nach Freiheit, sondern stärkt ebenso oft im Sinn einer autoritären Rebellion die das Glück und die Freiheit versagenden gesellschaftlichen Institutionen. Solidarität ist nicht immer umfassend, sondern viel öfter exklusiv auf das vorgeblich Eigene gerichtet, was sich in exkludierenden Hassideologien manifestiert, unter denen Antisemitismus, Rassismus, Sexismus, Homophobie und völkische Formen des Nationalismus am markantesten hervortreten. Auch hier ist die Wendung zu autoritären Subjekten angezeigt, um die Trauer um vergebene Möglichkeiten und die Sehnsucht nach Freiheit, aber auch Gemeinsamkeit als sozialpsychologische Motivation selbst noch in Hassideologien auszugraben. Die Bewusstseins- und Ideologieschichten, die dabei zu durchgraben sind, um einen Ausdruck Walter Benjamins zu verwenden, geben Auskunft über die autoritären Strukturen der Gesellschaft, in die das Subjekt sozialisiert ist. Die wahnhaft verzerrte Wahrnehmung des autoritären Subjekts enthält noch die verschüttete Erfahrung von Trauer und Sehnsucht nach dem besseren Leben. Sie gilt es freizulegen und gegen die Hassideologien zu wenden. Das macht Ideologiekritik zu einem relevanten Teil kritischer Theorie heute, wie Asger Sørensen in seinem Debattenbeitrag festhält.3 Die Frage ist, welche Ideologiekritik und wie sie ausgerichtet sein soll, um heutige 1 Vgl. Theodor W. Adorno: Zu Subjekt und Objekt, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 10.2, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1997, S. 741–758. 2 Vgl. Estelle Ferrarese: Vulnerability and Critical Theory, Leiden u. Boston 2018. 3 Vgl. Asger Sørensen: Ohne Kapitalismuskritik keine Sozialdemokratie. Über kritische Theorie, Ideologiekritik und die Notwendigkeit von Kritik, in: Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 54 – 55, 2022, S. 245–257. 204 Karin Stögner globale Herrschaftsverhältnisse in den Blick zu bekommen, eine Forderung, die Martin Saar in seinem Beitrag zu Recht stellt.4 Herrschafts- und Ideologiekritik sind miteinander vermittelt, aber wir brauchen sie beide als konkrete Kritik an konkreten Verhältnissen. Solche Konkretisierung findet sich in der feministischen Kritik an objektivistischen Begriffstraditionen. Kritisiert wird hierbei ein Subjektbegriff, der immer schon und unausgesprochen eine bestimmte Partikularität als Norm setzt und somit zum vorgeblich Universellen macht.5 Herrschaftstraditionen und ihre gesellschaftlichen Ein- und Ausschlüsse bilden sich darin ab. Deshalb ist, anknüpfend an Sonja Buckels und Ruth Sondereggers Debattenbeitrag Kritische Theorie ist Sorgearbeit6, Herrschaftskritik ein Kern nicht nur der kritischen Theorie der Gesellschaft, sondern auch der feministischen. Beide zeigen große Affinitäten, die eine entwickelt sich aus der anderen, ohne aber in eins zu fallen. Den Zusammenhang und die vielschichtigen Vermittlungen zu feministischer Theorie und Praxis zu erforschen, gehört aus meiner Sicht zu den dringendsten Desideraten einer aktuellen kritischen Theorie.7 Zu den zahlreichen Momenten, an denen feministische Kritik produktiv anschließen kann, zählt nicht zuletzt die Methode eines interdisziplinären Materialismus, die heute, nach Jahrzehnten des Dekonstruktivismus, in der feministischen Theoriebildung wieder an Strahlkraft gewinnt.8 Ich verstehe die aktuelle Hinwendung zum interdisziplinären Materialismus als Ausdruck eines Bedürfnisses nach feministischer Herrschaftskritik, die keinen partikularistischen Rahmen setzt, innerhalb dessen die Kategorien race, gender und class gegeneinander ausgespielt und hierarchisiert werden. Gefordert ist vielmehr eine kritische Reflexion der dialektischen Konstellationen, die 4 Vgl. Martin Saar: Theorie und Kritik, heute, in: Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 52 – 53, 2021, S. 183–192. 5 Vgl. z. B. Iris Marion Young: Impartiality and the Civic Public. Some Implications of Feminist Critiques of Moral and Political Theory, in: Seyla Benhabib u. Drucilla Cornell (Hg.): Feminism as Critique. On the Politics of Gender, Minneapolis 1987, S. 56–76. 6 Vgl. Sonja Buckel u. Ruth Sonderegger: Kritische Theorie ist Sorgearbeit, in: Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 54 – 55, 2022, S. 229–244. 7 Siehe dazu z. B. Karin Stögner u. Alexandra Colligs (Hg.): Kritische Theorie und Feminismus, Berlin 2022. 8 Vgl. etwa Koschka Linkerhand (Hg.): Feministisch streiten. Texte zu Vernunft und Leidenschaft unter Frauen, Berlin 2018; Eva von Redecker: Revolution für das Leben, Frankfurt am Main 2020; Veronica Gago: Feminist International: How to Change Everything, London 2020. ZkT 56 – 57/2023 Kritische Theorie und feministisches Urteilen heute 205 sich aus der vielschichtigen Verstricktheit von Subjekten in konkrete Herrschaftszusammenhänge ergeben. Das Ziel dieses Debattenbeitrags zur Aktualität kritischer Theorie ist, ausgehend von einer Reflexion auf konkrete Herrschaftsverhältnisse und deren Kritik eine kulturübergreifende feministische Urteilskraft zu skizzieren, die sich sowohl dem Kulturrelativismus als auch dem repressiven Universalismus zu widersetzen vermag. Ein konkreter feministischer Begriff von Herrschaft geht nicht in Machtdiskursen auf, sondern setzt an der geschichtlich materialen Basis von Herrschaft an – dem Kapitalverhältnis – und hebt gleichzeitig die Besonderheit von Geschlechterherrschaft hervor, in der das (eingebildete) Eigentum an Leib und Leben anderer die vermittelten Formen moderner Herrschaft durchdringt. Eva von Redecker hat mit dem Begriff des Phantombesitzes9 die Geschlechterherrschaft in westlich demokratischen Gesellschaften charakterisiert, in denen das Patriarchat nach wie vor in vielen Segmenten der Gesellschaft fortwirkt, mit gravierenden Folgen, die von Femiziden und häuslicher Gewalt bis hin zu Gender Pay Gap und gläserner Decke reichen. Diese Strukturen sind Teil einer patriarchalen Tradition, die sich ungleichzeitig gegen das gesetzliche Regelwerk vieler westlicher Demokratien erhält. Demgegenüber sind massive Geschlechterungleichheiten bis hin zu Geschlechterapartheid fester Bestandteil des gesetzlichen Rahmens etwa in Afghanistan, Iran oder Saudi-Arabien. In afrikanischen Failed States wiederum wirkt gesetzliche Institutionalisierung mitunter so schwach, dass das Leben von archaisch-patriarchalen Strukturen der Clans und Tribes bestimmt wird. Ohne solche konkreten Blickrichtungen, die auf die globalen Ungleichzeitigkeiten in der Entwicklung der Rechte von Frauen und LGBTIQ+ fokussieren, die auch da, wo sie einmal erkämpft sind, wieder in Gefahr stehen, zurückgenommen zu werden (wie die neuerdings in manchen US-Bundesstaaten eingeführten Abtreibungsverbote belegen), können weder die jeweiligen geschlechtsspezifischen Gewaltverhältnisse erklärt noch erkannt werden, wie allgemein Herrschaftsverhältnisse auf ungleichen Geschlechterverhältnissen aufruhen. Wenngleich alle ungleichen Geschlechterverhältnisse Unrecht sind und auf den Müll gehören, so ist hier doch »Mülltrennung«10 notwendig, damit 9 Vgl. Eva von Redecker: Ownership’s Shadow. Neoauthoritarianism as Defense of Phantom Possession, in: Critical Times, Jg. 3, H. 1, April 2020, S. 33–67. 10 Gerhard Scheit: Mülltrennung. Beiträge zu Politik, Literatur und Musik, Hamburg 1998. 206 Karin Stögner nicht die gläserne Decke in demokratischen Gesellschaften mit der brutalen Geschlechterapartheid der Taliban oder der iranischen Mullahs gleichgesetzt wird. Die Dialektik von Gleichheit und Differenz, die Adorno in den Minima Moralia auffaltet,11 gilt auch hier, um einen falschen Begriff von Gleichheit zu vermeiden. Die für solche kategorische Mülltrennung notwendige Urteilsfähigkeit ist an ein feministisches Subjekt gebunden, das im Prozess der emanzipatorischen Kritik stets neu entsteht. Kritische Theorie heute braucht die Kritik konkreter Geschlechterherrschaft und einen systematischen Fokus auf die Wucht, die den Geschlechterverhältnissen nach wie vor zukommt, auch in Verbindung mit anderen Achsen gesellschaftlicher Ungleichheit. Zu nennen sind hier zentral die markant hervortretenden Geschlechterideologien in islamistischen Herrschaftspraktiken, aber auch in rechtsradikalen und christlich-fundamentalistischen Kreisen oder in der Online Counter Culture der Manosphere. Diese sich verschärfenden Formen der Geschlechterungleichheit sind in einem feministischkritischen Urteil nicht von den größeren geopolitischen Entwicklungen zu isolieren, sondern im Zusammenhang mit einer fortschreitenden Erosion von Vernunft, Individualität und Freiheit zu situieren. Im Zusammenhang damit lässt sich als Desiderat kritischer Theorie heute der Komplex intersektionaler Theoriebildung nennen. Intersektionalität soll dabei nicht als identitätspolitische Spielmarke verstanden werden, sondern, im Sinn einer Intersektionalität von Ideologien,12 einen kritischen Nachvollzug der Multidimensionalität gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse in einer Totalität leisten, die wesentlich als Prozess zu verstehen ist, der die subjektive und strukturelle Ebene vermittelt.13 Spätestens seit den 2000er Jahren ist im intersektionalen Paradigma ein Schwenk von einer strukturanalytischen hin zu einer identitätspolitischen Perspektive zu 11 Vgl. Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt am Main 1997, S. 66–67. 12 Vgl. Karin Stögner: Intersektionalität von Ideologien – Antisemitismus, Sexismus und das Verhältnis von Gesellschaft und Natur, in: Psychologie & Gesellschaftskritik, Jg. 41, 2017, H. 2, S. 25–45; Karin Stögner: Intersektionalität zwischen Ideologie und Kritik, in: Heiko Beyer u. Alexandra Schauer (Hg.): Die Rückkehr der Ideologie. Zur Gegenwart eines Schlüsselbegriffs, Frankfurt am Main 2021, S. 431–466. 13 Vgl. die erhellenden Aufsätze zu Intersektionalität in Gudrun-Axeli Knapp: Im Widerstreit. Feministische Theorie in Bewegung, Wiesbaden 2012, S. 403–504, sowie das Sonderheft zu ›Intersektionalität‹ von: Erwägen Wissen Ethik. Forum für Erwägungskultur, Jg. 24, 2013, H. 3. ZkT 56 – 57/2023 Kritische Theorie und feministisches Urteilen heute 207 beobachten. Dies hat einschneidende Auswirkungen auf die Analyse und Kritik von Herrschaft und Diskriminierung. Wie Christine Achinger beobachtet, »geht es vielen intersektionalen Ansätzen nicht in erster Linie um die Frage nach den Verbindungen zwischen verschiedenen Formen von Feinderklärung und Diskriminierung am Ort ihrer Entstehung, einer spezifischen Gesellschaft zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt, sondern um ihre Beziehung gewissermaßen am Ort des Einschlags, in ihren Auswirkungen auf Individuen, die von mehreren solchen Zuschreibungen betroffen sind.«14 Ein eingeschränkter Fokus auf den Ort des Einschlags von Herrschaft in Form von (Mehrfach-)Diskriminierung begünstigt geradewegs Hierarchien von Viktimisierung und führt derart zu einer Verengung von Herrschaftskritik auf eine Kritik von Privilegien. Im identitätspolitischen Zugang ist ein »Überschuss an Subjektivismus«15 gelegen, demgegenüber die Kritik an objektiven und strukturellen Bedingungen, unter denen Diskriminierung stattfindet, in den Hintergrund tritt. Dem strukturanalytischen, an den objektiven gesellschaftlichen Formationen orientierten Zugang zu Intersektionalität mag wiederum ein weitgehendes Ausblenden subjektiver Faktoren vorgeworfen werden, was den Eindruck entstehen lässt, Gesellschaft würde sich selbsttätig, autopoietisch, reproduzieren. Um sowohl dem Überschuss an Subjektivismus als auch einer subjektlosen Sozialwissenschaft entgegenzuarbeiten, braucht es einen dialectical turn, der die Verstrickung von Subjektivem und Objektivem in intersektionaler Erkenntnis fruchtbar machen kann. Während der Ausgangspunkt kritischer Theorie bei der Trauer und beim Leid liegt, ist ihr Fluchtpunkt Emanzipation, Glück und Freiheit – aus der Perspektive marginalisierter und repressiv unter das Allgemeine subsumierter Andersheit. Das gilt auch für intersektional-feministische Zugänge, die jener Totalität gewahr werden, in welche alle Erscheinungsformen von Alterität verstrickt sind. Auch hier ist wieder konkrete Differenzierung notwendig, da nicht alle Formen von Alterität die Sehnsucht nach Freiheit in sich tragen. Häufig werden unter dem Denkmantel einer 14 Christine Achinger: Bilder von Geschlecht, Judentum und Nation als Konstellation. Intersektionalität und Kritische Theorie, in: Karin Stögner u. Alexandra Colligs (Hg.): Feminismus und Kritische Theorie, Berlin 2022, S. 75–96, S. 77. 15 Ulrike Marz: Perspektiven einer Kritischen Theorie des Rassismus, Habilitationsschrift, Universität Rostock, 2022, S. 335. 208 Karin Stögner (minoritären) Kultur Frauen als Subjekte zum Verschwinden gebracht, indem ihr Selbst nicht mehr von den Rollen unterschieden wird, die ihnen kulturell zugeschrieben werden. Das kann gegen feministisches Freiheitsund Emanzipationsbegehren mobilisiert werden. Darin zeigt sich die Dialektik des situierten Seins und Wissens und des Pluralismus – Speerspitzen feministischer Kritik an als Universelles missverstandener männlich-weißer Partikularität –, auf die Seyla Benhabib und Drucilla Cornell schon in den 1980er Jahren verwiesen haben: »Feministinnen gehen vom situierten Selbst aus, betrachten aber die Neuverhandlung unserer psychosexuellen Identitäten und ihre autonome Wiederherstellung durch die Individuen als wesentlich für die Befreiung der Frau und des Menschen. […] Die einfache Identifizierung des Subjekts mit seinen sozialen Rollen führt genau die Logik der Identität wieder ein, die Feministinnen in ihren Untersuchungen der psychosexuellen Konstitution von Geschlecht zu kritisieren sich bemüht haben.«16 Notwendig ist der Blickwinkel eines feministisch-dialektisch durchgebildeten Individualismus, der das Subjekt nicht als monadisch denkt, sondern als »Selbst im Kontext«17 ins Recht setzt. Dieser Kontext besteht nicht nur in Traditionen und Rollen, in die Frauen sozialisiert sind und die ihnen auch aufgepresst werden, sondern ebenso im Widerstand dagegen und im Kampf von Frauen für Selbstbestimmung. Solche feministische Dialektik verschließt trotz aller Undurchdringlichkeit der gesellschaftlichen Totalität dem kritischen Denken nicht jegliche Möglichkeit einer bestimmten Negation des Bestehenden und verstellt damit nicht jede Perspektive auf zukünftige Formen des Andersseins. Bezugspunkte bleiben deshalb Autonomie, Freiheit und Emanzipation, die sich sowohl gegen ihre instrumentelle Zurichtung im (neoliberalen) Verwertungsprozess des Kapitals, als auch gegen Kulturrelativismen wenden. Das führt zurück zu konkreter Herrschaftskritik, die sich von partikularistischer Herrschaftskritik darin unterscheidet, dass sie die abstrakte Bedeutungslosigkeit zweifach durchbricht: Sie nimmt den Weg durch das Besondere, setzt bei diesem und nicht bei abstrakten Oberbegriffen an; sie bleibt dabei aber nicht partikularistisch stehen, sondern macht das Mo- 16 Seyla Benhabib u. Drucilla Cornell: Introduction. Beyond the Politics of Gender, in: dies. (Hg): Feminism as Critique, S. 1–15, S. 13 (Übersetzung K. S.). 17 Seyla Benhabib: Selbst im Kontext. Kommunikative Ethik im Spannungsfeld von Feminismus, Kommunitarismus und Postmoderne, Frankfurt am Main 1995. ZkT 56 – 57/2023 Kritische Theorie und feministisches Urteilen heute 209 ment des Allgemeinen im Besonderen aus. Erst diese Doppelbewegung, die den Einzelbefund in größere Zusammenhänge einbettet, macht sie zur konkreten Kritik. Demgegenüber bleibt eine partikulare Herrschaftskritik abstrakt, weil sie das Besondere unverbunden lässt und über den unmittelbaren, isolierten Befund hinaus keine Aussage erlaubt. Von Konkretheit hängt auch die Möglichkeit eines feministischen Urteils ab. Denn die Fähigkeit zum reflexiven Urteilen setzt die Anwesenheit und das Bewusstsein der anderen voraus.18 Somit ist die Tätigkeit des Urteilens subjektiv und trans-subjektiv zugleich und kann Egoismus und Isolation überwinden. Die Erosion feministischer Urteilskraft im Kulturrelativismus hängt auch mit einer identitätspolitischen Fragmentierung der Erfahrung in abstrakten Partikularismen zusammen, deren Übergang zu etwas Allgemeinerem häufig nicht mehr gefunden wird. Wie im Neoliberalismus, so auch im Postkolonialismus sehen die Subjekte sich zunehmend auf sich selbst zurückgeworfen. Über etwas anderes als die eigene unmittelbare Erfahrung zu urteilen, ist zunehmend verpönt. Da aber die Wahrnehmung und Erfahrung des Eigenen untrennbar mit dem Anderen verbunden ist, leidet unter solcher Isolation sowohl die Selbstreflexion als auch die Solidarität. Derzeit beobachten wir eine zunehmende autoritäre Zerstörung des öffentlichen Diskurses und eine Instrumentalisierung emanzipatorischer feministischer Konzepte für antiemanzipatorische Zwecke im rechten Lager ebenso wie Kulturrelativismen im linken Lager, in deren Zuge Autonomie, Subjektivität, Freiheit und Demokratie aufgrund ihrer Unzulänglichkeit und Verstricktheit in Herrschaftszusammenhänge nicht einer rettenden Kritik unterzogen, sondern so weit dekonstruiert werden, dass am Ende die Toleranz gegenüber allem, das von Nancy Fraser kritisierte »anything goes«19, steht. Wenn alles geht, geht am Ende nichts mehr und eine allgemeine Unentschiedenheit greift um sich. Dazu passt die zögerliche Haltung vieler westlicher Feministinnen gegenüber der jüngsten feministischen Revolte gegen das Mullah-Regime im Iran. Angesichts dieser Entwicklungen 18 Vgl. María do Mar Castro Varela: Uncanny Entanglements: Holocaust, Colonialism, and Enlightenment, in: Nikita Dhawan (Hg.): Decolonizing Enlightenment. Transnational Justice, Human Rights, and Democracy in the Postcolonial World, Opladen 2014, S. 115–135, S. 126. 19 Nancy Fraser: Falsche Gegensätze, in: Seyla Benhabib, Judith Butler, Drucilla Cornell u. Nancy Fraser: Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart, Frankfurt am Main 1993, S. 59–79, S. 75 (im Original kursiv). 210 Karin Stögner fragt die österreichische Autorin Solmaz Khorsand, ob es nicht an der Zeit ist, »sich endlich an den Gedanken zu gewöhnen, dass der Referenzrahmen für ›unsere Werte‹ nicht länger bei uns zu verorten ist, sondern überall dort, wo sich die Menschen ihrer Kostbarkeit tatsächlich bewusst sind«20, und meint konkret die iranischen Frauen und Männer, die für ihre Freiheit ihr Leben riskieren. Damit stellt sie das häufig als einseitig verstandene Verhältnis von dominanten westlichen Universalismen und marginalisierten nicht-westlichen Partikularismen vom Kopf auf die Füße – wie Toussaint de Louverture, Anführer der Revolution in Haiti 1804, der die Ideale der Aufklärung gegen die Sklavenhalter richtete, nicht indem er sie dekonstruierte oder relativierte, sondern in der getreuen Umsetzung ihrer Universalität.21 »Freiheit ist weder westlich noch östlich, sondern universell« – das war nicht zufällig das Motto massenweiser feministischer Proteste gegen die Einführung des Schleierzwangs im Iran 1979.22 Das Motto der heutigen feministischen Proteste im Iran – »Frau Leben Freiheit« – war schon jenes der kurdischen Kämpferinnen gegen den Islamischen Staat. Es stammt aus der Erfahrung des Todes und der Trauer und verweist auf die unmittelbare körperliche Dringlichkeit von Freiheit für Frauen in einer totalitären Männerherrschaft. Die feministischen Kämpferinnen gegen die islamistischen Terrorregime, sei es gegen den IS in Syrien und im Irak, gegen die Mullahs im Iran oder gegen die Taliban in Afghanistan, sind von eben diesen Regimen unmittelbar mit dem Tod bedroht. Die Kraft der feministischen Negation heute liegt bei ihnen. Das Abschneiden der Haare, das viele Frauen öffentlich vollziehen, ist zugleich ein Akt des Widerstandes und einer der Trauer.23 Als verkörperlichte Natur des Leidens wie des Widerstands stehen diese Frauen »am äußersten Gegenpol der Freiheit«, wo, folgt man der Dialektik der Aufklärung, »die Freiheit unwiderstehlich als die durchkreuzte 20 Iran und Wir. Autorin Solmaz Khorsand über iranische Lektionen, in: Der Standard, 1. Jänner 2023, online: https://www.derstandard.at/story/2000142176746/autorin-solmazkhorsand-ueber-iranische-lektionen (Abruf: 19.6.2023). 21 Vgl. Susan Buck-Morss: Hegel, Haiti, and Universal History, Pittsburgh 2009. 22 Vgl. den 1979 gedrehten und auch heute noch beeindruckenden Film der französischen feministischen »Gruppe Politik und Psychoanalyse«: Befreiungsbewegung der iranischen Frauen im Jahre Null, https://www.youtube.com/watch?v=-JHkEhvsLkE (Abruf: 19.6.2023). 23 Vgl. Gilda Sahebi: »Unser Schwert ist Liebe«. Die feministische Revolte im Iran, Frankfurt am Main 2023. ZkT 56 – 57/2023 Kritische Theorie und feministisches Urteilen heute 211 Bestimmung der Materie durch[scheint]«.24 Von solchem Freiheitsdrang aus fällt der Blick auf die westlichen demokratischen Gesellschaften, aber nicht um der Relativierung, sondern um der Solidarität willen. Gegen solchen Freiheitsdrang, heißt es in der Dialektik der Aufklärung weiter, »richtet sich die Idiosynkrasie, die der Antisemitismus als Motiv vorgibt.«25 Hier werden Ideologien in Konstellationen lesbar. Nicht zufällig sind die frauenfeindlichen und homophoben Ideologien des Islamismus, ebenso wie der Rechtsextremen und der Manosphere, auch antisemitisch. Dementsprechend verunglimpft das iranische Mullah-Regime die feministische Revolte als amerikanisch-zionistische Verschwörung gegen islamische Werte und beschuldigt die für Freiheit kämpfenden iranischen Frauen, westliche Islamophobie zu fördern. Um diesen ideologischen Verstrickungen auf den Grund zu gehen, ist eine intersektionale Ideologiekritik notwendig, die Ideologien als bewegliche Momente innerhalb eines breiteren Rahmens, dem autoritären ideologischen Syndrom, situiert. Sexismus, Homophobie und Antisemitismus sind zwar eigenständige Ideologien, aber sie teilen zentrale Charakteristika, wie den Hass auf Schwäche und Differenz und die Abwehr von Freiheit im Politischen wie im Sexuellen.26 Darauf hat schon Else Frenkel-Brunswik – eine zu Unrecht in der Rezeption weitgehend vergessene kritische Theoretikerin – in der Authoritarian Personality hingewiesen. Ihre empirischen Untersuchungen aus den 1940er Jahren belegten den engen Zusammenhang zwischen repressiven, strikt binären Sexualitätsregimen und autoritären Persönlichkeitsstrukturen.27 Sie zeichnete nach, wie der Hass auf Differenz mit einer generellen Tendenz, in strikten Zweiteilungen zu denken, verknüpft ist. Das zeigt sich in manichäischen Weltbildern, die häufig mit antisemitischen Verschwörungsmythen einhergehen, im Allgemeinen wie auch im Besonderen darin, dass Frauen in »gute« und »schlechte« eingeteilt werden. Solche Zweiteilung kann als Kompromiss gedeutet werden: Selbst wenn Sexismus und Antifeminismus 24 Theodor W. Adorno und Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, in: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 3, Frankfurt am Main 1981, S. 208. 25 Ebd. 26 Vgl. Karin Stögner: Antisemitismus und Sexismus. Historisch-gesellschaftliche Konstellationen, Baden-Baden 2014. 27 Vgl. Theodor W. Adorno, Else Frenkel-Brunswik et al.: The Authoritarian Personality, London und New York 2019. 212 Karin Stögner im Islamismus extrem ausgeprägt sind, ist den Proponenten der Ideologie doch bewusst, dass es eine reine Männerwelt nicht geben kann. Zum Abschuss werden die abweichenden Frauen freigegeben: Frauen, die – real oder imaginiert – dem vorgegebenen Geschlechtscharakter nicht entsprechen, sich gegen den Schleierzwang auflehnen, Feministinnen und Prosituierte, lesbische Frauen, Transfrauen, rassistisch marginalisierte Frauen und Jüdinnen. Nicht nur werden die »schlechten« Frauen abgewertet, sondern die »guten«, frommen werden im Gegenzug auch nicht geliebt, da der autoritäre Charakter durch eine tiefe Unfähigkeit zu Liebe und Hingabe geprägt ist. Das ist schon in der islamistischen Ideologie begründet: Sie bietet vielen die Möglichkeit, die Spannung zwischen Autonomie und Abhängigkeit auf repressive Weise aufzulösen, indem man Unabhängigkeit und Individualität gar nicht mehr behauptet und gleichzeitig alles Abhängige und Schwache mit Füßen tritt. Zur analytischen Durchdringung dieser Form des Autoritarismus ist wieder die Wendung zum Subjekt und seinen gesellschaftlich induzierten Leiden und Nöten angezeigt. Die Einsamkeit der autoritären Persönlichkeit rührt heute nach wie vor von einer abstrakten Vorstellung von Autonomie her, die jede Form von Abhängigkeit und Schwäche abwehrt, was dazu führt, dass zwischenmenschliche Beziehungen nicht emotional erfahren werden. Tabuisiert ist Zwischenmenschlichkeit, in der man schwach und verletzlich ist – sie gilt als weibisch. Vergessen soll dabei werden die conditio humana der Interdependenz, denn wie feministische Kritik herausgearbeitet hat, war jedes autonome Subjekt einmal schwach und abhängig und konnte nur durch die fürsorgliche Zuwendung anderer überleben.28 Dass Autonomie als abstrakte Unabhängigkeit und so völlig losgelöst von Interdependenz gedacht wird, hängt wiederum mit den gesellschaftlichen Geschlechterverhältnissen mit entsprechender geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung zusammen, die sich auch psychisch niederschlägt, wie Else Frenkel-Brunswik in der Authoritarian Personality analysiert hat. Einsamkeit und Isolation sind den heute vorherrschenden Vorstellungen von Autonomie und Individualismus inhärent. Dies lässt den Schluss zu, dass der heute überall geforderte Individualismus selbst etwas Autoritäres 28 Vgl. etwa Christel Eckart: Fürsorgliche Konflikte. Erfahrungen des Sorgens und die Zumutungen der Selbständigkeit, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie, Jg. 29, 2004, H. 2, S. 24–40. ZkT 56 – 57/2023 Kritische Theorie und feministisches Urteilen heute 213 hat, jedenfalls repressive Kollektivismen begünstigt, wie an Islamismus und Incels deutlich wird: beides Rebellionen gegen den abstrakten Individualismus, der die Mitglieder einer Gesellschaft vereinzelt. Die Incels rebellieren dagegen, indem sie noch den letzten Funken von Zwischenmenschlichkeit zerstören und den abstrakten Individualismus so übersteigern, dass er in absolute Isolation kippt. Möchte man sie als Kollektiv bezeichnen, dann nur als eines der zwanghaft Solitären. Im Gegensatz dazu ertränken Islamist:innen jeden Individualismus im rohen Kollektivismus der angedrehten Religionsgemeinschaft. Das Moment des Angedrehten hat Adorno schon in den 1960er Jahren in Bezug auf den Nationalismus erwähnt – dass die völkischen Nationalist:innen nicht mehr an die Kraft der Nation glauben und deshalb die Idee der Nation so sehr übertreiben, sie (sich selbst und anderen) andrehen, um ihr überhaupt folgen zu können.29 Ähnlich verhält es sich mit religiösen Fundamentalist:innen, die im Grunde nicht mehr an das glauben, woran sie zu glauben vorgeben und sich und andere deshalb ständig ihres Glaubens versichern müssen. Die binäre Geschlechterungleichheit und die repressiven Sexualitätsregime nehmen in diesem Prozess des Andrehens eine zentrale Bedeutung an: Je mehr die gesellschaftlichen Verhältnisse über diese rohe Ungleichheit objektiv hinausgewachsen sind und je weniger die Menschen an ihre Gültigkeit glauben, umso heftiger werden sie in autoritären Ideologien jeglicher Couleur angedreht, um die ersehnte, jedoch real nicht gegebene Einheit der Identität, der Nation oder der Religion zu bekräftigen. Vor dem Hintergrund des hier Skizzierten sehe ich das vordringliche Desiderat kritischer Theorie heute in einer feministisch-kritischen Aktualisierung der Konzepte über den Autoritarismus, unterfüttert durch eine intersektionale Ideologiekritik. Es ist dringend notwendig, Überschneidungen und gegenseitige Durchdringungen von Hass- und Ausgrenzungsideologien als zentrale Bestandteile moderner Herrschaftsstrategien systematisch in den Blick zu nehmen, um den aktuellen Trend der Fragmentierung, Entsolidarisierung und des repressiven Partikularismus entgegenzuwirken. Darin unterscheidet sich eine intersektionale Ideologiekritik deutlich vom heute gängigen Verständnis von Intersektionalität, sofern 29 Vgl. Theodor W. Adorno: Aspekte des neuen Rechtsradikalismus, Frankfurt am Main 2019, S. 14. 214 Karin Stögner dieses zuvorderst auf die Anerkennung von festgefügten kulturellen und religiösen Identitäten abstellt und in der Konsequenz zu selektiver Empathie und restriktiver Identitätspolitik führt. Intersektionale Ideologiekritik vollzieht die Wendung zu den Subjekten und fragt nach den gesellschaftlichen Gründen, die sie dazu bringen, Hass- und Diskriminierungsideologien zu folgen. Dabei geht sie davon aus, dass Subjekte durch ihre Verstrickung in unterschiedliche Dimensionen von Herrschaft grundsätzlich ambivalent sind und sich bestenfalls dessen bewusst werden können. Das wäre im Sinn einer Stärkung reflektierter Individualität, die Andersheit und Differenz in sich aufnimmt und die Voraussetzung für Solidarität ist, in der die Trauer um unerfüllte Hoffnung auf Freiheit aufgehoben ist. Das setzt voraus, dass Trauer, Verletzlichkeit und Leid, an denen kritische Theorie ansetzt, nicht abstrakt universalisiert und als anthropologische Konstante gesetzt werden, die letztlich alle gleichermaßen betreffen würde. Vielmehr geht es um die Kritik des Leids an konkreten Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnissen, die intersektional und vielschichtig sind. Solche Kritik erkennt, dass Kultur und Religion Referenzrahmen von Identität sind und darin immer auch gleichzeitig eine Grundlage von Herrschaft. Erst in Anerkennung solcher Ambivalenz kann das Partikulare zu seinem Recht kommen und im Namen des Universellen mobilisiert werden.30 Zudem sehe ich in der gegenwärtigen feministischen kritischen Theorie und Praxis ein Desiderat, reflektierende Urteilsfähigkeit zu entfalten und den Mut zu haben, sich selbst und andere zu kritisieren. Denn zur Urteilsfähigkeit gehört die Aufmerksamkeit und das Interesse für die anderen, für ihre Besonderheit, ihr Leiden, ihre Sorgen, aber auch ihre Hoffnungen und Emanzipationsbestrebungen. Der kritische feministische Fokus kann sich nicht auf die Selbstreflexion beschränken, denn das zu reflektierende und zu kritisierende Selbst setzt die lebendige Wahrnehmung der anderen voraus. Es bleibt die Frage, wie ein feministisches politisches Urteilen möglich ist, das den Fallstricken von kulturellem Relativismus einerseits und repressivem Universalismus andererseits entgeht. Der gängige Einwand gegen ein feministisches politisches Urteil über eine andere Kultur 30 Vgl. Seyla Benhabib u. Karin Stögner: »Das Partikulare im Namen des Universellen mobilisieren« – Ein Interview mit Seyla Benhabib zu den Grundlagen einer feministischen Kritischen Theorie, in: Karin Stögner u. Alexandra Colligs (Hg.): Kritische Theorie und Feminismus, Berlin 2022, S. 61–74. ZkT 56 – 57/2023 Kritische Theorie und feministisches Urteilen heute 215 als die eigene lautet, dass westliche Feministinnen sich anmaßen würden, nicht-westliche Kulturen anhand westlicher Konzepte zu beurteilen, also die fremde Partikularität unter ein als Universelles missverstandenes Eigenes zu zwängen. Dieser Einwand macht sich insbesondere an Konzepten der Aufklärung wie Autonomie, Freiheit und Individualität fest. Dem ist entgegenzuhalten, dass auch wenn diese Begriffe ihren Ursprung in der westlichen bürgerlich-partriarchalisch-kapitalistischen Ordnung haben, sie ihr Gesicht und ihren Inhalt verändern, wenn sie durch eine feministische immanente Kritik, eine feministische bestimmte Negation hindurchgehen: Autonomie in einem kritisch-feministischen Sinn, der intersektionale Verwerfungen berücksichtigt, sieht das Subjekt im Kontext und bedeutet so etwas anderes als im bürgerlich-kapitalistischen Sinn, und dasselbe gilt für Freiheit. Feminismus ist also zuallererst eine widerständige Haltung, Praxis und Theorie gegen männliche Herrschaft. Auch hier steht die Wendung zum widerständigen Subjekt am Anfang der Erkenntnis. Begriffe im Sinne der kritischen Theorie als beweglich zu denken, hilft, kulturelle Barrieren zu überwinden und ermöglicht kulturübergreifende Urteile. Immanente Kritik sucht den Maßstab der Kritik im Kritisierten selbst, spürt also widerständige Momente in der zu kritisierenden Gesellschaft oder Kultur auf, statt den Maßstab und die Norm der Kritik von außen anzulegen. Diese Methode kann für eine Kritik von Herrschaft in einer anderen Kultur als der eigenen angewendet werden. Feministinnen aus dem Globalen Süden fordern, dass feministische Kritik auf lokalen Ideen basiert, die manchmal den Werten westlicher Feministinnen widersprechen.31 Aber diese lokalen Ideen sind selbst nicht homogen, sondern enthalten Momente des Widerstands gegen lokale Traditionen der patriarchalen Herrschaft und Unterdrückung, die durch immanente Kritik sichtbar gemacht werden können. Kulturen und Gesellschaften sind in der Regel nicht nur durch Herrschaft, sondern auch durch Widerstand dagegen charakterisiert. Das gilt nicht nur für westliche Gesellschaften, sondern auch für die des globalen Südens. Und genau wie im Westen kann der Widerstand gegen Unterdrückung und Herrschaft im Globalen Süden zu neuen Formen von Herrschaft und Unterdrückung, aber auch zu mehr Freiheit führen. Dies ist in keinem Fall vorherbestimmt; die Dialektik des 31 Vgl. Linda Zerilli: Toward a Feminist Theory of Judgment, in: Signs, Jg. 34, Winter 2009, H. 2, S. 295–317. 216 Karin Stögner historischen Prozesses ist universell. So ist die Kultur im Iran nicht nur die der Mullahs, sondern auch die der Frauen und Männer, die gegen sie rebellieren und für Freiheit kämpfen. Kultur ist kein homogenes Gebilde, das immer nur und ausschließlich von den Machthabern bestimmt wird. Ein feministisches politisches Urteil konzentriert sich daher auf die widerständigen Momente und auf die Widersprüche in der Kultur, nicht auf Kultur an sich. Im Zentrum stehen die Menschen, die in den Kulturen leben, die in ihnen leiden und kämpfen und sie auch widerständig gestalten. Solcherart kann eine unterirdische Geschichte von Kulturen aufgedeckt werden. Mit der kritischen Theorie setzt kulturübergreifende Urteilskraft am Leiden an Herrschaft und Unterdrückung an und deckt Spuren des Widerstands auf. In einer immanenten Kritik von Herrschaft und Unterdrückung innerhalb der jeweiligen Kultur kann sich eine reflektierende feministische Urteilskraft entfalten, die nicht wie die bestimmende das Partikulare unter ein bereits bekanntes Allgemeines subsumiert.32 Ein reflektierendes feministisches Urteil ist ein Akt der Unterscheidung und Differenzierung innerhalb der kritisierten Kultur, der eigenen wie der anderen. Das Universelle ist nicht a priori festgelegt, sondern entsteht im Prozess des kritischen Urteils und kann auch auf das Eigene zurückbezogen werden. Feministisches Urteilen beginnt also mit der Frage, wo die Kraft des praktischen Widerstands gegen und der theoretischen Negation von patriarchaler Herrschaft zu finden ist. 32 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Frankfurt am Main 1974, S. 87. ZkT 56 – 57/2023 Autorinnen und Autoren 305 Till Seidemann, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie an der Technischen Universität Darmstadt. Arbeitsschwerpunkte: Erkenntnistheorie, Sozialphilosophie, Kritische Theorie, Phänomenologie, Neukantianismus. Kontakt: till.seidemann@gmail.com Karin Stögner, Professorin für Soziologie an der Universität Passau. Arbeitsschwerpunkte: Intersektionalität, Antisemitismus- und Rassismusforschung, Geschlechterforschung, feministische Theorie, kritische Theorie. Kontakt: karin.stoegner@uni-passau.de Christian Thein, Professor für Philosophie am Philosophischen Seminar der Universität Münster. Arbeitsschwerpunkte: Sozial- und Bildungsphilosophie, Kritische Theorie, Philosophiegeschichte der Neuzeit und Moderne. Kontakt: thein@uni-muenster.de Sebastian Tränkle, Wissenschaftlicher Mitarbeiter (Postdoc) am Institut für Philosophie/Exzellenzcluster »Temporal Communities« an der Freien Universität Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Ästhetik, Negative Anthropologie, Sprachphilosophie und Rhetorik. Kontakt: s.traenkle@fu-berlin.de Christoph Türcke, Professor für Philosophie an der HGB Leipzig, i. R. Arbeitsschwerpunkte: Religionsphilosophie, Psychoanalyse, Kritische Theorie. Kontakt: ctuercke@hgb-leipzig.de Christian Voller, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kultur und Ästhetik digitaler Medien (ICAM) der Leuphana Universität Lüneburg. Arbeitsschwerpunkte: Technik- und Medientheorie, Geschichte und Theorie des westlichen Marxismus, Transformationen der Deutschen Ideologie insbes. in der Nachkriegszeit und der ›Postmoderne‹. Kontakt: c.voller@gmx.net