Zeitschrift
für kritische Theorie
Heft 56 – 57/2023
herausgegeben von
Sven Kramer und Dirk Stederoth
in Verbindung mit
Gerhard Schweppenhäuser
zu Klampen
202
Karin Stögner
DEBATTE
Karin Stögner
Kritische Theorie und feministisches Urteilen heute
Kritische Theorie tröstet nicht, und doch setzt sie an der Trauer an, im Kleinen wie im Großen – Trauer über den Tod geliebter Menschen ebenso wie
Trauer um verlorene Freiheit und um verpasste Möglichkeiten der Emanzipation. Diese Formen von Trauer sind universell. Deshalb stellt kritische
Theorie das Subjekt ins Zentrum, an dessen Erfahrung des Leids, der Endlichkeit und des Schmerzes die kritische Reflexions- und Denkbewegung
ihren Ausgang nimmt. Das leidende Subjekt bekommt den ganzen Raum,
den es zum Ausdruck seines Schmerzes braucht, ohne dass der Schmerz,
die Trauer und die Untröstlichkeit begrifflich zurückgenommen würden.
Kritische Theorie hebt am alltäglichen Erleben von Leid und Zorn an und
fragt, wo die Verbindungen liegen, die Gemeinsamkeit in den subjektiven
Erfahrungen, durch welche die Vereinzelung Lügen gestraft wird und die
zum Ausgangspunkt von Solidarität werden kann. Trauer ist eine Praxis der
Verbundenheit, in der sich Protest und Widerstand äußern können. Das
wurde in der jüngsten feministischen Revolte im Iran deutlich, die nach
dem gewaltsamen Tod Jina Mahsa Aminis durch iranische Repressionsorgane entbrannte.
Das Subjekt als Resultante gesellschaftlicher und intersubjektiver Prozesse ist in ein Netz von Narrationen und Ideologien eingebettet. Es ist
charakterisiert durch handelnde Vermittlung mit Gesellschaftlichem, nicht
durch unwissbare, willkürliche Geworfenheit. Deshalb bleibt kritische
Theorie beim unmittelbar subjektiven Empfinden nicht stehen, sondern
sucht nach dem Ausdruck einer allgemeineren Erfahrung, die einer bestimmten gesellschaftlich-historischen Situation geschuldet ist. Sie ringt
um bewegliche Begriffe, die alle brauchen, um ihr eigenes Leid für sich und
andere überhaupt erfahrbar zu machen. So wie die Erkenntnis des subjektiven Leids einen allgemeinen Begriff braucht, der über das unmittelbar
Subjektive hinausgeht, braucht das Objektive umgekehrt das Subjekt, um
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überhaupt Ausdruck zu finden. Das Objekt ist nicht einfach als solches
erfahrbar, sondern erscheint im Subjekt. Deshalb ist der in der kritischen
Theorie so prominente Primat des Objekts1 ebenso prominent mit der
Wendung zum Subjekt vermittelt.
Wird jedoch aus dem subjektiven Leiden ein abstrakter Begriff von
Vulnerabilität als anthropologische Konstante geschmiedet, dann besteht
die Gefahr des Relativismus – das Leiden der Herrschenden wird gleich
gültig mit dem der Beherrschten. Deshalb ist die Einbettung sowohl des
Leids als auch der Erfahrung damit in die konkrete Herrschaftsgeschichte
notwendig.2 Zudem strebt der subjektive Ausdruck des Leidens an Herrschaft und Ausbeutung nicht immer emanzipatorisch nach Freiheit, sondern stärkt ebenso oft im Sinn einer autoritären Rebellion die das Glück
und die Freiheit versagenden gesellschaftlichen Institutionen. Solidarität
ist nicht immer umfassend, sondern viel öfter exklusiv auf das vorgeblich
Eigene gerichtet, was sich in exkludierenden Hassideologien manifestiert,
unter denen Antisemitismus, Rassismus, Sexismus, Homophobie und völkische Formen des Nationalismus am markantesten hervortreten. Auch
hier ist die Wendung zu autoritären Subjekten angezeigt, um die Trauer um
vergebene Möglichkeiten und die Sehnsucht nach Freiheit, aber auch Gemeinsamkeit als sozialpsychologische Motivation selbst noch in Hassideologien auszugraben. Die Bewusstseins- und Ideologieschichten, die dabei
zu durchgraben sind, um einen Ausdruck Walter Benjamins zu verwenden,
geben Auskunft über die autoritären Strukturen der Gesellschaft, in die
das Subjekt sozialisiert ist. Die wahnhaft verzerrte Wahrnehmung des autoritären Subjekts enthält noch die verschüttete Erfahrung von Trauer und
Sehnsucht nach dem besseren Leben. Sie gilt es freizulegen und gegen die
Hassideologien zu wenden.
Das macht Ideologiekritik zu einem relevanten Teil kritischer Theorie
heute, wie Asger Sørensen in seinem Debattenbeitrag festhält.3 Die Frage
ist, welche Ideologiekritik und wie sie ausgerichtet sein soll, um heutige
1 Vgl. Theodor W. Adorno: Zu Subjekt und Objekt, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 10.2,
hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1997, S. 741–758.
2 Vgl. Estelle Ferrarese: Vulnerability and Critical Theory, Leiden u. Boston 2018.
3 Vgl. Asger Sørensen: Ohne Kapitalismuskritik keine Sozialdemokratie. Über kritische
Theorie, Ideologiekritik und die Notwendigkeit von Kritik, in: Zeitschrift für kritische
Theorie, Heft 54 – 55, 2022, S. 245–257.
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globale Herrschaftsverhältnisse in den Blick zu bekommen, eine Forderung, die Martin Saar in seinem Beitrag zu Recht stellt.4 Herrschafts- und
Ideologiekritik sind miteinander vermittelt, aber wir brauchen sie beide als
konkrete Kritik an konkreten Verhältnissen.
Solche Konkretisierung findet sich in der feministischen Kritik an objektivistischen Begriffstraditionen. Kritisiert wird hierbei ein Subjektbegriff, der
immer schon und unausgesprochen eine bestimmte Partikularität als Norm
setzt und somit zum vorgeblich Universellen macht.5 Herrschaftstraditionen
und ihre gesellschaftlichen Ein- und Ausschlüsse bilden sich darin ab. Deshalb ist, anknüpfend an Sonja Buckels und Ruth Sondereggers Debattenbeitrag Kritische Theorie ist Sorgearbeit6, Herrschaftskritik ein Kern nicht nur der
kritischen Theorie der Gesellschaft, sondern auch der feministischen. Beide
zeigen große Affinitäten, die eine entwickelt sich aus der anderen, ohne aber
in eins zu fallen. Den Zusammenhang und die vielschichtigen Vermittlungen zu feministischer Theorie und Praxis zu erforschen, gehört aus meiner
Sicht zu den dringendsten Desideraten einer aktuellen kritischen Theorie.7
Zu den zahlreichen Momenten, an denen feministische Kritik produktiv
anschließen kann, zählt nicht zuletzt die Methode eines interdisziplinären
Materialismus, die heute, nach Jahrzehnten des Dekonstruktivismus, in der
feministischen Theoriebildung wieder an Strahlkraft gewinnt.8 Ich verstehe
die aktuelle Hinwendung zum interdisziplinären Materialismus als Ausdruck
eines Bedürfnisses nach feministischer Herrschaftskritik, die keinen partikularistischen Rahmen setzt, innerhalb dessen die Kategorien race, gender
und class gegeneinander ausgespielt und hierarchisiert werden. Gefordert
ist vielmehr eine kritische Reflexion der dialektischen Konstellationen, die
4 Vgl. Martin Saar: Theorie und Kritik, heute, in: Zeitschrift für kritische Theorie, Heft
52 – 53, 2021, S. 183–192.
5 Vgl. z. B. Iris Marion Young: Impartiality and the Civic Public. Some Implications of Feminist Critiques of Moral and Political Theory, in: Seyla Benhabib u. Drucilla Cornell (Hg.):
Feminism as Critique. On the Politics of Gender, Minneapolis 1987, S. 56–76.
6 Vgl. Sonja Buckel u. Ruth Sonderegger: Kritische Theorie ist Sorgearbeit, in: Zeitschrift für
kritische Theorie, Heft 54 – 55, 2022, S. 229–244.
7 Siehe dazu z. B. Karin Stögner u. Alexandra Colligs (Hg.): Kritische Theorie und Feminismus, Berlin 2022.
8 Vgl. etwa Koschka Linkerhand (Hg.): Feministisch streiten. Texte zu Vernunft und Leidenschaft unter Frauen, Berlin 2018; Eva von Redecker: Revolution für das Leben, Frankfurt am
Main 2020; Veronica Gago: Feminist International: How to Change Everything, London 2020.
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sich aus der vielschichtigen Verstricktheit von Subjekten in konkrete Herrschaftszusammenhänge ergeben. Das Ziel dieses Debattenbeitrags zur Aktualität kritischer Theorie ist, ausgehend von einer Reflexion auf konkrete
Herrschaftsverhältnisse und deren Kritik eine kulturübergreifende feministische Urteilskraft zu skizzieren, die sich sowohl dem Kulturrelativismus als
auch dem repressiven Universalismus zu widersetzen vermag.
Ein konkreter feministischer Begriff von Herrschaft geht nicht in
Machtdiskursen auf, sondern setzt an der geschichtlich materialen Basis
von Herrschaft an – dem Kapitalverhältnis – und hebt gleichzeitig die Besonderheit von Geschlechterherrschaft hervor, in der das (eingebildete)
Eigentum an Leib und Leben anderer die vermittelten Formen moderner
Herrschaft durchdringt. Eva von Redecker hat mit dem Begriff des Phantombesitzes9 die Geschlechterherrschaft in westlich demokratischen Gesellschaften charakterisiert, in denen das Patriarchat nach wie vor in vielen
Segmenten der Gesellschaft fortwirkt, mit gravierenden Folgen, die von
Femiziden und häuslicher Gewalt bis hin zu Gender Pay Gap und gläserner Decke reichen. Diese Strukturen sind Teil einer patriarchalen Tradition,
die sich ungleichzeitig gegen das gesetzliche Regelwerk vieler westlicher
Demokratien erhält. Demgegenüber sind massive Geschlechterungleichheiten bis hin zu Geschlechterapartheid fester Bestandteil des gesetzlichen
Rahmens etwa in Afghanistan, Iran oder Saudi-Arabien. In afrikanischen
Failed States wiederum wirkt gesetzliche Institutionalisierung mitunter so
schwach, dass das Leben von archaisch-patriarchalen Strukturen der Clans
und Tribes bestimmt wird. Ohne solche konkreten Blickrichtungen, die auf
die globalen Ungleichzeitigkeiten in der Entwicklung der Rechte von Frauen und LGBTIQ+ fokussieren, die auch da, wo sie einmal erkämpft sind,
wieder in Gefahr stehen, zurückgenommen zu werden (wie die neuerdings
in manchen US-Bundesstaaten eingeführten Abtreibungsverbote belegen),
können weder die jeweiligen geschlechtsspezifischen Gewaltverhältnisse
erklärt noch erkannt werden, wie allgemein Herrschaftsverhältnisse auf
ungleichen Geschlechterverhältnissen aufruhen.
Wenngleich alle ungleichen Geschlechterverhältnisse Unrecht sind und
auf den Müll gehören, so ist hier doch »Mülltrennung«10 notwendig, damit
9 Vgl. Eva von Redecker: Ownership’s Shadow. Neoauthoritarianism as Defense of Phantom
Possession, in: Critical Times, Jg. 3, H. 1, April 2020, S. 33–67.
10 Gerhard Scheit: Mülltrennung. Beiträge zu Politik, Literatur und Musik, Hamburg 1998.
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nicht die gläserne Decke in demokratischen Gesellschaften mit der brutalen Geschlechterapartheid der Taliban oder der iranischen Mullahs gleichgesetzt wird. Die Dialektik von Gleichheit und Differenz, die Adorno in
den Minima Moralia auffaltet,11 gilt auch hier, um einen falschen Begriff
von Gleichheit zu vermeiden. Die für solche kategorische Mülltrennung
notwendige Urteilsfähigkeit ist an ein feministisches Subjekt gebunden,
das im Prozess der emanzipatorischen Kritik stets neu entsteht. Kritische
Theorie heute braucht die Kritik konkreter Geschlechterherrschaft und einen systematischen Fokus auf die Wucht, die den Geschlechterverhältnissen nach wie vor zukommt, auch in Verbindung mit anderen Achsen gesellschaftlicher Ungleichheit. Zu nennen sind hier zentral die markant hervortretenden Geschlechterideologien in islamistischen Herrschaftspraktiken,
aber auch in rechtsradikalen und christlich-fundamentalistischen Kreisen
oder in der Online Counter Culture der Manosphere. Diese sich verschärfenden Formen der Geschlechterungleichheit sind in einem feministischkritischen Urteil nicht von den größeren geopolitischen Entwicklungen zu
isolieren, sondern im Zusammenhang mit einer fortschreitenden Erosion
von Vernunft, Individualität und Freiheit zu situieren.
Im Zusammenhang damit lässt sich als Desiderat kritischer Theorie
heute der Komplex intersektionaler Theoriebildung nennen. Intersektionalität soll dabei nicht als identitätspolitische Spielmarke verstanden werden,
sondern, im Sinn einer Intersektionalität von Ideologien,12 einen kritischen
Nachvollzug der Multidimensionalität gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse in einer Totalität leisten, die wesentlich als Prozess zu verstehen
ist, der die subjektive und strukturelle Ebene vermittelt.13 Spätestens seit
den 2000er Jahren ist im intersektionalen Paradigma ein Schwenk von
einer strukturanalytischen hin zu einer identitätspolitischen Perspektive zu
11 Vgl. Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben,
Frankfurt am Main 1997, S. 66–67.
12 Vgl. Karin Stögner: Intersektionalität von Ideologien – Antisemitismus, Sexismus und das
Verhältnis von Gesellschaft und Natur, in: Psychologie & Gesellschaftskritik, Jg. 41, 2017, H.
2, S. 25–45; Karin Stögner: Intersektionalität zwischen Ideologie und Kritik, in: Heiko Beyer
u. Alexandra Schauer (Hg.): Die Rückkehr der Ideologie. Zur Gegenwart eines Schlüsselbegriffs, Frankfurt am Main 2021, S. 431–466.
13 Vgl. die erhellenden Aufsätze zu Intersektionalität in Gudrun-Axeli Knapp: Im Widerstreit.
Feministische Theorie in Bewegung, Wiesbaden 2012, S. 403–504, sowie das Sonderheft zu ›Intersektionalität‹ von: Erwägen Wissen Ethik. Forum für Erwägungskultur, Jg. 24, 2013, H. 3.
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beobachten. Dies hat einschneidende Auswirkungen auf die Analyse und
Kritik von Herrschaft und Diskriminierung. Wie Christine Achinger beobachtet, »geht es vielen intersektionalen Ansätzen nicht in erster Linie
um die Frage nach den Verbindungen zwischen verschiedenen Formen von
Feinderklärung und Diskriminierung am Ort ihrer Entstehung, einer spezifischen Gesellschaft zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt, sondern um ihre Beziehung gewissermaßen am Ort des Einschlags, in ihren
Auswirkungen auf Individuen, die von mehreren solchen Zuschreibungen
betroffen sind.«14 Ein eingeschränkter Fokus auf den Ort des Einschlags
von Herrschaft in Form von (Mehrfach-)Diskriminierung begünstigt geradewegs Hierarchien von Viktimisierung und führt derart zu einer Verengung von Herrschaftskritik auf eine Kritik von Privilegien. Im identitätspolitischen Zugang ist ein »Überschuss an Subjektivismus«15 gelegen,
demgegenüber die Kritik an objektiven und strukturellen Bedingungen,
unter denen Diskriminierung stattfindet, in den Hintergrund tritt. Dem
strukturanalytischen, an den objektiven gesellschaftlichen Formationen
orientierten Zugang zu Intersektionalität mag wiederum ein weitgehendes
Ausblenden subjektiver Faktoren vorgeworfen werden, was den Eindruck
entstehen lässt, Gesellschaft würde sich selbsttätig, autopoietisch, reproduzieren. Um sowohl dem Überschuss an Subjektivismus als auch einer
subjektlosen Sozialwissenschaft entgegenzuarbeiten, braucht es einen dialectical turn, der die Verstrickung von Subjektivem und Objektivem in intersektionaler Erkenntnis fruchtbar machen kann.
Während der Ausgangspunkt kritischer Theorie bei der Trauer und
beim Leid liegt, ist ihr Fluchtpunkt Emanzipation, Glück und Freiheit –
aus der Perspektive marginalisierter und repressiv unter das Allgemeine
subsumierter Andersheit. Das gilt auch für intersektional-feministische
Zugänge, die jener Totalität gewahr werden, in welche alle Erscheinungsformen von Alterität verstrickt sind. Auch hier ist wieder konkrete Differenzierung notwendig, da nicht alle Formen von Alterität die Sehnsucht
nach Freiheit in sich tragen. Häufig werden unter dem Denkmantel einer
14 Christine Achinger: Bilder von Geschlecht, Judentum und Nation als Konstellation.
Intersektionalität und Kritische Theorie, in: Karin Stögner u. Alexandra Colligs (Hg.): Feminismus und Kritische Theorie, Berlin 2022, S. 75–96, S. 77.
15 Ulrike Marz: Perspektiven einer Kritischen Theorie des Rassismus, Habilitationsschrift,
Universität Rostock, 2022, S. 335.
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(minoritären) Kultur Frauen als Subjekte zum Verschwinden gebracht, indem ihr Selbst nicht mehr von den Rollen unterschieden wird, die ihnen
kulturell zugeschrieben werden. Das kann gegen feministisches Freiheitsund Emanzipationsbegehren mobilisiert werden. Darin zeigt sich die Dialektik des situierten Seins und Wissens und des Pluralismus – Speerspitzen
feministischer Kritik an als Universelles missverstandener männlich-weißer Partikularität –, auf die Seyla Benhabib und Drucilla Cornell schon in
den 1980er Jahren verwiesen haben: »Feministinnen gehen vom situierten
Selbst aus, betrachten aber die Neuverhandlung unserer psychosexuellen
Identitäten und ihre autonome Wiederherstellung durch die Individuen als
wesentlich für die Befreiung der Frau und des Menschen. […] Die einfache Identifizierung des Subjekts mit seinen sozialen Rollen führt genau die
Logik der Identität wieder ein, die Feministinnen in ihren Untersuchungen
der psychosexuellen Konstitution von Geschlecht zu kritisieren sich bemüht haben.«16 Notwendig ist der Blickwinkel eines feministisch-dialektisch durchgebildeten Individualismus, der das Subjekt nicht als monadisch
denkt, sondern als »Selbst im Kontext«17 ins Recht setzt. Dieser Kontext
besteht nicht nur in Traditionen und Rollen, in die Frauen sozialisiert sind
und die ihnen auch aufgepresst werden, sondern ebenso im Widerstand dagegen und im Kampf von Frauen für Selbstbestimmung.
Solche feministische Dialektik verschließt trotz aller Undurchdringlichkeit der gesellschaftlichen Totalität dem kritischen Denken nicht jegliche Möglichkeit einer bestimmten Negation des Bestehenden und verstellt
damit nicht jede Perspektive auf zukünftige Formen des Andersseins. Bezugspunkte bleiben deshalb Autonomie, Freiheit und Emanzipation, die
sich sowohl gegen ihre instrumentelle Zurichtung im (neoliberalen) Verwertungsprozess des Kapitals, als auch gegen Kulturrelativismen wenden.
Das führt zurück zu konkreter Herrschaftskritik, die sich von partikularistischer Herrschaftskritik darin unterscheidet, dass sie die abstrakte
Bedeutungslosigkeit zweifach durchbricht: Sie nimmt den Weg durch das
Besondere, setzt bei diesem und nicht bei abstrakten Oberbegriffen an;
sie bleibt dabei aber nicht partikularistisch stehen, sondern macht das Mo-
16 Seyla Benhabib u. Drucilla Cornell: Introduction. Beyond the Politics of Gender, in: dies.
(Hg): Feminism as Critique, S. 1–15, S. 13 (Übersetzung K. S.).
17 Seyla Benhabib: Selbst im Kontext. Kommunikative Ethik im Spannungsfeld von Feminismus, Kommunitarismus und Postmoderne, Frankfurt am Main 1995.
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ment des Allgemeinen im Besonderen aus. Erst diese Doppelbewegung,
die den Einzelbefund in größere Zusammenhänge einbettet, macht sie zur
konkreten Kritik. Demgegenüber bleibt eine partikulare Herrschaftskritik
abstrakt, weil sie das Besondere unverbunden lässt und über den unmittelbaren, isolierten Befund hinaus keine Aussage erlaubt. Von Konkretheit
hängt auch die Möglichkeit eines feministischen Urteils ab. Denn die Fähigkeit zum reflexiven Urteilen setzt die Anwesenheit und das Bewusstsein
der anderen voraus.18 Somit ist die Tätigkeit des Urteilens subjektiv und
trans-subjektiv zugleich und kann Egoismus und Isolation überwinden.
Die Erosion feministischer Urteilskraft im Kulturrelativismus hängt auch
mit einer identitätspolitischen Fragmentierung der Erfahrung in abstrakten
Partikularismen zusammen, deren Übergang zu etwas Allgemeinerem häufig nicht mehr gefunden wird. Wie im Neoliberalismus, so auch im Postkolonialismus sehen die Subjekte sich zunehmend auf sich selbst zurückgeworfen. Über etwas anderes als die eigene unmittelbare Erfahrung zu
urteilen, ist zunehmend verpönt. Da aber die Wahrnehmung und Erfahrung
des Eigenen untrennbar mit dem Anderen verbunden ist, leidet unter solcher Isolation sowohl die Selbstreflexion als auch die Solidarität.
Derzeit beobachten wir eine zunehmende autoritäre Zerstörung des öffentlichen Diskurses und eine Instrumentalisierung emanzipatorischer feministischer Konzepte für antiemanzipatorische Zwecke im rechten Lager
ebenso wie Kulturrelativismen im linken Lager, in deren Zuge Autonomie,
Subjektivität, Freiheit und Demokratie aufgrund ihrer Unzulänglichkeit
und Verstricktheit in Herrschaftszusammenhänge nicht einer rettenden
Kritik unterzogen, sondern so weit dekonstruiert werden, dass am Ende
die Toleranz gegenüber allem, das von Nancy Fraser kritisierte »anything
goes«19, steht. Wenn alles geht, geht am Ende nichts mehr und eine allgemeine Unentschiedenheit greift um sich. Dazu passt die zögerliche Haltung
vieler westlicher Feministinnen gegenüber der jüngsten feministischen Revolte gegen das Mullah-Regime im Iran. Angesichts dieser Entwicklungen
18 Vgl. María do Mar Castro Varela: Uncanny Entanglements: Holocaust, Colonialism, and
Enlightenment, in: Nikita Dhawan (Hg.): Decolonizing Enlightenment. Transnational Justice, Human Rights, and Democracy in the Postcolonial World, Opladen 2014, S. 115–135,
S. 126.
19 Nancy Fraser: Falsche Gegensätze, in: Seyla Benhabib, Judith Butler, Drucilla Cornell
u. Nancy Fraser: Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart,
Frankfurt am Main 1993, S. 59–79, S. 75 (im Original kursiv).
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fragt die österreichische Autorin Solmaz Khorsand, ob es nicht an der Zeit
ist, »sich endlich an den Gedanken zu gewöhnen, dass der Referenzrahmen
für ›unsere Werte‹ nicht länger bei uns zu verorten ist, sondern überall dort,
wo sich die Menschen ihrer Kostbarkeit tatsächlich bewusst sind«20, und
meint konkret die iranischen Frauen und Männer, die für ihre Freiheit ihr
Leben riskieren. Damit stellt sie das häufig als einseitig verstandene Verhältnis von dominanten westlichen Universalismen und marginalisierten
nicht-westlichen Partikularismen vom Kopf auf die Füße – wie Toussaint de
Louverture, Anführer der Revolution in Haiti 1804, der die Ideale der Aufklärung gegen die Sklavenhalter richtete, nicht indem er sie dekonstruierte
oder relativierte, sondern in der getreuen Umsetzung ihrer Universalität.21
»Freiheit ist weder westlich noch östlich, sondern universell« – das war
nicht zufällig das Motto massenweiser feministischer Proteste gegen die
Einführung des Schleierzwangs im Iran 1979.22 Das Motto der heutigen
feministischen Proteste im Iran – »Frau Leben Freiheit« – war schon jenes
der kurdischen Kämpferinnen gegen den Islamischen Staat. Es stammt aus
der Erfahrung des Todes und der Trauer und verweist auf die unmittelbare
körperliche Dringlichkeit von Freiheit für Frauen in einer totalitären Männerherrschaft. Die feministischen Kämpferinnen gegen die islamistischen
Terrorregime, sei es gegen den IS in Syrien und im Irak, gegen die Mullahs
im Iran oder gegen die Taliban in Afghanistan, sind von eben diesen Regimen unmittelbar mit dem Tod bedroht. Die Kraft der feministischen Negation heute liegt bei ihnen. Das Abschneiden der Haare, das viele Frauen
öffentlich vollziehen, ist zugleich ein Akt des Widerstandes und einer der
Trauer.23 Als verkörperlichte Natur des Leidens wie des Widerstands stehen
diese Frauen »am äußersten Gegenpol der Freiheit«, wo, folgt man der Dialektik der Aufklärung, »die Freiheit unwiderstehlich als die durchkreuzte
20 Iran und Wir. Autorin Solmaz Khorsand über iranische Lektionen, in: Der Standard,
1. Jänner 2023, online: https://www.derstandard.at/story/2000142176746/autorin-solmazkhorsand-ueber-iranische-lektionen (Abruf: 19.6.2023).
21 Vgl. Susan Buck-Morss: Hegel, Haiti, and Universal History, Pittsburgh 2009.
22 Vgl. den 1979 gedrehten und auch heute noch beeindruckenden Film der französischen
feministischen »Gruppe Politik und Psychoanalyse«: Befreiungsbewegung der iranischen Frauen
im Jahre Null, https://www.youtube.com/watch?v=-JHkEhvsLkE (Abruf: 19.6.2023).
23 Vgl. Gilda Sahebi: »Unser Schwert ist Liebe«. Die feministische Revolte im Iran, Frankfurt
am Main 2023.
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Bestimmung der Materie durch[scheint]«.24 Von solchem Freiheitsdrang
aus fällt der Blick auf die westlichen demokratischen Gesellschaften, aber
nicht um der Relativierung, sondern um der Solidarität willen.
Gegen solchen Freiheitsdrang, heißt es in der Dialektik der Aufklärung
weiter, »richtet sich die Idiosynkrasie, die der Antisemitismus als Motiv
vorgibt.«25 Hier werden Ideologien in Konstellationen lesbar. Nicht zufällig sind die frauenfeindlichen und homophoben Ideologien des Islamismus,
ebenso wie der Rechtsextremen und der Manosphere, auch antisemitisch.
Dementsprechend verunglimpft das iranische Mullah-Regime die feministische Revolte als amerikanisch-zionistische Verschwörung gegen islamische Werte und beschuldigt die für Freiheit kämpfenden iranischen Frauen,
westliche Islamophobie zu fördern. Um diesen ideologischen Verstrickungen auf den Grund zu gehen, ist eine intersektionale Ideologiekritik notwendig, die Ideologien als bewegliche Momente innerhalb eines breiteren
Rahmens, dem autoritären ideologischen Syndrom, situiert. Sexismus,
Homophobie und Antisemitismus sind zwar eigenständige Ideologien,
aber sie teilen zentrale Charakteristika, wie den Hass auf Schwäche und
Differenz und die Abwehr von Freiheit im Politischen wie im Sexuellen.26
Darauf hat schon Else Frenkel-Brunswik – eine zu Unrecht in der Rezeption weitgehend vergessene kritische Theoretikerin – in der Authoritarian
Personality hingewiesen. Ihre empirischen Untersuchungen aus den 1940er
Jahren belegten den engen Zusammenhang zwischen repressiven, strikt binären Sexualitätsregimen und autoritären Persönlichkeitsstrukturen.27 Sie
zeichnete nach, wie der Hass auf Differenz mit einer generellen Tendenz, in
strikten Zweiteilungen zu denken, verknüpft ist. Das zeigt sich in manichäischen Weltbildern, die häufig mit antisemitischen Verschwörungsmythen
einhergehen, im Allgemeinen wie auch im Besonderen darin, dass Frauen
in »gute« und »schlechte« eingeteilt werden. Solche Zweiteilung kann als
Kompromiss gedeutet werden: Selbst wenn Sexismus und Antifeminismus
24 Theodor W. Adorno und Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische
Fragmente, in: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 3, Frankfurt am Main 1981, S. 208.
25 Ebd.
26 Vgl. Karin Stögner: Antisemitismus und Sexismus. Historisch-gesellschaftliche Konstellationen, Baden-Baden 2014.
27 Vgl. Theodor W. Adorno, Else Frenkel-Brunswik et al.: The Authoritarian Personality,
London und New York 2019.
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im Islamismus extrem ausgeprägt sind, ist den Proponenten der Ideologie doch bewusst, dass es eine reine Männerwelt nicht geben kann. Zum
Abschuss werden die abweichenden Frauen freigegeben: Frauen, die – real
oder imaginiert – dem vorgegebenen Geschlechtscharakter nicht entsprechen, sich gegen den Schleierzwang auflehnen, Feministinnen und Prosituierte, lesbische Frauen, Transfrauen, rassistisch marginalisierte Frauen und
Jüdinnen. Nicht nur werden die »schlechten« Frauen abgewertet, sondern
die »guten«, frommen werden im Gegenzug auch nicht geliebt, da der autoritäre Charakter durch eine tiefe Unfähigkeit zu Liebe und Hingabe geprägt ist. Das ist schon in der islamistischen Ideologie begründet: Sie bietet
vielen die Möglichkeit, die Spannung zwischen Autonomie und Abhängigkeit auf repressive Weise aufzulösen, indem man Unabhängigkeit und Individualität gar nicht mehr behauptet und gleichzeitig alles Abhängige und
Schwache mit Füßen tritt.
Zur analytischen Durchdringung dieser Form des Autoritarismus ist
wieder die Wendung zum Subjekt und seinen gesellschaftlich induzierten
Leiden und Nöten angezeigt. Die Einsamkeit der autoritären Persönlichkeit rührt heute nach wie vor von einer abstrakten Vorstellung von Autonomie her, die jede Form von Abhängigkeit und Schwäche abwehrt, was
dazu führt, dass zwischenmenschliche Beziehungen nicht emotional erfahren werden. Tabuisiert ist Zwischenmenschlichkeit, in der man schwach
und verletzlich ist – sie gilt als weibisch. Vergessen soll dabei werden die
conditio humana der Interdependenz, denn wie feministische Kritik herausgearbeitet hat, war jedes autonome Subjekt einmal schwach und abhängig und konnte nur durch die fürsorgliche Zuwendung anderer überleben.28
Dass Autonomie als abstrakte Unabhängigkeit und so völlig losgelöst
von Interdependenz gedacht wird, hängt wiederum mit den gesellschaftlichen Geschlechterverhältnissen mit entsprechender geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung zusammen, die sich auch psychisch niederschlägt,
wie Else Frenkel-Brunswik in der Authoritarian Personality analysiert hat.
Einsamkeit und Isolation sind den heute vorherrschenden Vorstellungen
von Autonomie und Individualismus inhärent. Dies lässt den Schluss zu,
dass der heute überall geforderte Individualismus selbst etwas Autoritäres
28 Vgl. etwa Christel Eckart: Fürsorgliche Konflikte. Erfahrungen des Sorgens und die Zumutungen der Selbständigkeit, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie, Jg. 29, 2004, H. 2,
S. 24–40.
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hat, jedenfalls repressive Kollektivismen begünstigt, wie an Islamismus und
Incels deutlich wird: beides Rebellionen gegen den abstrakten Individualismus, der die Mitglieder einer Gesellschaft vereinzelt. Die Incels rebellieren
dagegen, indem sie noch den letzten Funken von Zwischenmenschlichkeit zerstören und den abstrakten Individualismus so übersteigern, dass
er in absolute Isolation kippt. Möchte man sie als Kollektiv bezeichnen,
dann nur als eines der zwanghaft Solitären. Im Gegensatz dazu ertränken
Islamist:innen jeden Individualismus im rohen Kollektivismus der angedrehten Religionsgemeinschaft.
Das Moment des Angedrehten hat Adorno schon in den 1960er
Jahren in Bezug auf den Nationalismus erwähnt – dass die völkischen
Nationalist:innen nicht mehr an die Kraft der Nation glauben und deshalb
die Idee der Nation so sehr übertreiben, sie (sich selbst und anderen) andrehen, um ihr überhaupt folgen zu können.29 Ähnlich verhält es sich mit
religiösen Fundamentalist:innen, die im Grunde nicht mehr an das glauben,
woran sie zu glauben vorgeben und sich und andere deshalb ständig ihres
Glaubens versichern müssen. Die binäre Geschlechterungleichheit und die
repressiven Sexualitätsregime nehmen in diesem Prozess des Andrehens
eine zentrale Bedeutung an: Je mehr die gesellschaftlichen Verhältnisse über
diese rohe Ungleichheit objektiv hinausgewachsen sind und je weniger die
Menschen an ihre Gültigkeit glauben, umso heftiger werden sie in autoritären Ideologien jeglicher Couleur angedreht, um die ersehnte, jedoch
real nicht gegebene Einheit der Identität, der Nation oder der Religion zu
bekräftigen.
Vor dem Hintergrund des hier Skizzierten sehe ich das vordringliche
Desiderat kritischer Theorie heute in einer feministisch-kritischen Aktualisierung der Konzepte über den Autoritarismus, unterfüttert durch
eine intersektionale Ideologiekritik. Es ist dringend notwendig, Überschneidungen und gegenseitige Durchdringungen von Hass- und Ausgrenzungsideologien als zentrale Bestandteile moderner Herrschaftsstrategien
systematisch in den Blick zu nehmen, um den aktuellen Trend der Fragmentierung, Entsolidarisierung und des repressiven Partikularismus entgegenzuwirken. Darin unterscheidet sich eine intersektionale Ideologiekritik
deutlich vom heute gängigen Verständnis von Intersektionalität, sofern
29 Vgl. Theodor W. Adorno: Aspekte des neuen Rechtsradikalismus, Frankfurt am Main
2019, S. 14.
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dieses zuvorderst auf die Anerkennung von festgefügten kulturellen und
religiösen Identitäten abstellt und in der Konsequenz zu selektiver Empathie und restriktiver Identitätspolitik führt. Intersektionale Ideologiekritik
vollzieht die Wendung zu den Subjekten und fragt nach den gesellschaftlichen Gründen, die sie dazu bringen, Hass- und Diskriminierungsideologien zu folgen. Dabei geht sie davon aus, dass Subjekte durch ihre Verstrickung in unterschiedliche Dimensionen von Herrschaft grundsätzlich
ambivalent sind und sich bestenfalls dessen bewusst werden können. Das
wäre im Sinn einer Stärkung reflektierter Individualität, die Andersheit und
Differenz in sich aufnimmt und die Voraussetzung für Solidarität ist, in der
die Trauer um unerfüllte Hoffnung auf Freiheit aufgehoben ist. Das setzt
voraus, dass Trauer, Verletzlichkeit und Leid, an denen kritische Theorie
ansetzt, nicht abstrakt universalisiert und als anthropologische Konstante
gesetzt werden, die letztlich alle gleichermaßen betreffen würde. Vielmehr
geht es um die Kritik des Leids an konkreten Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnissen, die intersektional und vielschichtig sind. Solche Kritik erkennt, dass Kultur und Religion Referenzrahmen von Identität sind
und darin immer auch gleichzeitig eine Grundlage von Herrschaft. Erst in
Anerkennung solcher Ambivalenz kann das Partikulare zu seinem Recht
kommen und im Namen des Universellen mobilisiert werden.30
Zudem sehe ich in der gegenwärtigen feministischen kritischen Theorie
und Praxis ein Desiderat, reflektierende Urteilsfähigkeit zu entfalten und
den Mut zu haben, sich selbst und andere zu kritisieren. Denn zur Urteilsfähigkeit gehört die Aufmerksamkeit und das Interesse für die anderen,
für ihre Besonderheit, ihr Leiden, ihre Sorgen, aber auch ihre Hoffnungen
und Emanzipationsbestrebungen. Der kritische feministische Fokus kann
sich nicht auf die Selbstreflexion beschränken, denn das zu reflektierende
und zu kritisierende Selbst setzt die lebendige Wahrnehmung der anderen voraus. Es bleibt die Frage, wie ein feministisches politisches Urteilen
möglich ist, das den Fallstricken von kulturellem Relativismus einerseits
und repressivem Universalismus andererseits entgeht. Der gängige Einwand gegen ein feministisches politisches Urteil über eine andere Kultur
30 Vgl. Seyla Benhabib u. Karin Stögner: »Das Partikulare im Namen des Universellen mobilisieren« – Ein Interview mit Seyla Benhabib zu den Grundlagen einer feministischen Kritischen Theorie, in: Karin Stögner u. Alexandra Colligs (Hg.): Kritische Theorie und Feminismus, Berlin 2022, S. 61–74.
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Kritische Theorie und feministisches Urteilen heute
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als die eigene lautet, dass westliche Feministinnen sich anmaßen würden,
nicht-westliche Kulturen anhand westlicher Konzepte zu beurteilen, also
die fremde Partikularität unter ein als Universelles missverstandenes Eigenes zu zwängen. Dieser Einwand macht sich insbesondere an Konzepten
der Aufklärung wie Autonomie, Freiheit und Individualität fest. Dem ist
entgegenzuhalten, dass auch wenn diese Begriffe ihren Ursprung in der
westlichen bürgerlich-partriarchalisch-kapitalistischen Ordnung haben, sie
ihr Gesicht und ihren Inhalt verändern, wenn sie durch eine feministische
immanente Kritik, eine feministische bestimmte Negation hindurchgehen:
Autonomie in einem kritisch-feministischen Sinn, der intersektionale Verwerfungen berücksichtigt, sieht das Subjekt im Kontext und bedeutet so
etwas anderes als im bürgerlich-kapitalistischen Sinn, und dasselbe gilt für
Freiheit. Feminismus ist also zuallererst eine widerständige Haltung, Praxis
und Theorie gegen männliche Herrschaft. Auch hier steht die Wendung
zum widerständigen Subjekt am Anfang der Erkenntnis.
Begriffe im Sinne der kritischen Theorie als beweglich zu denken, hilft,
kulturelle Barrieren zu überwinden und ermöglicht kulturübergreifende
Urteile. Immanente Kritik sucht den Maßstab der Kritik im Kritisierten
selbst, spürt also widerständige Momente in der zu kritisierenden Gesellschaft oder Kultur auf, statt den Maßstab und die Norm der Kritik von
außen anzulegen. Diese Methode kann für eine Kritik von Herrschaft in
einer anderen Kultur als der eigenen angewendet werden. Feministinnen
aus dem Globalen Süden fordern, dass feministische Kritik auf lokalen
Ideen basiert, die manchmal den Werten westlicher Feministinnen widersprechen.31 Aber diese lokalen Ideen sind selbst nicht homogen, sondern
enthalten Momente des Widerstands gegen lokale Traditionen der patriarchalen Herrschaft und Unterdrückung, die durch immanente Kritik
sichtbar gemacht werden können. Kulturen und Gesellschaften sind in der
Regel nicht nur durch Herrschaft, sondern auch durch Widerstand dagegen charakterisiert. Das gilt nicht nur für westliche Gesellschaften, sondern auch für die des globalen Südens. Und genau wie im Westen kann
der Widerstand gegen Unterdrückung und Herrschaft im Globalen Süden
zu neuen Formen von Herrschaft und Unterdrückung, aber auch zu mehr
Freiheit führen. Dies ist in keinem Fall vorherbestimmt; die Dialektik des
31 Vgl. Linda Zerilli: Toward a Feminist Theory of Judgment, in: Signs, Jg. 34, Winter 2009,
H. 2, S. 295–317.
216
Karin Stögner
historischen Prozesses ist universell. So ist die Kultur im Iran nicht nur die
der Mullahs, sondern auch die der Frauen und Männer, die gegen sie rebellieren und für Freiheit kämpfen. Kultur ist kein homogenes Gebilde, das
immer nur und ausschließlich von den Machthabern bestimmt wird. Ein
feministisches politisches Urteil konzentriert sich daher auf die widerständigen Momente und auf die Widersprüche in der Kultur, nicht auf Kultur
an sich. Im Zentrum stehen die Menschen, die in den Kulturen leben, die in
ihnen leiden und kämpfen und sie auch widerständig gestalten. Solcherart
kann eine unterirdische Geschichte von Kulturen aufgedeckt werden.
Mit der kritischen Theorie setzt kulturübergreifende Urteilskraft am
Leiden an Herrschaft und Unterdrückung an und deckt Spuren des Widerstands auf. In einer immanenten Kritik von Herrschaft und Unterdrückung
innerhalb der jeweiligen Kultur kann sich eine reflektierende feministische
Urteilskraft entfalten, die nicht wie die bestimmende das Partikulare unter ein bereits bekanntes Allgemeines subsumiert.32 Ein reflektierendes
feministisches Urteil ist ein Akt der Unterscheidung und Differenzierung
innerhalb der kritisierten Kultur, der eigenen wie der anderen. Das Universelle ist nicht a priori festgelegt, sondern entsteht im Prozess des kritischen
Urteils und kann auch auf das Eigene zurückbezogen werden. Feministisches Urteilen beginnt also mit der Frage, wo die Kraft des praktischen
Widerstands gegen und der theoretischen Negation von patriarchaler Herrschaft zu finden ist.
32 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Frankfurt am Main 1974, S. 87.
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Autorinnen und Autoren
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Till Seidemann, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie an der Technischen Universität Darmstadt.
Arbeitsschwerpunkte: Erkenntnistheorie, Sozialphilosophie, Kritische
Theorie, Phänomenologie, Neukantianismus.
Kontakt: till.seidemann@gmail.com
Karin Stögner, Professorin für Soziologie an der Universität Passau.
Arbeitsschwerpunkte: Intersektionalität, Antisemitismus- und Rassismusforschung, Geschlechterforschung, feministische Theorie, kritische Theorie.
Kontakt: karin.stoegner@uni-passau.de
Christian Thein, Professor für Philosophie am Philosophischen Seminar
der Universität Münster.
Arbeitsschwerpunkte: Sozial- und Bildungsphilosophie, Kritische Theorie,
Philosophiegeschichte der Neuzeit und Moderne.
Kontakt: thein@uni-muenster.de
Sebastian Tränkle, Wissenschaftlicher Mitarbeiter (Postdoc) am Institut
für Philosophie/Exzellenzcluster »Temporal Communities« an der Freien
Universität Berlin.
Arbeitsschwerpunkte: Ästhetik, Negative Anthropologie, Sprachphilosophie und Rhetorik.
Kontakt: s.traenkle@fu-berlin.de
Christoph Türcke, Professor für Philosophie an der HGB Leipzig, i. R.
Arbeitsschwerpunkte: Religionsphilosophie, Psychoanalyse, Kritische
Theorie.
Kontakt: ctuercke@hgb-leipzig.de
Christian Voller, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kultur
und Ästhetik digitaler Medien (ICAM) der Leuphana Universität Lüneburg.
Arbeitsschwerpunkte: Technik- und Medientheorie, Geschichte und Theorie
des westlichen Marxismus, Transformationen der Deutschen Ideologie insbes. in der Nachkriegszeit und der ›Postmoderne‹.
Kontakt: c.voller@gmx.net