PVS (2009) 50: 372-407
DOI s11615-009-0141-6
ABHANDLUNG
Entwicklungslinien der Politischen Theorie in
Deutschland seit 1945
Gerhard Göhler · Mattias Iser · Ina Kerner
Zusammenfassung: Um die Entwicklungslinien der deutschsprachigen politischen Theorie im
internationalen Kontext nachzuzeichnen, orientieren wir uns an zentralen politiktheoretischen Begriffen, welche die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen besonders geprägt haben. Dabei unterscheiden wir zwischen Ordnungsbegriffen (Demokratie, Staat, Macht, System, Institution), normativen Leitideen (Gerechtigkeit, Gemeinwohl, Anerkennung) und neuen Thematisierungen
(Geschlecht, Diskurs, Globalisierung). Gegenüber gängigen Vorstellungen ergibt sich ein neues
Bild: An die Stelle einer Entwicklung in drei Phasen tritt eine Zäsur zu Beginn der 1980er Jahre.
Schlagwörter: Politische Theorie · Politische Ideengeschichte · Politische Philosophie ·
Politikwissenschaft · Entwicklung der Politischen Theorie
Abstract: In this article we map out the development of German political theory since 1945 and
locate it within the international context. For this purpose we track concepts which were central
in shaping the scholarly controversies within the field. We distinguish between organizational
concepts (democracy, state, power, system, institution), normative ideas (justice, common welfare, recognition) and new themes (gender, discourse, globalization). The resulting picture of the
© VS-Verlag 2009
Prof. Dr. Gerhard Göhler, Univ.-Prof. a. D. ()
Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin,
Ihnestr. 21, 14195 Berlin
E-Mail: goehler@zedat.fu-berlin.de
Dr. phil. Mattias Iser
Institut für Politikwissenschaft, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. M.,
Robert-Mayer-Str. 5, 60054 Frankfurt a. M.
E-Mail: iser@rz.uni-frankfurt.de
Prof. Dr. Ina Kerner
Juniorprofessur für Diversity Politics, Humboldt-Universität zu Berlin, Philosophische Fakultät III,
Institut für Sozialwissenschaften, Unter den Linden 6, 10099 Berlin
E-Mail: ina.kerner@sowi.hu-berlin.de
Politische Theorie
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development of political theory replaces the common idea of three phases with a decisive break
at the beginning of the 1980s.
Keywords: Political Theory · History of Political Ideas · Political Philosophy · Political
Science · Development of Political Theory
1. Einleitung
Politikwissenschaft beginnt in der Antike, spätestens mit Platon und Aristoteles. Allerdings handelt es sich zu dieser Zeit noch nicht um empirische Wissenschaft im modernen sozialwissenschaftlichen Verständnis, sondern eher um Politische Theorie. Diese
fragt von jeher nach der Ordnung des Zusammenlebens der Menschen in einem Gemeinwesen, und zwar ebenso deskriptiv nach vorhandenen Ordnungsformen wie normativ nach einer guten Ordnung. So ist die Politische Theorie auch in der gegenwärtigen Politikwissenschaft als Teildisziplin verankert. Sie befasst sich mit den Grundlagen,
auf denen die sozialwissenschaftlich orientierte, theoriegeleitete Forschung in der Politikwissenschaft aufbaut. Dazu reflektiert sie die Begriffe und Modelle, mit denen politische Phänomene systematisch erfasst werden; sie fragt nach Begründungen der politischen Ordnung ebenso wie nach der Kritik an ihr und erschließt den zugrunde liegenden
historischen Denk- und Erfahrungshorizont vermittels der politischen Ideengeschichte.1
Im Folgenden versuchen wir, ihre Entwicklungslinien seit der (Wieder-)Begründung der
1 Dieses Selbstverständnis der Politischen Theorie – zu Anfang zwar propagiert, aber wenig
umgesetzt (Bermbach 1984) – geriet in den 1960er Jahren unter doppelten Druck. Erstens
wurde die Leitfunktion, welche die Politische Theorie damit implizit beanspruchte, dadurch
obsolet, dass seit den 1960er Jahren drei grundlegende Ausrichtungen der Politikwissenschaft
miteinander konkurrierten, die sogenannten „Theoriebegriffe“ oder „Metatheorien“, nämlich
die normativ-ontologische, die empirisch-analytische und die dialektisch-kritische Politikwissenschaft. Sie wurden für miteinander unvereinbar erklärt und trennten damit die Politische
Theorie von einer Grundlagenreflexion für das gesamte Fach (Fijalkowski 1961; Narr 1969).
Es dauerte lange, bis sich die Einsicht durchsetzte, dass solche Theoriebegriffe nicht exklusiv
voneinander abgrenzbar sind (Falter/Göhler 1986). Später wurde angemessener von verschiedenen „Schulen“ gesprochen, etwa von der Freiburger, Münchner, Marburger oder KölnMannheimer Schule der Politikwissenschaft (Göhler 1982; Bleek/Lietzmann 1999; Bleek
2001: 336-346). Auf längere Sicht folgenreich für die Politische Theorie wurde zweitens die
„szientifische Wende“ der Politikwissenschaft ab Mitte der 1960er Jahre. Was hier vornehmlich aus dem angelsächsischen Raum rezipiert wurde – auf der Makro-Ebene die Systemtheorie, auf der Mikro-Ebene der Behavioralismus sowie später Rational Choice (Gabriel 1978) –
hatte – mit unterschiedlichen Begründungen – die Konsequenz, dass für jede politikwissenschaftliche Forschung nun ein möglichst exakter Theorieanspruch erhoben wurde. Zwar ging
es dabei stets um Einzeltheorien und nicht um Politische Theorie (Falter/Göhler 1986), aber
es wurde immer wieder die Frage gestellt, ob es bei diesem grundsätzlichen Theorieanspruch
neben den „Bereichstheorien“ überhaupt noch einer eigenen Disziplin der „Politischen Theorie“
bedürfe. Dies drängte die Politische Theorie in eine unsinnige Defensivrolle und hat ihr in der
institutionellen Konkurrenz sehr geschadet (Buchstein/Jörke 2007). Zum neueren Selbstverständnis der Politischen Theorie siehe Greven/Schmalz-Bruns (1999) und Buchstein/Göhler
(2007), zu ihrer institutionellen Entwicklung Bleek (2001) sowie detailliert Arendes (2005).
374
Gerhard Göhler et al.
Politikwissenschaft im westlichen Nachkriegsdeutschland im internationalen Kontext
nachzuzeichnen.
Wie sich ein derartiger Durchgang durch ein so komplexes Gebilde sinnvoll strukturieren lässt, ist dabei alles andere als ausgemacht. So wäre eine Darstellung nach einzelnen Namen zu detailliert, jedoch eine Einteilung in einige wenige Theoriefamilien
nicht detailliert genug, um Entwicklungslinien hinreichend erfassen zu können. Wir
werden daher die Entwicklung der Politischen Theorie anhand von zentralen Begriffen
nachzeichnen und lehnen uns dabei an frühere gemeinsame Überlegungen an (Göhler
et al. 2004).
Begriffe sind ein entscheidender Faktor der Konstruktion von Wirklichkeit, in der
Politik ebenso wie in ihrer Rekonstruktion durch die Wissenschaft. Wirklichkeit ist immer
interpretiert; Begriffe benennen und kondensieren diese Interpretationen. Deshalb verhilft ihre Analyse in besonderem Maße dazu, die Wirklichkeit prägnant zu erfassen. Die
Geschichtlichen Grundbegriffe (Brunner et al. 1972–1997) sind dafür mittlerweile ein
klassisches Beispiel. Die zentralen und zugleich umkämpften Begriffe sind stets durch
Entwicklungspfade in der Geschichte der politischen Ideen geprägt.2 Die Analyse ihrer
2 Eine genauere Darstellung der Entwicklung der politischen Ideengeschichte seit dem Zweiten
Weltkrieg ist im Rahmen dieses Artikels nicht zu leisten, weshalb hier einige Andeutungen
genügen mögen: Zum politischen Denken in der unmittelbaren Nachkriegszeit vgl. Greven
2007. In den 1950er und 1960er Jahren versuchte die Politische Theorie, sich bedeutende
Denker in Monografien neu anzueignen: Rousseau (Fetscher 1960), Novalis (Kuhn 1960),
Burke (Schumann 1964), Heidegger (Schwan 1965), Goethe (Stammen 1966), Robert von
Mohl (von Beyme 1966) und Locke (Euchner 1969). Diesem Trend entsprachen die ersten
Gesamtdarstellungen: die Klassiker der Staatsphilosophie (Bergstraesser/Oberndörfer 1962)
und die Klassiker des politischen Denkens (Maier et al. 1968). In den 1960er Jahren wurden
Marx und der Marxismus, zunächst eher aus wohlmeinender Distanz (Landshut, Fetscher),
später zunehmend affirmativ, zu einem bevorzugten Studienobjekt. Im Zuge der Expansion
der deutschen Politikwissenschaft weitete sich auch das Feld der ideengeschichtlichen Studien
enorm aus. Eine erste umfassende Gesamtdarstellung gaben Fetscher und Münkler mit ihrem
fünfbändigen Pipers Handbuch der politischen Ideen (Fetscher/Münkler 1985–1993). Daneben gab es wichtige, aber doch nur partiell einflussreiche Versuche, aus ideengeschichtlichen
Studien Einsichten für die Konzeption einer reflektierten modernen Politikwissenschaft zu
gewinnen – so die vertiefte Fassung des Repräsentationsgedankens (Voegelin 1959), die Begründung einer praktisch-vernüftig argumentierenden Wissenschaft der Politik (Hennis 1963),
die Diskussion von Wegen und Irrwegen des Politikverständnisses (Sternberger 1978) oder die
normative Begründung einer pluralistischen Demokratie (Schwan 1992). Andererseits wurde
seit Ende der 1960er Jahre zunehmend versucht – beeinflusst, aber nicht determiniert von
marxistischen Ansätzen –, politische Ideengeschichte in ihren historischen Determinanten zu
verorten. Paradigmatisch hierfür war die auch in Deutschland außerordentlich einflussreiche
Arbeit von Macpherson über die politische Theorie des Besitzindividualismus von Hobbes bis
Locke (Macpherson 1967). Bermbach (1981) hat versucht, diesen Ansatz als „politische Theoriengeschichte“ gegenüber „politischer Ideengeschichte“ herauszuheben; die terminologische
Unterscheidung hat sich allerdings nicht durchgesetzt. In diesem Sinne wurde jedoch später
die „Cambridge School“ (Pocock, Skinner) rezipiert, welche die Texte aus der Ideengeschichte in ihrem historischen, kulturellen, politischen und linguistischen Kontext liest (Rosa 1994;
Asbach 2002). Zur Entwicklung und zum Stellenwert der politischen Ideengeschichte vgl. von
Beyme (1969); Euchner (1973); PVS 22 (1981); Bermbach (1984); Fetscher (1985); Mohr
Politische Theorie
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Bedeutung und ihres Bedeutungswandels zeigt auf, wie sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung in Reaktion auf sich verändernde politische Problemlagen entwickelt.
Zum Zweck einer übersichtlichen Darstellung der wichtigsten Debatten unterscheiden wir zwischen Ordnungsbegriffen (Abschnitt 2.1), normativen Leitideen (Abschnitt
2.2) und Begriffen für neue Thematisierungen (Abschnitt 2.3). Ordnungsbegriffe benennen die maßgeblichen Strukturierungen der Politik, wie sie der Tradition der Politikwissenschaft entstammen und weiterentwickelt worden sind. Sie sind die Leitkategorien der
empirischen Analyse. Zugleich enthalten sie oftmals auch eine normative Komponente.
Rein normative Leitideen bestimmen demgegenüber die grundlegenden Prinzipien,
Werte und Ziele politischer Ordnungen. Daneben dienen sie dazu, kritisch über die
Legitimität – oder eben auch Illegitimität – solcher Ordnungen zu befinden. Begriffe für
neue Thematisierungen schließlich vereinen wie die Ordnungsbegriffe empirische und
normative Elemente. Anders als die Gehalte, auf die Ordnungsbegriffe und normative
Leitideen verweisen, sind die Begriffe für neue Thematisierungen jedoch erst in jüngerer Zeit ins Zentrum der politiktheoretischen Aufmerksamkeit gerückt. Diese Einteilung
in drei Kategorien ist rein heuristisch und schließt inhaltliche Überschneidungen nicht
aus. Diese sind vielmehr unumgänglich, weil verschiedene Begriffe je unterschiedliche
Aspekte eines Sachverhalts beleuchten.
Im Folgenden zeichnen wir anhand zentraler politiktheoretischer Begriffe aus den
drei Kategorien die wichtigsten Diskussionen innerhalb der deutschen Politischen Theorie nach (Abschnitt 2), bevor wir in einem abschließenden Resümee (Abschnitt 3)
versuchen, hieraus ein Bild der Entwicklung der Politischen Theorie insgesamt zu gewinnen. Dabei werden einige gängige Vorstellungen revidiert.
2. Entwicklungslinien der Diskussion
2.1 Ordnungsbegriffe
Wir konzentrieren uns auf die für die Politik spezifischen Begriffe Demokratie und Staat
sowie auf die im weiteren sozialen Kontext relevanten Begriffe Macht, System und
Institution. Sie sind nach unserer Einschätzung für die Entwicklung der Politischen
Theorie in Deutschland zentral, und mit ihnen sind auch die heftigsten Diskussionen
verbunden. Demokratie und Staat sind die klassischen Begriffe der Politikwissenschaft
und der Politischen Theorie. Welche weiteren Begriffe hier infrage kommen, darüber
lässt sich trefflich streiten. Macht, System und Institution werden hier herangezogen,
weil sie nach unserer Einschätzung der neueren Politischen Theorie aus sozialwissenschaftlicher Perspektive die wichtigsten Impulse gegeben haben.
(1995); Münkler (1999); Bluhm/Gebhardt (2006); Straßenberger/Münkler (2007); von Beyme
(2009).
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Gerhard Göhler et al.
Demokratie
Die an den Universitäten neu etablierte Politikwissenschaft verstand sich grundsätzlich
als Demokratiewissenschaft. Es galt, nach der NS-Diktatur die Deutschen wieder die
Demokratie zu lehren; insbesondere die Verantwortungsträger sollten für die Demokratie ausgebildet werden. Darin stimmte man mit den Besatzungsmächten überein, und
dadurch war man vorzüglich in der Lage, Lehrstühle für das in Deutschland neue Universitätsfach einzufordern. Ohne Zweifel war das Bekenntnis der politikwissenschaftlichen „Gründerväter“ zur Demokratie nicht nur taktischer Natur. Es war ein Grundkonsens, der von links bis rechts reichte, von Wolfgang Abendroth in Marburg bis zu Arnold
Bergstraesser in Freiburg. Er verbarg allerdings nur notdürftig, dass darunter ganz Unterschiedliches verstanden werden konnte, von der „sozialistischen Demokratie“ Marburger Provenienz bis hin zum „freiheitlichen Rechtsstaat“ nach Freiburger Lesart, mit
viel oder mit wenig Partizipation. Spätere Konflikte waren hier bereits vorgezeichnet.
Entsprechend stellt sich der Befund für die Politische Theorie der Anfangsphase dar.
Man vergewisserte sich pauschal der Ideengeschichte, aber theoretische Auseinandersetzungen mit dem Demokratiebegriff fanden nicht statt; vielmehr ging es darum, sich
überhaupt wieder mit den westlichen Demokratien vertraut zu machen.
Die entscheidende Wende zu einer theoretischen Auseinandersetzung mit der Demokratie brachte die Theorie des Neopluralismus von Ernst Fraenkel (1964), der wohl
erste eigenständig-systematische deutsche Beitrag in der internationalen DemokratieDiskussion. Fraenkel gab der Pluralismustheorie eine normative Wendung. Einerseits
sah er – anders als der Mainstream des deutschen Staatsdenkens – nicht in der Abschottung des Staates von der Gesellschaft, sondern in der Aufnahme und Bündelung von
kollektiv vertretenen Interessen die gebotene Grundlage demokratischer Entscheidungen. Andererseits werde auf diese Weise – so sein normativ gewendeter „Neopluralismus“ – unter den Bedingungen von fair play und eines Minimums an sozialer Gerechtigkeit tatsächlich das Gemeinwohl realisiert. Das war, wenn auch von Fraenkel eher
kritisch verstanden, die theoretische Begründung der repräsentativen Demokratie in
Westdeutschland.
Fraenkels neopluralistische Demokratietheorie wurde zum Auslöser einer heftigen
Debatte in den 1960er und 1970er Jahren. Ihm wurde vorgehalten, dass er nur die Organisation von mächtigen Interessen berücksichtige, die weniger mächtigen Interessen
aber außer Acht lasse, was sein neopluralistisches Modell der repräsentativen Demokratie delegitimiere. Die Debatte spitzte sich Anfang der 1970er Jahre – hierin durchaus
einem internationalen Trend folgend, ihn aber wenig aufnehmend – auf die Frage zu,
wie radikal Demokratie sein müsse, um ihrem normativen Anspruch zu genügen. Radikal müsse Demokratie in einem weiten, umfassenden Sinn sein, wonach auch möglichst
viele gesellschaftliche Teilbereiche außerhalb der politischen Herrschaft demokratisiert
werden sollten, wie etwa die Wirtschaft oder das Bildungswesen. Wilhelm Hennis
(1970) hat hier grundsätzlich und einflussreich widersprochen. Aber auch die politische
Demokratie selbst müsse im Wortsinn radikal werden. Damit wurde die repräsentative
Demokratie grundsätzlich infrage gestellt, weil sie als Herrschaftssystem die Interessen
der Betroffenen missachte und autoritäre Strukturen befördere (Agnoli 1968). Um die
Betroffenen selbst zu Wort kommen zu lassen, seien andere Organisationsformen ge-
Politische Theorie
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fragt. Das Rätesystem, obwohl in der Pariser Commune und in Deutschland 1918/19
gescheitert, wurde zum Vorbild einer demokratischen Umgestaltung der Gesellschaft
(Bermbach 1971, 1973). Auf konservativer Seite wurde dagegen gerade die Verbindung
von Demokratie und Repräsentation im Sinne des „freien Mandats“ zum demokratietheoretischen Kanon erhoben (Jäger 1975). Demokratie ohne Repräsentation habe, so
schien es, letztlich totalitäre Konsequenzen.
Aus heutiger Sicht sind die ideologischen Aufgeregtheiten der 1970er Jahre nur
schwer nachvollziehbar, hüben wie drüben. Bürgerbewegungen, Volksentscheide, alles
Teile von direkter Demokratie, sind längst etabliert, und doch bleibt die repräsentative
Demokratie weiterhin die Grundlage.3 Indessen ist sie allerdings mit theoretischen Entwicklungen und praktischen Herausforderungen konfrontiert, die um einiges ernster
genommen werden müssen.
Die wichtigste theoretische Entwicklung ist das Konzept der „deliberativen Demokratie“. Gegenüber herkömmlichen Diskussionen, die sich um das rechte Maß von unmittelbarer Partizipation streiten, verfolgt es einen grundsätzlich anderen Ansatz. Im
Gegensatz zu vielfältigen Versuchen, in der Verstärkung von Partizipation eine Steigerung der Rationalität politischer Entscheidungen auszumachen (Scharpf 1975), gibt Jürgen Habermas der Frage nach Demokratisierung in diesem Zusammenhang eine normative Wendung. Demokratisierung ist ein Schritt in Richtung einer Realisierung von
Vernunft (1992a, 1992b; vgl. Schmalz-Bruns 1995). Habermas vertritt die These, die
Rationalität von Entscheidungen müsse vor dem Kriterium bestehen, dass alle Beteiligten in herrschaftsfreier Kommunikation vernünftig miteinander deliberieren. Wenn nur
das Argument zählt, das für mögliche Gegengründe offen ist – so die normative Grundannahme –, setzen sich nicht private Vorlieben, sondern verallgemeinerbare Interessen
durch. In sein normatives Modell bezieht Habermas die Elemente der repräsentativen
Demokratie explizit ein. Er wählt somit bewusst einen Mittelweg zwischen der, wie
Fraenkel sie genannt hat, „antiklassischen“ Theorie der Repräsentativdemokratie und
der „klassischen“, in der Neuzeit von Rousseau ausgehenden Theorie der direkten Demokratie. Habermas’ Modell hat weit über Deutschland hinaus erhebliche Resonanz
erzeugt, weil es die Rationalitätsanmutung etablierter repräsentativer Demokratien infrage stellt, ohne in bloße Beteiligungsutopien zu verfallen.
Scheinbar losgelöst davon stehen neuere praktische Herausforderungen der Demokratie, die es auch theoretisch zu verarbeiten gilt. Die moderne repräsentative Demokratie ist im Rahmen des westlichen Nationalstaats entstanden; sie ist die Antwort auf das
Bedürfnis einer Herrschaftslegitimation, welche von der Voraussetzung eines souveränen Volkes ausgeht. Dieses Nationalstaatsmodell ist in den vergangenen Jahrzehnten
zunehmend unter Druck geraten. Der unmittelbare Rückbezug auf das Volk durch Zurechung der Entscheidungsmacht und Verantwortlichkeit der Entscheidungsträger wird
strukturell ausgehöhlt. Für die deutsche Diskussion tritt dieses Problem am augenfälligsten im Kontext der EU in Erscheinung, wo die nationalstaatlich begründeten Beteiligungsmuster kaum mehr greifen. Wenn diese supranational nicht herzustellen sind,
3 Auch die radikaldemokratische Perspektive wurde später auf höherem Niveau expliziert und
seit den 1990er Jahren auch in Deutschland rezipiert (z. B. Barber 1994; in der Fortführung
von Gramsci: Laclau/Mouffe 1991).
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Gerhard Göhler et al.
erscheint ein Perspektivenwechsel angebracht. Die Input-Legitimation der Demokratie,
die auf den Beteiligungsmöglichkeiten der Bürger beruht, wird deshalb in der Demokratietheorie zunehmend durch eine Output-Legitimation ersetzt, welche auf die positiven Leistungen der Institutionen rekurriert (Scharpf 1999). Das aber führt zu einem
Dilemma. Demokratie bedeutet ihrem Ursprung nach Partizipation und erfordert daher
vielmehr die Input-Legitimation.
Vorgeschlagene Lösungsansätze versuchen aus der nun ausgerufenen „Postdemokratie“ (Crouch 2008) das Beste zu machen. Wenn denn die Kongruenz von Volk und
Regierung in der emphatischen Form grundsätzlicher Beteiligung der Bürger nicht mehr
gegeben sei, könne man an neue Deliberationsformen in den europäischen Institutionen
denken (Neyer 2004) oder realistischerweise das demokratische Prinzip der Teilhabe
radikal auf einige Volksentscheide reduzieren (Abromeit 2002). Man kann allerdings
auch für supranationale Gremien auf das klassische Prinzip des Losverfahrens zurückkommen, wie es die antike Polisdemokratie praktiziert hat (Buchstein 2009). Das mögen Erfolg versprechende Perspektiven sein, aber man sollte sie auch nicht überbewerten. Vielleicht kehrt auch in der Demokratietheorie die Staatlichkeit – wie schon
häufiger in Krisenzeiten – in stärkerem Maße zurück, als dies bislang vermutet wird.4
Staat
Für die Theorie sind Schwierigkeiten mit der Demokratie stets auch Schwierigkeiten
mit dem Staat. Die deutsche Politikwissenschaft war zwar von Anfang an staatszentriert,
allerdings in einem kritischen Sinn (der nur etwas ganz anderes meinte, als wir es heute mit der Frage nach dem möglichen Auslaufen des Staatsmodells verbinden). Der
Staat wurde in der Theorie auf doppelte Weise infrage gestellt: Zum einen geschah dies
metatheoretisch. Die Politikwissenschaft konnte sich in Deutschland nur etablieren,
wenn sie ihren Gegenstand, das Politische, der überkommenen Herrschaft des Staatsrechts entzog. Also wies sie darauf hin, dass eine staatsrechtliche Behandlung politischer Probleme nicht ausreicht, um die komplexe Realität von Politik zu erfassen.
Neben der juristischen sollte daher auch ihre soziologische, ökonomische und philosophische Dimension einbezogen werden. Das war das Konzept der „Integrationswissenschaft“, mit dem sich die neue Politikwissenschaft gegenüber den etablierten Fächern
profilierte. Entsprechend fragte man in der Politikwissenschaft weniger nach dem
„Staat“, als vielmehr – nach angelsächsischem Muster – umfassender nach dem „politischen System“, welches alle oben genannten Aspekte beinhaltet. Der Staat war dabei
selbstverständlich als Bezugsgröße vorausgesetzt.5
4 Spätestens an dieser Stelle müsste auch ein Blick auf die empirische Demokratieforschung
geworfen werden, was hier nicht möglich ist. Sie hat in den vergangenen Jahrzehnten einen
erstaunlichen Aufschwung genommen (vgl. dazu zusammenfassend Roller 2004; Fuchs/Roller
2008).
5 Es mag dieser Perspektive geschuldet sein, dass die Politische Theorie die großen staatsrechtlichen Debatten über Rechts- und Sozialstaat und – damit im Zusammenhang – über den
dynamischen Charakter des Grundgesetzes (Abendroth und Forsthoff, später Böckenförde)
zwar rezipiert, aber selbst nur wenig thematisiert hat (Hartwich 1970). Ein ausdrücklich politiktheoretischer Impuls zur Verfassungstheorie geht erst neuerdings von den Arbeiten von Hans
Politische Theorie
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Er verblieb auch theoretisch in dieser Perspektive, auch wenn er zunehmend kritisch
hinterfragt wurde. Die 1950er und 1960er Jahre gelten als die Blütezeit des modernen
Staates, aber der Blick wurde doch bald skeptischer. Man nahm ihn entweder kritisch
ins Visier, weil er seine Aufgaben nicht mehr erfüllte oder man versuchte, mehr oder
weniger im Zusammenhang damit, ihn radikal und dahingehend zu entlarven, dass er
nur Verhinderer und Unterdrücker, nicht aber Förderer der Entfaltung seiner Bürger
sei.
Die erste Debatte wurde in den 1970er Jahren unter dem Stichwort „Regierbarkeit“
geführt (Hennis et al. 1977, 1979). Sie ging davon aus, dass der Staat immer weniger
dazu fähig sei, die zunehmend komplexeren Problemlagen der Politik zu bewältigen. So
wurde die Krise des Wohlfahrtstaates bereits Ende der 1970er Jahre zum Thema. Auch
Konservative waren zunehmend in Sorge geraten.
Legitimationsprobleme des Staates, die dessen Akzeptanz zunehmend verhinderten,
waren auch das Thema der zweiten, nun dezidiert staatskritischen Debatte, die unter
dem Stichwort „Spätkapitalismus“ oder überhaupt „Kapitalismus“ lief. Im Hintergrund
stand stets die Vorstellung des Staates als Herrschaftsinstrument. Aber damit ließ sich
unterschiedlich umgehen. Als Staat des „Spätkapitalismus“ konnte er definitionsgemäß
die Bedürfnisse seiner Bürger nicht befriedigen; vor allem fehlte ihm ihre reale Partizipation. Die Folge sollten, so wurde diagnostiziert, gravierende Legitimationsprobleme
sein, die wiederum zu krisenhaften Zuspitzungen führen müssten (Offe 1972; Habermas
1973). Der Staat konnte aber auch noch in eine fundamentale Kapitalismuskritik eingebettet werden, nämlich als Unterdrückungsinstrument der herrschenden Klasse. Im
Marx’schen Sinn erschien der Staat auf diese Weise als „ideeller Gesamtkapitalist“, der
alle Belange der Bürger rücksichtslos den Verwertungsinteressen des Kapitals unterwirft. Aus dieser Perspektive ging es wissenschaftlich nur mehr darum, den Staat und
seine Funktionen ordnungsgemäß aus dem „Kapital“ von Karl Marx abzuleiten. Die
„German Staatsableitungsdebatte“ wurde international berüchtigt – heute ist sie nur
mehr eine Episode in den Produktionen wissenschaftlicher Eigenlogik.6
Der entscheidende Einschnitt bestand in der Folge darin, den Staat überhaupt nicht
mehr als primäre Bezugsgröße zu betrachten. Es ist schon ein Paradox: Nachdem der
Staat in den 1970er Jahren in vielfältige Kritik geraten war, sollte er in den 1980er
Jahren unter dem Motto „Bringing the State Back In“ (Skocpol 1985) wieder positiv
aufgenommen werden – aber zugleich galt es Abschied zu nehmen von dem klassischen
Konzept, begann er doch empirischen Befunden zufolge allmählich zu „zerfasern“
(Hurrelmann et al. 2008).
Geradezu prominent für diese Entwicklung wurde der Begriff „Governance“, der
deutlich machen soll, dass Politik nicht mehr angemessen mit dem Muster eines souveVorländer und seinem Kreis im (inzwischen abgeschlossenen) Dresdener Sonderforschungsbereich „Institutionalität und Geschichtlichkeit“ aus. Vorländer unterscheidet eine instrumentelle und eine symbolische Dimension der Verfassung; aus Letzterer ergeben sich vielfältige
neue Perspektiven über die Macht der Verfassung und ihr Vertrauenspotenzial (Vorländer
2006).
6 Auch unter Marxisten in Deutschland war das nicht das letzte Wort. In der Folge wurden
Gramsci, Althusser und Poulantzas rezipiert, und mit dem Einzug von Foucault in die deutsche Debatte erlebten vor allem die „Gouvernementalitätsstudien“ eine Konjunktur.
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Gerhard Göhler et al.
rän agierenden Nationalstaats erfasst werden kann. Ursprünglich stammt Governance
aus der Ökonomie; politisch prominent wurde der Begriff durch die Erfahrungen mit
der EU, in der die politische Herrschaft auf mehrere Ebenen und unterschiedliche Akteure verteilt ist, ohne dass sich hier noch ein klares Souveränitätszentrum angeben
lässt. Angesichts dessen ergab sich eine Ausweitung der Perspektive vom klassischen
„Government“, welches dem Regieren im Nationalstaat entspricht, zur postklassischen
„Governance“, welche indizieren soll, dass Herrschaft nun diversifiziert ist (Benz 2004).
„Government“ wird dabei in zweierlei Hinsicht erweitert. Zum einen sind es nicht mehr
nur staatliche oder auf den Staat hin ausgerichtete Akteure, wie etwa die Parteien, welche die Politik bestimmen, sondern es kommen nichtstaatliche Akteure hinzu, die in
vielfältigen Kooperationsformen öffentliche Leistungen erbringen. Der Staat verliert
damit nicht vollständig seine Lenkungsfunktion, aber er wandelt sich vom „Herrschaftsmonopolisten“ zum „Herrschaftsmanager“ (Genschel/Zangl 2008). Zum anderen haben
sich die Steuerungsformen grundlegend verändert. An die Stelle von Hierarchien treten
zunehmend indirekte Formen der Steuerung, wie etwa Steuerung durch Anreize oder die
Einrichtung von Verhandlungsstrukturen, in der alle Betroffenen an der Entscheidung
mitwirken. Darüber hinaus kommt es zu Formen „weicher Steuerung“, in denen Hierarchien keine Bedeutung mehr haben, weil Steuerungsleistungen ohne das Sanktionspotenzial der Hierarchie erbracht werden (Göhler 2007; Göhler et al. 2009). Insgesamt
deckt der Begriff Governance nun nahezu alle nur irgend möglichen Formen des Regierens ab (Mayntz 2004: 66).
Diese Ausweitung des traditionellen Staatsbegriffs hat den Vorteil, dass sie erlaubt,
auch solche Formen des Regierens zu berücksichtigen, die nicht, noch nicht oder nicht
mehr dem Muster staatlicher Herrschaft folgen. Sie hat den Nachteil, dass sie beliebig
werden kann, wenn in Vergessenheit gerät, dass sie aus der doppelten Erweiterung des
Regierens im Nationalstaat resultiert. Wenn Regieren nun alles und jedes bedeuten
kann, geraten die Potenziale aus dem Blick, über die historisch allein der Staat verfügt.
Macht
Regieren, in welcher Form auch immer, bedeutet Ausübung von Macht. So war der
Begriff der Macht für das deutsche politische Denken von jeher ein Schlüsselbegriff.
Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde Macht in der „realistischen Wende“ der Politik (Rochau) zum Grundbegriff; „Machtstaat“ und „Machtpolitik“ wurden dementsprechend als Derivate gleichgesetzt. Max Weber hat denn auch Politik primär über das
Streben nach Macht definiert, und diese Definition blieb auch nach dem Zweiten Weltkrieg maßgeblich. Aber dies geschah doch mit bemerkenswerten Variationen. Im konservativen Denken erschien Politik nun der „Dämonie der Macht“ (Ritter 1948) ausgeliefert, als ein irrationales Phänomen, das nicht auch noch eine eigenständige „politische“
Wissenschaft zur Folge haben dürfte. Auch innerhalb der Politikwissenschaft wurden
deshalb von konservativer Seite eher Recht, Freiheit oder Ordnung als grundlegend
angesehen. Dagegen wurde ausgerechnet bei den „linken“ Gründervätern der deutschen
Politikwissenschaft, insbesondere bei Franz L. Neumann und Ossip K. Flechtheim,
Macht zum „sachlich-kritischen“ (Flechtheim 1958: 70) Grundbegriff der deutschen
Politische Theorie
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Politikwissenschaft. „Politik ist der Kampf um die Macht im Staate“, formuliert Franz
L. Neumann im Anschluss an Max Weber lapidar (Neumann 1950: 29).
Trotz all dieser Anklänge blieb die Diskussion über Macht in der deutschen Politischen Theorie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eher unterbelichtet. Den wichtigsten deutschen Beitrag scheint bereits Max Weber in den 1920er Jahren geliefert zu
haben. Seine Unterscheidung von „Macht“ und „Herrschaft“ – Macht als jede Chance
der Einflussnahme auf andere, Herrschaft als institutionalisierte und legitimierte Chance
der Machtausübung – hat sich als unverzichtbare Richtschnur erwiesen. Nur in der
Gesellschaftskritik der 1968er ist diese Unterscheidung verloren gegangen. Man wandte
sich pauschal gegen jegliche Machtausübung und kennzeichnete diese pejorativ als
„Herrschaft“, der man als Ideal die „herrschaftsfreie Gesellschaft“ gegenüberstellte.
Die heute meistdiskutierten Machtkonzepte sind nicht in Deutschland entstanden und
hier im Wesentlichen auch erst seit den 1980er Jahren rezipiert worden. International
aber hat sich seit den 1960er Jahren viel getan. So wurden verschiedene Formen der
Machtausübung gewissermaßen als Stufenfolge aufgedeckt – von offener Einflussnahme (Dahl) über versteckte Machtausübung durch Ausblendung heikler Themen (Bachrach/Baratz) bis hin zur Blockierung objektiver Interessen (Lukes). Demgegenüber stehen Parsons und Hannah Arendt für eine Sicht von Macht, die diese vor allem im
positiven Sinn als produktiv auszeichnet. Parsons argumentiert, dass Macht mehr ist als
ein Nullsummenspiel, weil ihre Ausübung produktive Effekte haben kann (so auch Luhmann 1975). Arendt hat in diesem Sinne die Macht der Gewalt gegenübergestellt, denn
Macht richte sich nicht auf die Beherrschung anderer, sondern bedeute die kommunikative Selbstermächtigung der Beteiligten. Später traten poststrukturalistische Ansätze
hinzu, die – wie etwa Foucault – die Machtverhältnisse ubiquitär, also in allen Lebenslagen und gesellschaftlichen Zusammenhängen, verorten oder – wie Bourdieu – die
Stellung des Individuums in der Gesellschaft von der symbolischen Macht abhängig
machen, welcher es in seinem Habitus unterliege. In einem stärker analytischen Sinn
wurde die Machtdiskussion durch die Unterscheidung von „power to“ und „power over“
beflügelt (Pitkin 1972: 277). Ersteres meint die Fähigkeit, Macht auszuüben, Letzteres
die tatsächliche Machtausübung. Diese Unterscheidung ist vor allem in der Theorie der
internationalen Beziehungen und in der feministischen Diskussion (Allen 1999) wichtig
geworden, denn Macht wirkt in diesem Verständnis nicht nur, wenn sie unmittelbar
ausgeübt wird, sondern bereits durch das Gewicht ihres Potenzials.7
Während man die Staatsdiskussion als eine sehr „deutsche“ Diskussion nachverfolgen kann, ist die Machtdiskussion vor allem durch internationale Vorgaben bestimmt.
Das gilt nun auch für einen weiteren Grundbegriff, der so gar nicht politikwissenschaftlich daherkommt und hier doch erhebliche Bedeutung erlangt hat.
7 Göhler (2009) hat diese Differenzierung zur Unterscheidung von transitiver und intransitiver
Macht weiterentwickelt. Transitive Macht richtet sich auf andere; intransitive Macht bezieht
sich auf die Beteiligten selbst, in ihrer Fähigkeit, eine Gemeinschaft zu konstituieren.
382
Gerhard Göhler et al.
System
In der deutschen Politikwissenschaft wurde der Systembegriff zunächst ganz alltagssprachlich verwendet: Man sprach vom „Regierungssystem“ oder später vom „politischen System“. So erschienen Bücher über das „Regierungssystem der Bundesrepublik
Deutschland“ (Ellwein) oder das „Amerikanische Regierungssystem“ (Fraenkel). Gegenüber einem engen staats- und verfassungsrechtlichen Zugriff ging es der Politikwissenschaft, entsprechend ihrem Selbstverständnis als Integrationswissenschaft, vor allem
um einen weiten Begriff des Regierens in seiner sozialen und historischen Bedingtheit,
und „System“ meinte dabei nicht mehr als das Zusammenwirken aller politischen Institutionen in einem „geordneten Zusammenhang“ (Lehmbruch 1967: 126).
Theoretisch allerdings wurde dann ein sehr viel präziserer Systembegriff prominent.
Jüngere Wissenschaftler, die erstmals durch Forschungsaufenthalte in den USA geprägt
waren, rezipierten dort die neue Systemtheorie – für die Politikwissenschaft verbunden
mit Namen wie Gabriel A. Almond, David Easton, Karl W. Deutsch und im weiteren
Sinne Talcott Parsons – und importierten sie nach Deutschland (Narr 1969; Naschold
1969). Insbesondere Eastons politische Systemtheorie wurde zum Paradigma. Selbst die
Freiburger Schule, die eher einem normativen Politikbegriff im Sinne der antiken politischen Philosophie anhing, schwenkte zur Systemtheorie über (Schmitz 1971). Politik
erschien nun als ein sich selbst steuerndes System, in dem der Willensbildungsprozess
der Bürger zu politischen Entscheidungen führt, die sich qua Exekutive und Verwaltung
wiederum auf die Bürger auswirken – eine Rückkoppelung von Output und Input, die
das politische System, genannt PAS (politisch-administratives System), entweder für die
Bürger zustimmungsfähig macht oder zu Krisen führt, also über seine Legitimation
entscheidet (Easton 1965a, 1965b; Habermas 1973). Der Systemtheorie wurde gern vorgeworfen, sie sei ahistorisch und stabilisiere den Status quo (Greven 1974); tatsächlich
wurde sie aber in Deutschland eher zu einem unspezifischen Allgemeingut im wissenschaftlichen Sprachgebrauch. Die Unterscheidung von Input und Output war so anschaulich, dass sie auch ohne eine spezifisch systemtheoretische Rückbindung zu hilfreichen
Präzisierungen verhalf, etwa zur Unterscheidung von Input- und Output-Legitimation.
Eine spezifische Reaktivierung der Systemtheorie erfolgte in den 1990er Jahren, als
Niklas Luhmann auch in der Politikwissenschaft wieder intensiver rezipiert wurde
(Hellmann 2004). Luhmann kümmerte sich dezidiert nicht um normative Fragen; ihm
ging es allein um eine angemessene systematische Beschreibung der Gesellschaft. Im
Anschluss an Parsons entwarf er eine funktionale Systemtheorie, in welcher er die moderne Gesellschaft als Kommunikationssystem in ihrer funktionalen Differenzierung
ausbuchstabierte. Diese Ausdifferenzierung bewirkt eine Vielzahl von autonomen, „autopoietischen“ Teilsystemen, zu denen unter anderen auch die Politik gehört. Entsprechend hat er sie in ihrer Funktion beschrieben, verbindliche Entscheidungen für das
Gemeinwesen zu treffen, ohne den anderen Teilsystemen doch übergeordnet zu sein und
direkt auf sie einwirken zu können (Luhmann 1981, 1986, 2000). Daraus resultiert
seine tiefe Skepsis gegenüber der Möglichkeit politischer Steuerung. Von der Politikwissenschaft ist er daher teils enthusiastisch, teils ablehnend aufgenommen worden (zur
Steuerung vgl. Scharpf 1989; Luhmann 1989). Trotz des gewissermaßen hermetischen
Politische Theorie
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Charakters der Denkweise und der Begrifflichkeit ist seine Systemtheorie nach wie vor
ein unübersehbar wichtiger Bestandteil der Theoriedebatten in der Politikwissenschaft.
Institution
Etwas eher als Luhmann, nämlich in den 1980er Jahren, hat die deutsche Politische
Theorie die Bedeutung der Institutionen entdeckt. Das ist erstaunlich, weil es die Politikwissenschaft von jeher mit Institutionen zu tun hat. In den Sozialwissenschaften wird
der Begriff, der seit der Antike geläufig ist, seit dem 19. Jahrhundert verwendet. Institutionen sind Einrichtungen, die bei allem Wandel für eine gewisse Dauer und Stabilität
stehen, seien sie formell oder informell. So reicht die Palette der politisch relevanten
Institutionen von Staat und Verfassung über Parlamente und Regierungen bis hin zu
politischen Parteien, Verbänden, Bürgerinitiativen und NGOs, schließlich auch zu gesellschaftlichen Institutionen, wie z. B. der Familie. Nun befasste sich zwar auch die
deutsche Politikwissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg mit Institutionen; aber sie
war bestenfalls Institutionenlehre, nicht Institutionentheorie: Sie beschränkte sich auf
die phänomenologische Beschreibung der Verfasstheit und der Funktionsweise einzelner
politischer Institutionen, ohne auf ihren spezifisch institutionellen Charakter und ihre
Wirkungsweise zu reflektieren. Institutionentheorie, wie sie von der Soziologie auch in
Deutschland angeboten wurde (z. B. von Gehlen, Schelsky, auch Hauriou), lief eher
unbeachtet nebenher (Göhler 1987).
Seit Mitte der 1960er Jahre wurden Institutionen in doppelter Weise obsolet. Zum
einen galten sie seit der „szientifischen Wende“ der Politikwissenschaft (siehe Fn. 1) als
Gebilde, die für die Systemtheorie nicht abstrakt genug, für die empirische Untersuchung individuellen Verhaltens aber zu abstrakt und formalistisch waren. Ein Rückbezug auf Institutionen wirkte daher schlicht altmodisch. Zum anderen gab die kritische,
zunehmend marxistisch orientierte Politikwissenschaft dieser Abneigung noch eine normative Wende. Institutionen galten als Herrschaftsinstrumente, welche die Emanzipation
behinderten und daher im Zuge allgemeiner Herrschaftskritik tunlichst zum Verschwinden gebracht werden sollten.
Ein Umdenken ging in Deutschland gerade von dieser letzteren Position aus. Die
Vernachlässigung politischer Institutionen erwies sich im Laufe der 1970er Jahre nicht
nur praktisch als wenig brauchbar (stattdessen wurde zur Gesellschaftsveränderung der
„Marsch durch die Institutionen“ propagiert); auch theoretisch wurden Institutionen
zum Gegenstand der Reflexion (Bermbach 1983). Damit befand man sich im Einklang
mit dem internationalen Mainstream. Unter dem Stichwort „Neo-Institutionalismus“ begann in den 1980er Jahren in den Sozialwissenschaften generell eine theoretische Rückbesinnung auf Institutionen. Grundlegend für die internationale Diskussion wurden die
Arbeiten von March und Olson (1984, 1989), die in einem interdisziplinären Zugriff die
Bedeutung von Institutionen zur Ausgestaltung von Normen, Identitäten, Interessen und
Überzeugungen einer Gesellschaft herausstellten. Die neue Aufmerksamkeit stand sicherlich in Zusammenhang mit der Staats-Renaissance in der Politikwissenschaft der 1980er
Jahre, denn der Staat ist eine politische Institution par excellence; sie trug dem Paradox
der Wiederentdeckung des Staates aber von Anfang an Rechnung. March und Olson
sahen die Rolle des Staates zunehmend relativiert und wollten ihn daher nur noch als
384
Gerhard Göhler et al.
eine der vielen Institutionen behandelt wissen, welche Gesellschaft und Politik bestimmen. In Deutschland entstand aus der Sektion „Politische Theorie und Ideengeschichte“
der DVPW in Anknüpfung insbesondere an die Theorie der Institutionengründung von
Arnold Gehlen das DFG-Schwerpunktprogramm Theorie politischer Institutionen (Rehberg 1990; Göhler 2001). Während hier von vornherein unterschiedliche Ansätze integriert wurden, war der Mainstream der internationalen Diskussion vor allem durch zwei
miteinander konkurrierende Perspektiven bestimmt – durch den ökonomischen und den
(organisations-)soziologischen Institutionalismus. Einer rationalistischen Sichtweise,
die vor allem nach den Kalkülen der Individuen fragt, steht so eine kulturalistische
Sichtweise gegenüber, die das Handeln von Individuen und Organisationen in übergreifende soziokulturelle Zusammenhänge einordnet. In die deutsche Theoriebildung haben
weder die Institutionenökonomie noch die rein kulturalistische Sichtweise vollständig
Eingang gefunden. Hier bildete sich vielmehr ein „historischer Institutionalismus“
heraus (Immergut 1997), der die ökonomisch inspirierte Vorstellung von der Pfadabhängigkeit institutioneller Entwicklungen sehr wohl mit wegweisenden Entscheidungen
einzelner Akteure im soziokulturellen Kontext zu verbinden wusste. Vor allem aber
wurde der „akteurzentrierte Institutionalismus“ (Mayntz/Scharpf 1995) prominent. Er
fasste in griffiger Weise die Beweggründe institutioneller Akteure zusammen: Sie handeln nach ihrem rationalen Kalkül, zugleich aber auch im institutionellen Kontext gesellschaftlicher Regelungen und kulturell geprägter Werte.8
2.2 Normative Leitideen
Normative Leitideen bezeichnen die grundlegenden Prinzipien, Werte und Ziele politischer Ordnungen. Zugleich dienen sie dazu, kritisch über deren Legitimität – oder eben
auch Illegitimität – zu befinden. Nach der Erfahrung des Zivilisationsbruchs durch den
Nationalsozialismus orientierte sich die deutsche Politische Theorie der 1950er und
1960er Jahre ganz selbstverständlich an normativen Leitideen, die einem erneuten
Rückfall in die Barbarei wehren sollten. Sie rekurrierte dabei vor allem auf die Klassiker der griechischen Antike, insbesondere auf Platon und Aristoteles. Auch diese hatten
ja auf die Krise der attischen Polis mit einer Betonung des auf das Gute und Gerechte
ausgerichteten Wesens des Menschen geantwortet. Politisch im Vordergrund stand in der
unmittelbaren Nachkriegszeit so die normative Begründung der Demokratie im Gegensatz zu Faschismus und Kommunismus. Das gilt für so unterschiedliche Denker wie
Dolf Sternberger, Arnold Bergstraesser und später Alexander Schwan, zudem für die
zumindest zeitweise im Exil lehrenden Eric Voegelin und Leo Strauss sowie – eher
phänomenologisch orientiert – für Hannah Arendt.
Mit dem Beginn der 1960er Jahre gerieten normative Fragestellungen dann unter
Druck. Einerseits geschah dies durch das naturwissenschaftliche Selbstverständnis des
8 In institutionentheoretischer Systematik hat Göhler (1997, 2004) den Vorschlag gemacht, das
Verhältnis von Akteuren und Institutionen mitsamt ihrem Kontext als „institutionelle Konfiguration“ zu fassen. Politische Institutionen mit ihren Akteuren stehen zu ihren Adressaten,
den Bürgern, in wechselseitigen Machtbeziehungen, zugleich repräsentieren sie ihren politischen Willen und ihre Wert- und Ordnungsvorstellungen.
Politische Theorie
385
aus den USA importierten Behavioralismus. Andererseits erlebten spätestens mit dem
Beginn der Studentenrevolte (neo-)marxistische Ansätze eine Konjunktur. Diese setzten
sich zwar für eine angeblich bessere Gesellschaft ein, taten aufgrund ihres „wissenschaftlichen“ Selbstverständnisses normative Fragen oftmals als bloße Überbauphänomene ab. Reflektiertere Formen der Ideologiekritik bezogen sich demgegenüber – im
Anschluss an Arbeiten der Frankfurter Schule, etwa von Franz L. Neumann (Iser/Strecker 2002), – auf die immanenten Prinzipien des demokratischen Rechtsstaates. Diese
galten jedoch als noch nicht eingelöst, wie man besonders prominent bei Wolfgang
Abendroth und dem jungen Jürgen Habermas (1962) sehen kann. Hieraus entwickelte
sich mit der normativen Diskurstheorie ein genuin deutscher Theorieansatz in der Tradition der Frankfurter Schule (Habermas 1983; Wellmer 1986), der sich mit der Münsteraner Ritterschule um Hermann Lübbe, Odo Marquard und Robert Spaemann durchaus erbitterte Auseinandersetzungen lieferte. Letztere vertrauten eher auf den common
sense und das aristotelische Konzept der Mitte, welches in jedem Extrem ein Abweichen vom angemessenen politischen Urteil erblickt. Anhand dieser Konzepte sollte der
Status quo der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft gerechtfertigt – und eben
gerade nicht radikal transformiert – werden (Hacke 2006). Schließlich rekurrierten andere, wie Otfried Höffe und Wolfgang Kersting, auf die Vertragstheorien der Neuzeit.
Damit nahmen sie einen Trend auf, der von John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit
(1975) ausging und in der internationalen Debatte für eine unverhoffte Renaissance
normativer Fragen sorgte; auch wenn diese Debatte erst mit erheblicher Verzögerung
– nämlich frühestens mit dem Beginn der 1980er Jahre – Deutschland erreichte.
Neben dem Begriff der Gerechtigkeit konzentrieren wir uns im Folgenden auf die
Konzepte des Gemeinwohls und der Anerkennung, die als alternative Leitideen diskutiert werden. Bei dieser Darstellung werden weniger die historischen Entwicklungen als
die systematischen Kontroversen im Vordergrund stehen. Wir folgen damit jenem Stil,
der die Diskussionen innerhalb der normativen Politischen Theorie weitestgehend
prägt.
Gerechtigkeit
Obgleich der Begriff der Gerechtigkeit von jeher einen wichtigen Referenzpunkt der
normativen Politischen Theorie darstellt, hat er sein Primat gegenüber dem der Freiheit
vor allem durch das Werk von John Rawls wiedergewonnen (Hofmann 1997). Die Pointe
des Rawls’schen Vorgehens besteht ja gerade darin, den Begriff der Gerechtigkeit als
Klammer für jene Konzepte von Freiheit und Gleichheit zu verwenden, die in den Theoriediskussionen der 1950er und 1960er Jahre allzu oft in einen sterilen Gegensatz geraten waren. Im Rawls’schen Urzustand, hinter jenem Schleier des Nichtwissens, der die
Idee der Unparteilichkeit versinnbildlicht, votieren die rational Entscheidenden nicht
nur für gleiche Grundfreiheiten, sondern auch für das Differenzprinzip. Diesem zufolge
müssen alle Ungleichheiten in der Verteilung von Grundgütern, die innerhalb der gesellschaftlichen Grundstruktur auftreten, auch den Schlechtestgestellten nutzen.
Viele der nun folgenden Debatten klagten Aspekte ein, die hinter Rawls’ Schleier
nicht berücksichtigt worden waren. Den Auftakt machte die Betonung der individuellen
Leistung durch Libertäre (Nozick 1976), die in der durch das Differenzprinzip notwen-
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Gerhard Göhler et al.
dig werdenden Besteuerung einen ungerechten Eingriff in die Freiheitsrechte der Tüchtigen und Talentierten sehen und diese mit Zwangsarbeit gleichsetzen. Die Equality-ofwhat-Debatte der 1980er Jahre teilte demgegenüber Rawls egalitäre Grundintuition,
bezweifelte aber, dass Grundgüter die angemessene Einheit seien. Stattdessen sollten
Ressourcen (Dworkin 1981; Ladwig 2000), bestimmte wünschenswerte Zustände, etwa
das Wohlbefinden (Arneson 1994), oder grundlegende Fähigkeiten bzw. capabilities
(Sen 1992; Nussbaum 1999) gleich verteilt werden. Je nach Auffassung unterscheiden
sich dann auch die politischen Antworten auf so dringende Fragen wie die nach der
Gerechtigkeit eines arbeitsunabhängigen Grundeinkommens (Vanderborght/van Parijs
2005) oder nach den normativen Prinzipien des Sozialstaates (Nullmeier 2000).
Weil Kriterien der Verteilung notwendigerweise umstritten sind, ist zudem als grundlegende Alternative vorgeschlagen worden, Gerechtigkeit als wechselseitigen Tausch
von Freiheitsrechten zu konzipieren (Höffe 1987). Schließlich wurde angesichts der
Krise des Wohlfahrtsstaates zu Beginn des neuen Jahrtausends bezweifelt, dass Gleichheit überhaupt einen zu verfolgenden Wert darstellt. Das Gleichheitsstreben drücke lediglich das Gefühl des ressentimentgeladenen Neides aus und verlange oftmals gar eine
Angleichung an das jeweils niedrigere Niveau. Stattdessen solle man sich auf ein zu
gewährleistendes Minimum für ein gutes Leben konzentrieren (Krebs 2000; vgl. aber
Kymlicka 1997).
Nun ist Rawls’ Ansatz, wie alle bisherigen Vertragstheorien auch, nur auf eine einzelne staatliche Ordnung bezogen. Fragen der internationalen Gerechtigkeit beschränkten sich daher sehr lange auf den Kontext kriegerischer Auseinandersetzungen (Walzer
1982), später dann auf das Thema der humanitären Intervention (Merkel 2000). Angesichts der zunehmenden globalen Verflechtung hat das Problem der internationalen Verteilungsgerechtigkeit in den vergangenen Jahren dann einen enormen Boom erlebt.
Charles Beitz und Thomas Pogge waren mit die ersten, die versuchten, die Idee des
Urzustands in kosmopolitischer Weise auf den ganzen Globus anzuwenden (Beitz 1979;
Pogge 1989). Während für sie das einzelne Subjekt der Bezugspunkt bleibt, weil es
moralisch zufällig sei, in welchem Land wir geboren werden, halten die „Etatisten“ die
Mitgliedschaft in einem staatlichen Gemeinwesen für moralisch relevant. Die hierfür
angeführten Gründe variieren freilich erheblich: von dem pragmatischen Zugeständnis,
dass die Welt nicht nur von liberalen Gesellschaften bevölkert ist (Rawls 2002) über die
Idee nationaler Selbstbestimmung als einer besonders wichtigen Form der positiven
Freiheit (Miller 1997) bis hin zur Bedeutung wechselseitigen Zwangs für die Konstitution reziproker Verpflichtungen (Nagel 2005). Hier dient die anglo-amerikanische Diskussion erneut als Vorbild, wenngleich in neuerer Zeit interessante Beiträge aus Deutschland zu verzeichnen sind (Habermas 1998; Höffe 1999; Merle/Gosepath 2002).
An den substanziellen Bestimmungen der Rawls’schen Gerechtigkeitstheorie und den
sich an sie anschließenden Debatten wurde jedoch bald kritisiert, sie griffen den Entscheidungen der Bürger vor. Man solle stattdessen die Bedingungen fairer Diskurse
reflektieren, deren Ergebnisse sodann die Vermutung der Vernünftigkeit für sich hätten.
Aus diesem Grund hat Habermas im Anschluss an Karl-Otto Apel die Idee der herrschaftsfreien Verständigung als normativen Kern einer prozeduralen Gerechtigkeitskonzeption ausgearbeitet. Besonderes politisches Augenmerk gilt hierbei der Idee einer
vitalen Öffentlichkeit, die als Sensorium für gesellschaftliche Probleme fungiert (Haber-
Politische Theorie
387
mas 1992b; Peters 2007). Das Prinzip der öffentlichen Autonomie oder Nicht-Beherrschung liegt auch republikanischen Ansätzen zugrunde (Pettit 1999). Demnach ist auch
dann keine Freiheit gegeben, wenn ein wohlwollender Despot gerechte Regelungen
gewährt, weil er diese jederzeit willkürlich zurücknehmen kann. Daher sollen Bürgerinnen und Bürger über die politische Freiheit verfügen, sich gemeinsam auf allgemein
zustimmungsfähige Gesetze zu einigen.
Grundsätzlich wurde aus poststrukturalistischer Perspektive an der Ausrichtung am
Gerechtigkeitsbegriff kritisiert, dass dieser der individuellen Person bzw. dem konkreten
Fall niemals gerecht werden könne. So scheint bei Emmanuel Lévinas die – uneinlösbare – Forderung auf, jedem einzelnen Menschen mit einer Sensibilität und Fürsorge zu
begegnen, die dessen einzigartiger Bedürftigkeit gerecht wird. Jacques Derrida verweist
demgegenüber auf die notwendige Willkür bei der Etablierung von universellen Normen
und deren Anwendung auf den Einzelfall. Deshalb ist Gerechtigkeit ihm zufolge im
emphatischen Sinn niemals erreichbar (Derrida 1991; Haverkamp 1994).
Gemeinwohl
Von Beginn an wurde die angeblich abstrakte Natur des Rawls’schen Unterfangens aus
einer hegelianischen Perspektive kritisiert, die die normativen Leitideen aus einer konkreten Sittlichkeit gewinnen will. Einflussreich waren dabei vor allem jene Ansätze, die
unter dem allzu vereinheitlichenden Namen „Kommunitarismus“ subsumiert wurden.
Diese haben in unterschiedlicher Weise die Bedeutung einer (gemeinsamen) Konzeption
des Guten bzw. des Gemeinwohls gegenüber dem Gerechten hervorgehoben.9 Der Bürger sei kein „ungebundenes Selbst“ (Sandel 1982), sondern immer schon auf kulturelle
Bedeutungen und Praktiken angewiesen gewesen. So wenig kontrovers dieser sozialontologische Punkt in der Folge gewesen ist, so blieb doch umstritten, was daraus normativ folgt (Forst 1994).
Grundsätzlich wollen Kommunitaristen Gerechtigkeitsprinzipien nicht abstrakt postulieren, sondern aus den bereits vorhandenen Werten (Walzer 1992) bzw. Praktiken
(MacIntyre 1987) einer spezifischen Gesellschaft oder aus der normativen Infrastruktur
der Moderne als solcher gewinnen (Taylor 1996). Gegen ein Verständnis negativer Freiheit (Berlin 1995), das sich von vornherein mit der wechselseitigen Akzeptanz subjektiver Freiheitsspielräume zufrieden gibt, wird von kommunitaristischer Seite eingewandt, dass nicht jede Freiheitseinschränkung gleich relevant sei. Deshalb müsse man
doch auf Ideen eines (zumindest schwachen) Guten bzw. eines Begriffs der positiven
Freiheit (Taylor 1988) zurückgreifen. Dies sei spätestens dann notwendig, wenn es um
politische Programme gehe.
Umstritten blieb jedoch, ob angesichts des weltanschaulichen Pluralismus ein gemeinsames Verständnis des kollektiven Guten überhaupt noch erreichbar sei, und wenn
ja, wie substanziell dieses ausfallen könne, ohne wiederum die Freiheit des Einzelnen
zu beeinträchtigen. Diese Debatte um das Gemeinwohl konnte in Deutschland an eine
Tradition anknüpfen, in der sich substanzielle Positionen, etwa des Sozialismus oder der
katholischen Soziallehre, und prozedurale Theorien, wie etwa der Neopluralismus von
9 Als Einführung in den Kommunitarismus ist Honneth (1994) besonders geeignet.
388
Gerhard Göhler et al.
Ernst Fraenkel (vgl. Abschnitt 2.1), kritisch gegenüberstanden. Angesichts der Frage,
auf welche Art von Gründen man sich in Prozeduren stützen kann, um allgemeine Zustimmungsfähigkeit zu erreichen, sind neben Konzeptionen des Guten und Gerechtigkeitsprinzipien, die für eine respektvolle Toleranz angesichts ethischer und religiöser
Differenzen eintreten (Forst 2003), immer wieder – mehr oder weniger dichte – anthropologische Vorstellungen ins Spiel gebracht worden (Jörke/Ladwig 2009).
Zugleich wurde kritisch darauf hingewiesen, dass die Offenheit dieses Begriffs hinreichend Spielraum für strategische Kämpfe zulasse, in denen es partikulare Interessen
sind, die sich als allgemeine ausgeben. Allerdings stehen in diesem Fall auch eigenutzorientierte Akteure unter erhöhtem Rechtfertigungsdruck. Sie dürfen nicht nur die eigenen Vorstellungen vertreten, sondern müssen tatsächlich auch die anderen Interessen
berücksichtigen (umfassend Münkler et al. 2001/2002).
Letztlich verweist die Debatte um das Gemeinwohl auf die Frage, welche soziokulturellen Grundlagen der demokratische Rechtsstaat benötigt, um seine Bürger zur
Regelbefolgung motivieren zu können. Rational-Choice-Ansätze10 gehen davon aus,
dass man hierbei an die gegebenen Präferenzen von Individuen oder auch Kollektivakteuren anschließen müsse, um deren Handlungen durch bestimmte Anreizstrukturen
aufeinander abzustimmen. Innerhalb dieses Paradigmas wurde denn auch breit die Debatte um die Probleme kollektiven Handelns geführt, insbesondere darüber, wie die
Möglichkeit des Trittbrettfahrens ausgeschlossen werden kann. In Reaktion auf gesellschaftliche Desintegrationsprozesse hat daher der Begriff des Vertrauens Furore gemacht (Hartmann/Offe 2001; Schmalz-Bruns/Zintl 2002). Umstritten blieb jedoch, ob
sich Vertrauen allein durch die stete Befolgung von Regeln erzeugen lässt (Ostrom
1999) oder ob man nicht doch auf internalisierte Bürgertugenden setzen muss, die sich
aus einer Konzeption der Gerechtigkeit oder des Guten speisen. Bald schon spitzte sich
daher die Diskussion auf die Frage zu, ob der politische Prozess diese Tugenden im
Sinne einer Zivilreligion oder des Verfassungspatriotismus selbst erzeugen kann, z. B.
durch institutionelle Verfahren, oder ob man doch auf vorpolitische Zusammenhänge
angewiesen bleibt (Böckenförde 1976: 60). Als vorpolitisch kann man aber traditionelle Wertvorstellungen – und hier wurde in der deutschen Debatte immer wieder die
Religion als notwendiges Ferment gesellschaftlicher Solidarität ins Spiel gebracht –
ebenso begreifen wie das Entgegenkommen rationalisierter Lebenswelten im Kontext
einer vitalen Zivilgesellschaft. Damit verknüpft ist auch die Frage, wie viel Solidarität
demokratische Wohlfahrtsstaaten benötigen, um die Bürger für die notwendigen Umverteilungen motivieren zu können (Bayertz 1998).
Anerkennung
Ende der 1970er und zu Beginn der 1980er Jahre griff man auf den Hegel’schen Anerkennungsbegriff zurück, um eine neue normative Leitidee zu etablieren (Siep 1979;
Wildt 1982). Eine politische Konjunktur erfuhr dieser Ansatz zudem im Kontext der
10 Vgl. generell zu diesem auf der Mikro-Ebene operierenden Ansatz, der analog zur Ökonomie
das nutzenrational kalkulierende Individuum zum Ausgangspunkt der Analyse von Handlungen macht: Gabriel (1978), Lehner (1981) sowie vermittelnd Zintl (1990).
Politische Theorie
389
Multikulturalismusdebatte zu Beginn der 1990er Jahre, weil sich hier Menschen für die
Anerkennung ihrer (besonderen) Identität einsetzten.
Während die liberale Gerechtigkeitstheorie Minderheitenrechte vor allem als Sicherung der kulturellen Voraussetzungen individueller Autonomie versteht und somit ohne
Bezug auf den intrinsischen Wert der jeweiligen Kultur auskommt (Kymlicka 1989),
muss man der kommunitaristischen Gegenposition zufolge zumindest darauf hinwirken,
den Eigenwert der anderen Kultur anzuerkennen (Taylor 1993). In beiden Fällen ist man
allerdings mit dem Problem konfrontiert, dass die Zusicherung von Gruppenrechten
hegemoniale Deutungen innerhalb von Kollektiven festschreiben kann, womit die Integrität – in extremen Fällen die Menschenwürde – des Individuums in Gefahr gerät.
Deshalb halten poststrukturalistisch inspirierte Ansätze die Rede vom Multikulturalismus überhaupt für problematisch und setzen eher auf die Dekonstruktion von (kulturellen) Identitäten und deren Hybridisierung (Fraser 2003: 103).
Es stellt sich also die Frage, in Bezug auf welche Eigenschaften Menschen wechselseitig (und von der politischen Ordnung) anerkannt werden sollten. Axel Honneth, der
die Tradition der Kritischen Theorie mit diesem Begriff als neuem normativen Fundament fortführt, will nicht nur die engen Grenzen der Identitätspolitik, sondern auch die
der klassischen Gerechtigkeitsperspektive überwinden. Hierzu unterscheidet er zwischen den drei Dimensionen der Liebe, des Rechts und der Solidarität (später: Leistung),
in der jeweils unterschiedliche Aspekte eines autonomen Subjekts anerkannt werden
(Honneth 1992). Vorstellungen der Fürsorge-Ethik werden hierdurch mit denen des
Kommunitarismus und des politischen Liberalismus unter einem Dach zusammengeführt (Honneth 2000). Nur durch eine soziale und politische Ordnung, die diese umfassende Anerkennung gewährleistet, sollen die Subjekte die innere Freiheit gewinnen,
ohne Scham zu den eigenen Wünschen und Projekten stehen zu können. Zugleich soll
die Kritische Theorie hiermit sozialen Widerstand besser verstehen können, weil sich
Subjekte vor allem über die Missachtung ihrer Identität empören (Iser 2008). Allerdings
ist selbst gegenüber diesem umfassenden Ansatz der Vorwurf erhoben worden, er konzentriere sich allzu sehr auf Identitätsfragen und könne Probleme der Verteilungsgerechtigkeit nicht angemessen erfassen (Fraser 2003).
Grundsätzlicher noch ist eingewandt worden, Anerkennungskämpfe seien viel enger
mit Fragen der Macht verknüpft als oftmals angenommen (van den Brink/Owen 2007).
Unser Anerkennungsstreben würde uns nur immer tiefer in falsche Abhängigkeiten verstricken, weil uns die urteilende Instanz vor die Wahl zwischen Gehorsam und den
Verlust unserer sozialen Existenz stellt (Althusser 1977; Butler 2001).
Ganz anders verwenden den Anerkennungsbegriff daher jene, die ihn in einem minimalistischen Sinne auf den Begriff der Menschenwürde beziehen, negativ gewendet
auf jenen der Entwürdigung (Margalit 1997; Schaber 2003; Stoecker 2003). Der Menschenwürdebegriff war aufgrund seiner prominenten Stellung innerhalb des Grundgesetzes in der juristischen Diskussion seit 1945 ein zentraler Referenzpunkt, weniger
jedoch innerhalb der Politischen Theorie. Als Missachtungen gelten hier besonders
fundamentale Rechtsverletzungen, die den Betroffenen das Menschsein selbst absprechen. Die Selbstbeschränkung einer solch „negativen Politik“ soll den normativen
Standards besonderen Nachdruck verleihen. Derart minimalistische Ansätze begnügen
sich denn auch in Bezug auf Fragen der globalen Gerechtigkeit damit, weltweit akzep-
390
Gerhard Göhler et al.
table Mindeststandards humanitärer Moral zu etablieren (Ignatieff 2002; ähnlich Kersting 2000).
Der Minimalbegriff der Menschenwürde hat in drei weiteren wichtigen Kontexten
eine zentrale Rolle gespielt: Erstens wurde gefragt – vor allem innerhalb der Debatten
um Abtreibung und gentechnologische Eingriffe –, ab wann dem Menschen Würde zukommt und in welchem Maße (Spaemann 1987; Damschen/Schönecker 2003). Zweitens ist in letzter Zeit die lange tabuisierte Frage aufgeworfen worden, ob die Menschenwürde jemals eingeschränkt bzw. verletzt werden dürfe, etwa im Namen konkurrierender
Werte wie dem der Sicherheit. Hitzig diskutiert wurde dies angesichts der sogenannten
„Rettungsfolter“ (Beestermöller/Brunkhorst 2006). Und schließlich war umkämpft, ob
bioethische Neuerungen wie die genetische Manipulation zukünftiger Generationen im
Rahmen der uns bekannten liberalen Konzepte behandelt werden können (Buchanan et
al. 2000) oder eine fundamentale Herausforderung für zentrale Begriffe wie Freiheit und
Gleichheit darstellen – und damit für unser normatives Selbstverständnis (Habermas
2001; Karnein 2009).
2.3 Neue Thematisierungen
Politik und Gesellschaften waren nie statisch. Daher ist es kaum verwunderlich, dass
auch die Politische Theorie seit Anbeginn von konstanten Wandlungsbewegungen geprägt ist. Dies zeigt sich zum einen anhand der Debatten und Theorieentwicklungen, die
im Zusammenhang mit traditionellen Ordnungsbegriffen und mit normativen Leitideen
stattgefunden haben. Hier werden zwar immer wieder „alte“ Fragen gestellt, etwa nach
angemessenen Modellen der Demokratie oder nach den Bedingungen für eine gerechte
Gesellschaftsordnung. Aber diese Fragen sind stets auf neue Weise formuliert worden.
Zu den Gründen für derartige Verschiebungen zählt neben differierenden Weltanschauungen der Theorieschaffenden und sich verändernden analytischen Zugängen eben auch
die Notwendigkeit, auf historische Entwicklungen zu reagieren. Zum anderen zeigt sich
die Dynamik der Politischen Theorie daran, dass immer wieder gänzlich neue Fragen
gestellt werden, die neue Sachverhalte auf die Agenda setzen und damit das Themenspektrum der Teildisziplin modifizieren und erweitern. Das gilt für ihre Ordnungsbegriffe ebenso wie für ihre normativen Leitideen, wobei die Begriffe, die für neue Thematisierungen stehen, oftmals Ordnungselemente und normative Elemente integrieren.
Darüber hinaus werden sie häufig im Zusammenhang von international und transdisziplinär geführten Auseinandersetzungen etabliert, die auf diese Weise auch der Politischen Theorie zu neuen Allianzen verhelfen.
Als Movens dieser zweiten Variante der theoretischen Innovation lassen sich mindestens drei verschiedene Ursachen ausmachen: erstens die schon angeführten historischen
Entwicklungen, die zu Konstellationen führen, in denen die überkommenen Deutungsund Problemlösungsstrategien nicht mehr in der Lage sind, ihre Aufgaben zu erfüllen.
Exemplarisch sei hier auf Globalisierungsprozesse und ihre Implikationen im Bereich
der politischen Steuerung verwiesen; Entwicklungen, die neue, nicht zuletzt postnationale Formen gesellschaftlicher Analysen ebenso erfordern wie die Entwicklung, Erprobung und Kritik neuer Modelle von Governance, die auf den Nationalstaat als Zentralinstanz verzichten. Als zweite Ursache neuer Thematisierungen sind theoretisch-philo-
Politische Theorie
391
sophische Entwicklungen zu nennen. Wenn diese radikal genug ausfallen, sind sie in
der Lage, neue Grundbegriffe zu etablieren und auf diese Weise theoretische Debatten
auf ganz neuem Terrain zu entfachen. Beispielhaft sei hier der – vor allem während der
1980er und 1990er Jahre oftmals unter dem Stichwort der „Postmoderne“ verhandelte –
Poststrukturalismus genannt, der nicht zuletzt Diskurse und die Formierung von Subjektivitäten als von Macht durchzogene Prozesse ausgewiesen und damit zu zentralen
Gegenständen politiktheoretischer Reflexion erhoben hat. Eine dritte Ursache schließlich ist die erfolgreiche Politisierung und Theoretisierung von Sachverhalten, die bis
dato vom politischen Kanon ausgeschlossen waren. Hier kann beispielhaft der im Zuge
der Frauenbewegungspolitik entstandene akademische Feminismus angeführt werden,
der mittlerweile bezogen auf die Untersuchungsgegenstände fast aller universitären Disziplinen Analysen ihrer geschlechtlichen Verfasstheit und Implikationen durchführt und
dem in diesem Sinne auch die Politische Theorie entscheidende Impulse verdankt.
Im Folgenden stehen drei Begriffe im Mittelpunkt, die auf je unterschiedliche Weise
neue politiktheoretische Thematisierungen anzeigen. Wir beginnen mit Geschlecht, einem Begriff, der nicht nur selbst umkämpft ist, sondern zudem querschnittshaft auf
vielfältige andere Bereiche der Politischen Theorie bezogen wird und dort für neue
theoretische Herausforderungen sorgt. Von dort aus gehen wir über zu Diskurs, einem
Thema, das sich vornehmlich innertheoretischen Innovationen verdankt, und enden mit
Globalisierung, einem Begriff, der für veränderte empirische Bedingungen steht.
Geschlecht
Als „Geschlecht“ in den 1970er Jahren zum Thema der Politischen Theorie wurde, war
einer der ersten Befunde, dass geschlechtliche Differenzierungen im politischen Denken
schon immer eine wichtige Rolle gespielt haben – allerdings oftmals eher, um verschiedene Formen von Ungleichbehandlung, Stratifikation und Segregation zu legitimieren,
als um sie zu kritisieren. Zu den ersten Projekten der feministischen Politischen Theorie
zählte dementsprechend auch eine kritische Revision der Ideengeschichte. Deren Ziel
war zunächst, geschlechtliche Differenzierungen und daraus abgeleitete Hierarchisierungen in den kanonisierten Texten der Disziplin aufzudecken und hinsichtlich ihrer
jeweiligen theoretischen und praktischen Implikationen zu befragen. Deutlich wurde
dabei, dass die weitgehende Exklusion von Frauen aus den Sphären der Politik und
Öffentlichkeit durch die Kombination von androzentrischen Konzeptionen des Menschen bzw. Bürgers und davon abweichenden, stark mit Mütterlichkeit assoziierten und
auf diese Weise naturalisierten Weiblichkeitsentwürfen legitimiert wurde. Während
Mensch- bzw. Männlichkeit mit Eigenschaften wie Autonomie und Rationalität assoziiert wurde, verband man Weiblichkeit mit Charakteristika wie Bindungsbezogenheit,
Fürsorglichkeit und Emotionalität, mit Eigenschaften also, die für ein privates, familienbezogenes Leben geradezu prädestinierten.11 Derartige Zusammenhänge hinsichtlich
ihrer Konstanzen und Verschiebungen historisch nachzuvollziehen, war jedoch nicht das
11 Vgl. für wichtige frühe Überblickstexte Schaeffer-Hegel (1988), Benhabib/Nicholson (1987)
und die Auswahlbibliographie von Klinger (1990), an neuerer Literatur außerdem Rauschenbach (1998) und Rosenzweig (2005).
392
Gerhard Göhler et al.
einzige Ziel der feministischen Revision des ideengeschichtlichen Kanons. Zusätzlich
ging es bei diesem Unterfangen darum, den methodologischen Androzentrismus anzuprangern, der den malestream der Politischen Theorie prägte – und mitunter heute noch
prägt.
Um diesen Tendenzen entgegenzuwirken, nahmen sich feministische Politiktheoretikerinnen und einige ihrer Kolleginnen aus benachbarten Fächern – nach wie vor sind
hier in der Mehrheit Frauen engagiert, auch wenn Vieles dafür spräche, dass Geschlechtergerechtigkeitsdefizite nicht länger solchermaßen performativ zu Frauenthemen und
-problemen gemacht werden – in der Folgezeit so gut wie aller Fragestellungen der
Teildisziplin an. Es entstanden Arbeiten zu Begriffen wie Demokratie und Staat (vgl.
Biester et al. 1994; Kerchner/Wilde 1997; Holland-Cunz 1998; Sauer 2001), Macht
(vgl. Penrose/Rudolph 1996), System (vgl. Pasero/Weinbach 2003) und besonders in
den USA auch zu Gerechtigkeit, Anerkennung und Multikulturalismus (vgl. Young
1990; Benhabib 1999; Fraser 2001).
Neben diesen Arbeiten an politiktheoretischen Einzeldiskussionen wurden im Rahmen der feministischen Politischen Theorie zudem Ansätze und Entwürfe einer feministischen Gesellschaftstheorie entwickelt. Anfangs geschah dies vor allem in kritischer
Auseinandersetzung mit dem Marxismus, später auch mit weiteren theoretischen Ansätzen wie Psychoanalyse und Poststrukturalismus. Tragende Elemente waren und sind
hier unter anderem Fragen der geschlechtlichen Arbeitsteilung, der Trennung und dualen geschlechtlichen Kodierung von Öffentlichkeit und Privatheit, aber auch der Stellenwert von Sexualität und Probleme der Gewalt (vgl. z. B. Knapp/Klinger 1992; Knapp
1998).
Seit einigen Jahren wird im Kontext der feministischen Sozial- und Gesellschaftstheorie mehr und mehr über die „Intersektionalität“, d. h. das Verhältnis und das Zusammenspiel verschiedener Formen von Ungleichheit nachgedacht. Zur Analysekategorie
„Geschlecht“ treten damit Kategorien wie Sexualität, Ethnizität/„Rasse“/Religion/Nationalität und zunehmend auch wieder die zu Beginn der feministischen Forschung
durchaus präsente, zwischenzeitlich jedoch etwas aus dem Blick geratene Kategorie der
Klasse, der Schicht bzw. des sozialen Status hinzu (vgl. Klinger et al. 2007; Klinger/
Knapp 2008; Kerner 2009).
Neben der Ideengeschichte, den vielfältigen politiktheoretischen Einzeldiskussionen
und der Gesellschaftstheorie nahm sich die feministische – man könnte auch sagen die
geschlechtssensible – Politische Theorie ferner auch der Frage nach Erfolg versprechenden geschlechterpolitischen Strategien an. Dies geschah nicht zuletzt deshalb, weil sie
seit Anbeginn nicht nur an einer akademischen, sondern auch an einer politischen Kritik
geschlechtlich legitimierter Formen politischer und gesellschaftlicher Ungleichheit interessiert gewesen ist. So etablierte sie Diskussionen über Chancen und Probleme von Identitätspolitik (vgl. z. B. Hark 1999), aber auch zu Fragen wie Quotierungen und politischer Repräsentation (vgl. z. B. Rössler 2001).
Schließlich war auch der Begriff Geschlecht selbst diversen Kontroversen hinsichtlich seiner Bedeutungen ausgesetzt. Diese Kontroversen waren nicht zuletzt deshalb
brisant, weil Geschlecht in der Politischen Theorie wie auch in den anderen Bereichen
der transdisziplinären Gender Studies nie „nur“ Thema, sondern immer auch Analysekategorie gewesen ist – und die Art und Weise, wie eine Analysekategorie gefasst wird,
Politische Theorie
393
erhebliche forschungspraktische Konsequenzen haben kann. In diesem Sinne sind zwei
besonders wichtige Debatten zu nennen. Erstens wurde analog zur feministischen Kritik
am methodologischen Androzentrismus des akademischen malestreams eingewandt, dass
der feministische Rekurs auf die Kategorie Frau und die im feministischen Mainstream
etablierten Weiblichkeitskonzepte an einem weißen, heterosexuellen Mittelschichtsbias
krankten. Geschlecht wurde auf diese Weise dahingehend pluralisiert, dass die empirische Tragfähigkeit des Begriffs zur Bezeichnung der vielfältigen Geschlechterpositionen auch innerhalb der Genusgroßgruppen „Männer“ und „Frauen“ hinterfragt wurde.
Zweitens gab es eine ausführliche Debatte um die Unterscheidung von Sex und Gender,
wobei „Sex“ für die biologischen und „Gender“ für die sozialen Aspekte von Geschlecht
steht. Vor allem angestoßen von Judith Butlers Buch Das Unbehagen der Geschlechter
(Butler 1991) wurde kontrovers diskutiert, inwiefern auch gemeinhin als biologisch
verstandene Aspekte von Geschlecht, wie Zweigeschlechtlichkeit und hegemoniale Heterosexualität, als sozial konstruiert, politisch veränderbar und aufgrund ihrer verletzenden Effekte kritikwürdig verstanden werden sollten.12
Diskurs
Zentrale Aspekte der politisch-sozialen Bedeutung von Diskursen lassen sich am Beispiel der Geschlechterthematik gut veranschaulichen. Denn gesellschaftliche Auffassungen von Männlichkeit, Weiblichkeit oder generell von Geschlecht spiegeln sich in diversen institutionellen Arrangements und rechtlichen Bestimmungen wider: Zum Beispiel
im Zwang zur eindeutigen Geschlechtsbestimmung gleich nach der Geburt, im Institut
der Ehe, das heterosexuelle Paarbeziehungen privilegiert, im steuerlichen Modell des
Ehegattensplittings, das eine komplementäre innerfamiliäre Arbeitsteilung im Sinne des
„Hausfrau-Ernährer-Modells“ unterstützt, oder auch im Umstand, dass Frauen von der
Wehr- bzw. Ersatzdienstpflicht ausgenommen sind. Es dürfte unmittelbar einleuchten,
dass diese Arrangements anders aussähen, wenn alternative Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit hegemonial wären. Diskurse, in diesem Fall ein spezifischer,
letztlich jedoch kontingenter Geschlechterdiskurs, können also Macht auf Institutionen
entfalten, die wiederum diese Diskurse stützen. Diskurse stehen dieser Sichtweise nach
also nicht außerhalb von Macht, sondern sind von ihr durchzogen, bilden Macht-Wissens-Komplexe (Foucault 1976, 1977). Folgt man dieser Perspektive, für die neben
Michel Foucault in besonderem Maße auch Ernesto Laclau und Chantal Mouffe stehen,
drängt es sich geradezu auf, Diskurse und ihre Machteffekte zum Gegenstand politiktheoretischer Überlegungen zu machen und auf diese Weise Wissen und hegemoniale
Bedeutungen als wichtige Faktoren der Genese und Reproduktion politischer und gesellschaftlicher Ordnungsmuster anzuerkennen (vgl. u. a. Nonhoff 2006; Göhler et al.
2009). So haben sich mittlerweile auch in den empirischen Teildisziplinen der Politikwissenschaft Methoden der Diskursanalyse etabliert (vgl. Keller et al. 2001; Keller et
al. 2003; Kerchner/Schneider 2006).
12 Für einen Überblick über die deutschsprachige Debatte im Anschluss an Butler vgl. Hark
(2005: 269-332).
394
Gerhard Göhler et al.
Diskurse entfalten ihre Machtwirkungen jedoch nicht nur auf Institutionen, sondern
auch auf Subjekte. Diese spielen in der Politischen Theorie spätestens seit der Antike
eine wichtige Rolle. Allerdings waren sie dort bis vor Kurzem selten mehr als der Ausgangspunkt politiktheoretischer Reflexionen – wie etwa dann, wenn aus allgemein formulierten anthropologischen Grundannahmen ein passendes Politik- und Ordnungsverständnis abgeleitet wurde.13 Auch das hat sich mit der Rezeption von Foucaults
Machtanalytik geändert. Denn mit diesem Analyserahmen, der diskursive und institutionelle Machteffekte auf der Ebene der Subjektkonstitution sichtbar macht, lassen sich
Subjekte nicht länger als vorpolitisch denken. Sie werden vielmehr als im Kontext gesellschaftlicher Prozesse konstituiert verstanden, als Adressaten disziplinierender und
normalisierender Machtwirkungen. Das impliziert dann auch, dass die theoretische
Tragfähigkeit von allgemeinen und damit einheitlich konzipierten Menschenbildern bezweifelt werden muss (vgl. Saar 2007). Die Vorstellung, Prozesse der Subjektkonstitution seien erstens variabel und zweitens ohne die Berücksichtigung von Machtwirkungen nicht zu verstehen, hat im Zusammenhang von Diskussionen um Akteure und ihre
Handlungsfähigkeit für einigen theoretischen Aufruhr gesorgt. Der Standardeinwand
gegen die theoretische „Tötung“ des vorpolitischen, autonomen Subjekts lautete, dass
man sich damit der Möglichkeit beraube, Menschen Intentionalität und Verantwortlichkeit zu unterstellen. Dem wurde entgegnet, dass Subjektivierung nicht Determinierung
bedeute und dass der Kritik von Subjektivierungsprozessen ein befreiendes, weil deessentialisierendes und entnaturalisierendes Potenzial zugeschrieben werden könne.14
Aus dieser Sichtweise hat sich ein dynamisches Feld empirischer Forschung entwickelt. Hier sind nicht nur die Geschlechterforschung zu nennen, sondern auch die
Gouvernementalitätsstudien, die für die unterschiedlichsten Gesellschaftsbereiche eruieren, inwiefern sich subjektivierende Wirkungen hegemonialer Diskursformationen –
ein Beispiel wäre der Neoliberalismus – auf politische Akteure und auf diesem Wege in
der Breite von Politik und Gesellschaft niederschlagen (vgl. z. B. Bröckling et al.
2000).
Mit dem Foucault’schen und von Laclau und Mouffe erweiterten Diskursbegriff wäre
also ein Beispiel dafür geliefert, wie theoretisch-philosophische Innovationen der Politischen Theorie zu neuen Kernbegriffen verhelfen – und wie diese wiederum zur Erschließung neuer empirischer Forschungsperspektiven beitragen können. Damit scheint
der Diskursbegriff in ganz besonderem Maße aufgrund der zweiten der oben unterschiedenen drei Ursachen neuer Thematisierungen zum Gegenstand politiktheoretischer Erörterungen geworden zu sein. Denn während das skizzierte Diskursverständnis stark mit
dem Poststrukturalismus verknüpft ist, entstammt ein ganz anderes, in der Politischen
Theorie jedoch gleichfalls äußerst einflussreiches Diskurskonzept dem Werk von Jürgen
Habermas. Dieser interessiert sich nicht primär dafür, empirisch analysierbaren Diskursen Machteffekte nachzuweisen, sondern konzipiert Diskurse vielmehr als Prozesse in13 Eine Ausnahme stellt hier die Kritische Theorie der Frankfurter Schule dar, die sich zum einen
stark auf psychoanalytische Positionen bezogen hat und zum anderen in der Zeit nach dem
Nationalsozialismus Studien zu autoritären Charakterdispositionen durchführte.
14 Vgl. für die unterschiedlichsten Positionen in dieser Debatte exemplarisch Benhabib et al.
(1993).
Politische Theorie
395
tersubjektiver, auf Verständigung ausgerichteter Meinungsbildung, die politisch vor allem dazu dienen sollen, vernünftige Entscheidungen über normativ strittige Fragen
treffen zu können – die Gültigkeit von Normen erweise sich durch ihre diskursiv ausgewiesene allgemeine Zustimmungsfähigkeit. Wie in Abschnitt 2.1 dargelegt gingen
von diesem eindeutig normativen Diskursbegriff bzw. der aus ihr entwickelten Theorie
der Deliberation entscheidende Impulse für die Demokratietheorie aus. Und auch die
IB- und Governance-Forschung hat hier profitiert, etwa hinsichtlich der Frage, auf welche Weise die Interaktionsmodi im internationalen System zu konzipieren sind (vgl.
Herborth/Niesen 2007).
Globalisierung
Auch wenn plausibel begründet werden kann, dass jene komplexen Prozesse, die wir
heute unter der Schlagwort „Globalisierung“ zusammenfassen, spätestens mit dem europäischen Kolonialismus in Übersee begonnen haben, so ist das Bewusstsein, dass wir in
einer globalisierten Welt leben und dass daher auch die Politische Theorie ihren überkommenen methodologischen Nationalismus überdenken und zumindest partiell aufgeben
sollte, eine relativ junge Angelegenheit und scheint zugleich in der deutschsprachigen
Politischen Theorie bislang weniger verbreitet zu sein als beispielsweise in den USA.
Die theoretischen und methodologischen Herausforderungen, die mit der Thematisierung der Globalisierung und ihrer vielfältigen Effekte verbunden sind, sind immens.
Denn wenn man Globalisierung in Anlehnung an David Harvey als „Raum-Zeit-Verdichtung“ versteht oder, etwas konkreter, als Ausweitung, Beschleunigung und Intensivierung weltweiter Beziehungen mit ökonomischen, politischen, kulturellen, sozialen
und ökologischen Komponenten und Effekten, ist klar, dass es erstens großer empirischer Anstrengungen bedarf, um die wichtigsten Veränderungen auch nur ansatzweise
überblicken zu können, und dass zweitens alle Teildiskussionen der Politischen Theorie
daraufhin überprüft werden sollten, ob und inwiefern Globalisierungsprozesse die etablierten Denkmuster infrage stellen.
Reagiert wurde auf diese Herausforderung in unterschiedlicher Weise. Neben
Autor(inn)en, die ihre eigenen Theorien globalisiert haben (vgl. z. B. Fraser 2008), lassen sich zwei Trends ausmachen: Erstens gibt es Versuche, globale Gesellschaftstheorien und Großtheorien der Globalisierung zu schreiben. Zweitens bemüht man sich,
hinsichtlich von Einzelfragen wie Gerechtigkeit, Demokratie oder Governance den nationalstaatlichen Referenzrahmen zu verlassen und stattdessen explizit global anzusetzen.
Beispiele für den ersten dieser beiden Trends sind Manuel Castells mehrbändig angelegtes Werk Das Informationszeitalter sowie das auch außerhalb des Wissenschaftskontextes breit diskutierte Buch Empire von Michael Hardt und Antonio Negri. Castells
vertritt die These, in der gegenwärtigen Welt hätten wir es mit einer netzförmigen, d. h.
flexiblen und durch horizontale Querverbindungen charakterisierten Struktur zu tun. Für
die Ökonomie bedeutet das, wissensbasiert und global vernetzt zu sein. Die staatliche
Politik ist Castells zufolge zunehmend medial orientiert, der politische Wettstreit damit
in immer stärkerem Maße personalisiert. Hinsichtlich der sozialen Verhältnisse konstatiert er zum einen veränderte Raum- und Zeitvorstellungen – Stichworte sind hier der
396
Gerhard Göhler et al.
„Raum der Ströme“ und die „zeitlose Zeit“ –, zum anderen eine zunehmende soziale
Polarisierung und Exklusion, die wiederum das Erstarken unterschiedlicher Fundamentalismen zur Folge habe (vgl. Castells 2001, 2002, 2003).
Hardt und Negri organisieren ihren eigenen Entwurf der globalisierten Welt um die
Begriffe „Empire“ und „Multitude“. Empire bezeichnet dabei eine Form globaler Herrschaft, die auf zwei sich gegenseitig durchdringenden Sphären ruht: Politik und Ökonomie. Die Politik des Empire beschreiben die Autoren als netzförmig, nicht fixiert, allumfassend, mit der Rhetorik des Friedens operierend und der Form nach zum Spektakelhaften
tendierend. Die Ökonomie sei durch zunehmende Immaterialität geprägt. Seine Kraft
beziehe das Empire aus der Multitude, den arbeitenden und begehrenden Menschen.
Deren Vermögen, sich politisch zu einem heterogenen, intern pluralen und demokratisch
verfassten politischen Kollektiv verbinden zu können, sehen Hardt und Negri als Ansatzpunkt für Widerstand gegen die Mechanismen des Empire. Die Multitude ist daher
die mögliche Akteurin tief greifender Veränderungen (vgl. Hardt/Negri 2002).
Die im Anspruch bescheideneren, dafür in den Ergebnissen meist konkreteren und
präziseren Unterfangen, Begriffe wie Gerechtigkeit, Demokratie oder Governance vom
nationalstaatlichen Referenzrahmen zu entkoppeln, finden sich sowohl im Umfeld der
normativen Politischen Theorie (vgl. z. B. Gosepath/Merle 2002) als auch im Zusammenhang der empirischen Forschung und ihrer theoretischen Reflexion (vgl. z. B. Schirm
2006). Die wohl schwierigste Aufgabe, die sich bei allen Unternehmungen dieser Art
stellt, besteht darin herauszufinden, inwieweit die Ausweitung der eigenen Perspektive
auf den globalen Raum schlicht dadurch bewerkstelligt werden kann, dass der vormalige
Referenzrahmen gedehnt und an einigen Stellen modifiziert wird – und wann vielmehr
das Verlassen des nationalstaatlichen Kontextes aufgrund der qualitativen Veränderung
der Ausgangsbedingungen, die damit einhergeht, völlig neue theoretische Modelle und
vielleicht sogar völlig neue Modelle des Theorieschaffens erfordert. Neue Thematisierungen in der Politischen Theorie erweitern damit nicht nur das inhaltliche Spektrum
der Teildisziplin, sondern halten sie auch in methodologischer Hinsicht dynamisch.
3. Die Entwicklung der Politischen Theorie
Der Durchgang durch zentrale Begriffe sollte es erlauben – so die Ausgangsüberlegung –,
Entwicklungen in der Politischen Theorie sichtbar zu machen, die über die gefühlte
Veränderung von Umbrüchen oder Phasen ebenso hinausgehen wie über die Feststellung bestimmter Themenkonjunkturen. Die Entwicklungslinien im Einzelnen haben wir
anhand ausgewählter zentraler Begriffe nachgezeichnet. Mit dem Vorbehalt, dass zwar
zentrale, aber doch nur ausgewählte Begriffe aufgenommen werden konnten, kommen
wir zu einem Bild, das von den gängigen Vorstellungen erheblich abweicht.
Es hat sich bestätigt, dass viele der entscheidenden konzeptionellen Anstöße von
außen gekommen sind. Dafür stehen der Durchbruch von Systemtheorie, Behavioralismus und Rational Choice (siehe Fn. 1), später die normative Neubegründung des politischen Liberalismus durch Rawls und die Entwicklung feministischer Konzepte. Ausnahmen sind die Politische Ideengeschichte, die stark auch aus eigenen Traditionen
schöpft, bis zu einem gewissen Grad die Demokratie- und Institutionentheorie und si-
Politische Theorie
397
cherlich die deutschen Spielarten des Neomarxismus sowie die Weiterentwicklung
der Kritischen Theorie bei Habermas und Honneth (Iser 2008). Aber insgesamt ergibt
sich doch das für Traditionalisten vermutlich immer noch überraschende Bild einer
Leitfunktion der angelsächsischen, in neuerer Zeit auch der französischen Theorieentwicklung.
Bemerkenswerter noch fällt die Überprüfung der Annahme aus, dass sich aus wahrgenommenen Konjunkturen von Themen und der sich wandelnden konzeptionellen
Ausrichtung der Politischen Theorie bestimmte Phasen ihrer Entwicklung ergeben. Intuitiv liegt es nahe, für die Entwicklung der deutschen Politischen Theorie ein DreiPhasen-Modell zu konstruieren. Die erste Phase reicht dabei von den 1950er bis in die
Mitte der 1960er Jahre und ist gekennzeichnet durch eine Erneuerung der klassischen
normativen Theorie aufgrund der vorhergehenden Katastrophenerfahrungen. Die zweite
Phase, seit Mitte der 1960er bis einschließlich der 1970er Jahre, bringt die „szientifische
Wende“ durch die Rezeption von Systemtheorie, Behavioralismus und Rational Choice;
dazu gesellt sich, immer dominanter werdend, die marxistische Theorie. Die Großtheorien werden dann in einer dritten Phase seit den 1980er Jahren durch Poststrukturalismus und dekonstruktivistische Verfahren einerseits und durch „policy-orientierte Mehrebenen-Analysen“ andererseits abgelöst (von Beyme 1996: 13). Aber ein solches
Drei-Phasen-Modell lässt sich durch unsere Nachzeichnung der Begriffsentwicklungen
nicht bestätigen.
Anstelle von Phasen haben wir in der Entwicklung der Politischen Theorie vielmehr
eine Zäsur festgestellt. Sie fällt – äußerlich eher unspektakulär – in den Anfang der
1980er Jahre. Hier nämlich beginnen fast durchweg neue Theorie-Entwicklungen, sei es
originär, sei es bedingt durch eine verspätete Rezeption neuer internationaler Entwicklungen. Prominent für Ersteres sind die deliberative Demokratietheorie im Anschluss an
Habermas und die Rezeption von Luhmann, für Letzteres die Rezeption von Rawls,
des – insbesondere aus Frankreich stammenden – Poststrukturalismus sowie der feministischen Theorie. Natürlich beginnt diese Aufnahme neuer Ansätze nicht zeitgleich,
sondern mit mehr oder minder großen Verzögerungen – aber 1980 scheint in etwa der
Einschnitt zu sein.
Demgegenüber sind im historischen Rückblick eine erste und eine zweite Phase nur
wenig unterscheidbar. Der Boom der normativen Theorie in der Anfangsphase scheint
eher ein Mythos zu sein (Bermbach 1984; Buchstein/Jörke 2007), zumal die Bedeutung
der Freiburger Schule, welche die personelle Entwicklung der deutschen Politikwissenschaft stark beeinflusste und dabei eine stark normative Ausrichtung der Politikwissenschaft vertrat, in ihrer theoretischen Bedeutung gemeinhin überschätzt wird (Göhler
1982; Schmitt 1999). Wegweisende Bedeutung kommt am ehesten der Theorie des Neopluralismus von Ernst Fraenkel in den gesamten 1960er Jahren zu; sie tritt aber – trotz
ihrer unverkennbar normativen Komponente – keineswegs als bloß normative Theorie
auf. Wir haben es also von der Begründung der Politikwissenschaft bis in die 1970er
Jahre hinein mit der Herausbildung eines theoretischen Profils zu tun, das mehr und
mehr kontrovers wurde, bis sich schließlich die Positionen unversöhnlich gegenüberstanden. Diese kommen in den drei „Theoriebegriffen“, die angeblich die Politikwissenschaft abbilden, nämlich normativ-ontologisch, empirisch-analytisch und dialektischkritisch (vgl. Fn. 1), geradezu sinnfällig zum Ausdruck.
398
Gerhard Göhler et al.
Wenn man auf diese Entwicklung von heute aus zurückblickt, so zeigt sich erst um
1980 eine Zäsur. Neue Sichtweisen ersetzen die althergebrachten, bisweilen stereotyp
gewordenen Auseinandersetzungen.
Was sich seitdem fundamental geändert hat, nicht zum gleichen Zeitpunkt, sondern
durchaus sukzessive, lässt sich andeutungsweise in drei Punkten skizzieren:
(1) Institutionen und Entstaatlichung: Seit den 1980er Jahren wird wieder nach den
Institutionen gefragt. Scheinbar haben wir es hier mit einem Paradox zu tun, weil zur
gleichen Zeit der Staat, der einstmals als „Institution der Institutionen“ galt, an Bedeutung verliert. Bei genauerer Betrachtung ist dies jedoch eine durchaus folgerichtige
Entwicklung, weil Politik – auch jenseits des Staates – ohne strukturierende Instanzen
mit einer gewissen Dauerhaftigkeit nicht angemessen begriffen werden kann. Entscheidend wurde daher die Erkenntnis, dass Institutionalisierung nicht gleich Staat bedeutet.
In dem Maße, in dem der klassische Nationalstaat angesichts neuer transnationaler Ordnungsformen an Bedeutung einbüßt – oder sie in Räumen begrenzter Staatlichkeit gar
nicht erst besitzt –, geht es um institutionelle Arrangements, die seine Leistungen übernehmen können. Der Staat, so die Auflösung des nur scheinbaren Paradoxes, wird zunehmend durch andere politische Institutionen ersetzt.
(2) Renaissance normativer Theorie: Normative Fragestellungen und Anliegen sind,
beginnend mit der Rezeption von Rawls, geradezu flächendeckend in die Diskussion
zurückgekehrt und haben hier in fruchtbarer Weise auf deutsche Theorietraditionen zurückgreifen können. Neben den traditionellen normativen Begriffen wie Gerechtigkeit
und Gemeinwohl hat so auch der Begriff der Anerkennung eine Konjunktur erfahren.
Außerdem finden wir ein neues – explizit normatives – Verständnis der Demokratie, die
äußerst folgenreiche deliberative Demokratietheorie.
Diese normativen Theorien sind selbstverständlich nicht unumstritten. So werden sie
etwa durch poststrukturalistische und dekonstruktive Ansätze radikal infrage gestellt –
was die Intensität der Debatten um diese Begriffe jedoch eher steigert als verringert.
Denn auch hier wird um die angemessene Weise gerungen, wie normative Ansprüche
zur Geltung kommen können, um illegitime Aspekte der sozialen und politischen Ordnung zu erkennen und zu lindern – oder sogar zu überwinden.
Demgegenüber wird die Rückkehr normativer Fragestellungen zumindest von manchen Vertretern des Rational-Choice-Ansatzes und explizit durch die Systemtheorie
Luhmanns als unwissenschaftlich verworfen: Diese verstehen sich geradezu als „realistische“ Antwort auf die Renaissance normativer Fragen. So tritt etwa im Bereich der
Demokratietheorie den normativ aufgeladenen deliberativen Ansätzen eine Theorierichtung entgegen, die anstelle der Input-Legitimierung auf bloße Output-Legitimierung
setzt.
(3) Poststrukturalismus und neue Synthesen: Die Rezeption poststrukturalistischer
Positionen innerhalb der Politischen Theorie hat dazu geführt, dass neues Licht auf
etablierte Fragen geworfen und der teildisziplinäre Kanon infrage gestellt wurde. Beispielsweise sind in der Machttheorie neben stufenweise aufeinander aufbauende Modelle
der Herrschaftskritik, wie etwa bei Lukes, Theorien getreten, die vielfältigen, aber nicht
weniger wirksamen Machtbeziehungen auf der Mikroebene nachspüren. Tradierte Konzepte des autonomen, ich-identischen Subjektes werden dezentriert, und in der Geschlechtertheorie werden Alternativen zur dichotomisierenden Einteilung der Menschheit in
Männer und Frauen etabliert.
Politische Theorie
399
Daraus sollte allerdings nicht geschlossen werden, die Politische Theorie löse sich in
einen Zustand postmoderner Beliebigkeit auf. Neben der Perspektiverweiterung durch
poststrukturalistische Ansätze deuten sich vielmehr vielfältige neue Synthesen an. Beispiele sind u. a. Nancy Fraser und Amy Allen, die jeweils Motive der Habermas’schen
Diskurstheorie sowie der poststrukturalistischen Macht- und Subjektkritik aufnehmen,
oder auch Judith Butler, die sowohl von Foucault als auch von psychoanalytischen
Positionen profitiert. Zudem zeichnet sich offenbar – ausgelöst nicht zuletzt durch die
Herausforderungen der Globalisierung – ein neues Bedürfnis nach Großtheorien ab, wie
sie in den Entwürfen von Castells und Hardt und Negri sichtbar werden. Hier, wie auch
in vielen der Arbeiten, die im Kontext der Gouvernementalitätsstudien entstanden sind,
werden poststrukturalistische und postmarxistische Einsichten miteinander verbunden
und auf neue Weise theoretisch fruchtbar gemacht.
Es sind diese drei Tendenzen, die es gerechtfertigt erscheinen lassen, nicht von Phasen, sondern von einer Zäsur zu Beginn der 1980er Jahre zu sprechen. Die neuen Tendenzen haben seither die Entwicklung der Politischen Theorie in Deutschland nachhaltig bestimmt, und es ist zu erwarten, dass sie auch für die weiteren Diskussionen
maßgebend sein werden.
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