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Der Betruf der Aelpler

2024, Anzeiger vom Rottal

Die Innerschweiz ist reich an Alpen, die zum Teil seit Jahrtausenden den Sommer über bewirtschaftet werden. Und seit jeher hat der Mensch auch Vorkehrungen getroffen, um sie und «alles, was umen ist» vor den Mächten der Finsternis zu schützen. Darauf zurück geht der Betruf. Das ist ein beim Einnachten von den Sennen durch einen Milchtrichter über die Alp gerufenes magisch-religiöses Schutz- und Banngebet, dessen Wurzeln weit in die vorchristliche Zeit zurückreichen. Mit diesem magischen Gesang stellen viele Hirten und Sennen ihre Alp bis heute unter den Schutz der höheren Mächte. Dieser Artikel ist die Zusammenfassung eines umfangreicheren und mit Quellenangaben versehenen Fachbeitrags, der voraussichtlich Mitte November 2024 in einem Essayband erscheint.

Region Anzeiger vom Rottal – 13. Juni 2024 – Nr. 24 11 Alp- und Sommerzeit: Magisch-religiöses Schutz- und Bannritual aus vorchristlicher Zeit Der Betruf der Älpler Die Innerschweiz ist reich an Alpen, die zum Teil seit Jahrtausenden bewirtschaftet werden. Und seit jeher hat der Mensch auch Vorkehrungen getroffen, um sie und «alles, was umen ist» vor den Mächten der Finsternis zu schützen. Darauf zurück geht der Betruf, mit dem viele Hirten und Sennen allabendlich die Alp unter den Schutz der höheren Mächte stellen. Kurt Lussi Die Bewirtschaftung der Alpen reicht weit in die vorchristliche Zeit zurück. Das belegen unter anderem Funde, die auf der Stremlücke auf 2800 Metern Höhe gemacht wurden. Der bereits in der Mittelsteinzeit begangene Hochgebirgspass befindet sich südlich des Oberalpstocks, der höchsten Erhebung in den östlichen Urner Alpen. Menschen hatten dort vor rund 7500 bis 8000 Jahren gelagert und nach Kristallen gesucht, um daraus Werkzeuge herzustellen. Das ergaben Radiokarbondatierungen von Geweihstangen und Hölzern, die in der Nähe einer Kristallkluft ausgegraben wurden. Aber erst Funde aus der Bronzezeit weisen darauf, dass die Alpen in den Sommermonaten als Viehweiden genutzt wurden. Spuren einer frühen Bewirtschaftung finden sich auch auf der Melchsee-Frutt im Kanton Obwalden. Ein Forschungsteam der Universität Basel fand in den Resten mittelalterlicher Alphütten Tierknochen, Nägel, von Menschen bearbeitete Steine und andere Artefakte, die ins 13. bis 17. Jahrhundert datiert werden konnten. Sie belegen nicht nur, dass die Melchsee-Frutt bereits im Mittelalter bewirtschaftet wurde, sondern sie geben auch Aufschluss darüber, dass sich die Älpler und Hirten von Milch, Käse und Brot sowie Schweine- und Rindfleisch ernährten, wie dies noch heute der Fall ist. Der Betruf Mindestens ebenso alt wie die Funde auf der Melchsee-Frutt ist der Betruf. Im Alpstein ist er schon für 1411 bezeugt. Eine frühe schriftliche Erwähnung findet sich zudem bei Renward Cysat. Der Luzerner Apotheker und Chronist bestieg 1565 den Luzerner Hausberg Pilatus. In seinen Erinnerungen berichtet er vom abendlichen Rufen eines Schutzsegens «umb die zytt dess Ave-Marialüttens» mit dem Zweck, «lütt und vych dem gnädigen schirm Gottes und syner werden [werten] muotter der himmel königin bevelchen [anzubefehlen]», damit sie «alles übel und gespenst von disem ort abhallten, alles glück verlyhen und unfal abhallten wollent» (zitiert nach dem Historischen Lexikon der Schweiz). Und so ist es auf vielen Alpen der katholischen Schweiz bis heute geblieben. Noch immer begeben sich Älpler bei Sonnenuntergang zu einer meist mit einem Kreuz bezeichneten Anhöhe auf der Alp. Durch eine Folle, das ist ein hölzerner Milchtrichter, der als sakral gebrauchter Gegenstand nur für den Betruf verwendet werden darf, rufen sie den Segenstext über die im Dämmerschein versinkende Alp. Das soll Geister, Hexen, überhaupt alles Böse fernhalten. So weit der Ruf zu hören ist, so weit reicht nach altem Glauben auch der Schutz der höheren Mächte, die im Sprechgesang angerufen werden. Heidnische Wurzeln Der Betruf wird zu den ältesten christlichen Traditionen der Schweiz gerechnet. Doch in Wahrheit handelt es sich dabei um ein aus vorchristlicher Zeit überliefertes magisches Bann- und Beschwörungsritual. Dieser Auffassung war wohl auch die kirchliche und weltliche Obrigkeit, denn um 1609 wurde der Betruf Der Älpler Wendelin Kiser beim «z’Bätte rüeffä» auf der hoch über Sarnen gelegenen Alp Chäseren. Foto Christof Hirtler, Altdorf von der Luzerner Regierung als «heidnischer Viehsegen» verboten. Das Vorgehen der Behörden ist nachvollziehbar: Das Wort «Lobä» (ursprünglich «Loba» oder «Lioba»), das im Betruf allgemein als Lob Gottes interpretiert wird, ist nach Richard Weiss, ehemals Professor für Volkskunde an der Universität Zürich, möglicherweise eine aus dem Indogermanischen überlieferte Bezeichnung für Kuh. Die Herkunft von «Loba» aus dem Indogermanischen, aus dem sich das Urkeltische und aus diesem die verschiedenen keltischen Sprachen entwickelten, ist ein wichtiger Hinweise darauf, dass die Wurzeln des Betrufs in vorchristlicher Zeit zu suchen sind. Damit ist er wesentlich älter, als die frühesten schriftlichen Belege, die aus der Spätzeit des Mittelalters stammen. Dass er letztlich nicht verschwand, hat wohl mit dem unter dem Namen «Seminariherr» bekannt gewordenen Obwaldner Jesuitenpater Johann Baptist Dillier (1668-1745) zu tun. Er christianisierte das Gebet, indem er die urkeltische Anrufung «Loba» (Kuh) zu «Lobä» (loben) umdeutete und den übrigen Text in einen direkten Bezug zu Gott und den Heiligen stellte. Im Kern jedoch behielt der Betruf, geschützt durch den christlichen Deckmantel, bis heute weitgehend seine ursprüngliche Funktion als magischer Schutz- und Bannsegen. Gleiches gilt auch für jene Sequenzen des Betrufs, die sich auf biblische Texte, Gott, Maria und die Heiligen der Kirche beziehen. Das Johannesevangelium Ein Beispiel dafür ist die Wortfolge «Es ist ein Wort, das weiss Gott wohl» im Obwaldner Betruf (siehe Kasten). Sie bezieht sich auf den ersten Vers im Prolog des Johannesevangeliums. Dieser lautet: «Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott» (Joh. 1, 1). Nicht nur dem Vers, sondern dem gesamten Prolog (Joh. 1,1-14) wurde seit jeher eine magische Kraft zugeschrieben. Nach Carl Meyer, der sich in seiner 1884 erschienenen Schrift «Der Aberglaube des Mittelalters und der nächstfolgenden Jahrhunderte» auf eine 1569 gedruckte Schrift des hl. Augustinus bezieht, vertrieb man Kopfschmerzen, indem man sein Haupt auf das aufgeschlagene erste Kapitel des Johannesevangeliums legte. An der Gicht leidende Kinder versuchte man zu heilen, indem man sie auf das aufgeschlagene Evangelium setzte. Ähnliches tat man bei Zahnweh und Fieber. Zur Abschreckung von Geistern, Hexen und Dämonen schrieb man den Prolog auf ein Pergament, steckte dieses in eine Kapsel und trug es als magisch wirkendes Schutzamulett auf sich. Oder dann rezitierte man den Text zur Abwendung der verschiedensten Gefahren, obschon das «abergläubische Abbeten des Johannesevangeliums» seit der Synode von Seligenstadt im Jahre 1023 verboten war. Schutz von Haus und Hof Haus und Hof schützte man vor den Mächten der Finsternis, indem man die Zettel mit dem Prolog zwischen die Balken steckte, wo die Relikte dieser magischen Handlungen bei Renovationen alter Bauernhäuser regelmässig zum Vorschein kommen. In gedruckter Form findet man den Anfang des Johannesevangeliums in den vor allem im süddeutschen Raum verbreiteten «Breverln». Das sind mit Heiligenbildchen, Segenstexten, eingeklebten Miniaturkreuzchen, geweihten Samen und anderen heiligen und unheiligen Dingen versehene Faltzettel, die als Schutzamulette und magisch-religiöse Heilmittel in grosser Zahl hergestellt und an Wallfahrtsorten verkauft wurden. In einigen dieser Breverl sind zudem gedruckte Exorzismen eingeklebt, die Auszüge aus dem Johannesevangelium enthalten. Die Magie des Wortes Zur volksmagischen Bedeutung mag die Vorstellung beigetragen haben, wonach das geschriebene Wort «Gott» gleichbedeutend mit dem Allmächtigen ist, getreu der oben erwähnten Stelle im Johannesevangelium: «Und das Wort war Gott» (Joh. 1, 1). Bis zum Ende des Mittelalters waren die Menschen denn auch überzeugt, dass Wör- ter nicht nur etwas bezeichneten, sondern dass im gesprochenen oder geschriebenen Wort die magische Kraft der genannten Sache innewohne. Das Wort «Gott» im Betruf ist daher mehr als die Anrufung des Allmächtigen, sondern Gott ist durch die Nennung seines Namens im geschriebenen oder gesprochenen Wort unmittelbar präsent. Ähnliches galt auch für die Taufnamen. Wer auf den Namen bestimmter Heiliger getauft wurde, stand zeitlebens unter deren besonderem Schutz. Dementsprechend häufig waren Namen wie Josef, Maria, Johannes oder Antonius, um nur einige Beispiele zu nennen. Der hl. Antonius Ein wichtiger Heiliger im Betruf ist der hl. Antonius von Padua (Festtag 13. Juni), der oft mit dem hl. Antonius dem Einsiedler verwechselt wird. Letzterer ist vor allem der Schutzpatron der Schweine, weshalb er vom Volk etwas despektierlich «Söitoni», an einigen Orten wegen seines Festtags (17. Januar) auch «Wintertoni» genannt wird. Im Betruf für das Vieh zuständig ist jedoch nicht der «Söitoni», sondern der hl. Wendelin. Der hl. Antonius von Padua hingegen gilt als mächtiger Wetterheiliger. Niemand weiss das besser, als der Älpler Zacharias «Zachi» Baumann. Als sich einst in einer Gewitternacht der Hang oberhalb des Reglibergs, seinem auf 1680m Höhe gelegenen Heimwesen, in Bewegung setzte und die Alpliegenschaft mitsamt den Bewohnern zu verschütten drohte, eilte die Familie nach draussen und flehte zum hl. Antonius von Padua, er möge sich erbarmen und sie vor der Vernichtung bewahren. Wenige Meter oberhalb des Heimwesens kam der Rutsch plötzlich zum Stehen. Nicht ein Wunder sei geschehen, versicherte Zachi, sondern der hl. Antonius persönlich habe die Schlammlawine aufgehalten. Seither stehen nicht nur im Haus, sondern auch rund um die Liegenschaft Statuen und Bilder des Heiligen – als Zeichen des Dankes und der Bitte um Schutz bei künftigen Unwettern. Ecce crucem Mit dem Wetterheiligen in Zusammenhang gebracht wird sodann die als «Segen des hl. Antonius» bekannte Antiphon «Ecce crucem domini…». Sie geht zurück auf eine Stelle in der Offenbarung des Johannes von Patmos und lautet auf Deutsch: «Sehet das Kreuz des Herrn, flieht ihr gegnerischen Mächte, es hat gesiegt der Löwe vom Stamme Juda, aus der Wurzel Davids». Der magische Gebrauch der Antiphon ist bereits für die Antike nachgewiesen. Später erscheint sie in mittelalterlichen Wettersegen sowie als Dämonenexorzismus in einer dem Astrologen und Geomanten Bartolomeo della Rocca (14671504) zugeschriebenen «Oratio contra omnes tum maleficorum, tum Daemonum incursus». Magisches und Heiliges. Im Betruf der Älpler verschmilzt beides zu einem neuen Ganzen. Obwaldner Betruf O Lobä, zio, Lobä – i Gotts Name, Lobä! O Lobä, zio Lobä – I iserä liebä Froiwä Name Lobä! O Lobä, zio, Lobä – allä liebä Heilige Name, Lobä! Gott und Sant Wendel, Sant Antoni und der heilig Brioder Chlois welli uf dieser Alp lieb Herbrig haltä! Es ist es Wort, das weiss Gott wohl: Hier uber dieser Alp da staht ä goldige Thron. Darinne wohnt Maria mit ihrem herzallerliebste Sohn und ist mit vielä Gnadä ubergossä: Und hed Maria die allerheiligst Dryfaltigkeit unter ihrem Härza verschlossä: Der erst ist Gott der Vater, s’ander ist Gott der Sohn, und s’dritt ist Gott der lieb Heilig Geist: Die welli is behüete und bewahre a Seel und Ehr, a Lyb und Giod! Ave – Ave – Ave Maria; so mengs Hoid Veh uf diese Alp gehört und ist, so mengä giotä Engel sig oi derby! So selli das Veh gsägnet sy im Namä der allerheiligste Dryfaltigkeit: Gott Vater, Sohn und Heilig Geist. O Lobä, zio Lobä – i Gotts Name, Lobä! Ave – Ave – Ave Maria! – Amä