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Dokserver des Zentrums
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Rüdiger Hachtmann
„Unerhörte Schamlosigkeit“, ehrbare Bürger und „frühere
Bordellbesitzer“. Prostitution und Prostitutionsverdacht in
Berlin zwischen 1790 und 1850
http://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.1.881
Reprint von:
Rüdiger Hachtmann, „Unerhörte Schamlosigkeit“, ehrbare Bürger und
„frühere Bordellbesitzer“. Prostitution und Prostitutionsverdacht in Berlin
zwischen 1790 und 1850,
in: Stadtgeschichte im Fokus von Kultur- und Sozialgeschichte. Festschrift für
Laurenz Demps, herausgegeben von Wolfgang Voigt und Kurt Wernicke,
trafo Berlin, 2006, S. 193-226
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Rüdiger Hachtmann (2006), „Unerhörte Schamlosigkeit“, ehrbare Bürger und „frühere
Bordellbesitzer“. Prostitution und Prostitutionsverdacht in Berlin zwischen 1790 und 1850,
Dokserver des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam,
http://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.1.881
Ursprünglich erschienen als Rüdiger Hachtmann, „Unerhörte Schamlosigkeit“, ehrbare Bürger und
„frühere Bordellbesitzer“. Prostitution und Prostitutionsverdacht in Berlin zwischen 1790 und 1850,
in: Stadtgeschichte im Fokus von Kultur- und Sozialgeschichte. Festschrift für Laurenz Demps,
herausgegeben von Wolfgang Voigt und Kurt Wernicke, trafo Berlin, 2006, S. 193-226
http://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.1.881
W olfgang V o ig t & Kurt W ernicke (Hrsg,)
Stadtgeschichte im Fokus
von Kultur- und Sozialgeschichte
Festschrift für Laurenz Demps
tra/o
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"Unerhörte Schamlosigkeit", ehrbare Bürger
und "frühere Bordellbesitzer".
Prostitution und Prostitutionsverdacht
in Berlin zwischen 1790 und 1850
Rüdiger Hachtmann
“Religion, Tugend, M oral und Sittsamkeit sind die Grundpfeiler, auf welchen
das große, colossale Gebäude der gesamten Interessen der Nation ruht, und werden diese erschüttert, so stürzt das Gebäude zusammen,” Dieser Satz ist nicht
etwa dem Leserbrief eines um das Wohl der Staates besorgten Bürgers, der Denkschrift eines Stadtrates oder einer Broschüre der im Dezember 1848 gegründeten “Inneren Mission” entnommen. Der Satz findet sich vielmehr in einer Petition der (wie sie sich selbst titulierten) “früheren Bordellbesitzer” vom 7, April
1848.
In dieser Eingabe baten sie den “hoch- und wohlgeborenen” M agistrat der
Stadt Berlin “unterthänigst”, sich für die “Wiedereinführung der concessionirten
Bordelle” einzusetzen. Die Begründung für diese Forderung war nicht nur langatmig. (Die Petition füllt mehrere Seiten und kann hier nur auszugsweise zitiert
werden.) Sie war im Tonfall mindestens so scheinheilig wie verlogen: “[E]s existiren jetzt mindestens 5000 Dirnen in Berlin, verheiratete und unverheiratete,
welche unter dem Auge des Gesetzes und der Behörden die Prostitution frank,
frei, ohne Behinderung und mit einer solchen abscheulichen Frechheit treiben,
daß ein ehrbarer Mann eine anständige Dame und ein keusches Mädchen diejenigen Straßen, worin jene ihre Hauptnahrung suchen, am Abend nicht mehr zu
betreten wagen, indem diese Geschäfte jedes männliche Wesen mit unerhörter
Schamlosigkeit attaquieren und mit demselben auf offener Straße über den Lohn
handeln. Schaarenweise ziehen sie durch ganz Berlin ... Ihre Schlupfwinkel dienen zur Beherbergung von Dieben und sonst unlauteren Personen und dort wird
die Prostitution in niegekannter unglaublicher Woüustart getrieben. M anche
Gassen, z.B, die Kronen- und Siebergasse, besonders die Königsmauer, gleichen
einem kasernenartigen Institut von Bordellen, letztere Straße, wo wir leider wohnen, ist einer Mördergrube ähnlich, weil oft die friedlichsten Menschen, welche
sie passiren und keine lüsterne Absicht haben, durch künstliche Befeindungen
zu Streit gereizt, beraubt und gemißhandelt werden, oft auf freier Straße und
am lichten Tage, ohne daß es ein Rechtlicher wagt, ihnen zur Hülfe zu eilen.
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Daher ist es leider so weit gekommen, daß kein Polizeibeamter mehr diese Orte
zu recognosciren wagt. Sie riskiren Insultirungen und thätliche Beleidigungen,
und so besteht mitten in Berlin ein höchst gefährlicher und gesetzloser Zustand.
Zu Hunderten liegen diese ehrlosen Geschöpfe ... vom frühen Morgen bis zum
späten Abend mit entblößtem halben Körper in den Fenstern, haufenweise vor
ihren Thür en und patrouillieren vor den Häusern, alle männlichen Personen,
ohne Rücksicht auf Alter und Stand, halb gewaltsam nach sich ziehend.”' In den
Zeiten, als die “früheren Bordellbesitzer” ihre Freudenhäuser noch offen betreiben durften, hätten dagegen Sitte und Gesetz geherrscht.
“Jetzt erst” träten durch das “Dasein der freien Prostitution” die “heilsamen
Vortheile hervor, welche die früheren concessionirten Bordell-W irtschaften für
sich hatten, und diese bestanden in folgendem: 1. daß die Dirnen, theils von
der Polizei-Behörde, theils von einem zuverlässigen Bordellwirth überwacht, beaufsichtigt und in Häusern eingehalten wurden; 2. sie konnten nicht wie jetzt
durch die ganze Stadt frei umherschwärmen und männliche Personen angreifen;
3. sie konnten nicht rauben und Excesse begehen. Fielen auch in den Bordellhäusern mitunter Streitigkeiten vor, so waren sie doch nie von den Freudenmädchen
ausgegangen; 4 . sie standen unter ärztlicher Controlle und wurden im Erkrankungsfalie sofort auf unsere Kosten in die Charité befördert. Die Geschöpfe der
jetzigen freien Prostitution sind sich selbst überlassen und werden höchstens nur
dann ärztlich untersucht, wenn der Angesteckte sie denuncirt. Diese treiben daher trotz ihrer Syphilis-Krankheit das Gewerbe bis zum äußersten Grade des Uebels fort und bringen Tod und Verderben in die zarteste Jugend; 5. sie durften
unter dem 24ten Lebensjahre sich der Prostitution nicht hingeben. Gegenwärtig
sieht man hunderte von Dirnen unter dem 15ten Jahre, und zwar größtentheils
geborene Berliner, dieses ehrlose Gewerbe treiben
6. durch die concessionir-
ten Bordelle wurden der Stadt keine unehelichen Kinder zur Verpflegung zugeführt. Seit Aufhebung unserer Wirtschaften hat die Zahl derselben auf eine erschreckende Weise zugenommen, worüber die Armen-Direction Auskunft geben
kann
7. haben wir für jedes Freudenmädchen, welches sich in unseren Wirthschaften befand, gleichviel ob es krank oder gesund [war], monatlich 1 Thlr.
an die Stadtvoigteikasse gezahlt. Bei Aufhebung unserer Konzession befanden
sich etwa 500 [Prostituierte] bei uns. Wir haben daher jährlich 6 0 0 0 Thlr. Steuer
gezahlt.”12
1
Petition der früheren Bordellbesitzer vom 7. April 1848, in: Landesarchiv Berlin (LAB), A Rep.
0003, Nr. 1059, BL 2 0 2 -2 0 5 .
2
Ebd., Bl. 2 0 6 -2 0 7 Rs. Das folgende Zitat ebd., Bl. 208. Im 1889 erschienenen Bd. 13 des Deutschen Wörterbuchs der Gebrüder Grimm (S. 2174} wird der Begriff mit “das öffentliche preisgeben besonders in geschlechtlicher beztehung” umschrieben: dem “prosritmertsein” werden in
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“Zur Herstellung der allgemeinen Ordnung, zur Rettung der Sittlichkeit und
zur Befestigung der Tugend und der religiösen Ruhe” müsse dem Magistrat deshalb an der “Wiedereinführung der concessionirten Bordelle ... als eine der allernöthigsten und ersten Maaßregeln” gelegen sein. Gerichtet war diese Forderung
gegen eine Verfügung des Innenministeriums, nach der seit dem 1. Januar 1846
neue Bordelle nicht mehr zugelassen werden sollten und die noch vorhandenen
aufgelöst wurden. Die dort beschäftigten, nicht in Berlin gebürtigen Prostituierten wurden ausgewiesen.
Christliche Sittenstrenge und obrigkeitliche
Repression.
Prostitution in Berlin und Preußen 1685 bis 1810
Das Verbot vom 1. Januar 1846 war nur der vorläufige Schlußpunkt einer von
protestantischer Sittenstrenge getragenen Anti-Prostitutions-Politik des frühen
preußischen Staates. Die Frühgeschichte der gewerbsmäßigen “Unzucht” reicht
in der Hohenzollernresidenz ebenso wie die “ Geschichte des obrigkeitlichen
Einschreitens gegen die Prostitution in Berlin bis tief in das Mittelalter hinein”
~ so im Jahre 1850 der erste Historiker der Prostitution in Berlin - der auf Geschlechtskrankheiten' spezialisierte Arzt Friedrich J . Behrend.3 In massierter
Form suchten Hohenzoliernfürsten als sittensrrenge Protestanten der “erwerbsmäßigen Lohnhurerei” nachweisbar seit Ende des 17. Jahrhunderts den Garaus
zu machen. Der “große Kurfürst” verbot gegen Ende seiner Regentschaft, 1 6 85,
rundweg die “Unzucht und Hurerei” mit “Weibs-Personen”, weiche “so ledig
und nicht ehelich seyend”. Nicht nur den Frauen war es generell untersagt, “ihren Leib in Unzucht gemein zu machen” . Auch “Huren-Wirtschaften” und Kuppelei wurden “mit Staupenschlägen gestrafft”4.
Sein Nachfolge]; der Kurfürst Friedrich III. und als Friedrich I. seit 1701 der
erste König in Preußen, verschärfte die Repression, indem er 1690 die Vertreigutbürgerlicher Manier die Stigmata “schimpf, schände, blamage” assoziiert. Der damals bereits
übliche Begriff “Prostitution” beschreibt eigentlich eine Beziehung, die mindestens zwei, meist
drei Beteiligte einschließt (Prostituierte, Zuhälter bzw. Bordellbesitzer sowie den Freier). Im folgenden interessiert vor allem das Spannungsverhältnis zwischen Bürgerlichkeit/bürgerlicher Öffentlichkeit und (weiblichem) Unterschichtsverhalten. Die - methodisch schwer faßbare - Selbstsicht der Prostituierten bleibt ausgeblendet.
3
Friedrich J. Behrend, Die Prostitution in Berlin und die gegen die Syphilis zu nehmenden Massregein. Eine Denkschrift im Aufträge, auf Grund amtlicher Quellen abgefaßt [für] Sr. Exceilenz
Herrn Minister v. Ladenberg, Erlangen 1850, S. 4. Das “älteste Freudenhaus” in Berlin lasse sich
für die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts nachwetsen, so Behrend, S. 11.
4
Nach Sabine Gieß, Die Reglementierung von Prostitution in Deutschland, Berlin 1999, S. 17f.
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bung “allen leichtfertigen Hurengesindels in unserer Residenz- und deren Vorstädten” sowie ihre Einlieferung in das Spandauer Zuchthaus anordnete. Bald
mußte er freilich einsehen, daß sich Prostitution auf diese "Weise nicht unterdrükken ließ: “Diese W irthschaft” werde künftig geduldet, “aber nur als nothwendiges Uebel”, heißt es ¡m ersten Paragraphen des ältesten, von Friedrich III. im
Jahre 1700 erlassenen Berliner Bordellreglements.5 Der “Soldatenkönig” Friedrich Wilhelm I. und ebenso dessen Sohn Friedrich II. ließen sich in ihrer Prostitutionspolitik gleichfalls von pragmatischen Gesichtspunkten leiten: Das unter
ihnen rasch wachsende preußische Heer stellte nicht zuletzt die damals freilich
noch sehr beschauliche Hohenzollernmetropole vor wachsende Probleme. Angesichts “drängender Bedürfnisse” ihrer meist ehelosen Soldaten tolerierten sie
jedenfalls die Bordell-Prostitution. Beim großen Friedrich, den die “Hurerei von
Weibspersonen” freilich ohnehin nicht interessierte, kam eine für diesen König
typische (begrenzte) Freismnigkeit hinzu. Er äußerte bekanntlich - obwohl notorischer Weiberfeind - Verständnis für uneheliche Mütter und plädierte für eine
verständnisvolle Haltung gegenüber Frauen, die abtrieben.6
Der Heimatforscher und erste Berliner Stadtarchivar Ernst Carl Fidicin sprach
von “hundert Bordellen” mit je sieben bis neun Prostituierten, die um 1 7 8 0 in
Berlin ihre Dienste offeriert hätten. Das wären etwa tausend “concessionirte
Lohnhuren” gewesen.7 Das klingt unwahrscheinlich, angesichts einer Einwohnerzahl, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts gerade bei gut Hunderttausend
lag, gegenüber etwa 400 000 in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre des 19.
Jahrhunderts.8 Angesichts der bis 1790 hohen Zahl an militärischen Einquartierungen scheint diese Schätzung jedoch keineswegs übertrieben: 1 7 7 0 gehörten
2 5 ,2 , 178 0 28 ,2 und 1790 2 3 ,7 Prozent der Einwohner Berlins dem M ilitär im
engeren Sinne an.9 Bis Ende der Jahrhunderts sank sowohl die Zahl der Prostituierten nach Behrend auf 2 6 0 “durchschnittlich polizeilich in Berlin geduldete Lohnhuren”, als auch die der in Berlin einquartierten Militärs (9,1 Prozent
5
Im Wortlaut wiedergegeben in: Behrend, S. 20f.
6
Vgi. Ingrid Mittenzwei, Friedrich II. von Preußen. Eine Biographie, Köln 1980, bes. S. 99f.
7
Ernst Carl Fidicin, Diplomatische Beiträge zur Geschichte der Stadt Berlin, Bd. 5 (1841/42), nach:
Behrend, S. 26. Fidicin {1802-1883} erwarb sich mit der erwähnten Schrift die Meriten, die den
Magistrat veranlaßten, ihn 1846 der Leitung des neu gegründeten Berliner Stadtarchivs zu betrauen.
8
In Zweifel gestellt wird diese Zahl von: Dietlind Hüchtkei; “Elende Mütter” und “ liederliche Weibspersonen”. Geschlechterverhältnisse und Armenpolitik in Berlin {1 7 7 0 -1 8 5 0 ), Münster 1999,
S. 273, Anm. 190.
9
Vgl. Rüdiger Hachtmann, “...e in Magnet, der die Armut anzieht”. Bevölkerungsexplosion und
soziale Polarisierung in Berlin 1830 bis 1860, in: Leben und Arbeiten auf märkischem Sand. Wege
in die Gesellschaftsgeschichte Brandenburgs, 1700-1914. Hg. Ralph Pröve/Bernd Kölling, Bielefeld 1999, S. 1 49-190, hier: S. 178, Tabelle 1.
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sämtlicher Berliner Einwohner).10 Ganz offensichtlich stellten die - meist ledigen
- Soldaten das Hauptkontingent der Freier der Berliner Prostituierten.11 Das beeinträchtigte nicht zuletzt die Kampffähigkeit der Truppen: “M anche Obersten
verschiedener Regimenter beklagten sich wiederholt über die große Anzahl der
dem Dienste durch die Syphilis entzogenen Mannschaften (bisweilen an 2 0 pro
Cent) und wendeten sich an das Polizeipräsidium mit dem Ersuchen, die Prostitution als die Quelle der syphilitischen Ansteckung mehr zu beaufsichtigen.” 12
Ein königlicher Erlaß von 1799, der den Prostituierten den Besuch von M ilitärparaden verbot, war kaum dazu angetan, den unerwünschten Kontakten
zwischen Freiern in des Königs Rocks und Berliner Freudenmädchen Einhalt
zu gebieten. Das Militär scheint ein chronisches Übel gewesen zu sein, das vom
ausgehenden 17. Jahrhundert bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts und zweifelsohne auch darüber hinaus dem - legalen wie illegalen - “ältesten Gewerbe der
W elt” eine beständige Hochkonjunktur bescherte. Folgt man dem Stadtarchivaren und Berliner Chronisten Fidicin weiter, löste das M ilitär die (bis zur Reformation) “große Zahl der zu ehelosem Wandel gezwungenen Kloster- und Weltgeistlichen” ab. Den bis 1540 offenbar zahlreichen katholischen Klerus1 Berlins
könne man, so Fidicin wörtlich, “gleichsam als die damalige Garnison von Berlin betrachten” 13.
Seit dem 1 7 .-Jahrhundert machte nicht zuletzt die hohe Zahl an Soldaten,
die in der Hauptsladt der Hohenzollernmonarchie stationiert war, wenigstens
die Duldung der Prostitution notwendig. Daran änderten das zeitweilige Verbot der Prostitution etwa durch den cholerischen “großen Kurfürsten” nichts.
Der Nachfolger Friedrichs “des Großen” folgte deshalb zunächst gleichfalls der
pragmatischen Linie seines Onkels. Friedrich Wilhelm II. wußte auch um das
Problem, das die Einquartierung zahlreicher Soldaten seiner Hauptstadt bescher-
10 Absolut hatte sich die Zahl der in Berlin stationierten Soldaten von 30.931 (1780) auf 13.414
(1800) mehr als halbiert (ebd.). Zur Zahl der Prostituiert«! (nur “inskribirte Lohnhuren”) am
Ende des 19. Jahrhunderts vgl. Behrend, S. 4 2 ,4 7 .
11 Fidicin verweist in diesem Zusammenhang auf eine Art “familialcn” oder “generationellen Kreislauf”, wenn er erklärt, “daß die liederlichen Frauenzimmer großtentheils Soldaeenkinder waren,
welche aus Mangel an Erziehung und schicklichem Broderwerbe das Laster zu ihrem Gewerbe
gemacht hatten” (nach: Behrend, S. 49L). Infolgedessen wurde in die Bekämpfung der Prostitution neben dem Innenministerium, dem Polizeipräsidenten und dem Magistrat mitunter auch das
Kommando der in Berlin stationierten Garde-Corps eingeschaltet (vgl. ebd., S. 104). Auf den hohen Prozentsatz von Soldaten unter den Freiem weisen nicht zuletzt die bekanntgewordenen Konflikte zwischen Prostituierten und städtischer Obrigkeit des ausgehenden 18. und beginnenden 19.
Jahrhunderts hin: An ihnen waren häufig Soldaten beteiligt (zumeist auf Seiten der Prostituierten).
12 Behrend, S. 183.
13 Die “in Berlin große Zahl eheloser Geistlicher” habe sich, so Fidicin wörtlich, “im Punkte der
Keuschheit bei den Berliner Ehemännern nicht in den besten Ruf gesetzt” (nach ebd., S. 7 ,2 5 ) .
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te. In einem Reskript des Polizeidirektors v. Eisenhardt vom 5. Februar 1791 für
den M onarchen wurde das Dilemma, mit dem sich die Obrigkeit konfrontiert
sah, geradezu literarisch beschrieben: “Bei einem Zusammenfluß von Menschen
männlichen Geschlechtes in einer großen Stadt, wovon ein Theil, und zwar in
dem Alter, in welchem der Begattungstrieb am heftigsten wüthet, noch nicht im
Stande ist, zu heirathen, ein anderer aber, nach seiner Lage und Bestimmung,
niemals dazu in den Stand kommt, sind Hurenanstalten leider ein nothwendiges
Übel, um größere durch keine Gesetze und Gewalt zu steuernde Unordnungen,
die aus nicht zu beengender Brust entstehen, zu vermeiden.,n4
Dennoch zog Friedrich Wilhelm II., selbst ein wirklicher Weiberheld, die Zügel nach 1789 schärfer an. Angesichts der ausufernden politischen “Unzucht” in
Frankreich erließ er Anfang der neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts ein spezielles “Lusthaus-Reglement”. Aufgrund dieser Verordnung mußten Bordelle
fortan staatlich konzessioniert, “öffentlich privilegiert” (so der einschlägige Terminus) sein. Die Organisation der “Hurerei” war fortan eine Polizeiaufgabe. Prostitution von “im Finstern auf den Straßen herumwandernden Gassenhuren”
war streng untersagt und wurde mit sechs Monaten Zuchthaus bestraft. Den Betreibern nicht konzessionierter Bordelle drohten sogar Strafen von ein bis zwei
Jahren Zuchthaus. Die in den zugelassenen Bordellen beschäftigten Prostituierten wiederum, an einer roten Schleife auf der linken Schulter kenntlich,55
wurden polizeilich streng kontrolliert und in drei Klassen mit abgestuften Tarifen kategorisiert.141516
14 Nach ebd., S. 29 .
15 Vgl. Roland Bauer; Berlin. Illustrierte Chronik bis 1870, Berlin 1988, S. 195, 198; Gieß, S. I9 f.
Derartige Kennzeichen, die die Prostituierten stigmatisierten, hatten Tradition: Nach den Ratsstatuten von 1486 mußten sie “kleine Mäntelchen in Form von Schleiern auf den Köpfen tragen”.
Seit Ende des 18. Jahrhunderts wurden die Bordelle in drei Klassen eingeteik und die dort arbeitenden Frauen in ihrer Kleidung etc. auf spezifische Weise gesondert (Fidicin, nach Behrend, S. 12,
26). Die Kennzeichnung von Prostituierten, häufig durch eine strikt vorgeschriebene Kleidung, die
sie von “anständigen Frauen" unterscheiden sollte, war im übrigen keine Eigenart Berlins oder
der Hohenzollemmonarchie, sondern weit verbreitet.
16 Immerhin wurde damit das Prinzip des Arbeitsvercrages zwischen Bordellbesitzer und Prostituierter sanktioniert. In dem Reglement von 1792 war zudem festgelegt, daß dieser Arbeitsvertrag
auf der Polizeibehörde abgeschlossen wurde. Überdies mußte ein Bordell wirt eine Angestellte, die
die Prostitution au (geben wollte, ungehindert ziehen lassen. Der Wechsel in ein anderes Bordell
war dagegen erst nach einer Frist von drei Monaten möglich. Vergleichsweise positiv war schließlich, daß Vertreter der Polizei die Prostituierten über ihre Behandlung im Bordell ohne Beisein des
Besitzers befragen konnte {vgl. Gieß, S. 23f.). Obwohl zeitlich vor dem Allgemeinen Landrecht
(ALR) von 1794 in Kraft gesetzt, basierte das Bordetlregiement ausdrücklich auf dem ALR, von
dem Entwürfe bekanntlich lange vor 1794 kursierten. Folglich wurde das Bordellreglement mit dem
Inkrafttreten des ALR nicht hinfällig, allerdings in einigen Punkten ergänzt (vgl. ebd,, S. 25-29),
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Die Bekämpfung der Prostitution 1810 bis 1846
Der nächste Hohenzollernmonarch, Friedrich Wilhelm HL, und sein Innenministerium sahen sich vor ein Dilemma gestellt: Sie wollten das Laster der Prostitution wirkungsvoll eindämmen. Zugleich jedoch gewährten sie mit den preußischen Reformen "von oben” - mit denen man einer Revolution von unten
vorzubeugen hoffte - namentlich der Städteordnung von 1808 und der Einführung der Gewerbefreiheit im Jahre 1810, bürgerliche Freiheiten. Sie mußten theoretisch auch für das angeblich "älteste Gewerbe der Welt” gelten. M ithin stellte
sich die alte Frage neu: Wie sollten Städte und polizeiliche Obrigkeit17 - beide
einer christlichen M oral verpflichtet, die Sexualität nur in der Ehe vorsah - angesichts der neuen Rechte mit den Prostituierten und ihren Zuhältern umgehen?
Die Berliner Stadtverordnetenversammlung reagierte rigoros: Sie beschloß, “daß
alle BordeÜwirthe wegen des niederträchtigen Characters ihres Gewerbes des Bürgerrechts verlustig sein und daß sie zwar an den Lasten der Bürger, aber nicht
an den Berechtigungen derselben Theil haben sollten.” 1891Seit 18 1 0 durfte zudem
keine Prostituierte mehr allein leben; sie mußte entweder im Bordell arbeiten
oder wurde - so sie ihr Gewerbe nicht aufgab - in das Berliner Arbeitshaus, den
"Ochsenkopf”, eingewiesen-17 Prostitution, so die selbst hinter dieser Repression
stehende Einsicht, ließ sich letztlich nicht unterdrücken.
Angesichts der Einquartierungen mit Napoleonischen Soldaten und dem drohenden weiteren Sittenverfall sollte der "Hurerei” jedoch ein zusätzlicher Riegel
vorgeschoben werden. Nicht nur räumlich wurden ihr Grenzen gezogen. Auch
sprachlich sollte sie so weit gehend wie möglich verdrängt werden: In einem
Reskript des Ministeriums des Innern und der Polizei wurde erwartet, daß künftig auf die offenbar gebräuchliche Bezeichnung “Freudenhaus” verzichtet werde.
“Schlechte Dinge dürfen durch Namen nicht veredelt werden”, so das zugrundeliegende scheinheilige Diktum.20 Leidtragende der obrigkeitlichen Repression
waren vor allem die stigmatisierten Frauen. Denn mit den Zuhältern ging man
freundlicher um: Das zuständige Ministerium verbot nach dem Abzug der französischen Truppen 1814 - und erneut 1836 und 1839 - den nachgeordneten Po-
17 Von 1809 bis 1927 war das Berliner Polizeipräsidium für die Überwachung der Prostituierten und
Bordelle zuständig.
18 Nach Kleß., S. 30 . Hierzu und zum folgenden ausführlich Behrend, S. S0 -1 0 3 ; ferner Gieß,
S. 31 ff.
19 Zur Geschichte des Berliner Arbeitshauses vgl. Rüdiger Hachtmann, “ ... mißverstandene politische Freiheit” - das Berliner Arbeitshaus im Jahre 1848, in: Berlin in Geschichte und Gegenwart,
1 1 ,1 9 9 2 , S. 6 3 -8 2 (bis 1848: S. 64-71).
20 Nach Gieß, S. 33, Anm.108.
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Hzeibehörden offiziell zwar die Ausstellung von Gewerbescheinen für Bordellbesitzer. Die jedoch agierten pragmatisch und gewährten weiterhin Konzessionen.
Seit 183 0 gerieten die Polizeibehörden indes noch von anderer Seite unter
Druck: Sittenstrenge männliche Bürger ereiferten sich über die “frechen Weibsbilder”, die sich nicht “entblödeten, aufgeputzt mit bloßen Brüsten vor ihren
Thüren zu stehen oder in ihren Fenstern zu liegen”, und “M änner jeden Standes” zur “Unzucht” zu verleiten versuchten, “welches ihnen leider nur allzu sehr
gelingt”. Die moralische Empörung war freilich zu einem Gutteil verlogen. Denn
in besonderem M aße engagierten sich solche Bürger gegen die Prostitution, die
in den Bezirken, in denen Bordelle und “Straßenstrich” konzentriert waren, ihr
Gewerbe als “ehrbare” Handwerker oder Händler betrieben. Sie fürchteten, daß
das gesamte Stadtviertel in Verruf geriet - und dadurch nicht zuletzt ihre Betriebe darunter litten.21 Hausbesitzer wiederum (das war damals kaum anders
als heute) fürchteten sinkende Mieten.
Anfang der vierziger Jahre verschärften die “ehrbaren” Bürger Berlins ihren
Druck auf die Obrigkeit. Weil “das Zuströmen der Lüderlichen zu den Bordellen aus den entlegendsten Stadtgegenden zu einem das anstößigste Aufsehen
erregenden Gewoge” führe, wollten sie die Bordelle aus der Innenstadt an den
Stadtrand verlegt oder ganz verboten wissen.22 Es ist kein Zufall, daß der schöne
deutsche Begriff des “Fremdenverkehrs” in Berlin erfunden wurde, vom bereits
erwähnten, auf die systematische Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten bedachten Arzt Friedrich J. Berend stammt. Er “erfand” den Begriff im Jahre 1 8 50,
als die preußische Hauptstadt neben Paris und Wien zur Metropole des europäischen Kontinents heranwuchs und immer mehr aus allen Nähten zu platzen
drohte und mit den zahllosen “Fremden” auch die Syphilis zur Massenseuche zu
werden schien.23
Hinter den Ängsten vor den Folgen eines rasch wachsenden Zustroms von
Menschen in die preußische Hauptstadt stand ein pejorativer Massendiskurs,
wie er seit Ende des 19. Jahrhunderts und besonders dann während der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts empor schwappte und vor allem ein verängstigtes Bürgertum und Kleinbürgertum immer weiter nach rechts abdriften ließ:
Die Großstadt wurde zum M oloch. Scheinbar unüberschaubare Massen, die der
Polizei und staatlichen Gewalten gegenüber immer weniger Respekt zeigten, seit
21 Vgl. (einschließlich Zitatnachweise) DierHnd Hüchtker, Prostitution und städtische Öffentlichkeit. Die Debatte über die Präsenz von Bordellen in Berlin 1792-1846, in: Ulrike Weckel/Claudia
Opitz/Birgit Tolkemitt/Olivia Hochstrasser, Ordnung, Politik und Geselligkeit der Geschlechter
im 18. Jahrhundert, Göttingen 1998, S. 34 5 -3 6 4 , hier: S. 356E,
22 Vgl. ebd., S. 359.
23 Vgl. Behrend, S. 50.
200
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Ende der sechziger Jahre dann politisiert wurden und in der frühen Sozialdemokratie eine politische Heimat fanden, bedrohten - so die Furcht der höheren
Stände - Ruhe und Ordnung. In der Tat wuchs die Bevölkerung der Preußen metropole “beängstigend”: zwischen 1820 und 1840 hatte sie sich (von 185.829
auf 31 5 .3 8 0 ) fast verdoppelt. Zwar hatte Berlin damit weder die Größe von
London mit 2 M io. Einwohner noch von Paris mit knapp einer Million Einwohner noch das Wachstumstempo der britischen Industriestädte erreicht. Wie in
jenen Städten war der Anteil der Unterschichten mit (zwischen 1800 und 1850
ziemlich konstant) 81 bis 82 Prozent in der Perspektive des Bürgertums und der
Obrigkeit jedoch erschreckend hoch.24 Die Pariser JuHrevolution von 18 3 0 , die
in Berlin mit der sogenannten Schneiderrevolution von 16. bis 19. September
1830 einen matten Nachhall gefunden hatte,2526verstärkte die Furcht vor dem
“Pöbel”, der vor Tradition und Obrigkeit immer weniger Respekt zu haben
schien, zusätzlich.
Der Zusammenhang zwischen Revolution und Prostitutionsbekämpfung ist
hier keineswegs willkürlich hergestellt. Auch hellsichtige Zeitgenossen vermerkten, daß die Aufhebung der Bordelle im Jahre 1846 aus der Sicht einer neupietistisch, lutherisch-orthodox geprägten Obrigkeit eine verquere Form der R evo-
lutionsprophylaxe war. Bereits im Jahre 1796 machten, so stellte Behrend ein
halbes Jahrhundert später fest, "in Folge der Umwältzungen, die im Westen
Europas stattfanden, höheren Orts in Bezug auf diesen [für sittliche Zucht zuständigen] Theü der Poiizeiverwaltung gewisse, rigorose, a priori gefasste Ansichten sich geltend, die sehr bald in eine wirkliche Animosität gegen die geduldete Prostitution übergingen.”20
In der Endphase der Herrschaft Friedrich Wilhelms II. und vor allem mit
der Thronbesteigung des überaus frommen Friedrich Wilhelm III. - dem die
preußischen Protestanten u.a. die Zwangsvereinigung von Lutheranern und R eformierten zur “Evangelischen Kirche der Union” samt deren vom Monarchen
24 Vgi. Hachtmann, “Ein Magnet, der die Armut anzieht”, bes. S. 178f., Tabelle 1, 2.
25 Zur Sdmeiderrevolution vgL vor allem Karl Obermann, Die Volksbewegung in Berlin in den
Jahren 1830-1832, irt: Berliner Heimat, 3, 1956, S. 12-18; lija Mieck, Von der Reforrazeit zur
Revolution, in: Geschichte Berlins. Hg. Wolfgang Ribbe, Berlin 1987, S. 526f£.; Karl Haenchen,
Zur revolutionären Unterwühlung Berlins vor den Märztagen des Jahres 1848, in: Forschungen
zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, Bd. 55, 1944, X 1, S. 84ff.; ferner Johann
Friedrich Geist/Klaus Kürvers, Das Berliner Mietshaus, Bd. I (1740-1862). Eine dokumentarische
Geschichte der ‘von Wülknitzschen Familienhäuser1 vor dem Hamburger Tor, der Prolecarisiecung des Berliner Nordens und der Stadt im Übergang von der Residenz zur Metropole, München
1980, S. 333f.j Manfred Gailus, Pöbeiexcesse und Volkstumulte im Berliner Vormärz, in: Pöbeiexcesse und Volkstumulte in Berlin. Zur Sozialgeschichte der Straße (1830-188Q}. Hg. Manfred
Gailus, Berlin 1984, S. 4.
26 Behrend, S. 48
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höchstselbst ausgearbeiteter Liturgie zu verdanken hatten - wurden "die Regierungsmaximen auf die Prinzipien einer strengeren Ethik zurückgeführt”. Die
Französische Revolution, die auch in Berlin nach 17 8 9 in heftigen Konflikten
zwischen Gesellen und Meistern sowie der Obrigkeit ihren Widerhall gefunden
hatte,27 sei auf den Zusammenbruch von Sitte, M oral und Ordnung in Frankreich während der Jahrzehnte zuvor zurückzuführen, so die Sichtweise sittenstrenger Preußen “höchsten O rts”. Würde man Sitte, M oral und Ordnung mit
aller Strenge wieder durchsetzen, sei auch der Revolution der Boden entzogen.
Dam it war die politische Prämisse preußischer Prostitutionspolitik formuliert.
Behrend, der die Innenverhältnisse der preußischen Politik seit Beginn des 19.
Jahrhunderts gut kannte, mutmaßt in seiner Schrift von 1 8 5 0 deshalb folgerichtig: “M an würde schon damals [1796/97] sämmtliche Bordelle aufgehoben
haben”, wenn sich das Hohenzollernregime Anfang des 19. Jahrhunderts nicht
in eine fundamentale Krise hineinmanövriert hätte. “Wären nicht die für unser
Vaterland traurigen Jahre von 180 5 bis 1812 dazwischen gekommen, so würde man die eben genannte Maßregel doch durchgeführt und sie nicht erst Ende
1845 beanstandet haben.”28
Angesichts der erneuten Stationierung großer militärischer Einheiten nach
dem Ende der Napoleonischen Kriege in Berlin schob man eine radikale Lösung
auf.29 Die Pariser Julirevolution und die unruhigen dreißiger Jahre gaben den
pietistisch-orthodoxen Bestrebungen einer rigorosen Bekämpfung von Unmoral
und Unsittlichkeit indes neue Nahrung. Aus der Bürgerschaft und ebenso aus
dem Ministerium heraus wurden aufgrund “einer gewissen religiös-asketischen
oder kirchlichen Dogm atik”30 die Forderung nach einem rigorosen Verbot der
Prostitution zunehmend lauter. Namentlich dem Innenminister war bereits vor
der Inthronisierung Friedrich Wilhelms IV. angesichts der immer rascheren Bevölkerungsexplosion und der damit einher gehenden sittlichen Gefahren die weiterhin blühende “Winket-” wie die “conzessionirte Lohnhurerei” ein Dorn im
Auge. Er wollte in mehren Reskripten Ende der dreißiger Jahre jede Prostitution
unerbittlich verfolgt wissen, gleichgültig, ob auf der Straße oder im Bordell. Zunächst jedoch hatte diese Forderung noch keine unmittelbaren Folgen.
27 Vgl. Helga Schultz, Berlin 1 6 5 0 -1 8 0 0 . Sozialgeschichte einer Residenz, Berlin 1987, S. 283,
294f.
28 Behrend, S. 48.
29 Von 1810 bis 1820 wurde die Zahl der in Berlin stationierten Soldaten fast verdoppelt. Danach
ging sie bis 1848 deutlich zurück (vgl. Hachtmann, “Ein Magnet, der die Armut anzieht”, S. 178,
Tabelle 1).
30 Behrend, S. 104; zum folgenden vgl. ebd., S. 104ff.
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Das änderte sich unter Friedrich Wilhelm IV., dem es mindestens ähnlich
stark wie seinem Vater ein Herzensanliegen war^ dem allgemeinen sittlichen und
moralischen Verfall grundsätzlich zu Leibe zu rücken. Die zuständigen Behörden
gingen schrittweise vor. 1840, nicht zufällig zeitgleich mit dem Beginn der Regierungszeit Friedrich Wilhelms IV , wurden die konzessionierten Bordelle zunächst
wieder - wie im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit ~ an die Stadtmauer, in
die kleine Gasse “An der Königsmauer”, verlegt,31 Der Druck der “anständigen Bürger” und ebenso der Geistlichkeit, der Prostitution mit obrigkeitlicher
Repression gänzlich den Garaus zu machen, ließ jedoch nicht nach. Ihre Beschwerden rissen nicht ab.32 Ende 1841 trat der für den Berliner Rotlicht-Bezirk im Schatten der Königsmauer zuständige Geistliche als Gastredner sogar
in der Stadtverordnetenversammlung auf. Dort wetterte er wortgewaltig gegen
“den entsetzlichen heidnischen Hurengreuel, den ein wahrhaft christlicher Staat
von sich thun müsse ... Jeder christliche Biedermann [müsse] nach Kräften sein
Schärflein dazu beitragen, diesen Greuel wegzuschaffen, da ja eben Irreligiosität
und Lasterhaftigkeit im Allgemeinen und das Laster der Unzucht im Besonderen der faulige Sumpfboden sind, in welchem das überhand nehmende Uebel der
Bettelhaftigkeit wuchert.”33
In der Folgezeit schwoll die Klage über den “mächtigen Strom der Sittenverderbnis” weiter* an. Kurzzeitig scheint sich sogar ein “Christlicher Verein zum
Schutze der öffentlichen Zucht” gebildet zu haben.34 Zum Teil aus eigenem Antrieb, zum Teil aufgrund dieses Drucks agierte die Obrigkeit auch gegenüber der
legalen Prostitution in den “Freudenhäusern” immer harscher. Seit Juli 1844
durfte das Berliner Polizeipräsidium neue Konzessionen nicht mehr ausgeben.
Bereits 1841 wurde die Schließung der 26 noch vorhandenen polizeilich kontrollierten Bordelle ins Auge gefaßt.35 Am 5. August 1844 war es dann so weit: Seine M ajestät ordnete “die gänzliche Aufhebung der hier bestehenden Bordelle”
bis zum 1. Januar 1846 an. Durch eine Kabinetts-Ordre vom 3 1 . Oktober 1845
31 Mitte 1844 befanden sich von den zu diesem Zeitpunkt insgesamt 26 "concessionirten BordellWirthschaften” 25 mit zusammen 281 Prostituierten “An der Königsmauer”, eine weitere in der
benachbarten Steingasse {mit 6 “Dirnen”), nach ebd., S. 152.
32 Ausführlich ebd., S. 116-144.
33 Nach ebd., S. 126. Wer dieser Pfarrer, der auch in den Folgejahren höchst aktiv blieb, war, verrät
Behrend nicht.
34 Vgl. ebd., S. 141. Er dürfte sich spätestens Anfang 1846, mir dem scheinbaren Erreichen seines
Ziels, aufgelöst haben,
35 Vgl. hierzu den umfangreichen Schriftwechsel in: LAB, A Rep. 0003, Nr. 1059. In den 26 Bordellen
wohnten und arbeiteten um 1840 272 Prostituierte. Weitere 37 Prostituierte “lebten für sich”. 17
dieser insgesamt 309 legalen Prostituierten “sind durchschnittlich in der Charite”(WilheIm Dteterici, Statistische Übersicht der Stadt Berlin, in: Berliner Kalender 1844, Berlin 1844, S. 240).
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wurde dieses Verbot auch auf die Bordelle außerhalb des Berliner Stadtgebietes
ausgedehnt.36
Nach dem BordeHverbot von £846;
statt "Zudämmung des Höilenpfuhls" noch mehr
"Schamlosigkeit und Frechheit"
M it der Auflösung der Bordelle Anfang 1846 schien Ruhe einzukehren. Die M aßnahme selbst ging fast “völlig friedlich” über die Bühne. Ein “kleiner Auflauf”
konnte indes nicht verhindert werden. Verursacht wurde er durch sensationslüsternes männliches Publikum: Am 3. Januar 1846 “hatte sich nämlich eine bedeutende Zahl von den zur Fortweisung bestimmten früheren Bewohnerinnen der
Bordelle im Paßbureau eingefunden, um dort die erforderlichen Reisedokumente
in Empfang zu nehmen. In Folge dessen hatte sich eine solche Menge Neugieriger
vor dem Paßbureau versammelt, daß man sich veranlaßt sah, zur Abwehr derselben Militairposten auszustellen und die Dirnen nur einzeln zu entlassen. Die
Schaar der Neugierigen harrte mehrere Stunden hindurch unermüdlich aus, indem sie wahrscheinlich glaubte, daß der Abgang der Dirnen in einem förmlichen
Aufzuge erfolgen würde; dann zerstreute sie sich ailmähÜg, ohne irgendeinen Exceß begangen zu haben. Jeder der betreffenden auswärtigen Dirnen ist vor ihrem
Abgänge noch zu Protokoll eröffnet worden, daß gegen sie eine dreimonatliche
Arbeitshausstrafe verhängt werden würde, wenn sie jemals nach Berlin ohne
vorher eingeholte Erlaubniß zurückkehren sollte.”37 Das war abschreckend. Die
betroffenen Frauen ließen deshalb die obrigkeitliche Maßnahme ohne größeren,
lautstarken Protest über sich ergehen.
Indes war die Ruhe nur scheinbar. Wenn der 1840 inthronisierte König und
die von ihm ernannten Minister allerdings glaubten, mit gesetzlichen und polizeilichen Mitteln ihre Vorstellungen von christlich-konservativ motivierter SÜttsamkeit und M oralität in Preußen und seiner Hauptstadt erzwingen zu können,
dann hatten sie sich getäuscht. Allein dadurch, daß Berlin sich in den dreißiger
und vierziger Jahren vom relativ beschaulichen Residenzstädtchen zur vorindustriellen Großstadt auswuchs, wurde die öffentliche Kontrolle illegaler ‘Winkelhurerei’ schwieriger. Bereits unmittelbar nach Bekanntwerden der Pläne des
Innenministeriums, alle Bordelle zu schließen, wurden von bürgerlicher Seite
Zweifel geäußert, ob dieser Maßnahme der gewünschte Effekt beschieden sein
36 Vgl. im einzelnen: Behrend, S. 144-155.
3 7 Vossische Zeitung (VZ), 9.1.1846.
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werde.“Wird aber”, fragte ein anonymer Leserbriefschreiber im Herbst 1844 in
der “Spenerschen Zeitung”, durch die Aufhebung der Konzessionen für Bordellwirte “der beabsichtigte Endzweck erreicht werden? Wird man bei der Vernichtung und Zudämmung dieses Höllenpfuhls verhindern können, daß dieselben
über die Ufer treten, gesundes Land überfluten und unsägliches Verderben bereiten? - Sollte es in volkreichen Städten, in denen rohe Wüstlinge wohl selten
fehlen, nicht rathsamer seyn, diese Kloaken bestehen zu lassen und streng zu beaufsichtigen?” Man laufe sonst Gefahr, “ehrbare Frauen und Mädchen gegen die
Zudringlichkeit und Gewalttätigkeiten roher Wollüstlinge zu schützen.”38
Derartige Zweifel hatten viele. Nach der Aufhebung der letzten konzessionierten Bordelle häuften sich die Klagen über die “Winkelhurerei” oder “freie
Prostitution” (Friedrich J. Behrend), ein Terminus, der nicht von ungefähr Assoziationen an die Marxsche Kategorie der (doppelt) “freien Lohnarbeit” weckt.
“Der Geschlechtstrieb fordert gebieterisch seine Rechte”, erklärte ein vormals
Königlicher Criminal-Commissarius in einer unmittelbar nach dem Bordell-Verbot erschienenen Schrift, die sich für die Zulassung von Bordellen aussprach: So,
wie man sage, “es giebt kein Haus ohne Rauch, so wird man auch sicher nur
wenige Häuser in Berlin finden können, wo sich nicht Prostitution unter irgend
einem Gewände ... eingeschlichen hätte.” Auch wenn die Obrigkeit dies nicht zu
Kenntnis nehmen wolle, bleibe die Prostitution “das ärgste Gift des bürgerlichen
Lebens”. Schließlich warnt er: “Das Gift, das Unkraut, weiches geheim wuchert,
ist weit verderblicher, als wo die Warnungstafel davor steht.”39
Auch andere Amtspersonen beschwerten sich im Namen ihrer Mitbürger
über angeblich untragbare Verhältnisse. So erklärte der Vorsteher des GrauenKloster-Bezirks M itte 1846, daß “die Bewohner [seines] Bezirks über die sich
täglich mehrenden, unmoralischen lüderlichen Weibspersonen in der Sieber- und
Kronengasse vielfache und gerechte Klage geführt [haben]; denn wenn auch,
besonders die erstgenannte Gasse, schon früher von dergleichen Subjecten bewohnt wurde, so haben sich diese in letzter Zeit, nach Schließung der Prostitutions-Häuser, bedeutend vermehrt, und viele Häuser der Kronengasse sind damit
ganz gefüllt worden. Einige Wirthe haben davon freilich den Nutzen, daß sie von
solchen Geschöpfen eine höhere Miethe erhalten und [sie] sehen es gerne, daß
38
“Eingesandt” eines “Cavi”, in: Spenerscbe Zeitung (SZ), 5.10.1844. Sogenannte Eingesandts entsprechen den heutigen Leserbriefen, mußten allerdings nach einer tariflichen Zeilengebühr vom
Einsender bezahlt werden.
3? “Wenn man glaubte, durch Aufhebung der toierirten Prostitution auch die Prostitution selbst aufzuheben, so war man in einem Irrthum" {Carl Röhrmann, Der sittliche Zustand von Berlin nach
Aufhebung der geduldeten Prostitution des weiblichen Geschlechts. Ein Beitrag zur Geschichte
der Gegenwart, Leipzig 1846, S. 49L, 56).
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ordentliche Leute die Wohnung räumen, weil sie solche gleich teurer an solche
Geschöpfe vermiethen können, aber wohin wird dies führen, wenn nur solche
und vielfach bestrafte Weiber, mit ihrem Anhänge von jungen lüderlichen Dirnen
(deren Schamlosigkeit und Frechheit kaum glaublich ist) hineinziehen? Daß sich
immer noch mehr in diesen Gossen einnisten und die UnsittÜchkeit vermehren
werden. Als noch die öffentlichen Häuser bestanden, sah die Polizei mit Strenge
darauf, daß diese feilen Frauenzimmer nicht in den Thüren stehen durften, um
Männer anzulocken, jetzt machen solche in den genannten Straßen es aber weit
ärger, nicht allein, daß sie den ganzen Tag aus den Fenstern ihrer Wohnung sehen und jede Mannsperson anrufen oder [ihr] winken, sie sitzen sogar [an einigen
Stellen zu} 3 oder 4 beisammen auf der Straße [und] lassen niemand ungeneckt
vorübergehen, oder sie gehen, besonders des Abends, in der Klosterstraße von
einer Gasse zur andern auf und nieder, um Männer zu fangen, und führen dabei
ohne geringste Scham die gemeinsten Reden”40.
Statt daß die “H urerei” mit dem Verbot der kasernierten Prostitution aus
der Welt geschafft wurde, mußte man beobachten, daß sich das Rotlicht-Milieu
ausbreitete und {wie “mehrere hiesige Unbefangene” in einem “Eingesandt” an
die “Vossisehe Zeitung” M itte Juli 1847 klagten) “die Unzahl der in allen Straßen tiraillierenden Winkeldirnen das verderbliche Netz der Demoralisation über
ganz Berlin gezogen und zehnmal mehr heimliche ... Bordelihäuser etablirt h at".
Die “freien Dirnen” würden immer mehr auch in die vormals “stillen” Straßen
ziehen.41
Die Obrigkeit reagierte, indem sie die Restriktionen weiter verschärfte. Mitte
O ktober 1 8 4 7 wies das Innenministerium den Polizeipräsidenten an, “vorläufig und bis ein besserer sittlicher Zustand wieder hergestellt ist, Concessionen
zur Aufnahme von weiblichen Schlafleuten oder zum Vermiethen von möblirten
Zimmern an unverheiratete Frauenzimmer den Bewohnern der Sieber-, Kronenund Nagelgasse [als den von Prostituierten besonders ‘heimgesuchten’ Gassen]
nicht zu ertheilen und dergleichen Concessionen überhaupt neben dem Nachweis der Unbescholtenheit und Zuverlässigkeit von der Prüfung der Localität
40 Bericht des Bezirksvorsteher Krückmann vom 1. Juli 1846, in: LAB, A Rep. 0003, Nr, 1059, Bl.
1 8 1 -1 8 2 ;. vgl. auch Bericht von A. Giaue, Krückmann und Krause vom 20. Juni 1847, daß die
Klage gegen die “Winkelhurerei” nichts gefruchtet habe. Zuvor, am 23. März 1847, hatte der
Polizeipräsident dem Innenministerium mitgeteilt, daß das Ausmaß der “Winkelhurerei” nicht so
dramatisch sei {ebd., B1.187 Rs., 188 Rs., Bi. 190-192).
41 In: VZ, 20.7.1847. Das Problem erregte die Gemüter: Bereits am 17. Juli und erneut in den Ausgaben vom 27 . Juli und 13. Aug. 1847 diskutierten andere Leser der V Z die Frage in Leserbriefen
weiter. In der Spenerschen Zeitung, 15.9.1847, wiederum wurde der Polizeipräsident gelobt, weil
er die öffentliche Sittlichkeit strengen Maßregeln unterwarf. Noch kurz vor der Märzrevolution,
am 15. Februar 1848, wurde der Magistrat von einem Berliner Bürger (Sanftleben) mit einer Beschwerde über “unsittliches Treiben” etc. attackiert (LAB, A Rep. 0003, Nr. 78).
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beim Wohnungswechsel abhängig zu machen”42, Anfang 1848 suchte das Polizeipräsidium die Kontrolle der entsprechenden Stadtteile zu intensivieren. Sie
schickte zusätzliche Patrouillen auf die Straße,43 die verdächtige Frauen gezielt
observierte und festnahm, sobald sie sich im Sinne der Sittenwächter verdächtig
machten.
Prostitution im Revolutionsjahr: "Überhandnehmen
des Treibens der liederlichen Dirnen"?
M it der Märzrevolution fand diese frühe Form obrigkeitlicher Rasterfahndung
ein plötzliches Ende. Die Prostitution “verbreitete sich über alle Straßen”, so
Robert Springer, ein Chronist der Revolution. Springer übertrieb damit freilich
erheblich. Möglicherweise stand hinter seiner Bemerkung auch politisches Kalkül. Er sah nämlich, als einer der wenigen Berliner Demokraten, in der Prostitution “auch Vortheile; sie beschleunigt den Schritt zur Revolution. Bei dem alten
Gefühl für Schicklichkeit, und im Falle es der Verwaltung gelungen wäre, den
Geschlechtstrieb auf das Eheleben zu beschränken, wäre keine Revolution denkbar gewesen. Der Geschlechtstrieb emancipirte sich aber von der Polizei und dies
war ein Fortschritt zur allgemeinen Freiheit.”44
Im Grunde gab er damit den oben von Behrend referierten Positionen der
Obrigkeit des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts recht ~ nur
unter umgekehrten Vorzeichen. Denn auch “höheren” und “höchsten O rts” war
die Prostitution wesentlich für die Revolution (in Frankreich 1 7 8 9 bis 1794)
verantwortlich gemacht worden; Friedrich Wilhelm IL, III. und wohl auch IV.
hatten mitsamt ihren Ministern geglaubt, mit einer rigiden Bekämpfung der
“Lohnhurerei” auch staatserschütternden “Umwälzungen” Vorbeugen zu können. Springer hoffte umgekehrt, daß durch die Prostitution und die seiner Ansicht
nach dadurch bedingte Erschütterung konservativer Sexualmoral der Boden für
den revolutionären Umbruch hin zu einer freien Gesellschaft bereitet würde.
4 2 Schreiben der II. Abt. des Innenministeriums (iA . Mathis) an den Magistrat vom 19. Oktober
1847, in: LAB, A Rep. 0003, Nr. 1059, BI. 201.
43 Vgl. Schreiben des Polizeipräsidenten an die Armendirektion vom 13, Januar 1848, ebd„ Nr. 78,
BI. 66-67 Rs.
4 4 Robert Springer, Berlins Straßen, Kneipen und Clubs im Jahre 1848, Berlin 1850 {Neudruck
Leipzig 1985), S. 37f. Der Demokrat und Journalist Robert Springer (1816-1885} war Ende der
dreißiger Jahre Lehrer an einer Höheren Mädchenschule und seit den fünfziger Jahren Romanschriftsteller. Die Frage der Zu- oder Abnahme diskutiert ausführlich und differenziert vor allem:
Behrend, S. 1 7 7-182. Er schließt aus dem Anstieg der syphilitischen Manns- und “Frauenspersonen” auf ein deutliches Ansteigen der illegalen Prostitution in den Jahren vor 1848.
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Auch die "früheren Bordellbesitzer” suchten die neuen Freiheiten zu nutzen.
Sie erstrebten allerdings keine demokratische Gesellschaft, sondern spekulierten
auf einen neuen Pragmatismus der Obrigkeit - auf deren Einsicht, daß mit bloßer Unterdrückung der Prostitution nicht beizukommen sei. Ihr Bemühen, auf
legalem Wege wieder in Amt und Würden zu gelangen, blieb während der Revolutionsmonate indes erfolglos: Die städtische Obrigkeit ignorierte die eingangs
zitierte Petition zunächst und verwies die ehemaligen Bordell-W irte, nachdem
diese den M agistrat mit weiteren Eingaben unter Druck zu versetzen versucht
hatten, seit M itte 1848 regelmäßig an den Polizeipräsidenten.45 Dieser beschied
die Petitionäre lakonisch, er habe “sich für die Ansicht nicht entscheiden [können], daß es nützlich und zeitgemäß sei, wiederum die Einrichtung von Bordellen
zu gestatten”. Er müsse “vielmehr die seines Orts hierauf gerichteten Anträge
der vormaligen Wirtschaftshalter entschieden zurückweisen.”46 Die drei Polizeipräsidenten des Jahres 184847 hatten dringlicheres zu tun: Sie arbeiteten daran,
das selbstbewußte Volk Berlins in die Schranken zu weisen und die Revolution
selbst zu beenden.
Aber auch wenn sie im Revolutionsjahr selbst scheiterten, war die Art und
Weise ihrer Argumentation doch taktisch geschickt. Denn die ehemals “privilegierten” Bordellwirte knüpften mit ihrer Petition vom 7. April 1848 an tatsächliche oder eingebildete Ängste ordnungsliebender {männlicher} Bürger an.48 Wie
rief die Ressentiments auch im Revolutionsjahr saßen, zeigt der Blick in die Leserbriefspalten und die Lokalberichterstattung der bürgerlichen Blätter. Die Presse mokierte sich über die zahlreichen “Winkeihuren” und “verbuhlten Gestalten, [die] über die Jahre der Jugend meist hinaus, frech entblößt und die Wangen
mit Zinnober gefärbt”, sich “theils vor der Thür, theils ungenirt auf dem Pflaster,
45 Vgí. Peticionen der Bordellwirte vom 4. Juli, 27. September und 22. November 1848, Schriftwechsel des Magistrats sowie Beschluß der Stadtverordnetenversammlung vom 21. Juni 1848,
die Angelegenheit an den Polizeipräsidenten weiterzugeben, in: LAB, A Rep. ÖÖ03, Nr. 1059, Bl.
2 0 9 -2 1 4 .
46 Schreiben des Polizeipräsidenten v, Bardeleben an den Magistrat vom 9. Juli 1848, ebd., Bl. 217.
Die Auseinandersetzung darüber zog sich freilich auch im folgenden Jahr weiter hin (vgi, den
Schriftwechsel hierzu ebd., Bl. 214-2 2 6 ).
47 Julius Freiherr v, Minuroii (1805-1860) amtierte vom 1. Juli 1847 bis 27. Juni 1848, Moritz v,
Bardeleben (1814-1890) vom 27. Juni bis 18. November 1848 und Karl Ludwig Friedrich v. Hinckeidey (1805-1856) vom 18. November bis zu seinem Tode im Duell als Polizeipräsident.
48 Petitionen von Prostituierten selbst sind für das Revoiutionsjahr und die Zeit des Vormärz nicht
überliefert. Für den Anfang des 19. Jahrhunderts (1812/17) lassen dagegen einige Eingaben von
jeweils mehreren betroffenen Frauen nachweisen. Sie werde referiert bei: Hüchtkers, “Elende
Mütter”, S. 174f. In der Folgezeit wurden die Berliner Prostituierten durch die obrigkeitliche Repression offenbar buchstäblich mundtot gemacht. Sie “hatten keinen Platz mehr in den Vorgängen und Diskussionen. Sie tauchten als handelnde Subjekte nicht mehr auf, sondern verschwanden hinter den Reden über die Gefahren der Prostitution”(ebd., S. 181).
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mit den Füßen über dem Rinnstein sitzend”, aufhielten.49 “Jeder vorübergehende
Mann wird schamlos von ihnen angerufen, und wer sich dabei nicht sehr passiv
verhält, den überstürzt eine Fluth der niedrigsten Schimpfreden, wie sie nur dem
Munde eines verworfenen Weibes entströmen kann. Es gehört ein bestialischer
Geschmack für einen Mann dazu, um in die Netze dieser Dirnen zu fallen”.50
Seit der Märzrevolution habe “auf den Straßen [das] Treiben der liederlichen
Dirnen” überhand genommen, klagte beispielsweise die linksliberale Zeitschrift
“Der Publicist” am 6. M ai 1848. Namentlich “der Thiergarten giebt nach wie
vor ein trauriges Bild der herrschenden Unordnung und Zuchtlosigkeit”. “Vagirende Individuen beiderlei Geschlechts”, machte sich auch die hochkonservative “Neue Preußische (Kreuz-) Zeitung” am 16. Juli 1848 die Beschwerden
ordnungsliebender und sittenstrenger Bürger zu eigen, “verleiden die sonst so
erquicklichen Spaziergänge, die für anständige Frauen selbst unter männlichem
Schutze fast unmöglich werden.” Zwei M onate später erreichte den “hochedlen M agistrat” erneut eine Petition aus dem damaligen Berliner Rotlicht-Bezirk.
Diesmal klagten 62 offensichtlich unbescholtene “Bewohner der Königs-M auer und deren Umgebung” dem M agistrat in einer Eingabe: “Hunderte von liederlichen Frauenzimmern, meistentheiis an bestrafte Subjecte verheiratet, haben
von den leer gewordenen Räumlichkeiten in drei früheren BordeUhäusern Besitz
genommen und' treiben dort, gestützt auf ihr eheliches Verhältniß, das schändliche Handwerk frank und frei, ohne die geringste Beschränkung und polizeiliche Aufsicht.” Sie würden “einen jeden, der durch irgendeinen Umstand gezwungen [ist], diese Gegend zu passiren, auf alle mögliche Art und Weise an sich
locken”. In den betroffenen Straßen könne “von einer nächtlichen Ruhe nicht
die Rede sein”.
Wenn sich die an der Königsmauer wohnhaften Bürger - ähnlich wie zuvor
die ehemaligen Bordellbesitzer - als “verfolgte Unschuld” und Streiter für Zucht
und Ordnung gerierten, dann suchten sie auch im Revolutionsjahr dahinter andere, sehr handfeste Interessen zu verbergen. Die größte Sorge bereitete den Anwohnern nämlich, daß durch die “wilde” Prostitution “unsere Grundstücke und
die Wohnungen darin im Werte bedeutend heruntergekommen [seien] und folgeweise wir ruiniert” würden, wenn sich nichts ändere51: eine Klage, die 1848
49 Der Publicist, 8.7.1848.
50 Ebd.
51 Petition der Bewohner der Königs-Mauer und Umgebung an den Magistrat vom 27. September.
1848. Unterstützt wurden sie von dem für den Bezirk zuständigen Hauptmann der Bürgerwehr
(LAB, A Rep. 0003, Nr. 1059, Bl. 2 0 8 -2 0 9 Rs.; vgl. auch z.B. ein im Tonfall ähnliches Eingesandt
in: VZ, 5.7.1848.
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weniger abwegig war als im Vormärz, da im Revolutionsjahr die Berliner Mieten
für frei werdende Wohnungen durchschnittlich um etwa ein Drittel sanken.52
Wieviele Prostituierte gab es eigentlich in Berlin?
Die zeitgenössischen Angaben über die Gesamtzahl der Prostituierten in Berlin
während der zweiten Hälfte der vierziger Jahre wichen beträchtlich voneinander ab: Der Schriftsteller und ehemalige Polizeikommissar Carl Wilhelm Zimmermann sprach für 1845 von mindestens zehntausend Prostituierten “aus allen Klassen und Ständen der Gesellschaft”.53 Der Polizeirath Hofrichter hielt
1846/47 eine Zahl von 8 .0 0 0 “Huren” für realistisch, andere, wie der Hauptmann der im Juli 1848 ins Leben gerufenen Berliner Schutzmannschaft, Ernst
Heitz, 1849 gar eine von 12.000.54 Der Berliner Polizeipräsident v. Bardeleben
bezifferte in einem Schreiben an den Berliner M agistrat vom Anfang Juli 1848
die Zahl der bekannten “Lohnhuren” auf “gegenwärtig” 1.250. Die “früheren
Berliner Bordellbesitzer” wiederum sprachen in ihrer Petition drei Wochen nach
der Märzrevolution von “jetzt mindestens 5 .0 0 0 Dirnen”55.
Wie erklärt sich das breite Spektrum an Schätzungen? Drei Gründe sind vor
allem zu nennen:
Erstens war die Polizei bis Juli 1848 personell nur dürftig ausgestattet. Ihr
wird nur ein relativ kleiner Teil sämtlicher Prostituierter bekannt gewesen sein.
Die Dunkelziffer war hoch, die Zahl 1.250 beschreibt nur einen Teilausschnitt
der gesamten Prostitution. Obgleich die Berliner Bordellbesitzer im zwangsweisen Ruhestand in ihrer Petition vom April 1848 und ebenso sozialkritische Zeit-
52 Vgl. Rüdiger Hachtmann, Berlin 1848. Eine Politik- und Gesellschaft sgeschichte der Revolution,
Bonn 1997, S. 353.
53 Carl Wilhelm Zimmermann, Die Diebe in Berlin oder Darstellung ihres Entstehens, ihrer Organisation, ihrer Taktik, ihrer Gewohnheiten und ihrer Sprache. Zur Belehrung für Polizeibeamte
und zur Warnung für das Publikum, nach praktischen Erfahrungen, Berlin 1847, S. 6L Zhnmermanns Zahlen, die dieser schon vorher in einer Schrift über “Die sittlichen Zustände von Berlin
nach Aufhebung der geduldeten Prostitution des weiblichen Geschlechts” genannt hatte, wurden
von Ernst Dronke, Berlin, Frankfurt a.M . 1846 {Neudruck Berlin 1987}, S. 70, 224, und Friedrich Saß, Berlin in seiner neuesten Zeit und Entwicklung, Leipzig 1846 (Neudruck Berlin 1983),
S. 163, 173, übernommen. Zimmermann (um 1810-1847} war bis Mitte der dreißiger Jahre
Polizeikoramissar in Berlin, danach Referendar am Kammergericht und seit 1842 ausschließlich
Schriftsteller, der auch unter dem Pseudonym Röhrmann publizierte.
54 Vgl. Behrend, S. 179, 205. Bei Behrend werden auch die Angaben über die Zahl der “inskribirten
Lohnhuren” aus den Jahrzehnten zuvor (zum Teil aufgeschlüsselt nach Tarifen) referiert.
55 Vgl. Petition der “früheren Bordellbesitzer” an den Magistrat vom 7. April sowie Schreiben Bardelebens an den Magistrat vom 9. Juli 1848, in: LAB, A Rep. 0003, Nr. 1059, Bl. 2 02-208 Rs.,
BL 2 1 5 -2 1 7 , Zitate Bl. 204 Rs., 215f.
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genossen wie Ernst Dronke56 das Gegenteil behaupteten, war auch die Zahl der
unehelichen Kinder kein zuverlässiger Indikator für Dimension und Wachstum
der Prostitution. Sie waren eher ungewolltes Resultat des für die Unterschichten
generell typischen Sexualverhaltens, Im berühmt-berüchtigten Voigtland war im
Vormärz etwa ein Drittel aller Kinder von unehelicher Geburt.57 Glaubt man den
zeitgenössischen Angaben, hatte sich die Zahl der unehelichen Kinder während
des Vormärz1 in ganz Berlin zudem kaum erhöht. Sie lag 1845 bis 1 8 4 7 ziemlich
konstant bei etwa 2 .1 3 0 bis 2 .1 4 0 ,581848 bei 2.200. In den Vorjahren lag sie absolut darunter; relativ war sie jedoch gleich geblieben und bewegte sich zwischen
14 und 16 Prozent sämtlicher Geburten.59
Zweitens spielte die Verfolgungsintensität eine Rolle: Bis M itte 1848 gab es
in Berlin um die zweihundert Gendarmen. Die Schutzmannschaft des Konstabler-Hauptmanns Heitz zählte Anfang 1849 dagegen etwa zweitausend M ann.60
Seit 1849 wurde diese Truppe auch im Kampf gegen die Prostitution aktiv.61
Daß Heitz1 Schätzungen unter denen aus dem Polizeipräsidium am höchsten lag,
kann infolgedessen kaum überraschen.
Drittens blieb die Definition dessen, was unter Prostitution eigentlich zu verstehen sei, unklar. Die den bürgerlichen und kleinbürgerlichen Schichten fremde
Form der Sexualität und sexueller “Anmache” in den proletarischen Schichten
verführte bürgerliche Betrachter leicht dazu, als Prostitution zu bezeichnen, was
in den Unterschichten als relativ “normal” angesehen wurde.
Viertens entbehrten die Angaben bürgerlicher Literaten über den Umfang
der Prostitution einer genaueren empirischen Grundlage. Sie waren spekulativ
und dienten dazu, das gezeichnete düstere Bild vom allgemeinen Sittenverfall
wirkungsvoll zu untermalen. Sozialkritische, “linke” Schriftsteller machten hier
keine Ausnahme. Im Gegenteil. Der Radikaldemokrat und Frühsozialist Ernst
Dronke hat vor dem Hintergrund von Gerüchten aus zweiter Hand und sicherlich auch eigener Erfahrungen mit viel Liebe die Vielfalt der Berliner Prostitution zu einem bunten Panorama ausgemalt; gleichzeitig hat er eine Typologie der
56 Dronke, S. 65. Ernst Dronke f 1822-1891) war vor der Revolution mit M arx und Engels befreundet und 1848/49 einer der Redakteure der “Neuen Rheinischen Zeitung”. 1849 emigrierte er
zunächst in die Schweiz, dann nach England und zog sich in den fünfziger Jahren aus dem politischen Leben zurück.
57 Vgl. Geist/Kürvers, S. 311.
58 Vgl. Schreiben Bardelebens vom 9. Juli 1848, in: LAB, A Rep, 0003, Nr. 1059, Bl. 216.
59 Vgl. Behrend, S. 200.
60 Vgl. Hachtmann, Berlin 1848, S. 25, 596ff.
61 Vgl. Hüchtker, “Elende M ütter", S. 179.
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quasi-professionellen “D irnen” in Berlins M itte vorgelegt.62 Er unterschied in
1. “Tanzdirnen”, die auf Tanzdielen, namentlich im Krollschen Etablissement,
“dem Sammelplatz der Prostituierten aller Klassen”, und in anderen Vergnügungslokalen ihrem Gewerbe nachgingen, 2 . “Absteigedirnen”, die an “verborgenen
Orten” ihre “Absteigequartiere” hätten, 3. “Schenkmädchen”, die “nebenbei mit
den Gästen weiteren Verkehr treiben”, 4. “Badedirnen, welche gewisse Badeanstalten zum Betrieb der Prostitution ausbeuten”, 5. “Straßendirnen”, welche auf
öffentlichen Plätzen “vorübergehende M änner aniocken”, 6. “Gelegenheitsdirnen, welche sich der Prostitution preisgeben, wenn sich eben Gelegenheit dazu
findet”, und 7. “Mätressen” mit eigener Wohnung, die “zu gewissen Zeiten den
Besuch ihres Galans” empfangen.
Proletarischer Lebensstil und Prostitution
Dronke hatte viel Phantasie. Bereits ein kurzer Blick auf seine Liste zeigt freilich, daß er im Grunde jede Frau aus den Unterschichten, die in ihrem Sexualverhalten nicht den Vorstellungen bürgerlicher Sexualmoralisten entsprach, unter Prostitutionsverdacht stellte.63 Er unterschied sich nur im ironisch-säkularen
Tonfall von dem oben erwähnten Geistlichen, der 1841 “Irreligiosität”, “Heidentum” , “Lasterhaftigkeit im Allgemeinen” sowie Armut und “Bettelhaftigkeit” zum “fauligen Sumpfboden” erklärt hatte, auf dem sich die Prostitution
ausgedehnt habe.
Zu diesem “Sumpf” gehörten nicht zuletzt die öffentlichen Vergnügungseinrichtungen der Unterschichten, die Bürgertum, Adel und Obrigkeit ohnehin suspekt waren, und hier wiederum besonders die Tanzlokale. Bereits 1795 witterte
das preußische Polizey-Direktorium hinter “diesen TantzbÖden die Quelle des
so zügellosen und in der M oralitaet gantz ausgearteten Gesindes” und setzte
jene mit Bordellen einfach gleich. Folgerichtig war die frühe Polizeibehörde denn
auch “der Meynung, daß die öffentlichen Tantzboden für die niedere Volks-Classe gänztlich aufgehoben werden müßten.”64 Dazu kam es nicht.65 Im Vormärz
62 Dronke, S. 66-69.
63 Man kann dies durchaus als Nähe des - bürgerlichen - Frühsozialismus zu bürgerlicher Moral
und bürgerlichem Lebenskonzept interpretieren. Ähnlich sittenstrenge Normen stellten auch Stefan Born und andere Exponenten der frühen organisierten Arbeiterbewegung 1848/50 auf (vgl,
Hachtmann, Berlin 1848, S. 488f.).
64 Nach Hüchtker, “Elende Mütter”, S. 168; dies., Prostitution und Öffentlichkeit, S. 350,
65 Allerdings wurde Prostituierten 1799 durch eine Königliche Verfügung die Teilnahme an öffentlichen Vergnügungsanstalten verboten. Ausführlich Hüchtker “Elende Mütter”, S. 169f.; dies.,
Prostitution und Öffentlichkeit, S. 350ff.
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schossen vielmehr weitere Vergnügungsstätten für das “einfache” Volk wie Pilze
an einem regennassen Herbsttag aus dem Boden; und mit ihnen vermehrte sich
die Zahl der “Bier- und Weindirnen ... sowie jene Kellnerinnen der Polkakneipen, welche theils in Sporen und in Jokeijäckchen oder in anderen phantastischen Aufzügen dort dem Laster der feilen Unzucht frönen”60.
Daß dem “hurerischen” Treiben indes gesteuert werden müsse, war in den
höheren Ständen Konsens und wurde auch von den Linken kaum kritisch hinterfragt. Ein anderer Demokrat, Friedrich Saß, der 1848/49 in Berlin zu einiger
Prominenz gelangte, argumentierte freilich etwas differenzierter als Dronke. Er
unterschied in einer Schrift aus dem Vormärz von den “eigentlichen” Prostituierten immerhin diejenigen Frauen aus den Unterschichten, die, “wie es häufig der
Fall ist, in wilder Ehe leben”*57. Seine anschließende Schilderung der Wohn- und
Lebensverhältnisse der in solcher wilder Ehe lebenden Paare zeigt freilich, wie
fremdartig und abstoßend auch ihm das Sexualleben und überhaupt das Alltagsverhalten der Unterschichten erschien.
“Die armselige, elende Wohnung dient häufig nur zum gemeinsamen Ausschlafen der abendlichen Ausschweifung, und die Kinder verlassen die elterliche
Wohnung, sobald sie es nur irgendwie können, sobald sie selber Lohn verdienen
oder sonstwie Mittel und Wege zu einer eigenen Existenz finden.” Die Wohnverhältnisse der proletarischen Unterschichten “sind eng, schmutzig und häufig so
überfüllt, daß an eine gehörige Absonderung der Geschlechter gar nicht gedacht
werden kann und die Schamlosigkeit sich offen enthüllt ... Die Stunde, wo sie
vom Dienst in der Fabrik erlöset sind, findet sie in der Branntweinbude, Männer
und Frauen, Jünglinge und Mädchen. Dieses wüste Leben kann jeder deutlich
merken, der abends durch die Kopenicker Straße geht, wo sich solche Arbeiterlokale in Kellern usw. befinden. Er wird häufig durch wüste Lieder, schallendes
Gelächter, Gekreische und Geschrei festgehalten, es ist ihm aber nicht geraten,
sich in die Lokale selber zu wagen, denn er ist dort der unangenehmsten Behandlung ausgesetzt.”66768
66 Röhrmann, S. 51.
67 Saß, S. 20. Vgl, außerdem die ausführliche Beschreibung der Lebensverhältnisse der sogenann-
ten Grisetten bei Dronke, S. 32ff., sowie die vorurteiisgeladene Skizze des “Lebenslaufs1* proletarischer Mädchen in: Die Geheimnisse von Berlin. Aus den Papieren eines (anonymen) Berliner
Kriminalbeamten (1844). Hg. Paul Thiel, Berlin 1987, $. 19 f.
68 Saß, S. 21. Auch der Demokrat Saß übersah im übrigen, daß manche nicht-ehelichen Beziehungen
aus ökonomischen Zwängen heraus geschlossen wurden, und nicht, um einem "wüsten Leben”
zu frönen. Ein Beispiel, in dem eine Witwe mit einem Weber zusammenlebte, ohne mit ihm verheiratet zu sein, nur um das nackte Überleben beider zu sichern, schildert Grunholzer bei Bettina v.
Arnim, Dies Buch gehört dem König, Anhang: Erfahrungen eines jungen Schweizers im Voigtlande, in: Dies., Werke und Briefe. Hg. Gustav Konrad, Bd. 3, Darmstadt 1963, S. 2 2 7 -2 5 4 , 232.
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N icht nur Saß betrachtete die “abendlichen Ausschweifungen” der niederen
Volksschichten und das ungebundene Sexualverhalten mit scheelem Blick. Auch
dem König, den Saß und Dronke ansonsten mit heftiger Kritik eindeckten, waren die "überhand genommenen sogenannten wilden Ehen” und die daraus resultierende “Sittenlosigkeit” bereits unmittelbar nach seinem Regierungsantritt
höchst zuwider. Sein Auftrag an das Staatsministerium vom 7. August 1 8 4 1 ,
dem ungezügelten Treiben in den proletarischen Vierteln Berlins auf der strafrechtlichen Ebene “kräftig entgegenzuwirken”, erwies sich jedoch als schwierig.
Nach Ansicht des preußischen Justizminister Savigny zerfielen nämlich “die wilden Ehen in zwei Klassen, nämlich in solche, welche Ärgemiß, und in solche,
welche kein Ärgerniß erregen.” in der Praxis ließ sich eine Differenzierung in
"gute” und "schlechte” wilde Ehen freilich nicht durchhalten. Reformvorschläge, etwa “armen Personen” die Trauungsgebühren zu erlassen und die Zahl der
“wilden Ehen” auf diese Weise zu reduzieren, stießen 1844 auf die Ablehnung
von Kollegen Savignys - der M inister Eichhorn und Arnim-Boitzenburg.69 So
blieb bis zur Revolution alles beim Alten.
Zum proletarischen Lebensstil70 und Sexualverhalten gehörte neben der Akzeptanz vorehelicher Beziehungen und sogenannter wilder Ehen auch die fehlende moralische Verurteilung von Müttern unehelicher Kinder. Anzügliche Äußerungen und derbe sexuelle Anspielungen waren gleichfalls keineswegs nur für
Prostituierte, sondern vermutlich für die meisten, vor allem die "gassesitzen-
69 Gutachten betr. die Verhinderung des Konkubinats, von den Ministern Eichhorn und Amim-Boitzenburg vom 24 . April 1844, in: Ute Gerhards, Verhältnisse und Verhinderungen. Frauenarbeit,
Familie und Rechte der Frauen im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M . 1978, S. 3 5 5 -3 6 0 , Zitate S.
355, 3 5 8f. Dabei hätte man mit der Ermäßigung oder Aufhebung der Gebühren für die (damals
nur) kirchliche Eheschließung für arme Paare dem “Übel” der wilden Ehen durchaus erfolgreich
zu Leibe rücken können. “Ehen sind im Voigtlande nicht beliebt, da auch die billigste Hochzeit
einen Taler, zweiundzwanzig Silbergroschen und sechs Pfennige an Traugebühren kostet und man
für die Summe ganze Fluten köstlichsten Branntweins zu beschaffen vermag” (Geheimnisse von
Berlin, S. 17}. Zu den “zahllosen wilden Ehen” im Berliner Voigtland vgl. Geist/Kürvers, S. 133,
197, 309, 384f.
70 An anderer Stelle habe ich - in Anlehnung an den US-amerikanische Anthropologen Oscar Lewis
- f ü r die Lebensweise der sozial überaus heterogenen Unterschichten in den Großstädten während
der Phase der Vor- und Frühindustrialisierung den Begriff “Kultur der Armut” verwandt (vgl.
Hachtmann, Berlin 1848, bes. S. 478 -4 9 9 ). Als Sozialkuitur der armen und ärmsten städtischen
Bevöikerungsschichten war die “Kultur der Armut” an nationale Grenzen grundsätzlich nicht
gebunden, sondern überhaupt zumindest in den meisten größeren europäischen Städten zu beobachten (vgl. ders., Die sozialen Unterschichten in der städtischen Revolution von 1848. Berlin,
Wien und Paris im Vergleich, in: Paris und Berlin in der Revolution 1848. Hg. Ilja Mieck/Horst
Möller/Jürgen Voss, Sigmariagen 1995, bes. S. 128 ff.; ders., Die Hauptstädte in der Revolution
von 1848, in: Die europäischen Revolutionen von 1848. Hg. Dieter Dowe/Heinz-Gerhard Haupt/
Dieter Langewiesche, Bonn 1997, S. 4 6 8f. Dies gilt grundsätzlich auch für die Prostitution und
ihre Rahmenbedingungen.
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den” Unterschichtsfrauen typisch.71 Selbst bei “Mädchen von 12 bis 16 Jahren”
und “jungen Knaben vom gleichem Alter” aus den Berliner Elendsquartieren vor
dem Hamburger Tor sei "alle M oralität geschwunden”. Sie würden, so heißt es
in dem Bericht eines Torkontrolleurs aus dem Jahre 1839, regelmäßig allabendlich das “vorübergehende Publikum durch unsittliche Reden insultiren, wo die
Menschheit erröten muß, solche Redensarten von jungen Leuten zu hören”. Sie
- so heißt es in gutem Berlinisch weiter - “beschimpfen denen, die es wohl wagen, ihnen zurechtweisen zu wollen”. Nach diesen "Ergötzlichkeiten beschließen
sie endlich den O rt mit frecher Unzucht in den dort befindlichen Graben” .72 Der
Bericht des Torkontroileurs war in “polizeilichem” Tonfall verfaßt (als hatte er
es mit potentiellen Delinquenten zu tun); mit seinen Ressentiments unterschied
er sich ansonsten kaum von anderen Elaboraten.
Petitionen oder Klageschriften rechtschaffener Bürger wie die Schmähreden
Geistlicher, die Eingaben ehemaliger Bordellbesitzer oder aufgeregte Anweisungen
“Höchsten O rts” wimmelten ebenso von Vorurteilen gegenüber einer Kultur,
die fremd war und von der man sich nicht “anstecken” lassen wollte. Prostitution wie der Verdacht der Prostitution, dem die in ihrem Verhalten so ganz
anderen Unterschichten ausgesetzt waren, eignete sich wie kaum ein anderes
Phänomen für Ängste grundsätzlicher Art. Allein Begriffe wie “Unzucht” oder
“Unsittlichkeit” waren überaus bedeutungsoffen. In zeitgenössischen Schriften
und Pamphleten werden sie nur selten konkretisiert. Kein Zufall ist, daß “Prostitution” und “Müßiggang” in einem Atemzug genannt wurden - also fundamentale “Defizite” an bürgerlicher Selbstdisziplin und Arbeitsökonomie mit einer
Sexualmoral, die befremdete und abstieß, vermengt wurden, oft zusätzlich angereichert um “Trunksucht”. Zugleich wurden die Grenzen zwischen den eher
harmlosen Vergnügungsstätten der Unterschichten und faktischer Prostitution
verwischt.
Ebenso wenig wurde Armut als Resultat gesellschaftlicher Entwicklung begriffen. Statt dessen wurde häufig (wenn auch nicht immer) suggeriert, sie sei
71 Vgl. hierzu bes. Carola Lipp, Frauen auf der Straße. Strukturen weiblicher Öffentlichkeit im
Unterschichtsmüieu, in: Schimpfende Weiber und patriotische Jungfrauen. Frauen im Vormärz
und in der Revolution 1848/49. Hg. Carola Lipp, Bühl-Moos 1986, S. 19 f. Auch in den proletarischen, damals noch relativ niedrig bebauten Vorstädten Berlins (man konnte zum Teil von der
Straße aus in die Dachfenster schauen) war das “Gassensitzen ” verbreitet. Vgl. die Andeutungen
z.B. bei dem Demokraten Gustav Rasch, Die dunklen Häuser Berlins, 2. Auf!., Wittenberg 1865,
S. 1 17f. Er spricht pathetisch davon, daß junge Frauen des “Abends auf den Straßen" die “Jungfräulichkeit ihrer Seele früher einbüßen” als die des Körpers.
72 Anzeige des Torkontrolleurs Rüthiing am Hamburger Tor vom 13. Juni 1836, nach: Geist/Kürvers,
S. 308. Zum Phänomen, daß “unten” die Unbefangenheit gegenüber nackten Körpern größer war
und Sexualität weniger tabuisiert wurde als im Bürgertum und Kleinbürgertum vgl. im historischen
Längsschnitt: Norbert Elias, Prozeß der Zivilisation, Bd. 1, Frankfurt a.M, 1976, bes. S. 224.
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Folge willentlich individueller Fehlentwicklung. Symptomatisch ist z.B. der Ausruf der für das Berliner “Rotlicht-Viertel” zuständigen Armenkommission im
Jahre 1831: “Nein, nicht um billig zu wohnen, zieht der Arme an die Königsmauer, sondern um entweder aus dem Verkehr mit den Huren Vortheil zu ziehen,
oder um seine Hand zum Nichtsthun unter dem Schwarm der Bewohner verstekken zu können.”73 Die “Zuordnung des sittlichen Verfalls” im weiteren wie im
engeren Sinne zu den “niederen Volks-Gassen” machte, wie Dietlind Hüchtker
resümiert hat, “aus der Prostitution ein Klassenproblem” .74 Es war in dieser
Perspektive nur folgerichtig, daß im Arbeitshaus als der zentralen Diszipünierungsanstalt der frühen bürgerlichen Gesellschaft alle subproietarischen Schichten, auf die sich der bürgerliche Armuts- und Prostitutionsdiskurs zentrierte, versammelt waren: Neben Kleinkriminellen, d.h. Menschen, die namentlich in den
Hungermonaten 1846/47 oft aus nackter N ot stahlen, und Prostituierten wurden dort auch Bettler, demente alte Menschen und obdachlose Familien in völlig
überfüllten Schlaf- und Arbeitssälen zusammengepfercht.
Bei genauerem Hinsehen zeigt sich im übrigen, daß vieles von dem, was bürgerlichen Zeitgenossen als anstößig und unmoralisch erschien, tatsächlich eher harmlos war, “unanständige Verbalinjurien”, dazu gedacht, ohnehin schon ängstliche
Fremde zu “necken” —berlinisch eben. Bei furchtsamen einheimischen Berlinern,
die kaum wagten, die proletarischen Viertel ihrer Stadt zu besuchen, kamen die
Kassandrarufe der vormaligen Bordellbesitzer und ebenso die wohlanständiger
Bürger desselben Bezirks an. Sie wurden nur allzu gern unbesehen geglaubt, da
sie die eigenen Ressentiments bestätigten. Genauer überprüft wurden die aufgebauschten Negativdarstellungen in der Regel nicht.
Der eidgenössische Lehrer Heinrich Grunholzer war eine selbstkritische Ausnahme. Grunholzer war 1842/43 als Gasthörer an die Friedrich-Wilhelms-Universität nach Berlin gekommen; er besuchte im Auftrag Bettine v. Arnims im
Sommer 1843 die “Familienhäuser” im Berliner “Voigtlande” und verarbeitete
seine Eindrücke dort zu einer frühen überaus eindrucksvollen Sozialreportage,
die als Anhang Bettines kritischem “Dies Buch gehört dem König” beigegeben
wurde. In den folgenden Jahrzehnten sollte Grunholzer in der Schweiz als Pädagoge und Politiker zu Berühmtheit gelangen.75.
73 Hiichdcer, “Elende Mütter'", S. 177f.
74 Ebd.,S. 184.
75 Heinrich Grunholzer (1819-1873), seit 1838 Lehrer an einer Schule in Bauma nahe Zürich, erhielt im Sommer 1842 vom Erziehungsrat des Kantons Zürich die Erlaubnis, sich für ein Jahr an
der Universität weiterzubilden, ln dieser Zeit lernte er u.a. Bettine v. Arnim kennen und führt in
ihrem Auftrag die bekannten Sozialreportagen durch. Nach seiner Rückkehr in die Schweiz blieb
er bis 1847 Lehrer in Bauma. 1847 wurde er zum Direktor des Bernischcn Lehrerseminars in
Münchenbuchsee gewählt, 1852 von der im Kanton Bern an die Macht gelangten konservativen
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Grunholzer beschrieb aus eigener Erfahrung, wie sehr Vorurteile das Bild bürgerlicher Beobachter prägten und wie schwer sie sich davon befreien konnten,
und zeigte dabei einen außergewöhnlich hohen Grad an Selbstreflektion, den
man in den meisten anderen sozialkritischen Darstellungen vermißt: “M an wollte mich abhalten vom Besuch dieses Hauses, indem man sagte, es sei von Leuten bewohnt, die aus dem Zuchthaus entlassen seien oder dorthin gehören; das
schlechteste Gesindel sammle sich dort, ich könne leicht mißhandelt und geplündert werden, die PoÜzeidiener haben fortwährend dort zu schaffen. Dies zog
mich gerade hin.”
Tatsächlich fand Grunholzer eine ganz andere Situation vor, als man ihn hatte Glauben machen wollen. Vor dem Haus (nicht eines der bekannten “Familienhäuser” ) “spielten die Kinder, auf der Treppe saßen viele Weibspersonen,
Männer und Jünglinge standen beisammen und plauderten. Ich machte mich auf
Neckereien gefaßt, wie man solche von einem Berliner Gassenjungen zu ertragen
hat. Die jungen Burschen waren aber ganz freundlich gegen mich; die Mädchen,
welche mich wahrscheinlich für einen Prediger hielten, lachten etwas unanständig hinter meinem Rücken. So kam ich mitten in das berüchtigte ‘Gesindel’ ohne
alle Gefahr, Ich schämte mich, daß ich einen starken Stock als Verteidigungswaffe mitgenommen hatte, und warf in meinem Kopfe die hohlen Definitionen von
‘Spitzbub, Auswurf der Menschheit’ usw. über den Haufen.”76
Der männliche Blick
Grunholzer war die Ausnahme. Ansonsten führte das Ressentiment gegenüber
den habituell so ganz anderen Unterschichten die Feder. Aus der Perspektive
eines den “gehobenen” Gesellschaftsschichten angehörenden Mannes, gleich ob
radikalsozialistischer Schriftsteller, gemäßigter Demokrat oder konservativer PoItzeibeamter,77 war die weitgehende Ineinssetzung von “unsittlichem Lebenswandel” der Unterschichten und Prostitution logisch: Dem Idealbild von der tugend-
Partei dann entlassen. Seit 1853 Lehrer an einer Kantonsschule in Zürich, wurde er als Linksliberaler im folgenden Jahr für den “großen Rat”, 1856 zum Erziehungsrat bestimmt, ln dieser
Funktion beeinflußte er maßgeblich das in den Grundzügen noch heute gültige Schweizer Unterrichtsgesetz. 1863 wurde Grunholzer schließlich zum Nationalrat gewählt. Hierzu sowie zur Ent*
stehungs- und Wirkungsgeschichte des Königsbuches vgl. vor allem Geist/Kürvers, S. 2 1 4-245.
76 Arnim, Anhang, S. 252.
77 Zu den männlichen Ressentiments gegenüber Frauen während des Revolutionsjahres vgl. Rüdiger Hachtmann, " ... nicht die Volksherrschaft auch noch durch Weiberherrschaft trüben” - der
männliche Blick auf die Frauen in der Revolution von 1848, in: Werkstatt Geschichte, 2 0 ,1 9 9 8 ,
S. 5 -3 0 .
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haften bürgerlichen Frau und Mutter stand als Antipode das der Prostituierten
gegenüber.
Unterschichtsfrauen, die mit ihrer unbürgerlichen, vergleichsweise freien Sexualität in das Klischee der sittsamen bürgerlichen Frau nicht hineinpaßten, wurden tendenziell den ‘Huren’ zugeordnet. Die von Zimmermann, Heitz, Dronke,
Saß und anderen genannte Zahl von zehntausend Prostituierten ist allein deshalb zu hoch gegriffen. Allerdings war in den Unterschichten der Schritt zur
Gelegenheitsprostitution häufig nicht groß. Erleichtert wurde dieser Schritt dadurch, daß die Schamschwelle in den unteren Sozialschichten niedriger war als
in den höheren.78 Wichtiger für den häufig nur vorübergehenden Schritt in die
“Lohnhurerei” waren die vielfach gedrückten materiellen Verhältnisse: Als der
“Ursprung jener massenhaften Berliner Prostitution” machten schon manche
kritischen Zeitgenossen des Vormärz die außerordentlich niedrigen Löhne für
Frauen aus.79 Während des Revolutionsjahres kam es, auch auf Druck der männlichen Gesellen und M eister vieler Massenh and werke,80 zu einer regelrechten
Entlassungswelle unqualifizierter Arbeiterinnen.81 Da Arbeitsbeschaffungsmaß78 Diese wiederum war wesentlich materiell bedingt. Denn die überaus beengten Wohnverhältnisse
in den proletarischen Vierteln Berlins und anderer Großstädte hatten zur Folge, daß sich Privatund öffentliche Sphäre kaum trennen ließen, mithin im buchstäblichen Sinne kein Raum für eine
Intimsphäre war.
79 Vgl. Saß, S. 1 6 3 ,1 7 2 . Zu den Löhnen von Arbeiterinnen vgl. ebd., S. 162-166; Dronke, S. 2 1 0 213.
80 So forderten im Revolutionsjahr in Berlin namentlich die Schneider-, Posamentierer-, Seidenknopfmacher-, Stuhlmacher-, Mustermaler-, Buchbinder-, Pfefferküchler- und Friseur-Meister in
Petitionen ausdrücklich das Verbot oder zumindest die Einschränkung der Frauenarbeit, ebenso
die Buchbinder-, Goldschmiede-, Strumpfwirker-, Seidenwirker-, Posamentierer-, Woltsortierer-,
Tuchscherer-, Schneider-, Mustermaler-, Vergolder- und Stuhlmachcr-Geseilen, die Friseur-Gehilfen, auch die Handlungsdiener sowie die Kellner. Angesichts der niedrigen Löhne der Arbeiterinnen und der materiellen Zwänge in den Unterschichtsfamilien muteten die Begründungen für
die Forderung nach Verbot der Frauenarbeit zynisch an. Die Strumpfwirker forderten, “das Arbeiten der Frauen auf den Scrumpfstühien gesetzlich zu untersagen“, weil sonst "die Frauen ihrem
natürlichen Beruf, die Kinder zu erziehen, entzogen“ wurden. Die Buchbindergesellen wollten
die Entlassung weiblicher Arbeitskräfte in der Kartonage-Industrie mit dem Argument erreichen:
“Sie verdienen zu wenig, um leben zu können, und erwerben das fehlende häufig durch einen unmoralischen Lebenswandel.“ Während hier Ursache und Wirkung bewußt vertauscht wurden,
begründeten Berliner Schneidermeister ihre Forderung nach einem Verbot der Frauenarbeit in
ihrem Gewerbe mit der “natürlichen Stellung des Frauenzimmers”. Da diese “ihr nicht gestattet,
bürgerliche Pflichten in ihrem ganzen Umfange auszuüben, so können ihr demnach auch die bürgerlichen Rechte nicht bewilligt werden” {LAB, A Rep. 16, Nr. 67, Bd. I, Bl. 149 Rs.; Bd. III, Bl.
1 0 3 -1 0 4 ; Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, I. HA Rep. 120, B. L I, Nr. 60, Bd. 2,
Bl. 4 2 0 ; vgl. auch Hachtmann, Berlin 1848, S. 4 0 4 ,503f.
81 Wenn die Berliner Arbeitsnachweisungsanstalt in ihren Bekanntmachungen vom 3. April und 15.
M ai 1848 nur 4 8 2 bzw. 448 erwerbslose Frauen auswies, dann ist dies irreführend: Im Unterschied zu Wien, wo auch zahlreiche erwerbslose Frauen von den staatlichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen profitierten, wurden in Berlin brotlose “Weibsleute” nicht auf öffentliche Kosten
beschäftigt. Deshalb verzichteten die meisten entlassenen Arbeiterinnen von vornherein darauf,
sich arbeitslos zu melden. Zu Wien vgl. Wolfgang Häusler, Von der Massenarmut zur Arbeiterbewegung. Demokratie und soziale Frage in der Wiener Revolution von 1848, München 1979, S.
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nahmen für Frauen nicht vorgesehen waren, standen die Arbeiterinnen, sofern
sie keinen finanziellen Rückhalt in ihren Familien fanden, anschließend buchstäblich auf der Straße.*82
Die sittsame Entrüstung der Journalisten und schriftstellernden bürgerlichen
Zeitgenossen war auch sonst verlogen: Ohne zahlungsfähige Kundschaft hätte
sich die Prostitution in dem skizzierten Umfang nicht halten können. Der Freier
war jedoch kaum ein Thema. Tatsächlich störte ja auch nicht die “Hurerei” als
solche. Es störte, daß sie nicht im Geheimen und in “geordneten Bahnen” betrieben wurde, sondern sichtbar war. Ein Ärgernis war die {relative) Ungebundenheit und das Selbstbewußtsein der “freien Prostituierten”, wie sie namentlich im
Revolutionsjahr zu beobachten war. Provozierend und in bürgerlich-männlicher
Perspektive kaum zu ertragen waren außerdem die “Frechheiten” der “Winkelhuren”, ihre losen Sprüche. Überdies schreckten sie auch vor Handgreiflichkeiten gegenüber dreisten Freiern nicht zurück.83
An das männliche Interesse, dem selbstbewußten und aufreizenden Auftreten
der Frauen einen Riegel vorzuschieben, knüpften die “früheren Bordellwirte” an.
Nicht mehr sollten die Prostituierten “wie jetzt durch die ganze Stadt frei umher schwärmen und männliche Personen aufgreifen”, sondern umgekehrt (und
zugespitzt formuliert:) männliche Personen sollten wieder ungehindert umherstreifen und, so-ihnen das Bedürfnis danach stand, nach Belieben an geeigneten
Orten weibliche Personen “aufgreifen” können. Die “Freudenmädchen” selbst
sollten weder “Streitigkeiten” noch “Excesse” mehr anzetteln dürfen und wieder
vollständig kontrolliert werden - entweder von der Polizei oder “zuverlässigen
Bordeliwirthen”. Die Wirte der ehemals legalen Berliner Freudenhäuser wußten
sich in dieser Hinsicht mit der Polizei, dem Magistrat und einer sittsamen Bürgerschaft einig.
In Zeiten, in denen die Medizin noch in den Kinderschuhen steckte und weder
der Cholera noch der Syphilis Herr wurde, war zudem (auch das kam männlichen
Bedürfnissen entgegen) die “ärztliche Controlle” wichtig. Die Prostituierten soll-
249ff.; Gabriella Hauch, Frau Biedermeier auf den Barrikaden. Frauenleben in der Wiener Revolution 1848, Wien 1990, S. 185-191.
82 Zwar behaupteten Zeitgenossen ebenso wie Historiker die besondere Anfälligkeit bestimmter
weiblicher Berufsgruppen - etwa der Dienstmädchen - für Prostitution (vgl. Saß, S. 1 6 ,2 2 ; Dronke, S. 24 sowie die Andeutungen eines Benno Haberland, Weibliches Elend, in: Frauenzeitung,
Nr. 1 1 ,1 6 .3 .1 8 5 0 (Neudruck Frankfurt a.M. 1980, S. 234f,}, Dies läßt sich jedoch weder für die
Jahrhundertmitte noch für das ausgehende 19. Jahrhundert empirisch nach weisen. Zu den Gründen, warum diese Behauptung immer wieder aufgesteilt und nur selten hinterfragt wurde vgl,
Karin Walser, Prostitutionsverdacht und Geschlechterforschung. Das Beispiel der Dienstmädchen
um 1900, in: Geschichte und Gesellschaft, 1 1 ,1 9 8 5 , S. 99-111,
83 Vgl. die geschilderte Schlägerei zwischen “einer Menge Weibsleute” und ihrem männlichen Beistand mit drei Soldaten auf S. 224.
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ten in einem hygienisch einwandfreien Zustand sein und in den Unterschichten
verbreitete Krankheiten nicht in die “besseren” Bevölkerungskreise tragen. Die
Bordell-Besitzer empfahlen sich als fürsorgliche Patriarchen (und, notabene, gute
Steuerzahler),
In der Kritik der "freien Dirnen” und dem BÜd einer “ordentlichen Prostitution”, wie es die “ehemaligen Bordellbesitzer” entwarfen, drückt sich gebrochen
ein Frauenbild aus, wie es für die damalige Zeit generell typisch war. Nach dem
gängigen Frauenbild - das als “bürgerlich” zu bezeichnen sich eigentlich verbietet, weil es bis in die Schichten der Arbeiteraristokratie hinein reichte - hatten
Frauen in der Ö ffentlichkeit nichts zu suchen. Sie hatten überwiegend in den
vier Wänden der Wohnung oder des Hauses zu bleiben und sich um Kinder und
den “Gefühlshaushalt” vor allem des Mannes zu kümmern. (Der wirtschaftliche
Haushalt wurde in den meisten bürgerlichen Familien vom Dienstpersonal bewältigt!) Wenn sie das Haus verließen, dann nur in Begleitung (des Mannes oder
einer Dienstmagd), in “geziemender”, meist unpraktischer Kleidung und lediglich im Hellen. Bürgerliche Frauen, die es wagten, diesen Kodex zu durchbrechen
und sich in Männerkleidung an revolutionären Ereignissen beteiligten, wurden
mit Anzüglichkeiten bedacht. Die weibliche Hälfte der Unterschichten, die sich
- jedenfalls bis in die vierziger Jahre - noch nicht an die bürgerlichen Regeln von
Ehrbarkeit und Sittsamkeit hielten, wurde oftmals generell unter ProstitutionsVerdacht gestellt.
Gewalt und Prostitution
Es wäre verfehlt, Sexualität und Gelegenheitsprostitution, wie sie für die “Kultur der Armut” typisch war, zu idealisieren und romantisch zu verklären. Gewalt
und Sexualität sowie Prostitution waren häufig untrennbar miteinander verkettet. Physische Gewalt wiederum gehörte zum Alltag der Unterschichten.84 Betrof-
84 Der berühmte Berliner Satiriker Adolf Glasbrenner hat dies folgendermaßen auf die Schippe genommen: Prügeln sei der Hauptberuf des “Eckenstehers”, des Inbegriffs des Berliner Subproletariers, gewesen. “Selten lacht der heitere Himmel der Eintracht in ihren Unterhaltungen, ist dies
aber wirklich einmal der Fall, so rufen sie selbst einige trübe Wölkchen der Zwietracht herbei, die
sich nach und nach aufthürmen und endlich durch ein fürchterliches Gewitter zertheilen. Es muß
ein organischer Fehler im zarten Nervensystem der Eckensteher sein, aber ohne Prügel können sie
nun einmal nicht schlafen, und sollte es, vermöge der herbeieilenden Polizei, auf dem harten Brette der Wachstube sein” (Adolf Glasbrenner, Eckensteher (1832), in: Ders., Unterrichtung der Nation. Ausgewählte Werke und Briefe. Hg. Horst Denkler u.a., Frankfurt a. M . 1981, S, 57), Was
der zeitgenössische humoristische Schriftsteller Glasbrenner hier aus der Distanz der bürgerlichen
Beobachters ironisiert, war für die Betroffenen - darunter oft genug das “schwache” Geschlecht
- vielfach freilich keineswegs lustig, sondern in hohem Maße bedrückend.
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fen waren davon nicht zuletzt Frauen. Gerade “Hurerei” war zudem oft materiell erzwungen. Viele Männer - nicht nur der enge Kreis der Zuhälter - nutzten
N ot, Elend und Hilflosigkeit der Frauen aus. Auch Jugendliche und Kinder der
Unterschichten, denen aufgrund der räumlich beengten Verhältnisse85 der Geschlechtsverkehr alltägliche Erfahrung war, blieben nicht verschont und wurden
zum Objekt sexueller Bedürfnisse der Männer aus “gehobenen” Bevöikerungskreisen. Wenn die "früheren Bordell-W irthe” feststellten, man sähe “hunderte
von Dirnen unter dem 15ten Jahre”, dann war dies vermutlich kaum übertrieben.
Ein Schlaglicht auf die Kinderprostitution und die materiellen Zwänge, die
in den armen Bevölkerungsschichten herrschten, wirft der Fall des Konditors
Kranzier. Der Besitzer des 1825 gegründeten Cafés Kranzier wurde 1 8 3 6 beschuldigt, insgesamt acht Kinder aus den “Familienhäusern” des Voigtlandes,
dem letzten Domizil der ärmsten der Berliner Armen, “zur Unzucht verführt”
und “mit unwiderstehlicher Gewalt zu Vollziehung des Beischlafs gezwungen”
zu haben. Obgleich zumindest eines der Mädchen “bei der Unzucht so gemißhandelt worden, daß sie noch lange blaue Flecken an ihrem Leibe getragen hat”,
leisteten die Eltern der Kinder “auf Untersuchung und Bestrafung Verzicht”,
weil sie (wie im Bericht der städtischen Armendeputierten vom 2 6 . O ktober
1836 konstatiert wurde) von Kranzier hohe Geldbeträge - zwischen 10 und 2 0 0
Taler - erhalten hatten. Obwohl Prostitution mit weiblichen Minderjährigen in
Preußen seit fast einem halben Jahrhundert streng verboten war,86 kam der Konditor ungeschoren davon, da (so die zynische Begründung) "die Beleidigten das
Verbrechen nicht gerügt haben”87.
Der geschilderte Fall von Kinderprostitution war keineswegs der einzige.
"Kaum oder noch nicht konfirmierte M ädchen” wurden in zwielichtigen “Tanz-
85 Nicht zuletzt im berühmt-berüchtigten Berliner “Voigsiand” teilten sich meist zwei Familien einen
einzigen Wohnraum. Arbeiteten die Eltern außer Haus, blieben kleinere Kinder “in eine dumpfe
Stube eingespem und allen Zufälligkeiten überlassen” (Louise Otto, Für die Arbeiterinnen (II},
in: Frauenzeitung, Nr. 34, 8.12.1849. “Die Kinder bleiben sich selbst überlassen, entweder in der
öden Dachstube eingeschlossen zurück, oder sie schweifen auf den schmutzigen Höfen umher ...
Bereits mit dem sechsten oder siebten Lebensjahr emanzipiert sich der Voigtländer aus der elterlichen Gewalt” (Die Geheimnisse von Berlin, S. 19).
86 Vgl. Verordnung wider die Verführung junger Mädchen zu Bordellen vom 2. Februar 1792 und
13. März 1829, nach: LAB, A Rep. 0003, Nr. 1059, Bl. 2, 2a, 17.
87 Verurteilt zu neunmonatiger Strafarbeit in der Straf- und Besserungsanstalt Brandenburg wurde
dagegen eine der Mütter der vergewaltigten Mädchen - wegen Kuppelei. Die Armendirektion
hatte vergeblich “eine nachdrückliche Bestrafung des Kranzier” gefordert - damit (so die Begründung, die die Opfer zu Tätern machte} “eine so unmoralische Handlung nicht die Geldgier der
Armen noch mehr erregt, welche nur zu sehr bereit sind, Geld auf alle mögliche Weise zu lukriren, und gewiß solche Wege verfolgen werden, auf welchen auf eine so leichte Art für sie Geld zu
erwerben ist” (Geist/Kürvers, S. 311; vgl, auch Hüchtker, “Elende Mütter”, S. 19£.).
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kneipen und besonders dem Apoliosaal” - folgt man dem freilich ressentimentgeladenen Bericht des Vorstehers einer Armenkommission M itte der dreißiger
Jahre - Opfer männlich-sexueller Begierden. Im “Apollosaal und ähnlichen Kneipen [würde] die Unschuld der jungen M ädchen bald verlorengehfen],’ da die
männlichen Besucher dieser Orte größtentheüs Soldaten und Handwerksburschen sind, welche, im kraftvollen, männlichen Alter, nur darauf ausgehen, zur
Befriedigung ihrer Wollust dergleichen unreife, mit der Welt noch wenig bekannte, junge Mädchen zu angeln und zu verführen.”88
Auch und gerade M änner aus den Unterschichten waren in ihrem Sexualverhalten vielfach gewalttätig und machten sich gern Mädchen gewaltsam gefügig.89 Wie sehr die Verhältnisse in den Unterschichten von körperlicher Gewalt
geprägt waren, wurde sichtbar in den Scheidungsanträgen. Ein Berliner Superintendent bezetchnete es im September 1846 “als eine allgemeine Wahrnehmung
der Diöcesen
daß bei weitem der größte Theil der Anträge auf Trennung des
ehelichen Lebens von Leuten, die der niedrigsten Volksklasse angehörten, und
namentlich von Frauen ausging, sowie daß Trunkenheit, Mißhandlungen und
Ehebruch meistentheüs die Ursache des ehelichen Unfriedens waren.”
Bei den bekanntgewordenen gerichtsnotorischen Fällen handelte es sich nur
um die Spitze eines Eisberges, da nach dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms
IV. die Möglichkeiten zur Ehescheidung beträchtlich erschwert wurden. Anfang
Januar 1848 klagte derselbe hohe Berliner Geistliche: “Diejenigen, welche geschieden sein möchten, aber bei der Strenge des Gesetzes, wenn sie nicht fast unerschwingliche Opfer bringen wollen, nicht geschieden werden können, scheiden
sich selbst und Fragen nicht nach richterlichem Anspruch.”90
Nach der Märzrevolution waren Scheidungsrecht und Scheidungspraxis kein
politisches Thema. Manchmal machte immerhin die liberal-demokratische Presse vergewaltigungsähnliche Vorgänge öffentlich bekannt. “Der Publicist” berichtete am 26. August 1848 von “mehreren Fällen, wo Frauenzimmer von den vor
88 Bericht des Vorstehers der Armenkommission (Krahmer) No. 56 I und II vom 2. Januar 1837,
nach: ebd., S. 384.
89 So die sprachliche Umschreibung einer versuchten Vergewaltigung, deren Zeuge Gustav Rasch
wurde {vgl. Rasch, Dunkle Häuser, S. 119}. In den yon bürgerlichen Literaten verfaßten Schriften
finden sich Hinweise auf Vergewaltigungen - ein Terminus, der damals noch nicht üblich war - in
den Unterschichten, wie überhaupt die “Sozialkultur” dort, ansonsten selten. Ihnen war als mental, kulturell und habituell “Fremden” der Einblick in die Welt der unteren Schichten des frühen
Proletariats verwehrt.
90 Nach: Dirk Blasius, Die Last der Ehe. Zur Sozialgeschtchte der Frau im Vormärz, in: Tel Aviver
Jahrbuch für deutsche Geschichte, X X I., 1992, S. 18f. Zur restriktiveren Scheidungspraxis unter Friedrich Wilhelm IV. vgl. ders., Ehescheidungen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert,
Frankfurt a.M. 1992 (Erstausgabe 1987), bes. S, 5 7 -8 0 .
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den Thoren beschäftigten Arbeitern angefailen und Unzüchtigkeiten mit ihnen
vorgenommen worden sind.”91
Die Revolution von 1848: keine "Zelt der sexuellen
Befreiung"
Das Revolutionsjahr ist keine “Zeit der sexuellen Befreiung” gewesen. Gewalt
gegen Frauen blieb auch in ihr ein KavalÜersdelikt. Sexualität war weiterhin tabuisiert. Die Aufhebung dieses Tabus war auch für radikale Demokraten kein Thema. Eine Bemerkung des Berliner Polizeipräsidenten Anfang Juli 1848, eine Legalisierung der Prostitution in konzessionierten Bordellen sei “nicht zeitgemäß”,
bringt unfreiwillig zum Ausdruck, wie sehr man das Thema Sexualität - und die
Legalisierung käuflicher Liebe als Ventil - verdrängte. Die Doppelmoral funktionierte wie eh und je und trieb Männer, namentlich solche aus den gehobenen
Bevölkerungskreisen, weiterhin in die “verruchten” Winkel der Großstadt. In
der bürgerlichen Ehe blieb Sexualität zumeist auf den Akt der Zeugung von Kindern reduziert und für die Frau häufig dumpfe Pflichterfüllung, die Sinnlichkeit
ausschloß. Der Gang des bürgerlichen Mannes zur Prostituierten wiederum war
von Gefühlen der Scham, Schuld und Erniedrigung begleitet und durfte nicht
offen zugegeben werden.92 Die nicht selten mit auffälliger Faszination gepaarte
demonstrative Ablehnung der “Lohnhurerei” und die scheinheilige Entrüstung
über den allgemeinen “Sittenverfall” in den aus bürgerlicher Feder stammenden
Quellen finden hier ihre wesentliche Erklärung.
Die moralische Empörung über Entsittlichung und Amoralität war gepaart
mit dem Ruf nach polizeilicher Kontrolle. 1848 war dies nicht anders als in
den Jahrzehnten zuvor oder danach. Allerdings waren die traditionellen O brigkeiten vorübergehend eingeschüchtert. In den Monaten nach der Märzrevolution wurde immer wieder lautstark darüber geklagt, daß die vorübergehende
Lähmung der Staatsgewalt zu einer ungehinderten Entfaltung der Prostitution
geführt habe. Kaum ein Polizeibeamter wage mehr, gegen die “Hurerei” einzuschreiten.93 Die “Verhaftungen in sittenpolizeilicher Beziehung”, notierte ein
linksliberales Blatt wie “Der Pubiicist” am 6. M ai 1848 bedauernd, habe “in
neuerer Zeit erheblich nachgelassen”. Sogar der Bürgerwehrhauptmann, der für
91 Zu den Berliner Erdarbeitern ausführlich vgl. Hachtmann, Berlin 1848, bes. S. 4 3 7 -4 5 9 .
92 Vgl. allgemein Regina Schulte, Sperrbezirke. Tugendhaftigkeit und Prostitution in der bürgerlichen Welt, Frankfurt a.M . 1984, S. 151-156.
93 Vgl. Petition der Bordellbesitzer vom 7. April 1848, B1.205.
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die Sicherheit des Neue-Friedrich-Straßen-Bezirks, in dem die Königsmauer und
die benachbarten Gassen lagen, zuständig war, mußte zugeben, daß noch Ende
September 1848 “trotz der vielen Patrouillen, die ich selbst leitete, [man] nicht
nur diesem groben Unwesen nicht steuern konnte, sondern selbst sogar insultiert
wurde, und der vereinigten Renitenz gegenüber nicht die M acht hatte, sie abhalten zu können.”94956
Vereinzelt entwickelten sich aus “Frechheiten” der “Winkelhuren” handfeste
Konflikte und Schlägereien, derer die Bürgerwehr nur mit Mühe Herr wurde.
Ein Beispiel: Am 3. Juli 1848, abends, statteten drei Soldaten {Kriegsreservisten)
dem einschlägigen Stadtviertel an der Königsmauer einen Besuch ab. “Von einer
Dirne angerufen, begingen sie die Unvorsichtigkeit, Glossen über sie zu machen.
Das Schimpfwort ‘KommißbengeP, in Berlin gegen Soldaten sehr beliebt, war die
Antwort darauf, worüber Wohlfahrt [einer der Soldaten] so in Harnisch gerieth,
daß er der Dame eine Ohrfeige versetzte. Damit war aber Oel in die Flamme geschüttet, denn nun eilten auf das Gekreisch der Geschlagenen eine Menge Weibsleute und auch Männer zu deren Beistände herbei, bewaffnet mit Knüppel und
Besen, eine Person Namens Gehrmann sogar mit einem Küchenbeile. Es braucht
kaum hinzugesetzt werden, daß die drei Kriegsreservisten den Kürzeren zogen
und die Flucht nehmen mußten. Leider hat Wohlfahrt von einem wütenden Weibe einen Hieb mit dem Beile in den Kopf erhalten, so daß er von Blut überströmt
bei der Neuen-Marktwache ankam. Um sich der Thater zu bemächtigen, mußte die Königsmauer und mehrere Hauser darin durch die Bürgerwehr förmlich
abgesperrt werden und auf dem Neuen M arkt war eine Compagnie zur Reserve
aufgestellt. Es sind vier Frauenzimmer, als Haupt-Theilnehmer an dem Krawall,
zur Haft: gebracht worden.”35 In einem anderen Fall eine gute Woche später waren die Rollen vertauscht und Bürgerwehrleute die unmittelbar Leidtragenden,
während sich die Soldaten auf die Seite “vagabondierender Frauenspersonen”
schlugen.9*
Durch Beschwerden über ihr angeblich zu passives Verhalten in zunehmendem
M aße bedrängt, begannen die Bürgerwehr und vor allem die im Juli ins Le-
94 In: LAB, A Rep. 0003, Nr. 1059, Bl. 209. Zu den eher hilflosen Aktivitäten der Bürgerwehr gegen die Prostitution vgl. außerdem Der Publicist, 21.5.1848. Die Berliner Bürgerwehr war wenige
Tage nach der Märzrevolutäon ins Leben gerufen und im November 1848 faktisch aufgelöst worden (vgl. ausführlich Hachtmann, Berlin 1848, bes. S. 2 3 4 -2 5 9 , 796ff.
95 Der Publicist, 8.7.1848.
96 Soldaten des 24. Infanterieregiments hinderten am 12. Juli eine Patrouille der Bürgerwehr nicht
nur daran, die “Verhaftung vagabondierender Frauenspersonen vor [zu] nehmen”. Sie provozierten
außerdem einen “Kampf, wobei die Bürgerwehr-Patrouiüe von der Überzahl [über]wältigt wurde, worauf die Soldaten sich ferneren Excessen Hingaben, Gewehre der Bürgerwehr zerschlugen
u,s.w.H(National-Zeitung, 15.7.1848),
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ben gesetzten Konstabler*7 seit Spätsommer “energische M aßregeln” gegen den
“allabendlichen Bettel- und Frauenzimmerunfug” zu treffen.*® Zw ar gelang es
nicht, die Prostitution einzudämmen. In ihrem überbordenden Eifer nahmen die
Konstabler mitunter außerdem “jedes Mädchen, welche sich nach Dunkelwerden allein auf der Straße betreffen ließ, mit einer wahrhaft viehischen Lust” fest,
darunter zahlreiche “unschuldige” Frauen.’ * Erfolge hatte die Polizei bei der Bekämpfung der Prostitution trotzdem vorzuweisen. Seit dem Spätsommer 1848
“bevölkerten” der Prostitution verdächtige “Frauenzimmer” vermehrt das Berliner Arbeitshaus.9798100
Es war ausgerechnet der General v. Wrangel, der einen M onat nach der Niederschlagung der Berliner und preußischen Revolution eine Lanze für die “concessionirten Bordellbesitzer” brach. Angesichts der drängenden Bedürfnisse seiner Soldaten sah er sich als Oberbefehlshaber der in die preußische Hauptstadt
einmarschierten Truppen “am 17. December 1848 endlich ... genöthigt, dem
Minister vorzustelien, daß wegen der überhandnehmenden Syphilis unter den
Soldaten es wohl nothwendig sein dürfte, die Errichtung von Bordellen unter
strenger Observation der Polizei wieder zu gestatten.”101
Seiner Intervention blieb zunächst freilich der Erfolg versagt. In der nachrevolutionären Ära, nach dem im November 1848 eingesetzten Berliner Polizeipräsidenten und informellen Polizeinunister Preußens auch “Ära Hinkeldey”
genannt, wurde die Repression gegen Prostituierte zunächst weiter verschärft.
Das änderte sich Anfang der fünfziger Jahre, nachdem sich die Gegenrevolution
etabliert hatte und pragmatisch sowie in vielerlei Hinsicht auch “modern” agierte, Zwar konnte nach dem Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit vom 12.
Februar 1850 nicht nur jedwede revolutionsverdächtige Person unnachgiebig
verfolgt, sondern auch jede Prostituierte ohne irgendwelche Einschränkungen
verhaftet werden. Deren meist männliche “Beschützer” gingen indes in der Regel
97 Zur Gründung der knapp zweitausend Mann starken Konstablertruppe vgl. Hachtmann, Berlin
1848, S. 596-600.
98 Neue Preußische (Kreuz-) Zeitung, 16.7.1848. Das läßt sich auch an den Statistiken ablesen: 5,5
Prozent sämtlicher Verhaftungen wurden im Januar 1848 mit “öffentlicher Unzucht und Winkelhurerei” begründet. Bereits bis Ende Februar/Anfang März 1848 sank dieser Prozentsatz auf 0,9.
In den ersten zwei Revolutionswochen (19. März bis 1. April) lag er bei 0,6 Prozent - um dann
seit Anfang Juli (bis Mitte September 1848) auf 5,2 Prozent hochzuschnellen (vgl. Hachtmann,
Berlin 1848, S. 466, Tabelle 13).
99 Adolf Carl (= Adolph Streckfuß), Das freie Preußen. Geschichte des Berliner Freiheitskampfes
vom 18. März und seine Folgen, Bd. II: Vom 22. Mai bis 15. Dezember Berlin 1849, S. 201.
100 Der Anteil der Frauen unter den Insassen des Arbeitshauses stieg von 27,6 Prozent 1848 auf 29,8
Prozent im folgenden Jahr. Die meisten von ihnen wurden wegen Prostitution ins Arbeitshaus eingeliefert (vgl, Hachtmann, “Mißverstandene politische Freiheit”, S. 66, Tabelle.
101 Nach: Behrend, S. 183.
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straffrei aus- Gleichzeitig wurden Bordelle wieder toleriert. Eine Königliche Kabinetts-Ordre vom Marz 1850 stellte die Zulassung von Bordellen in das Ermessen der polizeilichen Behörden der größeren preußischen Städte. Das Ministerium agierte zwar auch in der Folgezeit widersprüchlich: 1854 wurden die Berliner
Bordelle erneut geschlossen, nach Beschwerden besorgter Bürger 1 8 5 6 wieder
geöffnet. Letztlich waren die “früheren Bordellbesitzer”, die im Revolutionsjahr
vergeblich auf eine Neukonzessionierung ihrer Einrichtungen gehofft hatten, jedoch ans Ziel ihrer Wünsche gelangt.102 Für die Frauen dagegen, die sich nicht
der Gewalt eines Bordellbeskzers unterwerfen wollten, wurde “gewerbsmäßige
Unzucht” mit der Einführung des Preußischen Strafgesetzbuches im Jahre 1851
definitiv zu einem Krimi naivergehen, das mit acht Wochen Gefängnis und der
anschließenden Einweisung in das Arbeitshaus zu bestrafen war.
102 Theoretisch stand ihr Gewerbe zwar gleichfalls unter Strafandrohung, faktisch wurde es jedoch
toleriert {vgl. Gieß, S. 47ff.).
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