Der deutsche Kunst- und Kulturhistoriker Aby (Abraham Moritz) Warburg wurde 1866 als ältestes von sieben Kindern einer Bankiers-Familie in Hamburg geboren. Als Aby 13 und sein jüngerer Bruder Max 12 war, verkaufte Aby seinem Bruder seinen Anteil an der bekannten Bank der Familie im Austausch für dessen Einwilligung, ihm für den Rest seines Lebens Bücher zu kaufen. M.M. Warburg & Co., dessen Wurzeln bis ins 16. Jahrhundert zurückgehen, wurde im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts unter der Führung von Abys Bruder Max zu einem internationalen Handelsunternehmen. Währenddessen widmete sich Aby Warburg ganz seinen Studien und verfasste akademische Schriften über den geistigen und gesellschaftlichen Kontext der Kunst der Renaissance. Seine Werke wie Bildniskunst und Florentinisches Bürgertum (1902), Die Grablegung Rogers in den Uffizien (1903) und Francesco Sassettis letztwillige Verfügung (1907) beschäftigten sich mit dem Zusammenhang von klassischer Antike und christlicher Religion in der Renaissance. Seine späteren Schriften wie Italienische Kunst und internationale Astrologie im Palazzo Schifanoja zu Ferrara (1912), Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten (1920) und Orientalisierende Astrologie (1926) beleuchteten die Bedeutung klassischer Astrologie in der Kunst der Renaissance. In diesen Schriften sowie in zahlreichen Aufsätzen entwickelte Warburg einen interdisziplinären Ansatz der Kunstgeschichte, der die psychologische und kulturelle Rolle des Symbolismus allgemein untersuchte.
Wie aus Panofskys Text hervorgeht, war Warburg jedoch keineswegs ein traditioneller Gelehrter, weder in professioneller Hinsicht noch in Bezug auf sein Naturell. Er gründete eine privat finanzierte Bibliothek, die zum Angelpunkt einer Partnerschaft zwischen kultureller Philanthropie und Wissenschaft wurde, einer Partnerschaft, die Hamburg in den 1920er-Jahren zu einem der kulturellen Zentren in Europa machte. In seinem Text übernimmt Panofsky einen berühmten Aphorismus Leonardo da Vincis um Warburg zu beschreiben, „Es kehrt nicht um wer an einen Stern gebunden ist“, und deutet damit an, dass sein älterer Fachkollege eine besondere Bestimmung und die damit einhergehende Bürde gehabt habe. Wie Panofsky bewundernd schreibt, hatte Warburg eine wahrhafte geistige Berufung, die reiche humanistische Tradition und ihre historische Entwicklung zu untersuchen. Panofskys Wortwahl ist insofern ungewöhnlich, als dass Warburg nie offiziell als Professor an eine Universität berufen wurde, sondern während seines gesamten Lebens der akademischen Welt, der noch jungen Disziplin der Kunstgeschichte, sowie der neugegründeten Universität Hamburg in einer außeruniversitären Kapazität diente. Warburg, um eine halbe Generation älter als Panofsky, konnte nicht von den neuen Universitäten der Weimarer Zeit wie der in Hamburg profitieren, die offener gegenüber der Anstellung jüdischer Akademiker waren. Stattdessen war er auf Unterstützung durch die Abmachung mit seinem Bruder aus Kindheitstagen angewiesen, welche Max später als „die leichtsinnigste Geschäftsentscheidung seines Lebens“ bezeichnen sollte. Denn aus Abys Bibliothek, einstmals einer Kindheitsobsession, wurde die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg (KBW), die offiziell 1926 in Hamburg eröffnet und auf jährlicher Basis durch das familiäre Bankunternehmen finanziert wurde. Die KBW, deren Sammlung auf ihrem Höhepunkt 60.000 Bände zählte, wurde 1933 nach Hitlers Machtübernahme diskret nach London verlegt. Laut Panofsky stellte die Bibliothek einen Ausdruck der Möglichkeiten für deutsche und deutsch-jüdische Gelehrte durch neue Forschungsräume dar und bot ihnen eine Einnahmequelle im Hamburg der Zwischenkriegszeit.
Im Alter von nur fünfundzwanzig Jahren veröffentliche Warburg seine Dissertation Bildniskunst und Florentinisches Bürgertum (1902), in der er eine breite Auswahl von Texten heranzog, um die Kunst der Frührenaissance zu analysieren. Dort führte er zum ersten Mal sein Kriterium der „leidenschaftlichen Seelen-Erregung“ ein, welches seinen wissenschaftlichen Ansatz, eine Verbindung von Forschung und formaler Analyse, ikonografischer Bedeutung und Auslegung, prägte. Mit großer Detailgenauigkeit interpretierte Warburg die Eigenschaften allen menschlichen Wissens als eine Geschichte der menschlichen Emotionen. Panofsky beschreibt, wie Warburg die Entwicklung expressiver formaler Spannungen von der Antike bis zur Moderne nachzeichnet, wo subversive Tendenzen verschüttet lagen und „...immer wieder vergessen, immer wieder gewonnen und immer wieder überwunden werden“ mussten. In einer Abwandlung der bekannten Beobachtung Warburgs „Athen will eben immer wieder neu aus Alexandrien zurückerobert sein“ offenbart Panofsky den entscheidenden Unterschied zwischen ihnen: Warburg fühlte sich stets zu dem hingezogen, was Burckhardt den „Schatten“ der menschlichen Gesellschaft nannte, während Panofsky sich auf die Hochkultur konzentrierte – ein Unterschied, der sie als Gelehrte voneinander trennte und sie sowohl intellektuell als auch professionell in verschiedene Richtungen weisen sollte.
Die Tatsache, dass Panofsky gebeten wurde, den Nachruf zu verfassen, ist an sich beachtenswert. Von anderen, engeren Freunden Warburgs wie Fritz Saxl und Gertrud Bing wurden weitere Nachrufe geschrieben. Denn während Warburg unablässig von seinem irrationalen Dämon überholt wurde – mittlerweile in der Forschung als manische Depressionen identifiziert – war Panofsky dafür bekannt, diese Spannungen zu glätten und sie durch die Darstellung künstlerischen Genies zu erhöhen. Panofsky galt zu einem gewissen Grad als „Popularisierer“ der Gedanken Warburgs, welche komplexer und nuancierter, aber daher auch schwerer zugänglich waren als die seines jüngeren Fachkollegen. Angesichts dieses Kontrasts ist es interessant, dass Warburgs lebenslanger Kampf mit seiner psychischen Erkrankung von seinem Freund auf einfühlsame aber auch ehrliche Weise behandelt wird, während dieses Thema in Ernst Gombrichs wegweisender Biografie Warburgs vertuscht wird. In seiner Beschreibung des Lebens und Werks Warburgs würdigt Panofsky zu Recht die Besonderheit seines Schaffens, nämlich dessen Interdisziplinarität. Warburg, befähigt durch eine private Einrichtung, die unbehindert durch die von ihm sogenannte „Grenzwächterei“ war, begann mit dem Vergleich von Kunstwerken und Lyrik und erweiterte seinen Ansatz von diesem „Zentrum eines Kreises mit unendlich vielen Radien“, um auch Okkultismus, Philosophie, Sprache, Mathematik und Naturwissenschaften einzubeziehen. Warburgs Fragestellungen führten ihn dazu, die Kunstwissenschaft in einen breiteren Zusammenhang zu stellen und die Definition dessen, was als legitime Kunst anerkannt war, zu erweitern.
Im Zentrum dieser produktiven interdisziplinären Partnerschaft stand Warburgs Bibliothek, die laut Warburg „nicht nur das Instrument, sondern auch die anschauliche Darstellung seiner geistigen Arbeit“ war. Warburg selbst veröffentlichte kaum mehr als 200 Seiten. Sein größtes Lebenswerk war vermutlich die Bibliothek als Verkörperung seiner Vision mit ihrer Sammlung, ihren Serien sowie dem von ihm gepflegten Kreis von Gelehrten. Zudem bemerkte Panofsky, die Bibliothek habe ihre urbane Umgebung „ohne die gleiche Agonie“ in Anspruch genommen, welche Warburgs Schriften begleitete. Es hieß über Warburg, dass er sich selbst als „Hamburger von Herzen, Jude dem Blut nach [und] Florentiner im Geiste“ bezeichnete. Diese urbane Affinität spiegelt sich in Panofskys schöner Anspielung an den Hamburger Hafen, als er Warburgs Kollegen als die „Mannschaft für sein Kolumbusschiff“ beschreibt. Ebenso wie ihr urbanes Zuhause war die Bibliothek offen für Außenseiter und orientierte sich hinsichtlich ihrer Organisation als privat finanzierte außeruniversitäre Einrichtung stets an der atlantischen Welt statt an deutschen Vorbildern. Die von Panofsky sogenannte „Hamburger Schule“ wiederum antwortete darauf mit Forschung, welche die Rolle materieller Bedingungen für die Entstehung von Ideen und Kunst hervorhob. Ihr Beitrag zur Kunstwissenschaft sollte Zeit und Ort überdauern, selbst angesichts der traurigen Tatsache, dass dies zahlreichen dieser deutsch-jüdischen Gelehrten nicht vergönnt war.
Dieser Text unterliegt den Bedingungen der Creative Commons Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz. Unter Namensnennung gemäß der Zitationsempfehlung darf er in unveränderter Form für nicht-kommerzielle Zwecke nachgenutzt werden.
Emily J. Levine, Dr. phil, ist Associate Professor an der University of North Carolina in Greensboro. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit Ideen- und Wissenschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts in Europa und Nordamerika. Ihre erste Monografie trägt den Titel "Schlaraffenland der Humanisten: Warburg, Cassirer, Panofsky und die Hamburger Schule" ("Dreamland of Humanists: Warburg, Cassirer, Panofsky and the Hamburg School").
Emily J. Levine, Eine Hamburger Freundschaft. Erwin Panofskys Nachruf auf Aby Warburg (übersetzt von Insa Kummer), in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 02.02.2017. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-25.de.v1> [05.12.2024].