Der Reichssender Hamburg strahlte diese Sendung zwei Wochen nach dem Novemberpogrom aus. Am 9. und 10.11.1938 waren in allen Teilen Deutschlands Hunderte von Synagogen und Tausende von jüdischen Geschäften durch nationalsozialistische Gewalttäter zerstört worden, außerdem zahllose Wohnungen, in denen Juden lebten. Während des Pogroms waren nach offiziellen Angaben 91 Juden getötet worden, darüber hinaus kam es in diesen Tagen zu zahlreichen Suiziden. Zudem wurden in der Pogromnacht und in den darauffolgenden Tagen etwa 27.000 jüdische Männer in Konzentrationslager verschleppt, wo Hunderte von ihnen starben. Nach dem Pogrom mussten die Juden selber für die Beseitigung der entstandenen Schäden aufkommen und eine Kontribution in Höhe von 1 Milliarde Reichsmark als „Sühneleistung“ für die „feindliche Haltung des Judentums gegenüber dem deutschen Volk“ zahlen. Ihre Versicherungsansprüche beschlagnahmte das Reich. Schließlich wurde die „Arisierung“ jüdischen Besitzes mit größter Eile vorangetrieben. Jüdische Unternehmer mussten ihre Betriebe schließen oder verkaufen – zu Preisen, die meist weit unter dem Marktwert lagen.
In der deutschen Bevölkerung stießen die Gewalttaten und die mutwillige Zerstörung von Privateigentum auf vielfache Kritik: „Local reaction among all classes is one of shame and disgust“, hieß es in einem Bericht des britischen Generalkonsulats Hamburg. Zit. nach: Frank Bajohr/Christoph Strupp (Hrsg.), Fremde Blicke auf das „Dritte Reich“. Berichte ausländischer Diplomaten über Herrschaft und Gesellschaft in Deutschland 1933–1945, Göttingen 2011, S. 63 (ein Druckfehler wurde korrigiert). Das NS-Regime startete daraufhin noch im November 1938 eine massive Propagandakampagne zur Rechtfertigung dieser Politik. Bis zum Ende des Monats wurden im Rundfunk fast täglich Sendungen über „Jüdische Volksverbrecher“, über „Juden als Kriegshetzer“ und ähnliche Themen ausgestrahlt. Alan E. Steinweis, Kristallnacht 1938. Ein deutscher Pogrom, Stuttgart 2011, S. 135 f. In diesem vielstimmigen Chor des Hasses waren die „Drei Rulands“ nur einer von vielen Akteuren.
Die Art und Weise wie die drei Berliner Kabarettisten die Ereignisse vom November 1938 abhandeln, entspricht in ihrem Mix aus Verharmlosung und Rechtfertigung ganz den Vorstellungen des nationalsozialistischen Propagandaapparates. Die Gewaltexzesse gegen eine wehrlose Minderheit, die zahlreichen Toten, die Zerstörungen und Plünderungen, die mit jüdischen Häftlingen überfüllten Konzentrationslager bleiben unerwähnt. Die faktische Enteignung der deutschen Juden wird in ihrer Bedeutung kleingeredet („Geschäft beschnitten“). Dementsprechend stellen die „Drei Rulands“ die „Sühneleistung“ von 1 Milliarde Reichsmark als eine relativ geringfügige Summe dar. Die Empörung, mit der die internationale Öffentlichkeit, vor allem in den USA und Großbritannien, auf die Gewalttaten vom 9. November reagiert hatte, wird mit ironischen Floskeln abgefertigt. Gleichzeitig versucht das Kabarett aber, die „Arisierung“ jüdischen Besitzes, die 1938/39 ihren Höhe- und Endpunkt erreichte, zu legitimieren, indem es suggeriert, dass die deutschen Juden ihren Besitz auf unlautere Weise erworben hatten, durch „Raffen“, durch „Schiebung“, durch „Dreck“. Jüdische Geschäftstätigkeit wird schon durch die Wortwahl („Geschäft verrichtet“) in den Bereich des Unsauberen gerückt.
Der „kleine Cohn“, die Hauptfigur des Kabarett-Programms, war keine Erfindung der „Drei Rulands“, sondern eine seit Anfang des 20. Jahrhunderts etablierte Witzfigur. Ihr Ursprung lag in einem Couplet Ein satirisches Gedicht bzw. Lied, das einen aktuellen bzw. pikanten (politischen) Inhalt besitzt., das 1902 zum Schlager der Saison avanciert war. Dieses Lied thematisierte ein klassisches Motiv humoristischer Unterhaltung, den Seitensprung, auf eine eigentlich harmlose Weise. Es handelte von einem Ehemann namens Cohn, der mit einer „Maid“ unterwegs war, um Ehebruch zu begehen, dann aber plötzlich verschwinden musste, nachdem unerwarteterweise seine Frau aufgetaucht war. Der große Erfolg des Couplets Ein satirisches Gedicht bzw. Lied, das einen aktuellen bzw. pikanten (politischen) Inhalt besitzt. inspirierte zahlreiche Nachahmer, die in Witzen, Liedern und Karikaturen die Figur des „kleinen Cohn“ aufgriffen. Da der Nachname Cohn ein bekannter jüdischer Name war, erlangte der „kleine Cohn“ als Spottfigur bald auch in antisemitischen Kreisen große Popularität. Postkarten karikierten den „kleinen Cohn“ als krummnasigen Außenseiter, der sich vergeblich bemühte, Teil der deutschen Gesellschaft zu werden, oder als geldgierigen Zwerg, der das Straßenpflaster aufreißen ließ, um eine verlorene Mark wiederzufinden. Kurz, der „kleine Cohn“ mutierte innerhalb weniger Jahre zu einer antisemitischen Symbolfigur. An diese Tradition konnten die „Drei Rulands“ mühelos anknüpfen.
Wer waren die drei Kabarettisten, die sich 1938 in den
Dienst der nationalsozialistischen Propaganda stellten? Zu den „Drei Rulands“ gehörten die
Sänger Wilhelm Meißner, Helmuth Buth und Manfred Dlugi.
Seit 1933 waren sie als die „3 Katakombenjungens“ in
Werner Fincks
Berliner
Kabarett „Die Katakombe“
aufgetreten, wo sie mit ihrem musikalischen Stil, der an die „Comedian Harmonists“
erinnerte, rasch eine gewisse Bekanntheit erlangten. Als die „Katakombe“
1935 aus politischen Gründen geschlossen wurde, setzten
Meißner, Buth und Dlugi ihre Karriere
unter dem Namen „Die Drei
Rulands“ fort. Bemerkenswert: In politischer Hinsicht waren die
drei Kabarettisten völlig unbeschriebene Blätter. Den von der Reichskulturkammer
1933/34 angelegten Akten lässt
sich entnehmen, dass keiner von ihnen Mitglied einer nationalsozialistischen
Organisation war. Auch in der Mitgliederkartei der NSDAP, die heute im Bundesarchiv
Berlin lagert,
sind die „Drei Rulands“
nicht zu finden. Aktive Nationalsozialisten waren Meißner, Buth und Dlugi offensichtlich nicht. Tatsächlich fiel das Trio
schon wenige Monate später in Ungnade, nachdem es Anfang 1939 die gigantomanischen Pläne Speers und Hitlers zur Neugestaltung
Berlins mit
mildem Spott kommentiert hatte. Propagandaminister
Joseph Goebbels, der
in diesem Kabarettprogramm eine „freche Verhöhnung des Staates und der
Partei“ Elke Fröhlich (Hrsg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Teil I, Bd.
6, München 1998, S. 244 (31.1.1939). sah, sorgte dafür,
dass Dlugi, Meißner und Buth im Februar 1939 aus der Reichskulturkammer
ausgeschlossen wurden, eine Maßnahme, die einem Berufsverbot gleichkam.
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Michael Grüttner, Prof. Dr. phil., *1953, ist apl. Professor für Neuere Geschichte an der Technischen Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind deutsche und europäische Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert, Geschichte des Nationalsozialismus und Universitätsgeschichte.
Michael Grüttner, Das „Rulands-Eck“. Antisemitismus im Kabarett, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.09.2016. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-98.de.v1> [05.12.2024].