Grundlegung Und Aufbau Der Ethik
Grundlegung Und Aufbau Der Ethik
Grundlegung Und Aufbau Der Ethik
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102100518564 rJ.P
FRANZ BRENTAN »100518564
Einleitung
§ 1. Theoretische und praktische Disziplinen............................. 1
§ 2. Begriff und Wert der Ethik................................................ 4
§ 3. Der Name „Praktische Philosophie“.................................. 6
§ 4. Die Aufgaben der Ethik...................................... 7
Erster Abschnitt
Von den Prinzipien der ethischen Erkenntnis
Vorbemerkungen über die Schwierigkeiten dieses Ab
schnittes ................................................................... ... 15
I. Kapitel
Erkenntnisprinzipien als Gegenstand des Streites und der Untersuchung
§ 5. Es gibt unmittelbare Einsichten..................................................16
Man muß von Unbewiesenem ausgehen. Bedenken, die
sich hieran knüpfen. Widerlegung. Es gibt unmittelbare
Einsichten. Sie sind von zweifacher Gattung.
§ 6. Streitfragen über Erkenntnisprinzipien............................. 17
1. Zweifache Weise, wie Erkenntnisprinzipien Gegenstand
der Untersuchung werden können.
2. Erläuterung der Schwierigkeiten der Frage, von wel
chen Sätjen ausgehend man zu Aufschlüssen über ein
gewisses Problem gelangt.
3. Erläuterung der Schwierigkeiten der Frage, ob Sä^e
unmittelbar evident seien. Wie kann es geschehen, daß
unmittelbar sicher scheint, was es nicht ist? Wie kann
es geschehen, daß einer leugnet, wovon ein anderer mit
Recht behauptet, daß er darüber unmittelbare Sicher
heit habe?
§ 7. Ob die Möglichkeit des Zweifels den Wert der Evidenz
beeinträchtigt?.............................................................................. 22
§ 8. Rückblick auf dieses Kapitel . 23
X Inhaltsübersicht
II. Kapitel
Der Streit über die Prinzipien der ethischen Erkenntnis
§ 9. Autonome und heteronome Ethik. Ethischer Relativismus. 24
Drei Fälle der Anfechtung aufgestellter Prinzipien. Die
Verwirrung scheint hier größer als irgend sonst. Viele
■haben Prinzipien aufgestellt, aber bei jedem entstand
Streit über Evidenz oder Tragweite oder beides.
§ 10. Erläuterung des 1. Falles (Clarke) .. . 26
§ 11. Erläuterung des 2. Falles (Die Utilitarier) . . 27
§ 12.Erläuterung des 8. Falles (W ollaston).. 30
§ 13.Weitere Erläuterungen des 3. Falles (Kant)............................33
§ 14.Vervollständigung des von der Verwirrung entworfenen
Bildes............................................................................................. 40
Man streitet sogar darüber, ob die Prinzipien der ethischen
Erkenntnis Erkenntnisse oder Gefühle seien.
III. Kapitel
Sind die Prinzipien der Ethik Erkenntnisse oder Gefühle?
§ 15. Argumente für das eine und andere........................................ 42
A. Dafür, daß sie Erkenntnisse seien.
a) Erkenntnisprinzipien sind selbst Erkenntnisse.
b) Über Sittliches wird disputiert, über Gefühle läßt
sich nicht streiten.
c) Gefühle sind subjektiv, die ethischen Regeln aber
gelten für alle vernünftigen Wesen.
B. Dafür, daß sie Gefühle seien.
David Humes Ausführungen darüber. Er trägt
seine Theorie in strengerer Fassung in „A Treatise on
Human Nature“, in populärer in „Essays and Trea-
tises on several subjects“ vor.
1. Seine Analyse am Beispiele des Undanks. Er ist
weder eine wahrnehmbare Tatsache noch ein durch
den Verstand zu entdeckendes Verhältnis.
2. Das Urteil des Verstandes hat bei der sittlichen
Billigung nur vorbereitende Funktion.
3. Analogie von sittlicher und natürlicher Schönheit.
Hier wie dort ist die Billigung kein Verstandesakt.
4. Die Verhältnisse als solche, abgesehen von den an
sie geknüpften Gefühlen, entbehren der Güte.
5. Von den letzten Zwecken kann der Verstand nicht
Rechenschaft geben. Auch Tugend zählt unter diese.
6. Der subjektive Ursprung des Sittlichen im Gefühl
erklärt die Wandelbarkeit der ethischen Regeln im
Gegensatz zu den vom Verstände erkannten un
wandelbaren logischen Regeln.
§ 16. Abwehr des Arguments: „Die Prinzipien der ethischen
Inhaltsübersicht XI
VII. Kapitel
Neuer Versuch, die Ethik zu begründen
§ 40. Vom Ursprung des Begriffes des Guten und seiner Ana
logie mit dem des Wahren....................................... 134
1. Jeder Begriff kann auf gewisse Phänomene, Erfahrun
gen zurückgeführt werden.
2. Der Begriff des Guten stammt aus der inneren Wahr
nehmung.
3. Analogie zum Begriff des Wahren. Dieser von Ari
stoteles unzureichend bestimmt.
4. Der Begriff des Wahren wird im Hinblick auf die Er
fahrung evidenten Urteilens gebildet.
§ 41. Wahrheit und Evidenz......................................................... 142
§ 42. Der Begriff des Guten stammt aus der Erfahrung als
richtig diarakterisierter Gemütstätigkeiten. Deren Ana
logie zur Evidenz des Urteils.................................. 143
§ 43. Vom Begriff des Besseren.....................................................147
Er entstammt ebenfalls der inneren Wahrnehmung.
§ 44. Abschluß der Untersuchung (§ 19) darüber, wie der An
teil des Gefühls an der ethischen Erkenntnis mit deren
Allgemeingültigkeit in Einklang stehe.................... 148
VIII. Kapitel
Einwände gegen die im vorigen Kapitel dargelegte Lehre von den
Prinzipien ethischer Erkenntnis. Antworten darauf
§ 45. „Bestreitung der Tatsächlichkeit als richtig charakteri
sierter Gemütstätigkeiten“....................................... 153
§ 46. „Eine so einfache Tatsache hätte nicht so lange auf den
Entdecker zu warten gebraucht“.................... . 157
§ 47. „Wie konnte man in Unkenntnis dieser Prinzipien doch
zu richtigen ethischen Folgerungen gelangen“ .... 158
Diese Einwürfe entbehren der Berechtigung.
XVI Inhaltsübersicht
Zweiter Abschnitt
Vom höchsten praktischen Gut
I. Kapitel
Der Hedonismus
§48. Benthams Klassifikation der Güter und Übel . . . 165
Unterscheidung von einfachen und zusammengesetzten
Vergnügen und Leiden.
§ 49. Benthams Argumente für die Beschränkung der
Güter-Tafel auf die Lust:....................................... 171
Klare Begriffe der Moral und Gesetzgebung lassen sich
nur aus Erlebnissen von Lust und Unlust gewinnen und
nur Lust findet Verwendung als Lohn, nur Pein als
Strafe.
§ 50. Andere Hedoniker............................. 175
Im Altertum besonders E u d o x u s.
§51. Gründe, die gegen den Hedonismus sprechen........................ 177
Kant galt die Lust als Widerspiel der Sittlichkeit, aber
auch im Altertum wurde sie schon vielfach abgelehnt
(A n t i s t h e n e s), während sie Aristoteles wohl
als Gut, aber nicht als das einzige gelten ließ. Nur diese
Auffassung stimmt mit der Erfahrung überein und ent
hält keinen Widerspruch.
§ 52. Abwehr der Argumente der Hedoniker................................. 180
Weder die Argumente des E u d o x u s noch die Ben
thams erweisen sich als stichhältig.
II. Kapitel
Das Gute in aen eigenen psychischen Tätigkeiten
§ 53. Das Gute auf dem Gebiete der Urteilstätigkeit .... 183
Erkenntnis als solche ist liebenswert und Irrtum ein Übel.
§ 54. Das Gute auf dem Gebiete der Gemütstätigkeit . . . 185
Nicht nur die auf eine sinnliche Qualität gerichtete Lust
ist ein Gut, sondern es gibt auch höhere als richtig
charakterisierte Akte der Liebe.
§ 55. Das Gute auf dem Gebiete des Vorstellens........................188
Jede Vorstellung als Bereicherung des psychischen Lebens
ist ein Wert.
§ 56. Einwände gegen die These vom Werte jeglichen Vor
stellens: ......................................................................... 189
1. In der Klasse des Vorstellens gibt es keinen Gegensatz,
bloße Vorstellungen sind weder richtig noch unrichtig.
2. Gewisse Vorstellungen erfüllen uns mit Widerwillen.
3. Die Vorstellungen des Schönen und Gefälligen heben
sich aus den übrigen heraus und ihnen stehen die des
Häßlichen gegenüber.
Inhaltsübersicht XVII
IV. Kapitel
Von den Wertverhältnissen der Güter
§ 61. Aufzählung der Fälle unmittelbarer Erkenntnis des
Besseren...................................................... ...211
Sie fügen sich entweder der Summierungsregel ein oder
sind an qualitative Differenzen geknüpft. Es gibt auch ein
bonum progressionis.
§ 62. Fälle von Unerkennbarkeit des Vorzugs und solche von
Indifferenz....................................................................214
Nicht immer gibt sich von zwei Gütern das eine als das
liebenswertere kund. Dagegen läßt sich in gewissen
Fällen erkennen, daß kein Wertunterschied besteht. So
ist ein fremdes Gut ebenso wertvoll bzw. (wenn größer
oder höherstehend) wertvoller als das eigene.
§ 63. Wertverhältnisse der Vorstellungen...................................... 216
Gewisse Vorstellungen geben sich als wertvoller kund,
z. B. die reichere gegenüber der ärmeren.
V. Kapitel
Vom höchsten praktischen Gute
§ 64. Vom richtigen Wählen...................................... ....218
Es liegt vor, wenn das Beste unter dem Erreichbaren ge
wählt wird.
§ 65. Vom höchsten praktischen Gut insbesondere........................222
Sein Bereich ist die ganze unserer vernünftigen Ein- .
Wirkung unterworfene Sphäre.
XVIII Inhaltsübersicht
Dritter Abschnitt
Von der Freiheit des Willens
I. Kapitel
Freiheit im Sinne der Willenshemchaft
§ 68. Freiheit des actus a voluntate imperatus............................ 235
Es steht uns eine gewisse Macht zur Beherrschung des
äußeren Geschehens und zur Regelung unseres inneren
Lebens zu.
§ 69. Freiheit von Zwang und Freiheit im Sinne der Selbst
bestimmung (Freiheit des actus elicitus voluntatis) . . 238
Unser Wollen unterliegt jedenfalls keinem Zwang und
auch Selbstbestimmung ist innerhalb gewisser Grenzen
möglich, d. h. wir sind nicht ganz und gar abhängig
von äußeren Umständen.
II. Kapitel
Der Determinismus-Indeterminismus-Streit
§ 70. Drei Fassungen der Lehre, daß der Wille frei von
innerer Notwendigkeit sei....................................... 240
1. Der Wille Ursache seiner selbst.
2. Der Wille ursachlos.
3. Der Wille zwar von Ursachen mitbestimmt, aber
keiner Notwendigkeit unterworfen.
Erstes Stück
Die Argumente der Indeterministen
§71 . A. Direkte Zeugnisse des Bewußtseins.............................. 242
1. Wir könnten auch anders handeln.
2. Wir handeln trotj gleich starker Motive pro und
contra.
3. Wir handeln in gleichen Situationen verschieden.
4. Die Entscheidung tritt häufig erst nach einiger Zeit
ein.
Inhaltsübersicht XIX
Vierter Abschnitt
Von der Sittlichkeit im allgemeinen
I. Kapitel
Von der Bedingtheit und Unbedingtheit der sittlichen Normen
§ 87. Die Unbedingtheit der Sittengebote...................................... 303
§ 88. Ausnahmen von ethischen Regeln........................................... 304
Solche kommen nur bei Regeln mittlerer Allgemeinheit
vor.
§ 89. Die allgemeinste Regel gilt ausnahmslos............................ 306
Sie ist eigentlich negativ zu fassen: Entscheide dich bei
der Wahl niemals für etwas minder Gutes unter dem
Erreichbaren.
II. Kapitel
Von dem Umfang der Sittlichkeit
§ 90. Von den Grenzen der Sittlichkeit........................................... 308
Verantwortlich sind wir nur, wenn Wahlfreiheit für
unsere Handlungen gegeben ist. Unser Handeln sollte
wenigstens virtuell auf das Beste gerichtet sein.
§91. Ist nur der Wille oder auch die Handlung sittlich gut
oder schlecht?............................................................... 310
Im eigentlichen Sinne sittlich ist der Wille allein, die
Handlung nur im übertragenen.
Inhaltsübersicht XXI
III. Kapitel
Von den Gradunterschieden auf sittlichem Gebiet
§ 93. Gibt es Grade der Sittlichkeit?...........................................313
Die -Frage ist zu bejahen und ebenso gibt es Grade der
Unsittlichkeit.
§ 94. Gibt es sittlich indifferente Handlungen? ...... 315
Für -gewisse Fälle ist dies zu bejahen.
§ 95. Kann eine Handlung zugleich sittlich und unsittlich sein? 316
Die aktuelle Entscheidung kann von der virtuellen in
sittlicher Hinsicht verschieden sein.
§ 96. Pflicht und Rat .......................................................... 317
Als Pflicht ist die Durchschnittsleistung der Besten zu be
zeichnen, als Rat, was noch darüber liegt.
IV. Kapitel
Vom irrenden und zweifelhaften Gewissen
§ 97. Begriff und Einteilung des Gewissens................................. 323
§ 98. Vom irrenden Gewissen......................................................... 323
Dem festüberzeugten Gewissen zu folgen ist Pflicht, auch
wenn es irrt, doch kann ein Irrtum unverschuldet sein
oder bei Überlegung behebbar.
§ 99. Vom zweifelhaften und vom perplexen Gewissen . . . 324
Man muß zwischen subjektiver und objektiver Sittlichkeit
unterscheiden, um die hier gegebenen Schwierigkeiten zu
lösen.
§ 100. Verfehlte Theorien über die möglichen Weisen, sich in
zweifelhaften Fällen eine Meinung über die Erlaubtheit
einer Handlung zu bilden ........... 326
Fünfter Abschnitt
Von den sittlichen Vorschriften im einzelnen
I. Kapitel
Vom Werte der sittlichen Vorschriften von mittlerer Allgemeinheit
§ 101. Unmöglichkeit individueller Vorschriften............................ 333
Wegen der Verschiedenheit der Umstände ist die Auf
stellung von Vorschriften für jeden einzelnen Fall un- .
möglich.
XXII Inhaltsübersicht
II. Kapitel
Von der hergebrachten Einteilung der sittlichen Gebote
§ 105. Die bemerkenswertesten der hergebrachten Grundein
teilungen .................... 336
Die Vorschriften mittlerer Allgemeinheit und die ihnen
entsprechenden Pflichten wurden in verschiedener Weise
abgeleitet. Christliche Sittenlehre. Klassifikation der
Pflichten und Delikte von J. B e n t h a m.
III. Kapitel
Von der Verschiedenheit der Vorschriften bei grundverschiedener
Lage des Handelnden
§ 106. Prinzip der Klassifikation der Vorschriften....................... 342
Einteilung der Pflichten nach den Wirkungssphären in
fünf Klassen.
IV. Kapitel
Von den Rechts- und Liebespflichten
§ 107. Naturrecht und positives Recht.......................................... 349
Ersteres ist die Teilung der Verfügungssphären auf
Grund ethischer Erwägungen; ihm tritt das positive
Recht zur Seite. So ergeben sich drei Stufen der Rechts
bildung: 1. Reines Naturrecht. 2. Positives Recht mit rein
sittlicher Sanktion. 3. Positives Recht mit äußerer Sank
tion.
§ 108. Rechtspflichten und Liebespflichten..................................... 352
Rechtspflichten beziehen sich auf die Einhaltung der
Grenzen fremder Willenssphären, Liebespflichten ge
bieten, innerhalb der eigenen Rechtssphäre dem höchsten
praktischen Gut gemäß zu verfügen.
§ 109. Der Vorrang der Rechtspflichten vor den Liebespflichten 356
§ 110. Untereinteilüng der Rechtspflichten..................................... 357
1. Durch positive Bestimmungen determiniert oder durch
die Natur vorgezeichnet.
2. Gegenüber einer physischen oder juristischen Person.
Inhaltsübersicht XXIII
V. Kapitel
Von den komplexen Delikten
§ 111. Delikte gegen das Eigentum. Ist Privateigentum ethisch
gerechtfertigt? ....................................... 361
Ein Mittelweg mit staatlicher Kontrolle des Privateigen
tums schiene der Förderung des höchsten praktischen
Gutes am angemessensten.
Sechster Abschnitt
Von der Verwirklichung der sittlichen Vorschriften
I. Kapitel
Von den sittlichen Dispositionen
§ 112. Das Wesen der Tugend...................................... 369
Tugenden sind Dispositionen, die eine sittlich richtige
Wahl begünstigen, sie können durch Übung verbessert
werden.
§ 113. Einheit oder Vielheit der Tugenden? ....... 370
Offenbar eine Vielheit, die verschieden eingeteilt werden
kann.
§ 114. Entstehen und Vergehen der sittlichen Dispositionen . . 374
Eine Klasse der Tugenden verlangt zu ihrer Ausbildung
ein Lernen, eine zweite bildet sich aus durch Übung und
Beispiel, eine dritte durch Übung und körperliche Hygi
ene.
§ 115. Ob Tugenden zugleich Untugenden sein können? . . . 375
In gewissem Sinne ist diese Frage zu bejahen, zuweilen
kann eine Tugend über Gebühr bevorzugt werden.
§ 116. Wert der Tugend, Unseligkeit des Lasters....................... 376
II. Kapitel
Von der ethischen Führung
§ 117. Von der Wichtigkeit der ethischen Führung ..... 378
§ 118. Von dem ersten und wichtigsten Teil der ethischen Füh
rung, der sittlichen Wachsamkeit............................. 382
§ 119. Von der Meldung und Aufhebung der Gefahr .... 383
Erscheint eine Situation gefährlich, so weicht man ihr am
besten aus, sonst muß man sich, wenn sie unvermeidbar
ist, beizeiten auf sie vorbereiten und vorbeugende Maß
nahmen ergreifen.
XXIV Inhaltsübersicht
die Wahl der Mittel in bezug auf ihn belehrt. Man nennt sie
gewöhnlich die Ethik oder Moralphilosophie.
Offenbar ist sie die vornehmste von allen praktischen Diszipli
nen und verhält sich zu ihnen wie die Kunst des Baumeisters zu
den Handlangerkünsten. Ihre Kenntnis ist für das Leben von
größter Wichtigkeit. Wer -den Zweck kennt, den er anzustreben
hat, gleicht einem Schüßen, der das Ziel schaut und sicher leichter
treffen wird als ein anderer, der nur aufs Geratewohl losdrückt.
An dieses Wissen haben diejenigen zu wenig gedacht, die
Zweifel daran aufwarfen, ob denn der Fortschritt der Wissen
schaft der Menschheit wirklich zum Segen gereiche. Daß Wissen
Zuwachs an Macht bedeutet, wird nicht bestritten, aber dient
diese Macht den Menschen zum Heile? Ein Rousseau hat die
Frage verneint und über den sog. Fortschritt der Zivilisation
den Stab gebrochen. Der richtige Kern dieses Verdammungs-
urteils ist der: echten Segen bringt die Wissenschaft nur dann,
wenn die Menschen ausreichend ethisches Wissen besitzen. Doch
ist dieses noch vielfach zu gering und zu wenig verbreitet. Aller
Fortschritt der Technik aber kann zum Unheil ausschlagen, wenn
er nicht -unter der Leitung und Kontrolle der höchsten praktischen
Disziplin, der Ethik, steht.
Ist das ethische Wissen wichtig für alle Menschen, so bietet
es noch ein besonderes Interesse für den Juristen, wofern er mehr
als ein geistloser Paragraphenreiter werden will. Auch die
Jurisprudenz gehört zu den praktischen Disziplinen. Aber auch
die Entscheidungen des Staatsmannes sollten -durch ethisches
Wissen geleitet werden. Die Staatsgesetje sind Vorschriften für
das Handeln, die nach dem Urteil aller großen Denker im Hin
blick auf dieselben Ziele festgestellt werden sollen, die auch der
einzelne bei seinem Handeln als höchste Zwecke zu verfolgen
hat. Darum bringt Aristoteles -die Untersuchungen über
das höchste Gut in die engste Beziehung zur Politik, so zwar,
daß er sie geradezu als ihr zugehörig betrachtet Er macht -darauf
aufmerksam, wie die vornehmsten praktischen Disziplinen sich
ihr -unterordnen, z. B. die Feldherrnkunst, die Redekunst, die
Ökonomik. Und um unter den Philosophen der Neuzeit nur
einen hervorragenden zu nennen: Jeremias Bentham. Er
6 Ethik als „praktische Philosophie“
keit und bei einem solchen Zustand ist es nicht nur anregend,
sondern geradezu notwendig, die verschiedenen Lösungsversuche
kennenzulernen. Doch kann hier nur auf die wichtigsten Rich
tungen eingegangen werden, wobei jeweils ein System für eine
ganze Gruppe ähnlicher zu stehen hat.
Noch eine Bemerkung über den besonderen Charakter der
„N ormwissenschafte n“, zu denen man auch die Ethik
zu rechnen pflegt.“ Vergleicht man mit einem Lehrbuch der
Physik etwa ein Handbuch der Baukunst oder der Hygiene oder
auch der Logik, so fällt sofort auf, daß hier nicht einfach gelehrt
wird, wie die Menschen wirklich bauen, welche Verhaltungs
maßregeln man anzuwenden hat, um gesund zu bleiben oder
um richtig zu schließen, sondern wie gebaut werden soll, wie
man Kleidung, Lebensweise usw. einrichten soll oder wie man
schließen und beweisen soll. Gewiß werden auch in diesen Fällen
„Gesetje“ in dem Sinne verwendet, wie man von physikalischen
Gesehen zu sprechen pflegt (als Zusammenfassungen von Einzel
tatsachen), aber auch sie dienen immer einem Sollen. Da nun
im gewöhnlichen Sprachgebrauch das Wort „Gesetj“ bald in der
einen, bald in der anderen Bedeutung verwendet wird, so hat
man, um diese Zweideutigkeit zu vermeiden, für diese zweite
Art von Gesehen den Ausdruck Normen und für die Wissen
schaften, die aus solchen Normen bestehen, den Ausdruck norma
tive oder Normwissenschaften eingeführt.
Wie kommt denn aber eine Wissenschaft dazu, Normen auf
zustellen? Woher nehmen gewisse Disziplinen das Recht, Sä^e
von der Form: „Es soll so sein“ anstatt „Es ist so“ auszusprechen?
Es ist ja niemand da, der im eigentlichen Sinne befiehlt, denn
Ausdrücke, wie „die Logik befiehlt“, sind doch offenbar nur bild
lich zu verstehen. Der Grund liegt darin, daß die Normen dieser
Wissenschaften die Bedingungen darstellen, unter denen ein ge
wisser, selbstgewählter Zweck erreicht wird, z. B. in der Logik:
Wenn du richtig urteilen und dich vor Irrtümern schütjen willst,
so muß dein Schließen so und so vor sich gehen.
Man könnte den Imperativ auch vermeiden und durch die
hypothetische Form ersehen, er besagt nichts anderes als: Wenn
du das willst, mußt du so und so handeln. Der Imperativ (z. B.
12 Jede Normwinenschaft durch einen Zweck charakterisiert
Die Peripherie des Kreises hat so viel Punkte, als der Kreis
Radien hat, denn jeder Radius trifft sie in einem Punkte, und
es kann keinen Punkt in ihr geben, der nicht einen Radius be
grenzte. Nun ist ein Kreis mit halbem Durchmesser halb so groß.
Ein konzentrischer Kreis mit dem halben Durchmesser hat aber
gleichviel Radien wie der mit dem doppelt so großen, worin er
sich befindet. Also scheint die halb so große Kreislinie nicht
weniger Punkte zu haben als die doppelt so große.
Eine andere solche Aporie stammt vom Eleaten Zeno
(ca. 520 v. Chr.) und will zeigen, daß es keine Bewegung geben
könne. Der fliegende Pfeil, woher kommt er? Aus dem Bogen
des Schüßen. Wohin gelangt er schließlich? Ans Ziel. Dazwischen
liegt eine Strecke von unbestimmter Länge, welche er in einer
Zeit von bestimmter Länge durchlaufen hat. In der halben Zeit
die halbe Strecke usw. Aber wie bringt er das zustande? Wann
bewegt er sich denn eigentlich? In der vergangenen Zeit nicht,
denn diese ist nicht mehr; in der Zukunft nicht, denn sie ist noch
nicht. Also nur in der Gegenwart. Aber diese ist nur ein Punkt,
und in einem Punkte kann er keine Strecke durchlaufen. Nun
sagen sich die Leute: es ist aber doch sicher, daß der Kreis mit
dem doppelten Durchmesser doppelt so groß ist; es ist doch
sicher, daß es Bewegung gibt. Also geben sie, besiegt von diesen
Paradoxien, zu, daß es Widersprechendes geben könne. Erst
wenn diese Scheinargumente wieder dem Gedächtnis entschwun
den sind, wird von neuem Platj in ihrem Geiste für die ein
leuchtende Zustimmung zum Satj des Widerspruchs. Wieder
unbefangen aufmerksam auf den Sinn der Worte erkennen sie:
es kann etwas nicht zugleich wahr und falsch sein.
Wie Unaufmerksamkeit, Müdigkeit und widersprechende
Scheinargumente verhindern können, daß das evidente Urteil
zustande komme, so auch die Gewohnheit. Man hat häufig die
Erfahrung gemacht, daß etwas unberechtigt fest und steif be
hauptet und als unmittelbar einleuchtend hingestellt wird, was
sich als falsch erwies, und hegt nun Mißtrauen, auch wo es nicht
am Platje ist.
22 Die Urteilsevidenz verliert nicht ihren Wert,
Werfen wir einen Rückblick auf das Gesagte. Es ist nicht mög
lich, aber auch nicht nötig, alle Urteile zu beweisen. Es gibt un
mittelbar einleuchtende, seien es evidente Wahrnehmungen, seien
es allgemeine Gesetje a priori, die unmittelbar aus den Begriffen
einleuchten. Solche Urteile können nicht falsch sein, wohl aber
kann es geschehen, daß 'blinde, weil subjektiv überzeugt, irr
tümlich für evident gehalten werden.
Ohne evidente Urteile gäbe es keine Wissenschaft, sondern
bloß Anhäufungen von Regeln, welche die Gewohnheit sank
tioniert. Daß es möglich ist, die Frage aufzuwerfen, ob ein vor
liegendes Urteil evident sei, hindert nicht, evident zu urteilen
und auf dem absolut verläßlichen Fundament evidenter Urteile
Wissenschaften aufzubauen.
n. Kapitel
Erfahrung entnommen ist, sondern muß der Form des Satjes an
gehören. Es handelt sich also darum, einen Satj zu formulieren,
der alles Inhaltliche abgestreift hat und als rein formales
Gesetj uns zum Kriterium dient, ob eine Maxime als kate
gorischer Befehl gelten kann. Solche objektive Grundsätje nennt
Kant Maximen, den von ihm für das moralische Gebiet auf
gestellten Grundsa^: „kategorischen Imperativ“ und gibt ihm
an verschiedenen Stellen seiner Schriften verschiedene Fassungen.
Zwei davon finden sich in der Metaphysik der Sitten, und zwar:
„Handle so, als ob die Maxime deines Handelns durch
deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetj werden sollte.“
und:
„Handle nach einer solchen Maxime, daß du zugleich
wollen kannst, daß sie allgemeines Gese$ werde.“
In der Kritik der reinen Vernunft aber lautet der kategorische
Imperativ so:
„Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit als
Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“
Wie sich Kant die Handhabung dieses formalen Kriteriums
vorstellt, um den schlechthin verpflichtenden Charakter einer
Regel abzuleiten, zeigt er selbst an einem Beispiel. Es stehe zur
Frage, ob man ein Gut, das einem ohne Schein oder sonstiges
Indizium anvertraut worden ist, für sich behalten dürfe. Das
gesunde moralische Gefühl sagt: Nein, und Kant sucht es da
mit zu rechtfertigen, daß er zeigt, wie es im Lichte des kate
gorischen Imperativs sich als verpflichtend ergebe, das Gut zu
rückzustellen. Wäre die Maxime vielmehr die, daß man in
einem solchen Falle das anvertraute Gut behalten könne, so
könnte sie nicht als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gel
ten. Sie würde nämlich, zum allgemeinen Gesetj erhoben, zu
einem Widerspruch führen und sich selbst aufheben. Denn wenn
dies allgemeiner Grundsatj wäre, daß man ein anvertrautes Gut
behalten dürfe, so würde niemand mehr einem anderen etwas
anvertrauen. Das Gesetj wäre also ohne Möglichkeit der
Anwendung, darum unausführbar, aufgehoben durch sich selbst.
Nur das, was wir aus reiner Achtung vor diesem formalen
Sittengesetj tun und lassen, aus reinem Pflichtbewußtsein (d. h.
36 Der kategorische Imperativ ein Vernunftprinzip
eben nach Kant soviel wie aus Respekt vor dem kategorischen
Imperativ), darf als sittlich gelten, nimmermehr aber, was aus
anderen Motiven, insbesondere aus Lust, geschieht. „Pflicht, du
erhabener großer Name, der du nichts Beliebtes, was eine Ein
schmeichelung bei sich führt, in dir fassest, sondern Unter
werfung verlangst und ein Gesetj aufstellst, welches sich selbst
wider Willen Verehrung (wenn auch nicht immer Befolgung)
erzwingt, vor dem alle Neigungen verstummen, wenn sie gleich
im geheimen ihm entgegenwirken, welches ist der deiner wür
dige Ursprung und wo findet man die Wurzel deiner edlen
Abkunft, welche alle Verwandtschaft mit Neigungen stolz aus
schlägt und von welcher Wurzel abzustammen, die unnachläß
liche Bedingung desjenigen Wertes ist, den allein sich Menschen
selbst geben können?“ so lautet die große Frage, und die Ant
wort darauf ist: Ihr Ursprung liegt in der Vernunft, welche die
Menschen über die Sinnenwelt erhebt. Wahrhaftig eine rigorose
Moral, die schroff allen natürlichen Antrieben den Krieg er
klärt! Aber gerade diese Kühnheit und Strenge hat ihr be
geisterte Anhänger zugeführt, und nicht bloß trockene Pflicht
menschen, sondern selbst einen Friedrich Schiller!
Kant selbst findet gerade in dieser von allem Gefühlsmäßigen
losgelösten strengen Allgemeingültigkeit Anlaß zu höchster
Bewunderung. Am Schluß der Kritik der praktischen Vernunft
heißt es: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer
und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und
anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte
Himmel über mir und das moralische Gesetj in mir.“
3. Das darf uns freilich nicht bestechen und daran hindern
zu überprüfen, ob denn dieser berühmte kategorische Imperativ
als ein echtes Vernunftprinzip gelten darf.
Das Ergebnis dieser Prüfung wird, um dies gleich hier zu
sagen, ebenso negativ sein wie bei Wollaston, denn auch
dem Kantschen Prinzip fehlt sowohl die Evidenz als auch
die Tragweite, d. h. es lassen sich keine ethischen Folgerungen
aus ihm ableiten. Selbst Philosophen, die sonst Kant sehr
hoch stellen, wie z. B. M a n s e 1 (der nach Hamilton be
deutendste Vertreter der sog. intuitiven Schule), erklären seinen
Kritik des kategorischen Imperativs 37
ren (und dazu gehören solche, die unter die berühmtesten zäh
len) beides angefochten wird. Also auf solche Prinzipien, fragt
man noch heute, soll man die Ethik gründen? Und der Zweifel
betrifft nicht allein das einzelne Prinzip, sondern auch die Gat
tung. A priori oder a posteriori, Axiom oder Wahrnehmung?
Kant und Clarke sind Aprioristen, die Utilitarier
Empiristen.
Damit ist aber noch nicht das Äußerste der denkbaren Un
sicherheit und Uneinigkeit bezeichnet. Dies wäre nichts, was nicht
auch in anderen Wissenschaften zutage tritt, selbst in der
Mathematik, obwohl hier das Stimmenverhältnis ein großes
Übergewicht auf der einen Seite zeigt. Aber in der Ethik geht
der Zweifel noch weiter. Nicht bloß das ist strittig, ob im ein
zelnen dies oder jenes mit Recht als Prinzip anzuerkennen ist
und ob die Prinzipien hier Axiome oder Wahrnehmungen sind,
sondern auch, ob sie Erkenntnisse oder Gefühle seien. Viele und
berühmte Denker sagen, für die Ethik stelle nicht das Erkennt
nisvermögen, sondern das Gefühlsvermögen die Prinzipien fest.
So wäre denn das Bild der Zerrüttung der Hauptsache nach
gekennzeichnet. Die volle Vorstellung wäre freilich nur zu ge
winnen, wenn wir alles im einzelnen durchmustern würden; aber
die Phantasie mag sich nun das bunte Gewirr leicht .ausmalen.
Von allen berührten Unterschieden ist der zuletjt erwähnte
der am tiefsten greifende. In bezug auf ihn müssen wir vor allem
ins klare zu kommen suchen.
III. Kapitel
wähnten Gesetze, mit der Zeit ohne Rücksicht auf den eigenen
Vorteil um seiner selbst willen.
b) Der Kampf ums Dasein wirkt auch mit an dieser Harmoni
sierung. Wer Leben und Eigentum nicht respektiert, wird ge
henkt, wer sich der Allgemeinheit nütjlich erweist, wird ge
fördert. So verschwinden mit der Zeit die Widerstrebenden, und
nur jene, die sich dem fortgeschritteneren Geschmack anpassen,
bleiben übrig, ähnlich wie auch aus der Tierwelt die schäd
lichen Spezies immer mehr verschwinden, indes die nützlichen
sich ungehemmter vermehren. Mit anderen Worten, der Kampf
ums Dasein in der menschlichen Gesellschaft züchtet die utili-
tarischen Dispositionen.
3. Hienach scheint der Schluß gerechtfertigt, daß auch bei
eventuellen anderen Spezies sich allmählich derselbe ethische
Geschmack herausbilden müsse wie bei den Erdbewohnern, denn
a) das Kausalgesetz gilt allgemein,
b) der Bau der Welt besteht im letzten Grunde überall aus
denselben Elementen, wie die Spektralanalyse erkennen läßt,
c) und zu den allgemeinen Gesetzen aller denkbaren Arten
gehört auch der Kampf ums Dasein.
So muß es denn wie eine universelle Physik (vgl. Anm. 34),
die für alle Weltkörper gilt, auch eine universelle Ethik, neben
der Astrophysik auch eine Astroethik geben (G i z i z k y).
II. Bedenken gegen den Versuch, die allgemeine Übereinstim
mung im sittlichen Geschmack wahrscheinlich zu machen.
Ist wirklich eine konstante Richtung der Geschmacksentwick
lung zum utilitarischen Ziele hin beim menschlichen Geschlechte
wahrscheinlich oder mit Sicherheit zu erwarten? Man hat hiefür
teils induktiv, teils deduktiv argumentiert.
1. Wenden wir uns zunächst dem induktiven Beweise zu. Er
stützt sich auf das Zeugnis der Geschichte, die einen steten Fort
schritt in dieser Richtung erkennen lasse. Stimmt das? Bis heute
ist das Ziel jedenfalls nicht erreicht, und da ist es denn wohl
fraglich, ob selbst, wenn eine Bewegung in dieser Richtung
merklich wäre, daraus geschlossen werden dürfte, daß das Ziel
jemals erreicht wird. Es könnte ja die Entwicklung auch in
einem gewissen Abstande vom Ziel zum Stillstand kommen,
Kritik dieser Behauptung 67
wenn einem Saueres mehr zusagt als Süßes, der eine Geschmack
habe einen inneren Vorzug vor dem anderen, der eine sei be
rechtigt, der andere nicht.
2. Perplex durch solche Schwierigkeiten, wollen manche der
Untersuchung eine neue Wendung geben. .Man dürfe, sagen sie,
für das Sittengesetj nicht Allgemeingültigkeit in solchem Aus
maße in Anspruch nehmen, wie dies hier geschehen ist, man
dürfe nicht Gültigkeit für alle Orte und alle Zeiten fordern.
Es genügt für mich, daß in der Gesellschaft, in der ich lebe,
moralische Einstimmigkeit der Billigungsgefühle herrsche. Dar
aus erkenne ich dann, was für jetjt das Richtige ist.
Ich würde diese Lehre kaum der Erwähnung wert erachten,
wenn sie nicht doch so weite Verbreitung gefunden hätte. Gilt
ja vielen als höchste Weisheit die Anpassung an das jeweils
Bestehende, wenn schon der Glaube an die Konstanz ethischer
Überzeugungen durch „die Geschichte aller Zeiten“ sich als
historisch unhaltbar erwiesen hat. Aber wenn nicht einmal die
Übereinstimmung aller Zeiten, wie wir dangelegt, genügen kann,
dem sog. sittlichen Geschmack die Weihe zu geben und seine
Würde zu retten, was soll man erst von dieser Einschränkung
sagen? Es ist schier unbegreiflich, wie man darauf verfallen
konnte, solches zu glauben. Diese Anpassung als solche, statt
unserem moralischen Gefühl die Sanktion zu geben, schiene
eher darnach angetan, es gänzlich zu erniedrigen. Wie soll
mir imponieren, wenn ich selber urteilsfähig bin, daß eine ge
wisse Meinung gegenwärtig sehr verbreitet -ist? Wenn ich nun
aber (ohne Erniedrigung) selber anders zu urteilen mir erlaube,
warum soll es mich erniedrigen, anders zu fühlen als die
anderen? Ist denn Anpassung an die anderen schon an sich etwas
Wertvolles? Gewiß wird einer, der sich anpaßt, manchen
Anstoß nicht geben. Und wäre Sokrates so angepaßt ge
wesen, so hätte er den Schirlingsbecher nicht getrunken. Aber
um solche Vorteile handelt es sich hier doch nicht. Der nicht
angepaßte Sokrates ist es, in dem wir den moralisch Über
legenen und dessen ethisches Fühlen und Urteilen wir als das
edlere und bessere verehren. So sprechen sich diejenigen, welche
zu dieser Auffassung sich bekennen, nur selber das Urteil. Sie
72 Audi Entwicklung des „Geschmacks“
hoffen kann, die Zeit noch zu erleben, damit ich mich meiner
momentanen, dem heutigen Geschmack vorauseilenden ethischen
Überzeugung rechtzeitig mit Vorteil wieder entäußern kann.
Gestalten wie Sokrates aber wären aus diesem Grunde tro^
des unmittelbar folgenden Sieges eines ihnen günstigen Gefühls
immer noch zu verdammen. Nein, eine solche Moral, wenn sie
bei solcher äußersten Degradation überhaupt noch den Namen
verdient, kann heute nicht besser als gestern von einem hoch
wertigen Manne gebilligt werden, und dasselbe wird für alle
kommenden Zeiten gelten. Nur Sklavenseelen möchten -daran
Gefallen finden.
Wollen wir solche Irrwege vermeiden, so müssen wir, scheint
es, auch das Zugeständnis, das wir Hum e zu machen geneigt
waren, zurückziehen. Es hat den Anschein, daß die Feststellung
der ersten ethischen Grundsätze ganz unabhängig von Gefühlen
erfolgen müsse, die Gesetje der Moral also reine Sache der
Erkenntnis durch Wahrnehmung und Verstand seien. Aber wie
soll die Erkenntnis das leisten? H u m e war überzeugt, daß sie
es in keiner Weise könne, weder a posteriori noch a priori.
Und in Ansehung des Erfahrungsweges, wenn nicht in der
früher angedeuteten Weise Gefühle zugezogen werden können,
ließ meine Untersuchung nicht wohl einen Zweifel übrig. Auch
bei dem a priori schien es so, aber hier könnte doch eher ein
Bedenken bleiben, zumal die Erkenntnisse a priori erst nach
H u m e zum Gegenstand neuartiger Erörterungen geworden
sind. Wenden wir uns also doch noch einmal dieser Möglichkeit
zu. Nachdem aus unserer Untersuchung jedenfalls das eine deut
lich hervorgegangen ist, daß die Prinzipien der Ethik Erkennt
nisse und nicht Gefühle sind, ist die Entscheidung zwischen
a priori und Erfahrung allein möglich geblieben und so wollen
wir denn die Untersuchung, ob die Moral auf Verstandes
prinzipien sich begründen lasse, von neuem aufnehmen.
IV. Kapitel
fende Einteilung aller Urteile geben und erklärte sie so: ein
bejahendes Urteil ist analytisch, wenn das Prädikat im
Subjektsbegriffe eingeschlossen ist. Ein verneinendes, wenn das
Prädikat das kontradiktorische Gegenteil von etwas besagt, was
der Subjektsbegriff enthält. Synthetisch ist ein bejahendes Urteil,
bei welchem das Prädikat nicht im Subjektsbegriff eingeschlos
sen ist, sondern ein neues Moment hinzubringt, und ein ver
neinendes, bei welchem das Prädikat nicht das kontradiktorische
Gegenteil von etwas ausdrückt oder einschließt, was der Sub-
jektsbegriff enthält.
Dies sind Kants Bestimmungen, wenn wir sie etwas ent
wickeln, denn in betreff des negativen Urteils hat er sich mit
einer kurzen Andeutung des entgegengesetzten Charakters des
Prädikats begnügt.
Von den analytischen sagt er, daß sie nur Erläuterungsurteile
seien und keine eigentliche Bereicherung der Erkenntnis enU
hielten.
Von den synthetischen, sie seien Erweiterungsurteile.
. Diese Erklärungen Kants decken sich jedoch nicht voll
kommen mit dem, was er unter analytischen und synthetischen
Urteilen verstanden haben will. Sie sind nicht ausreichend für
seinen eigentlichen Zweck. Einige kurze Bemerkungen werden
genügen, dies ins volle Licht zu setzen. Kant unterscheidet
unter den Urteilen kategorische, hypothetische und disjunktive.
Eine Verbindung von Subjekt und Prädikat ist nur bei den
ersten gegeben, während 'bei den hypothetischen vielmehr eine
solche von Vordersatz und Nachsatj, bei den disjunktiven eine
Mehrheit gleichgestellter Glieder vorliegt. Achten wir auf die
eben gegebene Definition eines analytischen und eines syn
thetischen Urteils, so sehen wir, daß da und dort von Subjekt
und Prädikat die Rede ist. Sie passen also wohl auf die erste
Klasse, die er unterscheidet, auf die hypothetischen und disjunk
tiven, die er den kategorischen koordiniert, passen sie aber
offenbar nicht.
Noch mehr! Es gibt Behauptungen, die weder hypothetische
noch disjunktive Sätze sind und bei welchen ebenfalls keine
Verbindung von Subjekt und Prädikat sich findet. Es sind dies
Existentialurteile 77
a priori. Vor ihm beschränkte man ihren Umfang so, wie dies
unserer Definition entspricht, nach ihm hielt man an dieser
Einschränkung nicht mehr allgemein fest. Wir verstehen aber
auch unseren speziellen Fall. Wenn Hume an Clarke und
anderen Kritik übte, dachte er an sie als solche, die auf Prin
zipien bauen wollten, welche ihrer Meinung nach einen Wider
streit verwerfen oder einer solchen Verwerfung äquivalent sind;
andere aber, wie Butler, Reid, Kant, denken an Prinzipien,
bei denen dies nicht der Fall ist und die dennoch unabhängig von
der Erfahrung feststehen sollen. Mit diesen also haben wir uns
zu beschäftigen.
oder auf diese oder jene Tatsache als Ausgangspunkt der ethi
schen Beweisführung. Wir müssen also von vornherein und in
neuer Weise beginnen und ermitteln, wie wir Aufschlüsse
darüber erlangen können, von wo die ethische Forschung ihren
Ausgang zu nehmen habe.
Woher soll uns aber dieser Aufschluß kommen, wenn nicht
aus der Definition der Ethik selbst? Sie sagt uns ja, was eine
ethische Erkenntnis ist im Unterschiede von anderen Erkennt
nissen. Wie haben wir die Ethik definiert? Wir sagten, sie sei
diejenige praktische Disziplin, welche uns über die höchsten
Zwecke und die Wahl der Mittel für sie zu belehren habe.
Von diesen Aufgaben ist offenbar die erste die frühere. Vor
allem also wird die Ethik zu bestimmen haben, welche Zwecke
mit Recht als die höchsten angestrebt werden. Während andere
praktische Disziplinen nur sagen, was ein richtiges Mittel zu
einem gegebenen Zweck ist, will sie uns vor allem sagen, was
ein richtiger Zweck ist und was nicht. Wenn aber die Fest
stellung der richtigen Zwecke vor allem, Aufgabe der Ethik ist,
so wird sie mit einer Erklärung des Begriffs des rich
tigen Zweckes beginnen müssen. Verlangt doch die Logik
seit Aristoteles von jeder Wissenschaft vor allem eine
Definition ihres Gegenstandes, sofern wenigstens der Begriff
nicht ohnehin klar und verständlich ist.
Und daran scheint es hier in der Tat zu fehlen. Was ein
richtiges Mittel ist, das versteht jeder; nämlich ein solches,
welches, wenn man sich seiner bedient, wirklich zu dem
betreffenden Zwecke führt. Was aber heißt „richtiger Zweck“?
2. Ehe ich in eine Untersuchung darüber eingehe, will ich nun
aber nicht länger verschweigen, daß nicht alle die Ethik in der
selben Weise bestimmen, wie ich es getan habe. Unsere
Bestimmung ist wohl die ursprüngliche. Sie ist wesentlich die
selbe, welche Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik
gab. Auch kehrt sie in ähnlicher Gestalt öfter in der Geschichte
der Philosophie wieder. Immerhin kamen im Verlaufe der Zei
ten ganz andere Definitionen auf, so daß auch hierin die Ethiker
so wenig übereinstimmen wie in anderen Punkten.
So finden wir im Mittelalter die Definition, die Ethik sei die
Auieinandersetjung mit anderen Definitionen 89
selbst mit auf der anderen Seite und, indem der Wählende sie in
Rechnung brächte, würde er sich doch sagen können, daß er das
Bessere dem minder Guten vorziehe.
Aus einem anderen Grunde würde Kant mit unserer De
finition nicht einverstanden sein. Zwar bringt er selbst die Sitt
lichkeit der Handlung in sehr nahe Beziehung zum richtigen
Zweck, indem er meint, der handle sittlich, welcher was als
Selbstzweck zu behandeln ist, nicht zum bloßen Mittel erniedrige.
(Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person
als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als
Zweck, nicht bloß als Mittel gebrauchst.) Gleichwohl geht ihm
der Begriff des richtigen Zweckes keineswegs in den der Sittlich
keit ein; ja er verbietet, bei der Bestimmung des höchsten Prin
zips für das Handeln auf Zwecke zu achten.
Wieder aus einem anderen Grunde würde der größte Philo
soph des Mittelalters, Thomas von Aquin (1225—1274),
der auf die Ausbildung der Ethik, als das opus plane aureum,
viel Sorgfalt verwandte, sich weigern/ seine Bestimmung mit
der unseren zu vertauschen. Nadi ihm wie auch nach vielen
anderen Scholastikern kann man gar nicht unter letjten Zwecken
wählen, sondern nur unter Mitteln. Alle Menschen verfolgen
als einzigen letjten Zweck ihre Glückseligkeit. Einen anderen
Zweck können sie nicht anstreben. So unterscheiden sie sich nur
in der Wahl der Mittel, so daß der Ethik nur die Aufgabe zu
fällt, uns über die unmittelbar zu dem allgemein angestrebten
Zweck führenden Mittel zu belehren.
Auch hier stütjt sich der Einwand auf eine verfehlte Grund
anschauung. Es ist nicht richtig, daß immer die eigene Glück
seligkeit als letzter Zweck angestrebt wird. Schon darum nicht,
weil der Wählende oft weiß oder zu wissen glaubt, daß er sie
nicht erreichen kann, so sehr sie zu wünschen wäre. (So wie man
ja auch nicht wollen kann, daß einem Flügel wachsen.) Man
könnte in solchen Fällen also höchstens einen Teil von ihr oder
einen ihr ähnlichen Zustand anstreben. Sagt jemand, dann sei
die Glückseligkeit gleichwohl letjter Zweck zu nennen, weil man
eben das erstrebt, was man unter den gegebenen Umständen
für ihren erreichbaren Teil oder das ihr Ähnlichste hält, also
höchster Zweck 93
Wir haben schon auf das hingewiesen, worin hier die eigen
tümliche Schwierigkeit liegt. Über den Begriff eines richtigen
untergeordneten Zweckes, d. h. eines solchen, welcher als Mittel
erstrebt wird, besteht weder Streit noch Uneinigkeit. Es ist klar,
was hier „richtig“ bedeutet. Aber beim höchsten Zweck kann man
von einer Richtigkeit in diesem Sinne nicht reden. Daher dann
mannigfach verschiedene Fassungen, die entweder ausdrücklich
oder wenigstens einschließlich in den Äußerungen der Moralisten
vorliegen. (Denn nach dem, was wir über die verschiedenen
Definitionen der Ethik bemerkten, ist es natürlich, daß der Be
griff des richtigen Zweckes bei manchen nicht ausdrücklich her
vorgehoben wird.)
Es scheint interessant und für die eigene Entscheidung förder
lich, die hauptsächlichsten Auffassungen in rascher Übersicht
uns vorzuführen. (Wo die Bestimmung nicht ausdrücklich vor
liegt, werden wir sie aus anderen ermitteln.)
Sie sind sehr zahlreich und verschiedenartig, so daß der Blick
sich in dem bunten Gewirre zu verlieren droht. Wir werden
darum gut daran tun, wenn wir sie, unter, gewisse allgemeine
Gesichtspunkte gebracht, in Gruppen zusammenfassen.
Es gibt in der Ethik ein Dreifaches, was in naher Beziehung
untereinander steht: die Gegenstände, die als richtige Zwecke
„richtiger Zwedc' 95
steht die eine mit der anderen und Gegenwart mit Zukunft im
Widerspruch. Anders bei den sympathischen. Ursprünglich sehr
schwach, gewinnen sie doch durch Pflege an Stärke. Daher lautet
die Devise: vivre pour l’autrui! Indes behalten die egoistischen
Neigungen ihren Spielraum, wie z. B. bei der Nahrung und
nötigen Pflege des Körpers und Geistes, um anderen zu dienen.
So ist Einheit herzustellen.
Comte sucht seine Moral in einer Kirche zu verankern. Er
ist eine Art Religionsstifter, aber einer Religion ohne Gott. Das
scheint ihm kein Widerspruch, denn als wesentlich für die Re
ligion erachtet er nur folgende Merkmale, erstens ein Dogma,
betreffend die Bestimmung und Pflicht des Menschen, zweitens
ein Gefühl, welches sich an dieses Dogma knüpft. Ein Vorteil
scheint es ihm, wenn sich dieses Gefühl auf ein konkretes Objekt
richtet, um ein Ideal, das Wirklichkeit hat, kristallisiert. Dieses
„Grand-être“ ist das Menschengeschlecht. Ihm kommt Unendlich
keit zu, wir vermögen es wahrhaft zu lieben und schulden ihm
Dankbarkeit. Und dieses Ideal bietet, im Gegensatz zu dem Gott
der Theisten, noch den Vorteil, daß wir selbst es fördern können.
Es schließt alle empfindenden Wesen ein.
II. Versuche, den richtigen Zweck direkt im Hinblick auf die
Natur gewisser Gegenstände zu bestimmen.
scheinung tritt, wirklich ist, sondern nur darauf, daß die Vor
stellung davon in uns erweckt wird und Wohlgefallen erregt.
Das würde auch vom Sittlichen gelten, wenn es im eigentlichen
Sinne, d. h. im selben Sinne, wie das künstlerisch Schöne zu dem
Schönen gehört, und dies ist Herbarts entschieden aus
gesprochene Lehre: Der sittliche Geschmack, als Geschmack, ist
nicht verschieden vom poetischen, musikalischen, plastischen Ge
schmack. Ihm ist die Ethik im eigentlichen Sinn ein Teil der
Ästhetik. Er vergleicht sie dem Generalbaß. Der einzige Unter
schied ist, daß dort einfach Töne erklingen, „während hier Be
griffe von Willensakten mit spekulativer Vorsicht zu bestimmen
sind, damit ihre Verhältnisse gleich jenen von Tönen in ab
soluten Beifall und absolutes Mißfallen versehen“. Wäre die
Sittlichkeit in diesem Sinne Schönheit, so würde offenbar auch
sie etwas von Wert darstellen in bezug auf die Erscheinung. Und
es würde das Sittliche anderes Schöne nur etwa dadurch über
treffen, daß es den Wert der Person, sagen wir der ganzen Per
son, in bezug auf die Erscheinung bestimmt. Davon wäre aber doch
vielleicht noch ein anderer Wert, der ihr als solcher und nicht in
bezug auf die Erscheinung zukommt, zu unterscheiden. Es ist
schlechterdings zu leugnen, daß jede richtige Wertschätjung eine
ästhetische ist. Wenn H e r b a r t dieser Meinung ist, so verführt
ihn dazu eine Verwechslung von Begriffen. Er verwechselt das
Wohlgefallen an einer Sache auf Grund bloßer Vorstellung mit
dem Wohlgefallen an der Sache als Ursache der Vorstellung. Im
letzten Falle gefällt die Sache als Mittel, und so ist es beim
Schönen. Wenn man beim Schönen zu wählen hätte zwischen der
Erscheinung und der Wirklichkeit, d. h. der Existenz des Gegen
standes, so wählte man die Erscheinung. Wenn man aber diese
Wahl beim Guten zu treffen hat, so wählt man umgekehrt. Eine
Mutter liebt das Glück ihres Kindes mehr als die Vorstellung
davon.
2. Schon hier also mußte ich einem Grundgedanken der H e r -
bartschen Ästhetik entgegentreten. Sie verkennt ihre
Schranken. Aber noch in einem anderen Punkte kann ich seine
Auffassung der Ästhetik nicht teilen. H e r b a r t läßt alle
Schönheit auf Verhältnissen beruhen. Seiner Meinung nach ist
der Lehre Herbarts 123
die Rechtsgrenze, oder das Rechttun? Nehmen wir das erste an.
Ist das Gefallen an der Rechtsgrenze ästhetisch? Sie soll gefallen
als Mittel zur Meidung des Streites, der Disharmonie. Aber das
Gefallen an etwas als Mittel ist doch kein ästhetisches zu nennen,
sonst wäre ja auch das an einer Geige, insofern sie Musik
instrument ist, ein ästhetisches. Ja, in unseren Falle ist dies auch
noch aus einem anderen Grunde undenkbar, denn die Rechts
grenze ist nicht Mittel zu einer Harmonie, sondern zur Negation
einer Disharmonie (T r e n d e 1 e n b u r g). Nehmen wir das
zweite an. Gegenstand des ästhetischen Gefallens sei das Recht
tun, die Einhaltung der Rechtsgrenze als solcher. Hier ist die
Beziehung zum Streit noch entfernter. Übereinstimmung mit
einer zur Meidung von Disharmonie dienenden Regel ist nach
H e r b a r t das, was das Rechttun auszeichnet. Diese Regel
kann nicht selbst als Einstimmigkeit der Willen, sondern nur als
deren Folge gefaßt werden. Sie ist also nicht selbst ein Ver
hältnis von Willen, also ist nach Herbarts Prinzip das Ge
fallen daran kein ästhetisches.
II. Wie immer sorgfältig man auch die hier nicht im einzelnen
erörterten Ideen Herbarts durchmustern möge, man wird
darin keine brauchbare Richtschnur für unser Handeln finden
können. Eine Klarheit über den letjten Zweck ist daraus nicht
zu gewinnen. Das ist aber noch nicht der größte Fehler des
Systems. Es leidet auch noch an dem gleichen, den wir schon ari
den Schotten zu tadeln hatten. Wie diese eine Mehrheit von
Sittenregeln, so lehrt H e r b a r t fünf Ideen, und hier wie dort
soll jede absolut und schlechthin gelten. Nun läßt sich aber, wenn
aus einer Idee ein bestimmtes Verhalten, so aus einer anderen
ebensogut ein entgegengesetztes ableiten. Schon Trendel en -
b u r g hat bemerkt, aus der Idee der Vollkommenheit lasse sich
jede Tat rechtfertigen, aus der Idee der Billigkeit jede Unter
lassung (um den Zustand nicht zu stören). Wie entscheiden, wenn
sich die Ideen so miteinander verflechten und einander so Wider
streiten? H e r b a r t hat kein Mittel, uns darüber zu belehren,
welches Verhältnis den Vorzug verdient, denn die Vorstellung
gleichartiger Verhältnisse soll ein stets gleiches Urteil des Bei
falls oder Mißfallens mit sich führen, in allen Verbindungen
für unser Handeln 131
losen Vorstellen. Wer den Begriff Rotes oder den Begriff Rundes
denkt, urteilt damit noch nicht, wohl aber, wer sie verbindet,
indem er sagt „Irgendein Rundes ist rot“.
Das Urteil sei jene besondere Synthese von Gedanken, worin
etwas mit etwas anderem für verbunden, für eines, oder aber
etwas von etwas anderem getrennt, geschieden gedacht wird
Halte man wirklich Verbundenes für verbunden, wirklich Ge
trenntes für getrennt, so urteile man wahr, falsch dagegen, wenn
man sich urteilend entgegengesetzt wie die Dinge verhalte:
Paßt diese Definition auf alle wahren Urteile? Wenn ich von
einem Hund sage, er sei keine Katje, so besteht hier allerdings
ein Hund getrennt von einer Ka§e. Aber richtig ist auch das
Urteil, er sei kein Drache. Und ein solcher besteht weder mit
ihm vereint noch von ihm getrennt. Um auch diesen verneinen
den Urteilen gerecht zu werden, wäre die Aristotelische
Definition wohl ein wenig abzuändern: Ein Urteil sei wahr,
müßte man sagen, wenn es einem Ding etwas zuspricht, was
damit vereinigt ist, oder abspricht, was nicht damit vereinigt ist.
Auf alle Urteile paßt die Definition aber auch dann nicht.
Denn manche Urteile sprechen einem Subjekt kein Prädikat zu
oder ab, sondern anerkennen oder verwerfen einfach etwas. Es
wird darin nicht geurteilt „Ein S ist P“ oder „Ein S ist nicht P“,
sondern einfach „Ein S ist“ oder „Ein S ist nicht“ (z. B. Gott ist.
Es gibt keine Gespenster). Diese prädikatlosen einfachen An
erkennungen und Verwerfungen hat Aristoteles in seiner
Urteilslehre übersehen, für sie ist seine Definition von wahr
und falsch unbrauchbar. Wir bedürfen einer, die auf alle Urteile
anwendbar ist.
Man könnte, um zu einer einheitlichen Definition zu gelangen,
darauf verweisen, daß man auch Prädikationen in die Existen-
tialform bringen könne, indem man z. B. statt „Irgendein Mensch
ist krank“ oder „Irgendein Dreieck ist nicht rechtwinklig“ oder
„Kein Kreis hat ungleiche Radien“ sagt: „Ein kranker Mensch
ist“, „Ein nicht rechtwinkliges Dreieck ist“, „Ein Kreis mit un
gleichen Radien ist nicht“. Es werde dann die auf einfache An
erkennungen und Verwerfungen anwendbare Definition der
Wahrheit für alle Urteile passend sein: Ein anerkennendes Urteil
wahren Urteile 139
§ 42. Der Begriff des Guten stammt aus der Erfahrung als richtig
charakterisierter GemUtstätlgkeiten
Deren Analogie zur Urteilsevidenz
uns als etwas mit einer als richtig charakterisierten Liebe liebend
erkennen, erkennen wir es als gut; indem wir uns etwas mit
einer als richtig charakterisierten Bevorzugung vorziehend er
kennen, erkennen wir es als besser.
Es erwies sich somit die Vermutung, daß die Prinzipien der
Ethik Erkenntnisse von Gefühlen seien, als richtig. Damit aber
sind wir auch der Lösung der Frage nahegekommen, wie der
Anteil des Gefühls am Zustandekommen der ethischen Grund
erkenntnisse mit ihrer Gültigkeit für alle vernünftigen Wesen
zu vereinen sei.
Nur wer den Unterschied zwischen instinktiven, blinden und
als richtig charakterisierten Gemütstätigkeiten nicht bemerkt hat,
kann durch den Anteil des Gefühls die Allgemeingültigkeit der
Erkenntnis von Gutem und Schlechtem in Frage gestellt glauben.
Ein solcher ethischer Subjektivismus stünde auf gleicher Stufe
mit dem in bezug auf wahr und falsch. Wenn Protagoras,
der Sophist, den Satj aussprach, der Mensch sei das Maß der
Dinge, der seienden, daß sie sind, der nicht seienden, daß sie
nicht sind, so läßt dies erkennen, daß ihm der Unterschied
zwischen evidenten und blinden Urteilen nicht aufgegangen war.
Hat man diesen erfaßt, so erkennt man, daß von zwei einander
widersprechenden Urteilen unmöglich mehr als eines einsichtig
sein kann. Was der eine einsieht, mag einem andefen verborgen
bleiben, aber das Gegenteil kann 'keiner einsehen. Prota
goras hat seinen Relativismus auch auf gut und schlecht aus
gedehnt. Aber was vom evidenten Urteil gilt, gilt auch von der
als richtig charakterisierten Gemütstätigkeit. Erkenne ich mein
Lieben und Bevorzugen als richtig, so erkenne ich es auch als
unmöglich, daß einer das gegenteilige Verhalten als richtig er
kenne. Von zwei einander entgegengesetjten Verhaltungsweisen
des Gemütes kann nur eine als richtig charakterisiert sein.
2. Diese Allgemeingültigkeit des Guten würde nun an sich
noch nicht erklären, wie wir dazu kommen, die Güte einer
ganzen Klasse von Objekten zu erkennen. Wenn sich nämlich ein
Akt als richtig charakterisierter Liebe nur auf ein konkretes, in
unserer Wahrnehmung vorliegendes Objekt bezöge, z. B. auf
einen bestimmten Erkenntnisakt, so wäre damit wohl gesagt.
150 Die als richtig erkannten Gemütstätigkeiten haben allg. Geltung
daß diese Erkenntnis für jedermann liebenswürdig sei, d. h. daß
wer immer sich richtig im Gemüte zu ihr verhielte, sie lieben
müßte. Nicht aber wäre damit ohne weiteres auch die Güte der
ganzen Klasse erkannt. Wenn wir aber Erkenntnis unter das an
sich Gute rechnen, so wollen wir damit offenbar sagen, nicht bloß
dieser betreffende konkrete Erkenntnisakt sei ein Gut, sondern
die Erkenntnis als solche. Wie kommen wir nun zu dieser all
gemeinen Erkenntnis?
Darauf hat schon Aristoteles die richtige Antwort ge
geben, indem er sagte, daß wie unsere Urteile auch unsere Ge
mütstätigkeiten auf Allgemeines gerichtet sein könnten. Wir
zürnen, meinte er, zwar nur dem einzelnen Diebe, der uns be
stohlen, dem einzelnen Sykophanten, der unsere Arglosigkeit ge
täuscht hat, hassen aber Diebe und Sykophanten im allgemeinen.
In der Tat ist das bisher über die als richtig charakterisierten
Gemütstätigkeiten Gesagte noch dahin zu ergänzen, daß alle als
richtig charakterisierten Akte des Liebens und Bevorzugens in
dieser Weise allgemein, d. h. auf begrifflich gedachte Objekte
gerichtet sind. Indem wir z. B. Erkenntnis im allgemeinen oder,
was dasselbe sagt, indem wir den allgemeinen Begriff der Er
kenntnis denken und dieser Begriff der Gemütstätigkeit zu
grunde liegt, erweist sich diese als ein Analogon nicht der asser
torischen, sondern der apodiktischen Erkenntnis. So wie die
Axiome durch das Denken allgemeiner Begriffe motiviert sind,
aus den Begriffen (ex terminis) einleuchten, so entspringen auch
die als richtig charakterisierten Akte des Interesses unmittelbar
aus allgemeinen Begriffen. Indem wir einen solchen Akt als
richtig charakterisierter Liebe in uns wahrnehmen, wird uns
darum mit einem Schlage, ohne Induktion besonderer Fälle, die
Güte der ganzen betreffenden Klasse klar. Der Unterschied
gegenüber den Fällen, wo wir auf Grund der allgemeinen Be
griffe von 2 und 3 erkennen, daß 3 größer ist als 2, liegt nur
darin, daß die Veräusserungen bei einem ethischen Prinzip kom
plizierter sind. Es müssen nicht nur die Begriffe der Dinge, die
wir als gut erkennen, uns gegeben sein, sondern auch die Er
fahrung einer auf diese Gegenstände gerichteten, als richtig
charakterisierten Liebe. Wer dieser Erfahrung entbehrte, ver-
Die Begriffe „gut“ und „besser“ sind aus der Erfahrung gewonnen 151
möchte, auch wenn er einerseits über den Begriff des betreffenden
Dinges, z. B. den der Erkenntnis oder den der Freude, und
andererseits über den Begriff einer als richtig charakterisierten
Liebe verfügte, doch nicht zu erkennen, daß es Güter sind. Um
etwas als ein Gut,14 d. h. als liebenswürdig, zu erkennen, muß
man es selbst mit richtiger Liebe -geliebt haben.
3. Sind wir, könnte man fragen, mit dieser Lehre von den
Erkenntnisprinzipien der Ethik zu den Aprioristen oder zu den
Empiristen zu zählen?15
Bei der Beantwortung dieser Frage ist mehreres zu unter
scheiden. Versteht einer unter Apriorismus hier, daß der Begriff
des Guten a priori sei und ebenso der des Besseren, so sind wir
von einem solchen Apriorismus weit entfernt. Der Begriff einer
als richtig charakterisierten Gemütstätigkeit stammt, wie alle
unsere elementaren Begriffe, aus einer Wahrnehmung, und zwar
aus der inneren Wahrnehmung von Akten dieser Art. Es gibt
überhaupt keine Apriorität auf dem Gebiete des Vorstellens, der
Unterschied zwischen empirischer und apriorischer Erkenntnis
gehört ganz dem Urteilsgebiete an, und zwar sind, wie wir schon
bei der Abwehr der sog. synthetischen Erkenntnisse a priori be
merkt haben, nur Urteile, die aus den Begriffen einleuchten,
a priori.
Daß die Wahrnehmung als richtig charakterisierter Akte des
Interesses keine Erkenntnis a priori ist, bedarf keiner weiteren
Bemerkung. Wie aber verhält es sich mit allgemeinen Erkennt
nissen, wie z. B. der, daß Freude als solche oder Erkenntnis als
solche ein Gut sei?
Daß sie nicht einfach aus den Begriffen einleuchten, sondern
als Prämissen der Erfahrung einer auf diese Objekte im all
gemeinen gerichteten als richtig charakterisierten Liebe bedürfen,
wurde schon oben bemerkt. Es handelt sich also eigentlich um
einen Schluß, wovon diese Erfahrung die eine Prämisse ist,
während die andere in der analytischen Erkenntnis bestellt, daß
von einander entgegengesetzten Gemütstätigkeiten nur eine als
richtig charakterisiert sein kann.
Die letzte Quelle unserer Erkenntnis von Gutem und Besserem
aber sind jedenfalls innere Wahrnehmungen als richtig charakte-
152 Formaler Charakter des bisher Gesagten
Der Hedonismus20
Die erste Anwendung, die wir von den Ergebnissen der Unter
suchung über die Prinzipien der ethischen Erkenntnis zu machen
haben, betrifft die noch immer nicht beantwortete Frage nach
dem richtigen Zweck unseres Handelns. Wir wissen, daß er in
dem Besten, das für uns erreichbar ist, bestehen muß; wir wissen,
was „gut“, was „besser“ heißt und wie man etwas als gut und
als besser erkennt. Wir werden aber auch noch zu prüfen haben,
worin im einzelnen der richtige Zweck besteht. Um dies fest
zustellen, müssen wir untersuchen:
1. Was für Güter und Übel es gibt, d. h. wir haben eine sog.
Gütertafel und ihr Gegenstück zu entwerfen und dabei ins
besondere festzustellen, ob als Güter und Übel nur solches, was
im Bereiche der eigenen Seelentätigkeiten liegt, in Betracht
komme, oder auch außerhalb dieser Gelegenes.
2. Wir werden die Güter und Übel zur Bestimmung ihres
Wertverhältnisses miteinander m vergleichen haben. Dabei sind
die Gesetje des richtigen Vorziehens so vollständig als möglich
aufzustellen.
3. Dann werden wir vom höchsten Gute zu sprechen haben,
vom höchsten Gute schlechthin und vom höchsten praktischen
Gute.
4. Diese letjte Frage erfordert ein Eingeben auch auf das
Nützliche und Schädliche, wovon einige der wichtigsten Klassen
namhaft zu machen sein werden.
Es gibt Moralphilosophen, die sich gar nicht mit der Güter-
166 Benthams Einteilung der einfachen Vergnügen
wohl fühlen und gar nicht nach einer Änderung ihres Zustandes
Verlangen tragen, so verachten sie und schmähen sie sie darum.
In ihrem Fanatismus wären sie bereit, das ganze Glück des
Volkes in einem Bürgerkriege aufs Spiel zu setjen, um die Macht
denen in die Hände zu geben, die sich ihrer infolge eines Zu
standes unbesiegbarer Unwissenheit gar nicht anders als zu
ihrem eigenen Verderb bedienen könnten. „Da hat man“,
schließt er, „einige Beispiele von Phantasien, die in der Politik
an die Stelle des richtigen Strebens nach dem allgemeinen Glück
zu treten pflegen, man denkt nicht daran, daß alles das nur als
Mittel und nur das Glück allein in sich selbst von Wert ist.“
Es liegt gewiß viel Wahres in dieser freimütigen Kritik, und
unschwer ließen sich die Phrasen, mit denen falsche Ziele von
den Staatsmännern drapiert werden, noch durch neue Beispiele
von seither aufgekommenen vermehren. (Dasselbe gilt dann
aber nach B en th am s Meinung von allem, was nicht Lust ist.
Ihm stehen ja Einsicht, Gerechtigkeit, gute Sitten und Religion
auf der gleichen Linie wie Reichtum, Macht, Freiheit und Gleich
heit.)
4. Seiner Bemerkung, daß eine Gesetzgebung, die sich nicht von
der Rücksicht auf das Glück des Volkes leiten läßt, auf den Irr
weg von Sympathie und Antipathie und damit der Willkür ge
raten müsse, fügt er aber eine Warnung vor einem Mißver
ständnis bei: in gewissem Sinne dürfen, ja sollen Sympathie und
Antipathie bei der Gesetzgebung maßgebend sein, nämlich so,
daß der Gesetzgeber nicht seine, sondern die der Völker berück
sichtigt. Sollte man es glauben, daß es Monarchen gegeben hat,
die es vorzogen, Provinzen zu verlieren oder Ströme Blutes zu
vergießen, als die besondere Empfindlichkeit eines Volkes zu
schonen, eine an sich unschuldige Gewohnheit zu dulden, ein
altes Vorurteil auf sich beruhen zu lassen, eine gewisse Tracht,
gewisse Formeln von Gebeten zu wahren? Josef II., ein Fürst,
aufgeklärt, beseelt von der Begierde nach dem Glück seiner
Untertanen, unternahm es, in seinen Staaten alles zu reformieren
und — empörte alle gegen sich. Am Vorabend seines Todes, da
er auf alle Kümmernisse seiner Regierungszeit zurückblickte,
äußerte er, man solle auf sein Grab schreiben, daß er bei allen
daß nur Lust ein Gut, nur Pein ein Übel sei 175
seinen Unternehmungen unglücklich gewesen. Man hätte aber
besser, zur Belehrung der Nachwelt, daraufschreiben sollen, er
habe niemals die Kunst verstanden, den Neigungen, Lieb
habereien und der Empfindlichkeit der Menschen Rechnung zu
tragen. Selbst wo Bizarrerie und Aberglauben schädlich wirken,
sind sie ein Faktor, mit dem gerechnet werden muß. Und nur
in voller Würdigung der Rücksicht, welche dieser Faktor ver
dient, darf man sich der Hoffnung auf Änderung und Besserung
hingeben. Dies also ist die richtige Weise, wie die Sympathie
bei der Gesetzgebung mit maßgebend werden darf. Sie fließt
aber aus dem Grundprinzip. Alle anderen Weisen führen zur
Willkür und öffnen jeder Torheit die Türe.
5. Ein deutliches Zeichen für die Richtigkeit seines Prinzips
erblickt B e n th a m darin, daß nur Lust als Lohn, nur Pein als
Strafe Verwendung finden. Und zwar, könnte einer hinzufügen,
jede Art Pein. So zählt z. B. auch der edle Schmerz beim Anblick
der erschütternden Folgen einer Übeltat zu den Strafen, und die
Lust der Rache haben eine Herodias und eine Esther sich als Lohn
ausbedungen.
Dies sind also die Gründe, warum B e n th am, wenn er auch
nicht geradezu die Begriffe von Lust und Gut identifiziert, so
doch nur Lust als in sich liebenswert zu erkennen glaubt.
sich dieses nicht auf ein Vorstellen bezieht. Eine Satire wird von
dem Betroffenen selten schön empfunden, und, wenn das gesamte
Publikum beleidigt wird, von niemandem. (Mißfallen der Blau
strümpfe an Molière, der bösen Sieben an Shakespeare. Ein alter
Mann, der am Leben hängt, findet kein Gefallen an Kunst
werken, die ans Sterben erinnern.)
Indem der Künstler dem Rechnung trägt, kann er doch noch in
wahrhaft künstlerischer Absicht und nach Regeln handeln, die
ästhetisch maßgebend sind.
6. Anders, wenn das Schöne dem tatsächlich Gefälligen ge
opfert oder das Wohlgefallen an den Vorstellungen höheren
Wertes der Lust an niederen Vorstellungen oder anderen Inter
essen untergeordnet wird. Leider ist auch dies oft der Fall. So,
wenn sich die Kunst in den Dienst der Sinnlichkeit stellt. Sie
hört dann auf, schöne Kunst zu sein, und sinkt auf die Rang
stufe einer Kochkunst herab, die darauf ausgeht, in raffinierter
Weise dem Gaumen Vergnügen zu bereiten. Ähnlich ist es, wenn
das Hauptwohlgefallen an einem lobenden Gedichte den darin
enthaltenen Schmeicheleien gilt. Es ist dann kein ästhetisches.
Platon nennt die Kochkunst eine Schmeichelkunst. Wo eine
edle Kunst auf ähnliche niedere Ziele abgestellt ist, ist der Tadel
aber weit berechtigter. Ja, durch die Entwürdigung dessen, was
zu Höherem berufen ist, wird sie den, der das Schöne wirklich
liebt, geradezu widerlich anmuten. Aber auch sog. Tendenz-
stüdce sind, obwohl ethisch von größerem Werte als die eben
erwähnten Werke, den wahren Zielen der Kunst entfremdet.
7. Auch wendet die Kunst sich da von ihrer eigentlichen Auf
gabe ab, wo sie sich in sog. Parforcetouren ergeht und überhaupt,
wo das Werk die Aufmerksamkeit statt auf die Schönheit des
Vorgestellten auf die Meisterschaft des Künstlers konzentriert.
Es mag hier ein Wohlgefallen, auch ein berechtigtes, erweckt
werden, aber es ist kein Wohlgefallen am Schönen.
In jedem Zweige der Kunst werden solche Fehler begangen.
Da ist ein Dichter, der die künstlichsten Reime und Assonanzen
ineinanderflicht und eine erstaunliche Herrschaft über die
Sprache bekundet, aber weder die Vorstellung dessen, wovon er
spricht, noch das Gefühl, das sich auf die Vorstellung bezieht,
zur Hebung des Wohlgefallens 199
wird dadurch gefördert. Da ist ein Musiker, der Ausbrüche ver
zweifelter Traurigkeit oder wilder Rachelust einer Koloratur
sängerin in den Mund legt, die uns mit ihren gewandten, hüpfen
den und trillernden Tönen aus aller ernsten Stimmung bringt.
Da ist ein Maler, der, um seine Meisterschaft zu zeigen, im Über
maße die Linearperspektive in Anwendung bringt (Man
te g n a). Da ist ein Architekt, der den Turm einer Kirche, statt
senkrecht, schief in die Luft baut, kühn bis zur äußersten Grenze
schreitend, die nach den Gesehen des Gleichgewichtes noch statt
haft ist. Da ist ein Meister der Tanzkunst, der nicht den min
desten Sinn für die in der Bewegung zu erreichende Schönheit
hat, um deretwillen Terpsychore wirklich einer Stelle unter den
Musen würdig ist. Die gewaltsamsten Verrenkungen von Armen
und Beinen gelten ihm als höchster Triumph seiner Kunst. Und
das Publikum ist barbarisch genug, an solcher Menschenquälerei
Wohlgefallen zu finden. Ob es freilich bloß das Wohlgefallen an
der Gelenkigkeit und meisterhaften Beherrschung der Glieder
ist, das in diesem Falle für den Mangel an ästhetisch Anziehen
dem Ersatj bietet, dürfte bezweifelt werden. Wenn aber, so ist
es auch dann wie in den vorerwähnten Fällen nur ein Abfall von
der wahren Bestimmung der Kunst und ist es immer und in
jedem Falle, auch wenn es sich um -so bedeutende Meister wie
Mantegna oder Mozart handelt.
Auch beim Porträt geschieht es häufig, daß das Wohlgefallen
daran vorzüglich der Meisterschaft des Künstlers gilt. Dies dort,
wo nichts als die Ähnlichkeit gewertet wird. Aristoteles
erklärt sich das Vergnügen an dieser aus der Verwandtschaft des
Vergleichens mit der Denktätigkeit beim Schließen. Auch das
wäre kein ästhetisches Wohlgefallen, aber die Erklärung genügt
kaum. Zwei ähnliche Gegenstände der Natur, z. B. zwei Augen,
zwei Hände, zwei Beine zu vergleichen gewährt nicht die Lust,
die ein gelungenes Porträt bereitet. Es ist vielmehr das Wohl
gefallen an der Virtuosität. „Wie natürlich das gemacht ist!“
Das Wohlgefallen und die Bewunderung sind gerechtfertigt,
aber sie sind -kein Wohlgefallen am Schönen, sondern an der
Meisterschaft.
Einer -meiner Freunde, ein Künstler, sagte mir in dem Be
200 Schönheit und Wert
sei, geht uns hier nichts an; genug, daß selbst von dieser Seite
ein Zeugnis gegen die Lehre, nur Eigenes sei liebbar, vorliegt.
b) Vielleicht dient aber folgende Betrachtung noch mehr dazu,
die Tatsache ins Licht zu setjen. Ich frage: Wenn man behauptet,
nur Eigenes, d. h. die eigene psychische Tätigkeit, sei fähig,
geliebt zu werden — wie ist dies zu verstehen? Meint man, nur
die des Augenblicks oder auch künftige? Kaum einer dürfte die
zukünftige ausschließen wollen. So lehren auch die Hedoniker,
z. B. Ep i k u r, auch unsere 'künftige Lust könne geliebt werden;
man opfere in der Tat mit Rücksicht auf sie eine geringere Lust
der Gegenwart. Aber sehr viele unter den Hedonikern sind, wie
E p i k u r selbst, Materialisten. Auf diesem' Standpunkt bedeutet
nun der beständige Stoffwechsel des Gehirns einen beständigen
Wechsel des Trägers der psychischen Funktionen. Was in etlichen
Jahren nach gewöhnlicher Sprechweise Ich genannt wird, das ist
jetjt dem Stoffe nach außer mir und ohne Widerspruch könnte es
mir, ebenso zusammengesetzt, jetjt von außen gegenüberstehen.
Und siehe! dieser Glaube hebt die Liebe nicht auf. Etwa bloß
darum, weil diese hedonistischen Materialisten — wie der
Materialismus in psychologischen Dingen in der Tat vielfach
roh und oberflächlich zu verfahren pflegt — die Konsequenzen
nicht überdacht haben, so daß jener Glaube nicht Einfluß ge
winnen konnte? Aber man mache sie darauf aufmerksam: Sie
werden nicht minder für ihre Zukunft Sorge tragen, ob sie aber
ihren Materialismus aufgeben werden, scheint mir sehr fraglich.
So zeigt sich denn, wie der Mensch in der Tat fähig ist, außer
der eigenen auch fremde psychische Tätigkeit zu lieben.
Vielleicht wendet einer ein: Wenn auch streng genommen
mein künftiges Ich nicht ganz dasselbe ist wie das gegenwärtige,
so liegt doch hier ein besonderer Fall, eine ganz besondere Ähn
lichkeit vor, so daß es praktisch als dasselbe gelten kann. Es
bliebe somit doch die Beschränkung der Liebe auf die eigene
gegenwärtige und künftige Tätigkeit faktisch bestehen.
Antwort: a) Mit Unrecht wird diese weitgehende Ähnlichkeit
behauptet. Der Mann ist dem Knaben viel unähnlicher als dieser
anderen Knaben.
ß ) Wie immer ähnlich, die Ichsdiranke wäre gefallen. Eine
Nicht nur eigene psychische Tätigkeit ist liebenswürdig 205
psychischer Tätigkeit, und ähnlich auch für die Übel. Auch andere
Güter als Lust sind liebbar und liebenswert und in gleicher
Weise eigene wie fremde.
Aus dem, was wir bereits über den Begriff des Besseren ge
sagt haben, war ersichtlich, daß wir es bei der unmittelbaren Er
kenntnis von Wertverhältnissen, vermöge deren ein Gut größer
erscheint als ein anderes, immer mit Fällen als richtig charakteri
sierter Bevorzugung zu tun haben. Wir wollen diese nun über
sichtlich, so vollständig als möglich, aufzählen.
1. Der Fall, wo wir etwas Gutes und als Gutes Erkanntes
etwas Schlechtem und als Schlechtes Erkanntem vorziehen, z. B.
Freude dem Leid, Erkenntnis dem Irrtum. Beides sind deutliche
Fälle als richtig charakterisierten Vorziehens.
2. Der Fall, wo wir zwischen dem Bestand eines Gutes und
dem Mangel daran vergleichend, jenen vorziehen. Ebenso wird
mit Recht vorgezogen, daß Schlechtes nicht sei, wenn wir den
Fall, daß es sei, damit vergleichen.
Unter diesen Fall gehören:
a) der Fall, wo wir ein Gutes rein für sich dem gleichen Guten
mit Beimischung von Schlechtem vorziehen; dagegen ein Schlechtes
mit Beimischung von Gutem diesem Schlechten rein für ,sich.
b) der Fall, wo wir das ganze Gute einem Teil des Guten,
dagegen einen Teil des Schlechten dem ganzen Schlechten vor
ziehen. Summierungsregel (vgl. Anm. 18).
Schon Aristoteles hat bemerkt, daß -bei Gutem die Summe
immer besser sei als der einzelne Summand. Ein solcher Fall von
Summierung liegt auch vor bei längerer Dauer. Die gleiche
212 Fälle einer als richtig charakterisierten
Freude, wenn sie eine Stunde währt, ist besser, als wenn sie im
Augenblick schon erlischt.
E p i k u r hat das bestritten, um uns über den Tod zu trösten.
Aber wie gedankenlos! Dann wäre ja auch die Pein einer
Stunde nicht schlechter als die eines Augenblicks und ein ganzes
Leben voll Freude mit einem einzigen Augenblick der Pein nicht
vorzuziehen einem ganzen Leben der Pein mit einem einzigen
Augenblick der Freude. Aber gerade E p i k u r lehrt davon das
Gegenteil.
Zu den Fällen der Wertsteigerung durch Summierung gehören
auch die des Gradunterschiedes. Ist von zwei sonst gleichen
Freuden die eine intensiver, so ist sie die bessere, und wiederum
ist der intensivere Schmerz das größere Übel. (Es hängt dies
damit zusammen, daß eigentliche Intensität nur auf dem Gebiete
der sinnlichen Empfindungen und Affekte gefunden wird und
hier auf dem Maße der Dichtigkeit in der Erfüllung des Sinnes-
raumes beruht.)
3. Ein dem vorigen Fall sehr verwandter ist der, wo ein Gutes
einem anderen Guten vorgezogen wird, welches zwar nicht einen
Teil von ihm bildet, aber einem seiner Teile gleich ist. Ähnlich
ergibt sich, wenn zu einem Schlechten ein anderes Schlechtes
hinzugefügt wird, ein größeres Übel. So erscheint es z. B. als
besser, wenn einer etwas Gutes nicht nur vorstellt, sondern
auch liebt. Die Summe der psychischen Beziehungen ergibt ein
größeres Gut.
4. Ein Fall als richtig charakterisierter Bevorzugung ist es
auch, wenn wir von zwei einander gleichwertigen Gütern das
wahrscheinlichere vorziehen. Schon B e n t h a m hat darauf hin
gewiesen. Dagegen war es ein Irrtum, wenn er glaubte, daß die
zeitliche Nähe, abgesehen von der Wahrscheinlichkeit, ähnlich
wie die größere Intensität oder längere Dauer, den Wert eines
Gutes zu steigern vermöge. So kann es geschehen, daß auf der
einen Seite ein größeres, aber minder wahrscheinliches Gut, auf
der anderen ein kleineres, aber wahrscheinlicher erreichbares
konkurrieren, dann kommt bei der richtigen Bevorzugung die
Wahrscheinlichkeit in Betracht. Wenn A dreimal besser ist als B,
Bevorzugung 213
aber B zehnmal mehr Chancen hat, verwirklicht zu werden, so
ist es richtig, B vorzuziehen.
Audi dieser Fall läßt sich dem Summierungsprinzip unter
ordnen, denn wo ein Gut mehr Wahrscheinlichkeit bietet, wird
es im Durchschnitt der Fälle auch in größerer Anzahl verwirk
licht werden.
5. Es gibt aber auch Fälle des als richtig charakterisierten Be
vorzugens, wo das Bessere nicht die größere Summe ist, sondern
wo der Vorzug sich an eine qualitative Differenz 'knüpft. So
zeigt sich z. B. beim Erkennen die positive Erkenntnis unter
sonst gleichen Umständen als wertvoller als die negative. So sehr
es einen Vorzug der Geometrie bedeutet, daß sie uns allgemeine
Gesetje erkennen läßt, so wäre doch ihr Wert wesentlich herab
gesetzt, wenn es sich herausstellte, daß es gar keine räumlich aus
gedehnten Dinge gebe, daß also die geometrischen Sätje kein
Anwendungsgebiet haben.
6. Ein analoger Fall ist es, wenn wir unter den Gemüts
bewegungen diejenigen, die ein Lieben sind, solchen gegenüber
vorziehen, die ein Hassen sind. Auch davon war schon bei der
Aufstellung der Gütertafel die Rede. Es handelt sich da offenbar
um besondere Fälle als richtig charakterisierten Bevorzugens.
7. Nicht ganz derselbe, aber ein verwandter Fall liegt vor, wo
die Lust am Guten mit der Lust am Schlechten und wiederum
der Schmerz über Schlechtes mit der Unlust an Gutem zum Ver
gleich stehen. Die Lust am Schlechten ist als Lust ein Gut und
nur zugleich als unrichtige Gemütstätigkeit etwas Schlechtes. Sie
ist überwiegend schlecht, aber kein reines Übel. Indem wir sie
als schlecht verabscheuen, üben wir keinen einfachen Akt des
Hasses, sondern einen Akt der Bevorzugung, worin die Freiheit
von dem einen Schlechten den Vorzug vor dem Besitj des anderen
Guten erhält. Durch diese als richtig charakterisierte Bevor
zugung ist der Abscheu vor der Freude am Schlechten gerecht
fertigt. Wir sagen uns, lieber keine Lust als Lust an Schlechtem.
Wenden wir uns zu dem anderen Fall. Wie steht es um die
als richtig charakterisierte Unlust an Schlechtem? Auch hier liegt
eine als richtig charakterisierte Bevorzugung vor. Es handelt
sich um Fälle wie den, wo es uns schmerzlich ist, daß die Un-
214 In anderen Fällen ist ein Vorzug nicht erkennbar 215
schuld unterdrückt wird. Oder um den Fall der Reue, wo wir, aber erkennen, ob dieser Akt der Einricht oder jener der Liebe
auf unser früheres Leben zurückblickend, beim Bewußtsein einer das Bessere sei?
schlechten Handlung Leid empfinden. Unsere Lage ist hier dem Manche sind hier schnell fertig mit dem Urteil. Jeder Akt
früher erwähnten Falle von Freude an Schlechtem entgegen edler Liebe, sagen sie, sei in sich selbst ein so hohes Gut, daß
gesetzt. Ein solcher Schmerz über Schlechtes gefällt überwiegend, er besser sei als alle wissenschaftliche Erkenntnis. Aber dies ist
aber nicht rein. Es ist kein reines Gut. Ein reines Gut wäre die nicht bloß nicht sicher, sondern geradezu absurd. Der einzelne
edle Freude beim Anblick des Gegenteils von dem, worüber man Fall edler Liebe, so wertvoll er immer sein mag, bleibt doch ein
jetjt zu trauern Grund hat. So gibt denn mit Recht Descartes endliches Gut. Ein gewisses endliches Gut ist aber auch jede Ein
den Rat, lieber in äquivalenter Weise seine Aufmerksamkeit sicht, und wenn ich dieselbe endliche Größe in beliebiger Menge
dem Guten zuzuwenden. zu sich selbst addiere, so muß die Summe jedes gegebene Maß
8. Zu den Fällen als richtig charakterisierter Bevorzugung, die von Wert einmal übersteigen.
sich ebenfalls nicht dem Summierungsprinzip unterordnen lassen, Platon und Aristoteles stellten umgekehrt die Akte
zählt auch der folgende: Wenn wir uns einen Prozeß vorstellen, der Erkenntnis höher als die der Tugend. Auch dies ist un
der von Gutem zu Schlechtem oder von größerem Guten zu ge berechtigt. Man sieht schon an dem Gegensatj der Meinungen,
ringerem Guten führt und ihn mit dem in umgekehrter Richtung daß hier das Kriterium versagt. Aber das beweist nichts gegen
verlaufenden vergleichen, so scheint uns dieser als der vorzüg die früher klargestellten Fälle, wo wir einer als richtig charak
liche. Und dies auch dann, wenn die Summe des Guten hier und terisierten Bevorzugung fähig sind. Wie so vielfach auf psychi
dort die gleiche wäre. Auch diese Bevorzugung ist als richtig schem Gebiete, sind uns auch hier eigentliche Maßbestimmungen
charakterisiert. Man kann in diesem Sinne von einem bonum nicht möglich. Wo aber die innere Vorzüglichkeit nicht ausfindig
progressionis und einem malum regressus sprechen. zu machen ist, da scheidet sie auch für die Berücksichtigung aus,
sie ist so gut wie nicht vorhanden. (Wir werden bei der Erörte
rung des höchsten praktischen Gutes diese Lücke als praktisch
§ 62. Falle von Unerkennbarkeit des Vorzuges bedeutungslos erkennen.)
und solche von Indifferenz Ebensowenig vermögen wir im einzelnen Falle immer zu er
kennen, ob eine gewisse Erkenntnis wertvoller sei als eine be
Wie verhält es sich, wenn Güter verschiedener Klassen zum stimmte Lust. Es sind ja nicht alle Erkenntnisse einander gleich
Vergleiche stehen? Darüber herrscht Streit, vor allem der be wertig. Hingegen bietet sich uns hier in der als richtig charakte
rühmte Streit über die Superiorität von Lust oder Erkenntnis risierten Bevorzugung ein Kriterium allgemeinerer Art. Wenn
und von Erkenntnis und richtiger Liebe. Es fragt sich, wie man wir den Begriff blinder Lust und den Begriff einer Erkenntnis
die Klassen vergleichen soll. Offenbar müßte, damit eine Über im allgemeinen haben, so sagt uns eine als richtig charakterisierte
legenheit der einen Klasse vor der anderen sichergestellt werde, Bevorzugung, daß es besser sei, auf jede blinde Lust als auf
nicht ein beliebiges Phänomen der einen mit einem beliebigen jede Erkenntnis zu verzichten.
der anderen in Vergleich gezogen werden, sondern, da in jeder 2. Wohl zu unterscheiden von den Fällen, wo uns eine als
solche höheren und niederen Ranges sich finden, vielmehr die richtig charakterisierte Bevorzugung fehlt und wir darum nicht
höchsten miteinander verglichen werden. erkennen, ob ein Wertunterschied vorliege, sind diejenigen, wo
Was ergibt sich so etwa für das Wertverhältnis von Einsicht wir, eines mit dem anderen vergleichend, feststellen, daß keiner
und richtiger Liebe? Jedes von beiden ist ein Gut, wie läßt sich besteht. So erkennen wir es als irrelevant, ob es sich um einen
216 Richtige Liebe und Bevorzugung
Wert handelt, der zum eigenen Ich gehört, oder zu einem solchen
an einem fremden Ich. Wir erkannten es schon als einen Irrtum,
daß nur Eigenes liebenswürdig oder gar liebbar sei; es wäre
aber auch ein Irrtum, d. h. hier ein unrichtiges Vorziehen, wenn
wir ein Gutes deswegen höher einschä^ten, weil es ein eigenes
ist. Das ist eine fundamentale Erkenntnis für die Ethik. In ihrem
Lichte zeigt sich, daß Egoismus und Altruismus keineswegs die
entscheidenden Gegensätze sind. Keiner von beiden ist schon an
sich das Richtige. Richtig allein ist, zu lieben und
zu bevorzugen nach dem Maße des wahren
Wertes, dem größeren Gute also den Vorzug vor dem kleine
ren zu geben, auch wenn es sich zeigen sollte, daß wir dann
selbst leer ausgehen, aber auch, wenn es sich zeigen sollte, daß
das größere Gut das unsere ist. Die volle Bedeutung dieses
Satjes wird erst klarwerden, wenn wir uns im nächsten Kapitel
der Frage nach dem höchsten praktischen Gute zuwenden.
Vorher seien hier schließlich noch die Gesetze als richtig charak
terisierten Vorziehens in bezug auf das Gebiet des Vorstellens
angeführt, von denen ich oben sagte, daß sie für die Ästhetik
grundlegend sind.
1. Die reichere Vorstellung ist wertvoller als die ärmere. Da
mit hängt unter anderem der ästhetische Vorzug der Phantasie
vorstellungen vor den begrifflichen zusammen. Sie enthalten
immer mehr an Vorstellungen.
2. Die Vorstellung des Psychischen ist wertvoller als die von
Physischem. Damit hängt zusammen, daß unter allen Künsten
die Dichtkunst am höchsten steht, denn keine vermag in solchem
Maße seelisches Leben darzustellen. Wenn auch die Musik un
mittelbarer zu wirken scheint, so spricht diese doch neben unseren
höheren Kräften auch das affektive Leben an, das im Sinnlichen
wurzelt.
3. Die Vorstellung des Besseren, Edleren, überhaupt des Wert
volleren, ist selbst wertvoller.
richtet sich nach dem Maß des wahren Wertes 217
trifft es sich vielmehr, daß dasjenige, was mit einer als richtig
charakterisierten Bevorzugung vorgezogen wird, nicht auch prak
tisch bevorzugt wird. M. a. W. die als richtig charakterisierte
Bevorzugung hat nicht die Kraft, die Willensentscheidung zu
determinieren, vielmehr steht sie in Konflikt mit einer entgegen-
gesetjten blinden, affektiven, sei es instinktiven, sei es gewohn
heitsmäßigen Bevorzugung, die schließlich den Sieg davonträgt.
Wir sagen dann, die richtige Bevorzugung sei im Kampfe mit
der blinden unterlegen. Der Fall hat Verwandtschaft mit dem
auf dem Urteilsgebiete, wo blinde Vorurteile einsichtige Gründe
verdrängen.
1. Aus dem, was wir über die Fälle als richtig charakterisierten
Bevorzugens gesagt haben, ergibt sich der wichtige Satj, daß der
Bereich des höchsten praktischen Gutes die ganze unserer ver
nünftigen Einwirkung unterworfene Sphäre ist. Nicht allein das
eigene Selbst, die Familie, der Staat, sondern die ganze gegen
wärtige Lebewelt, ja Zeiten ferner Zukunft können dabei in
Betracht kommen. Das alles folgt aus dem Satj, daß mehr des
Guten besser sei als weniger. Das Gute in diesem weiten Kreise
nach Möglichkeit zu fördern, das ist offenbar der richtige Lebens
zweck, zu dem jede Handlung geordnet sein soll. Das ist das
eine und höchste, durch den Verstand erkennbare Gebot, von
dem alle anderen abhängen.
Dieses Gute, das wir verwirklichen sollen, ist nach den vorher
gegangenen Analysen: das größtmöglichste Maß von seelischen
Gütern bei allen in unsere Einflußsphäre fallenden beseelten
Wesen. Das ist in quantitativer wie qualitativer Hinsicht zu ver
stehen. Und da man einen, der diese Güter in hohem Maße be-
sitjt, einen Glücklichen nennt, so kann man das höchste praktische
Gut auch als das höchstmögliche Glück des weitesten, unserer
Einwirkung zugänglichen Kreises von Lebewesen definieren.
Damit ist ein oberstes Sittengesetz aufgestellt, das
weder von der Bevorzugung des Eigenen noch des Fremden
umfaßt die unserer Einwirkung unterworfene Sphäre 223
zu fördern in der Lage ist. Wenn Menschen auf dem Mars leben
sollten, so kann und soll der Erdbewohner ihnen ebenso Gutes
wünschen, aber nicht ebenso Gutes für sie erstreben als für sich
und seine irdischen Genossen. So begegnet man denn auch in
jeder vernünftigen Moral der Mahnung, sich zunächst um sich
selbst zu kümmern. Jeder kehre vor der eigenen Tür. Überall
wird auch die Forderung erhoben, zunächst für die eigene
Familie, für das eigene Volk zu sorgen. Wenn wir uns später
mit dem Unterschiede der sog. Rechts- und Liebespflichten be
schäftigen, wird uns der Grund dafür noch deutlicher werden.
Es handelt sich dabei um die richtige Teilung der Arbeit im
Interesse des höchsten praktischen Gutes.
So ist denn die Selbstsonge durchaus berechtigt, nur muß sie
in den Dienst des höchsten praktischen Gutes gestellt sein. Dann
ist sie auch nicht Egoismus, d. h. jener Subjektivismus, der sich
bei seinen Entscheidungen nicht durch den Wert des Gutes,
sondern durch den Eigenbesitj bestimmen läßt. Nein, dem Egois
mus als dem rücksichtslosen Streben nach eigenem Vorteil, un
bekümmert um fremde Not und fremdes Leid, macht das Prinzip
des Vorranges der Selbstsorge gar kein Zugeständnis. Doch dar
über mehr in der „Pflichtenlehre“.25
Als Träger psychischen Lebens sind auch die Tiere in den
Bereich unserer sittlichen Bedachtnahme einzubeziehen. Auch das
wird von den Utilitariern anerkannt, mit dem richtigen Beisatz
daß diese Rücksicht nicht in gleichem Maße uns obliegt wie die
auf unsere Mitmenschen. Sie begründen den Unterschied damit,
daß die Tiere an Lust und Schmerz nicht im gleichen Grade
Anteil hätten wie die Menschen. Auf unserem Standpunkt kommt
zu diesem graduellen Unterschiede noch und vor allem die Rück
sicht auf die anderen Güterarten, deren eben der Mensch vor den
Tieren teilhaftig ist.
ist ja ein nur mittelbarer. Darum bezieht sich auch die Pflichten
lehre vorwiegend auf das Nützliche und Schädliche. Wenn wir
daraufhin z. B. den mosaischen Dekalog ansehen, so finden wir,
daß darin hauptsächlich von solchem die Rede ist, was als
Mittel für Güter oder Übel dient (nicht töten, kein falsches
Zeugnis geben, nicht stehlen u. a.). Dasselbe gilt von anderen
ethischen Gesetzgebungen. So ist denn die Lehre von den Nütjlidi-
keiten und Schädlichkeiten für die Pflichtenlehre wichtig. Immer
hin wollen wir nur kurz bei diesem Punkte verweilen, schon
darum, weil, was hier zu sagen wäre, in der Hauptsache ohnedies
als bekannt vorausgesetzt werden darf.
Das Nützliche und Schädliche ist teils unserem Einfluß unter
worfen, teils ihm entzogen (Jahreszeiten, Wetter). Wir bleiben
bei jenem, da es sich uns um das höchste praktische Gut
handelt.
Das Nützliche und Schädliche, das wir verwirklichen können,
ist teils solches, was mit Sicherheit, teils solches, was mit Wahr
scheinlichkeit die guten und schlechten Folgen erwarten läßt. Im
letjten Falle ist es im einzelnen eigentlich oft gar nicht nützlich
bzw. schädlich, wohl aber im allgemeinen. Darum ist es im ein
zelnen Falle nach dem unserer Voraussicht entsprechenden Wahr
scheinlichkeitsbruch zu beurteilen. Verspricht etwas, was uns
zweckdienlich scheint, seinen Erfolg mit der Wahrscheinlichkeit %,
so werden wir im Durchschnitt richtig fahren, wenn wir es jedes
mal so behandeln, als verspräche es % des betreffenden Guten
mit Sicherheit.
Nütjlich bzw. schädlich ist ferner etwas entweder für eine
bestimmte Person oder für einen bestimmten Komplex von Per
sonen (z. B. für einen Staat) oder für einen unbestimmten Kreis.
Ebenso ist der Nutzen oder Schaden selbst entweder ein be
stimmter oder unbestimmter.
Als vorzüglich nützliche Güter für den einzelnen sind an
zusehen:
1. persönliche.
a) physische. Das vegetative Leben, Gesundheit, Körperkraft,
Vorzüge des Geschlechts, Alters, körperliche Fähigkeiten, Schön
heit.
□ütjlidien Güter 227
b) psychische. Gute intellektuelle und Gemütsdispositionen,
Gedächtnis, Beobachtungsgabe, Abstraktionsvermögen, positive
Kenntnisse, ästhetischer Geschmack, ethische Tugenden.
2. sachlicher Besitj teils an solchem, was unentbehrlich (Lebens
erfordernis), teils an solchem, was Annehmlichkeiten schafft und
uns Mittel zur Förderung guter Bestrebungen verleiht.
3. gesellschaftliche Beziehungen.
a) gute Dispositionen der Gesellschaft in sich. Sie sind eine
Art unkörperlicher Besitj. Es kommt ja gar viel darauf an, in
welche Gesellschaft man hineingeboren oder hineingelangt ist.
Zahllose gute Dienste und Förderungen, die man von Jugend
auf erfährt, hängen damit zusammen.
a ) Vor allem kommt dabei das kulturelle Niveau der Gesell
schaft in Betracht, die in ihr herrschende ethische und intellek
tuelle Bildung, die in ihr wirksamen künstlerischen Kräfte, be
sonders die Tugend der Gerechtigkeit. Trägt die Gesellschaft, in
der wir leben müssen, den Unterschieden der Menschen in ge
rechter Weise Rechnung? Sichern z. B. ihre sittlichen An
schauungen den Frauen eine geachtete Stellung? Die Art, wie
dies geschieht, gehört zu den zuverlässigsten Maßstäben zur Be
urteilung der kulturellen Höhe (Monogamie).
ß) Güter der Ordnung und Sicherheit, wie eine gute Gesetj-
gebung sie bietet. Schutj der Früchte ehrlicher Arbeit vor Aus
beutung. Frieden nach außen und Frieden im Innern (nationaler,
konfessioneller Frieden, friedliches Zusammenarbeiten der
Klassen).
Dies alles sind gute Dispositionen der Gesellschaft an und für
sich. Um ihretwillen hat Platon gesagt, er danke Gott, daß er
als Hellene auf die Welt gekommen sei, nicht als Barbar.
b) Gute Dispositionen der Gesellschaft in bezug auf uns.
a) Liebe, Freundschaft, die wir finden.
ß) Ehre, Ansehen, die uns zuteil werden.
f) Die besondere Stellung, die andere durch ihre ethischen
Verpflichtungen uns gegenüber haben. Die Freiheit, deren wir uns
erfreuen. Der einzelne ist Bürger, Gatte, hat Eltern, Kinder,
Rang, Stand. Hat die Gesellschaft, in der wir leben, ein deut
liches Bedürfnis nach den Werten, die wir ihr dank unseren
228 Da» Nützliche richtet »ich nach dem
Gaben bieten können? Was ist der Künstler, wenn niemand nach
seinem Werke Verlangen trägt? Selbst in bezug auf das, was
ihnen am meisten nottut, ermangeln die Menschen oft der Ein
sicht, und verlangen darum nicht darnach. So sehen sich ihre
wahren Wohltäter oft zu einem Märtyrerleben verurteilt. Was
täte gewissen Zeiten mehr not als Erlösung vom Übel des
Nationalitätenhaders? Aber das hindert nicht, daß die Schürer
des Hasses als Patrioten gefeiert und die Prediger von Vernunft
und Gerechtigkeit als Verräter verfemt werden.
$ 67. Stellung der Ethik zur Frage nach dem Dasein Gottes
Hier ist der Punkt, wo die Ethik genötigt ist, an die Meta
physik sich zu wenden. Hier scheiden sich die Wege, je nachdem
die Antwort auf die Frage nach dem Dasein Gottes ausfällt, um
dann entweder in der Richtung lebensfreudigen Bejahens weiter
zugehen oder aber in Resignation und Nirwana zu münden.
Ehe ich diesen Gedanken weiter verfolge, ein Wort zur Er
innerung an schon früher Gesagtes, was einem Mißverständnis
zuvorkommen wollte. Wenn ich die Ethik von der Stellung, die
man zur Gottesfrage einnimmt, abhängig mache, so will ich
damit die frühere Behauptung, daß ihre Erkenntnisprinzipien
vom Theismus-Atheismus-Streite nicht berührt werden, nicht
abschwächen oder gar widerrufen. Daß es nur eine theistische
Moral geben könne oder gar keine, ist falsch. Was gut und was
besser als ein anderes sei, wird von uns unabhängig von allen
metaphysischen Überlegungen erkannt. Nicht ebenso aber, was
nützlich und schädlich ist, d. h. was dem erreichbar Besten förder
lich oder abträglich ist. Und so denn auch nicht die Frage nach
dem Nutjen des Lebens.
Die natürliche philosophische Erkenntnis reicht aus zum Auf
bau der richtigen Ethik. Und wenn einer, der nicht an eine Reli
gion als geoffenbarte Wahrheit, ja auch nicht an Gott glaubt,
daneben ein übler Patron ist, so ist er es auf eigene Rechnung.
Es gibt unter den Ungläubigen und unter den Atheisten sehr edle
Menschen. Wer schlecht handelt, darf dafür den Vernunftgebrauch
nicht verantwortlich machen, denn nicht, weil er der Vernunft
folgt, sondern weil er ihr nicht folgt, ist er zu tadeln.
Aber wenn dieselben Prinzipien für den Atheisten ebenso zu
erkennen sind wie für den Theisten, die Konsequenzen daraus
ändern sich, je nachdem der eine oder der andere recht hat.28
Der konsequente Atheist ist Pessimist: die Welt ist aus blinder
Notwendigkeit entstanden, was zweckmäßig in ihr scheint, ist
bloßer Schein und richtiger glücklicher Zufall als Zweck zu
nennen, denn niemand ist, der ihr Sinn und Ziel geben könnte.
Ich sage, der konsequente Atheist; es gibt freilich viele inkonse
quente, die Optimisten sein wollen. Aber ein solcher Optimismus
ohne Gott ist keine Weltanschauung der Einsicht, sondern des
blinden Lebenstriebes, und verdient den Hohn Sch open-
der Bewertung des Nützlichen von der Weltanschauung 231
In der Antwort ist fast alle Welt einig: Wir können vielfach,
was wir wollen, und können das Entgegengesetjte, wenn wir
das Entgegengesetjte wollen. Andererseits sind auch alle einig
darüber, daß wir vielfach nicht tun können, was wir gern tun
möchten. Wir besitzen also die Freiheit zu tun, was wir wollen,
eben nur innerhalb gewisser Grenzen. Und zwar ist das Im
perium des Willens ein doppeltes:
A. Nadi außen, und zwar
a) über die Glieder unseres Leibes. Es wird beschränkt durch
positiven Zwang, z. B. wenn wir bei gebundenen Beinen mar
schieren wollten, kann aber auch durch Übung gesteigert werden
(Turnen, Schwimmen, Klavierspielen, Radfahren, Tanzen).
b) über die Kräfte der äußeren Natur.
c) über die Kräfte anderer Menschen.
B. nach innen
a) Beherrschung der Gedanken, beim Sichbesinnen, Nach
denken (zum Nachdenken gehört einerseits das Aufsuchen,
andererseits das Festhalten von Gedanken). Es liegt auch in
unserer Willensmacht, unter Umständen Gedanken zu ver
scheuchen, sei es durch bloße Willensanstrengung, sei es unter
Anwendung geeigneter Mittel.
Wenn gewisse Religionen gebieten, etwas zu glauben, und
verbieten, Zweifel zu hegen, so rechnen sie mit dieser Macht des
Willens über unser urteilendes Verhalten.
Wer in solcher positiver und negativer Beherrschung seiner
Gedanken sich eine größere Macht erworben hat, ist besser zum
Denker und Forscher geeignet. Doch nicht immer gelingt das er
wünschte Festhalten oder Verdrängen. (Themistokles sagt
zum Mnemotechniker: „Lehre mich lieber die Kunst des Ver
gessens.“) Quälende Erinnerungen kehren immer wieder. Daß das
Aufsuchen eines Gedankens zuweilen mißlingt, zeigt sich auch
einem fleißigen Studenten nicht selten beim Examen. Das Fest
halten wird erschwert, ja unter Umständen unmöglich gemacht
durch Ermüdung. Man vermag dann nicht mehr aufmerksam zu
sein, sich zu konzentrieren.
b) Herrschaft über die Affekte, sei es, sie anzufachen, sei
es, sie zu unterdrücken.
besteht innerhalb gewisser Grenzen 237
Wir vermögen sie anzufachen, wie in anderen so in uns.
So z. B. uns zornig oder mutig zu machen. Das geschieht teils
direkt, indem wir uns entsprechende Vorstellungen vorführen,
Monologe halten, uns in eine Sache „hineinreden“; teils indirekt,
indem wir z. B. durch Gebärden des Zorns, öl ins Feuer gießend,
wirklich zornig werden, wir können uns ein Mütchen antrinken
(James-Langesche Affekttheorie). Ein indirektes Ver
fahren ist es auch z. B., wenn wir den Reiz einer Arbeit, die
weder Verstand noch Phantasie befriedigt, durch Aussicht auf
Belohnung erhöhen.
Wir unterdrücken aber auch Gefühle und Affekte, teils
direkt, teils indirekt.
Direkt dadurch, daß wir ablenkende und widerstreitende Ge
danken aufsuchen' und dadurch solche, welche den zu unter
drückenden Affekt nähren, verdrängen. Monologe spielen auch
hier eine Rolle. So suchen wir uns im Unglück die tröstlichen
Seiten unserer Lage zu vergegenwärtigen. Wir wirken der Über
macht einer Leidenschaft entgegen, indem wir anderes auf
suchen, was das Interesse fesselt. Selbst sinnliche Lust und sinn
licher Schmerz lassen sich ausschalten oder mildern durch die
Überlegung, daß es sich um blinde Instinkte handelt, daß die
völlige Hingabe an solche etwas Unwürdiges hat, und durch die
Ablenkung des Interesses auf höhere Werte. Es ist ähnlich, wie
wenn wir den instinktiven sinnlichen Glauben an die Wirklich
keit alles dessen, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, durch
logische Reflexion korrigieren. Es bleibt zwar dort wie hier der
instinktive Drang, aber er verliert das Beherrschende.
Indirekt. Viele empfehlen die Unterdrückung durch Askese.
Doch bedarf dies der Vorsicht. Auch im Entsagen gebietet die
Vernunft das Maßhalten. Es ist im allgemeinen nicht zu billigen,
es in der Askese so weit zu treiben, daß die natürlichen Kräfte
geschwächt werden. Es läßt sich der Zustand des Greises zwar
künstlich herstellen, aber nicht ohne daß darunter auch die
Energie für das Gute leidet. Große Schwäche entzieht uns gerade
zu die Herrschaft über Vorstellungen und Affekte, führt zu
Delirien und Halluzinationen. Mens sana in corpore sano. Also
vielmehr Kräftigung des Nervensystems durch Vermeidung von
238 Der Wille ist frei von Zwang und in gewissen Grenzen
$ 69. Von der Freiheit vom Zwang und der Freiheit im Sinne der
Selbstbestimmung (Freiheit des actus ellcltus voluntatls)
1. Wie steht es mit dem Wollen selbst, mit dem actus elicitus
voluntatis?
Auch diese Frage hat mehrfachen Sinn.
kommt ihm Selbstbestimmung zu 239
Der Determlnismus-Indetermlnlsmus-Strelt
2. Wille Ursache seiner selbst. „Ich will, weil ich will“ heißt
entweder Freiheit von äußerem Zwang oder ist Unsinn. Man
muß sich hüten, den Willen zu einer Person zu machen, zu einer
Seele in der Seele. Die Seele will, ebenso wie die Seele denkt.
Die Frage kann also nur sein, ob der Wille überhaupt keine
Ursachen hat oder doch 'keine determinierenden. Und darüber
ist der berühmte Streit der Deterministen und Indeterministen
entbrannt. Er zog sich durch die Jahrhunderte hin. Spuren davon
zeigen sich schon bei Aristoteles, doch mag, da das Pro
blem bei ihm noch nicht deutlich ausgesprochen vorliegt, fraglich
erscheinen, auf welcher Seite er steht. Auch in der Folge läßt
sich die Grenze zwischen beiden Lagern nicht immer zuverlässig
ziehen, weil die Gegner in diesem Streite vielfach aneinander
vorbeireden, indem sie, sich selbst und den anderen unbe
merkt, in andere Bedeutungen von Freiheit abgleiten. Klare
Vertreter des Determinismus sind z. B. Spinoza, Leibniz,
DavidHume, J. St. Mill, A. B a i n, Spencer, unter
den deutschen Philosophen Schopenhauer, Herbart,
Trendelenburg, Fechner. Indeterministen sind z. B.
Descartes, die schottische Schule, insbesondere Thomas
Reid und Hamilton. Doch wird, wie gesagt, oft der Frage
punkt verschoben. So ist nicht bloß von Platon und Aristo
teles nicht ganz klar, wohin sie zu zählen sind, auch bei
Locke und vielen anderen ist das Problem nicht klar genug
aufgefaßt, um die Zuordnung zu der einen oder anderen Gruppe
sicherzustellen. Auch -Kant ist von solcher Konfusion nicht
freizusprechen. (Antinomie: auf phänomenalem Gebiete Not
wendigkeit, im „Noumenon“ Freiheit.) Doch wäre es verfehlt,
den Streit als bloßen Wortstreit abzutun; es bleiben Argumente
genug, hüben und drüben, welche die Sache treffen oder doch
auf sie zielen.
Wir wollen darum zunächst beide Teile mit ihren wichtigsten
Argumenten zu Worte 'kommen lassen, und zwar zunächst die
Indeterministen, weil ihre Ansicht als die volkstümlichere und
ältere gelten darf.
242 Direkte Zeugnisse des Bewußtseins
Ich niemals als ganz das gleiche, das es ehedem war, eine
wiederholte oder neue Entscheidung.“30
Noch weniger können sich die Indeterministen darauf berufen,
daß verschiedene Individuen unter gleichen Umständen sich ent-
gegengesetjt entscheiden. Wären die Umstände selbst gleich, so
sind es die Wählenden doch nicht; und auch die Annahme
gleicher Umstände für mehrere Wählende ist imaginär. Audi
kommt es nicht auf die äußeren Umstände allein an, sondern
darauf, in welchem Lichte einer die Dinge sieht und wie sie
ihn anregen. Das aber hängt von tausend Faktoren ab, die sich
in keinem Menschen genau so zusammenfinden wie in einem
anderen.
4. Die Indeterministen weisen auf den oft länger dauernden
Konflikt der Motive für und gegen eine bestimmte Entscheidung
hin. Wenngleich eines davon überwiegt, entscheiden wir uns doch
nicht sogleich dafür, sondern oft erst nach geraumer Zeit. Gäbe,
wie bei der Waage das schwerere Gewicht, in der Seele das
stärkere Motiv den Ausschlag, so könnte ein solches Schwanken
nicht Platj greifen.
Der Determinist wird entgegnen: „Bleiben wir beim Beispiel
der Waage. Es spricht nicht gegen uns. Auch sie schwankt, wenn
sie fein konstruiert ist, und mit ihrem Schwanken ist die De
termination durch die Gewichte wohl vereinbar. Wenn nämlich
das eine nur um sehr wenig schwerer ist als das andere, so kann
der leiseste Impuls von außen eine Bewegung zur Folge haben.
Es tritt ein Oszillieren ein. Allerlei Imponderabilien üben Ein
fluß und wechseln darin miteinander ab. Je feiner die Waage
gebaut ist, um so leichter wird das Spiel der Gewichte durch
solche störende Faktoren kompliziert, und um so sorgfältiger
sind die Vorkehrungen, die man dagegen trifft. Man stellt die
Waage auf einen Pfeiler, der vom Gebäude unabhängig ist,
u. dgl. So bietet denn die Waage ein ganz gutes Bild von dem,
was auf psychischem Gebiete geschieht, wenn ein sog. Motiven-
konflikt die Entscheidung verzögert. Hier ist das Auf- und Ab
treten neuer Impulse noch leichter denkbar. Beständig fließen
Vorstellungen zu und ab und damit verdrängt ein Motiv das
andere, solange keines von beträchtlichem Obergewicht vor
250 Kritik der direkten
handen ist. Der Fall liegt also nicht so, wie ihn die Indetermini-
sten darstellen. Nicht bei unveränderten Motiven findet ein
Zögern statt, um schließlich spontan vom Entschluß abgelöst zu
werden; die Motive bleiben gar nicht gleich, ihre relative Stärke
ändert sich, immer wieder gehen dem Überlegenden neue Ge
danken durch den Kopf, entdeckt er neue Seiten an den Wahl
gegenständen, neue Bedenken werden in ihm wach, neue Aus
sichten eröffnen sich, das Alte erscheint in neuem Lichte, d. h.
unser Urteil darüber ändert sich. Und wenn wir schließlich durch
ein Motiv bestimmt werden, das schon anfangs da war und
damals nicht den Ausschlag gab, so ist es inzwischen relativ ein
anderes geworden, weil eben die Gegenmotive näher erwogen
worden sind und an Gewicht verloren haben. Vielleicht bewirkt
schließlich nur die Erkenntnis die Entscheidung, daß keines
besser als das andere ist und doch eine Wahl getroffen werden
muß. Diese erfolgt aber dann nicht indeterminiert, sondern auf
Grund unmerklicher Differenzen, ähnlich wie einer, der im Nebel
den Weg verloren hat, aufs Geratewohl eine Richtung einschlägt.“
Nebenbei bemerkt: Man lasse sich nicht durch die Äquivoka-
tion irreführen: „Motiv“ bedeutet in den folgenden zwei Sät$en
nicht dasselbe: „Gewinnsucht war das Motiv der Tat“, „Das
Motiv der Furcht war zu schwach, um seinen Willen zu determi
nieren“. Im ersten Satj bedeutet „Motiv" etwas, was faktisch,
wenn auch nicht allein, sondern im Zusammenwirken mit allen
anderen Faktoren den Willensakt gewirkt hat. Im zweiten Satj
bedeutet „Motiv“ dagegen etwas, was zwar unter anderen Um
ständen, im Zusammenwirken mit ihnen, den Willensakt deter
miniert hätte, aber im gegebenen Falle der dazu erforderlichen
Mitbedingungen entbehrte. Nur indem man die zweite mit der
ersten Bedeutung verwechselt, kommt man dazu zu sagen, der
Wille sei nicht durch die Motive determiniert worden.
5. Die Indeterministen glauben, es spreche für sie, daß unser
Wille zuweilen einer heftigen Begierde energisch und beharrlich
Widerstand leiste, von diesem Kampfe erschöpft aber innehalte,
um nach einer Pause den Widerstand von neuem aufzunehmen.
Man will aus dem einen wie anderen schließen, daß er nicht
durch die Motive determiniert sei.
Erfahrungszeugnisse des Indeterminismus 251
Antwort des Deterministen: „Audi dies ist keine richtige Dar
stellung der Tatsachen. Was ist hier unter dem Willen, der den
Motiven Widerstand leiste und dadurch seine Freiheit dokumen
tiere, gemeint? Das Willensvermögen? Das ist kein Ding und
kann nicht wirken, also auch nicht Widerstand leisten. Es ist
eine bloße Möglichkeit. Der Willensakt? Der kann nicht kämpfen,
da er ja erst zustande kommen soll und noch nicht vorhanden ist.
Nein, nicht der Wille 'kämpft gegen die Motive, sondern ein
Motiv kämpft gegen das andere, z. B. eine blinde Begierde gegen
eine als richtig charakterisierte Bevorzugung, kurzsichtige Leiden
schaft gegen bedachtsame Abschabung echter Güter, Pflicht
bewußtsein gegen Trägheit. Es ist wieder wie bei der Waage;
nicht diese kämpft gegen die Gewichte, sondern ein Gewicht
gegen das andere.
Richtig ist nur, daß wir uns gerne mit einem der Motive, mit
einer der einander widerstreitenden Neigungen identifizieren.
Wir sagen dann: Ich habe meine Leidenschaft, meinen Schmerz
überwunden, wo es genauer heißen sollte: Meine Neigung zur
Pflicht hat meinen Hang zum Vergnügen oder meine Wehleidig
keit überwunden. Und noch besser ausgedrückt (denn Abstrakta
sind Fiktionen): Ein Teil meines Ich hat über einen anderen
Teil meines Ich den Sieg errungen. Denn mein Pflichtbewußtsein
ist genau so m e i n Pflichtbewußtsein wie meine Genußsucht oder
Empfindsamkeit oder Trägheit meine sind. Es schmeichelt uns
nur eben mehr, uns mit dem Teil von uns zu identifizieren, der
schätjenswerter ist. Doch können auch andere Gesichtspunkte für
diese pars pro toto maßgebend sein. Wir heben aus der Fülle
unserer Neigungen diejenigen heraus, die zu stärkeren Gewohn
heiten geworden sind, sich in der Mehrzahl der Entscheidungen
wirksam erweisen, und finden in ihnen unser „wahres Ich“. Es
ist sozusagen dasjenige, was am meisten Bestand in uns hat.
Man hat auch auf die Ermüdung und Erschöpfung, die der
Wille im Motivenkampf erfahre, hingewiesen, aber ich muß ge
stehen, daß ich nicht begreife, wie das für seine Freiheit sprechen
soll. Auch ist gar nicht richtig, daß das Wollen erschöpfend
wirkt, jedenfalls nicht unmittelbar. Richtig ist bloß, daß sich an
das Wollen, wie an jedes höhere Interessephänomen Affekte mit
252 Kritik der indirekten
verhängen. Das gilt, wie vom einzelnen, auch vom Staate, denn
dieser ist dazu da, dem Übel zu steuern, nicht aber die Menschen
tyrannisch in Furcht und Schrecken zu halten. Diese Andeutungen
über den Sinn der Strafe werden genügen, um erkennen zu
lassen, daß sie mit dem Determinismus durchaus im Einklang
steht. Es soll ja der Gedanke an das drohende Übel der Strafe
den Willen zu richtiger Wahl determinieren.
Wenn einer nach dem Gesagten noch immer fragen sollte:
Wie kann man jemanden tadeln oder strafen, wenn er nicht
anders konnte? so verriete er, daß er noch immer nicht gelernt
hat, zwischen Freiheit des Wollens und Freiheit des Handelns
zu unterscheiden. Ohne die zweite, d. h. wenn ihm die Macht
fehlte, das Verlangte durchzuführen, selbst wenn er es gewollt
hätte, ist sein Wille allerdings nicht zu tadeln; m i t ihr aber
wohl, wenn er sich unrichtig entschieden hat.
Wie Strafe mit dem Determinismus vereinbar ist, so natürlich
auch das Bewußtsein der Verantwortlichkeit. Darunter ist zu ver
stehen:
a) Im weiteren Sinne die Überzeugung, daß mit der betreffen
den Tat ein Fall gegeben ist, wo Strafe berechtigt ist. Dieses
Verantwortungsbewußtsein kann auch einer haben, der aus Irr
tum fehlte, sobald er den Irrtum erkannt hat. Nicht ebenso das
Schuldbewußtsein, denn wer, von edlen Motiven bewegt, nur
eben aus Irrtum gefehlt hat, darf sich ja sagen, das Beste an
gestrebt zu haben.
b) Im engeren Sinne die Erkenntnis, daß ein Fall gerechter
Strafe vorliegt. Und hier sind auch das Gefühl der Schuldbarkeit
und das Bewußtsein, durch Schuld des Willens Strafe verdient
zu haben, Selbstvorwurf und Reue am Platj.
Aber weder im einen noch im anderen Fall ist zur Erklärung
Indeterminismus heranzuziehen. Das Bewußtsein sittlichen Ver
schuldens, die Erkenntnis der Strafwürdigkeit entfernen sich
ebensowenig vom Boden des Determinismus wie die ihnen zu
grunde liegende Unterscheidung zwischen sittlich Gutem und
Schlechtem.
Doch die Indeterministen geben sich mit alledem nicht zu
frieden. Sie wollen das Gesagte nur von der Zweckstrafe
ist durchaus vereinbar mit Determinismus 259
gelten lassen. Man irre sich aber, wenn man glaube, daß das
Verlangen nach Strafe in der bloßen Einsicht ihrer Nützlichkeit
seinen Grund habe. Das unmittelbare Bewußtsein lehre deutlich,
daß oft durchaus kein solches Motiv im Spiele ist. Es knüpft sich
vielmehr an den Abscheu vor dem sittlich Schlechten, das eben
eine von allen anderen Übeln grundverschiedene Art des
Schlechten darstellt. Recht schlagend 'zeigten dies die Fälle, wo
der unbefriedigte Gerechtigkeitssinn in dem Gedanken an eine
jenseitige Vergeltung, den der Böse, über welchen ich mich ent
rüste, vielleicht nicht teilt oder um den er sich jedenfalls nicht
kümmert, seinen Trost findet. Nicht aus Nütjlichkeitserwägungen,
sondern aus bloßem innerem Abscheu vor dem Schlechten ver
lange das empörte Sittlichkeitsgefühl die Strafe als reine
Vergeltung.
Antwort des Deterministen: „Man beruft sich hier auf den sog.
Vergeltungstrieb. Doch entbehrt dieser, wie stark er auch sich
geltend machen mag, als blinder Instinkt der sittlichen Be
rechtigung. Vernünftig ist das Mißfallen, der Abscheu vor dem
Bösen, aber das Verlangen nach und die Freude an der Ge-
sellung von Leid und Schuld ist an sich ein blinder Trieb. Dieser
mag, wie andere Instinkte, zweckmäßig sein, weil er, ehe noch
vernünftige Überlegung auf das Strafen verfallen war, schon
dazu verhalf, daß gestraft wurde; aber an sich ist der Rache
trieb kein edles Gefühl, zählt vielmehr zu den niedrigen Leiden
schaften der menschlichen Seele. Und wie er schon einer ratio
nalen Rechtfertigung der Strafinstitution vorangeht, so begegnet
er uns auch als eine ihrer Folgen. Hat es sich nämlich einmal als
zweckmäßig herausgestellt, .daß regelmäßig Strafe verhängt
werde, sei es um zu bessern, sei es um abzuschrecken, so kann
sich eine Gewohnheit bilden, Strafe auch dort zu verlangen, wo’
sie keinem berechtigtem Zwecke dient, nämlich wie der Geizige
das Geld liebt ohne Rücksicht auf das, wozu es nützlich ist. Be
rechtigt ist ein solches Verlangen aber nicht zu nennen.“
Noch mehr ist zu sagen. Angenommen, es wäre nicht nur das
Mißfallen am sittlich Schlechten berechtigt, sondern auch Ver
geltungstrieb, losgelöst von aller Rücksicht auf Zweckmäßigkeit
der Strafe, und die rein vindikative Strafe wäre-sittlich zu billi
260 Alle Argumente gegen den Determinismus
wenn die Willensakte der ganzen Masse einzig und allein durch
die allen Individuen gemeinsamen Ursachen beeinflußt worden
wären. Solche Beobachtungen ergeben eine Gleichförmigkeit, die
der auf physischem Gebiete beobachteten nicht nachsteht. Em
Beispiel: Auf den Postämtern in London und Paris ist beobachtet
worden, daß jährlich gleich viel Briefe ohne Adresse aufgegeben
werden. So erwartet der Staat unter ähnlichen Umständen von
der gleich großen Bevölkerung den gleichen Ertrag an Steuern,
die gleiche Zahl von Eheschließungen, Geburten, Verbrechen
usw.
Das also sind die Gründe, um derentwillen die Deterministen
wie in der äußeren Natur und sonst auf psychischem Gebiete,
so auch bei den menschlichen Willensakten einen notwendigen
Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen annehmen.
a) Nicht frei ist der Wille nach ihnen, wo ein Motiv allein
wirkt und kein anderes ihm entgegensteht. Es determiniert dann
wirklich und notwendig. Hier kann von Wählen und darum auch
von Freiheit nidit die Rede sein.
b) Aber auch nicht jedes Wählen ist frei. So erfolgt z. B. die
Wahl notwendig, wenn auf der einen Seite ein Motiv A und
auf der anderen Seite das gleiche Motiv A in Verbindung mit B
wirkt, allgemein ausgedrückt, wo von den Gütern, zwischen
denen gewählt wird, das eine das andere einschließt. (Ein
Taler — zwei Taler.)
c) Frei hingegen wird gewählt, wo ein Motiv gegen das gleich
starke steht. Dabei ist die Stärke der Motive an der Erfahrung
zu messen, man nennt gleich stark solche Motive, die im Kampf
mit einem und demselben anderen Motiv gleich häufig über
wiegen. Wenn ein Motiv A, mit C in Konkurrenz getreten,
ebensooft den Sieg davonträgt wie ein Motiv B, wenn es mit C
in Konkurrenz tritt, so sind sie beide als gleich stark zu bewerten.
Tritt aber einmal ein Fall ein, wo A mit B konkurriert, so
stehen zwei gleich starke Motive, zwei gleich gewichtige ein
ander gegenüber; dann erfolgt die Wahl frei.
d) Zweifelhaft erscheint die Freiheit der Wahl, wo bloß Lust
und auf sie gegründete Gewohnheiten in Betracht kommen.
e) Hingegen soll sicher Freiheit bestehen, wo zwischen dem,
was sittlich gut ist (xalöv/, und dem, was angenehm und vorteil
haft ist (i)3v), gewählt wird. Hier könne am wenigsten, wie bei
der Waage, von sich einschließenden Gewichten gesprochen
werden.
f) Steht die Wahl nur zwischen zwei xala, so determiniert mit
Notwendigkeit das größere Gut.
Durch diese Mäßigung ihres Standpunktes glauben die In
deterministen sich behaupten zu können, denn, sagen sie, alle
Erfahrungen, auf die sich der Determinismus beruft, seien auch
mit dem gemäßigten Indeterminismus verträglich, beweisen also
nicht mehr für den einen als für den anderen. Wir wollen dies
im einzelnen an Hand der Beweisversuche der Deterministen
prüfen.
ad 1. sagen die Indeterministen: „Gewiß zeigt uns die innere
Kritik derselben 269
Wahrnehmung in jedem Falle, daß wir durch Motive bestimmt
sind, nicht aber, daß wir durch sie notwendig bestimmt sind.“
Vielleicht antwortet der Determinist, daß wir die Nötigung
unmittelbar wahrnehmen. Aber diese Antwort wäre unrichtig.
Man kann hier ähnlich argumentieren, wie früher die Determini
sten selbst argumentiert haben. So wenig den Indeterministen
das Anderskönnen wahrnehmbar sein kann, so wenig den De
terministen das Nichtanderskönnen. Wahrnehmen lassen sich
nur konkrete Tatsachen, nicht aber Möglichkeiten, Unmöglich
keiten, Notwendigkeiten.
ad 2. Der Determinist stütjte sich auf die Erfahrung, daß bei
der Konkurrenz der Motive immer das stärkere obsiege. Ist das
wirklich festgestellt? Um deutlich zu machen, wer da im Rechte
ist, muß man vor allem verstehen, was mit dem Worte „das
stärkere Motiv“ gemeint ist.
a) Ist das jenes, das mehr Macht hat, den Willen zu bewegen?
Reid deutet es so und sucht damit das Argument ins Lächer
liche zu ziehen. „Woher wissen wir“, fragt er, „welches Motiv
mehr Macht hat, den Willen zu bewegen? Ihr selbst sagt es: Nur
durch das Zeugnis seines definitiven Übergewichtes. Und somit
läuft eure angebliche Erfahrungstatsache, die gegen uns ent
scheiden soll, auf nichts hinaus als darauf, daß die Motive über
wiegen, welche die überwiegenden sind.“ Da hätten wir also
eine leere Tautologie, die selbstverständlich unter jeder Hypo
these richtig ist. Der Fehler wäre ganz ähnlich dem, den manche
Indeterministen begingen, wenn sie sagten: „Ich kann, was ich
will; also ...“
b) Was sagen dagegen die Deterministen? Ein guter Teil von
ihnen antwortet: „Ihr mißdeutet unsere Worte. Wenn wir sagen,
die Erfahrung lehre, daß immer das stärkere Motiv überwiege,
so meinen wir nicht das stärkere in bezug auf den Willen,
sondern das stärkere in bezug auf Lust und Unlust, welche uns
die Wahlgegenstände gewähren.“
Aber die Indeterministen geben sich mit dieser Antwort nicht
zufrieden. „Was meint ihr“, fragen sie, „eine Lust oder Unlust,
die wir fühlen, während wir wählen, oder eine solche, die wir
als Folge der Wahl durch das Eintreten des Gewählten zu er
270 Fortsetjung der Kritik der Argumente
warten haben?“ Sagt man das erste, so scheint man unter der
größeren Lust oder Unlust eigentlich nur eine Betätigung der
größeren Liebe oder des größeren Hasses, der größeren Begierde
oder der größeren Abneigung zu verstehen, d. h. eine Betätigung
des Bevorzugens, wie es das Wählen selbst ist. Und dann aller
dings ist es selbstverständlich, daß man wählt, was man bevorzugt.
Aber ob dieses Wählen determiniert sei oder nicht, darüber ist
mit diesem tautologischen Sa$e nichts ausgesagt. Sagt einer aber
das zweite — und faktisch scheint dies gemeint —, so ist das
zwar nicht mehr tautologisch, aber stimmt es zu der Erfahrung?
Keineswegs, es wird durch sie widerlegt. Ich brauche da nur
an schon Gesagtes zu erinnern. Wir haben festgestellt, daß man
nicht nur Lust liebt, sondern auch anderes Gute, wie Wissen,
Tugend und außer eigenen Gütern auch fremde, und daß man
das eigene Gut für das anderer zu opfern vermag. Und was in
solchen Fällen edler Aufopferung, findet auch in dem des Geizi
gen statt, wo das, was zunächst nur Mittel war, allmählich um
seiner selbst willen geliebt wird. Auch kommt es vor, daß man,
zwischen Lust und Unlust wählend, zu der geringeren, aber
zeitlich näher liegenden Lust sich wendet und dadurch seine
Zukunft einem unvergleichlichen Elend aussetjt. Übrigens könnte
die Erfahrung schon darum nicht zeigen, daß immer die größere
Lust den Vorzug erhält, weil es oft unmöglich ist, das Maß
einer Lust relativ zu einer anderen genau zu bestimmen, zumal
wenn sie qualitativ verschieden sind. Alles dies wurde schon
früher erörtert, darum will ich jetjt nicht mehr ausführlich dabei
verweilen, sondern nur noch auf das Zeugnis eines so entschiede
nen Deterministen wie J. St. Mill verweisen. Er spricht sich
darüber folgendermaßen aus: „Wenn man sagt, der Wille sei
durch Motive bestimmt, so versteht man unter Motiv nicht immer
oder nicht allein die Vorwegnahme einer Lust oder Unlust...
Es ist gewiß, daß wir durch den Einfluß der Ideenassoziation
allmählich dahinkommen, die Mittel zu wünschen, ohne an den
Zweck zu denken; die Handlung selbst wird zu einem Gegen
stand des Verlangens und wird ausgeführt, ohne daß sie auf
irgendein anderes Motiv bezogen wird als auf sich selbst. So
weit kann noch immer der Einwurf gemacht werden, daß, da
des -gemäßigten Indeterminismus 271
uns die Handlung durch Ideenassoziation angenehm geworden
ist, wir so wie vorher durch die Vorwegnahme der Lust bewegt
werden zu handeln. Aber wenn wir auch dies zugeben, so ist
die Sache damit nicht zu Ende. So wie wir bei der Bildung von
Gewohnheiten fortschreiten und uns gewöhnen, eine besondere
Handlung oder Handlungsweise zu wollen, weil sie angenehm
ist, so werden wir sie zuletjt auch noch ohne jede Beziehung auf
ihr Angenehmsein wollen. Obgleich wir wegen einer Verände
rung in uns oder in unseren Umständen 'kein Vergnügen mehr
an der Handlung oder vielmehr in der Antizipation eines ihr
folgenden Vergnügens finden, so wünschen wir die Handlung
doch immer noch und begehen sie folglich. In dieser Weise
geschieht es, daß die Gewohnheit, in der gewählten Bahn be
harren zu wollen, den moralischen Helden auch dann nicht ver
läßt, wenn der Lohn, den er ohne Zweifel in dem Bewußtsein
des Rechttuns findet, wie reell er auch sein mag, alles andere,
nur kein Äquivalent für die Leiden ist, welche er erduldet, oder
für die Wünsche, denen er vielleicht entsagt.“ (II. Log. d. Geistes
wissenschaften, Kap. über Freiheit und Notwendigkeit, § 4.)
Wir begegnen hier einer Ansicht Mills, die uns auch früher
einmal beschäftigte, nämlich daß alles Wollen und Begehren
ursprünglich egoistisch sei und daß alles uninteressierte Wollen
sich durch Assoziation und Gewohnheit aus ihm entwickle. Diese
Ansicht ist vielleicht nicht zu billigen, doch wir mögen sie hier
dahingestellt sein lassen, sehen wir doch, daß Mill trotjdem
aufs entschiedenste es als der Erfahrung widersprechend ver
wirft, daß bei der uninteressierten Liebe eine kleinere Lust
über eine größere den Sieg davontrage.
c) Andere haben darum die Sache anders gewendet. Nein,
sagen sie, wenn wir lehren, die Erfahrung zeige immer einen
Sieg des stärkeren Motivs über das schwächere, meinen wir nicht
das stärkere in bezug auf Lust und Unlust oder auf irgend etwas
anderes, sondern wir meinen allerdings „in bezug auf den
Willen“, aber in jene mißliche Tautologie, die Reid uns vor
wirft, geraten wir damit durchaus nicht. Sein Vorwurf ist un
schwer zurückzuweisen. Auch die Indeterministen unterscheiden
ja stärkere und schwächere Motive. Was meinen sie damit? Sie
272 Fortsetjung der Kritik der Argumente
sich aus einem anderen ableiten und ebensowenig sie alle aus
einem siebenten.
d) Überhaupt ist der Indeterminismus schon darum als un
gerechtfertigt komplizierte und daher unwahrscheinliche An
nahme anzusehen, weil die von ihm angenommenen objektiven
Chancen willkürlich erfunden sind. Er will die Unsicherheit der
Voraussagen daraus erklären, daß eben in manchen Fällen kein
notwendiger Zusammenhang zwischen den Ereignissen bestehe,
also der absolute Zufall Spielraum habe. Aber die Unsicherheit
unserer Voraussagen über menschliches Verhalten hat schon
ihren genügenden Erklärungsgrund in der Ungenauigkeit unserer
Kenntnis, und diese ist ein Faktum, das außer Zweifel steht.
Fällt es einem Meteorologen ein, zur Erklärung der Mangel
haftigkeit seiner Prognosen absoluten Zufall anzunehmen? Es
genügt ihm der Hinweis darauf, daß die Erscheinungen sehr
kompliziert sind und daß ihm nicht alle Daten, von denen das
Wetter abhängt, zugänglich sind. Wozu also die Annahme ob
jektiven Zufalls, welcher nicht nur hier, sondern auch sonst
nirgends in der Welt konstatiert ist? Wenn es Newtons
Hypothese, als er die Bewegung der Gestirne durch das Gesetj
der Gravitation erklärte, besonders empfahl, daß dieses Prinzip
schon anderwärts gesichert war, so muß der entgegengese^te
Umstand hier besonders vorsichtig machen. Wenn irgendwo, so
scheint der Grundsatz „entia non sunt multiplicanda praeter
necessitatem“ hier verlebt.
Vielleicht sagte einer, es liege in der Natur der Sache, daß
die objektiven Chancen, d. h. das Hineinspielen des Zufalls,
nicht zu konstatieren sind, selbst wenn sie existieren. Durchaus
nicht! Wenn wirklich solche objektive Chancen und so viele
eigentümliche Gesetze gegeben sind, so wäre es von vornherein
ebenso denkbar, ja geradezu als wahrscheinlich zu erwarten,
daß derartiges an irgendwelchen Erfahrungen sich konstatieren
ließe, z. B. ein Gesetj, daß ein gewisser Faktor, wo immer er zu
gegebenen Bedingungen hinzukäme, das Eintreten und Nicht
eintreten ihrer gewöhnlichen Folgen gleich wahrscheinlich mache
u. dgl. Daß nun trotjdem ein solcher nirgends zu greifen ist,
spricht in hohem Maße gegen die Wirklichkeit.
Der Indeterminismus erklärt die Willensfreiheit nicht 279
Der Sat}, daß alles, was ist, notwendig ist, gehört zu den am
wenigsten bestrittenen in der ganzen Philosophie. Immerhin
fehlt es, wie das Beispiel der Indeterministen zeigt, nicht an
solchen, die ihm keine Allgemeingültigkeit zugestehen wollen.
Und manche glauben nicht nur wie sie an ein zufälliges „Sidi-
Ereignen“, sondern sogar an zufälligen Bestand von Ewigkeit
her. E p i k u r glaubte auch an zufälliges Geschehen in der leb
losen Natur, und J. St. Mill, den wir, was den Willen an
langt, als entschiedenen Deterministen kennengelernt haben,
hielt Zufälligkeit der Ereignisse in fernabliegenden Räumen
und Zeiten nicht für ausgeschlossen. Zu denen, die an
Zufälliges von Ewigkeit her glauben, gehörte im Altertum
Demokritos, in neuerer Zeit viele Materialisten, während
Kant und Schopenhauer den Satj, daß alles einen zu
reichenden Grund haben müsse, auf die Phänomene einschränk
ten, das Ding an sich aber davon ausnehmen wollten.
Der eben erwähnten Formulierung bedient sich Leibniz,
denn sein berühmtes Prinzip des zureichenden Grundes will nichts
anderes besagen, als daß alles, was ist, notwendig und jeder
objektive Zufall ausgeschlossen ist. Und mit ihm stimmt, wie
gesagt, die überwiegende Mehrzahl der Philosophen überein.
Fragt man aber, woher sie denn das Vertrauen in die aus
nahmslose Gültigkeit dieses Satzes schöpfen, so gehen die Ant
worten weit auseinander.
Aristoteles begnügte sich damit zu sagen, niemand werde
so unvernünftig sein, zu behaupten, daß unter völlig gleichen
Umständen Entgegengesetztes eintreten könne; aber das ist, wie
wir eben sahen, geschichtlich unrichtig. Leibniz meinte, der
Satj leuchte ein wie alle analytischen Urteile, weil, wer ihn
leugnet, sich in einen Widerspruch verwickle. Er hat aber einen
solchen Widerspruch nicht deutlich erkennbar zu machen gewußt.
Ja, Kant sprach von vornherein jedem solchen Nachweis das
Gelingen ab. Ein Widerspruch bestände, wenn einer umgekehrt
bestreiten wollte, daß etwas, was notwendig ist, existiere; nicht
aber scheint sich ebenso unmittelbar zu widersprechen, wer etwas
für existierend, nicht aber für notwendig hält. Andererseits hat
Kant den Sa§ zwar für a priori gehalten, nicht aber für ana
einen inneren Widerspruch in sich 287
lytisch. Aber die nach ihm aller Erfahrungswissenschaft, ja auch
der Mathematik zugrunde liegenden synthetischen Erkenntnisse
a priori wären, da sie weder evident noch beweisbar sein sollen,
statt Erkenntnisse richtiger Vorurteile zu nennen, und wenn der
Satj vom ausgeschlossenen Zufall zu ihnen gehörte, so wäre
auch er ein solches blindes Vorurteil.
In Wahrheit ist der Satj aber ein analytisches Urteil, d. h. ein
solches, das aus Begriffen einleuchtet, nur bedürfen diese Begriffe,
damit der Widerspruch deutlich in Erscheinung trete, einer
gewissen Analyse, wie dies ja auch bei allen mathematischen
Lehrsätjen der Fall ist.
Diese Analyse geht davon aus, daß „etwas ist“ dasselbe be
sagt wie „etwas ist gegenwärtig“, so wie alles, was war, gegen
wärtig war, und alles, was sein wird, gegenwärtig sein wird.
Ferner ist alles, was ist, mit allem anderen, was ist, zugleich
und nur der zeitliche Unterschied besteht, daß von dem, was
gegenwärtig ist, das eine eben beginnt, das andere dauert, das
dritte endigt. M. a. W. es ist entweder Anfang eines zeitlichen
Verlaufes oder Ende eines solchen oder es ist eine innere Grenze
eines Verlaufes, welche das, was davon -bereits verlaufen ist, mit
dem, was von ihm erst verlaufen wird, verbindet.
Wir haben es in jedem Falle, auch wo wir von einem „un
veränderten Fortbestand“ reden, genau betrachtet, mit einem
kontinuierlichen zeitlichen Wechsel zu tun. Ohne einen solchen
hätte ja die Unterscheidung von kürzerer und längerer Dauer
keinen Sinn. Der kontinuierliche Zusammenhang braucht aber
nicht nach beiden Richtungen der Zeit zu bestehen. Es muß nicht
ein solcher Verlauf sein, der sowohl nach der Seite der Ver
gangenheit vorbestanden hat als nach der Seite der Zukunft fort
bestehen wird. Beide Richtungen zugleich aber können nicht
fehlen, der eine oder der andere Zusammenhang muß gewahrt
sein. M. a. W. es ist unmöglich, daß etwas im selben Augenblick
abrupt anfange und ende. Wohl aber kann, was je^t abrupt
anfängt, in einem späteren Augenblick abrupt enden. Und ebenso
kann, was jetjt abrupt endet, in einem früheren Augenblick
abrupt angefangen haben. Immer aber finden wir zwischen Be
ginn und Ende eine Zwischenzeit. Wir können uns diese beliebig
288 Der Indeterminismus schließt
klein denken, sie bleibt doch immer ein endlich großes Kon
tinuum und läßt als solches ins Unendliche Momente unter
scheiden, welche solche infinitesimalen Wechsel gewesen sind
oder sein werden.
Ist nun ein solcher infinitesimaler zeitlicher Wechsel, der jedem
Seienden zukommen muß, mit zufälliger Existenz vereinbar?
Wir wollen uns das an einem anschaulichen Beispiel klar
zumachen suchen. Nehmen wir an, daß auf einer schwarzen
Tafel absolut zufällig ein weißer Punkt entstehen könnte. Was
wäre wahrscheinlicher, daß er eine Zeitlang beharrt oder schon
in einem beliebig von uns herausgegriffenen Momente wieder
verschwunden wäre?
Da er etwas absolut Zufälliges ist, besteht keine Notwendig
keit dafür, daß er sei oder bleibe. Das Gegenteil wäre mit
gleicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, ja man müßte es sogar
mit weitaus größerer Wahrscheinlichkeit erwarten. Denn der Fall
liegt nicht so einfach, als bestünden bloß zwei Möglichkeiten, näm
lich die, daß in einem beliebig von uns herausgegriffenen Momente
der weiße Punkt oder überhaupt nichts sei, es könnte ja statt
dessen ein beliebig anders gefärbter diese Stelle einnehmen. Der
entgegengesetjten Möglichkeiten wären viele, und da sie alle
gleich zufällig und keine den geringsten Vorzug vor der anderen
hätte, wäre es von vornherein sogar sehr unwahrscheinlich, daß
dieser zufällig entstandene weiße Punkt sein zufälliges Sein auch
nur die geringste endliche Zeit behaupten würde.
M. a. W. für jeden einzelnen Moment eines absolut Zufälligen
wäre ein abrupter Wechsel zwischen Bestand und Nichtbestand
zum mindesten ebenso wahrscheinlich wie sein Beharren im Sein.
Das ist aber das strikte Gegenteil von dem, was wir früher
für alles Existierende schlechthin festgestellt haben, daß es näm
lich mindestens eine noch so kleine Zeit lang von abruptem
Wechsel frei bleiben muß, denn zwei Momente abrupten Wechsels
können nicht unmittelbar einander folgen. Sie müssen durch eine
Zeitlänge, innerhalb der kein Wechsel stattgefunden hat, von
einander getrennt sein, und diese läßt ins Unendliche Momente
unterscheiden.
Noch einfacher läßt sich das Dargelegte so ausdrücken:
einen inneren Widerspruch in sidi 289
Von allem, was ist, ist es für jeden beliebigen Zeitpunkt wahr
scheinlicher, daß es nicht abrupt wechselt; von allem, was zufällig
ist, ist es für jeden beliebigen Zeitpunkt wahrscheinlicher, daß
es abrupt wechselt. M. a. W. in der Annahme eines absolut Zu
fälligen liegen zwei einander widersprechende Behauptungen.
Die eine lautet: In jedem Zeitpunkte kann ebenso leicht, ja
leichter ein abrupter Wechsel als ein Fortbestand statthaben. Die
andere: Ein abrupter Wechsel muß unvergleichlich seltener statt
haben als ein kontinuierlicher Anschluß von vor und nach.
Mit dem Nachweise der Unmöglichkeit absoluten Zufalls ist
dann ohne weiteres das allgemeine Kausalgesetz gegeben, welches
besagt, daß alles, was nicht unmittelbar notwendig ist, verursacht
sein muß.
Wir könnten mit diesem Nachweise der logischen Unmög
lichkeit jeder Art von Indeterminismus die Erörterung dieser
Theorie abschließen. Doch möchte ich nicht unterlassen, anhangs
weise noch einen Blick auf das' Verhältnis der beiden Parteien
im Determinismus-Indeterminismus-Streite zum philosophischen
Theismus zu werfen.
Anhang
Beide Theorien begegnen sich darin, daß sie dem Gegner den
gleichen Vorwurf machen, seine Lehre sei mit der theistischen
Weltanschauung unvereinbar.
Dafür, daß nur dem Wollen, nicht dem Handeln diese Prädi
kate zukommen, führen manche an:
1. Oft sieht sich der Mensch außerstande, was er will, durch
zuführen, so daß die gewollte Handlung unterbleibt; dennoch
findet kein Abstrich am Maße seiner Sittlichkeit statt, sein Wille
bleibt lobenswert, als hätte er gehandelt.
2. Andererseits entfällt bei gleicher Handlung der sittliche
Charakter mit dem sittlichen Wollen. So wenn einer etwas an
und für sich Ersprießliches in schlechter Absicht tut.
So zeige sich die Handlung an und für sich als sittlich in
different. Eine Theorie, aus der die mittelalterlichen Sekten der
Beguinen und Beguarden ganz ungeheuerliche Folgerungen ge
zogen haben. Man dürfe sich also, argumentierten sie, jede Aus
schreitung erlauben, da doch die Sittlichkeit nur im Inneren läge.
Ihr Inneres bleibe dabei rein und mit Gott verbunden. (Homo
potest libere corpori concedere quidquid placet. Se in actibus
exercere virtutem est hominis imperfecti.)
Das Sophisma ist freilich recht durchsichtig. Es stütjt sich auf
zwei absurde Fiktionen, einerseits auf die Annahme, daß ein
psychischer Akt bei Änderung seines Objekts noch derselbe
bleiben könne, andererseits auf die Behandlung von Leib und
Seele, als wären es zwei wollende Individuen.
Hinwiederum hat man zugunsten der Sittlichkeit der Hand
im eigentlichen Sinne sittlich 311
lungen geltend gemacht, daß diesen sittlicher Charakter auch
dann zuerkannt wird, wenn der Wille gar nicht mit dem Besten
unter dem Erreichbaren beschäftigt war, wofern nur eben das
betreffende Unternehmen überhaupt in sittlicher Absicht ein
geleitet wurde.
Wie entscheidet sich die Aporie? Sehr einfach: im eigentlichen
Sinne sittlich (gut oder schlecht) ist nur der Wille allein, die
Handlung nur insofern sie von einem sittlichen Willen geleitet
ist. Sie wird also sittlich in übertragener Bedeutung genannt,
nämlich in bezug auf den Willen, so wie auch das „wahr“ in
verschiedenem Sinne ausgesagt wird, aber, wenn nicht vom Ur
teil selbst, so doch mit Bezug auf dieses, und das „gesund“,
wenn nicht vom Leibe selbst, so doch mit Bezug auf den im
eigentlichen Sinne gesund genannten Leib. Zu einer Addition
von sittlich im uneigentlichen zu sittlich im eigentlichen Sinne
aber kann es natürlich nicht kommen. Entfällt der Wille, so
entfällt damit nicht ein Summand, der mit einem anderen, der
Sittlichkeit der Handlung, zusammen das Gesamtmaß der Sitt
lichkeit des betreffenden Verhaltens steigern könnte, sondern
es entfällt die Bedingung für die sog. Sittlichkeit der Handlung.
3. Diese in so übertragenem Sinne sittlich zu nennen, verwehrt
das erste der aufgezählten Argumente keineswegs. Mehr ver
langen aber auch die anderen nicht. Gegen die Sittlichkeit des
Willens im eigentlichen Sinne verschlägt auch der Hinweis dar
auf nichts, daß Handlungen, bei denen der Wille nicht mit dem
Besten beschäftigt war, noch als sittlich gelten können, denn solche
Handlungen sind dann eben von einem vorhergegangenen Willen,
der in Wahrheit darauf gerichtet war, geleitet.
Noch weniger ergeben sich jene Konsequenzen der Sektierer.
Die Sittlichkeit des Wollens wird allerdings nicht durch eine
vor dem Wollen gegebene Sittlichkeit der Handlung bestimmt,
sondern umgekehrt, wohl aber ist sie bedingt durch die un
abhängig vom Willen gegebene Nützlichkeit der Handlung, d. h.
ihre förderliche Wirkung auf das höchste praktische Gut. Es ist
darum nicht möglich, mit sittlich reinem Willen sich jedwede
Handlung zu erlauben.
312 Es gibt objektive und subjektive Sittlichkeit
daß man dann gar kein Recht hätte, sittliche und unsittliche
Zeitläufte zu unterscheiden.
2. Eine bessere Lösung scheint mir, den Unterschied von Pflicht
und Rat in Verbindung mit den oben dargelegten Gradunter
schieden des Sittlichen zu bringen.
Darnach wäre „Pflicht“ nur, überhaupt das Beste zu bevor
zugen, und diese scheint erfüllt, auch wenn die Wahl des er
kannten Besten nicht freudig, nicht ohne Zögern, nicht ohne die
Unterstützung fremder Antriebe erfolgt. Sittlich richtig und
pflichtgemäß ist unser Verhalten, auch wenn wir dabei keine
harte Probe zu bestehen haben. Kommt nun auch das Fehlende
hinzu, so ist offenbar ein höheres Maß von Sittlichkeit gegeben;
wo dieses aber nicht gegeben ist, soll man dies tadeln, soll man
auch nur den Mangel hervorheben, statt einfach das Verdienst
liche der Pflichterfüllung gelten zu lassen überall dort, wo sie
gegeben ist?
Es ist dies mehr als eine bloße Frage des sittlichen Urteils.
Es handelt sich dabei nicht bloß darum, ob das Verhalten richtig
war oder nicht, sondern vielmehr um etwas, was schon in das
Kapitel „sittliche Führung“ gehört. Zu dieser ethischen Führung,
die auch der Erwachsene noch durch seine Mitmenschen erfährt
und die jeder seinerseits anderen zuteil werden lassen kann,
zählen nun auch Lob und Tadel, die wir aussprechen, ebenso
aber auch, was wir uns und anderen als Aufgabe stellen, was
wir von uns selbst und von ihnen fordern. Es wäre wenig weise,
diese Forderungen sofort und allseits in der strengsten Fassung
zu formulieren. Ein allzu rigoroses Gebot wird nicht freudig,
sondern mit Widerstreben befolgt, was der Bildung der sittlichen
Gesamtdisposition abträglich ist. Ein allzu straff gespannter
Bogen bricht. Durch solche Härte wird das ganze Gebiet der
Pflicht odios. So ist denn vernünftigerweise zu unterscheiden
zwischen dem, was das sittliche Ideal ist, und dem, was ein
besonnener Erzieher von einzelnen fordern wird.
3. Erinnern wir uns in diesem Lichte der oben erwähnten Ab
stufungen im einzelnen:
Es ist gewiß ein ideales Verhalten, wenn die sittlich richtige
Wahl ohne Beimischung fremder Antriebe getroffen wird, und
von Pflicht und Rat 321
man kann sagen, das Gute um des Guten willen zu tun, sei
Pflicht. Aber für jeden? Audi dieses Gebot ist relativ, man hat
zu berücksichtigen, ob damit im einzelnen Falle nicht mehr
Schaden als Nufjen gestiftet wird. Einem sittlich noch Ungeübten
gegenüber kann der Verzicht auf unterstütjende, außersittliche
Motive wenig zweckmäßig sein. Aber auch bei weiter Fort
geschrittenen ist nicht jede Pflicht in gleicher Weise ohne solche
Hilfen erfüllbar. Man muß da die Gesamtheit des Guten, das
einer zu leisten hat, wie eine Einheit betrachten und mit Rück
sicht auf dieses Ganze Unvollkommeneres zulassen um des Voll
kommeneren willen.
Ähnliches gilt von der Pflicht, das Gute ohne Zögern zu tun.
Man wird, wenn einer erst nach einem Kampfe sich dazu ent
schließt, sein Verhalten nicht als pflichtwidrig tadeln. Es wäre
höchst unweise, diesen Mangel hervorzuheben, denn es würde
nur beschämen, vielleicht erbittern und die weitere Pflicht
erfüllung erschweren. Mit Rücksicht darauf wird das Gebot, das
Gute ohne Zögern zu tun, vorsichtiger formuliert, nicht als
schroffe Pflicht, sondern „als Rat“; ja, man wird sich unter Um
ständen sogar hüten, es auch nur als Rat auszusprechen, sondern,
statt das Schwanken zu bemängeln, vielmehr den endlichen Sieg,
der es aufhob, um so mehr als lobenswert hervorheben.
Wie verhält es sich mit den Fällen, wo starke Gegensätze zum
richtigen Verhalten dazu führten, daß ein sonst sittlich guter
Mensch der Versuchung unterlag? Seine Pflicht hat er verlebt,
das ist klar. Man kann nicht sagen, es sei nur ratsam gewesen,
das Gegenteil zu tun, nein, dies wäre das einzig Richtige ge
wesen. Ratsam aber ist es in solchen Fällen, künftig die Gefahr
solcher Versuchung zu meiden. Während es sonst gilt, die Ge
legenheit zum Guten aufzusuchen, weicht man ihr hier besser
aus. Wo aber die Probe unvermeidlich ist, da wird der ethische
Führer sich hüten, durch schroffe Formulierung der Pflicht zu
entmutigen. Er wird eher sagen, es wäre verzeihlich, hier zu unter
liegen; aber um so höher zu stellen sei der, der auch in solchem
Falle nicht unterliegt.
Immerhin ist auch dann noch eine Unterscheidung am Platj.
Es kann sich in dem Abweich en vom sittlichen Ideale eine
322 Pflicht ist, was der Durchschnitt der Besten tut
den kürzesten von sechs Wegen, ich kann diesen aber nicht unter
ihnen ausfindig machen. So setje ich mich, einen einschlagend,
mit 5/6 Wahrscheinlichkeit der Gefahr des Irrtums aus. Da ich
aber gehen muß, habe ich die Sicherheit, subjektiv ohne Vor
wurf zu sein.
Übrigens wird, wer so handelt, im Durchschnitt der Fälle da
mit auch objektiv sittlich handeln.
Immerhin kommen auch Fälle vor, wo einer aus Unvernunft
nicht zu dieser Sicherheit über die subjektive Sittlichkeit seines
Handelns gelangt. Sein Gewissen ist perplex. Was immer sich
als Möglichkeit darstellt, alles scheint verkehrt. Möge er so, möge
er anders, möge er überhaupt nicht handeln, immer, glaubt er,
hätte er sich einen Vorwurf zu machen. Aber am Platj ist ein
solcher Vorwurf gewiß nicht, denn in Wahrheit ist sein Handeln
wie sein Nichthandeln von keinem auf die Sittlichkeit bezüg
lichen Entschluß bestimmt und darum sittlich indifferent.
b) Der zweite Fehler war der, daß man dabei nicht von dem
sittlichen Grundgesetz dem Satj des höchsten praktischen Gutes,
ausgegangen ist, sondern mit einer ursprünglichen Vielheit von
Vorschriften gerechnet hat, indem man positive Gesetze, staat
liche, kirchliche, religiöse behandelte, als wären sie letjte Gesetze.
Ein solches Gesetj kann schlecht formuliert sein, so daß es unter
gewissen Umständen statt zur Wohltat zur Plage wird. Dann
ist natürlich Befreiung davon wünschenswert. Aber bei einem
echten logischen oder ethischen Gesetj ist das ein Ungedanke.
Übrigens hat die Wahrheit selbst zu Korrekturen an diesen
Systemen genötigt und Eklektiker aufkommen lassen, die sich
aus jedem das heraussuchten, was ihnen brauchbar schien, wobei
sie der Tragweite falscher Entscheidungen Rechnung trugen.
Auch päpstliche Entscheidungen haben da eingegriffen und sind
mit Weisheit gefällt worden, wie es denn überhaupt die Stärke
Roms gegenüber der orientalischen Kirche ausmacht, daß seine
Entscheidungen sich nicht auf spekulative Grundsätje festlegten,
sondern auf die Abwehr extravaganter Folgesätje beschränkten.
FÜNFTER ABSCHNITT
gegangen ist, wir wollen uns ohne solche Seitenblicke auf die
Frage nach den Vorteilen und Nachteilen des individuellen
Eigentumes beschränken.
Schon aus der Erörterung über den Unterschied von Rechts
und Liebespflichten geht hervor, daß ich auch sachliches Eigen
tum für unentbehrlich im Interesse des höchsten praktischen
Gutes halte. Die persönliche Freiheit und Arbeitsteilung, welche
die Ethik fordert, scheint mir ohne die ausschließliche Verfügung
des einzelnen über einen gewissen sachlichen Besitj nicht durch
führbar. Schon zur Erhaltung des leiblichen Lebens bedarf es
ihrer, sie ist aber auch eine Veräusserung für den Erwerb seeli
scher Güter.
Damit ist nicht gesagt, daß mein persönliches Eigentum ein
absolutes sei. Was meiner Verfügungssphäre angehört, ist mir
zum Dienste des Guten überlassen. Über allen willkürlichen und
gese^ten Ordnungen steht ja als höchste Ordnung die sittliche,
und diese gibt ihnen die Sanktionen. So bin ich denn vom ethi
schen Standpunkte — und dieser ist indispensabel — mehr Ver
walter als unbedingter Herr und stehe als solcher zwar nicht
unter Rechtspflichten, aber doch unter Liebespflichten gegen das
höchste praktische Gut.
2. Aber diese Liebespflichten werden vielfach in aufreizender
Weise vernachlässigt und verletzt. Am schlimmsten wohl in Zei
ten, wo der Sinn der Menschen den religiösen Idealen sich ent
fremdet hat und nur auf Gewinn und Genuß gerichtet ist. In
solchen Zeiten werden dann Stimmen laut, die Garantien gegen
diese Unsicherheit fordern. Bloße Liebespflichten, denen keine
Gewalt sich durchzusetjen, zur Seite steht, genügen ihnen nicht,
und so fordern sie geradezu, daß diese Liebespflichten in Rechts
pflichten umgewandelt und unter Zwang gestellt werden. Ge
walt scheint ihnen wirksamer gegen Eigensucht und Profitgier
als Liebe zum Guten allein. Die geschichtliche Entwicklung des
Sondereigentums habe allenthalben zur Ausbeutung der Kleinen
durch die Großen geführt und schließlich zum Gegenteil dessen,
was mit dem Privateigentum bezweckt sein sollte. Dieser Zweck
war doch wohl die Verteilung der Güter unter alle, indessen hat
schrankenlose Konkurrenz und Ausbeutung zur Vereinigung alles
Privateigentums 363
Eigentums in wenigen Händen geführt. Darum fort mit dieser
Souveränität des Privateigentums! An seine Stelle hat das
Kollektiveigentum zu treten. Souveräner Eigentümer soll fürder
hin allein der Staat sein. Von ihm haben die einzelnen ihre
Subsistenz- und Betriebsmittel zu empfangen und ihm haben sie
darüber Rechenschaft zu geben.
So will man denn die Liebespflichten in so weitem Umfange
als möglich zu erzwingbaren Rechtspflichten machen.
Auch ökonomische Vorteile verspricht man sich von der Ab
schaffung oder doch wesentlichen Einschränkung der Souveränität
des Privateigentums. Vereinigung macht stark. Zeigt sich schon
der private Großbetrieb dem Kleinbetriebe wirtschaftlich über
legen, um wieviel mehr ist an Leistung vom Staatsbetriebe zu
erwarten. Der Übergang zu diesem braucht kein gewaltsamer zu
sein, er kann sich auch ohne blutigen Umsturz, ohne Verelendung
der bisherigen Eigentümer vollziehen, besonders leicht dort, wo
die Betriebe ohnehin schon sehr konzentriert sind, denn dann hat
sich eigentlich nichts mehr zu ändern, als daß der Ertrag aus
einem Unternehmerprofit zur Einnahme der Allgemeinheit wird.
3. So unverkennbar die gute Tendenz solcher Vorschläge ist und
so ehrlich die Begeisterung und der Opferwille ideal veranlagter
Frauen und Männer sein mag, die sich für die Verwirklichung
dieser Idee einsetjen, so unterliegt sie doch großen Bedenken.
Wenn der Staat allein Träger des Eigentums wäre, so wäre
er auch allein Herr und seine Untertanen wären Sklaven. Mit
einer freiheitlichen Staatsform ist diese Ordnung kaum verein
bar. Sie fordert ein patriarchalisches Regiment, oder, mehr der
Wahrheit entsprechend ausgedrückt, sie fordert die Despotie.
Das Leben in einem solchen Staate hätte bedenkliche Ähnlichkeit
mit dem in einer Kaserne. Wer optimistischer veranlagt ist, würde
vielleicht lieber hören „wie in einem Kloster“, aber mit mehr
Recht könnte man geradezu sagen „wie in einem Zuchthaus“.
In einer solchen Ordnung ist die Lebenszelle der kultivierten
Gesellschaft, die Familie, bedroht. Es ist kein Zufall, daß
Platons Staat diese aufhebt. Auch die Bande der Freund
schaft scheinen bedroht, sind solche doch schon in den Klöstern
nicht wohl gelitten. Mit dem Entzug der Freiheit finden die
364 Nachteile der auf Kollektiveigentum
der Tugend ist nur eine halbe Wahrheit. Richtig ist bloß, daß
eine bis zu einem gewissen Grade der Ausbildung gelangte
Tugend, weil die Gelegenheit, sie zu üben, immer wiederkehrt,
sich sehr dauerhaft erhält.
Sie erhält sich aber und wächst auf dieselbe Weise, wie sie
entsteht, nämlich durch Gewöhnung. Eine solche aber verleiht
nicht nur eigene Übung, sondern auch die sich wiederholende
Erfahrung eines guten Beispiels.
Hingegen nimmt eine tugendhafte Disposition ab, wenn sie
nicht geübt, und mehr noch, wenn ihr entgegengesetzte Akte
geübt werden. Sie kann auf diese Weise überhaupt verschwinden.
Zeichen einer ausgebildeten Tugend sind die Leichtigkeit,
Raschheit, Freudigkeit, Häufigkeit ihrer Akte.
Doch alles das ist nicht genau und vollständig, solange nicht
die folgende Frage geklärt ist:
Die Stoiker lehrten die Einheit, aber wer sich an die Erfahrung
hält, kommt an der Annahme einer Vielheit nicht vorbei. Wählt
doch der eine das Gute in einer Lage, wo der andere versagt,
und versagt dafür in einer anderen, wo dieser sich bewährt.
Wenn der Tugenden aber viele sind, welches ist der passendste
Gesichtspunkt für ihre Einteilung?
Manche wollen die Tugenden nach den wichtigsten Gattungen
sittlicher Handlungen, also offenbar nach den Pflichten, einteilen,
so daß jeder besonderen Pflicht eine besondere Tugend ent
spräche. Das ist schon darum unbrauchbar, weil dann in der
Ethik unter zwei verschiedenen Titeln dasselbe gesagt werden
müßte. Weit zweckmäßiger scheint es daher, die Tugenden nach
den verschiedenen Weisen einzuteilen, wie einer verleitet werden
kann, das Vorzügliche hintanzusetjen. Wer in keiner Weise zu
verleiten ist, ist vollkommen tugendhaft. Wir berücksichtigen
darum bei unserer Einteilung die verschiedenen Gründe, die das
Zustandekommen einer sittlich richtigen Wahl vereiteln und zu
einer unrichtigen führen können.
Klassifikation der Tugenden 371
I. Hindernisse einer richtigen Urteilsbildung. Der Fall, wo
wir uns sittlich zu entscheiden haben, liegt oft so, daß es einer
gewissen Analyse bedarf, um herauszufinden, auf welcher Seite
der Vorzug liegt. Entzieht sich einer dieser geistigen Arbeit,
obwohl er sie leisten könnte, so verrät dies sittliche
Gleichgültigkeit oder sittlichen Leichtsinn, eine Dis
position von besonderer Gefährlichkeit. Der Fall, wo einer zu
dumm ist, sittliche Überlegungen anzustellen, bleibe hier beiseite,
da man bei einem Schwachsinnigen nicht eigentlich von subjek
tiver Unsittlichkeit sprechen kann. Die Fehler, die ich hier im
Auge habe, sind nicht eigentlich Fehler des Intellekts, aber es ist
klar, daß so gestimmte Menschen auch nicht zu einem verläß
lichen Urteil über ethisch richtiges und unrichtiges Verhalten
kommen werden.
Dieser ungünstigen Disposition steht als Tugend die
ethische Gewissenhaftigkeit gegenüber. Es besitjt
sie derjenige, der es sich zur Gewohnheit gemacht hat, regel
mäßig ethische Übungen anzustellen. Sie ist die wichtigste aller
Tugenden.
Wo solche sittliche Erwägungen mit besonderer Sorgfalt und
Umsicht angestellt werden, spricht man von ethischer Wohl-
beratenheit, sittlicher Klugheit, was wiederum etwas
nicht rein Intellektuelles bedeutet, da es ja nicht nur darauf
ankommt, daß einer solche Analysen trifft, wenn er sie anstellen
will, sondern daß er sie tatsächlich regelmäßig unternimmt.
Insofern solche Überlegungen zu besonderer Rücksicht auf das
moralische Risiko intendieren, spricht man von ethischer Vor
sicht.
Hat einer ein richtiges Urteil über den sittlichen Vorzug einer
bestimmten Handlungsweise sich gebildet, so können der rich
tigen Wahl immer noch Hindernisse entgegenstehen, zu deren
Überwindung es besonderer Tugenden bedarf.
II. Hier kommt in Betracht einerseits die größere Neigung
zum minder Wertvollen und die größere Abneigung gegen das
geringere Übel, andererseits der Mangel an Herrschaft über die
Affekte.
Die Disharmonie der Neigung knüpft sich bald an
372 Sittliche Objektivität
zu ihrer Ausbildung ein Lernen, sei es, daß der ethische Unter
richt in einer mehr volkstümlichen Weise, wie z. B. im Rahmen
des Religionsunterrichtes, sei es in wissenschaftlicher Weise, wie
in einem Ethikkolleg an der Universität, geboten wird.
Die zweite Klasse bildet sich durch Übung und Beispiel, die
dritte durch Übung und körperliche Hygiene.
Übung spielt übrigens in allen drei Klassen eine wesentliche
Rolle. Auch stehen sie im Zusammenhänge miteinander, indem
z. B. der böse Wille auch das Urteil depraviert.
Hinsichtlich der Übung wäre noch zu bemerken, daß sich zu
dem, was eine Zeitlang um eines anderen willen geübt wurde
eine vom ursprünglichen Zwecke losgelöste Neigung bilden kann.
Es ist dies ein Gesetj von großer praktischer Bedeutung, das
sowohl in den Dienst der Tugend als des Lasters treten kann.
tische, kein Wählen. Für alle anderen Tugenden ist die Defini
tion des hl. Augustinus richtig: „Virtus bona qualitas, quae
nunquam nocet.“
Von nicht minder großem Einfluß als die Tugend ist auf das
sittliche Verhalten die ethische Führung. Ohne sie verfällt eine
schon entwickelte Tugend, durch sie läßt sich eine schwache aus
bilden, ja eine schlechte Disposition in eine gute verwandeln.
Es sind nämlich die Dispositionen teils angeboren, teils erworben,
und so auch die Dispositionen zum richtigen und unrichtigen
Bevorzugen. Die angeborenen fallen uns nicht als Schuld zur
Last. Doch mag Eltern und Vorfahren ein Teil der Verant
wortung dafür treffen, denn daß die Vererbung im großen und
ganzen dabei eine Rolle spielt, steht außer Zweifel. Wenn uns
nun aber selbst für unsere angeborenen Dispositionen keine Ver
antwortung trifft, so brauchen wir sie doch nicht als irreparables
Fatum hinzunehmen, und Sache der ethischen Führung ist es,
aus dem von der Natur gegebenen Stoff das beste Erreichbare
zu gestalten.
So werden denn durch Übung andere Dispositionen dazu
erworben, die umgestaltend auf unsere Anlagen wirken können,
wenigstens bis zu einem gewissen Grade. Wenn es selbst
Menschen, denen von Geburt an mehrere Sinne mangelten, wie
einer Laura Bridgeman oder Helen Keller, beide
blind und taub, zu einer ansehnlichen Geistesbildung bringen
konnten, so wird eine geschickte Einwirkung auch auf morali
schem Gebiete erstaunliche Werke der Wiedergeburt zustande
bringen können.
Eine solche Einwirkung auf die Bildung sittlicher Dispositio
Ethische Führung 379
keit, die Sorge für die Meldung und Aufhebung der Gefahr und
die Sorge um die allgemeine Förderung der sittlichen Dispo
sitionen.
§ 118. Von dem ersten und wichtigsten Teile der ethischen Führung,
der sittlichen Wachsamkeit
Man denke daran, daß jeder Akt ein neuer Ring an der Kette
ist, womit die Leidenschaft und böse Gewohnheit uns festhält.
Man se$e selbst Lohn und Strafe für sich aus. Ähnlich wie ein
äußeres Strafgesetj kann auch «in von eigener Autorität ge
gebenes wirken.
d) indem man Lagen aufsucht, die gute Anregungen verheißen.
auch die Seelen. Man erhalte sich also auch in sittlichem Inter
esse seine ästhetische Genußfähigkeit und bewahre sie vor dem
Vertrocknen.
B. Ich hatte bei den vorhergegangenen Bemerkungen vorwie
gend die Erhaltung vorhandener guter Dispositionen im Auge,
wir müssen aber auch darauf bedacht sein, unsere sittliche Ver
fassung zu verbessern. Schon indem wir es uns bewußt zum
Grundsafj machen, an unserem sittlichen Fortschritt zu arbeiten,
fördern wir unsere guten Dispositionen. Aber es bedarf auch
eines systematischen Vorgehens nach einem durchdachten Plan.
Es gilt die Tugend stufenweise zu höherer und höherer Voll
kommenheit emporzuführen. Von niederen Freuden steigt man
zu geistigen Genüssen empor und auch in ihnen zu immer höhe
ren. Man bricht die Kraft des Egoismus, indem man Liebe und
Sorge ausdehnt: auf die Familie, auf Freunde, auf das Vater
land, auf die Menschheit.
Es kommt hier viel darauf an, keine Selbstzufriedenheit auf
kommen zu lassen, denn Stillstand ist Rückschritt. Von Maxi
milian II., König von Bayern, einem Fürsten, der sein Volk
gut zu führen verstand, wird erzählt, daß er sich jeden Tag
eine besondere Tugend notiert habe, um sich darin zu üben.
Darum revidiere man von Zeit zu Zeit seine Umgebung, ob
sie denn nicht zu einem Hemmnis des sittlichen Fortschrittes ge
worden sei. Das ist sie nicht nur, wenn sie üble Beispiele bietet,
sondern auch, wenn ihr die Ideale und die Schwungkraft fehlen.
Darum ist es von hohem Wert für den eigenen sittlichen Fort
schritt, wenn man Gelegenheit hat, seinen Horizont durch die
Bekanntschaft mit bedeutenden Persönlichkeiten zu erweitern.
Wo diese fehlt, so ersetje man sie wenigstens durch eine die
edlen Kräfte anregende Lektüre. Auguste Comte hat einen
weltlichen Heiligenkalender zusammengestellt mit solchen Bei
spielen, die geeignet sind, den sittlichen Enthusiasmus zu ent
flammen.
Ein gefährliches Gift ist dagegen die Schmeichelei. Gefährlich
ist jene beschwichtigende Beflissenheit, die, um uns nicht weh
zu tun, alles zu entschuldigen sucht. „Ach, jeder lügt!“, „Wer
niemals einen Rausch gehabt, der ist kein braver Mann“, „Tust
Gefahr der Schmeichelei 389
Ein weiteres Unrecht ist die Polygamie gegen die Armen. Wie
soll der arme Mann zu einer Frau kommen, wenn der Reiche
sich beliebig viele nehmen kann?
Wie andere Narrheiten ist unserer Zeit auch eine Propaganda
für die Polygamie nicht erspart geblieben. Sie wird teils mit
Rücksicht auf den biologischen Fortschritt des Menschengeschlechts
begründet, wobei der Monogamie vorgeworfen wird, daß sie
sich an den konstitutionellen Kräften der Rasse versündige, in
dem sie die Fortpflanzungsfähigkeit des gesunden Mannes nicht
genügend ausnutje und Menschenaufzucht nach Darwinschen Prin
zipien verhindere. Andere wieder begründen ihr Plädoyer für
die Polygamie bzw. Polyandrie mit dem Anspruch auf Ausbil
dung der Persönlichkeit, die ebenfalls in der Enge der Einehe
zu kurz käme. Sie fordern darum volle Freiheit für beide Teile.
All dies verstößt aber, wie schon gesagt, gegen die Rechts
und Liebespflichten. Speziell gegen die darwinistisdi orientierte
Propaganda wäre zu bemerken, daß es für den Fortschritt der
Menschheit doch nicht in erster Linie auf die Körper-Produktion
ankommt. Es sollen Menschen Seelen herangebildet werden.
Nun sehen selbst diese Fürsprecher der Polygamie ihre Nach
teile für die Erziehung ein und pflegen darum zu dem Vorschlag
zu greifen, daß man diese Aufgabe dem Staate überlasse. Aber
das scheint recht unüberlegt gesprochen und recht kurzsichtig
gedacht. Wer ist denn der Staat? Und ist alles, was er macht,
eo ipso vortrefflich und vertrauenswürdig? Sollen bezahlte Be
amte und Beamtinnen die Erziehung besser besorgen als die
Eltern? Wie wird es bei solcher staatlicher Aufzucht um die
Individualisierung der Erziehung bestellt sein? Sie wird offen
bar ganz verlorengehen, eine üble Nivellierung wird platj-
greifen. Also: für die Eltern verlangt man die Aufhebung der
Einehe, damit sie ungebunden ihren wechselnden Neigungen
nachgehen können und man verlangt das im Namen der Pflege
der Persönlichkeit — und die Kinder, in denen doch vor allem
die Persönlichkeit gepflegt und herangebildet werden soll, will
man von früher Jugend der Schablone und Uniformierung
überantworten. Das sind doch lächerliche Widersprüche, die von
einem recht oberflächlichen Denken zeugen. Gerade in der Fa
396 Argumente für die
milie ist der Boden gegeben, aus dem, wie die Geschichte zeigt,
hochwertige Persönlichkeiten hervorwachsen, und je fester ihr
Gefüge ist, desto Besseres läßt sich auch in dieser Hinsicht er
warten.
6. Soll die Ehe auf Zeit oder auf Lebensdauer geschlossen
werden? Jedenfalls soll die Absicht auf eine Vereinigung fürs
Leben gerichtet sein und darnach der Vertrag lauten. Man
schließt ja auch Freundschaften nicht auf Kündigung. Nur da
durch wird eine feste Grenze gegen jene lockeren Verbindungen
gezogen, die ungerecht gegen das weibliche Geschlecht und darum
unsittlich sind.
7. Ob eine Lösung des Ehebandes statthaft sei? Daß die Ehe
nicht auf einseitigen Wunsch gelöst werden darf, ist nach dem
Gesagten wohl schon klar genug, es müßte denn ein schweres
Verschulden des anderen Teiles vorliegen, wie dies ja auch sonst
zur Auflösung von Verträgen führen kann. Ist aber ohne solches
und bei gegenseitigem Einverständnis eine Lösung zu billigen?
Die Frage läuft darauf hinaus, ob der Staat eine solche gestatten
soll. Gewichtige Gründe sprechen dafür und dagegen.
Dagegen besonders 1. die Rücksicht auf die Kinder, deren Er
ziehung doch zu den wichtigsten Aufgaben der Ehegatten ge
hört. Für die Kinder aber ist die Trennung der Eltern oft kein
geringeres Unglück als der Tod eines von ihnen, ja oft noch
trauriger.
2. Auch scheint es kein genügender Schutj für die Frau, wenn
die Scheidung an ihr Einverständnis geknüpft wird, denn die
Gefahr besteht, daß dieses Einverständnis erzwungen werde.
Dagegen hat das Bewußtsein der Unzerreißbarkeit des Bandes
eine heilende, Launen und Begierden beschwichtigende und in
Zügeln haltende Macht.
Immerhin spricht auch Gewichtiges gegen die absolute Unlös
barkeit. Eine Ehe kann bei gegenseitiger heftiger Abneigung
zur Hölle auf Erden werden. Darum wird in solchen Fällen
Ehe Scheidung zuzulassen sein, ob auch Ehe 1 ö s u n g, bleibt
damit noch eine offene Frage. Auch liberale Denker haben sie
nicht alle bejaht. Ich möchte hier nicht entscheiden, es bedürfte
diese Frage einer eingehenderen Untersuchung. Ohne Frage hat
Unlösbarkeit des Ehebundes 397
der Stifter des Christentums der Frau in der Ehe eine bessere
Stellung zugewiesen als das mosaische Gesetj. Das Verbot des
Ehebruchs schüft im Gesetje Mosis einseitig die Rechte des
Mannes, während die Frau gegen keinerlei fremde Liebe des
Mannes, ja auch nicht vor Nebenfrauen, geschütjt ist. Jesus aber
spricht beiden das Recht auf Treue zu, nicht nur das Weib be
geht ein Unrecht, wenn es die Ehe bricht, auch der Mann.
Die Erfahrung zeigt uns den Staat als eine die Familie an
Umfang übertreffende Gesellschaft und es ist leicht verständlich,
wie die Menschen dazu kamen, solche größere Gesellschaften zu
bilden. Sympathien sowohl als die offensichtlichen Vorteile der
Kooperation haben sie dazu gebracht. Vor allem der große Vor
teil der Teilung der Arbeit, wodurch die Leistungen nicht bloß
addiert, sondern vervielfacht werden. Hätte jeder für alle seine
Bedürfnisse selber zu sorgen, so käme gar wenig im Verlaufe
eines Menschenalters zustande. So zeigt sich denn der Staat als
eine Gemeinschaft, die über die Familie hinausgeht und dabei
dem Zweck eines sich selbst genügenden vollkommenen Lebens
dient.
3. Doch ist diese große Gemeinschaft geschichtlich aus der
Familie herausgewachsen. Diese wird zum Ausgangspunkt der
Sippenbildung, und so geht die Gliederung weiter und weiter
zu immer mehr umfassenden Gemeinschaften.
4. Immerhin, auch wenn die Zahl der Teilnehmer solcher Ge
meinschaften noch so beträchtlich ist, sie genügt an und für sich
noch nicht, einen Staat auszumachen. Dazu gehört auch noch eine
gewisse zweckmäßige Gliederung, was man eben bildlich Or
ganisation nennt; dazu gehört ferner eine gewisse Macht, diese
Ordnung nach innen vor Störungen zu schüfen und auch äuße
ren Angriffen gegenüber aufrechtzuerhalten.
Wozu diese dient, ist ja wohl klar. Das Leben in der Gesell
schaft, soll es wirklich die erwarteten Vorteile bringen, bedarf
der Ordnung. Eine solche ist aber nicht schon damit hergestellt,
daß vernünftig abwägende Menschen erkennen, was jedem ein
zelnen an Eigentum zukommen soll, es bedarf vielmehr positiver
Feststellungen darüber, und damit diese dann eingehalten wer
den, auch einer Gewalt, welche ihre Befolgung in dem Maße
sichert, daß der einzelne darauf vertrauen kann, in einer solchen
Gemeinschaft wirklich zum Genüsse der Früchte seiner Arbeit
zu kommen. Darum ist eine einheitliche, ordnende und mit
Machtbefugnissen ausgestattete Leitung nötig, sei es eine Einzel
person, sei es eine Körperschaft. Sie ist das, was man die Regie
rung nennt.
Die Organisation der ordnenden Gewalt ist uralt, in der
Entstehung des Staates 399
Ungerechte Verteilung ist ein Fluch für die Überarmen und für
die Überreichen, eine Quelle der Unsittlichkeit hier und dort.
Aber mit großer Diskretion soll sich der Staat der Aufgabe eines
gerechten Ausgleiches unterziehen. Der Sozialismus ist nicht im
Besitze des richtigen Rezepts. Das brutale Eingreifen in die be
stehenden geschichtlich gegebenen Besitjverhältnisse ist von
schwerem Nachteil. Nicht minder verhängnisvoll wäre ein
Nivellieren. Davor hat schon Aristoteles gewarnt.
c) Aber der Staat soll gleichwohl kein bloßer Rechtsstaat sein,
ebensowenig als ein bloßer Polizeistaat. Auch für den Wohlstand
hat er zu sorgen. Zwar meinte Bentham, der Staat solle sich
hier überhaupt nicht einmischen, denn das stifte mehr Schaden
als Nutzen, der wohlberatene Egoismus zeitige da weit bessere
Ergebnisse. Aber die Erfahrung scheint dafür zu sprechen, daß
unter Umständen nationalökonomisch wohlberatene Gesetjgeber
von wohltätigem Einfluß werden können, ja allein imstande
sind, großen Übeln zu steuern.4®
B e n t h a m 5, 98 ff.
— Klassifikation der Güter und Übel (einfache und zusammen-
gesetjte Vergnügen und Leiden) 165 ff.
— Argumente für die Beschränkung der Gütertafel auf Lust 171 ff.
— Abwehr seiner Argumente 180 f., 205.
— Über richtige Bevorzugung der Güter 212.
— Einteilung der sittlichen Gebote und Delikte 337 ff.
— Über den Staat 402.
Brown 89.
Butler 75, 78, 97.
Cicero 74, 78.
Clarke 26 £., 41, 101.
Comte 63, 97 f., 381, 388, 403 ff.
Condorcet 2.
C r u s i u s 96.
Cudworth 75, 78, 97, 112, 131 ff.
Darwin (Darwinismus) 84, 202, s. Vererbung.
— Kampf ums Dasein 66 f.
Delikte 338 ff., s. B e n t h a m.
— komplexe Delikte 361 ff.
Demokrits« 286.
Descartes 18, 141, 143, 214, 235.
— Vertreter des Indeterminismus 235, 241 f.
Determinismus-Indeterminismus Streit 240 ff.
Diogenes 177.
Disziplinen, theoretische und praktische 3 f., s. Aristoteles.
Ehe 391 ff., s. Sittlichkeit (sittliche Verbände).
Eigentum, Berechtigung des Privateigentums 362 f.
— Nachteile einer auf Kollektiveigentum aufgebauten Wirtschafts
ordnung 364 f.
— Staatliche Kontrolle des Eigentums 366.
Einsichten unmittelbare (als Gegensatj zum blinden Glauben) 19,
s. Evidenz und Urteil.
Empirismus hinsichtlich des Ursprunges der Begriffe „gut“ und
„besser“ 151.
E p i k t e t 382.
Epi kur 10, 160, 175, 204, 212, 286, 391.
Erkenntnis, richtige ethische 158 f.
— Erkenntnisprinzipien als Gegenstand des Streites und der Unter
suchung 16 ff., 24 ff., 153 ff.
— analytische, synthetische a priori 74 ff., s. Kant und Urteil.
— Gefühle als Bedingung der Erkenntnis 54 ff.
— Die ethischen Prinzipien sind Erkenntnisse von Gefühlen 148 ff.,
s. Ethik.
Erziehung (Selbsterziehung) 380 f. s. Sittlichkeit (sittliche Führung).
— Wirkung des guten Beispieles 385.
Ethik (Moralphilosophie, Praktische Philosophie).
— Begriff und Wert 4 f.
Namen- und Sachregister 419
— Definition durch Angabe des höchsten Zweckes 4, §7 ff., s. Zweck.
— Aufgaben 7 ff.
— Grundlagen oder Prinzipien 13 ff., 24 ff., 42 ff., 74 ff.
— Zurüdcführung der ethischen Prinzipien auf Relationen 26 f.
— Wahrhaftigkeit als ethisches Grundprinzip 30 ff.
— Uneinigkeit über die ethischen Prinzipien 24 f., 41.
— Autonome und heteronome Ethik 24 f.
(heteronome 95 f., autonome 97).
— Ethischer Relativismus 24 f., innerer Widerspruch desselben 154 ff.
— Sind die ethischen Prinzipien Erkenntnisse oder Gefühle? 42 ff.
— Argumente für die Gefühlstheorie 44 ff., s. Hume.
— Argumente gegen die Gefühlstheorie 43, 53 ff.
— Argumente für die Erkenntnistheorie 51 ff.
— Ethische Billigungsgefühle 49, 72, 102.
— Ethik als Wissenschaft 15, 134.
— Ethische Zwecke anstrebende Verbände 10, 390 ff., s. Sittlichkeit.
— Ethische (sittliche) Dispositionen 9, 369 ff., s. Sittlichkeit.
— Höchstes ethisches Prinzip: Wähle das Beste unter dem Erreich
baren 134 ff., 222 ff., 306 f„ 309, 407.
— Einwände gegen das höchste ethische Prinzip und Abwehr der
selben 222 ff.
— Die früheren Gesetje werden durch die neue Lehre nicht auf
gehoben 158 ff.
— Auch Gewohnheit erklärt manche Übereinstimmung 162.
Evidenz des Urteils 22 f., 140 ff., s. Urteil.
Existentialurteile 77.
Eudoxus 176, 181.
Fe ebner 175, 241, 253, 405.
Franklin 381, 406.
Freiheit des Willens, s. Wille.
Freundschaff 390 ff.
Gefühle der Billigung 102 ff., s. Ethik und A. Smith.
Gefühle der Lust und Unlust 98, s. das Gute, Utilitarier und Zweck.
— Sie fördern und hemmen sich gegenseitig 196.
Geschmack, sittlicher (moralischer) 45, 63 f., 158, s. Ethik.
— Übereinstimmung darin, Argumente dagegen 63 ff.
Gewissen 97, 158.
— irrendes und zweifelndes 323 ff.
— skrupulöses und laxes 327 ff.
Glück des einzelnen, Glückseligkeit aller ist letjter Zweck 27 ff.
— Argumente dagegen 92 ff., s. Zweck.
Das Gute (gut) Ursprung des Begriffes „gut“ 134 ff.
— Seine Analogie zum Begriff „wahr“ und Analogie des als richtig
charakterisierten Liebens zur Urteilsevidenz 134 ff., 146.
— Der Begriff „gut“ stammt aus der Erfahrung als richtig charak
terisierter Gemütstätigkeiten 143 ff.
— Instinktives und höheres Gefallen und Mißfallen 145 ff.
— Bestreitung der Tatsächlichkeit der als richtig charakterisierten
Gemütstätigkeiten 153 ff.
420 Namen- und Sachregister