Magia Daemoniaca, Magia Naturalis, Zouber: Schreibweisen Von Magie Und Alchemie in Mittelalter Und Früher Neuzeit
Magia Daemoniaca, Magia Naturalis, Zouber: Schreibweisen Von Magie Und Alchemie in Mittelalter Und Früher Neuzeit
Magia Daemoniaca, Magia Naturalis, Zouber: Schreibweisen Von Magie Und Alchemie in Mittelalter Und Früher Neuzeit
Band 2
2015
Harrassowitz Verlag · Wiesbaden
Herausgegeben von
Peter-André Alt, Jutta Eming, Tilo Renz
und Volkhard Wels
2015
Harrassowitz Verlag · Wiesbaden
Almut-Barbara Renger
Von Pythagoras zur arabischen Alchemie? Über Longue-Durée-
Konstruktionen und Wissensbewegungen im Mittelmeerraum . . . . . . . . . . . . . . . . 19
Mireille Schnyder
Der vierte Sohn Noahs und die Magie der Künste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
Jutta Eming
Aus den swarzen buochen. Zur Ästhetik der Verrätselung von Erkenntnis
und Wissenstransfer im Parzival . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
Antje Wittstock
Transmutation und Veredelung in Gottfrieds Tristan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
Sandra Linden
Zauber der Minne – Zauber der Tugend. Zur Verbindung von Magie
und Tugendlehre in spätmittelalterlichen Minnereden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
Jan-Dirk Müller
Magie, Erotik, Kunst. Zur Vorgeschichte einer frühneuzeitlichen
Problemfigur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
Frank Fürbeth
Magische Texte in mittelalterlichen Bibliotheken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
Tobias Bulang
Satirische, dämonologische und wissensvermittelnde Schreibweisen
über die Alchemie im Werk Johann Fischarts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
Marina Münkler
Epistemische Figurationen. Überlegungen zum Status von Magiern und
Alchemisten in der Wissensordnung der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
Stefanie Stockhorst
Satirische Erbauungsalchemie. Zum Verhältnis von
Humanistenschalk, Laborpraxis und Gotteserkenntnis in
Johann Rists Philosophischem Phoenix (1638) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267
Jost Eickmeyer
Hexenflug und Hagelzauber. Zum poetischen Umgang mit Magie in
neulateinischen Gedichten aus Humanismus und Barock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287
Simon Zeisberg
Paradoxe Perspektiven. Zur Funktion des Wunderbaren in
Grimmelshausens Wunderbarlichem Vogel-Nest (1672/75) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
Michael Lorber
Alchemia oeconomica. Johann Joachim Bechers (1635-1682)
Sozialutopismus am Schnittpunkt von Projektemacherei,
alchemischer Naturphilosophie und Staatsräson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339
Sven Dupré
Über die Schwierigkeit der Beschreibung alchemischer Techniken.
Johannes Kunckels Übersetzung der Arte vetraria von Antonio Neri . . . . . . . . . . 377
Harald Haferland
Eine kurze Theoriegeschichte der alchemistischen multiplicatio und der
Vorbothe der am philosophischen Himmel hervorbrechenden Morgenröthe des
Johannes de Monte Raphaim (Amsterdam 1703) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393
Bernd Roling
Virgula divinatrix. Frühneuzeitliche Debatten über die Wünschelrute
zwischen Magie und Magnetismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419
Farbabbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439
Der vorliegende Band fasst die Ergebnisse einer Tagung zusammen, welche die
Herausgeber im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 980 Episteme in Bewe-
gung im November 2013 an der Freien Universität Berlin veranstaltet haben. Der
Sonderforschungsbereich verfolgt das Ziel, den Wissenswandel in der Vormo-
derne in seinen eigengesetzlichen strukturellen Ausprägungen und prozessua-
len Dimensionen anhand heterogener Wissenskulturen herauszuarbeiten. Die
Arbeit des Forschungsverbunds besteht zum einen darin, in einzelnen Teilpro-
jekten an konkretem Material Szenarien dieses Wissenswandels zu beschreiben
und in ihren Formierungen transparent zu machen. Von den Teilprojekten aus-
gehend werden zum anderen solche Formierungen miteinander verglichen, um
mögliche Grundmuster zu erfassen. Schließlich geht es um die Möglichkeit einer
Metareflexion durch übergreifende kategoriale Ordnungen, die ihrerseits klären
soll, inwiefern Wissenswandel vor der Moderne neue Strukturen der Verzeitli-
chung und Historisierung, des Bewusstseins und der kulturellen Identität schaf-
fen kann. Es gehört zu den schwierigsten Aufgaben des Sonderforschungsbe-
reichs, seine Gegenstände und Quellen so zu erschließen, dass ihre Spezifik jen-
seits der konventionellen modernen Perspektiven erkennbar wird und in ihren
dynamischen Prozessen für die Konstitution der Wissensgeschichte dennoch
systematisch erfasst werden kann. Zu ermitteln sind dafür Indikatoren, die
Wandlungsprozesse auf epistemischen Feldern der Vormoderne in ihrer Eigen-
ständigkeit beschreibbar und zugleich begrifflich zugänglich machen. Zu sol-
chen Prozessen zählen etwa Vorgänge der Überlagerung und Adaption, der Ab-
stoßung und Verschmelzung, synkretistische und heterodoxe Bildungen, Konti-
nuitätssuggestionen, Imitation und Agon, Paradoxie-Entfaltungen, Autoritäts-
wechsel und versteckte Neuerungen.
Die vormoderne Magie und Alchemie bieten als weitgehend nicht-ortho-
doxe, nicht-kanonische Formen des Wissens mit oftmals subkutanen Formen der
Rezeption und epistemischen Bündnissen, die es methodisch unkonventionell
eingehen kann, ideale Untersuchungsfelder für diese Anliegen. Gegen die theo-
logischen Schulen des Mittelalters und die Enzyklopädik der Frühen Neuzeit
stehen Magie und Alchemie als beispielhafte Bereiche für ein unorthodoxes Ver-
fahren der Wissenserzeugung und -weitergabe, welche die anerkannten Formen
der Wissensverwaltung kontinuierlich herausfordern und mit denen diese je neu
in ‚Verhandlungen’ eintreten. Zu ihren spezifischen Merkmalen lassen sich etwa
rechnen: die Überschreitung der Grenzen zwischen Theorie und Praxis, die Deu-
tung der Natur als Raum der vita activa, die emphatische Definition der Mög-
lichkeit intellektueller Erfahrung, die Annahme einer prinzipiell verwandlungs-
fähigen Materie, die Konstruktion eines arkan-exklusiven Raums von Wissen,
Lernen und Überlieferung, die Bestimmung des Geheimnisses als Element der
Wissensordnung, die antischolastische Tendenz ihrer Organisation.
Es wäre sicherlich falsch, zur allgemeinen Beschreibung dieser Konstella-
tionen den Begriff des esoterischen Wissens zu bemühen. Denn dieser unterstellt
eine vereinfachende Opposition zwischen akademischem und nicht-akademi-
schem Wissen, zwischen religiöser und paganer Diskurspraxis, zwischen Inspi-
ration und Regel, Vernunft und Offenbarung, die der intellektuellen Situation
von Mittelalter und Früher Neuzeit nicht entspricht. Wer sich mit dem Ensemble
eines aus moderner Sicht nicht-rationalen Wissens befasst, kann auf den Eso-
terikbegriff zudem aus systematischen Gründen schwerlich zurückgreifen, denn
er enthält die Vorannahme einer wissenschaftsexternen Stellung, die für Mittel-
alter und Frühe Neuzeit nirgends gegeben war. Zwar schloss die arkane Praxis
magischer und alchemischer Denk- und Verfahrensweisen eine schulhafte Ver-
breitung an den Universitäten weitgehend aus, jedoch partizipierten sie in weit-
aus stärkerem Maße, als das der Esoterikbegriff nahelegt, an verbreiteten Wis-
sensordnungen. Solche Interaktion zwischen ‚geheimen‘ und ‚akademischen‘
Erkenntnismethoden begründet die hohe Komplexität der mittelalterlichen und
frühneuzeitlichen Episteme, die durch moderne Beschreibungskategorien nicht
annähernd erfasst werden.
Sinnvoller und angemessener für magisch-alchemische Diskurskonfiguratio-
nen scheint uns dagegen die von Martin Mulsow entwickelte Schlüsselkategorie
des „prekären Wissens“. 1 Sie bezeichnet ein noch unsicheres Wissen, wie es
gerade für das 15. bis 17. Jahrhundert typisch ist: heterodox, nicht durch Autori-
täten abgesichert; unerprobt, nicht im Kanon verankert; subversiv, nicht durch
geregelten Transfer vermittelt. Belegt wird die Bedeutung dieses „prekären Wis-
sens“ für die frühneuzeitliche Epistemologie bei Mulsow an zahlreichen Feldern
(Wunderglauben, Abwehrzauber, Numismatik, Kameralistik). So entsteht ein
vielschichtiges Bild, zu dem überlieferte Wissensformationen ebenso gehören
wie Elemente frühaufklärerischer Empirie. Ein übergreifendes Merkmal bleibt
die eklektische Komponente, in der sich eine Abkehr von der scholastischen
Wissensordnung mittelalterlicher Prägung bekundet. Ungesichertes Wissen
stellt produktive multidirektionale Bündnisse her, die Innovationen in Zeiten
programmatischer Traditionsbeharrung ermöglichen.
Was alchemische und magische Wissenspraktiken miteinander teilen, ist vor
dem Hintergrund der Mulsowschen Kategorie des Prekären nicht zuletzt die
Gefährdung, die sie als latent ketzerische Formen der Gelehrsamkeit für den
1 Vgl. Martin Mulsow: Prekäres Wissen. Eine andere Geschichte der Frühen Neuzeit. Frank-
furt a.M. 2012, S. 14–18.
Einzelnen bedeuten. Wer sich mit ihnen einließ, war zu manchen Zeiten massiv
bedroht und setzte sich der Gefahr aus, als Anhänger des Teufels, als Häretiker
und Irrgeleiteter betrachtet zu werden. Andererseits existierten in der mittel-
alterlichen Gesellschaft auch zahlreiche Nischen, die es erlaubten, magische und
alchemische Wissenschaften zu praktizieren, ohne dass sogleich Ausstoßung,
Vertreibung und Bestrafung drohten, und auch der intellektuellen Auseinander-
setzung mit Bereichen des Wissens, die heute als magisch zu erachten sind (As-
trologie), wurde Raum gegeben.
In „Die Ordnung der Dinge“ schreibt Michel Foucault über die epistemische
Ordnung im Zeitalter der Ähnlichkeiten, dem 16. und frühen 17. Jahrhundert:
Die Welt drehte sich in sich selbst; die Erde war die Wiederholung des
Himmels, die Gesichter spiegelten sich in den Sternen, und das Gras hüll-
te in seinen Halmen die Geheimnisse ein, die dem Menschen dienten. Die
Malerei imitierte den Raum, und die Repräsentation, war sie nun Fest
oder Wissenschaft, gab sich als Wiederholung: Theater des Lebens oder
Spiegel der Welt, so lautete der Titel jeder Sprache, ihre Art, sich ankün-
digen, und ihr Recht auf Sprache zu formulieren. 2
Was Foucault hier in romantisierendem Duktus beschwört, ist, wie kritisch an-
gemerkt werden kann, weniger Bild der frühneuzeitlichen Episteme als vielmehr
Reflex eines Teildiskurses der wissenschaftlichen Ordnung, eben der Magie und
Alchemie. Dazu passt, dass seine Hauptgewährsleute für die Beschreibung der
wesentlichen Merkmale des Denkens in Ähnlichkeiten sämtlich Vertreter nicht-
orthodoxer Denksysteme sind: Agrippa von Nettesheim, Paracelsus und Giam-
battista della Porta. Man könnte also sagen: Nicht die Signatur der ganzen Epo-
che, sondern einer besonderen Diskurskonstellation hat Foucault in seinem
überaus folgenreichen Werk erfasst.
Mit Magie und Alchemie verbindet sich in der Tat ein „Analogiezauber“
(Novalis), der ihre Dynamik, ihre methodischen Allianzen und praktischen Im-
plikationen bestimmt. Auch aus diesem Grund ist das magisch-alchemische
Diskursfeld ein vorzügliches Studienobjekt für jene Transferprozesse, die sich
der Sonderforschungsbereich zu untersuchen vorgenommen hat. Gerade weil
die Regeln für die epistemische Konstruktion dieser beiden Schlüsselbereiche
veränderlich sind, bieten sie sich für Umdeutungen und Transfers von Wissen
zwischen verschiedenen Bereichen an. Nicht zuletzt ermöglichen sie literarische
Aneignungen, an denen die Dichtung sich als Medium epistemischer Umbrüche
profilieren kann. Martin Opitz bemerkt 1624, die Natur habe sich im Altertum
durch die Sprache der Dichter offenbart, die einen schein sonderlicher prophecei-
ungen vnd geheimnisse von sich gaben und den einfältigen leute[n] den Eindruck
2 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften.
Frankfurt a.M. 1997, S. 46.
boten, als stecke etwas göttliches in jhnen. 3 Genau dieser Übergang des arkanen
Wissens in die Dichtung begründet einen Wirkungsanspruch, der mehr als nur
die Popularisierung von gelehrter Praxis bedeutet. Hinter ihm steckt das Kon-
zept einer Reorganisation des Wissens selbst, das durch die Dichtung nicht ein-
fach nur transportiert, sondern umgeformt und diskursiv neu geordnet wird.
Das magische und alchemische Wissen ist immer auch ein Handlungswissen mit
dem Anspruch auf Heilung, Veränderung, Eingriff in die Natur. Glaubt den wer-
ken, nit den worten, so formuliert Paracelsus. 4 Die Dichtung greift dieses dynami-
sche Konzept des Wissens auf, indem sie es nochmals in Bewegung setzt – mit
produktiven Effekten für ihre eigenen Textordnungen.
3 Martin Opitz: Buch von der deutschen Poeterey. In ders.: Gesammelte Werke. Hrsg. von
George Schulz-Behrend. Bd. II.1. Stuttgart 1978, S. 331–416, hier S. 345.
4 Paracelsus: Das Buch Paragranum. In ders.: Sämtliche Schriften. Bd. I.8: Schriften aus dem
Jahre 1530, geschrieben in der Oberpfalz, Regensburg, Bayern und Schwaben. München
1924, S. 31–125, hier S. 89.
mischer Elemente in literarische Texte geführt hat. Auf die literarische Dimensi-
on der Wissensfelder Magie und Alchemie, die für diesen Band zentral ist,
kommen wir später noch genauer zu sprechen.
Die Alchemie des Mittelalters und der Frühen Neuzeit ist keineswegs per se
eine Kunst oder ein Wissen, das es mit übernatürlichen oder okkult-verborgenen
Kräften zu tun hat. 5 Versteht man die Alchemie im weitesten Sinne als ein Wis-
sen um die Verwandlungsfähigkeit natürlicher Substanzen, dann gibt es deshalb
auch zwischen Alchemie und Religion eigentlich keine Konflikte, ja kaum Be-
rührungspunkte.
Der prekäre Status, den die Alchemie in der Vormoderne hat, ist kein Indiz
für ein ‚okkultes‘ Wissen, sondern viel eher eine Folge ihrer mangelnden Institu-
tionalisierung, das heißt der Tatsache, dass die Alchemie weder an den Schulen
und Universitäten verankert noch als Handwerk anerkannt war. Infolgedessen
prägt der herumziehende Alchemiker, der den Fürsten die Herstellung von Gold
verspricht und sich dann als Betrüger aus dem Staub macht, nicht erst das mo-
derne Bild der Alchemie. Schon lange vor der Aufklärung wird der Alchemiker
wechselweise als Scharlatan oder Narr diffamiert. Man spüert wol jn der alchemy |
[…] Was falsch/ vnd bschiss vff erden sy, heißt es 1494 in Sebastian Brants Nar-
renschiff. 6
Der eigentliche Gegner der Alchemie ist deshalb weniger die Theologie als
die ökonomische Vernunft, und mehr noch sind es die polizeilichen und juristi-
schen Autoritäten. Allerdings war die sogenannte Transmutationsalchemie mit
dem Ziel der Herstellung von Gold zwar immer eine besonders prominente
Form der Alchemie, aber nie die einzige. Insbesondere die Pharmazeutik bedient
sich schon lange vor Paracelsus alchemischer Verfahren zu pharmazeutischen
Zwecken. Daneben können sich Abhandlungen zur Schmelztechnik oder zur
Glasherstellung des Begriffs der Alchemie bedienen, genauso wie am anderen
Ende des Spektrums Texte, die metaphorisch Läuterungsprozesse der Seele
bezeichnen, wie in der Aurora consurgens, und damit an die Praktiken der Mystik
gemahnen. Dazu gehört auch die Tatsache, dass es immer schon einen mehr
5 Wir bevorzugen deshalb auch die von Joachim Telle eingeforderte Begriffsbildung ‚alche-
misch‘ im Gegensatz zu dem sprachlich inkonsequenten Begriff ‚alchemistisch‘. Die Begriffe
‚alchemistisch‘ und ‚Alchemist‘ suggerieren einen Bruch zwischen einem ‚alchemistischen‘
Wissen der Vormoderne, das per se ‚mystisch‘ oder ‚okkult‘ sein soll, und dem ‚chemischen‘
Wissen der Moderne, das ‚wissenschaftlich‘ ist. Uns kommt es dagegen darauf an, neben
den Diskontinuitäten auch gerade die Kontinuitäten des chemischen Wissens zu betonen.
Mit ganz ähnlicher Intention haben Lawrence M. Principe und William R. Newman: Some
Problems with the Historiography of Alchemy. In: Secretes of Nature. Astrology and Al-
chemy in Early Modern Europe. Hrsg. von Anthony Grafton und William R. Newman.
Cambridge 2001, S. 385–430 den Begriff ‚chymistry‘ als Vermittlung zwischen einer vormo-
dernen ‚alchemy‘ und einer modernen ‚chemistry‘ vorgeschlagen. Nicht alle Beiträger des
Bandes teilen diese Vorbehalte.
6 Sebastian Brant: Das Narrenschiff. Hrsg. von Manfred Lemmer. Berlin, New York 2004,
Kap. 102, S. 269.
7 Joachim Telle: Art. Alchemie II. In: Theologische Realenzyklopädie Bd. 2 (1978), S. 199–227;
vgl. auch Bernhard Dietrich Haage und Wolfgang Wegner: Deutsche Fachliteratur der Artes
in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin 2007, S. 106–126.
8 Wolf-Dieter Müller-Jahncke: The Attitude of Agrippa von Nettesheim (1486–1535) towards
Alchemy. In: Ambix 22 (1975), S. 134–150.
9 Peter Forshaw: Marsilio Ficino and the Chemical Art. In: Laus Platonici Philosophi: Marsilio
Ficino and His Influence. Hrsg. von Stephen Clucas, Peter J. Forshaw und Valerie Rees. Lei-
den 2011, S. 249–271.
10 Grundlegend zum Paracelsismus ist die ausführlich kommentierte und eingeleitete Edition:
Corpus Paracelsisticum. Dokumente frühneuzeitlicher Naturphilosophie in Deutschland.
Hrsg. und erläutert von Wilhelm Kühlmann und Joachim Telle. Tübingen 2001–2013. Vgl.
daneben insbesondere Wilhelm Kühlmann: Der ‚Hermetismus’ als literarische Formation.
Grundzüge seiner Rezeption in Deutschland. In: Scientia Poetica 3 (1999), S. 145–157.
11 Das Werk liegt jetzt in einer neuen Ausgabe vor, mit wertvollen Kommentaren und Einfüh-
Hier ist die Verbindung von Alchemie und Magie im Zeichen ‚okkulter‘ Künste
schon im Titel vollzogen.
Nicht nur der Begriff der Alchemie ist als Klassifikation einer Vielzahl, teil-
weise stark divergierender Erscheinungen allerdings problematisch, sondern
auch der Begriff der Magie. Wer diesen Begriff definieren oder auch nur näher
bestimmen will, steht vor mehreren grundsätzlichen Problemen.
Erstens gilt auch für die Magie, dass sie keinen per se theologisch problema-
tischen Status besitzt, wie es die gängigen Vorstellungen von Magie als Teufels-
werk nahelegen. Frank Fürbeth hat im Gegenteil darauf hingewiesen, dass die
Magie in den Wissenschaftsklassifikationen des Mittelalters (den sogenannten
divisiones philosophiae) als scientia gilt, mithin als akademisch anerkannte Wis-
sensform. 12 Die Diffamierung dieser Wissensform als Teufelswerk und dämoni-
sche Magie vollzieht sich erst im Zuge jenes groß angelegten Feldzugs der Theo-
logen gegen den Aristotelismus im 13. Jahrhundert, der in der Pariser Ver-
urteilung von 1277 gipfelt. Die Unterscheidung zwischen einer magia naturalis
auf der einen Seite, die sich als Naturphilosophie und Praxis der Naturbe-
herrschung versteht, und einer magia daemoniaca auf der anderen Seite, die sich
dämonischer Hilfe bedient, ist eine späte Erscheinung. 13 Neben Marsilio Ficino
im dritten Buch seiner De vita libri tres wären Agrippa von Nettesheim mit seiner
Occulta philosophia und später Giambattista della Porta mit seiner Magia naturalis
(1558) prominente Beispiele für diese Ausdifferenzierung.
Problematisch ist zweitens die Unterscheidung zwischen einer sogenannten
Gelehrtenmagie und einer sogenannten volkstümlichen Magie, also der alltäg-
lich praktizierten Zauberei als einer ‚Volksfrömmigkeit‘. Mit letzterer wird etwa
an Abwehr- oder Schadenszauber, an Fluchformeln und Verhexungen gedacht,
an Liebeszauber genauso wie an das ganze Spektrum der im weitesten Sinne
‚medizinischen‘ Zauberei, vom Besprechen von Warzen bis zur Austreibung von
Dämonen bei psychischen Erkrankungen, schließlich an die Dämonenbeschwö-
rungen der Clavicula Salomonis oder des Arbatel. Neuere Studien haben zu zeigen
versucht, dass diesen Formen von ‚Volksfrömmigkeit‘ große Bedeutung zu-
kommt und dass es sich hier keinesfalls um marginale Formen von Religiosität
handelt. 14 Dabei ist allerdings zu bedenken, dass die Unterscheidung selbst seit
York 2007, der S. 26 die „Gelehrtenmagie“ als ein „extremes Minderheitenphänomen“ be-
zeichnet, das nicht mit der ‚Volksmagie‘ vermengt werden dürfe.
15 Vgl. Christoph Daxelmüller: Zauberpraktiken. Eine Ideengeschichte der Magie. Zürich 1993,
S. 74–94; sowie Richard Kieckhefer: Magie im Mittelalter. München 1995, S. 50–55.
16 Vgl. Daxelmüller: Zauberpraktiken (Anm. 15), S. 110–123, S. 97f.
17 Bernd Christian Otto: Magie. Rezeptions- und diskursgeschichtliche Analysen von der
Antike bis zur Neuzeit. Berlin 2011.
18 Vgl. dazu auch die Rezension von Wouter J. Hanegraaff in: Aries 14 (2014), S. 114–120, ins-
besondere S. 116f.
19 Vgl. den Unterabschnitt „Augustinus: Die Vollendung des Magiebegriffs als Ausgrenzungs-
kategorie“, S. 309–311.
sich derselbe Prozess auch unter dem Aspekt der Integration von Magie be-
schreiben. 20
20 Dies ist der Ansatz der Studie von Valerie I. J. Flint: The Rise of Magic in Early Medieval
Europe. Princeton 1991.
und Zauberei auf der einen und poetischen Darstellungsformen auf der anderen
Seite ändert sich bis in die Frühe Neuzeit hinein, ja bis in die Gegenwart kaum
etwas.
Ob es sich bei der spätantiken Vita des Zauberers und Magiers Apollonius
von Tyana, die Philostrat für den römischen Kaiserhof verfasste, um einen Ro-
man oder einen historischen Bericht behandelt, kann nur fragen, wer den grund-
sätzlichen exemplum-Charakter eines solchen Lebensberichts nicht in Betracht
zieht. Was für die Apollonius-Vita aus dem dritten Jahrhundert gilt, betrifft
genauso noch den berühmtesten Lebensbericht eines Zauberers und Magiers aus
der Frühen Neuzeit, die Historia von D. Johann Fausten. Die Liste ließe sich pro-
blemlos fortsetzen, angefangen von der Zauberin Kirke aus der Odyssee über die
Feengestalten der höfischen Literatur bis hin zu Tassos Armida und den Hexen
Shakespeares, weiter über die Hexenfiguren aus den Märchen der Brüder
Grimm bis hin zum Herr der Ringe oder Harry Potter.
Die Beispiele zeigen, wie eng Artikulation und Transfer magischen Wissens
an poetische Ausdrucksmuster gebunden sind, ja von ihnen, wie in den Zauber-
formeln, mitunter gar nicht gelöst werden können. Außerdem wird magisches
Wissen in vielgestaltiger Weise in literarische Texte im eigentlichen Sinne aufge-
nommen. Angesichts der immer schon poetischen Form magischen Wissens
kann man hier – in Anlehnung an ein Wort Gérard Genettes – von Magie auf
zweiter Stufe sprechen. 21 Magische Phänomene bilden ein großes Reservoir für
literarische Texte. Sie werden in die Literatur allerdings in der Regel in stark
veränderter Form aufgenommen und zeigen sich hier beispielsweise als das
Wunderbare. Eine der größten Kontroversen um Elemente von Magie in der
Literatur lautet dabei, ob magisches Wissen als solches aufgefasst oder litera-
risch dergestalt rekontextualisiert und metaphorisch verschoben wird, dass es
zu einem spezifischen Ausdrucksmedium, beispielsweise für psychologische
Zustände, wird. Die intensive literaturwissenschaftliche Diskussion um den
Status des ‚Liebestranks‘ in der Geschichte von Tristan und Isolde steht im Zei-
chen genau dieser Frage: 22 Der Umstand, dass dieser Trank auf der Ebene der
Diegese ursächlich für die Liebe ist, lässt sich eigentlich nicht übersehen. Ange-
sichts der hoch elaborierten Form dieser sogenannten Tristanminne fiel es der
Forschung jedoch schwer, diesen ‚banalen‘ Umstand, der ebenso gut eine andere
Paarkonstellation hätte treffen können – und dafür ja auch ursprünglich vorge-
sehen war – anzuerkennen. In der Abwertung des magischen Mittels spielen
auch wissenschaftsgeschichtliche Entwicklungen, wie die Annahme eines dia-
chronen Paradigmenwechsels von der Magie über die Religion zur Wissenschaft
oder die Vorstellung einer sukzessiven ‚Entzauberung der Welt‘, die man heute
21 Vgl. Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt a.M. 2001.
22 Einen Überblick über die Forschung bieten: Tomas Tomasek: Gottfried von Straßburg. Stutt-
gart 2007, S. 195–204; Christoph Huber: Gottfried von Straßburg: Tristan. 3., neu bearbeitete
und erweiterte Aufl. Berlin 2013, S. 90f.
23 Vgl. Jan-Dirk Müller: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik. Tübingen
2007, S. 418–478, hier S. 420.
24 Vgl. Klaus W. Hempfer: Art. Schreibweise2. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissen-
schaft Bd. 3. Hrsg. von Jan-Dirk Müller u.a. Berlin, New York 2003, S. 391–393; sowie ders.:
Gattungstheorie. Information und Synthese. München 1973, S. 27.
einhergehen kann. Der poetischen Form können dabei selbst dämonische und
‚bezaubernde‘ Wirkungen zugeschrieben werden.
Die supponierte Macht des magischen Wissens ist dafür verantwortlich, dass
im Mittelalter der Besitz magischer Bücher im Allgemeinen verboten ist. Diese
Restriktionen machen die statistische Auswertung von mittelalterlichen Biblio-
thekskatalogen und wissenssystematisierenden Schriften, wie sie Frank Fürbeth
unternimmt, für den gegebenen Zusammenhang interessant. Johann Hartliebs
puch aller verpotten kunst (1456) zeigt gleichsam mit einer Auflistung verbotener
Bücher, was man alles hätte besitzen können. Die Analyse der Kataloge mittelal-
terlicher Bibliotheken bietet dagegen ein ganz anderes Bild: Kaum eines dieser
Werke ist dort verzeichnet. Wenn ausgerechnet das als besonders gefährlich
geltende Buch Picatrix in keiner anderen Bibliothek als in der Kaiser Maximili-
ans I. zu finden ist, dürfte dies darauf zurückzuführen sein, dass der Kaiser
wohl der einzige war, der durch den Besitz dieses Buches keine Verfolgung zu
befürchten hatte.
Tobias Bulang nimmt in seinem Beitrag die Forschungskontroverse um die
Frage auf, ob es sich bei Johann Fischart um einen überzeugten Alchemiker han-
delt oder seine Editionen alchemischer Schriften stattdessen vor allem auf kom-
merziellen Erfolg angelegt sind. Gegen solche einander ausschließende Opposi-
tionen zeigt Bulang, dass Fischarts Auseinandersetzung mit der Alchemie
gleichermaßen durch wissensvermittelnde, dämonisierende und satirisch-paro-
distische Schreibweisen gekennzeichnet sind, die auf frühneuzeitliche Pluralisie-
rungsphänomene verweisen und damit verschiedene und auf den ersten Blick
gegensätzliche Wissens- und Darstellungsformen in den Schriften eines Autors
vereinen. In diesem Sinne könnte Fischart gleichzeitig an der Begründung einer
deutschen Fachsprache arbeiten und sich über die Dunkelheit der alchemischen
Sprache lustig machen, ohne dass zwischen beidem ein Widerspruch entstehen
müsste.
Dass Magie und Alchemie im 16. Jahrhundert noch an tradierte Wissens-
ordnungen gebunden bleiben, ist zentrale These des Beitrags von Marina
Münkler. Sie versteht den Magier und den Alchemisten als ‚epistemische Figura-
tionen‘, die diskursive Praktiken verkörpern. Beide fungieren dabei als Reprä-
sentanten der Naturbeherrschung: Der Magier bemüht sich um die Beherr-
schung der Geister, der Alchemist um die der Elemente. Doch gründen beide ihr
Wissen auf eine Konzeption von Erfahrung, die sich im Spannungsfeld von expe-
rientia und experimentum verorten lässt. Mit diesem Erfahrungsbegriff deutet die
Alchemie des 16. Jahrhunderts nach Auffassung von Münkler nicht auf einen
epistemischen Bruch, sondern erweist sich als Teil einer vormodernen ‚Episteme
der Ähnlichkeit‘ im Sinne Foucaults.
Volkhard Wels betont in seinem Beitrag dagegen gerade den handwerklichen
Charakter des alchemischen Wissens, dessen Arkansprache vor allem dem
Schutz eines unmittelbar ökonomisch relevanten Wissens diente. Diese Arkan-
sprache verliere allerdings in der Frühen Neuzeit zusehends ihre fachsprach-
liche Relevanz und gewinne ein poetisches Eigenleben, das auf die Faszinations-
kraft der alchemischen Bildlichkeit zurückgeht. Gleichzeitig entsteht in der Frü-
hen Neuzeit eine chemische Fachsprache, die ausdrücklich auf Metaphern und
Allegorien verzichtet. Wels zeigt an diesen Verschiebungen, welche Erkennt-
nisse eine Wissensgeschichte der frühneuzeitlichen Alchemie für die Genese der
spezifisch modernen Begriffe von Wissenschaft und Dichtung erbringen kann.
Poetische Funktionen der alchemischen Arkansprache schon in der Frühen
Neuzeit stehen auch im Mittelpunkt des Beitrags von Stefanie Stockhorst zum
Philosophischen Phoenix (1638) von Johann Rist. Anweisungen zur praktischen
Alchemie und deren Labortechnik verknüpft Rist mit poetischen Bildern und
inszeniert so eine Konkurrenz von alchemischem und theologischem Wissen.
Rist gibt den mit der Laboralchemie verbundenen Aufwand der Lächerlichkeit
preis und stellt stattdessen die Gedankenarbeit als Tugend eines guten Christen
in den Vordergrund. Die kontemplative Betrachtung der Natur führt effektiver
als die Alchemie zur Erkenntnis der Natur als einer Schöpfung Gottes.
Jost Eickmeyer geht auf Formen des Umgangs mit Hexen und Zauberei in
der neulateinischen Dichtung ein. Dabei fällt an erster Stelle auf, dass – trotz
antiker Vorbilder – das Hexenwesen kaum thematisiert wird und dass von den
antiken Vorbildern zum zeitgenössischen Hexenwesen kaum eine Brücke ge-
schlagen wird. Während Conrad Celtis mit Zauberei und Hexerei spöttisch-
ironisch umgeht und Paul Schede Melissus aus der Perspektive des Opfers die
Zauberei verwünscht, zeigt sich bei dem Jesuiten Johannes Bisselius, wie dieser
als militant-konformer Verfechter der institutionellen Hexenverfolgung die
Dichtung als Warnung vor dem zauberischen Unwesen instrumentalisiert.
In seinem Aufsatz zu Grimmelshausens Wunderbarlichem Vogel-Nest (1672/75)
geht Simon Zeisberg von einer Bestimmung des Wunderbaren im frühneuzeit-
lichen Wissenszusammenhang aus, die Lorraine Daston vorgenommen hat. Das
Wunderbare liegt nach Daston in der Frühen Neuzeit zwischen dem naturphilo-
sophisch Zugänglichen und dem Übernatürlichen im christlichen Sinne, in ei-
nem Bereich, der stetig wächst und der häufig mit Magie und anderen obskuren
Praktiken in Verbindung gebracht wird. Grimmelshausens unsichtbar machen-
des Vogelnest ist an diesem Ort zu situieren, und es erhält die Funktion, auf den
literarischen Status des Textes zu reflektieren. Von besonderer Bedeutung hier-
für ist das Verfahren der Paradoxie im Rahmen der satirischen Schreibweise des
Romans.
Der Beitrag von Michael Lorber führt wieder zur Alchemie zurück. Er zeigt
am Beispiel von Johann Joachim Becher, wie die Alchemie in der zweiten Hälfte
des 17. Jahrhunderts die Abgeschlossenheit des Labors überwindet und in die
politische Öffentlichkeit tritt. Mit seinen zahlreichen Projekten liefert Becher
einerseits wichtige und anschlussfähige Impulse für die funktionelle Ausdiffe-
renzierung von Wissen in moderne Einzeldisziplinen, andererseits bleibt er in
seinen Schriften einem universalwissenschaftlichen Reformdenken verpflichtet.
Insbesondere die sozialutopischen Aspekte speisen sich dabei, trotz aller Mo-
Bis auf den Beitrag von Antje Wittstock gehen alle hier versammelten Aufsätze
auf die Vorträge zurück, die auf der Berliner Tagung gehalten worden sind. Die
Herausgeber haben sehr von der konstruktiven Zusammenarbeit mit den Auto-
rinnen und Autoren profitiert, die nicht zuletzt einen relativ zügigen Abschluss
des Manuskripts ermöglicht hat. Der SFB 980 hat durch finanzielle und personel-
le Unterstützung die Veranstaltung der Tagung ebenso wie die Veröffentlichung
der Beiträge ermöglicht. Eine besondere Freude ist uns in diesem Zusammen-
hang, den zweiten Band zur neu gegründeten Schriftenreihe „Episteme in Be-
wegung. Beiträge zu einer transdisziplinären Wissensgeschichte“ des SFB bei-
steuern zu dürfen. Bei der Vorbereitung der Tagung konnten wir auf die tatkräf-
tige Hilfe von Sylwia Bräuer zurückgreifen, für die Herstellung des Satzes auf
das Können von Rebecca Pruß. Ihnen allen sei an dieser Stelle sehr herzlich ge-
dankt.
1 Vgl. zum Problem Peter Pilhofer: Presbyteron Kreitton. Der Altersbeweis der jüdischen und
christlichen Apologeten und seine Vorgeschichte. Tübingen 1990.
2 Philon: De aeternitate mundi 7–19, insbes. 19: μακροῖς δὲ χρόνοις πρότερον ὁ τῶν Ἰουδαίων
νομοθέτης Μωϋσῆς γενητὸν καὶ ἄφθαρτον ἔφη τὸν κόσμον ἐν ἱεραῖς βίβλοις. Zit. aus: Phi-
lonis Alexandrini opera quae supersunt, Bd. 6. Hrsg. von Leopoldus Cohn und Sigofredus
Reiter. Berlin 1915, S. 78. – In diesem Beitrag wird bei bloßen Angaben griechischer und la-
teinischer Textstellen die für den jeweiligen Text gängige Zitierweise verwendet. Einer in-
terdisziplinären Leserschaft Rechnung tragend, werden bei längeren Zitaten zudem die be-
nutzten Ausgaben und Übersetzungen (sofern letztere nicht von der Verf. stammen) ver-
merkt und bei Fragmenten die Ausgaben genannt, in denen sie sich finden.
3 Justin: Dialogus cum Tryphone 3,1–8,2 (Zitate aus 7,1 und 8,1). Zit. aus: Justin: Dialog mit
dem Juden Tryphon. Übers. von Philipp Haeuser. Neu hrsg. von Katharina Greschat nach
der Ausg. Kempten 1917. Wiesbaden 2005, S. 11–13.
sehen oder verschweigen häufig, dass es keine lebenden Kulturen gibt, die sich
nicht wandelten, und Wandel zu den natürlichen Bedingungen auch jeder leben-
den Wissenskultur gehört. Wissen ist, wie u.a. Thomas Luckmann in Anknüp-
fung an Alfred Schütz dargestellt hat, wesentlich sozial vermittelt. 4 Es wird in
einer Triangulation von Akteur (Einzelnen, Gruppen, Institutionen), Objekt
(Gegenstand des Wissens, materieller Kultur, Texten, Medien) und Umwelt bzw.
Kontext (sozial, politisch, religiös; physisch/materiell, mental/ intellektuell) ge-
wonnen und verteilt. 5 Als das, was in einer bestimmten Gesellschaft als Wissen
gilt, ist es immer an Kommunikation gebunden und erfährt mit jedem neuen
Wissensträger, ob personal oder apersonal, kleinere oder größere, unmerkliche
oder deutlich sichtbare Veränderungen, die durch Wechselwirkungen zwischen
den involvierten Parteien der sozialen Vermittlung (Akteuren, Gruppen, Institu-
tionen, Kulturen) bedingt sind. 6 Der Bestand lebender Wissenskulturen ist mit-
hin immer in Bewegung und relational. Er wird in vielfältigen Beziehungen
zwischen Akteur, Objekt, Kontext und Umwelt konstituiert und kommuniziert,
simplifiziert und differenziert, de- und neukontextualisiert und im Zuge sowie
infolge seines Transfers in verschiedenen Zusammenhängen diversifiziert. Folg-
lich ist immer dort, wo es um Wissensbestände geht, die dem Anspruch nach
lang überliefert sind, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass Transferprozes-
se zu nicht unerheblichem Wandel von Wissen geführt haben und die Person
oder Gestalt, die als Stifter bzw. Archeget vorliegender Wissensbestände gilt, in-
haltlich nur wenig oder gar nichts mit diesen zu tun hat. Ein solcher Ansatz
freilich steht der im Eingangssatz beschriebenen Strategie entgegen, mit dem
Rekurs auf das hohe Alter von Wissensbeständen auch deren Stabilität zu be-
haupten und auf diese Weise Zweifel an ihrer Geltung auszuräumen.
Pythagoras von Samos, der im 6. Jahrhundert v. Chr. eine Lebensgemein-
schaft in Kroton gründete und nach Umsiedlung innerhalb Süditaliens in Meta-
pont gestorben sein soll, ist eine antike Gestalt, die bis heute als altehrwürdige
Vergangenheitsreferenz zum Zwecke der Legitimierung, Authentifizierung und
Autorisierung verschiedenster Wissensformen und -bestände aufgerufen wird.
Er selbst, seine Schüler und Anhänger sowie die auf ihn zurückgeführten Lehren
sind für die Frage nach Wissensbewegungen in vormodernen Kulturen von
besonderem Wert: Das dem Samier zugerechnete Wissen, das schon in der Anti-
4 Vgl. Thomas Luckmann: Wissen und Gesellschaft. Ausgewählte Aufsätze 1981–2002. Hrsg.,
teilw. übers. und eingeleitet von Hubert Knoblauch. Konstanz 2002.
5 Vgl. hierzu z.B. Günter Abel: Knowledge Research: Extending and Revising Epistemology.
In: Rethinking Epistemology, Bd. 1. Hrsg. von Günter Abel und James Conant. Berlin, Bos-
ton 2012, S. 1–52.
6 Eine wesentliche Rolle spielen hierbei Prozesse der Professionalisierung, in denen Wissens-
formen und -bestände verschiedentlich institutionell spezialisiert und sozial auf sehr unter-
schiedliche Weise verteilt werden. Vgl. hierzu z.B. Hubert Knoblauch: Wissensstruktur und
Sozialstruktur: Die soziale Verteilung des Wissens. In ders.: Wissenssoziologie. Konstanz
2005, S. 285–301.
ke mit dem Gütesiegel der Anciennität versehen wurde, hat im Zuge räumlicher
und zeitlicher Transferprozesse zahlreiche Veränderungen erfahren – nicht nur
innerhalb des antiken Pythagoreismus vom 6. bis zum 4. Jahrhundert v. Chr.,
sondern auch nach dessen Schwinden, zumal seit dem Entstehen des Neupytha-
goreismus im 1. Jahrhundert v. Chr., sowie von der griechischen Spätantike in
das arabische Mittelalter hinein. An diesen zahlreichen Prozessen, die sich über
kürzere und längere, teils mehrere Jahrhunderte umfassende Zeiträume er-
streckten und verschiedene geographische Räume einschlossen, waren Transfers
in vielfältige soziale und kulturelle Zusammenhänge beteiligt: Vermittlungen in
verschiedene Sprachen und Denkweisen, Argumentationszusammenhänge und
Bildungskonzeptionen, soziale Zusammenschlüsse und Institutionen sowie
Text- und Kunstgattungen, nicht zuletzt in solche, die magisches und alchemi-
sches Wissen beinhalteten.
Ergebnis dieser komplexen sozial vermittelten Bewegungen in unterschied-
liche Medien, Kontexte und Umwelten hinein ist eine immense Diversität und
Pluralität von Wissensbeständen, die auf Pythagoras bezogen sind. Seit der Anti-
ke wurde immer wieder versucht, sie durch systematisierende Darstellungen
epistemisch zu ordnen und zu sichern. Zugleich kam es, unter Bildung immer
neuer Relationen zwischen Akteuren, Objekten und Kontexten, zu weiteren
Aneignungen und Umformungen, Erweiterungen und Erfindungen. Bis in die
Gegenwart hinein werden Pythagoras und der Pythagoreismus, werden Seelen-
lehre und Lebensvorschriften, Kosmologie, Musik und Zahlenlehre von zahllo-
sen individuellen und überindividuellen Akteuren in einer Fülle von Darstel-
lungsmodi und -medien thematisiert, in Literatur, Kunst und Musik, in Philoso-
phie und Wissenschaften, sowie in Okkultismus und Esoterik. 7 Häufig geschieht
dies gerade dort, wo wir es mit Fälschungen alten Wissens, Erfindungen oder
Veränderungen bis zur Unkenntlichkeit zu tun haben, unter Verweis auf die
Anciennität und/oder Divinität von Pythagoras’ Person und Lehrinhalten und
den Verweis auf seine Ipse-dixit-Autorität (griech. αὐτὸς ἔφα: „Er selbst [Pytha-
goras] hat es gesagt“ 8).
7 Ein Überblick findet sich in Almut-Barbara Renger und Roland Alexander Ißler: Pythagoras.
In: Historische Gestalten der Antike. Rezeption in Literatur, Kunst und Musik (Der Neue
Pauly, Supplemente 8). Hrsg. von Peter von Möllendorff, Annette Simonis und Linda Simo-
nis. Stuttgart 2013, Sp. 798–818. – Drei Beispiele für rezente esoterisierende Funktionalisie-
rungen des Pythagoras finden sich unten (in der Schlussbemerkung) in Anm. 136.
8 Antike Belege sind zusammengestellt in M. Tulli Ciceronis de natura deorum liber primus.
Hrsg. von Arthur Stanley Pease. Cambridge (Mass.) 1955, S. 149–150. – Nicht selten ist es ge-
rade diese Ipse-dixit-Autorität des Pythagoras, die in „invented traditions“ im Sinne Hobs-
bawms und Rangers aufgerufen wird: in „erfundenen Traditionen“, die Akteure in ihrer je-
weiligen Gegenwart unter Rückprojizierung in die Vergangenheit konstruiert haben, um die
dargestellten Inhalte und an sie gebundene Werte und Normen zu legitimieren und zu fes-
tigen. Zum Konzept siehe Eric Hobsbawm und Terence Ranger: The Invention of Tradition.
Cambridge 1992.
9 So insbesondere Peter Kingsley: From Pythagoras to the Turba philosophorum: Egypt and
the Pythagorean Tradition. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 57 (1994),
S. 1–15; ders.: Ancient Philosophy, Mystery, and Magic. Empedocles and the Pythagorean
Tradition. Oxford 1995, S. 233–391; ders.: A Story Waiting to Pierce You: Mongolia, Tibet
and the Destiny of the Western World. Point Reyes, CA 2010 (in diesem jüngsten Werk
Kingsleys führen die esoterischen Wege der Überlieferung u.a. bis in die Mongolei). Kings-
ley betrachtet es, wie seiner Homepage zu entnehmen ist, als seine „Lebensaufgabe“, die
„besondere mystische Tradition wieder zum Leben zu erwecken und zugänglich zu ma-
chen, die vergessen direkt an den Wurzeln unserer modernen, westlichen Welt“ liege. Diese
„in ihrer Unmittelbarkeit und Direktheit“ „ungemein stark[e]“, Tradition sei „vor Tausen-
den von Jahren“ als „Methode“ entwickelt worden, „die Erfahrung der Wirklichkeit zu er-
möglichen“. Sie bedeute „für uns heute mehr, als wir uns vorstellen können“, denn sie ent-
halte in sich „das Geheimnis – die ursprüngliche Bedeutung und den heiligen Zweck – der
Welt, in der wir leben“. Siehe https://www.peterkingsley.org/deutsch.cfm (01.07.2014).
10 Vgl. hierzu z.B. Hartmut Bergenthum: Geschichtswissenschaft und Erinnerungskulturen.
Bemerkungen zur neueren Theoriedebatte. In: Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur
z.B. Gregor Staab: Pythagoras in der Spätantike. Studien zu De Vita Pythagorica des Iambli-
chos von Chalkis. München 2002, S. 217–237.
12 Vgl. hierzu z.B. Gotthard Strohmaier: Antike Naturwissenschaft in orientalischem Gewand.
Trier 2007.
13 Vgl. hierzu z.B. Charles H. Kahn: Pythagoras and the Pythagoreans: A Brief History. Indi-
anapolis 2001, S. 63–71; Christoph Riedweg: Pythagoras. Leben, Lehre, Nachwirkung. Mün-
chen 22007 (12002), S. 152–157; Detlef Thiel: Die Philosophie des Xenokrates im Kontext der
Alten Akademie. München 2006, S. 31–136; Carl Huffman: Plato and the Pythagoreans. In:
On Pythagoreanism. Hrsg. von Gabriele Cornelli, Richard McKirahan und Constantinos
Macris. Berlin 2013, S. 237–270.
14 Heraklit bei Diogenes Laertios: Vitae et sententiae philosophorum 8,6: Πυθαγόρης Μνησάρχου
ἱστορίην ἤσκησεν ἀνθρώπων μάλιστα πάντων καὶ ἐκλεξάμενος ταύτας τὰς συγγραφὰς ἐποιήσατο
ἑαυτοῦ σοφίην, πολυμαθίην, κακοτεχνίην. Zit. aus: Hermann Diels und Walther Kranz: Die
Fragmente der Vorsokratiker. Berlin 1901 (hinfort abgekürzt: DK), 22 B 129. Übers. von Lau-
ra Gemelli Marciano: Die Vorsokratiker, Bd. 1. Düsseldorf 2007, S. 293: „Pythagoras, der
Sohn des Mnesarchos, hat von allen Menschen am meisten Forschung getrieben; und indem
er eine Auswahl aus diesen Schriften machte, schuf er sich seine eigene Weisheit, Vielwisse-
rei, Betrügerei.“
kam seit dem Hellenismus eine reiche Pseudepigraphie – echte Fragmente der
Pythagoreer Philolaos und Archytas sind hiervon zu unterscheiden –, die vor-
gibt, auf Pythagoras oder seinen Schülerkreis zurückzugehen; sie erschwerte
eine Trennung von ursprünglichen Lehrinhalten des Pythagoras, Auffassungen
von Pythagoreern und Fremdzuschreibungen durch Außenstehende zusätz-
lich. 15
In der Kaiserzeit schließlich, nachdem es zu einer Erneuerung des Pythago-
reismus durch die Römer gekommen war, 16 erfolgte in verherrlichenden Darstel-
lungen eine systematische Ausschmückung des Lebens und Wirkens Pythago-
ras’ in idealisierend-anekdotischer Form; etwa bei Diogenes Laertios, 17 bei
Porphyrios in der einzig erhaltenen Vita aus seiner Philosophiegeschichte, worin
Pythagoras porträtiert wurde, 18 und in der Darstellung der pythagoreischen
Lebensform des Jamblich, 19 der mit Porphyrios in engem Kontakt stand und mit
ihm aus gemeinsamen Quellen schöpfte (z.B. aus Nikomachos’ Schrift über Py-
thagoras und den Pythagoreismus). Eine wirkmächtige Ausgestaltung erfuhr in
diesen Texten die Verbindung rational-wissenschaftlicher mit religiösen Aspek-
ten, die schon Aristoteles dem Samier unter Verweis auf den Mythographen und
Kosmologen Pherekydes von Syros, der als ein Lehrer Pythagoras’ gilt, beschei-
nigt hatte: „Pythagoras, der Sohn des Mnesarchos, erarbeitete sich zuerst die
Wissenschaften und die Zahlen (Πυθαγόρας Μνησάρχου υἱὸς τὸ μὲν πρῶτον
διεπονεῖτο περὶ τὰ μαθήματα καὶ τοὺς ἀριθμούς)“, „konnte sich aber dann
nicht der Wundertätigkeit des Pherekydes enthalten (ὕστερον δέ ποτε καὶ τῆς
Φερεκύδου τερατοποιίας οὐκ ἀπέστη)“. 20 In der Folge kam es zu massiven Be-
15 Vgl. hierzu u.a. Walter Burkert: Hellenistische Pseudopythagorica. In: Philologus 105 (1961),
S. 16–43, 226–246; Holger Thesleff: An Introduction to the Pythagorean Writings of the Hel-
lenistic Period. Åbo 1961; ders.: The Pythagorean Texts of the Hellenistic Period. Åbo 1965;
Walter Burkert: Zur geistesgeschichtlichen Einordnung einiger Pseudopythagorica. In: En-
tretiens sur l’antiquité classique 18 (1972): Pseudepigrapha I, S. 23–55; Bruno Centrone: In-
troduzione a I Pitagorici. Rom 1996, S. 148–163; Kahn: Pythagoras and the Pythagoreans
(Anm. 13), S. 74–79.
16 Cicero: Timaeus 1 behauptet, Publius Nigidius Figulus habe im 1. Jahrhundert v. Chr. „die
erloschene Lehrtradition (disciplina extincta)“ der alten Pythagoreer, die „über Jahrhunderte
in Italien und Sizilien in Blüte gestanden (aliquot saecla in Italia Siciliaque viguisset)“ habe,
„erneuert (renovaret)“. Zit. aus: M. Tulli Ciceronis scripta quae manserunt omnia. Fasc. 46 De
divinatione/ De fato/ Timaeus. Hrsg. von Wilhelm Ax. Stuttgart 21965, S. 154–155. Dies
schließt, ohne dass zuverlässig von einer durchgängigen Weiterführung der Tradition nach
dem 4. Jahrhundert v. Chr. gesprochen werden könnte, vereinzelte Aktivitäten in Italien im
3. und 2. Jahrhundert v. Chr. nicht aus; vgl. hierzu z.B. Cornelia J. de Vogel: Pythagoras and
Early Pythagoreanism. Assen 1966, S. 28–51.
17 Diogenes Laertios: Vitae et sententiae philosophorum 8,1.
18 Porphyrios: Vita Pythagorae.
19 Jamblich: De vita Pythagorica.
20 Aristoteles: Fr. 191 Rose. In: Aristotelis qui ferebantur librorum fragmenta. Hrsg. von Valen-
tinus Rose. Stuttgart 1968, S. 153. Dem Pherekydes wurden zahlreiche Wunder, wie etwa
das Vorhersagen eines Erdbebens, eines Schiffbruchs und der Einnahme von Messene, zu-
sen. Von gelegentlicher Kritik und Diffamierung seiner Person als Schwindler
oder Scharlatan 23 abgesehen, genießt Pythagoras in dieser Position durch die
Jahrhunderte hindurch große Anerkennung.
Schon die antike Philosophiegeschichte und Doxographie vermittelt ein sol-
ches Bild. Das Beispiel von Diogenes Laertios’ Zusammenstellung Leben und
Lehren der Philosophen ist geeignet, dies exemplarisch zu verdeutlichen. Diogenes
schreibt dem Pythagoras im Proöm unter Berufung auf den Platonschüler Hera-
kleides Pontikos 24 zu, sich „als erster (πρῶτος)“ „einen Philosophen (φιλόσο-
φον)“ genannt und der „Philosophie ([ebenfalls im Akk.] φιλοσοφίαν)“ ihren
Namen gegeben zu haben. 25 Am Beginn von Buch 8 stellt Diogenes den Samier
zudem der italischen Philosophie, deren Sukzession in Epikur ihren letzten Ver-
treter findet, als Begründer voran. Sie habe mit Pythagoras „begonnen“ (ἦρξε),
„der nach Hermipp Sohn des Graveurs Mnesarchos aus Samos war.“ 26
Auch der Neuplatonismus, mit dem sich u.a. die pythagoreische Lehre von
den Zahlen als Prinzipien des Seienden und dem Einen als dem Urgrund ver-
band, wollte Pythagoras als Stiftergestalt verstanden wissen. Die Vitentradition,
die von Porphyrios ausgeht, macht eine ungebrochene Sukzession von Pythago-
ras als Archegeten der Philosophie über Platon bis hin zu Plotin und dessen
Nachfolgern geltend und stellt den Samier dabei als nachahmenswertes Ideal-
bild eines Philosophen dar. 27 Jamblich geht besonders weit. Im Proöm seiner
Darstellung des pythagoreischen Lebens erklärt er die pythagoreische Philo-
sophie als eine Gabe „von den Göttern (ἐκ θεῶν)“ und Pythagoras, ihren „Stifter
(ἀρχηγόν)“ und „Vater (πατέρα)“, zum „Leiter (ἡγεμόνα)“ seines Unterfangens,
diese göttliche Weisheit zu vermitteln. 28
Verweise auf spezifisches Wissen und Können unterstreichen diese Zurech-
nungen von Anciennität und Divinität. So galt Pythagoras als Meister psycho-
physischer Reinigungsmethoden und Übungen zur Steigerung mentaler Kapazi-
tät und Erkenntnisfähigkeit, die auf medizinisch-diätetischem und magisch-
rituellem Wissen beruhten und mit zahlreichen Ge- und Verboten verbunden
waren. 29 Zudem wurde er als Erfinder der Tetraktys und der Musik(theorie)
30 Zur Tetraktys siehe z.B. Jamblich: De vita Pythagorica 150; zur Musik siehe schon Xenokra-
tes: Frg. 9. In: Richard Heinze: Xenokrates. Darstellung der Lehre und Sammlung der Frag-
mente. Leipzig 1892.
31 Z.B. in Nikomachos von Gerasa: Encheiridion 6; Jamblich: De vita Pythagorica 115–121.
32 Siehe z.B. Nikomachos von Gerasa: Frg. 1. In: Die Fragmente der griechischen Historiker
(hinfort abgekürzt: FGrHist). Hrsg. von Felix Jacoby. Leiden 1923–1999, N. 1063; Porphyrios:
Vita Pythagorae 30–31; Jamblich: De vita Pythagorica 65.
33 Siehe Boethius: De institutione arithmetica 1,1.
34 Quellenangaben zu den Reisen finden sich u.a. in Eduard Zeller: Die Philosophie der Grie-
chen in ihrer geschichtlichen Entwicklung, I,1: Allgemeine Einleitung. Leipzig 1919, S. 381–
392; Armand Delatte: La Vie de Pythagore de Diogène Laërce. Édition critique avec intro-
duction & commentaire. Brüssel 1922, S. 150–154 (unter Bezug auf S. 104–106); Theodor
Hopfner: Orient und griechische Philosophie. Leipzig 1925, S. 3–6, 11–13; Isidore Lévy: Re-
cherches sur les sources de la légende de Pythagore. Paris 1927, S. 20–26; Peter Gorman: Py-
thagoras: A Life. London 1979, S. 43–68; Riedweg: Pythagoras (Anm. 13), S. 20–21; Leonid
Zhmud: Pythagoras and the Early Pythagoreans. Oxford 2012, S. 83–91.
35 Siehe etwa, um nur einige Beispiele anzuführen, Diodoros von Eretria: Frg. 1. In: FGrHist,
N. 1103; Aristoxenos: Frg. 13. In: Fritz Wehrli: Aristoxenos. Basel 1945; Hermippos von
Smyrne: Frg. 21. In: FGrHist, N. 1026; Valerius Maximus: Factorum et dictorum memorabili-
um 8,7; Flavius Philostratos: Vita Apollonii 8,7; Diogenes Laertios: Vitae et sententiae philo-
sophorum 8,2–3; Porphyrios: Vita Pythagorae 6; 11–12; Jamblich: De vita Pythagorica 19;
151; 154; Lactantius: Divinarum Institutionum 1,2; Eusebios: Praeparatio Evangelica 10,4.
36 Vgl. zur Thematik z.B. Franz Rosenthal: Das Fortleben der Antike im Islam. Zürich 1965
(engl.: The Classical Heritage in Islam. London 1975, neu aufgelegt 1994 bei Routledge, Ara-
bic Thought and Culture); John Freely: Platon in Bagdad. Wie das Wissen der Antike zurück
nach Europa kam. Stuttgart 2012.
37 Vgl. hierzu insbes. Walter Burkert: The Orientalizing Revolution. Near Eastern Influence on
Greek Culture in the Early Archaic Age. Cambridge (Mass.) 1992; ders.: Die Griechen und
der Orient. Von Homer bis zu den Magiern. München 2003; Martin L. West: The East Face of
Helicon. West Asiatic Elements in Greek Poetry and Myth. Oxford 1997; Robert Rollinger:
Antikes Griechenland und Alter Orient. Historisch-kritische Untersuchungen zur Interak-
tion der beiden Kulturräume mit besonderer Berücksichtigung der Zeit vom 8. bis zum 5.
Jahrhundert v. Chr. Innsbruck 1999 (Habilitationsschrift).
38 Vgl. hierzu z.B. Udo Reinhold Jeck: Platonica Orientalia. Aufdeckung einer philosophischen
Tradition. Frankfurt a.M. 2004, S. 19–171.
39 Vgl. hierzu z.B. Christian Froidefond: Le Mirage égyptien dans la littérature grecque d’Ho-
mère à Aristote. Aix-en-Provence 1971. Für die Haltung Herodots gegenüber Ägypten siehe
Joseph Vogt: Herodot in Ägypten. Ein Kapitel zum griechischen Kulturbewusstsein. Stutt-
gart 1929.
Historica. 41 Diodor referiert darin mehrfach, unter Berufung auf die (Bücher der)
„Priester der Ägypter (ἱερεῖς τῶν Αἰγυπτίων)“ (1,96), auf Pythagoras’ Ägypten-
reise. 42 Er reiht den Samier in den Kreis der Einsichtsvollsten und Gebildetsten
unter den Griechen ein: in eine Riege altehrwürdiger Gestalten wie Orpheus,
Musäus, Melampus und Dädalus, Homer und Lykurg von Sparta, Solon, Demo-
krit und Platon. Sie alle seien eifrig darum bemüht gewesen, „zwecks Teilhabe
an dortigen Gebräuchen und Bildungsgut (ἵνα τῶν ἐνταῦθα νομίμων καὶ τῆς
παιδείας μετάσχωσιν)“ nach Ägypten zu reisen – obwohl „das Land einstmals
für Fremde schwer zugänglich (τῆς χώρας τὸ παλαιὸν δυσεπιβάτου τοῖς ξένοις
οὔσης)“ gewesen sei. 43
In den anekdotisch-idealisierenden Lebensdarstellungen des Pythagoras, wie
sie aus der Kaiserzeit, beispielhaft von Diogenes Laertios, Porphyrios und Jam-
blich, erhalten sind (vgl. im Übrigen auch die Fragmente der Pythagorasvita des
Apollonios von Tyana, Zuschreibung umstritten 44), kommt die Reisetopik zu
einer besonderen Entfaltung. Das Wissen des Pythagoras, den schon der konge-
niale Empedokles als „Mann von überragendem Wissen (ἀνὴρ περιώσια εἰδώς)“
beschrieb, 45 erscheint hier deswegen als überragend, weil es das Ergebnis kom-
plexer grenzüberschreitender Transferprozesse ist, die mehr als geographischer
Art sind: Sie schließen verschiedene Formen der Überwindung, Aufhebung oder
Verschiebung religiöser, kultureller und gesellschaftlicher Barrieren und Gren-
zen ein, so auch die sozialer Ordnungen der Wissensvermittlung. Diese Markie-
rung des Über-Hinaus erfolgt qua Ausschmückung früherer Quellen, denen
zufolge Pythagoras in der Fremde der Einweihung und Unterweisung durch
besondere Spezialisten auf den Gebieten von Religion, Philosophie und Wissen-
schaft teilhaftig wurde: In die Texte eingetragen wird ein Sonderstatus des Py-
thagoras, der impliziert, dass es sich bei seinem Wissen um exklusives Wissen
handelte, das von den Spezialisten, die über es verfügten, eigentlich nur inner-
halb der Sozial- und Organisationsstrukturen ihrer Kulturen, in denen sie wirk-
ten, und in diesen nur an sehr wenige weitergegeben wurde.
Mit besonderem Nachdruck hebt die Schwierigkeit des Wissenserwerbs in
der Fremde Porphyrios hervor. Für den neuplatonischen Philosophen und Ge-
lehrten gehörte der weitläufig gebildete Pythagoras zu den großen Autoritätsfi-
guren der Vergangenheit, die ein besonderes Verhältnis zu Logos und Wahrheit
hatten. Auf Pythagoras’ Orientreisen geht er in den Kapiteln 6–8 ein, in denen er
die Herkunft der Lehrinhalte erläutert. Bei Ägyptern, Chaldäern und Phönikern
habe Pythagoras sich gründlich Wissenschaften „aus alten Zeiten (ἐκ παλαιῶν
χρόνων)“ angeeignet, bei den Magiern Kenntnisse „über den Gottesdienst (περὶ
τὰς τῶν θεῶν ἁγιστείας)“ und „das Ü̈brige, was die Lebensbetätigungen betrifft
(καὶ τὰ λοιπὰ τῶν περὶ τὸν βίον ἐπιτηδευμάτων)“, d.h. Wissen um Sitten und
Bräuche, wie sich der Mensch vor den Göttern und in seinem Privatleben zu
verhalten habe. In Ägypten, so fährt Porphyrios fort, seien dem Pythagoras, um
ihn abzuschrecken, besonders harte Regeln auferlegt worden. Durch ihre Einhal-
tung habe er sich aber die Bewunderung der Priester erworben, so dass er „die
Erlaubnis bekommen (ἐξουσίαν λαβεῖν)“ habe, „den Göttern zu opfern (θύειν
τοῖς θεοῖς)“ und sich „mit allen ihren Wissenschaften vertraut zu machen
(προσιέναι ταῖς τούτων ἐπιμελείαις)“, wie es sich noch nie zuvor „bei einem
Ausländer (ἐπ' ἄλλου ξένου)“ zugetragen habe. 46
Solche soziokulturell bedeutsamen Aspekte der Grenzüberwindung ergän-
zen etliche antike Quellen um eine transzendente Dimension, so dass der Samier
uns als eine Figur der Wissensbewegung durch Entgrenzung in Horizontal- und
Vertikalverläufen entgegentritt: als Integrationsgestalt vielfältiger Wissens-
formen und -bestände über Grenzen sowohl zwischen Griechen und „Barbaren“,
d.h. „Okzident“ und „Orient“, als auch zwischen Göttern und Menschen, Le-
benden und Toten, Himmel und Erde hinweg. Dabei schöpfen viele Text-
passagen aus einem breiten Repertoire von Topoi der Besonderung und Ent-
grenzung, die verdeutlichen sollen, dass eine Person aus dem Horizont des ge-
wöhnlichen Menschseins herausfällt. Solche Topoi (Redewendungen, Meta-
phern, Beschreibungsmuster etc.) finden sich nicht nur im Feld und Umfeld
antiker griechischer und römischer Mythen und Legenden, sondern kulturüber-
greifend im euroasiatischen Raum. Sie haben den Zweck, das Wirken, Wissen
und Können der Person bzw. Figur, um die es geht, in Ausdrücken und Bildern
einer dem geographischen Raumsinn übergelagerten Form der übernatürlichen
Befähigung des Menschen darzustellen. 47 In Pythagoras’ Fall gehören hierzu, um
46 Porphyrios: Vita Pythagorae 6–8. Zit. aus: Porphyre: Vie de Pythagore. Lettre a Marcella.
Hrsg. von Édouard des Places. Paris 1982, S. 38–39.
47 Systematisch angeführt werden solche Topoi in der (kontrovers rezipierten) Arbeit von
Ludwig Bieler: ΘΕIΟΣ ΑΝΗΡ. Das Bild des „göttlichen Menschen“ in Spätantike und Früh-
christentum. Darmstadt 1976 (zuerst Wien 1935–1936); siehe des Weiteren z.B. auch Hans
Dieter Betz: Gottmensch II (Griechisch-römische Antike und Urchristentum). In: Reallexikon
nur drei Beispiele zu nennen: der Topos der Bilokation, Pythagoras’ Fähigkeit,
an zwei Orten gleichzeitig zu sein; 48 der Totenkontakt durch Katabasis: die Ha-
desreise des Pythagoras; 49 und der Hinweis auf frühere Inkarnationen, 50 an die
sich Pythagoras habe erinnern können. 51
Viele Pythagoras-Darstellungen dieser Art, in der sich Horizontalität und
Vertikalität der Erweiterung und Entgrenzung von Wissen verbinden, sind to-
pisch unterfüttert durch Mirabilien, „wunderbare Taten (θαυμαστὰ ἔργα)“, wie
Jamblich (De vita Pythagorica 130) schreibt, Ereignisse und Zeichen, die eben-
falls dazu dienen, Pythagoras’ Autorität als Ausnahmemenschen zu markieren.
Sie weisen ihm die Gabe der Divination zu, setzen ihn zu Apollon in Beziehung
oder dem Gott gar gleich und berichten von außerordentlicher Nähe zu und
Gewandtheit im Umgang mit der Natur. So wird etwa berichtet, der Fluss Kosa
habe ihn bei der Überquerung gegrüßt und von einer giftigen Schlange heißt es,
Pythagoras habe sie durch einen Biss getötet. Aufschluss darüber, ob Pythagoras
sein Wissen einstmals tatsächlich zu gewichtigen Anteilen in verschiedenen
Gebieten des Orients erwarb, erteilen solche Darstellungen nicht. Die Häufung
der Mirabilien erregt eher den Verdacht, dass – in ähnlicher Weise wie in Dar-
stellungen des Apollonios von Tyana, des klassischen Beispiels eines literarisch
stilisierten ‚Wundertäters‘ 52 – Pythagoras’ vielbeschworene Leuchtkraft zum
Scheinen gebracht werden sollte, um Mangel an historischer Sicherheit wettzu-
machen und Akteure, die an Wundertaten, Bilokation, Reinkarnation u.ä. glaub-
ten, dazu anzuhalten, auch den Reisen Validität zuzumessen. Tatsächlich lässt
für Antike und Christentum 12 (1983), S. 234–312; David S. du Toit: THEIOS ANTHROPOS.
Zur Verwendung von theios anthrôpos und sinnverwandten Ausdrücken in der Literatur
der Kaiserzeit. Tübingen 1997; (für die byzantinische hagiographische Literatur) Thomas
Pratsch: Der hagiographische Topos: griechische Heiligenviten in mittelbyzantinischer Zeit.
Berlin, New York 2005.
48 Siehe z.B. Porphyrios: Vita Pythagorae 27; Jamblich: De vita Pythagorica 134.
49 Siehe z.B. Hieronymos von Rhodos Frg. 42. In: Fritz Wehrli: Hieronymos von Rhodos. Krito-
laos und seine Schüler. Basel 21969 = Diogenes Laertios: Vitae et sententiae philosophorum
8,21; Hermipp = Diogenes Laertios: Vitae et sententiae philosophorum 8,41; später auch Ter-
tullian: De anima 28. – Parallelen zwischen den pythagoreischen und den jüdischen Kataba-
seis (u.a. des Mose) sind bei Isidore Lévy zu finden: Isidore Lévy: La légende de Pythagore
de Grèce en Palestine. Paris 1927, S. 154–170 (allgemein zum Vergleich Pythagoreismus-
Judentum vgl. S. 211–263; zu Pythagoras und den Essenern S. 264–293; zu Pythagoras und
Jesus S. 295–331).
50 So z.B. bei Ovid: Metamorphoseon libri 15,158–164; Diogenes Laertios: Vitae et sententiae
philosophorum 8,4–5; Porphyrios: Vita Pythagorae 26–27; Jamblich: De vita Pythagorica 63.
51 So etwa Ovid: Metamorphoseon libri 15,160–164; Diogenes Laertios: Vitae et sententiae
philosophorum 8,5; Jamblich: De vita Pythagorica 134.
52 An Apollonios von Tyana haben sich ebenfalls zahlreiche Legenden, u.a. auch von Reisen in
den Orient, geheftet, und es gelten nur wenige biographische Details und Lehrinhalte als ge-
sichert (Philostrats Apollonios-Biographie ist als Quelle umstritten). Zu den fiktiven Reisen
des Apollonios im Kontext der Legendenbildung vgl. John Elsner: Hagiographic Geogra-
phy: Travel and Allegory in the Life of Apollonius of Tyana. In: The Journal of Hellenic Stu-
dies 117 (1997), S. 22–37.
53 Siehe Isokrates: Busiris 28; FGrHist, N. 264 F 25,96 und 98; von Herodot: Historiae 2,81 wohl
vorausgesetzt.
54 Siehe Leonid Zhmud: Wissenschaft, Philosophie und Religion im frühen Pythagoreismus.
Berlin 1997, S. 61–64.
55 Siehe Aelian: Varia Historia 12,32.
56 Eine Bronzebüste im Archäologischen Nationalmuseum in Neapel, die in der Villa dei
Papiri in Herculaneum gefunden wurde, sowie eine Marmorherme in den Kapitolinischen
Museen in Rom sollen nach Annahme Karl Schefolds sehr wahrscheinlich Pythagoras dar-
stellen. Dafür spreche die turbanartige Kopfbedeckung des Philosophen, ein Bestandteil ori-
entalischer Tracht, der an die Legende von der Indienreise des Pythagoras erinnern solle.
Von der Bronzebüste, die um 360–350 v. Chr. entstanden ist, sind sieben Repliken erhalten.
Die Herme wird von Schefold um 120 n. Chr. datiert: ders.: Die Bildnisse der antiken Dich-
ter, Redner und Denker. Basel 1997, S. 152–155, 344–345. (Abb. 69 Bronzebüste mit orientali-
sierendem Turban aus der Villa dei Papiri in Herculaneum aus dem 1. Jahrhundert n. Chr.;
Abb. 217 Herme mit Turban, um 120 n. Chr., nach frühaugusteischem Vorbild); Gisela M.A.
Richter: The Portraits of the Greeks, Bd. 1. London 1965, S. 79–80.
57 Siehe Herodot: Historiae 2,81; 2,123.
58 Isokrates: Busiris 28. Zit. aus: Isocrates opera omnia. Hrsg. von Basilius Mandilaras. Mün-
chen, Leipzig 2003, S. 278.
59 Eine zweite konkrete Angabe ist in dem oben erwähnten Fragment des Hekataios überlie-
fert, in dem er unter Berufung auf die heiligen Bücher der Ägypter von Ägyptenbesuchen
legendärer Gestalten wie Orpheus, Musaios, Daidalos und Homer erzählt und für Pythago-
ras hinzufügt, er habe von den Ägyptern einen Hieros Logos, die Lehre der Metempsychose
und geometrische Theoreme übernommen (FGrHist 264 F 25, 96 und 98).
60 Vgl. hierzu auch Zhmud: Wissenschaft, Philosophie und Religion (Anm. 54), S. 60–61.
61 Ausführlich Staab: Pythagoras in der Spätantike (Anm. 11), S. 193–202.
62 Vgl. hierzu z.B. Michael von Albrecht: Das Menschenbild in Jamblichs Darstellung der
pythagoreischen Lebensform. In: Jamblich: Περὶ τοῦ Πυθαγορείου βίου (Anm. 28), S. 255–
259; David S. du Toit: Heilsbringer im Vergleich. Soteriologische Aspekte im Lukasevange-
lium und Jamblichs De Vita Pythagorica. In: Jamblich: Περὶ τοῦ Πυθαγορείου βίου (Anm.
28), S. 275–294, hier S. 291–292; Staab: Pythagoras in der Spätantike (Anm. 11), S. 441–447.
Schon der biographische Teil (3–32) 63 macht deutlich, dass die pythagorei-
sche Lebensform in der Konzeption des Autors ein Übungsweg ist, in dem reli-
giöses und wissenschaftliches Streben im Sinne philosophischer Tugendübung
untrennbar miteinander verbunden sind. Integrale Bestandteile dieses Weges,
wie ihn Pythgaoras vorgelebt habe, sind „Gottesdienste (θρησκείαις)“, „Wis-
senschaften (μαθήμασι)“ und „ausgewählte Lebensweisen (διαίταις ἐξαιρέ-
τοις)“ (10). Zu den θρησκείαι des Pythagoras gehörten Götterglaube und die
Ausübung kultischer Frömmigkeit, die sich im Streben nach möglichst vielen
Initiationen in Geheimkulte und göttliche Mysterien äußerten (14). Seine Übung
in μαθήματα zielte auf eine möglichst umfassende Bildung (9–10). Und die von
ihm geübten δίαιται ἐξαίρετοι umfassten Verzicht auf Wein, Fleisch und Völle-
rei zugunsten leicht verdaulicher Kost. Begründet wird der einübend-asketische
Lebensstil diätetisch: Er habe bei Pythagoras zu geringem Schlafbedürfnis, See-
lenreinheit und unerschütterlicher körperlicher Gesundheit geführt (13).
Der Hauptteil der Schrift (33–240) nimmt Details aus Pythagoras’ Lebens-
geschichte, die im biographischen Teil präsentiert wird, auf und bindet sie, ela-
borierend, in die systematische Darstellung eines Erziehungsprogramms ein
(33–57: exoterische Paideia/παιδεία; 58–133: esoterische Paideia; 134–240: pytha-
goreisches Leben und Erziehung als Tugendbetätigung). Dessen Ablauf wird in
einübender Form präsentiert, vermittels nachvollziehender Darlegung, wie Py-
thagoras seinen Schülern den Weg zur Schau des Intelligiblen und zur Einung
mit Gott immer wieder aufs Neue gewiesen habe. Dabei wird wiederholt auf die
Hauptpfeiler der Tugendübung eingegangen und deutlich gemacht, dass es, um
Seelenreinheit zu erlangen, großer Beharrlichkeit der Übung und strenger Kon-
trolle bedarf. In einem Abschnitt zur esoterischen philosophischen Paideia, in
dem es um die Lebensformen/ἐπιτηδεύματα geht (68–70), heißt es z.B., Pythago-
ras habe darauf geachtet, dass die Läuterung des Denkens und der ganzen Seele
„beständig geübt wurde (ἠσκεῖτο)“, und seine Schüler für diese Übung konkrete
Mittel gelehrt, wie reduzierte vegetarische Ernährung, Enthaltung von Wein,
Beschränkung von Schlaf, Schweigen, Verzicht auf Ruhm und Reichtum, neidlo-
se Freundschaft und ein angespanntes, unablässiges Prüfen/ἐξέτασις und Wie-
derholen/ἀνάληψις der schwierigsten Theoreme (68–69). Ähnliche Passagen
finden sich in der systematischen Darstellung des pythagoreischen Lebens und
der pythagoreischen Paideia als Betätigung der Tugenden (134–240). In mehre-
ren Schritten wird dort ein Tugendschema präsentiert, das es diszipliniert übend
umzusetzen gilt.
Insofern als die Verknüpfung dieser Tugenden mit Pythagoras Antiquität
und göttliche Autorität dokumentieren soll, 64 sagt uns die Schrift sehr viel mehr
63 Vgl. zum Aufbau Michael Lurje: Die Vita Pythagorica als Manifest der neuplatonischen
Paideia. In: Jamblich: Περὶ τοῦ Πυθαγορείου βίου (Anm. 28), S. 221–253; Staab: Pythagoras
in der Spätantike (Anm. 11), S. 238–242.
64 Vgl. hierzu auch du Toit: Heilsbringer im Vergleich (Anm. 62), S. 293.
65 Vgl. hierzu von Albrecht: Das Menschenbild in Jamblichs Darstellung (Anm. 62), S. 255–274.
66 So auch John Dillon: Jamblich: Leben und Werke. In: Jamblich: Περὶ τοῦ Πυθαγορείου βίου
(Anm. 28), S. 11–21, hier S. 17–19.
67 Auf die Reisen wird in zahlreichen Stellen verwiesen, nicht nur in Jamblich: De vita Pytha-
gorica 13–19.
68 Vgl. Jamblique: Les Mystères d’Égypte. Hrsg. von Édouard des Places. Paris 1966, S. 70. Vgl.
zur Einteilung der immateriellen Welt in „Götter, Heroen und Dämonen“ (wie zitiert in
Jamblich: De vita Pythagorica 146) auch Jamblich: De mysteriis I 3 p.8,15–p.9,1 (hier kom-
men in der Aufzählung die psychai hinzu). Zur Schrift De mysteriis siehe auch die Angaben
weiter unten in Anm. 76.
nen. 69 Zugleich trägt der syrische Autor mit der Angabe, Pythagoras sei in der
Levante zur Welt gekommen, Lokalkolorit in den Text ein: Der Verweis auf
Sidon als Geburtstätte stellt Nähe des Pythagoras zur syrischen Heimat
Jamblichs aus – zu seinem Geburtsort und seiner Wirkungsstätte.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Pythagoras bei Jamblich als
Konvergenzgestalt erscheint, in der nicht nur alle Mathemata und Episte-
mai/ἐπιστῆμαι, deren er, über kulturelle Grenzen hinweg, teilhaftig wurde (18–
21), zusammenliefen, sondern auch eine übermenschliche Lehrgabe (60–62) an-
gelegt war, die der Vermittlung einer allumfassenden Bildung diente (28). In
dieser Funktion, als – „in Menschengestalt (ἐν ἀνθρωπίνῃ μορφῇ)“ erschienener
(30) – Mittler philosophischer Erkenntnis qua Paideia wies Pythagoras, in der
Darstellung Jamblichs, zwei vorbildliche Eigenschaften auf: eine in allem „uner-
schütterliche (ἀτάραχον)“ asketisch-beharrliche Geisteshaltung (17) und einen
„unstillbaren Wissensdurst“. 70 Ihre Kombination war es, die Pythagoras,
Jamblichs ‚Porträtierung‘ zufolge, zu einem begnadeten Lehrer, der streng auf
Übung insistierte, werden ließ, nachdem sie ihn als unermüdlichen Schüler zu
Pherekydes und Thales, Phöniziern, Ägyptern und bis nach Babylon getrieben
und keine Belehrung, keine Initiation in Mysterien und magische Praktiken hatte
versäumen lassen (18): Am Ende seiner Reisen war Pythagoras in alles Göttliche
eingeweiht, beherrschte den gesamten wissenschaftlichen Fächerkanon mit As-
tronomie und Geometrie, Arithmetik und Musik (18–19) – und erst das qualifi-
zierte ihn zum Hegemon für den Aufstieg der Seele. Denn die Beschäftigung mit
jenem Kanon war es, aus der, nach Jamblich, die Paideia, die zur „Schau
(θεωρία)“ des wahrhaft und ewig seienden Schönen führen sollte, bestand. Nur
durch sie konnte die Seele gereinigt und auf das Intelligible hin gewendet wer-
den – ein Prozess, in dem es beständiger Übung und Betätigung der Tugend
bedurfte, galt doch die ethische Vervollkommnung des Menschen als unabding-
bare Voraussetzung, um zum theoretischen Erkennen, zur schauenden Philoso-
phie zu gelangen (71–79).
Dass Pythagoras bei alledem „unter der Führung Apollons (ἀπὸ τῆς
Ἀπόλλωνος ἡγεμονίας)“ stand und seine Aufgabe als zu den Menschen herab-
gesandte Seele erfüllte, hebt Jamblich gleich zu Beginn des Buches hervor (8).
Damit nimmt der Text, wie an zahlreichen nachfolgenden Stellen, die Erklärung
des Proöms auf, der zufolge die pythagoreische Lehre – und damit auch Jam-
blichs eigene Philosophie – „gottgegeben (ἐκ θεῶν […] παραδοθείσης)“, d.h.
wahr und unbezweifelbar ist. Mit anderen Worten: Das Wissen, um das es im
Text geht, ist eine Offenbarung „des göttlichen Pythagoras (τοῦ θείου Πυθαγό-
69 Analogien finden sich z.B. in den Evangelien der neutestamentlichen Schriften der christli-
chen Bibel in Berichten der Geburt Jesu’ auf einer Reise seiner Eltern in Bethlehem (Matthä-
us 2,1; 2,5–6; 2,8; Lukas 2,4; 2,11; 2,15; Johannes 7,42). Vgl. hierzu auch Bieler: ΘΕIΟΣ ΑΝΗΡ
(Anm. 47), S. 28–29.
70 von Albrecht: Das Menschenbild in Jamblichs Darstellung (Anm. 62), S. 257.
ρου)“ (1). Wer sich eingehender mit ihm beschäftigen wolle, solle „die von den
Pythagoreern verfassten Hypomnemata (τὰ γραφέντα ὑπὸ τῶν Πυθαγορείων
ὑπομνήματα)“ studieren. Auf sie beruft sich der Autor als altehrwürdige Quelle,
die „über Alles die Wahrheit enthält (περὶ πάντων ἔχοντα τὴν ἀλήθειαν)“, „mit
übermenschlichem Wissen in höchstem Maße durchdacht ist (μετ’ ἐπιστήμης δὲ
δαιμονίας ἄκρως συλλελογισμένα)“ und das gesamte dem Menschen er-
mittelbare „Wissen über das (durch das intelligible Vermögen) Erkennbare und
über Götter (τὴν περὶ τῶν νοητῶν καὶ τὴν περὶ θεῶν ἐπιστήμην)“, ja „die besten
Wissensbestände (ἐπιστήμας τὰς ἀρίστας)“, zur Verfügung stellt (157–158).
Es gehört zur didaktisch-iterativen Struktur des Buches, dass Jamblich nicht
müde wird, Teile des offenbarten und von ihm zwecks Transfers aufbereiteten
Wissens im Fortgang seiner Ausführungen immer wieder zu beschreiben. Das
Fundament dieser Elaborationen legt er am Übergang des biographischen zum
unterweisenden Teil der Schrift. Schon hier sucht er, im Leser Appetit auf mehr
zu wecken, indem er einen großen Bogen schlägt: Es handele sich bei Pythago-
ras’ Wissen um eine „Episteme über das Himmlische (τὴν περὶ τῶν οὐρανίων
ἐπιστήμην)“ (27), ein Wissen „über Götter, Heroen, Daimonen und den Kosmos,
über sämtliche Bewegungen der Sphären und Planeten, über deren Umläufe,
Finsternisse und Anomalien, sowie über deren Exzentrizitäten und Epizyklen“,
mehr noch, es sei ein Wissen „über alles, was es auf der Welt gibt: über Himmel,
Erde und all die dazwischenliegenden Naturbereiche, sowohl die offenbaren
(ἐκδήλων) als auch die verborgenen (ἀποκρύφων)“ (31). Kurzum, es ist ein Wis-
sen, wie es nur ein göttlicher Dämon im Gefolge der olympischen Götter besit-
zen kann, dessen Aufgabe es ist, aus dem Reich der Götter „der sterblichen Na-
tur den rettenden Funken der Philosophie zu schenken (φιλοσοφίας σωτήριον
ἔναυσμα χαρίσηται τῇ θνητῇ φύσει)“ (30). Dieses Wissen des Pythagoras um-
fasst mit dem Kosmos zugleich, so resümiert David du Toit, „die ganze Palette
rationaler Erkenntnis und wissenschaftlicher Aktivitäten der Griechen“: 71 „zu
lernende Wissensbestände (μαθήματα)“, „Anschauung (θεωρία)“ und „alles
Wißbare (τὰ ἐπιστημονικὰ πάντα)“, was der Seele Augen verleiht und die Ver-
nunft von der Verblendung durch andere Beschäftigungen reinigt, so dass sie
die wirklichen Prinzipien und Urgründe des Alls zu „durchdringen (κατιδεῖν)“
vermag (31). Nicht zuletzt sind darunter einzuübende Epistemai wie Musik,
Heilkunst (insbes. Diätetik) und Mantik (163–164), in denen propositionales und
praktisches Wissen besonders eng miteinander verwoben sind.
Jamblichs Schrift führte zu einer Umprägung des Neuplatonismus, die sich auf
seine Rezeption sowohl innerhalb der griechischen Philosophie als auch in Ju-
dentum, Christentum und Islam auswirkte: 72 Indem der Text eine Fülle von
Versatzstücken aus der Überlieferung zum Wissen des Pythagoras und der Py-
thagoreer in das philosophische Erziehungsprogramm des Autors integrierte, 73
vollzog er die schon lange angebahnte Gleichsetzung von Platonismus und Py-
thagoreismus. 74 Eine maßgebliche Wendung gegenüber Plotin und Porphyrios
brachte zudem das Konzept der Theurgie/θεουργία mit sich – eine Art von Ein-
wirkung auf die höheren Mächte, durch die sich der Mensch mittels symbolisch-
ritueller Handlungen göttlichem Einfluss öffnet und die Rettung seiner weltver-
hafteten Seele bewirken kann. 75 Diese Innovation in Form der Verbindung von
Philosophie und religiöser Praxis, u.a. eine Reaktion auf die christliche Betonung
des Wunderwirkens des heiligen Mannes, wurde für den spätantiken Neuplato-
nismus repräsentativ und verstärkte seine Rivalität mit dem Christentum.
Auf besonders eindrückliche Weise prägt das Konzept der Theurgie die oben
erwähnte, dem Jamblich zugewiesene Schrift De mysteriis von der Wende des
3. zum 4. Jahrhundert v. Chr., die eine methodische Unterscheidung von Philo-
sophie, Theologie und Theurgie (I 2 p.7,2–6) vornimmt und von profunder
Kenntnis spätägyptischer Religion zeugt. 76 Unter dem ägyptisierenden Pseudo-
nym Abamon ägyptische Verwurzelung suggerierend, äußert sich der Autor
darin zu der Möglichkeit der Kontaktaufnahme mit dem göttlichen Bereich. Er
reagiert damit auf eine kritische Anfrage des Porphyrios, der seinerseits selbst
auf ein theurgisches Lehrwerk, das unter dem Namen des Anebo, eines ägypti-
schen Hierogrammateus, lief, reagiert zu haben scheint. In seiner Antwort auf
Porphyrios’ Fragen bezeichnet sich Jamblich bzw. der Textautor als Lehrer des
Anebo und tritt unter Berufung auf chaldäische und ägyptische Wissensbestän-
de für die „wahre“ Theurgie ein. Dabei verortet er sich selbst im Kontext des
77 Vgl. Fritz Graf: Gottesnähe und Schadenzauber. Die Magie in der griechisch-römischen
Antike. München 1996, S. 24–36; René Bloch: Mose und die Scharlatane. Zum Vorwurf γόης
καὶ ἀπατεών in Josephus, Contra Apionem 2.145–161. In: Internationales Josephus-
Kolloquium Brüssel 1998. Hrsg. von Jürgen U. Kalms und Folker Siegert. Münster 1999,
S. 142–157.
78 Cassius Dio: Historiae Romanae 49,43,5. Zit. aus: Dio’s Roman History, Bd. 5. Hrsg. von
Earnest Cary nach der Version von Herbert Baldwin Foster. London, Cambridge (Mass.)
1955, S. 428–429.
79 Eusebios: Hieronymi Chronicon ad annum 28 a. Chr. Zit. aus: Eusebius: Werke, Bd. 7: Die
Chronik des Hieronymus. Hrsg. von Rudolf Helm. Mit einer Vorbemerkung von Ursula
Treu. Berlin 31984, S. 163–164.
80 Siehe Pindar: Frg. 270. In: Pindari carmina cum fragmentis. Hrsg. von Henricus Maehler.
Leipzig 41975.
81 Siehe Herodot: Historiae 4,36.
82 Ähnlich wie Porphyrios: De vita Pythagorae 28–29; Jamblich: De vita Pythagorica 90–93.
sches Handeln wird auf diese Weise in die Philosophie zurückgeholt, mit epis-
temischen Geltungsansprüchen verbunden und Pythagoras vor dem Vorwurf
der Zauberei, mit der er wiederholt, z.B. in den Sillen des Timon von Phleius, in
Verbindung gebracht wurde, in Schutz genommen. 83
83 Vgl. hierzu auch Staab: Pythagoras in der Spätantike (Anm. 11), S. 411–418. – Siehe auch
Timon bei Diogenes Laertios: Vitae et sententiae philosophorum 8,36: Πυθαγόρην τε γόητας
ἀποκλινοντ’ ἐπὶ δόξας θήρῃ ἐπ' ἀνθρώπων, σεμνηγορίης ὀαριστήν (= Timon: Frg. 57. In:
Timone di Fliunte: Silli. Hrsg. von Massimo Di Marco. Rom 1989). Übers. von Laura Gemelli
Marciano: Die Vorsokratiker, S. 113 (Anm. 14): „Und Pythagoras, der der Zauberei zuneigt,
um Menschen zu jagen, vertraut mit feierlichen Reden.“
84 Vgl. hierzu z.B. Dominic O’Meara: Pythagoras Revived: Mathematics and Philosophy in
Late Antiquity. Oxford 1989.
85 Siehe Ovid: Metamorphoseon libri 15, 40–478; Justin: Epitome 20,4; Hieronymus: Epistula
adversus Rufinum 39–40 und Adversus Iovinianum 1,42; Augustinus: De civitate dei 8,2;
8,4; 18;37; Cassiodor: Institutiones 2,4,1; 2,5,1–2.
86 Siehe Boethius: De arithmetica 1,1.
87 Isidor von Sevilla: Originum seu etymologiarum libri 1,3,7; 3,2,1; 3,16,1; 8,6,2–3; 14,6,31. Zit.
aus: Isidori Hispalensis episcopi etymologiarum sive originum. Hrsg. von Wallace Martin
Lindsay. Oxford 1957 (o. arab. S.zahlen).
christlicher Seite Kritik insbesondere wegen des mit kirchlichen Doktrinen un-
vereinbaren Seelenwanderungstheorems, das zugunsten der Lehre von der Auf-
erstehung des ganzen Menschen abgelehnt wurde 88 (Ausnahmen bildeten u.a.
die Katharer und der spätbyzantinische Philosoph Plethon 89). Es ist aber zu be-
obachten, dass ihm, bei aller christlichen Kritik an paganen Lehren, durchaus
Achtung zuteil wurde, etwa bei Clemens von Alexandria 90 oder Hippolyt von
Rom. Letzterer bezog sich ausführlich auf Pythagoras in der oben erwähnten
Refutatio omnium haeresium, einer Kampfschrift insbesondere gegen die Gnosti-
ker. Sie geht davon aus, dass „alle Häresien“ eine Verarbeitung und Verfäl-
schung von weitaus älteren und gotteswürdigeren philosophischen Lehren sei-
en; die valentinianische Gnosis z.B. führt der Autor auf Platon, Pythagoras und
die Ägypter, von denen beide ihr Wissen erhalten hätten, zurück. 91 Das erste
Buch wurde bald aus dem Gesamtkorpus herausgelöst und diente möglicher-
weise als Lehrbuch der Philosophie; die doxographisch ausgerichtete Darstel-
lungsweise Hippolyts trug dazu bei, dass er zu einer Quelle der Araber wurde.
Dass Pythagoras – unter dem Namen Fīṯāġūras, oder Fūṯāġūras (selten Būṯā-
ġūras oder andere Transliterationen) im arabisch-islamischen Kulturgebiet –
Bekanntheit genoss, überrascht nicht. 92 Arabische Intellektuelle des Mittelalters
bezogen große Teile ihres Wissens aus Doxographien und Gnomologien, die
Lebensbeschreibungen und Anekdoten, Ansichten und Äußerungen antiker
Philosophen enthielten, und Pythagoras spielte in ihnen in der Regel eine pro-
minente Rolle. 93 Teils handelte es sich um ursprünglich auf Griechisch verfasste
Bewahrung antiken Erbes in der arabischen Kultur. Hrsg. von Gotthard Strohmaier. Hildes-
heim u.a. 1996, S. 44–52.
94 Vgl. hierzu Hans Daiber: Aetius Arabus: die Vorsokratiker in arabischer Überlieferung.
Wiesbaden 1980.
95 Vgl. hierzu Ulrich Rudolph: Die Doxographie des Pseudo-Ammonios: ein Beitrag zur neu-
platonischen Überlieferung im Islam. Stuttgart 1989.
96 Vgl. hierzu z.B. Moritz Steinschneider: Die arabischen Übersetzungen aus dem Griechischen
(11897). Graz 21960.
97 Vgl. hierzu Richard Walzer: Porphyry and the Arabic Tradition. In: Entretiens sur l’antiquité
classique 12 (1966): Porphyre, S. 275–297, hier S. 282–283; Hans Daiber: Hellenistisch-
kaiserzeitliche Doxographie und philosophischer Synkretismus in islamischer Zeit. In: Auf-
stieg und Niedergang der römischen Welt II,36,7 (1994), S. 4974–4992, hier S. 4978 mit
Anm. 25; Emily Cottrell: Notes sur quelques-uns des témoignages médiévaux relatifs à
l’Histoire Philosophique (ἡ φιλόσοφος ἱστορία) de Porphyre. In: Islamic Thought in the
Middle Ages. Studies in Text, Transmission and Translation, in Honour of Hans Daiber.
Hrsg. von Anna Akasoy und Wim Raven. Leiden u.a. 2008, S. 523–555 (mit detaillierten
Ausführungen zu den doxographischen Pythagoras-Zeugnissen).
98 Die Pythagorasvita in arabischer Sprache weist gegenüber der Darstellung in der Philoso-
phiegeschichte des Porphyrios etliche Umstellungen, Hinzufügungen und Auslassungen
auf. Vgl. zum Thema Franz Rosenthal: Arabische Nachrichten über Zenon den Eleaten. In:
Orientalia, N.S. 6 (1937), S. 21–67, hier S. 43–56 (deutsche Übersetzung der auf Porphyrios
zurückgehenden arabischen Pythagorasvita); Richard Walzer: Porphyry and the Arabic
Tradition (Anm. 97); Porfirio: Vita di Pitagora. Testo greco e arabo a fronte. Hrsg. von Ange-
lo Raffaele Sodano und Giuseppe Girgenti. Mailand 1998; Staab: Pythagoras in der Spätanti-
ke (Anm. 11), S. 117–121.
99 Vgl. hierzu z.B. Rosenthal: Fīt̲hāg̲hūras (Anm. 95); Strohmaier: Pythagoras in Islam (Anm.
92); Anna Izdebska: The Attitudes of Medieval Arabic Intellectuals towards Pythagorean
Philosophy: Different Approaches and Ways of Influence, in: Cultures in Motion. Studies
in the Medieval and Early Modern Periods. Hrsg. von Adama Iczdebski und Damian
Jasiński. Krakau 2014, S. 25–44.
100 Siehe Muḥammad ibn Isḥāq Ibn an-Nadīm: Kitāb al-Fihrist. Hrsg. von Gustav Flügel.
Leipzig 1871, S. 245.
101 Siehe Ibn an-Nadīm: Fihrist (Anm. 100), S. 314.
102 Vgl. hierzu: Tamara M. Green: The City of the Moon God. Religious Traditions of Harran.
Leiden 1992, S. 182, 216.
103 Vgl. hierzu Rosenthal: Some Pythagorean documents transmitted in Arabic (Anm. 92),
S. 105–115, 383–395; ders.: Das Fortleben der Antike im Islam (Anm. 36), S. 165–168.
104 Siehe die Ausgabe Neuplatonische Pythagorica in arabischem Gewande. Der Kommentar
des Iamblichus zu den Carmina aurea. Ein verlorener griechischer Text in arabischer
Überlieferung. Hrsg. von Hans Daiber. Amsterdam 1995.
105 Zur Unterscheidung vgl. z.B. Manfred Ullmann: Die Natur- und Geheimwissenschaften
im Islam. Leiden 1972.
106 So Moses Maimonides unter Bezug auf Empedokles, Pythagoras, Hermes und Porphyrios
in einem Brief an seinen Übersetzer Samuel ibn Tibbon; siehe Moritz Steinschneider: Die
hebräischen Übersetzungen des Mittelalters und die Juden als Dolmetscher. (Nachdr.)
Graz 1956, S. 42.
107 Zur Frage, ob und wie das Konzept der Erlösung der Materie und das der Läuterung und
Vervollkommnung der Seele des Alchemisten ineinanderspielten, siehe (für die Antike)
z.B.: André-Jean Festugière: La révélation d’Hermès Trismégiste. Paris 1944–1954 (4 Bde.),
Bd. 1: L’astrologie et les sciences occultes, S. 260–274; Garth Fowden: The Egyptian
Hermes. A Historical Approach to the Late Pagan Mind. Cambridge 1986, S. 116–125.
108 Lurje: Die Vita Pythagorica als Manifest der neuplatonischen Paideia (Anm. 63), S. 252.
109 Vgl. z.B. Burkert: Lore and Science in Ancient Pythagoreanism (Anm. 21), S. 112–192.
110 Vgl. z.B. Zhmud: Wissenschaft, Philosophie und Religion (Anm. 54), S. 75–91.
111 In Kapitel 2 der ersten Buchs der Refutatio heißt es auch, Pythagoras habe seine Schüler in
einer ersten Unterweisungsphase angewiesen, aus Ehrfurcht vor der Weltordnung und
da sie zur Welt gekommen seien, um sich in die Geheimnisse des Alls einweihen zu las-
sen, Stillschweigen zu üben, und habe ihnen erst dann wieder zu reden gestattet, wenn
sie genügend Wissen über die Gestirne und die Natur erworben hätten (Hippo-
lyt: Refutatio omnium haeresium 1,2,18).
112 Hippolyt: Refutatio omnium haeresium 1,2,18. Zit. aus: Hippolytus: Refutatio omnium
haeresium. Hrsg. von Miroslav Marcovich. Berlin, New York 1986, S. 61–62.
113 Hippolyt: Refutatio omnium haeresium 1,2,4–5. Zit. aus: Hippolytus: Refutatio omnium
haeresium (Anm. 115), S. 58. Hippolyt nimmt damit auf die Unterscheidung von „Akus-
matikern“ und „Mathematikern“ Bezug, die explizit terminologisch zuerst bei Clemens
von Alexandria belegt ist: Stromata 5,59,1. Sie besagt, dass letztere vor allem auf Mathe-
mata, also wissenschaftlich, ausgerichtet waren, während sich erstere primär an religiös-
philosophischen Lehren in Form mündlicher Unterweisung durch Pythagoras orientier-
ten, der ihnen offenbar als unfehlbare Ipse-dixit-Autorität im Sinne des „Er selbst [Pytha-
goras] hat es gesagt“ erschien. Die „Akousmata“, „das Gehörte“, die Pythagoras zuge-
wiesen wurden, enthielten u.a. Lebensregeln und Sprüche mit einem tieferen verborge-
nen Sinn.
114 Vgl. hierzu Jan Assmann: Ägypten und der Ursprung der Esoterik. Zur Geschichte und
Genese eines Mythos. In: Constructing Tradition. Means and Myths of Transmission in
Western Esotericism. Hrsg. von Andreas B. Kilcher. Leiden u.a. 2010, S. 373–393.
115 Festugière: La révélation d’Hermès Trismégiste (Anm. 107), Bd. 1, S. 363–368.
116 Aus dem 2. und 3. Jahrhundert n. Chr., also der griechisch-römischen Zeit Ägyptens,
datieren eine Reihe alchemischer Schriften, die unter den Namen Hermes, Thoth, Aga-
thodaimon, Kleopatra, Moses, Solomon, Maria, Jesus, Demokrit (oder Demokrates), Za-
rathustra, Astanes u.a. verbreitet wurden – Texte, deren Inhalte zu Beginn des 4. Jahrhun-
derts im Werk des griechischen Alchemisten Zosimos aus Panopolis (= Ak̲h̲mīm) verbun-
den wurden, der, in Oberägypten geboren, in Alexandria lehrte. Ausführungen hierzu
finden sich z.B. bei Edmund O. von Lippmann: Entstehung und Ausbreitung der Alche-
mie, Bd. 1. Berlin 1919; Arthur John Hopkins: Alchemy, Child of Greek Philosophy. New
York 1934; F. Sherwood Taylor: The Origins of Greek Alchemy. In: Ambix 1 (1937), S. 30–
47; Jack Lindsay: A Survey of Greek Alchemy. In: Journal of Hellenic Studies 50 (1930),
Kurzum, mag die Alchemie auch erst viele Jahrhunderte nach Pythagoras ent-
standen sein, galt doch als Raum, in dem sie gedieh, derselbe Raum, von dem es
hieß, dass dort einstmals der Samier (nach Jamblich 22 Jahre lang) geweilt habe,
und in dem griechische Autoren wie Bolos von Mendes (mit Arbeiten über die
okkulten Eigenschaften und Kräfte in der organischen Natur und Sympathien
und Antipathien zwischen Menschen, Tieren, Pflanzen, Steinen und Metallen) 117
wirkten, die wichtige Anstöße für die Entstehung der Alchemie gaben.
Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Pythagoras mehr als
einmal zum Träger alchemischen Wissens gemacht wurde und hierbei für epis-
temische Lehrinhalte stand (wie z.B. den Aufbau der Stoffe aus Materie und
Form, ihre Zusammensetzung aus den vier Elementen Erde, Wasser, Luft und
Feuer und die Möglichkeit der Umwandlung der Materie ineinander), die aus
der griechischen Philosophie in die Alchemie übernommen wurden. Der be-
rühmte Abū Bakr Muḥammad ibn Zakarῑyāʾ ar Rāzῑ, latinisiert als Rhazes be-
kannt, hielt Pythagoras (wie auch Demokrit, Platon und Aristoteles) für einen,
der sich auf die Kunst verstand. Aṭ-Ṭuġrāʾī zitiert mehrfach ein Kitāb fī l-Aʿdād
aṭ-ṭabīʿīya („Die natürlichen Zahlen“) alchemistischen Inhalts, das von Pythago-
ras stamme, und das Ğābir-Korpus enthielt ein Werk mit dem Titel Musaḥḥaḥāt
Fīṯāġūras („Berichtigungen des Pythagoras“). 118 Im Fihrist ist der Name des Py-
thagoras unter Namen von Philosophen aufgelistet, die sich mit der Alchemie
S. 109–139; ders.: The Origins of Alchemy in Graeco-Roman Egypt. London 1970. Die al-
chemischen Schriften sind schlecht erhalten und verderbt bis entstellt überliefert; die Col-
lection des anciens alchimistes grecs. Hrsg. von Marcellin Berthelot in Zusammenarbeit
mit Charles E. Ruelle. Paris 1887–1888 (3 Bde.) gilt als unzuverlässig, ein Editionsprojekt
zu einem Teil der griechischen Handschriften wurde von Michèle Mertens begonnen.
117 Siehe Bolos von Mendes: Frg. DK 68 B 300 und 78. – Bolos’ Rolle innerhalb der Alchemie
wird seit einiger Zeit diskutiert; dabei überwiegen Zweifel, dass er alchemische Schriften
verfasst hat; vgl. hierzu zuletzt Matteo Martelli: The Four Books of Pseudo-Democritus.
London 2014, S. 36–48. Eine ausgiebige Diskussion des status quaestionis findet sich auch
bei Patricia Gaillard-Seux: Un pseudo-Démocrite énigmatique: Bolos de Mendès. In:
Transmettre les savoirs dans les mondes hellénistique et romain. Hrsg. von Frédéric Le
Blay. Rennes 2009, S. 223–243.
118 Siehe hierzu Paul Kraus: Jābir Ibn Ḥayyān. Contribution à l’histoire des idées scientifiques
dans l’Islam (1942–43). (Nachdr.) Hildesheim 1988, Bd. 1: Le corpus des écrits Jābiriens,
S. 45; Bd. 2: Jābir et la science grecque, S. 94; weitere Erwähnungen finden sich auch bei
Manfred Ullmann: Die Natur- und Geheimwissenschaften im Islam. Leiden 1972, S. 152–
153. Bei Kraus (S. 292–302) sind zudem ausführliche Belege für die Popularität des
Neupythagoreers Apollonios von Tyana zusammengestellt, der, im arabisch-islamischen
Raum u.a. als Bālῑnās oder Balīnūs bekannt, als ṣāḥib aṭ-ṭilasmāt, „Herr der Talismane“,
galt und in der arabischen okkultistischen Literatur einen wichtigen Stellenwert als Meis-
ter der Alchemie und Verfasser, Entdecker, Empfänger, Übermittler und Übersetzer ok-
kulter Schriften hatte. Die bekannteste und umfangreichste unter seinem Namen verbrei-
tete Schrift war das Kitāb Sirr al-ḫalīqa, „Buch über das Geheimnis der Schöpfung“, eine
umfassende naturphilosophische Erklärung der Beschaffenheit des Universums. Siehe
hierzu auch Ursula Weisser: Das Buch über das Geheimnis der Schöpfung von Pseudo-
Apollonios von Tyana. Berlin 1980, S. 1–8, 22–41.
119 Zum Fihrist siehe auch Johann W. Fück: The Arabic literature on alchemy according to
An-Nadīm (A.D. 987). A Translation of the Tenth Discourse of the Book of the Catalogue
(Al-Fihrist) with Introduction and Commentary. In: Ambix 4 (1951), S. 81–144 (nachgedr.
in ders.: Arabische Kultur und Islam im Mittelalter. Ausgewählte Schriften, hrsg. von
Manfred Fleischhammer. Weimar 1981, S. 31–92).
120 Ausführlicher hierzu: Julius Ruska: Turba philosophorum. Ein Beitrag zur Geschichte der
Alchemie. Berlin 1931 (kritische Edition der lateinischen Übersetzung eines nur teilweise
erhaltenen arabischen Turba-Originals nach alten Drucken und einigen Handschriften);
Martin Plessner: The Place of the Turba Philosophorum in the Development of Alchemy. In:
Isis 45 (1954), S. 331–338; ders.: Vorsokratische Philosophie und griechische Alchemie in
arabisch-lateinischer Überlieferung. Studien über Text, Herkunft und Charakter der Turba
Philosophorum. Wiesbaden 1975; Ulrich Rudolph: Christliche Theologie und vorsokrati-
sche Lehren in der turba philosophorum. In: Oriens 32 (1990), S. 97–123. Knapp zusammen-
fassend z.B.: Manfred Ullmann: Die Natur- und Geheimwissenschaften im Islam (Anm.
118), S. 213–215; Joachim Telle: Turba Philosophorum. In: Verfasserlexikon – Die deutsche
Literatur des Mittelalters, Bd. 9: Slecht, Reinbold - Ulrich von Liechtenstein. Berlin und
New York 1995, Sp. 1151–1157. – Der lateinische Text der Turba mit deutschen Überset-
zungen wird hinfort aus der Ausgabe Ruskas zitiert (unter Angabe der „Sermones“).
Meine Darstellung des Inhalts stützt sich weitgehend auf die Ergebnisse Plessners und
Rudolphs.
121 Auf vorsokratische Philosophie wird bereits bei den griechischen Alchemisten referiert,
etwa in den alchemischen Schriften, die Olympiodor zugeschrieben werden; dort finden
sich doxographische Darstellungen antiker Vorsokratiker, deren Positionen explizit mit
solchen der frühesten griechischen Alchemisten verglichen werden. Pythagoras wird bei
Olympiodor nicht erwähnt. Vgl. hierzu Cristina Viano: Olympiodore l'Alchimiste et les
présocratiques: une doxographie de l'unité (De arte sacra, § 18–27). In: Alchimie. Art,
histoire et mythes. Actes du 1er Colloque international de la Société d'étude de l'histoire
de l'alchimie. Hrsg. von Didier Kahn und Sylvain Matton. Paris u.a. 1995, S. 95–136.
122 Die obige Identifikation der Namen durch Plessner weicht in drei Fällen von der durch
Ruska ab: Er korrigiert Eximedrus zu Anaximenes, Anaximenes zu Xenophanes und Lo-
custor zu Ekphantos: 1. Eximedrus = Anaximander; 2. Eximedrus = Anaximenes, 3. Ana-
xagoras, 4. Pandolfus = Empedokles, 5. Arisleus = Archelaos, 6. Lucas = Leukippos, 7. Lo-
custor = Ekphantos (nach Ruska: Bacoscus = Paxamos), 8. Pythagoras, 9. Eximenus = Xe-
nophanes.
123 Ulrich Rudolph: Christliche Theologie (Anm. 120), S. 112–114, hat gezeigt, dass Vorlage
der ersten zwei Drittel von Sermo 8 die Skizzierung der „wahren“ christlichen Lehre im
zehnten Buch der Refutatio Hippolyts ist. Es wurden zwei größere Partien aus dieser her-
ausgelöst und, unter Anpassung an die Erfordernisse der dialogischen Form, umgestaltet.
spruch, wird als neidisch hingestellt, und die vielen Fragen, die er als Zweifel
und Gegnerschaft deutet, verärgern ihn: „Ihr habt gezweifelt (dubitastis)“, „ihr
alle mit euren Meinungen (omnes opiniones habentes)“, „und seid dazu gekom-
men, mir zu widersprechen (et adversarii facti estis)“; wenn ihr die Elemente
„wahrheitsgemäß (veraciter)“ wüsstet, „würdet ihr dies nicht in Abrede stellen
(haec non negaretis)“.
Dieser Befund ist bemerkenswert, da die Einleitung Pythagoras, den „Meis-
ter der Weisen und Haupt der Seher (sapientum magister <et> vatum caput)“, als
Vorsitzenden einführt, in dessen Auftrag die Versammlung durch seinen Schü-
ler Archelaos einberufen wurde: Er habe veranlasst, die zahlreichen Vertreter
der Alchemie, die in allen Ländern zerstreut leben, zu „versammeln (con-
gregare)“, um mit ihnen die Richtlinien der Kunst „für die nachwachsenden Ge-
nerationen (post se venturis)“ festzulegen. Dementsprechend ist er es, der den
ersten Rednern das Wort erteilt, der kritisiert und erläutert, tadelt und lobt. So
etwa in Sermo 3, worin er den „Söhnen der Lehre (filii doctrinae)“, die bislang
gesprochen haben, bescheinigt, eine gute Beschreibung „der vier Elemente (ha-
rum naturarum quatuor)“, „aus denen Gott alles geschaffen hat (e quibus Deus
omnia creavit)“, gegeben zu haben. Auch an späterer Stelle wird auf diese Positi-
on hingewiesen, etwa in Sermo 49, worin Pythagoras auf die Bemerkung hin,
dass er über viel Wissen „von den Alten (ab antiquis)“ verfüge, erklärt, er habe
die Versammlung einberufen, damit sie die „Dunkelheiten (tenebras)“, „die sich
in jenen alten Büchern befinden (quae in illis sunt libris)“, beseitige.
Doch der Führungsanspruch, mit dem Pythagoras einleitend vorgestellt
wird, wird im Lauf der Versammlung nicht eingelöst, zumindest nicht im her-
kömmlichen Sinne des antiken Ipse dixit, das nicht von komplexen interpersonel-
len Aushandlungsprozessen von Wissen, sondern von einseitiger Vermittlung
durch die Führungsperson ausgeht. Anders als der griechische Pythagoras, wie
ihn Cicero und Autoren vor allem der Kaiserzeit zeichneten, erfährt der arabisch
überformte Pythagoras der Turba keineswegs uneingeschränkt Bestätigung als
Autorität, sondern eine Depotenzierung. Jener war nach Darstellung paganer
Autoren, mythisierend überhöht, umringt von einer eingeschworenen Gemein-
schaft, die ihren Meister als übermenschliches Wesen verehrte und so sehr an
seine Unfehlbarkeit glaubte, dass bei ihnen das personenbezogene Autoritätsar-
gument „Er selbst hat es gesagt (αὐτὸς ἔφα)“ galt. 124 Der Pythagoras der Turba
dagegen wird von den Mitversammelten als einer unter vielen Debattenteilneh-
mern behandelt, die gemeinsam an einem Wissen teilhaben, das aus Beziehun-
gen zwischen ihnen ebenso hervorgeht wie es sie herstellt. So wird ihm wider-
sprochen und, wenn auch höflich, über gebührliche Länge zu reden untersagt;
und nicht er ist es, der die kosmologische in die alchemistische Debatte über-
führt, sondern sein Nachredner Xenophanes in Sermo 9. Martin Plessner hat
diesen Befund dahingehend gedeutet, dass es Xenophanes ist, der ans Ziel ge-
134 Vgl. hierzu Paul Oskar Kristeller: Die Philosophie des Marsilio Ficino. Frankfurt a.M.
1972, S. 13. Festugière: La révélation d’Hermès Trismégiste (Anm. 107), Bd. 1, S. 89–308.
135 Vgl. hierzu Claudio Moreschini: Ancora alcune considerazioni su Marsilio Ficino e
l’ermetismo. In: Marsilio Ficino: Fonti, testi, fortuna. Hrsg. von Sebastiano Gentile und
Stéphane Toussaint. Rom 2006, S. 89–120; hier S. 94–97; Christopher Celenza: Pythagoras
in the Renaissance: The Case of Marsilio Ficino. In: Renaissance Quarterly 52 (1999),
S. 667–711.
136 Aus der Fülle von Beispielen aus dem großen Bereich alternativer Religion und populärer
Spiritualität der Gegenwart, die Pythagoras in esoterisierender Weise funktionalisieren,
mögen drei Beispiele genügen: Bhagwan Shree Rajneesh: Philosophia Perennis, Bd. 1:
Speaking on the Golden Verses of Pythagoras (1978). Puna 1981 (= Osho, Philosophia Per-
ennis, Bd. 1: Talks on Pythagoras, the Philosopher and Mystic. Mumbai 2009); Alfried
Lehner: Die Esoterik der Pythagoreer. Der pythagoreische Orden der Antike. In: Tattva
Viveka. Zeitschrift für Wissenschaft, Philosophie & Spirituelle Kultur 44 (Aug. 2010),
S. 17–23; Auszug online: http://www.tattva.de/die-esoterik-der-pythagoreer-3 (01.07.14);
Nicholas Kardaras: How Plato and Pythagoras Can Save Your Life: The Ancient Greek
Prescription for Health and Happiness. San Francisco 2011.
137 Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt a.M. 1990, insbes. S. 133 und 294–299.
* Ich danke den Organisatoren und Teilnehmern der Tagung „Magia daemoniaca, magia
naturalis, zouber. Schreibweisen von Magie und Alchemie in Mittelalter und Früher Neu-
zeit“ für wertvolle Anregungen und Hinweise. Besonderen Dank schulde ich zudem Re-
gula Forster, Matteo Martelli, Alessandro Stavru und Gotthard Strohmaier, die den Text
kommentiert und korrigiert haben.
Die im Mittelalter weit verbreitete und bekannte Geschichte der Erfindung der
Künste (artes) durch die Nachkommen Kains und ihrer Überlieferung und Wie-
deraufnahme durch das Cham-Geschlecht nach der Sintflut ist – wie ich andern-
orts dargestellt habe – wirkmächtige Folie für die Diskursivierung der Künste. 1
In dem heilsgeschichtlichen Narrativ stehen dem Gott zugewandten, in einer
Segensbeziehung stehenden Abel- und Seth-Geschlecht die Nachkommen Kains
und Chams gegenüber als die Erfinder der handwerklich-mechanischen Künste,
aber auch der septem artes liberales. Ich habe die These aufgestellt, dass sich in
diesem heilsgeschichtlich legitimierten Narrativ die spezifisch christliche Kunst-
Idee im Sinne einer göttlich inspirierten Bild-Kunst (non manu-factum) gegenüber
einer immer dämonisch-teuflisch infizierten Täuschungs- und Blendungskunst
wirkmächtig etabliert.
In der Geschichte eines vierten Noah-Sohns, der als von Gott inspirierter
Weiser in die lateinisch-westliche Tradition tritt, findet sich nun aber scheinbar
ein Anti-Narrativ zu der Genealogie der Kains- und Cham-Künste. Gleichzeitig
scheint er auch eine Konkurrenzfigur zu Zoroaster zu sein, der gern auch als
‚Erfinder der artes‘ gezeigt wird. 2 Denn hier wird eine göttliche Herkunft der
artes etabliert und diese werden in eine Art Inspirationslehre eingebunden.
Die Idee des vierten Sohnes von Noah stammt ursprünglich aus syrischen
Schriften des frühen Christentums und ist über die Rezeption der seit dem
8. Jahrhundert vorliegenden lateinischen Übersetzungen der in Syrien entstan-
denen Revelationes des Ps.-Methodius in den lateinisch-sprachigen Westen auf-
genommen 3 und über enzyklopädische Werke des 12. und 13. Jahrhunderts
Hrsg. von Willem J. Aerts und Gorgius A. A. Kortekaas. 2 Bde. (Corpus Scriptorum Christi-
anorum Orientalium 569–70, subsidia 97–98). Louvain 1998. Zur Datierung und For-
schungsgeschichte vgl. Bernard McGinn: Visions of the End. Apocalyptic Traditions in the
Middle Ages. New York 1979, S.70–73. Zur Rezeption des Methodius-Textes vgl. auch Char-
lotte d’Evelyn: The Middle-English Metrical Version of the Revelations of Methodius. With a
Study of the Influence of Methodius in Middle-English Writings. In: Modern Language As-
sociation of America 33/2 (1918), S. 135–203, hier S. 187. Zur Tradition dieses vierten Sohns
von Noah siehe Suzanne Conklin Akbari: Idols in the East. European Representations of Is-
lam and the Orient 1100–1450. Cornell 2009.
4 Vgl. Francis J. Carmody: Latin Sources of Brunetto Latini’s World History. In: Speculum
11/3 (1936), S. 359–370, hier S. 361–362.
5 Rudolf von Ems: Alexander. Ein höfischer Versroman des 13. Jahrhunderts. Hrsg. von
Victor Junk. Leipzig 1928/1929 (Nachdruck Darmstadt 1970).
6 Petrus Comestor: Historia Scholastica, liber Genesis, cap. 37, in: PL 198, Sp. 1087D–1088C.
7 C autem anno de terciam chiliadam natus est Noe filius secundum ipsius similitudinem et vocavit
nomen eius Ionitum. CCC vero tempore de trium milium annorum dedit Noe donationes filio suo Io-
nito et demisit eum in terram Eoam. Ps.-Methodius: Apokalypse (Anm. 3), Rec. 1, Kap. [3], 2
(S. 81). Rudolf von Ems: Alexander (Anm. 5), V. 17085–17091.
8 Ionetus autem, filius Noe, introivit in Eoam usque ad mare, qui vocatur, Hiliu Chora‘, id est ,Regio
Solis’, in quo solis ortum fit, et habitavit ibidem. Ps.-Methodius: Apokalypse (Anm. 3), Kap. [3],
4 (S. 83).
9 Alle Versangaben im Text beziehen sich auf Rudolf von Ems: Alexander (Anm. 5).
10 Hic Ionitus accipit a Deo donum sapientiae, qui non solum hoc tantum, sed et omnem astronomiae
articulum factusque inventor. Ad hunc discendens Nebroth, qui fuit gigans, et eruditus ab eo accipit
ab illo consiliom, in quibus regnare coepisset. Hi<c> autem Nebroth ex filiis discendebat hiroum; qui
fuit filius Sem et ipse primus regnavit super terram. Ps.-Methodius: Apokalypse (Anm. 3),
Kap. [3], 5 (S. 83).
11 Sackur: Sibyllinische Texte und Forschungen (Anm. 3), S. 64; Ps.-Methodius: Apokalypse
(Anm. 3), Kap. [3], 5 (S. 83).
12 Scripsit ergo Ionitus epistolam ad Nebroth ita quia „Regnum filiorum Iaphedi, hic incipiet delere
regnum filiorum Cham. Ps.-Methodius: Apokalypse (Anm. 3), Kap. [3], 8 (S. 87).
13 Bei Rudolf wird ein Friedensvertrag zwischen Nimrod und Cham erwähnt, der Jonitus nicht
passt, sodass er Nimrod befiehlt, diesen Vertrag aufzulösen, was dann die Kriege provo-
ziert, vgl. Rudolf von Ems: Alexander (Anm. 5), V. 17131–17136.
14 Vgl. Ps.-Methodius: Apokalypse (Anm. 3), Kap. [5], 1–2 (S. 91/93).
15 Diz liut was al gemeine / unmæzec und unreine, / ir leben was unmenschlich, / in vihes wîs sie ner-
ten sich, / ir munt deheine spîse schiet, / dehein dinc man sôt noch briet / wan daz die spîse nôz der
man / als er sî möhte komen an. / In was niht ungemeine / noch z ezzenn unreine, / swaz sie vunden,
daz was gar / ir spîs und ir lîpnar, / die vogel und die slangen. (V. 17245–17257). Erant autem quasi
locustae et incidebant nudo corpore et edebant carnes camellorum conposite in utribus et bibebant
sanguinem iumentorum in lacte mixto. Ps.-Methodius: Apokalypse (Anm. 3), Kap. [5], 3 (S. 93).
16 Vgl. Ôreb, Zeb, Zebeê und Salmanâ. Richter 7,25 / 8,21. Die Midianiter sind ihrerseits Ab-
Nach der vernichtenden Niederlage gegen Gideon, heißt es nun, wuchsen die
Überlebenden langsam wieder zu einem großen Volk heran. Als Alexander der
Große dann ihr Land eroberte, erkundigte er sich nach ihrer Geschichte und, als
er die unreinekeit ihres Tuns und Lassens erfahren hatte, deportierte er sie in den
hohen Norden (in Ubera Aquilônis). 17 Hier schloss er sie – wie schon vorher die
zehn Stämme der Juden (V. 17316) – zwischen Bergen ein. Auch da vermehren
sie sich wieder kontinuierlich, bis sie am jüngsten Tag dann ausbrechen werden
– ein Narrativ, über das das Geschlecht von Ismael, zu dem ja vorhin schon Gog
und Magog gezählt wurden, mit dem Antichrist zusammengebracht wird
(V. 17276–17318). 18 Entsprechend ist dieses Ereignis, wie Rudolf hier mit explizi-
tem Bezug auf Methodius sagt, dann Zeichen des kommenden Weltendes.
Diese Schreckensherrschaft wird, wie Methodius von Gott unterrichtet weiß,
schließlich durch einen neuen christlichen Herrscher des römischen Reiches
beendet. Dieser wird nach seinem Sieg über die Heiden seine Macht dem Kreuz
auf Golgatha opfern und seine Krone ans Kreuz hängen (V. 17496–17535). Damit
installiert sich das in Babylon durch die Traumdeutung Daniels prophezeite
irdische Reich (V. 17539–17546), bevor dann aus dem Stamm Ismaels der Anti-
christ auftaucht: nâch ir ende in kurzer vrist / wirt geborn der Endekrist / von Is-
mahêles künne (V. 17557–1759).
Jonitus – bei Methodius als Ebenbild Noahs bezeichnet 19 – ist also Urvater ei-
nes im Osten siedelnden, auserwählten, direkt von Gott inspirierten Geschlechts,
dessen Mitglieder das Epitheton wîse tragen. Mächtiger noch als das Cham-
Geschlecht, werden seine Nachkommen nur von den Ismaeliten besiegt, die so
an die Stelle der gottinspirierten Joniten treten und mit ihrer Welteroberung das
baldige Weltende anzeigen. Die schon im syrischen Text des 7. Jahrhunderts
angelegte Lesart der arabischen Eroberungen als Zeichen des kommenden Welt-
endes macht den Text in seiner lateinischen Übersetzung für die Zeit der Kreuz-
züge interessant und bewirkt dann auch eine starke Rezeption der Revelationes
kömmlinge aus der zweiten Ehe Abrahams mit Ketura. Die Söhne aus dieser Verbindung
hat Abraham zu Ismael geschickt. So verbinden sich hier die Abrahamslinien, die ‚nicht die
wahrhaftigen Kinder‘ sind. Gleichzeitig sind die Midianiter definiert durch ihre Feindschaft
den Israeliten gegenüber (vgl. 1. Mos 25). Ps.-Methodius: Apokalypse (Anm. 3), Kap. [5],6
(S. 97).
17 Rudolf von Ems: Alexander (Anm. 5), V. 17305.
18 War schon die exegetische Ausdeutung des antiken Geschehens mit der Identifikation der
eingeschlossenen Völker mit den verlorenen Stämmen der Juden eine in den christlich-
heilsgeschichtlich geprägten Kulturdiskurs eingreifende Erweiterung des Narrativs, wird
hier nun, in offener Parallelisierung der Episoden, die Deutung der mit Gog und Magog in
Verbindung gebrachten eingeschlossenen Völker auf die Ismaeliten, die mit den Midianitern
gleichgesetzt sind, bezogen.
19 Vgl. Ps.-Methodius: Apokalypse (Anm. 3), Kap. [3],2 (S. 81). Vgl. auch Gero: The Legend of
the Fourth Son of Noah (Anm. 3), S. 325.
20 Vgl. zu den Pamphleten mit Auszügen aus den Revelationes während der Belagerung von
Wien 1683: Ps.-Methodius: Apokalypse (Anm. 3), S. 35.
21 Bei Rudolf von Ems ist der Hoffnungsträger der Staufer Friedrich II., in dem Methodius-
Druck von Aytinger, dann Sebastian Brant, ist es dann Ende des 15. Jahrhunderts Maximili-
an I. (vgl. dazu unten).
22 Vgl. Sackur: Sibyllinische Texte und Forschungen (Anm. 3), S. 65.
23 Egerton Ms. fol. 4. Konsultiert nach: Illustrations of the Book of Genesis. Being a complete
Reproduction in Facsimile of the Manuscript British Museum, Egerton 1894, with an Intro-
duction by M. R. James. Oxford 1921, S. 15: 27. De Cam le filz Noe vint Nemroth si come dit le
mestre / destoirs. Mais Metodie dit sicome mesme le mestre re/herce qe cestui Nemroth vint de hiron
Darauf sieht man die Nachkommen des Cham-Geschlechts und des Japhet-
Geschlechts und zuletzt Noah, der Jonitus in den Osten schickt und – in einem
Simultanbild damit zusammengeschlossen – Jonitus, der Nimrod sein Wissen
vermittelt.
Das hat nicht nur zur Folge, dass das Wissen, in erster Linie die Astrologie,
vom Ruch der Sünde befreit, ja sogar mit einer spezifischen Gottesnähe ausge-
stattet wird, sondern auch, dass der erste Weltherrscher, Nimrod, in ein besseres
Licht gerückt wird. Seine Herrschaft ist durch Jonitus legitimiert, folgt einem
göttlichen Ordnungsmuster, und er wird zum Sieger über die aufmüpfigen
Cham-Nachfolger, die er in die Schranken weist.
Die über Nimrod in die Welt hineinwirkende Macht des durch Wissen aus-
gezeichneten Geschlechts von Jonitus wird erst durch die Ismaeliten gebrochen,
die ihrerseits aus der bisherigen Heils-Logik der Geschlechter herausfallen.
Denn sie sind einerseits als Nachkommen Abrahams Teil des Seth-Geschlechts,
sind anderseits aber, als Dienerinnen-Kinder und nicht dem ‚wahren‘ Geschlecht
Abrahams zugehörig, in einem gefährlichen Graubereich angesiedelt, der in
seiner Prosperität einerseits unter Gottes Schutz steht, anderseits aber – von der
‚rechten‘ Linie ausgeschieden – gerade durch diese Prosperität eine heilsge-
schichtliche Funktion als Geißel Gottes erhält.
3 Zentrale Randfigur
Die Figur dieses über ein arkanes Wissen verfügenden Jonitus, der im Kontext
von Endzeit-Prophetien steht und durch Briefe den Sieg der Japhetiten über die
Cham-Nachkommen vorhergesagt hat, ist durch unzählige Handschriften der
lateinischen Übersetzung der Revelationes verbreitet worden; bekannt sind ca.
220 lateinische Handschriften und unzählige volkssprachige Übersetzungen. 24
Die Geschichte ist in allen großen enzyklopädischen Werken des 12. Jahrhun-
derts präsent, wo Jonitus als Erfinder der Astrologie und mit göttlichem Wissen
ausgestattet als Bewohner der regio solis, des heliochoros, des äußersten Teils von
Indien auftaucht. So auch in dem 1120 fertiggestellten Liber floridus des Lambert
von St. Omer. 25 In der Handschrift aus der Mitte des 12. Jahrhunderts, die in
Wolfenbüttel liegt, ist auf der Weltkarte auch das Land von Jonitus verzeichnet:
Insula solis, direkt neben dem Paradies (vgl. Farbabbildung S. 441).
Wird im 12. und 13. Jahrhundert die Idee des fernen Lands von Jonitus, das,
wie gezeigt, auch in die Kartographie Eingang gefunden hat, 26 durch die Hoff-
le filz sem. De le quel sem / come dit Alquyn auindrent vint et sept parenties et il oue / les soens oc-
cupia Asie la tierce partie du siecle.
24 Vgl.: Ps.-Methodius: Apokalypse (Anm. 3), Einführung.
25 Lambert von Saint-Omer: Liber floridus, Cod. Guelf. 1 Gud. lat., fol. 69v–70r (ca. 1180);
Wolfenbüttel Katalog-Nr. 4305. Hier ist Jonitus dann auch als Entdecker der Astronomie un-
ter den ‚Erfindern‘ auf der 1. Seite aufgeführt. Vgl. Akbari: Idols in the East (Anm. 3), S. 86.
26 Vgl. zu dem vierten Erdteil die Tradition der Beatuskarten. In den Beatuskarten von Osma
und Ona ist explizit ein „Sonnenland“ eingezeichnet, auch wenn es (zumindest auf der Os-
nungsfigur des Priester Johannes überlagert, 27 taucht die Figur von Jonitus inter-
essanterweise in der Frühen Neuzeit im Umfeld der ersten Drucke wieder auf.
Das hängt vor allem mit der Rezeption der prophetischen Schrift des Ps.-
Methodius zusammen, die gerade im Kontext der Türkengefahr neu bedeutsam
reflektiert wurde. Anderseits ist Petrus Comestors Historia scholastica immer
noch ein gern konsultiertes Werk. Hinter der Schedelschen Weltchronik, in der
Jonitus als Erfinder der Astrologie und Prophet sowie Experte in Herrschaftsfra-
gen erscheint, stehen wohl beide Quellen (vgl. Farbabbildung S. 442).
Ionichus der vierdt sun noe ist geporn in dem dritt iar nach der süntfluß.
des geschweigt moyses. Diser hat z erst die kunst des gestirns lauffs er-
funden v ttlich künftig ding fürsehen. v da im der vater gab gegeben
hett gieng er in das land ethan v wonet aldo vnd machet ein volck v diß
ist die erde (der sunnen erd genant) do hin sich tlich fürtreffenlich ma
der sün Japhet fgt v Jonicho ein stat eliopolis gent paueten. v er soll
auch d nemroth rat geben haben wie er regiern mcht. v was fürschei-
nender sireichigkeit. vnd ein grosser erkenner des gestirns. der den lauff
v eigenschafft aller stern erschauet vnd dardurch den vrsprung v auch
den vndergang der vier fürnmlichen reiche vor erkeet v leret. do er
starb ward sein sun cosdron sein nachkommen. 28
Auch hier ist Jonitus kein Mechaniker, kein Bauherr, kein Architekt, sondern
dafür sind die Söhne Japhets zuständig. Er ist eine Figur des Wissens, die das
Handeln andern überlässt.
ma-Karte) nicht mit Jonitus in Beziehung gesetzt wird. Zu den Beatuskarten, aber leider
nicht zu dem vierten Erdteil darauf, vgl. Ingrid Baumgärtner: Visualisierte Weltenräume.
Tradition und Innovation in den Weltkarten der Beatustradition des 10. bis 13. Jahrhunderts.
In: Tradition, Innovation, Invention. Fortschrittsverweigerung und Fortschrittsbewusstsein
im Mittelalter. Hrsg. von Hans-Joachim Schmidt. Berlin, New York 2005, S. 231–276; Ingrid
Baumgärtner: Graphische Gestalt und Signifikanz. Europa in der Weltkarte des Beatus von
Liébana und des Ranulf Higden. In: Europa im Weltbild des Mittelalters. Kartographische
Konzepte. Hrsg. von Ingrid Baumgärtner und Hartmut Kugler. Berlin 2008, S. 81–134.
27 Zu der Verbindung der Jonitus- und der Priester Johannes-Figur vgl. Akbari: Idols in the
East (Anm. 3), S. 87.
28 Hartmann Schedel, Georg Alt und Hieronymus Münzer: Das buoch Der Croniken unnd
geschichten mit figuren vnd pildnussen von Anbeginn der welt biß auff diese onsere Zeÿt.
Augsburg, 1496.09.18. Seite 30, URL: http://daten.digitale-sammlungen.de/~db/0009/
bsb00092409/image_30 (05.02.2015).
29 Erstdruck der Ausgabe von Brant in Basel 1498. Brant hat die von Wolfgang Aytinger ver-
Hier wird nicht nur der Sieg der Nachkommen des Nimrod über die Söhne
Chams gezeigt [Abb. 1], sondern auch, wie die aus dem zivilisatorischen Nichts
(aus der arabischen Wüste) auftauchenden Ismaeliten das Heer des Jonitus be-
siegen und die Völker und das gelobte Land erobern [Abb. 2], bevor sie durch
Gideon besiegt werden [Abb. 3]. Als die Ismaeliten dann aber ein zweites Mal
aus ihrer Wüste herauskommen, erobern sie den ganzen Erdkreis [Abb. 4], wie
das Methodius vorhergesagt hat. Bis schließlich diese Macht (hoc est turcos) be-
siegt wird durch einen König der Japhetiten (Römischen König), der seine Krone
in Jerusalem am Kreuz opfert, was als Zeichen des Weltendes gesehen wird –
und als Erfüllung der Prophezeiung des Methodius. Deutlich wird hier die Ak-
tualisierung der Prophetie auf die Türkengefahr hin. 30
Jonitus wird hier, als direkt von Gott instruierter Weiser, zur Figur des Astro-
logen, nach dessen Berechnungen sich die Weltreiche ablösen und dessen
Arkanwissen vom Rand der Welt stammt, dessen Wissen ihm aber nicht die
Handlungs-Macht über die Völker gibt. In der Ausgabe von 1500 ist interessan-
terweise an den Anfang, sozusagen als Gegenbild, eine Darstellung der aus dem
Geschlecht des Kain stammenden Erfinder der dämonischen Künste, der Magier
und teuflischen Astrologen gesetzt [Abb. 5].
Die ganz am Anfang des Methodius-Traktats angelegte Gegenüberstellung
von zwei entgegengesetzten Wissens- und Machtdiskursen (göttlich vs. teuf-
lisch) wird über die Bilder in dieser Ausgabe verstärkt. Die Erfinder der schlech-
ten Künste stehen dem göttlich inspirierten Astrologen gegenüber, dessen Wis-
sen den ersten Gewaltherrscher Nimrod legitimiert. Denn dessen Herrschaft ist
nicht nur von diesem Wissen getragen, sondern folgt auch einem göttlichen
Plan. Jonitus ist so nicht nur der Erfinder der Astrologie, sondern auch der Be-
gründer einer sanktionierten Gewaltherrschaft. Deutlich ist Jonitus aber von der
malignen Prognostik, magischen Kunst und Astrologie abgegrenzt.
fasste, mit einer Vorrede und einem Traktat ergänzte Fassung der Revelationes verwendet,
die 1496 in Augsburg bei Johann Froschauer gedruckt wurde. Vgl. dazu Walther Ludwig:
Eine unbekannte Variante der Varia Carmina Sebastian Brants und die Prophezeiungen des
Ps.-Methodius. In: Daphnis 26 (1997), S. 263–299, hier S. 275–282. Zu den Hintergründen
und den vielen Paralleldrucken dieser Ausgabe vgl. Sackur: Sibyllinische Texte und For-
schungen (Anm. 3), S. 3–5. Die hier verwendete Ausgabe ist: Methodius, Revelationes Di-
vinae, zusammengebunden mit Wolfgang Aytinger: Tractatus super Methodium. Basel bei
Michael Furter. 1500. Online-Ausg. Düsseldorf: Universitäts- und Landesbibliothek, 2011,
URL: http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/ihd/content/titleinfo/3362436 (24.10.2014).
30 Zu dieser Aktualisierung des Textes auf die Gegenwart und die damaligen politischen
Verhältnisse hin vgl. Ludwig: Eine unbekannte Variante (Anm. 29).
5 Vermittlungen: Nimrod
Die grundsätzlich irritierende Verbindung von Nimrod mit Jonitus führt zu
einer eigenen Entwicklung der Nimrodfigur. Bei Methodius ist Nimrod Schüler
des Jonitus und damit ein mit göttlichem Wissen ausgestatteter Tyrann – und
großer Astronom. Und als solcher macht er dann auch seine eigene Karriere im
Westen.
Im 10. Jahrhundert taucht ein astronomischer Traktat unter dem Namen von
Nimrod auf und damit die Idee, dass der Gigant Nimrod ein erstklassiger Astro-
loge, wenn nicht der Erfinder dieser Kunst war. 31 Denn in diesem Text, der in
Form eines Dialogs zwischen Nemroth und Ioanton abgefasst ist, hat sich das
Lehr-Verhältnis umgekehrt und geht Jonitus zu Nimrod in die Schule. 32 Und das
vorliegende astrologische Lehrbuch ist das Ergebnis dieses Unterrichts, wie es
unter anderem in dem wohl fälschlich Albertus Magnus zugeschriebenen Specu-
lum Astronomie zu lesen ist, wie es aber auch Hugo von St. Victor berichtet. 33 Bei
Michael Scotus liest man im Prohemium seines Liber Introductorius sogar die gan-
ze Geschichte, wie es zu dieser Wissensvermittlung kam: Cham, heißt es da, sei
der Erfinder der Astrologie gewesen, was der sozusagen orthodoxeren Tradition
entspricht. Sein Wissen hat er dann seinem Sohn Chanaan weitergegeben, der
noch geschickter und begabter darin war und seinerseits sein Wissen seinem
Sohn Nimrod vermittelte, aufgeschrieben in dreißig Büchern. Diese verbrannten
nach Chanaans Tod, doch konnte Nimrod das Wissen rekonstruieren. Nimrod
nun hatte einen Schüler namens Ioanton, dem er alles vermittelte, was er wusste.
Und dabei schrieb er ein Buch über die Astronomie. 34 Damit ist die Genealogie
des Buches von Nimrod gegeben, eines Buches, das wohl im lateinischen Westen
entstanden ist. 35
Im Kontext dieser Wissenstradition ist Nimrod wieder Teil des Cham-
Geschlechts, damit auch in die Linie der mit gefährlicher Magie Handelnden
gestellt. Und Jonitus ist nicht mehr als erwählte Figur Begründer einer eigenen
Wissenstradition, sondern bester Schüler des Nimrod. Damit aber ist er aus sei-
31 Vgl. zu der Datierung, der Zuschreibung und der Tradition in erster Linie Steven J. Livesey,
Richard H. Rouse: Nimrod the Astronomer. In: Traditio 37 (1981), S. 203–266.
32 Charles Homer Haskins: Nimrod the Astronomer. In: The Romanic Review 5 (1914), S. 203–
212, hier S. 207 und Anm. 10 und 11.
33 Aiunt quidam Nemrod gigantem summum fuisse astrologum, sub cuius nomine etiam astronomia
invenitur. Zitiert in: Haskins: Nimrod the Astronomer (Anm. 32), S. 205. Im Speculum Astro-
nomie heißt es: Ex libris ergo qui est libros geometricos et arithmeticos invenitur apud nos scripti
super his, primus tempore compositionis est liber quem edidit Nemroth gigas ad Iohathonem discipu-
lum suum, qui sic incipit: Sphera celi, etc. in quo est parum proficui et falsitates nonnulle; sed nihil
est ibi contra fidem, quod sciam. Zitiert nach: ebd. S. 205.
34 Et docendo illum ei conposuit librum tocius artis astronomie quid dicitur Nemroth in quo libro sunt
magnalia cum rotis et figuris. Zitiert in: Livesey, Rouse: Nimrod the Astronomer (Anm. 31),
S. 243–244.
35 Livesey und Rouse vertreten diese These einer westlich-lateinischen Entstehung des Buches
gegen die von Haskins aufgestellte Behauptung eines syrischen Ursprungs.
6 Verschwindende Figur
Der hier ganz kurz skizzierte Prozess der Assimilation einer durch göttliches
Wissen ausgezeichneten Figur in die Tradition eines (ambivalenten) Astrologie-
Wissens führt zu dem Verschwinden von Jonitus. Diese aus dem praktischen
Wissen (auch den mechanischen Künsten) ausgeklammerte Weisheits-Figur hat
in der Frühen Neuzeit keinen Ort mehr. Die insula solis, Heliochoris, wandelt
sich zu den utopischen Regionen, in denen über die Gesetze der Natur Gott
36 Cham-Zoroaster als Erfinder der schwarzen Magie u.a. bei Hugo von St. Victor: Adnotatio-
nes elucidatoriae in Genesim 10–11, PL 175, Sp. 48–50 und Comestor: Historia scholastica
(Anm. 6), Genesis c16, PL 189, Sp. 1070. Für weitere Belege vgl. Arno Borst: Der Turmbau
von Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker.
4 Bde. München 1995 (Unveränderter Nachdruck der Ausgabe 1957–1963), S. 652, 735–36,
789, 815.
37 Pico della Mirandola (1486) ist es, der Zoroaster den Ruch des Dämonisch-Magischen
nimmt, indem er ihn unter die Philosophen aufnimmt und den Begriff ‚Magier‘ im Persi-
schen als ‚Dolmetscher des Göttlichen’ erklärt. Pico della Mirandola: De hominis dignitate,
1486. Hinweis bei Borst: Der Turmbau von Babel (Anm. 36), S. 980.
38 Vgl. dazu Max Geisberg: The German single-leaf woodcut: 1500–1550. 4 Bde. New York
1974, 4. Bd., S. 1384–1386. Zu diesen Tafeln im Speziellen sowie ihrem Entstehungshinter-
grund vgl. Hildegard Elisabeth Keller: Astrologentafel. In dies.: Jacob Ruf, Werke 1545–1549.
Kritische Gesamtausgabe, Teil 2, S. 79–116, hier S. 110.
Abb. 6: Ausschnitt aus: Astrologen-Tabelle von Jacob Ruf aus Zürich, Holzdrucke von Heinrich
Vogtherr d.Ä. (1490-1546), (Anm. 37).
realisiert und erkannt wird und Gesellschaften wohnen, in denen das Wissen
handelnd umgesetzt wird. 39 Ganz verschwunden ist Jonitus dann im 18. Jahr-
hundert, wenn im Rahmen einer Suche nach der Wahrheit hinter den Fabeln
Jonitus mit Cham identifiziert wird. So in dem 1776 erschienenen [A] New Sys-
tem. Or An Analysis of Ancient Mythology: Wherein an Attempt is made to divest
Tradition of Fable and to reduce the Truth to its Original Purity von Jacob Bryant, 40 in
dem auch der Turm zu Babel als Observatorium erklärt ist.
Deutlich wird in diesem kurzen Überblick zur Jonitus-Figur, dass das Kon-
zept, das hinter der Idee dieses vierten Noah-Sohns steht, das Konzept eines
39 Vgl. z.B. Francis Bacon: New Atlantis. In ders.: The advancement of learning and New
Atlantis. Hrsg. von Thomas Case. Oxford 1974. Interessant wäre in diesem Zusammenhang,
die Rezeption der arabischen philosophischen Erzählung von Hayy ibn Yaqzan genauer an-
zuschauen. Ibn Tufayl: Hayy ibn Yaqzān. Translated with an Introduction and Notes by
Lenn Evan Goodman. Chicago 2009.
40 Jacob Bryant: A New System: Or An Analysis of Ancient Mythology: Wherein an Attempt is
made to divest Tradition of Fable and to reduce the Truth to its Original Purity. Bd. 3. Lon-
don 1776. Die Stelle zum Turm zu Babel: S. 375.
41 Vgl. dazu u.a. Thomas D. Hill: The Myth of the Ark-Born Son of Noe and the West-Saxon
Royal Genealogical Tables. In: The Harvard Theological Review 80 (1987), S. 379–383.
42 Zu Annius von Viterbo vgl. u.a.: Anthony Grafton: Defenders of the Text. The Tradition of
Scholarship in an Age of Science. 1450–1800. Cambridge (Mass.). London 1991, S. 76–103.
1 Gottfried von Straßburg: Tristan und Isold. Hrsg. von Walter Haug und Manfred Günter
Scholz. Mit dem Text des Thomas, herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Walter
Haug. Band I. Berlin 2012, V. 4665. Im Folgenden erscheinen die Versangaben aus dieser
Ausgabe direkt im laufenden Text.
2 Dies wird verbreitet angenommen, obwohl auch Gegenstimmen verlauteten. Vgl. dazu jetzt
wieder ausführlich den Kommentar von Scholz in der gemeinsam mit Haug herausgegebe-
nen Werkausgabe: Haug und Scholz: Tristan und Isold (Anm. 1). Band II. Berlin 2012,
S. 367–377.
3 Vgl. auch Scholz: Kommentar (Anm. 2), S. 376.
4 Der Plural hat, wie Scholz vermerkt, Deutungen der Passage gestützt, die keine eindeutige
Referenz auf Wolfram annehmen, vgl. Scholz: Kommentar (Anm. 2), S. 374.
deuten wie die, daz wir die glôse suochen / in den swarzen buochen (V. 4689f.), das
heißt in Zauberbüchern Sinn suchen zu wollen.
Mit seiner Rhetorik würde Gottfried also einerseits Wolframs Erzählstil und
Wirkungsintention zu diskreditieren versuchen und ihm eine ernstzunehmende
Sinndimension seiner Werke absprechen und andererseits Formen zeitgenössi-
schen Wissens, mit denen er arbeitet, zumindest in einigen Bereichen angreifen. 5
Es ist diese Engführung von magischem und alchemischem Wissen mit Ästhetik,
die im Folgenden interessiert. Nicht nur als Spitze gegen den Status von Wolf-
rams Quellen ist Gottfrieds Kommentar bemerkenswert, 6 sondern auch und
vielleicht mehr noch durch den Umstand, dass diese Quellen metaphorisch zur
Kennzeichnung der Spezifik von Wolframs Erzählen herangezogen werden.
In Gottfrieds Kritik ist eine Relation auf den Punkt gebracht, welche weiter
reicht, als seine Anspielungen auf ‚faulen Zauber‘ es vermuten ließen: die Affini-
tät des Parzival zu magischen und alchemischen Denkweisen, Narrationen und
Motiven, die bereits vielfach nachgewiesen wurde, aber keineswegs erschöpfend
diskutiert worden ist. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, liegt dies auch am
Verständnis von Magie, das dabei jeweils unterstellt, und am Bezug auf literari-
sche Texte, der dazu angenommen wird. Damit geht es auch um die Bestim-
mung des Verhältnisses von Literatur und Wissen.
5 Aus Gottfrieds Tristan eine generelle Kritik an Magie abzuleiten dürfte angesichts der Min-
netrank-Episode, aber auch hinsichtlich der Episode um das Hündchen Petitcreiu schwerfal-
len, die ebenfalls mit magischen Traditionen operiert. Vgl. zur alchemischen Metaphorik im
Tristan ferner den Beitrag von Antje Wittstock im vorliegenden Band.
6 Tobias Bulang spricht von „inkriminierenden Vermutungen über die Herkunft seines Wis-
sens“. In ders: Enzyklopädische Dichtungen. Fallstudien zu Wissen und Literatur in Spät-
mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin 2011, S. 37. Vgl. zu Formen des Wissens im Parzival
jetzt Martin Baisch: Ästhetisierung und Unverfügbarkeit. Strategien der Inszenierung von
Wissen bei Wolfram und Chrétien. In: Wolfram-Studien XXIII. Wolframs Parzival-Roman
im europäischen Kontext. Tübinger Kolloquium 2012. In Verbindung mit Susanne Köbele
und Eckart Conrad Lutz herausgegeben von Klaus Ridder. Berlin 2014, S. 207–250.
7 Vgl. Francis Dubost: Aspects fantastiques de la littérature narrative médiévale (XIIème–
XIIIème siècles). L’Autre, l’Ailleurs, l’Autrefois. Paris, Genf 1991.
entweder durch Elemente des Dämonischen oder über Semantiken aus älteren,
im christlichen Horizont des Hochmittelalters nicht mehr unmittelbar verständ-
lichen Vorstellungen und Glaubensinhalten konstituiert, darunter solche magi-
scher Provenienz. Dubost nimmt damit eine Position auf, die auch schon von
Jacques Le Goff vertreten worden war. 13 Die Ästhetik des Phantastischen konsti-
tuiert sich dem zufolge über Sedimente älterer, nicht- oder vorchristlicher Glau-
bensinhalte, die aus dem gelehrten Diskurs verbannt worden sind und nicht
mehr verstanden werden, oder, wie Friedrich Wolfzettel formuliert hat, „Reste
eines folkloristisch magischen Weltbilds“ darstellen, die verdrängt worden
sind. 14 Das Phantastische der Literatur würde sich also unter anderem aus den
Residuen einer nicht mehr als Wissen verfügbaren, beinahe schon überwunde-
nen, fiktionalisierten, unheimlich gewordenen Magie speisen.
Wissensgeschichtlich ist die Vorstellung einer überkommenen folkloris-
tischen Magie, die auch in der Volkskunde lange vertreten wurde, 15 aus mehre-
ren Gründen nicht haltbar. Zum einen befassen sich im Mittelalter in erster Linie
klerikale Eliten mit Magie, eine Popularisierung lässt sich erst für das Spätmit-
telalter nachweisen. 16 Zum anderen setzt die Beschäftigung mit Magie in Form
astrologischen, medizinischen oder naturphilosophischen Schrifttums an den
Kathedralschulen und Universitäten zur Zeit der Entstehung von Parzival – und
Perceval – gerade wieder neu an. 17 In Folge der Reconquista wird das intellektu-
elle Europa im 12. Jahrhundert mit arabischen Schriften aus den islamischen
Wissenschaften geradezu überschwemmt. Bereits zu Beginn des 13. Jahrhun-
derts wird unter dem Titel Asclepius die lateinische Übertragung eines fragmen-
tarischen griechischen Traktats bekannt, das zum Corpus Hermeticum gehört.
Damit treten christliche Religion und Theologie schließlich nicht – wie in
Dubosts Entwurf angenommen – an die Stelle von Denkformen und Praktiken,
welche sich als magisch bezeichnen lassen. Historisch kommt es vielmehr in
einigen Bereichen zu einer Verflechtung von religiösen mit magisch-alchemi-
schen Vorstellungsgehalten.
18 Zu diesem Weltverhältnis als zentraler Episteme der Vormoderne nach Michel Foucault vgl.
auch den Beitrag von Marina Münkler im vorliegenden Band.
19 Vgl. Fürbeth: Zum Begriff und Gegenstand von Magie (Anm. 15).
20 Zu den erlaubten und verbotenen Umgangsformen mit Talismanen vgl. am Beispiel des
Picatrix von 1256 die populärwissenschaftlich aufbereitete, gleichwohl lesenswerte Untersu-
chung von Karl-Heinz Göttert: Magie. Zur Geschichte des Streits um die magischen Künste
unter Philosophen, Theologen, Medizinern, Juristen und Naturwissenschaftlern von der An-
tike bis zur Aufklärung. München 2001, S. 124–132. Noch Marsilio Ficino setzt sich im drit-
ten Buch von De vita libri tres (1489) ausführlich mit der heiklen Frage der Talismane ausei-
nander, vgl. Marsilio Ficino: De vita libri tres / Drei Bücher über das Leben. Herausgegeben,
übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Michaela Boenke. München 2012,
S. 205–395, passim. Vgl. zur deutschen Rezeption des Picatrix auch den Beitrag von Frank
Fürbeth im vorliegenden Band.
21 Zum Begriff des prekären Wissens vgl. Martin Mulsow: Prekäres Wissen. Eine andere Ide-
engeschichte der Frühen Neuzeit. Berlin 2012.
22 Dies gilt weniger für den Bereich der Dämonenlehre, über deren verwerflichen Charakter
man sich einig ist, als für das Verhältnis zu Astrologie, Heilkunde oder Naturphilosophie.
Vgl. bereits ausführlich Flint: The Rise of Magic (Anm. 17).
23 Speziell zur Astrologie vgl. bereits Wilhelm Deinert: Ritter und Kosmos im Parzival. Eine
Untersuchung der Sternkunde Wolframs von Eschenbach. München 1960.
menhang nicht nur einen Objektbereich – mirabilia wie Magnetberge oder Wun-
dervölker – und auf Seiten eines wahrnehmenden Subjekts nicht nur die emoti-
onal-intellektuelle Haltung des Staunens, sondern es bezieht sich auf einen um-
fassenden Zusammenhang erzählerischer Inszenierung, zu dem rhetorische
Stilisierungen durch descriptiones und Ekphrasen ebenso gehören wie Erzähler-
kommentare und Fokalisierungen, Handlungsvollzüge und Erfahrungen, Emo-
tionen und Reflexionen sowie atmosphärische Effekte.
Das Wunderbare ist mit Formen des Magischen oder Alchemischen nicht
identisch, aber es nimmt, um Narrative und literarische Konfliktkonstellationen
zu motivieren und Topographien und Figuren zu bebildern, Anleihen bei ihrer
Sprache, bei ihren Denkmustern, Metaphern und Symbolen. In der Ausarbei-
tung zum Wunderbaren entsteht auf diese Weise nicht nur etwas Neues – fiktio-
nale Literatur –, sondern auch dezidiert wieder Wissen, 25 das durch spezifisch
literarische Mittel konfiguriert ist. Außerdem werden in den Darstellungsmus-
tern des Wunderbaren Probleme von Wissen und Nichtwissen, Erfahrung und
Unverfügbarkeit ständig mit verhandelt und können bis zu regelrechten Krisen
der Erkenntnis führen. In poetologischer Hinsicht sind solche ‚Verhandlungen‘
mit einem tendenziell transgressiven, den Horizont zulässiger Intellektualität
verlassenden Wissens auf ihre Funktion für den Roman zu befragen.
Joachim Bumke schätzt die Bedeutung des Wunderbaren in Form der Paral-
lelität zweier andersweltlich gestalteter Burgen (Gralburg und Schastel mar-
veile), zweier dort wirkender Wunderobjekte (Gral und Wundersäule), zweier
Erlöserfiguren (Parzival und Gawein) und zweier zentraler Verursacher (Anfor-
tas und Clinschor) für den Bauplan des Parzival mittlerweile höher ein als die
„Auflösung“ der Artusstruktur hin zum Gralroman. 26 Die Frage, welche magi-
schen oder alchemischen Wissenstraditionen sich im Wunderbaren entfalten,
verfolgt er nicht. Vielen bereits nachgewiesenen Wissenstransfers wäre jedoch
hinsichtlich ihrer speziell poetologischen Funktion noch genauer nachzugehen. 27
Im Parzival lassen sich zum Beispiel Bezeichnungen von Heilmitteln für die
Wunde des Gralkönigs identifizieren, welche auf das Drachentier Ouroboros
verweisen, 28 ein alchemisches Symbol für die Dynamik von Destruktion und
25 Zuletzt hat Ursula Kocher auf das Phantastische in der Frühen Neuzeit als Form des Wis-
sens hingewiesen, allerdings ohne systematische Abgrenzung vom Wunderbaren, vgl. Ur-
sula Kocher: Frühe Neuzeit. Deutschland. In: Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch.
Hrsg. von Hans Richard Brittnacher und Markus May. Stuttgart, Weimar 2013, S. 19–23.
26 Vgl. Joachim Bumke: Wolfram von Eschenbach. 8. völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart, Weimar
2004, S. 186f. Von einer „Auflösung“ des Artusromans bzw. seiner Struktur spricht Walter
Haug: Die Symbolstruktur des höfischen Romans und ihre Auflösung bei Wolfram von
Eschenbach. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literatur und Geistesgeschichte 45 (1971),
S. 668–705.
27 Vgl. zu diesem Ansatz auch den Beitrag von Antje Wittstock im vorliegenden Band.
28 Über Anspielungen auf die Ouroboros-Symbolik in der Beschreibung der Wurzel trachontê
(483,6) in Verbindung mit der Formulierung des trachen umbevart (483,12) ist im Anschluss
an die Forschungen von Arthur Groos viel gehandelt worden. Vgl. Bernhard Dietrich Haa-
Erneuerung 29 und zugleich für die als Iatrochemie bekannte Verwendung von
Verfahren der Sublimation und Destillation zum Zwecke der Gewinnung von
Substanzen. 30 Der Drache ist jedoch auch ein eingeführtes Element des Wunder-
baren. 31 Er vertritt in der weltlichen Literatur eine archaische Dimension der
Bedrohung von Herrschaft und bietet zugleich Chancen des Erwerbs von Macht
und Ruhm; im Parzival steht er damit in Binnenbezügen zu anderen Episoden
des Textes, insbesondere zum ‚Drachentraum‘ von Parzivals Mutter Herzeloyde.
Welche Deutungsebenen über die Möglichkeit der Erneuerung des Gralge-
schlechts über solche internen Bezüge und spezifisch literarische Formen der
Vernetzung errichtet und welche Aussagen über Formen der Reproduktion von
Herrschaft zugleich damit getroffen werden, wäre erst noch zu untersuchen. 32
Im Folgenden möchte ich zeigen, dass sich auch die zentrale Problematik der
Erkenntnis im Parzival über das Wunderbare entfaltet und dabei bereits auf Dar-
stellungsmustern vorgängiger Romane aufbaut. 33 Wolfram arbeitet mit Elemen-
ten des Wunderbaren, um die semireligiöse Atmosphäre auf der Gralburg zu
entwickeln und um Möglichkeiten, Bedingungen und Grenzen des Wissens zu
thematisieren. 34
Die Auseinandersetzung mit dem Motivrepertoire des Wunderbaren im Par-
zival wird im Folgenden also unter besonderer Berücksichtigung von Elementen
magischen und alchemischen Denkens mit Blick auf die Frage untersucht, wie
die Ebene des ‚Dunklen‘ und Geheimnisvollen konstituiert wird, die bereits
ge: Alchemie im Mittelalter. Ideen und Bilder – von Zosimos bis Paracelsus. Düsseldorf, Zü-
rich 1996, S. 107, ausführlich ders.: Medizin im Parzival Wolframs von Eschenbach in ihrem
Bezug zur „Schule von Chartres“. Ein Forschungsbericht. In: Begegnung mit Literaturen.
Festschrift für Carola L. Gottzmann zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Petra Hörner und
Roswitha Wisniewski. Berlin 2008, S. 173–198; ferner Michael Horchler: Die Alchemie in der
deutschen Literatur des Mittelalters. Ein Forschungsbericht über die deutsche alchemisti-
sche Fachliteratur des ausgehenden Mittelalters. Baden-Baden 2005, S. 340–343.
29 Vgl. Haage: Alchemie (Anm. 28), S. 95–104.
30 Vgl. Horchler: Alchemie in der deutschen Literatur des Mittelalters (Anm. 28), S. 343 et
passim.
31 Die klassische Studie verfasste Claude Lecouteux: Der Drache. In: Zeitschrift für deutsches
Altertum und deutsche Literatur 108 (1979), S. 13–31.
32 Zu religiösen Bezügen vgl. Helmut Brall-Tuchel: Wahrnehmung im Affekt. Zur Bildsprache
des Schreckens in Wolframs Parzival. In: Wahrnehmung im Parzival Wolframs von Eschen-
bach. Actas do Colóquio Internacional 15 e 16 de Novembro 2002. Hrsg. von John Green-
field. Porto 2004, S. 67–104.
33 C. Stephen Jaeger hat vor einiger Zeit die Auffassung vertreten, dass Wolfram das Wunder-
bare im Parzival nur setze, um es dann mittels einer Rationalisierung aufzulösen. Zu diesen
Formen der Rationalisierung zählte er Wissenselemente, die – den Vorstellungen des 12./13.
Jahrhunderts gemäß – als ‚wissenschaftlich‘ zu bezeichnen seien, wie Heilkunde oder Astro-
logie. Vgl. C. Stephen Jaeger: Wunder und Staunen bei Wolfram und Gottfried. In: Inszenie-
rungen von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Martin Baisch u.a. Kö-
nigstein 2005, S. 122–139, hier S. 134ff.
34 Zum narrativen Umgang mit Aspekten von Wissen im Parzival vgl. zuletzt Baisch: Ästheti-
sierung und Unverfügbarkeit (Anm. 6).
Gottfried aufgefallen sein könnte, ohne dass er sie geschätzt hätte. Den Auftakt
bildet die klassische Szene aus Anlass von Parzivals erstem Besuch auf der Gral-
burg. Im Anschluss geht es um die Frage, welche Schreibweisen des Wunderba-
ren ausgehend von dieser Szene im Roman entwickelt werden. In diesem Zu-
sammenhang wird auch auf die Frage eingegangen, inwiefern die alchemische
Lehre der substantiellen und spirituellen ‚Läuterung‘ als Modell für die Verän-
derung der Hauptfigur gedient hat.
merken al besunder.
lât rîten Gahmuretes kint.
swâ nu getriwe liute sint,
die wünschn im heils: wan es muoz sîn
daz er nu lîdet hôhen pîn,
etswenne ouch freude und êre.
(224, 1–9)
Die alles entscheidende Episode auf der Gralburg wird über die Semantik höfi-
schen Erzählens (âventiure, triuwe, freude und êre) konventionell eingeleitet. Der
Umstand, dass diese Semantik religiös tingiert ist (wunder, heil), stört den Ein-
druck nicht, sondern komplettiert ihn. In prägnanter Subjekt-Objekt-Verkehrung
wird indessen das Prinzip der âventiure des höfischen Romans, die dem Ritter
zu-fällt, zugespitzt: Es ist die âventiure, welche den Ritter sucht, nicht umge-
kehrt. 36 Aus der Erzählervorausdeutung geht außerdem hervor, dass Parzivals
Scheitern und seine damit verbundene Unbill (pîn) von Anfang an nicht nur Teil
des Plans, sondern notwendige Voraussetzung für Parzivals Erwählung war
(wan es muoz sîn).
Die ältere Parzival-Forschung neigte dazu, das Unverständnis gegenüber den
Geschehnissen auf der Gralburg auf ein Defizit in der Figur zurückzuführen;
dies kristallisierte sich in einer intensiven Diskussion über Sünde und Schuld. 37
Unter welchen Prämissen Parzivals Fehlverhalten – auf der Gralburg und früher
– aber als ‚Schuld‘ aufzufassen ist, ist ein immenses Problem. Parzival ist an den
Vorgängen derart unbeteiligt, dass selbst die Kategorie des Tragischen wieder-
holt in Erwägung gezogen wurde. 38 In der jüngeren Forschung wurde außerdem
die Konstellation auf der Gralburg zunehmend problematisiert und gefragt, was
Parzival unter den gegebenen Bedingungen eigentlich hätte verstehen können. 39
36 Vgl. zu diesem Zu-Fall auch Mireille Schnyder: Sieben Thesen zum Begriff der âventiure. In:
Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und
Schrift im Mittelalter. Hrsg. von Gerd Dicke, Manfred Eikelmann und Burkhard Hasebrink.
Berlin, New York 2006, S. 369–375.
37 Diese ist letztlich überdeterminiert, vgl. den Überblick bei Bumke: Wolfram von Eschenbach
(Anm. 26), S. 126–130.
38 Zuletzt von Regina Toepfer: Höfische Tragik. Motivierungsformen des Unglücks in mittelal-
terlichen Erzählungen. Berlin, Boston 2013, S. 123–160, zur Forschungsdiskussion ebd.,
S. 142–152.
39 Vgl. insbesondere Bernd Schirok: Die Inszenierung von Munsalvaesche. Parzivals erster
Besuch auf der Gralburg. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 46 (2005), S. 39–78. Vgl.
außerdem die resümierende Feststellung von Cornelia Schu: Vom erzählten Abenteuer zum
Abenteuer des Erzählens. Überlegungen zur Romanhaftigkeit von Wolframs Parzival.
Frankfurt a.M. u.a. 2002, hier S. 287: „Die Eindeutigkeit der Schuldfrage bei Chrétien hat
sich in ein mehrstimmiges Geflecht von Schuldzuweisungen aufgelöst, welches eine eindeu-
tige Beurteilung der Frage nach Parzivals Schuld im Text verweigert.“
teilt habe. Jan-Dirk Müller sieht dagegen die Szeneneinrichtung bei Chrétien in
viel höherem Maße verrätselt und verdunkelt, eine Tendenz, die er – teils im
Anschluss an die französische Romanistik – als ‚magisch‘ bezeichnet. 47 Was also
sieht Parzival?
Im Festsaal der Gralburg trifft Parzival auf den Gralkönig Anfortas bzw. er
trifft ihn wieder: Es handelt sich um den kostbar gekleideten, aber unglücklich
aussehenden Fischer, der ihm den Weg zur Burg gewiesen hatte. Abgesehen von
dieser ersten Begegnung hatte Parzival kaum Gelegenheit festzustellen, dass mit
der Stimmung auf der Burg irgendetwas besonders ist, und anders als im Rah-
men höfischen Erzählens zu erwarten wäre. ‚Kaum‘ heißt: Er hat vielleicht ver-
standen, dass es sich nicht um einen Hof als konventionellem Ort der vröude
handelt. So erblickt er bereits bei seinem Eintritt in den Burghof kurzes grünes
Gras, was ein Zeichen dafür ist, dass hier schon lange keine Ritterspiele mehr
veranstaltet worden sind:
selten frœlîchiu werc
was dâ gefrümt ze langer stunt:
in was wol herzen jâmer kunt.
wênc er des gein in enkalt.
(227, 14–17)
Diese Stelle ist unter anderem deshalb schwierig zu deuten, 48 weil sie suggeriert,
dass hier einerseits etwas für Parzival zu erkennen ist und andererseits nicht,
weil der Erzählerkommentar also seine Wahrnehmung referieren könnte – oder
auch nicht. Zum einen bemerkt Parzival vielleicht die fehlenden Anzeichen höfi-
scher Festlichkeit, zum anderen heißt es sofort, dass man ihn ‚wenig‘ darunter
leiden lasse.
Hier ist die Formulierung als Hinweis auf den Versuch relevant, Parzival an-
gemessen höflich zu behandeln, obwohl der Zustand des Hofes das eigentlich
nicht erlaubt. Entscheidend ist mit Blick auf die involvierte emotionale Ebene,
den höflichen Umgang nicht als Formalität aufzufassen, sondern als Bemühen
darum, dass Parzival sich buchstäblich willkommen fühlt, dass er also vom
schlechten Zustand des Hofes nicht befremdet, verunsichert, abgestoßen oder
negativ affiziert wird. Entscheidend ist ferner, dass die Dichtung zwischen höfi-
schem Zeremoniell, vröude und der höfischen Prachtentfaltung, welche noch
47 Müller: Percevals Fragen (Anm. 35) spricht von Magischem metaphorisch als von einer
„dunklen, unbegreiflichen Wirkung“, vgl. S. 33.
48 Nach Auffassung von Elisabeth Schmid: Da staunt der Ritter, oder der Leser wundert sich.
Semantische Verunsicherungen im Wald der Zeichen. In: Das Wunderbare (Anm. 11), S. 79–
94, hier S. 89, sollen hier nur die Rezipienten auf die Stimmung im Inneren eingestellt wer-
den, nicht auch Parzival. Das ist nicht eindeutig, weil es ja heißt, dass man ihn das ‚wenig‘
spüren lasse. Vgl. zur Stelle und ihrer Interpretation auch Maike Retzer: Mythische Struktu-
ren in Wolframs von Eschenbach Parzival. München 2007, S. 80f.
49 Horst Wenzel: Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter.
München 1995, S. 181.
50 Vgl. Hermann Schmitz: Der Leib, der Raum und die Gefühle. Bielefeld, Basel 2009.
51 Wenzel: Hören und Sehen (Anm. 49), S. 180.
Der Erzähler rückt vröude explizit in einen Kontrast zum elenden Zustand des
Königs; unklar bleibt, ob dies der Perspektive Parzivals entspricht. 52 Als die
Ritter vollzählig versammelt sind, tritt ein Knappe mit einer Lanze auf, von de-
ren Spitze Blut herunter läuft und die im Saal eine laute Klage auslöst:
der truog eine glævîn
(der site was ze trûren guot):
an der snîden huop sich pluot
und lief den schaft unz ûf die hant,
deiz in dem ermel wider want.
dâ wart geweinet unt geschrît
ûf dem palase wît:
daz volc von drîzec landen
möhtz den ougen niht enblanden.
(231,18–26)
Wenn es einen Moment mit Appellcharakter und einen Anlass für eine Mitleids-
frage gibt, dann hier. Vor Parzivals Augen entfaltet sich eine ritualisierte Trauer,
die alle Angehörigen des Hofes einbezieht und die Parzival, hätte er nach ihrem
Grund gefragt und sich an ihr beteiligt, in den Rang eines Mitglieds der Gralge-
sellschaft erhoben hätte. Die Funktion der ostentativen Trauer liegt – in Anleh-
nung an die Totenklage – in der Aktualisierung eines Verlusts, 53 der die gesamte
Gemeinschaft betrifft und im vorliegenden Fall zudem die Gefährdung des ge-
samten Hofes in Szene setzt. Mit Blick auf die ritualisierte Form der Klage ließe
sich fragen, ob an Parzival eine Unkenntnis eines solchen Rituals exemplifiziert
werden soll oder ob er als Figur konzipiert ist, die soziales Wissen um die Situa-
tionsadäquatheit eines Emotionsausdrucks erst erwerben muss. 54
Wie bereits erläutert, liegt eine Schwierigkeit des Arrangements jedoch darin,
dass die Klage im Rahmen eines Festes virulent wird, in dem Parzival gerade als
Gast aufgenommen wurde. Hatte es bei seiner Ankunft am Hof noch geheißen,
dass Trauer möglichst von ihm fernzuhalten sei, hat sich der Umgang damit
inzwischen komplett verkehrt: Jetzt soll Parzival sie bemerken und sogar von ihr
affiziert werden. Die beiden Szenen kontrastieren in dieser Hinsicht deutlich
miteinander.
In der Verschränkung der Ausdrucksmodi von Trauer und Schmerz mit ei-
ner Szene festlicher vröude und damit zweier gegenläufiger, ebenso rational wie
52 Anders Müller: Percevals Fragen (Anm. 35), S. 29, für den die Szene von Beginn an „[...] im
Zeichen des jâmer [steht]“.
53 Vgl. dazu Elke Koch: Die Vergemeinschaftung von Affekten in der ‚Klage‘. Mit Untersu-
chungen zur Semantik von verklagen und klagen helfen. In: 11. Pöchlarner Heldenliedge-
spräch. Mittelalterliche Heldenepik – Literatur der Leidenschaften. Hrsg. von Johannes Kel-
ler und Florian Kragl. Wien 2011, S. 61–82.
54 Zu diesem Punkt vgl. jetzt wieder Baisch: Ästhetisierung und Unverfügbarkeit (Anm. 6),
S. 216–228.
55 In der Forschung ist die Verschränkung von wunder und Trauer bereits besprochen und so
interpretiert worden, dass Parzival gerade durch den scharfen Kontrast zu einer Frage hätte
angeregt werden müssen. Vgl. die resümierende Diskussion bei Schirok: Die Inszenierung
von Munsalvaesche (Anm. 39), S. 49–62. Meines Erachtens sind die emotionalen Appelle der
Szene jedoch nicht zu unterschätzen. Parzival soll Mitleid artikulieren, keine Rätsel lösen.
56 Zu Luxus als einer synästhetischen Konfiguration in der Literatur des Mittelalters vgl. Jutta
Eming: Luxurierung und Auratisierung von Wissen im Straßburger Alexander. In: Fremde –
Luxus – Räume. Konzeptionen von Luxus in Vormoderne und Moderne. Hrsg. von Jutta
Eming, Gaby Pailer, Franziska Schößler und Johannes Traulsen. Berlin 2015, S. 63–83.
57 Staunen wird im klerikalen Diskurs komplex motiviert, und es zieht unterschiedliche Reak-
tionen nach sich, vgl. Caroline Walker Bynum: Metamorphosis and Identity. New York
2005, S. 37–75. Zu antiken Theorien des Staunens, die durch eine Polarität der Konzepte von
Platon und Aristoteles bestimmt sind, und ihrer Rezeption in der mittelalterlichen Theolo-
des Orients aufgerufen und mit Anklängen an Glanz und Glück des Paradieses
überblendet; weibliche Schönheit erscheint als Attribut wie als Mediatorin emo-
tionaler Valenzen. Der Gral bildet dabei ein Element unter vielen, wenn auch ein
herausragendes.
Anders als im Perceval ist der Gral bei Wolfram ein Stein namens lapsit exillîs
(469,7), 58 eine Bezeichnung, auf deren Entschlüsselung viel Energie verwandt
worden ist, ohne dass ein Vorbild gefunden werden konnte. Inzwischen wird
eher von einer bewussten Verrätselung ausgegangen. 59 Er steht in der Tradition
eines Verständnisses von Edelsteinen als Vermittlern von Immanenz und Trans-
zendenz, das in magischen Denkmustern und Praktiken verbreitet ist. 60 Einige
der von Wolfram gewählten Umschreibungen für den Gral, nämlich dinc sowie
die paradoxale Formel wurzel unde rîs (Wurzel und Spross) entsprechen alchemi-
schen Decknamen für den Stein der Weisen. 61 Sie bieten damit ein Beispiel für
eine maximale Annäherung alchemischer und literarischer Schreibweisen, das
den mit den Lehren der ars nova vertrauten Rezipienten des Parzival einen wich-
tigen Anhaltspunkt für das Verständnis des heilsgeschichtlichen Status’ des
Grals geben würde. 62 Auf den Umstand, dass der Gral ein Medium religiöser
Kommunikation darstellt, 63 wird jedoch nur angespielt (wunsch von pardîs), ein-
deutig ist es nicht. Auch die Dimension des Lichts wirkt nicht (auf)klärend. Die
Bezüge zur Geheimlehre und zu magischen Praktiken konstituiert in Verbin-
dung mit der religiös gefärbten Beschreibungssprache eine eher diffuse Trans-
zendenz. 64
gie, sowie zur Eigendynamik des Staunens in der höfischen und legendarischen Literatur
des Mittelalters vgl. auch Stefan Matuschek: Über das Staunen. Eine ideengeschichtliche
Analyse. Tübingen 1991.
58 Einem Vorschlag von Harald Haferland zufolge ist ferner in Erwägung zu ziehen, dass es
sich um ein Elixier handelt, vgl. ders.: Die Geheimnisse des Grals. Wolframs Parzival als Le-
semysterium? In: Zeitschrift für deutsche Philologie 113 (1994), S. 23–51, hier S. 48–49.
59 Vgl. zusammenfassend Bumke: Wolfram von Eschenbach (Anm. 26), S. 139f.
60 Vgl. dazu Damaris Gehr: Luxus und Luxusdiskurse in der gelehrten lateinischen Magie des
12. bis 14. Jahrhunderts. In: Fremde – Luxus – Räume (Anm. 56), S. 147–165.
61 Vgl. Haage: Alchemie (Anm. 28), S. 159f., Horchler: Alchemie in der deutschen Literatur des
Mittelalters (Anm. 28), S. 346f.
62 Zu ars nova als hochmittelalterlicher Bezeichnung für die neuen alchemischen Lehren vgl.
Haage: Alchemie (Anm. 28), passim.
63 Vgl. dazu die systemtheoretisch angelegte Untersuchung von Susanne Knaeble: Höfisches
Erzählen von Gott. Funktion und narrative Entfaltung des Religiösen in Wolframs Parzival.
Berlin, Boston 2010.
64 Zur „Ästhetik des In-der-Schwebe-Lassens“ dort, wo höfisches Erzählen religiös überformt
wird, vgl. Uta Störmer-Caysa: Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und
Zeit im höfischen Roman. Berlin, New York 2007, S. 224–230, hier S. 228. Vgl. zu Licht im
Parzival auch Titus Knäpper: Ex oriente lux. Neues zum Orientalischen im Parzival. In: Ar-
tusroman und Mythos. Hrsg. von Friedrich Wolfzettel, Cora Dietl und Matthias Däumer.
Berlin, Boston 2011, S. 271–286, mit weiteren Literaturangaben.
65 Vgl. auch die Diskussion bei Knaeble: Höfisches Erzählen von Gott (Anm. 63), dass der Gral
diese Vermittlerrolle nur mit Blick auf seine Bezugsgesellschaft einnimmt, S. 214 et passim.
66 Vgl. Eming: Luxurierung und Auratisierung (Anm. 56), S. 78f.
67 Mireille Schnyder: Topographie des Schweigens. Untersuchungen zum deutschen höfischen
Roman um 1200. Göttingen 2003, S 146, interpretiert die Stelle so, dass sie ein „in Gedanken
verlorenes“ Schweigen markiere. Ob Parzival hier einen regelrechten Reflexionsprozess
durchläuft oder eher augenblickshaftes Wahrnehmen aus der Passage spricht, bleibt jedoch
offen, vgl. auch unten zu 236, 12–25.
68 Schirok: Die Inszenierung von Munsalvaesche (Anm. 39), S. 59f.
69 Störmer-Caysa: Mitleid als ästhetisches Prinzip (Anm. 42), S. 91.
70 Vgl. auch die Überlegungen zum Status von Anderswelten als einem Element des Wunder-
baren im höfischen Roman bei Störmer-Caysa: Grundstrukturen (Anm. 64), S. 202–214.
71 Vgl. auch Schnyder: Topographie (Anm. 67), S. 186: „Das Staunen vor dem Wunder müsste
durch das Wort gebrochen werden.“
72 Zur Psychonarration vgl. Gert Hübner: Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Foka-
lisierung im Eneas, im Iwein und im Tristan. Tübingen, Basel 2003, S. 47–48.
73 Schnyder: Überlegungen (Anm. 43), S. 108, versteht, der anders interpungierten Ausgabe
von Nellmann folgend, den letzten Vers als Wiedergabe eines Gedankensprungs Parzivals
und schließt gerade auf eine Störung der betrachtenden Aufmerksamkeit.
Dass eine Frage zu stellen ist, aus der Mitleid mit dem leidenden Burgherrn
spricht, versteht Parzival nach meiner Lektüre der Vorgänge selbst dann noch
nicht, als die Erzählperspektive nach der Beschreibung der Gralprozession wie-
der zu Anfortas schwenkt, der Parzival mit den Worten sein Schwert als Ge-
schenk überreicht, dass dieses ihm gute Dienste geleistet habe, bevor er von Gott
so sehr bestraft worden sei (vgl. 239,25–27).
Diese zweite Szene, in der offensichtlich an das Mitleid des Gastes appelliert
wird, ist erneut zugleich mit Symbolen feudalen Ehrerhalts und Konventionen
höfischer Gastlichkeit in einer Weise verschränkt, die eine Nachfrage nicht nahe-
legt. Die Freigiebigkeit des Herrschers, der einem Gast dadurch Ehre erweist,
dass er ihm sein kostbares Schwert zum Geschenk macht (dessen erfolgreiche
Handhabung eine Grundlage seiner splendiden Existenz geschaffen haben dürf-
te), evoziert nach den Prinzipien höfischer Reziprozität den Ausdruck von Freu-
de oder Wertschätzung. Die Verschränkung mit einem Appell an das Mitgefühl
des Gastes wirkt vor dem Hintergrund dieser Tradition höfischer Interaktion
hingegen befremdlich. 74
Unter der Voraussetzung der hier vorgeschlagenen Interpretation kommt
Parzival also aus dem Grund weder die Frage nach dem Gral noch nach dem
Leid des Königs über die Lippen, weil die Inszenierung auf der Gralburg auf der
Überblendung von zwei gegenläufigen Elementen beruht: dem auf Überwälti-
gung setzenden, durch diffuse transzendente Bezüge bereits potentiell rätselhaf-
ten wunder mit einem mit Affizierung und Partizipation rechnenden Trauerritu-
al. Ebenso gegenläufig sind die rational-emotionalen Involvierungen, welche sie
nach sich ziehen: Überraschung, Staunen oder Bewunderung einerseits; Einsicht
und Empathie andererseits.
74 Mertens Fleury: Leiden lesen (Anm. 41) zufolge tragen Lanze und Schwert in der Gralszene
„einen imperativen Anstoß zum affectus compassionis in sich, und stehen damit in einem
Spannungsverhältnis zum höfischen Gebot maßvollen Schweigens“ (S. 195). Zu ergänzen
ist: Sie stehen aber auch in einem spannungsvollen Verhältnis zur curiositas angesichts von
Wundern.
Einsiedler Trevrizent über die Umstände der Vorgänge auf Munsalvaesche und
die Ursachen der Leiden des Anfortas belehrt.
Die Begegnung mit Sigune, die unmittelbar nach Parzivals Weggang von der
Gralburg erfolgt, ist gleich in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Sie illustriert,
dass Parzival in der Lage ist, Mitgefühl zu empfinden und zu artikulieren, wenn
die Zeichen der Trauer stimmig sind. Angezogen durch Sigunes Klagelaute, die
er von Ferne wahrnimmt, findet er sie in Pietà-förmiger Haltung im Wald, den
einbalsamierten Geliebten im Schoß, und nimmt in seiner Begrüßung sofort auf
ihre Trauer Bezug: 75
Parzivâl si gruozte unde sprach
‚frouwe, mir ist vil leit
iwer senelîchiu arebeit.‘
(249,26-28)
Im Gespräch mit ihr erklärt er dann, auf der Gralburg rîcheit (250,15) wahrge-
nommen zu haben: grœzlîch wunder ich dâ sach, / unt mange frouwen wol getân
(251,26f.). Er erfährt von Sigune erstmals, wo er gewesen ist und was von ihm
erwartet worden war, und er hört, dass er nicht einfach zurückkehren kann, um
seinen Fehler zu korrigieren. Auf die Gralburg kommt niemand, der sie sucht: ez
muoz unwizzende geschehen (250,29). 76 Seine Äußerungen gegenüber Sigune un-
terstützen den Eindruck, dass es vor allem der Luxus der Gralburg war, der auf
ihn wirkte, nicht das Leiden des Burgherrn. 77
Die dritte Figur, die gegenüber Parzival die Geschehnisse auf der Gralburg
nachträglich und diesmal umfassend kommentiert, ist der Einsiedler Trevrizent.
Seine Erklärungen stellen die Ereignisse retrospektiv in einen komplexen trans-
zendenten Zusammenhang, in dessen Konstruktion sich religiöse und magisch-
alchemische Traditionen – insbesondere solche der gelehrten Kosmogonie –
75 Vgl. auch Störmer-Caysa: Mitleid als ästhetisches Prinzip (Anm. 42), S. 86f. Auch Schirok:
Die Inszenierung von Munsalvaesche (Anm. 39) sieht den ersten Aufenthalt auf der Gral-
burg in enger Verbindung zur anschließenden Begegnung mit Sigune, vgl. ebd., S. 65f.
76 Die abschließende Rede von Sigune, 255, bindet selbstverständlich beide Elemente zusam-
men, die ich für die Analyse getrennt hatte, wunder changiert dabei zwischen Gral, Gralpro-
zession und Gottesstrafe.
77 Vgl. Mertens Fleury: Leiden lesen (Anm. 41), S. 138f. Beim Einsiedler Trevrizent offenbart
Parzival, dass er derjenige sei, der das Unglück Anfortas’ gesehen habe, aber aus der For-
mulierung (488,17) geht nicht klar hervor, ob dies sein tatsächliches Erleben auf der Gral-
burg wiedergibt oder nicht, ob in die Formulierung nicht vielmehr das mittlerweile erwor-
bene Wissen eingeht. Anders Mertens Fleury, vgl. S. 143. Vgl. auch Schu: Vom erzählten
Abenteuer (Anm. 39), S. 278: „Seine Wahrnehmung war so eingeschränkt auf rîcheit, wunder
und zuht, daß er die Trauer der Versammlung nicht registrieren konnte.“ Vgl. zu den Pro-
zessen der Wahrnehmung während des ersten Besuches auf Munsalvaesche außerdem
Kenneth J. Northcott: Seeing and Partly Seeing: Parzival’s Encounters with the Grail. In:
Spectrum medii aevi. Essays in Early German Literature in Honor of George Fenwick Jones.
Hrsg. von William C. McDonald. Göppingen 1983, S. 409–428.
ineinander verflechten. Durch Trevrizent erfährt Parzival von der Natur des
Grals als einer Gnadengabe Gottes, von der Struktur der Gralgesellschaft und
der Geschichte ihres Königs, aber auch von seiner Wunde, die in Abhängigkeit
vom Stand der Sterne mehr oder weniger schmerzt; er hört, dass die Gralberu-
fung in Form einer Schrift erfolgt, die in Abhängigkeit von Planetenkonstellatio-
nen auf dem Gral erkennbar wird; er hört weiter, dass die Geschichte des Gral
selbst in einer Sternenschrift am Himmel erschienen ist und in dieser arkanen
Form vom Heiden Flegetanis kopiert wurde. 78
Während sich die astrologischen Dependenzen, die Trevrizent erläutert, rela-
tiv leicht auf magische Denkmuster hin transparent machen lassen, sind die
Bezüge zur Alchemie weniger offensichtlich und infolgedessen diskussionsbe-
dürftig. Unter der Voraussetzung, dass der alchemische Prozess der ‚Läuterung‘
im Mittelalter mit spirituellen und Erkenntnis-Prozessen korreliert oder analogi-
siert wurde, bildet die Form der Belehrung, die Parzival durch Trevrizent zuteil
wird, ein Beispiel: Sie zeigt Parallelen zur Lehrer-Schüler-Konstellation, die in
einigen Texten des Corpus Hermeticum überliefert ist; Trevrizent würde demnach
Züge des Hermes Trismegistos tragen. 79 In eine verschlüsselte Quellenangabe,
mit der sich im Kontext der Trevrizent-Episode an markanter Stelle der Erzähler
einschaltet, sind eventuell die Motive der alchemischen Geheimschrift und Auf-
findungslegende eingegangen. 80 Harald Haferland sieht in der Inserierung her-
metischer Motive in den Parzivalroman Hinweise darauf, dass der geheime
Charakter der Wirkweisen des Grals unterstrichen werden sollte. 81
Mich interessieren diese Verrätselungsstrategien dagegen auf der Ebene, die
speziell den Wissenszuwachs der Hauptfigur in Relation zu Schreibweisen des
Wunderbaren betrifft. Als Ansatzpunkt dient mir die These von Bernhard
Haage, dass Trevrizent „den Protagonisten zur inneren Läuterung [bringt], und
zwar auf hermetisch-gnostischem Wege durch Erkenntnis seiner selbst, des Mi-
kro- wie des Makrokosmos.“ 82 Das (al-)chemische Konzept der Läuterung und
78 – indem er, so die Lesart von Peter Strohschneider, sich an der Materialität der Schrift orien-
tierte, ohne ihren Zeichenwert zu verstehen, vgl. ders.: Sternenschrift (Anm. 24), S. 53–55.
Vgl. auch die dazu noch etwas weiter gefassten Überlegungen zur Auratisierung des Textes
in: Peter Strohschneider: Höfische Textgeschichten. Über Selbstentwürfe vormoderner Lite-
ratur. Heidelberg 2014, S. 54–56.
79 Diese Auffassung vertritt insbesondere Haage: Alchemie (Anm. 28), vgl. S. 159f. In welchem
Umfang Alchemie als Praxis der Metallverwandlung mit religiösen oder geheimwissen-
schaftlichen Lehren in Verbindung verbunden war, ist umstritten, vgl. dazu den Artikel
„Alchemie I. Religionsgeschichtlich“ von Sven S. Hartmann. In: Theologische Realenzyklo-
pädie 2 (1978), S. 195–199. Joachim Telle macht für das Mittelalter vornehmlich einen Dop-
pelcharakter der Alchemie zwischen naturphilosophischer scientia und praxisbezogener ars
geltend, vgl. ders.: Alchemie II. Historisch. In: Theologische Realenzyklopädie 2 (1978),
S. 199–227, hier S. 202f.
80 Vgl. Haferland: Geheimnisse des Grals (Anm. 58), S. 41f.
81 Vgl. Haferland: Geheimnisse des Grals (Anm. 58), S. 49.
82 Haage: Alchemie (Anm. 28), S. 82f.
88 Diese Orientierung am Rittertum ist, wie Müller: Percevals Fragen (Anm. 35), S. 44 betont,
im Horizont höfischen Erzählens allerdings ganz folgerichtig. Aus dem Umstand, dass
Wolfram zeigt, dass der ritterliche Kampf mit Schuld verbunden ist, werde kein Vorwurf
abgeleitet.
89 Annette Gerok-Reiter: Individualität. Studien zu einem umstrittenen Phänomen mittel-
hochdeutscher Epik. Tübingen, Basel 2006, S. 142. Das „Ziel der Selbsterkenntnis“, so Gerok-
Reiter, dränge zwar an die „Textoberfläche“ (S. 142), werde jedoch nicht wirklich darge-
stellt.
90 Gerok-Reiter: Individualität (Anm. 89), S. 144.
91 Dies widerspricht nicht unbedingt der Möglichkeit, dass der Aufenthalt bei Trevrizent vom
asketischen Modell der Buße geprägt ist, wie es Marina Münkler diskutiert hat, vgl. dies.:
Buße und Bußhilfe. Modelle von Askese in Wolframs von Eschenbach Parzival. In: Deutsche
Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 86 (2010), S. 131–159.
92 Anders jetzt Elisabeth Lienert: Können Helden lernen? Wissen und Subjektkonstitution in
europäischen Parzivalromanen. In: Wolfram-Studien XXIII (Anm. 6), S. 251–267. Lienert be-
gründet ihre These, dass Parzival nach dem Besuch auf der Gralburg durchaus lernfähig sei,
vor allem mit dem Argument, dass er Trevrizents Lehren nicht einfach reproduziere, son-
dern in seinem Verhalten in einigen Punkten von diesen abweicht. Vgl. ebd., S. 265f. Mir
scheint dies eine Lernfähigkeit, welche in letzter Instanz die Rede „in einem beinahe mo-
dernen, individualisierten Sinne von Subjektkonstitution“ rechtfertigt (vgl. ebd., S. 266), je-
doch nicht hinreichend stützen zu können. Und auch Lienert hält fest: „Durch Parzivals un-
erwartete Berufung zum Gral werden die Wissenden kompromittiert.“ (ebd., S. 265).
giösen Motiven in den Vorgängen um den Gral, durch die sich Wolfram in der
zeitgenössischen Diskussion um beider Verhältnis zueinander eigens positio-
niert. Durch Verbindungen zwischen Magischem und Religiösem, die sein Er-
zählen inszeniert, wird das Unverfügbare zugleich in die Erzählung eingeholt
und konsequent verrätselt.
Magisch-alchemische Wissenstraditionen prägen den Roman darüber hinaus
in seiner Struktur. Analog scheint mir insbesondere das Prinzip, den Helden
einerseits sukzessive in ein immer komplexeres Netz von Bezügen zu rücken –
das Netz aus Verwandtschaft, genealogischer Folge und Position, Konflikten
und Geschichten, in denen das Gralgeschlecht steht – und die Möglichkeit, ihm
Zugang zum Wissen um diese Bezüge zu gewähren, zugleich konsequent zu
problematisieren. Durch die nachträglichen, sukzessiven und teilweise widerru-
fenen Erläuterungen ebenso wie durch die bis zum Ende des Romans nicht zu
entscheidende Frage, was überhaupt in Parzivals Bewusstsein gedrungen ist,
wird der Status eines Arkanwissens auch für Zusammenhänge behauptet, die
Parzivals Verwandtschaft und Identität betreffen. Es ist ein Wissenstransfer, der
sich kaum in Handlungsvollzügen niederschlägt. Am Ende geht es um ein Auf-
decken, gleichsam Freilegen von Bezügen, aber nicht um Erkenntnis, und erst
recht nicht um Abenteuer.
Wissen und Erkenntnis werden im Parzival in dieser Weise in ihren Vollzugs-
und Erwerbsformen zum Geheimnis und in ihren Inhalten zur Offenbarung. An
Parzival wird exemplarisch, dass Wissen verborgen ist, aber für den, dem es
zugänglich wird, umfassende Kenntnisse über Ich und Gesellschaft, Gott und
die Welt bereithält. Den modernen Interpreten bereitet diese Verschlüsselung
unabsehbare Probleme. Im Roman entfaltet das Geheimnis über die Darstel-
lungsmodi des Wunderbaren hingegen einen verführerischen Glanz. Magie und
Alchemie sind durch die literarische Inszenierung ebenso partiell ent-dämoni-
siert und zu ästhetischen Phänomenen verschoben, wie sie die höfische Dich-
tung mit einer neuen Sphäre des Unverfügbaren aufladen. Gattungsgeschicht-
lich hat sich die Konfiguration des Wunderbaren als einer Möglichkeit, Wissen
zu erlangen, damit in einer Weise verschoben, die im sogenannten nachklassi-
schen Roman teilweise Schule machen wird: im Wigalois Wirnts von Gravenberc
und in den sogenannten Wunderketten der Crône Heinrichs von dem Türlin. In
ihnen kehrt eben die Passivität angesichts einer verrätselten Bilderfülle wieder,
die sich in Parzivals paralysierter Haltung auf der Gralburg angekündigt hat. 95
Es ist vielleicht kein Zufall, dass für genau diese Wunderketten bereits der Be-
griff des Phantastischen geltend gemacht worden ist. 96
95 Vgl. dazu zuletzt Matthias Däumer: Stimme im Raum und Bühne im Kopf. Über das per-
formative Potenzial der höfischen Artusromane. Bielefeld 2013, S. 214–218.
96 Von Johannes Keller: Fantastische Wunderketten. In: Das Wunderbare (Anm. 11), S. 225–
248.
Dixit ei Calid: „Quenam est ista res?“ Ac iste respondit: „Audivi iam a
multis quod tu es homo qui incessanter perquirere non desinis opus quod
apud philosophos maius opus nuncupatur. Et ego faciam te scire hoc cum
quodam homine romano qui est heremita in montibus Ierosolimitanis,
nam suum locum iam bene cognovi. Et iste in unoquoque anno multum
aurum Ierosolimam transmittit.“ 1
(„Was ist das für eine Neuigkeit?“, fragte Khalid. Und jener antwortete:
„Von vielen habe ich gehört, dass du derjenige bist, der unaufhörlich nach
dem Verfahren sucht, das die Philosophen das Große Werk nennen. Ich
werde dir zu diesem Wissen durch einen gewissen Römer verhelfen, der
als Einsiedler in den Bergen von Jerusalem lebt und dessen Wohnort ich
sehr gut kenne. Jedes Jahr schickt er große Mengen an Gold nach Jerusa-
lem.“)
In einem Lehrgespräch zwischen dem arabischen Prinzen Khalid und dem
Mönch Morienus weiht dieser ihn in die Geheimnisse des ‚Großen Werks‘ ein,
das neben der Herstellung von Gold mittels des Steins der Weisen auch die Be-
schreibung anderer alchemistischer Verfahren und Weisheiten verhandelt. Die-
ser Text, der in der lateinischen Übersetzung des Robert von Chester von 1144
als De Compositione alchemiae vorliegt, gilt als die erste bekannte Übertragung
eines alchemistischen Textes ins Lateinische und markiert damit den Anfang der
nachweisbaren Rezeption der Alchemie aus dem Arabischen. Zahlreiche Über-
setzungen sowie dann eine stetig zunehmende Produktion alchemistischer Tex-
te 2 ab 1200 belegen ein immenses Interesse an dieser ars nova. Hierzu trug sicher-
* Die folgenden Überlegungen zum Tristan stellen einige exemplarische Lesarten zur Diskus-
sion, die im Zusammenhang einer größeren laufenden Arbeit stehen. Für Hinweise und kri-
tische Anmerkungen danke ich besonders Thomas Cramer, Jutta Eming, Katharina Phili-
powski und Tilo Renz sowie den Diskutanden des Mediävistischen Colloquiums der Hum-
boldt Universität zu Berlin unter der Leitung von Hans Jürgen Scheuer.
1 Zit. nach: Testament of Alchemy. Being the Revelations of Morienus, ancient adept and
hermit of Jerusalem to Khalid ibn Yazid ibn Mu’Awiyya, King of the Arabs, of the divine se-
crets of the Magisterium and Accomplishment of the Alchemical Art. Edited and Translated
from the Oldest Manuscripts, with Commentary by Lee Stavenhagen. Hanover, New
Hampshire 1974, S. 4. Übersetzung von mir.
2 In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts wächst das lateinische Schrifttum der Alchemie
stark an: Neben den Übersetzungen aus dem Arabischen ist auf die eigenständig auf Latein
verfassten Texte mit einer Vielzahl von Pseudo-Schriften zu verweisen, wie z.B. von Alber-
tus Magnus, Thomas von Aquin oder Raymundus Llullus, deren Zuordnung nicht abschlie-
ßend zu klären ist. Auch findet neben reich vorhandener Rezeptliteratur die ars nova Auf-
nahme in die großen Enzyklopädien von Thomas’ von Cantimpré Liber de natura rerum, Bar-
tholomaeus Anglicus’ De proprietatibus rerum und Vincentius’ von Beauvais Speculum maius.
Schließlich ist auf die ‚alchemistische Autorität‘ des Mittelalters zu verweisen, den sog. Ge-
ber latinus oder Pseudo-Geber, der um 1300 auftritt und dessen Texte (vgl. insbes. Summa
perfectionis magisterii) für die Folgezeit prägend sind.
3 Albertus Magnus hielt die Alchemie z.B. für eine Abteilung der Gesteinskunde, andere
bezogen die Metallurgie mit ein; auch die technologische Chemie in Gestalt der Färbertech-
nik und der Glasmacherei wurde bisweilen zur Alchemie gerechnet. Roger Bacon spricht
von Medizinbereitung, die heute in den Bereich der Pharmazie fallen würde. Der Standort
innerhalb des Systems der artes war also nicht fix. Vgl. Hans-Werner Schütt: Auf der Suche
nach dem Stein der Weisen. Die Geschichte der Alchemie. München 2000, bes. Kap. „Ars
oder Scientia“, S. 378–382. Zum Alchemiebegriff und seiner Geschichte vgl. auch die um-
fangreiche Literatur von Joachim Telle; einschlägig z.B. sein Lexikonartikel: Joachim Telle:
Alchemie. II. Historisch. In: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 2. Hrsg. von Gerhardt
Krause und Gerhard Miller. Berlin, New York 1977, S. 199–227.
4 Die Alchemie als zwielichtige Goldmacher- und Fälscherkunst ist vielfach dargestellt und
diskutiert worden. Einen Einblick gibt z.B. die Einführung zur Geschichte der Alchemie von
Schütt: Auf der Suche nach dem Stein der Weisen (Anm. 3), bes. S. 382–390, der für das Mit-
telalter insbesondere auf die Verbote der Alchemie am Ende des 13. Jahrhunderts hinweist.
So verbot das Generalkapitel der Dominikaner 1287 in mehrfachen Beschlüssen die Aus-
übung der Alchemie, 1317 erließ Papst Johannes XXII. seine Bulle Spondent quas non exhibent.
Schütt zufolge richteten sich diese Verbote weniger gegen die naturphilosophischen und
spekulativen Aspekte der Alchemie, sondern wurden ökonomisch begründet.
oder genauer: zu veredeln. Während dieser Aspekt der Transmutation, der sich
vorrangig auf die Umwandlung unedler Metalle in Gold oder Silber bezog, 5 der
Alchemie vorbehalten war, stehen die Fragen nach der Regelhaftigkeit und Ge-
setzmäßigkeit durchaus im Zusammenhang mit Themen, die auch die Naturphi-
losophie der sog. Schule von Chartres beschäftigte. Zur Frage der ‚entdeckten
Natur‘ und den Begründungsversuchen einer scientia naturalis im 12. Jahrhun-
dert heißt es bei Speer:
An die Stelle der symbolisch-spekulativen Interpretation der Natur, die in
hermeneutischer Parallele zum Buch der Schrift ebenfalls als „Buch“ gele-
sen wurde mit Bezug auf Gott als den Autor beider Bücher, durch welche
der Mensch gleichermaßen den Schöpfer zu erkennen vermag, tritt zu-
nehmend ein originäres Interesse an der Struktur, Konstitution und Ei-
gengesetzlichkeit der physisch-physikalischen Realität, welche die Ver-
nunft ohne Rückgriff auf traditionelle, theologisch bestimmte Deutungs-
muster als in sich sinnvolle Größe zu erfassen vermag. 6
Zwar taucht der Begriff der Alchemie nicht explizit in den Texten der Schule von
Chartres auf, jedoch wird bereits am Beispiel des ‚Buchs der Natur‘ sichtbar,
dass sich die Fragestellungen im Kern sehr ähneln: Sowohl die Naturphilosophie
der Chartrenser als auch die auf Erfahrung und Experiment ausgerichtete Al-
chemie des 12. und 13. Jahrhunderts 7 gehen – in Abgrenzung von einem speku-
lativ-religiösen Ansatz 8 – von Regeln und Gesetzmäßigkeiten der natürlichen
Dinge aus, die es aufzufinden gilt. Während die Naturauffassung der Vertreter
der Schule von Chartres jedoch als „Natur ohne Buch“ 9 zu resümieren wäre,
5 Der Transmutationsgedanke ließ sich theoretisch durch die aristotelische Elementen- und
Transmutationslehre begründen, die jedoch in dem entscheidenden Punkt modifiziert wur-
de, dass die Urmaterie in Substanz isoliert werden konnte. Bei dem hieraus abgeleiteten
Transmutationsprozess mussten zunächst geeignete Ausgangsstoffe auf die Urmaterie zu-
rückgeführt werden, die dann Schritt für Schritt durch Zuführung der erforderlichen Eigen-
schaften derart verändert werden musste, bis die Stufe des Silbers oder des Goldes erreicht
war. Den Erfolg des Prozesses glaubte man daran ablesen zu können, dass dabei eine be-
stimmte Folge von Farben durchlaufen wurde.
6 Andreas Speer: Die entdeckte Natur. Untersuchungen zu Begründungsversuchen einer
‚scientia naturalis‘ im 12. Jahrhundert. Leiden 1995, S. 1.
7 Bereits die arabische Alchemie hatte sich im Gegensatz zur griechisch-ägyptischen durch
eine Tendenz zur ‚Verwissenschaftlichung‘ und deutlicher Hinwendung zu Erfahrung und
Experiment ausgezeichnet; eine Tendenz, die mit der lateinischen Alchemie weiter ausge-
baut wurde.
8 Vgl. hierfür Alanus ab Insulis: omnis mundi creatura / quasi liber et pictura / nobis est et
speculum. In: Alani de insulis doctoris universalis opera. Accurante Jacques Paul Migne. Pa-
ris 1855, Reprint Turnhout 1965, Bd. 210, 579a.
9 Der Ausdruck „la nature sans livre“ stammt von Jean Jolivet: Les Quaestiones naturales
d’Adélard de Bath ou la nature sans le Livre. In: Études de civilisation médiévales. Poitiers
1974, S. 437–446, hier zitiert nach Speer: Die entdeckte Natur (Anm. 6), S. 35.
wird das ‚alchemistische Lesen‘ im ‚Buch der Natur‘ geradezu zu einer Meta-
pher für alchemistische Theorie und Praxis. 10
Wasserman 14 und Ober 15 unternommen worden ist, deren Beiträge aus den
1970er und 80er Jahren stammen und – soweit ich ersehen kann – in der wissen-
schaftlichen Diskussion bislang folgenlos geblieben sind. Sie lesen die im Roman
vorhandene Zahlensymbolik und die Metallvergleiche sowie vor allem die unio
von Tristan und Isolde in der Minnegrotte vor dem Hintergrund alchemistischer
Lehren: Die unio der Liebenden entspräche demnach der unio oppositorum, also
der Vereinigung der Gegensätze im alchemistischen Prozess, während die Be-
schreibung der Grotte bis ins Detail denen einer alchemistischen Retorte gleiche.
3. In Abgrenzung zu den eben skizzierten Zugängen soll es mit den folgen-
den Überlegungen vielmehr darum gehen, den Zusammenhang von Alchemie
und Poetologie zu untersuchen, eine Frage, der bisher nur in vereinzelten An-
sätzen nachgegangen wurde. 16 Dass die Alchemie Denkansätze bietet, die poeto-
logisch neue Perspektiven eröffnen, wird von Gert Hübner in Der künstliche
Baum 17 angerissen: Am Beispiel des künstlichen Vogelbaums im Trojanerkrieg
Konrads von Würzburg und der Frage nach der Rolle von ars und natura weist
gehenden Mittelalters. Baden-Baden 2005; zum Parzival vgl. z.B. Bernhard D. Haage: Das
Ourobouros-Symbol im Parzival. In: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 1 (1983),
S. 5–22; ders.: Studien zur Heilkunde im Parzival Wolframs von Eschenbach. Göppingen
1992; ders.: Die Schlange ‚Ecidemon‘ im Parzival Wolframs von Eschenbach. In: De
l’aventure épique à l’aventure romanesque. Festschrift für André de Mandach. Hrsg. von
Jaques Cocheyras. Bern 1997, S. 257–268. Auch gibt es Versuche, den Erec Hartmanns von
Aue im Hinblick auf alchemistische Symbolik zu interpretieren. Vgl. Helmut Gebelein: Al-
chemistisches im Roman Iwein, der Ritter mit dem Löwen von Hartmann von Aue. In: Xenja
von Ertzdorff. Die Romane von dem Ritter mit dem Löwen. Unter redaktioneller Mitarbeit
von Rudolf Schulz, Amsterdam 1994, S. 313–330; zur Spruchdichtung, bes. zu Heinrich von
Mügeln Der meide kranz, vgl. den Forschungsüberblick in Horchler: Die Alchemie des deut-
schen Mittelalters (Anm. 13), S. 358–368.
14 Susan L. Clark, Julian N. Wasserman: The Poetics of Conversion. Number Symbolism and
Alchemy in Gottfried’s Tristan. Bern 1977.
15 Peter C. Ober: Alchemy and the Tristan of Gottfried von Straßburg. In: Monatshefte 57
(1965), S. 321–335.
16 Ein Zusammenhang zu Literatur und Sprache des Mittelalters (die spätmittelalterliche
Fachliteraturforschung ausgenommen) wurde bislang nur vereinzelt formuliert: Ansätze,
die die Alchemie als verbale Kunst herausstellen (Brian Vickers), den Zusammenhang von
Alchemie zu biographischen Mustern konstatieren (Harald Haferland), sowie im Fall von
Walthers zweitem Reichsspruch deren Funktion im Kontext eines Assoziations-, Denk- und
Verstehensvorgangs bestimmen (Thomas Cramer), wurden bislang nicht weiter aufgegrif-
fen. Vgl. Brian Vickers: Alchemie als verbale Kunst: die Anfänge. In: Chemie und Geistes-
wissenschaften. Versuch einer Annäherung. Hrsg. von Jürgen Mittelstraß und Günter Stock.
Berlin 1992, S. 17–34; Harald Haferland: Alchemie und Literatur. In: Mediävistik und Kul-
turwissenschaften. Mediävistik und Neue Philologie. Akten des X. Internationalen Germa-
nistenkongresses Wien 2000, Bd. 5., S. 183–188; Thomas Cramer: „Ich sach swaz in der welte
was.“ Die Ordnung des Kosmos in Walthers zweitem Reichsspruch. In: Zeitschrift für deut-
sche Philologie 104 (1985), S. 70–85.
17 Gert Hübner: Der künstliche Baum. Höfischer Roman und poetisches Erzählen. In: PBB
136,3 (2014), S. 415–471, hier S. 429.
er darauf hin, dass mit der Alchemie eine Einschätzung vorhanden war, nach
der ars die Perfektionierung des natürlichen Vorbilds übernehmen konnte. 18
Im Folgenden soll der These nachgegangen werden, dass alchemistisches
Wissen um 1200 Denkmodelle und Darstellungsmuster zur Verfügung stellt, die
literarisch produktiv gemacht werden und (neue) Spielräume poetologischer
Reflexion eröffnen.
22 So z.B. im Kommentar von Krohn: „Daß Marke keinen Unterschied bemerkt zwischen
seinen beiden Partnerinnen, bestärkt jene Interpreten, die das Vergehen des Königs in seiner
undifferenzierten Sinnengier sehen.“ Gottfried von Straßburg: Tristan (Anm. 20), Bd. 3,
S. 188.
23 So z.B. bei Christoph Huber: Gottfried von Straßburg. Tristan. Berlin 2001, S. 87.
24 Schütt: Auf der Suche nach dem Stein der Weisen (Anm. 3), S. 32. Es geht dabei nicht um die
Imitation des Prozesses, sondern um die Imitation des Ergebnisses. So zielt die alchemisti-
sche Erzeugung von Purpur nicht auf die Verarbeitung eines anderen Kriechtiers anstelle
der eigentlichen Purpurschnecke ab, sondern auf die Imitation des Farbtons.
25 Vgl. dazu Schütt: Auf der Suche nach dem Stein der Weisen (Anm. 3), S. 39.
schaffen vermag. Ansonsten gilt der Farbton als wichtigster Indikator für den
Zustand der Materie.
Das hier im Tristan anzitierte und aus der Literatur hinlänglich bekannte Mo-
tiv der ‚untergeschobenen Braut‘ dient also nicht als moralisches Exempel, son-
dern es wird vielmehr mittels des Gold- und Legierungsbeispiels der Alchemie
eine Verbindung zum mittelalterlichen Diskurs der imitatio hergestellt. 26 Die
besondere Stoßrichtung von Gottfrieds Text innerhalb dieser breit geführten
Diskussion ergibt sich dabei aus dem Aspekt der Fälschung und ihrer diskurs-
kritischen Funktion. 27 Denn es geht hier weniger darum, über das gefälschte
Objekt zu reflektieren und die Frage ‚echt‘ oder ‚falsch‘, ‚wahr‘ oder ‚simuliert‘
(das stellt der Text klar aus), sondern vielmehr um das diskurskritische Poten-
tial, das Fälschungen innewohnt. Hierzu heißt es bei Doll:
Fälschungen schärfen „den Blick auf die Bedingtheiten von Erkenntnis-
sen, Erfahrungen und Diskurspraktiken“ und bringen „mitunter einen
grundlegenden Dissens gegenüber vorgefundenen Ordnungen, wie Wis-
sen verteilt, oder allgemein, wie reagiert wird, zur Artikulation […], mit
dem Effekt, ansatzweise deren jeweilige Verunsicherung und Verände-
rung zu bewirken.“ 28
Eine Fälschung also existiert nur bis zu ihrer Entdeckung und wird auch nur
dadurch als solche konstituiert – im Falle von Isolde / Brangäne wird der Betrug
durch den Erzähler aufgedeckt, während er Marke und dem Hof auf der Hand-
lungsebene zunächst unentdeckt bleibt. Auf der Erzählebene hingegen wird ein
Raum für Irritation geschaffen, indem die Fälschung „nach ihrer Entlarvung das
Selbstverständnis, mit dem man zu wissen glaubt, was als wahr, echt, authen-
tisch, original oder autorisiert gilt,“ irritiert und „mitunter auch gesicherte Vor-
stellungen, was eine Fälschung ist, ins Wanken geraten.“ 29
Durch die Einbeziehung des Aspekts der Fälschung wird der Blick damit auf
die diskurstheoretischen Implikationen und auf den kontextuellen Rahmen, in
dem die ‚Fälschung‘ Isolde / Brangäne steht, gelenkt.
26 Ein Forschungsreferat, das einen angemessenen Überblick über den Begriff der imitatio und
dessen Verwendung im Mittelalter liefern würde, kann im hier gebotenen Rahmen nicht ge-
leistet werden; zur Einführung in den Begriff vgl. den Eintrag „imitatio“ von Dina DeRentiis
und Nicola Kaminski in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding.
Bd. 4. Tübingen 1998, Sp. 235–303, mit weiterführender Literatur.
27 Ich greife hier Überlegungen auf, die für den Bereich der Moderne in Anschlag gebracht
werden. Vgl. dazu Martin Doll: Fälschung und Fake. Zur diskurskritischen Dimension des
Fälschens. Berlin 2012; Fälschungen. Zu Autorschaft und Beweis in Wissenschaften und
Künsten. Hrsg. von Anne-Kathrin Reulecke. Frankfurt a.M. 2006, bes. Einleitung S. 7–31;
Das Spiel mit der Wahrheit – Fälschungen in Literatur, Film und Kunst. Hrsg. von Barbara
Potthast. Berlin 2012.
28 Doll: Fälschung und Fake (Anm. 27), S. 12f.
29 Doll: Fälschung und Fake (Anm. 27), S. 12.
30 Vgl. z.B. die Anleitung zur Herstellung von ‚runden Perlen‘ („Méthode pour confectionner
la perle ronde“) in Marcelin Berthelot: Collection des anciens alchimistes grecs. Publié sous
les auspices du Ministère de L’instruction Publique par M. Berthelot. Avec la Collaboration
de Charles-Emile Ruelle. Paris 1887. Nachdruck London 1963, Bd. II, S. 349–356.
31 Siehe auch noch später beim Hirschbast.
32 Nach wie vor einschlägig zu diesem Thema ist Thomas Cramer: Solus creator est deus. Der
Autor auf dem Weg zum Schöpfertum. In: Daphnis 15 (1986), S. 261–276; Franz-Josef Worst-
brock: Wiedererzählen und Übersetzen. In: Mittelalter und Frühe Neuzeit. Übergänge, Um-
brüche und Neuansätze. Hrsg. von Walter Haug. Tübingen 1999, S. 128–142.
33 Gottfried von Straßburg: Tristan (Anm. 20), Bd. 3, S. 97.
34 Michael Seggewiß: ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ im Tristan Gottfrieds von Straßburg. Heidelberg
2012, S. 158.
35 So Seggewiß: ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ im Tristan Gottfrieds von Straßburg (Anm. 34), S. 158.
Zur Metapher des Pfropfens und der Baumsymbolik mit ähnlicher Diskussion der Stelle vgl.
Müller-Kleimann: Gottfrieds Urteil über den zeitgenössischen Roman (Anm. 19), S. 307–312.
36 Datierung und Zuschreibung des Textes sind unklar. Ich verweise hierfür auf die Dokumen-
tation bei Newman: The Summa Perfectionis of Pseudo-Geber. A critical edition, translation
and study by William R. Newman, Leiden 1991, S. 7–10.
37 Vgl. das bereits oben dargestellte Problem von Fälschung und Legierung bzw. Messing und
Gold.
der Vergleichbarkeit von gepfropftem Baum (arbor insita artificialis) und ‚natürli-
chem‘ (arbor spontanea naturalis) konstatiert, dass der menschliche Eingriff die
essentiellen Eigenschaften der Substanz verändern und damit Neues herstellen
kann:
Imo opera humana cum naturalibus multimode eadem sunt, ut in igne et
aere, aqua, terra, mineris, arboribus et bestiis ostendemus. Nam et ignis
fulgoris naturalis et ignis de lapide eiectus uterque ignis est. Aer conti-
nens naturalis est et aer ex decoctione artificialis uterque aer. Terra substi-
tuens naturalis et terra ex reservatione aque artificialis utraque terra est.
Sal vero viride et dragantum et thutia et sal armoniacus et naturalia et ar-
tificialia sunt. Immo et artificialia naturalibus potiora sunt, quod qui de
mineriis sciunt non contradicunt. Arbor spontanea naturalis et arbor insi-
ta artificialis utraque arbor est. Apes naturales et apes ex tauro artificiales
utreque apes sunt. Nec ars hec omnia facit, sed naturam facientem ad-
iuvat. 38
(Menschliche Werke sind auf vielerlei Art wie natürliche, wie wir am Bei-
spiel von Feuer, Luft, Wasser, Erde, Mineralien, Bäumen und Tieren zei-
gen werden. Denn das Feuer eines natürlichen Blitzes und das Feuer, das
durch einen Stein geschlagen wird, sind beides Feuer. Die natürliche Luft
und die künstliche Luft, die durch Kochung erzeugt wird, sind beides
Luft. Die natürliche Erde, auf der wir stehen, und die künstliche oder
durch Kompostierung entstandene Erde sind beides Erde. Grünes Salz,
Vitriol, Tutia und Ammoniumchlorid sind künstlich und natürlich. Aber
die künstlichen sind sogar noch besser als die natürlichen, was jeder, der
sich mit Mineralien auskennt, bestätigen wird. Der natürliche wilde Baum
und der künstlich gepfropfte sind beide Bäume. Natürliche Bienen und
künstliche Bienen aus einem verwesenden Stier sind beide Bienen. Nicht
die Kunst macht alle diese Dinge, sondern sie hilft der Natur dabei, sie zu
machen.)
Das Pfropfen wird im Tristan damit als poetologische Metapher genutzt, die vor
dem Hintergrund alchemistischer Auffassungen über die gemeinhin gebräuchli-
che Referenz auf eine gärtnerische Kulturleistung weit hinausgeht und auf den
Kern alchemistischer Reflexion über das Verhältnis von ars und natura und das
Vermögen des Adepten zielt.
38 Newman: The Summa Perfectionis of Pseudo-Geber (Anm. 36), S. 53f. Übersetzung von mir.
gelenkt sei – Gottfrieds Worte, gleichwie in einer Retorte (den vil liehten tegel), zu
arabischem Gold veredeln:
der selbe trahen der eine
der ist ouch nie sô cleine,
er enmüeze mir verrihten,
verrihtende beslihten
beidiu zungen unde sin,
an den ich sus entrihtet bin.
diu mînen wort muoz er mir lân
durch den vil liehten tegel gân
der camênischen sinne
und muoz mir diu dar inne
ze vremedem wunder eiten,
dem wunsche bereiten
als golt von Arâbe. (V. 4883–4895).
Auch hier steht der Gedanke des Regelhaften und Geordneten im Vordergrund,
der jedoch in Form von Musenquelle und Retorte durch zwei der Kontrolle ent-
hobene Instanzen ergänzt wird.
Christoph Huber stellt zum Literaturexkurs fest, dass dieser „antike und
christliche Inspirationsgaranten übereinander schichtet“, 39 und betont die damit
implizierte Qualitätsänderung der Topoi von diesseitiger zu jenseitiger Welt.
Dabei aber erscheint wichtig zu ergänzen, dass mit dem Pfropfen und dem
Schmelzen von Gold im Tiegel auch Techniken und Bilder alchemistischer Pra-
xis aufgenommen sind, die – an zentraler Stelle – den Blick auf die Prozesshaf-
tigkeit des Dichtungsvorgangs lenken, indem sie alchemistische und poetische
Bildlichkeit ineinander verschränken. Anstelle eines ‚Übereinander-Schichtens‘
von Topoi wird so eher ein nebeneinander geordnetes Panorama abgeschritten
und ein ‚Laboratorium des Erzählens‘ präsentiert, mit dem Komponenten litera-
rischer Produktion durchgespielt werden.
39 Christoph Huber: Gottfried von Straßburg. 3., neu bearbeitete und erweiterte Auflage,
Berlin 2013, S. 68.
40 Hierauf weist besonders Schmid hin; vgl. Elisabeth Schmid: Natur und Kultur in der Jagd-
szene von Gottfrieds Tristan. In: Der Tristan Gottfrieds von Straßburg. Symposion Santiago
de Compostela. 5. bis 8. April 2000. Hrsg. von Christoph Huber und Victor Millet. Tübingen
2002, S. 153–166, hier S. 163.
41 Dazu auch Burkhardt Krause: Die Jagd als Lebensform und höfisches ‚spil‘. Mit einer Inter-
pretation des ‚bast‘ in Gottfrieds von Straßburg Tristan. Stuttgart 1996, S. 172–174.
42 Gottfried von Straßburg: Tristan, V. 2843–2849. Krause spricht bei dem Bast von einem
digressiven Moment der Handlung, das den Ablauf des Geschehens entdramatisiert und
diesem den Charakter souveräner Bedachtsamkeit und distanzierender Beherrschtheit ver-
leiht, vgl. Krause: Die Jagd als Lebensform und höfisches ‚spil‘ (Anm. 41), S. 141.
43 Vgl. Krause: Die Jagd als Lebensform und höfisches ‚spil‘ (Anm. 41); Ernst S. Dick: The
Hunted Stag and the Renewal of Minne: Bast in Gottfried’s Tristan. In: Tristania 17 (1996),
S. 1–25; Hans Jürgen Scheuer: Die Signifikanz des Rituals. Zwei Tristan-Studien. In: Beiträge
zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 121 (1999), S. 406–439; Katharina
Philipowski: Die Ordnungen des Erzählens und ihre Entblößung. Formalismus und
Verfremdung als Selbstreflexion von Erzählstrategien. In: Das fremde Schöne. Dimensionen
Dass Körper zerlegt und wieder zusammengesetzt werden, ist zum Beispiel aus
dem Mythos bekannt: 48 Der Gott Dionysos wird getötet, zerstückelt, in einen
Kessel geworfen und gekocht – Zeus erweckt ihn wieder zum Leben, indem er
die Glieder einsammelt und wieder zusammenfügt. 49 Im Falle des ebenfalls zer-
teilten und als Mahl zubereiteten Pelops, von dessen Schulter Persephone ge-
dankenverloren bereits ein Stück gegessen hatte, fehlt nach der Wiederzusam-
des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Manuel Braun und Christopher
Young. Berlin 2007, S. 195–224; Andreas Kraß: Der fragmentierte Körper. Politik und Poetik
im Tristan Gottfrieds von Straßburg. In: Fragmentarität als Problem der Kultur- und
Textwissenschaften. Hrsg. von Kay Malcher, Stephan Müller, Katharina Philipowski und
Antje Sablotny. München 2013, S. 117–131.
44 Nu daz der hirz gevellet wart,
der da jêgermeister was,
der stracte in nider ûf daz gras
ûf alle viere alsam ein swîn […] (V. 2788–2891)
45 Gottfried von Straßburg: Tristan (Anm. 20), V. 2798–2806.
46 Schmid bezieht ihre Argumentation jedoch auf die Leiblichkeit des Hirsches, der – und da
muss man ihr Recht geben – nach dem Bast in der Tat ‚mausetot‘ ist. Damit bleibt die zwei-
te, für die poetologische Interpretation der Stelle bedeutsame Lesart jedoch unbeachtet.
47 Ernst S. Dick: The Hunted Stag and the Renewal of Minne: Bast in Gottfried’s Tristan. In:
Tristania 17 (1996), S. 1–25, hier S. 8.
48 Weitere Beispiele wären Pelias, der auf Wirken der Medea unter der Lüge, er könnte
dadurch verjüngt werden, von seinen Töchtern zerstückelt und gekocht wird; Prokne, die
ihrem Gatten Fereus den gemeinsamen Sohn als Gericht vorsetzt, sowie v.a. der ägyptische
Gott Osiris, der von seinem Bruder getötet und zerstückelt, von Isis gesucht und wiederbe-
lebt wird.
49 Schütt weist auf die Bedeutung der Mysterienkulte und die besondere Rolle des Dio-
nysoskults für die Alchemie hin; vgl. Schütt: Auf der Suche nach dem Stein der Weisen
(Anm. 3), S. 87–94.
mensetzung zwar ein Körperteil, das jedoch durch eine elfenbeinerne Prothese
ersetzt (und durch diese Artifizialität noch verbessert?) wird. Während also der
Gedanke der Transmutation im Mythos durch Vorstellungen von De- und Re-
komposition verankert ist, 50 scheint der Fokus im Tristan anders ausgerichtet zu
sein. Zu auffällig ist der Stellenwert des planvollen Zerlegens, das den natürli-
chen Gesetzmäßigkeiten folgt, und der Wert, der auf die Verwandlung in einen
‚neuen Hirsch‘ gelegt wird: Erst die planvolle Zerlegung und die kalkulierte
Fragmentierung des Körpers ermöglichen die Transformation zu einer neuen
Einheit auf höherem Niveau. Hierfür werden in der Forschung verschiedene
Lesarten diskutiert, die alle an der poetologischen Funktion der Bastszene anset-
zen, diese jedoch interpretatorisch unterschiedlich kontextualisieren. 51
Ich möchte vorschlagen, den Bast vor der Folie alchemistischer Denkmuster
zu lesen. Denn das dem Hirschbast zugrunde liegende Muster des Zerteilens
und Wiederzusammenfügens ist auch das Grundprinzip der Transmutation in
der Alchemie: Es ist das Prinzip des solve et coagula, des Lösens und Wiederver-
bindens von Stoffen.
Gleichgültig, ob es sich um die alchemistischen Verfahren der Destillation,
Sublimation, Calcination, Assation oder Kochung, Reverberation, Dissolution,
Descension oder Coagulation handelt, steht dahinter letztlich ein und derselbe
Effekt des Zerteilens, der eine Verbindung auf neuer und höherer Ebene – und
damit die Transmutation und Veredelung – ermöglicht. Dieses Konzept der
Zerteilung, wie auch die anderen oben genannten Operationen und Vorgänge,
werden im Kontext alchemistischer Grunddisposition und deren genereller Af-
50 Weitere Parallelen und Interpretationsansätze in Verbindung mit der Alchemie würden sich
im Bereich des Mysterienkults, des Initiationsritus’ sowie der Vorstellung der Erlösung er-
geben. Sie können hier jedoch nicht weiter verfolgt werden.
51 Krause schlägt gleich zwei ‚Lektüren‘ des Basts als poetologischer Metapher vor: „Das
Ganze und die Teile“ sowie eine „Interpretatio platonica“, bei der er mit einer Parallele zu
Platons Phaidros argumentiert, in der Sokrates die gelungene Rede mit einem lebendigen
Wesen vergleicht, das über einen geordneten Körperbau verfüge, vgl. Krause: Die Jagd als
Lebensform und höfisches ‚spil‘ (Anm. 41), S. 151–188 und S. 177–188. Kraß sieht den Hirsch
als Allegorie der politischen und poetischen Ordnung, der zunächst waidgerecht in seine
Einzelteile zerlegt und dann wieder kunstvoll zusammengesetzt wird, und dessen Zurich-
tung das hierarchische bzw. stratifikatorische Prinzip ‚verkörpert‘, vgl. Kraß: Der fragmen-
tierte Körper (Anm. 42), S. 127–130; Dick schlägt eine metanarrative Lesart vor und sieht im
Jäger ein Bild des Künstlers, vgl. Ernst S. Dick: Tristan the Hunter: Toward a Metanarrative
Reading of Gottfried’s Stag Ritual. In: Fide et amore. Festschrift für Hugo Bekker. Hrsg. von
William C. McDonald. Göppingen 1990, S. 41–69. Philipowski nennt den Bast im Zusam-
menhang mit der Selbstreflexivität von Literarizität und streicht den Aspekt von Machtaus-
übung und Herrschaft bei der kunstgerechten Formung des Hirschs heraus, an dem sich das
formale Ordnungsprinzip und die Kohärenz höfischen Erzählens spiegeln, vgl. Philipowski:
Die Ordnungen des Erzählens und ihre Entblößung (Anm. 42), S. 7–9. Scheuer untersucht
die Ritualität der Szene und fragt nach dem erzählerischen Modus, nach dem Rituale oder
ritualisierte Handlungen zum Gegenstand des Erzählens werden, vgl. Scheuer: Die Signifi-
kanz des Rituals (Anm. 43), S. 438.
finität zur Bildlichkeit, nach der auch Stoffe als Figuren oder Personen gedacht
werden, ebenfalls bildlich und oft körperlich imaginiert. 52 Ikonographisch um-
gesetzt finden sich diese körperlich inszenierten Vorgänge in den ab dem Spät-
mittelalter einsetzenden bildlichen Darstellungen, wie ein Beispiel aus einem
Exemplar der breit überlieferten alchemistischen Bilderhandschrift Splendor solis
oder Sonnenglanz (um 1530) 53 zeigt, das den chemischen Vorgang der ‚Zerstücke-
lung‘ ins Bild setzt (vgl. Farbabbildung S. 443).
Doch auch alchemistische Texte selbst operieren mit einer körperlich insze-
nierten Bildlichkeit. Ein Beispiel liefert der Text Über die Kraft des altägyptischen,
auch im Hochmittelalter bekannten 54 Autors Zosimos aus Panapolis (spätes 3.
bis frühes 4. Jahrhundert), einem der einschlägigen alchemistischen Texte aus
dem griechisch-alexandrinischen Kontext. In einer in einen Traum eingebetteten
Vision erhält der Erzähler Auskunft über unterschiedliche alchemistische Vor-
gänge und Naturprozesse, wie hier die ‚Entstehung der Wässer‘: 55
Und indem ich dieses sprach, schlief ich ein, und ich sah einen Priester
vor mir stehen oben auf dem Altar, der die Form einer flachen Schale hat-
te. […] Er aber antwortete mir mit feiner Stimme und sprach: – Ich bin
Ion, der Priester der innersten verborgenen Heiligtümer, und ich unter-
ziehe mich einer unerträglichen Strafe. Denn es kam einer um die Mor-
genfrühe in eilendem Laufe, der überwältigte mich und zerteilte mich mit
dem Schwert, indem er mich durchbohrte, und zerriß mich entsprechend
der Zusammensetzung der Harmonie. Und er zog die Haut meines Kopf-
es ab mit dem Schwert, das von ihm mit Macht gehandhabt wurde, und
er fügte die Knochen mit den Fleischstücken zusammen und verbrannte
das Ganze der Kunst entsprechend auf dem Feuer, bis ich wahrnahm, wie
mein Körper verwandelt und zu Geist wurde. Und dieses ist meine uner-
trägliche Qual. – Und wie er mir dies noch erklärte, und ich ihn mit Ge-
walt zwang, mir Rede zu stehen, da geschah es, daß seine Augen wurden
wie Blut. Und er spie all sein eigenes Fleisch aus. Und ich sah, wie er sich
in einen verstümmelten Homunculus, in seine eigene Umkehrung, ver-
wandelte. Und mit seinen eigenen Zähnen zerfleischte er sich und sank in
sich zusammen.
Voller Furcht erwachte ich aus dem Schlafe, und ich erwog bei mir: ‚Ist
dies nicht etwa die Zusammensetzung der Wässer?‘ Ich meinte fest über-
zeugt zu sein, daß ich wohl verstanden hätte. Und ich schlief wieder
ein… 56
Während es sich nach Holmyard in diesem Text im ersten Abschnitt um eine
Beschreibung der „Zerstörung eines Metalls durch Hitze und seine Umwand-
lung in Pulver [handelt], dann vielleicht gefolgt von der Wiederherstellung des
Metalls durch Erhitzen des Pulvers mit Kohle“, 57 verweist die Darstellung neben
der bildlich und körperlich imaginierten Transmutationsszene vor allem auf die
Verschlüsselung und Arkanisierung des Wissens, das sich nur dem Eingeweih-
ten durch die Vermittlung des Geheimwissens verbunden mit experimentellem
Nachvollzug bzw. Partizipation (der Erzähler sieht den Transmutationsvorgang
im Traum) mitteilt. Dass der Aspekt der Arkanisierung mit ihrer Idee von Ex-
klusivität in dieser Form nicht nur für den Hirschbast, sondern auch für den
gesamten Tristan-Roman und dessen anvisierten Rezipientenkreis der edelen
herzen weiterzudenken wäre, kann hier nur angedeutet werden. Eine Vertiefung
dieses Aspekts würde den Rahmen des vorliegenden Beitrags übersteigen und
muss weiterer Untersuchung vorbehalten bleiben.
56 Zosimos aus Panapolis: Über die Kraft („Die Visionen des Zosimos“), Übersetzung zitiert
nach Carl Gustav Jung: Von den Wurzeln des Bewußtseins. Studien über den Archetypus.
Zürich 1954, S. 139–141.
57 Eric John Holmyard: Alchemy. Harmondsworth 1957, Reprint New York 1990, S. 29.
58 Vgl. u.a. Karina Kellermann: ‚und vunden vür ir herren da einen zestucketen man‘. Körper,
Kampf und Kunstwerk im Tristan. In: Der Tristan Gottfrieds von Straßburg (Anm. 40),
S. 131–152; Seggewiß: ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ im Tristan (Anm. 34).
59 Vgl. u.a. Christoph Huber: Wort-Ding-Entsprechungen. Zur Sprach- und Stiltheorie Gott-
frieds von Straßburg. In: Befund und Deutung. FS Hans Fromm. Hrsg. von Klaus Grubmül-
ler u.a. Tübingen 1979, S. 268–308.
60 Vgl. u.a. Irene Lanz-Hubmann: ‚Nein unde jâ‘. Mehrdeutigkeit im Tristan Gottfrieds von
Straßburg. Ein Rezipientenproblem. Frankfurt a.M., Bern u.a. 1989.
heit. 62 Und schließlich zeigt der Text die Thematik und Struktur der Fragmenta-
rität, die auch die (erzählte) propagierte Ganzheit als eine künstliche ausweist. 63
Artifizialität, Experiment, Fragmentarität: Dies sind auch Muster und Struk-
turen, die für die Alchemie konstitutiv sind. Die vorangegangenen exemplari-
schen Lektüren ausgewählter Stellen des Tristan haben versucht aufzuzeigen,
dass die Alchemie Denkmodelle und Darstellungsmuster bietet, um die literari-
schen Spezifika des Tristan neu zu verorten und bekannte Problemkomplexe in
einen neuen Deutungszusammenhang zu stellen.
Für den Bereich der Moderne ist die Bedeutung der Alchemie für die Poetologie
hinlänglich bekannt und dokumentiert: Interdisziplinäre Ansätze, wie die Aus-
stellung Kunst und Alchemie – das Geheimnis der Verwandlung, betonen die Paralle-
le von künstlerischer und alchemistischer Produktion; 64 literatur- und kunstthe-
oretische Überlegungen des 20. Jahrhunderts wie Alchemie und Sprache von Mi-
chel Butor setzen Alchemie parallel zu literarischer und philologischer Tätigkeit
und verstehen das Hervorbringen eines literarischen Werks selbst als auch des-
sen Rezeption bzw. Dechiffrierung als alchemistischen Prozess. 65 In literarischen
Beispielen wie Texten von Walter Benjamin und Marcel Proust ist Alchemie eine
Folie der literaturtheoretischen Reflexion und Bildspeicher der eigenen literari-
schen Tätigkeit. 66
Am Beispiel des Tristan zeigt sich, dass Alchemie auch in mittelalterlicher Li-
teratur Freiräume für poetologische Reflexion eröffnet, indem sie unter anderem
die Diskussionen um das Verhältnis von ars und natura sowie die Konzeptuali-
sierungen von imitatio in erweiterte Perspektiven einzustellen vermag. Dabei
geht es im literarischen Verfahren nicht um das Zitieren, die Aufnahme alche-
mistischer Symbolik oder einen simplen Vergleich: Mit dem Brautnachtbetrug
wird weder allein die gelungene Vertauschung der Frauen Isolde und Brangäne
erzählt, noch geht es einzig um den Aspekt des Goldfälschens in der Alchemie.
61 Vgl. u.a. Horst Wenzel: Negation und Doppelung. Poetische Experimentalformen von Indi-
vidualgeschichte im Tristan Gottfrieds von Straßburg. In: Wege in die Neuzeit. Hrsg. von
Thomas Cramer. München 1988, S. 229–251.
62 Anna Mühlherr: Unstimmigkeit als Kalkül. Gottfrieds Rühmen und Schelten zu Beginn des
poetologischen Exkurses. In: Der Tristan Gottfrieds von Straßburg (Anm. 40), S. 317–326.
63 Kellermann: Körper, Kampf und Kunstwerk im Tristan (Anm. 58), S. 152.
64 Die Ausstellung, die vom 05.04.2014–20.08.2014 im Düsseldorfer Museum ‚Kunstpalast‘
stattfand, wurde realisiert in Zusammenarbeit vom Max-Planck-Institut für Wissenschafts-
geschichte (Berlin), der Stiftung Museum Kunstpalast / Quadriennale Düsseldorf 2014 und
der Chemical Heritage Foundation. Vgl. dazu den Ausstellungskatalog Kunst und Alchimie.
Das Geheimnis der Verwandlung. Hrsg. von Beat Wismer, Dedo von Kerssenbrock-Krosigk
und Sven Dupré. München 2014.
65 Michel Butor: Die Alchemie und ihre Sprache. Essays zur Kunst und Literatur. Hrsg. von
Helmut Scheffel. Frankfurt a.M., Paris 1984, S. 13–24.
66 Vgl. Helmut Kaffenberger: Orte des Lesens – Alchimie – Monade. Studien zur Bildlichkeit
im Werk Walter Benjamins. Würzburg 2011.
1 Vgl. Platon: Symposion. In ders.: Hippias minor. Symposion. Phaidon. Griechisch und
Deutsch. Nach der Übersetzung Friedrich Schleiermachers, ergänzt durch Übersetzungen
von Franz Susemihl und anderen. Hrsg. von Karlheinz Hülser. Frankfurt a.M., Leipzig 1991
(Sämtliche Werke in zehn Bänden. IV), 203b–204a.
2 Vgl. Plotins Schriften [Enneaden]. Übersetzt von Richard Harder, fortgeführt von Rudolf
Beutler und Willy Theiler. Bd. IIa: Die Schriften 22–29 der chronologischen Reihenfolge. Text
und Übersetzung. Hamburg 1962, IV,4,40 (Schrift 28 der ‚chronologischen‘ Reihenfolge),
S. 344/345, Übersetzung nach Harder: „die wahre Magie nämlich ist ‚die Freundschaft‘ [phi-
lia] und ‚der Streit‘ [neixos], die im All sind, das ist der oberste Zauberkünstler [goes] und
Hexenmeister [pharmakeus]. Ihn kennen die Menschen gar wohl und brauchen seine Kräut-
lein und Formeln wider einander. Denn weil die Menschen von Natur zur Liebe fähig sind
und die Liebe erregenden Stoffe sie zueinander zwingen, findet die Kunst des magischen
Liebeszwanges statt, bei der man verschiedenen Personen verschiedene magische Substan-
zen beibringt, die sie durch Kontakt zusammenführen, weil ihnen Liebeskräfte innewoh-
nen.“
Thesen Malinowskis, 3 nach dem die Magie als Reaktion auf überwältigende
Gefühle entsteht und aus der Konfrontation mit einem komplexen, nicht genau
kontrollierbaren menschlichen Inneren ein Handlungsmodell entwirft.
Wie tragfähig Platons Verknüpfung von Eros und Magie ist, belegt die Viel-
falt, in der die Praxis der Liebesmagie schon früh in varianten Diskursen begeg-
net. 4 Zu denken ist an Circe oder Medea, 5 Vergil lässt die verzweifelt liebende
Dido in der Aeneis Zuflucht zum Zauberlied einer massylischen Priesterin neh-
men, 6 bei Horaz bereitet die Hexe Canidia in der fünften Epode ein Liebesmittel
aus Mark und Leber eines eingegrabenen Knaben, 7 in Vergils achter Ekloge wird
der untreue Geliebte Daphnis mit Kräutern eines Zauberers zurückgebracht. 8
Auch der naturkundliche Diskurs zieht mit, so liefert etwa Plinius in der Natura-
lis historia Rezepte, nach denen man mit Körperteilen der Hyäne hantieren muss,
um schöne Frauen anzuziehen. 9
3 Vgl. Bronislaw Malinowski: Magie, Wissenschaft und Religion und andere Schriften.
Übersetzt von Eva Krafft-Bassermann (1948). Frankfurt a.M. 1973.
4 In einer rezeptionsgeschichtlichen Perspektive bedenkt diesen Zusammenhang Mary Fran-
ces Wack: From Mental Faculties to Magical Philters: The Entry of Magic into Academic Me-
dical Writing on Lovesickness, 13th–17th Centuries. In: Eros and Anteros: The Medical Tra-
ditions of Love in the Renaissance. Hrsg. von Donald A. Beecher und Massimo Ciavolella.
Toronto 1992, S. 9–31. Vgl. auch Richard Kieckhefer: Erotic Magic in Medieval Europe. In:
Sex in the Middle Ages. A Book of Essays. Hrsg. von Joyce E. Salisbury. New York 1991,
S. 30–55.
5 Vgl. Irmgard Müller: Liebestränke, Liebeszauber und Schlafmittel in der mittelalterlichen
Literatur. In: Liebe – Ehe – Ehebruch in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Xenja von
Ertzdorff und Marianne Wynn. Gießen 1984, S. 71–87, hier S. 71.
6 Vgl. Vergil: Aeneis. Lat. – Dt. Hrsg. und übersetzt von Johannes Götte. München 1988, IV,
478–493.
7 Vgl. [Horaz: Epoden] Horace: The Odes and Epodes. Hrsg. von Charles Edwin Bennett.
London, Cambridge, MA 1964, Epode 5, V. 29–40: Der Knabe wird bis zum Hals eingraben;
als er verhungert und verdurstet ist, kann die Hexe aus den getrockneten Organen bestimm-
te liebeswirksame Zauberstoffe gewinnen. Zur Canidiafigur bei Horaz vgl. Frank Wittchow:
Prekäre Gemeinschaften. Inklusives und exklusives Lachen bei Vergil und Horaz. In: Lach-
gemeinschaften. Kulturelle Inszenierungen und soziale Wirkungen von Gelächter im Mit-
telalter und in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Werner Röcke und Hans Rudolf Velten. Berlin
2005, S. 85–110, hier S. 95f.
8 Vgl. [Vergil: Bucolica] Vergil: Landleben. Catalepton. Bucolica. Georgica. Hrsg. von Johan-
nes und Maria Götte. Vergil-Viten. Hrsg. von Karl Bayer. Lateinisch und deutsch. 5. Aufl.
München 1987, Ekloge 8,64–109, mit der mehrfach wiederholten Beschwörungsformel ducite
ab urbe domum, mea carmina, ducite Daphnim, Übersetzung: „Führt mir heim von der Stadt, oh
meine Beschwörungen, führt mir Daphnis her.“
9 Vgl. Gaius Plinius secundus der Ältere: Naturkunde. Lateinisch – Deutsch. Buch XXVIII.
Medizin und Pharmakologie. Heilmittel aus dem Tierreich. Hrsg. und übersetzt von Ro-
derich König in Zusammenarbeit mit Gerhard Winkler. Darmstadt 1988 (Gaii Plinii secundi
Naturalis Historiae libri XXXVII), Kap. 27, § 101, wo es über die Hyäne heißt: pilos rostri ad-
motos mulierum labris amatorium esse, Übersetzung nach König: „die Haare der Schnauze, an
die Lippen der Frau gebracht, seien ein Liebesmittel“. Vgl. auch § 106: eiusdem cavernam si-
nistro lacerto alligatam, si quis mulierem prospiciat, amatorium esse tam praesens, ut ilico sequatur,
Übersetzung nach König: „das Mastdarmende <des Tieres>, an den linken Arm gebunden,
sei ein so rasch wirkender Liebesreiz, daß, wenn jemand eine Frau nur ansehe, sie <ihm> so-
gleich folge“.
10 Zum lateinischen Diskurs über die Liebeskrankheit vgl. Alfred Karnein: Amor est passio.
Untersuchungen zum nicht-höfischen Liebesdiskurs des Mittelalters. Hrsg. von Friedrich
Wolfzettel. Triest 1997, sowie Mary Frances Wack: Lovesickness in the Middle Ages. The
Viaticum and Its Commentaries. Philadelphia, PA 1986.
11 Vgl. hierzu und zum Folgenden die aufschlussreiche Studie von Wack: From Mental Facul-
ties to Magical Philters (Anm. 4).
12 Mit der Colcherin ist Medea gemeint.
13 Ovid: Remedia amoris. Hrsg. von John Henry Mozley. Cambridge, London 1985, Buch 2,98–
113. Übersetzung: „Wenn jemand meint, dass die schädlichen Kräuter aus Hämonien und
die Künste der Magie ihm helfen können, so möge er selbst sehen. Das ist der alte Weg der
Giftmischerei. Unser Gott Apollo gibt unschädliche Hilfe mit heiligem Gesang. [...] Was
nützten dir die Gräser des Phasischen Landes, Colcherin, als du zu Hause in deinem Vater-
land bleiben wolltest? Was nützten dir, Circe, persische Kräuter, als die Winde das Schiff
des Neritiers wegtrugen?“ Zur Rezeption der ovidischen Liebeskonzeption im deutschspra-
chigen Mittelalter vgl. immer noch grundlegend Rüdiger Schnell: Ovids Ars amatoria und
die höfische Minnetheorie. In: Euphorion 69 (1975), S. 132–159.
An die Stelle magischer Rezepturen tritt bei Ovid die eigene Dichtung, wird der
heilige Gesang des Apoll zur wahren Liebesmagie. Er wendet das Argument ins
Poetologische und nutzt das Verlangen nach wirksamen Zaubermitteln, um die
eigene Dichtung zu propagieren.
In der Naturphilosophie wird die platonische Verbindung von Liebe und
Magie im 15. Jahrhundert im Zuge der Symposion-Rezeption wieder aktuell. So
vertritt Ficino eine positive Sicht der Magie, versteht den Magier als eine Art
Sachverständigen des Kosmos, der die im ordo wirkenden Kräfte erkennt und
verstärkt. 14 Die Bezeichnung des Eros als Magier wird von Ficino in seinem
Symposion-Kommentar De amore (1466) ausgebaut und zu einer Theorie der ma-
gia naturalis als Basis einer philosophischen Liebestheorie verdichtet. In direktem
Bezug auf die Bezeichnung des Eros als goes bei Platon bzw. Plotin heißt es dort:
Sed cur magum putamus amorem? Quia tota vis magice in amore consistit. Magice opus
est attractio rei unius ab alia ex quadam cognatione nature. 15 Er vergleicht den Kos-
mos in seinem liebenden Zusammenhang zwischen allen Elementen mit dem
Menschen, dessen Körperteile ein harmonisches Ganzes ergeben. 16 Schließlich
konkretisiert Ficino die magischen Wirkweisen des Eros: Quapropter ne/mini
dubium est quin amor sit magus, cum et tota vis magice in amore consistat et amoris
opus fascinationibus incantationibus veneficiis expleatur. 17 Wenn die Magie auf dem
liebenden Zusammenhalt aller Elemente des ordo beruht, hat im Umkehrschluss
die Liebe ihre Wirk- und Ausdrucksform in magischen Praktiken.
14 Zur Verbindung von Magie und Eros bei Ficino vgl. Bernd-Christian Otto: Magie. Rezep-
tions- und diskursgeschichtliche Analysen von der Antike bis zur Neuzeit. Berlin, New York
2011, S. 426–431.
15 Marsilio Ficino: Über die Liebe oder Platons Gastmahl. Übers. von Karl Paul Hasse. Hrsg.
von Paul Richard Blum. Lat. – dt. Hamburg 2004, Oratio 6, Kap. 10, S. 242. Übersetzung
nach Hasse: „Weshalb aber wird Eros Zauberer genannt? Weil alle Macht der Zauberei auf
der Liebe beruht. Die Wirkung der Magie besteht in der Anziehung, welche ein Gegenstand
auf einen anderen auf Grund einer bestimmten Wesensverwandtschaft ausübt.“
16 Vgl. Ficino: Über die Liebe (Anm. 15), Oratio 6, Kap. 10, S. 244: Ex communi cognatione com-
munis innascitur amor, ex amore, communis attractio. Hec autem vera magicae est. Übersetzung
nach Hasse: „Aus dieser allgemeinen Verwandtschaft entspringt gemeinsame Liebe, aus
dieser die gegenseitige Anziehung: und dies ist die wahre Magie.“
17 Ficino: Über die Liebe (Anm. 15), Oratio 6, Kap. 10, S. 246. Übersetzung nach Hasse: „Darum
besteht kein Zweifel daran, daß Eros ein Zauberer ist; denn alle magischen Kräfte beruhen
auf der Liebe, und das Wirken des Liebesgottes vollzieht sich gewissermaßen durch Zau-
berblicke, Zaubersprüche und Zaubertränke.“
18 Vgl. Wolfram von Eschenbach: Parzival. Nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und
kommentiert von Eberhard Nellmann. Übertragen von Dieter Kühn. Frankfurt a.M. 1994,
287,9–294,30 (Blutstropfenepisode) oder auch der dritte Minneexkurs 584,25–587,14.
19 Vgl. Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und
Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus hrsg. von Hugo Moser und Helmut Ter-
vooren. Bd. 1: Texte, 38., erneut revidierte Aufl., mit einem Anhang: Das Budapester und
Kremsmünsterer Fragment. Stuttgart 1988, MF 126,8 und MF 147,4.
20 Vgl. Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche. 14., völlig neubearbeitete
Aufl. der Ausgabe Karl Lachmanns hrsg. von Christoph Cormeau. Berlin, New York 1996,
L 115,30.
21 Über die Behauptung, von ihr willentlich verzaubert worden zu sein, hat das Ich auf raffi-
nierte Weise eine Bindung zwischen sich und der Dame gesetzt, ihr die Aktivität in der
Minnebindung zugewiesen, während es sich selbst als auserwähltes Ziel des Zaubers be-
scheiden zurücknehmen kann.
derholt gezeigt. 22 Dabei ist der Zauber einerseits als übernatürliche Kraft keiner
Erklärung zugänglich und eröffnet innerhalb des Erzählens einen beliebig ab-
rufbaren Raum des Arkanen, andererseits wird er immer wieder als eine ars,
also als etwas, das man lernen kann, rationalisiert und einzelnen Figuren als
spezifische Könnerschaft zugewiesen. 23 Auch hier zeigt sich eine signifikante
Verknüpfung von Magie und Minne, 24 wobei in der höfischen Epik die minnebe-
troffenen Protagonisten meist nicht selbst mit den liebesmagischen Rezepten
hantieren, sondern die magischen Dienstleistungen meist auf Nebenfiguren
ausgelagert sind: 25 Thessala, die zauberkundige Amme der Fenice, verhilft in
Chrétiens Cligès mit einem Zaubertrank dazu, dass der ungewollte Ehemann die
Ehe nur im Traum vollziehen kann. 26 Auch die Zauberin, die Dido mit ihrem
astronomischen Wissen vom Liebeskummer befreien soll, begegnet in Veldekes
Eneasroman wieder, 27 und in Gottfrieds Tristan hat Isoldes Mutter den folgenrei-
chen Liebestrank bereitet. 28 Die Helferfiguren leisten ihre mehr oder weniger
günstigen magischen Dienste und verschwinden schnell wieder von der Bildflä-
che, ohne dass man die Protagonisten mit Figurenmerkmalen des Magiers belas-
ten muss. 29 Als radikale Macht reizt die Minne dazu, auf das Darstellungsregis-
22 Vgl. grundlegend Jutta Eming: Funktionswandel des Wunderbaren. Studien zum Bel Incon-
nu, zum Wigalois und zum Wigoleis vom Rade. Trier 1999.
23 Vgl. Matthias Meyer: Struktureller Zauber. Zaubersalben und Salbenheilungen in der mit-
telhochdeutschen Literatur. In: Zauberer und Hexen in der Kultur des Mittelalters. III. Jah-
restagung der Reineke-Gesellschaft. Hrsg. von Danielle Buschinger und Wolfgang Spiewok.
Greifswald 1994, S. 139–151, vor allem S. 140: „Zauber ist so nicht etwas Über- oder besser
Nebennatürliches, sondern ein schlichtes Arkanum, ein Bereich, der einerseits ausgegrenzt,
andererseits durchaus in bestimmte Gesetze der Erklärbarkeit und der Logik eingebunden
ist.“
24 Den Zusammenhang von Magie und Minne in der mittelhochdeutschen Epik nicht nur für
die Blutstropfenepisode im Parzival, sondern auch für weitere Beispiele verhandelt Ulrich
Ernst: Wolframs Blutstropfenszene. Versuch einer magiologischen Deutung. In: Beiträge zur
Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 128 (2006), S. 431–466, vor allem S. 453–466.
25 Zur Figur des Zauberers in der mittelhochdeutschen Literatur vgl. etwa Stephan Maksy-
miuk: The Court Magician in Medieval German Romance. Frankfurt a.M. u.a. 1996; Helmut
Brall: Die Macht der Magie: Zauberer in der hochmittelalterlichen Epik. In: Artes im Mittel-
alter. Hrsg. von Ursula Schäfer. Berlin 1999, S. 215–229, und Sandra Linden: Clinschor und
Gansguoter. Zwei Romanfiguren im Spannungsfeld von Gelehrsamkeit und Magie. In: Lite-
raturwissenschaftliches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 49 (2008), S. 9–32.
26 Vgl. Chrétien de Troyes: Cligès. Auf der Grundlage des Textes von Wendelin Foerster über-
setzt und kommentiert von Ingrid Kasten. Berlin, New York 2006, V. 2962–2970 sowie Thes-
salas Selbsteinschätzung in V. 2988–2991. Zur Thessala-Figur im Cligés vgl. auch Laine E.
Doggett: Love Cures: Healing and Love Magic in Old French Romance. Pennsylvania (PA)
2009, S. 39–73.
27 Vgl. Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Die Berliner Bilderhandschrift. Mit Übersetzung
und Kommentar hrsg. von Hans Fromm. Frankfurt a.M. 1992, 73,38–74,26 (V. 2264–2292).
28 Vgl. Gottfried von Straßburg: Tristan und Isold. Hrsg. von Friedrich Ranke. Text. 15., unver-
änderte Aufl. Dublin, Zürich 1978, V. 11429–11444.
29 Eine Ausnahme bilden freilich die Feengeschichten, vgl. etwa Konrads von Würzburg Par-
tonopier und Meliur oder den Friedrich von Schwaben.
ter des Magischen zurückzugreifen, doch als Ideal höfischer Wert- und Tugend-
vorstellungen will man das Thema zugleich von wie auch immer gearteten dä-
monischen Kräften fernhalten, da die von Magie beeinflusste Minne immer die
Gefahr birgt, das für die Protagonisten aufgestellte Minneideal negativ zu beein-
trächtigen. So beklagt etwa Heinrich von Veldeke in einem Lied Tristran muose
sunder sînen danc (MF 58,35), 30 dass Tristan Isolde ja nur liebe, weil ihn das poisûn
dazu gezwungen habe, und nutzt die Tristangeschichte, um seine eigene, echte
Minne zur besungenen Dame von der minderwertigen Trankliebe abzusetzen. 31
Eine rationale Kritik an der Liebesmagie in dem Sinne, dass sie einfach nicht
funktioniert, findet sich in den literarischen Entwürfen kaum, denn schließlich
kann die Fiktion die von der Magie bewirkten Resultate beliebig umsetzen.
Anders sieht es in stärker lehrhaften Zusammenhängen aus: Im Folgenden
soll für die Gattung der Minnereden, die Glier als „pragmatisch-didaktische
Variante der Minnedichtung“ 32 bezeichnet hat, gefragt werden, wie sich in die-
ser vielfältigen Textgruppe mit offenen Rändern das Motiv des Minnezaubers,
der ja auch auf ein Handhabbar- und Verfügbarmachen des Minneerfolgs zielt,
fortschreibt und wie es diskursiviert wird. Ausgangspunkt ist der Kräuterzauber
in der Klage Hartmanns von Aue, sodann wird am Beispiel von vier Minnereden
analysiert, inwiefern Hartmanns Vorgabe zu einem wichtigen Orientierungs-
punkt dafür wird, wie die Minnereden mit dem Thema Magie umgehen.
30 Vgl. Minnesangs Frühling (Anm. 19), 58,35–59,2: Tristran muose sunder sînen danc, / staete sîn
der küneginne, / wan in daz poisûn dar zuo twanc / mêre dann diu kraft der minne. Nicht nur die
Chronologie, sondern auch die Namensform „Tristran“ lässt vermuten, dass Heinrich sich
hier auf Eilharts Version der Tristangeschichte bezieht.
31 Eine solche Kritik an der Tristanminne, die eben nicht am Ehebruch, sondern an der Trank-
liebe ansetzt, begegnet im Minnesang mehrfach (z.B. Bernger von Horheim MF 112,1) und
ist immer auch im Sinne einer Gattungskritik zu lesen. Vgl. zum Trankmotiv Otfrid Ehris-
mann: Isolde, der Zauber, die Liebe – der Minnetrank in Gottfrieds Tristan zwischen Symbo-
lik und Magie. In: Ergebnisse und Aufgaben der Germanistik am Ende des 20. Jahrhunderts.
Festschrift für Ludwig Erich Schmitt zum 80. Geburtstag. Hrsg. von Elisabeth Feldbusch.
Hildesheim 1989, S. 282–301.
32 Ingeborg Glier: Artes amandi. Untersuchungen zu Geschichte, Überlieferung und Typologie
der deutschen Minnereden. München 1971, S. 16.
33 Vgl. Das Klagebüchlein Hartmanns von Aue und das zweite Büchlein. Hrsg. von Ludwig
Wolff. München 1972.
34 Vgl. Glier: Artes amandi (Anm. 32), S. 20, sowie in direkter Reaktion auf Gliers Kategorisie-
rung der Vorformen Dietrich Huschenbett: Minne als Lehre. Zur Bedeutung der „Vorläufer“
der Minnereden für die Literaturgeschichte des 12. und 13. Jahrhunderts. In: Liebe in der
deutschen Literatur des Mittelalters. St. Andrews-Colloquium 1985. Hrsg. von Jeffrey Ash-
croft, Dietrich Huschenbett und William Henry Jackson. Tübingen 1987, S. 50–60. Vgl. auch
und Leib über das Für und Wider eines Minnedienstes, was schließlich in ein
versöhnliches Einlenken des Leibes mündet, sodass am Ende eine Liebesbot-
schaft an die Dame formuliert wird. Die perspektivische Komplexität der Innen-
darstellung ist wiederholt analysiert worden, 36 doch ist dies hier nicht das vor-
rangige Thema. Vielmehr soll die Analyse auf den in V. 1275 angekündigten
zouberlist fokussieren, den das Herz aus Kärlingen (V. 1280, Frankreich) impor-
tiert hat und der als Lehre des Herzens eine Schlüsselstellung in der Argumenta-
tion einnimmt. 37
Das Herz stellt zu Beginn des Abschnitts noch einmal fest, dass der Leib
zwar zuvor jeglichem Zauber abgeschworen habe, 38 dass er für diesen guten
Zauber aber eine Ausnahme machen müsse, da es sich um einen zouberlist han-
dele, der benamen guot ist (V. 1275). Die ersten drei Zutaten für den Kräuterzau-
ber sind nicht einfach verfügbar, man kann sie weder anbauen noch kaufen, der
endarft dû aber niht warten / in deheines mannes garten, / ouch envindet sî niemen veile
(V. 1287–89). Sie werden vielmehr gnadenhaft von Gott verliehen. Schließlich
werden die Zutaten genannt; es sind keine botanischen Kräuter, sondern die
Tugenden milte, zuht und diemuot (V. 1303) – das vermeintliche Zauberrezept
wird ins Allegorische zu einem Tugendzauber verschoben. Die Tugendmi-
schung wird als einzig rechtmäßiger Zauber ausgewiesen:
Ronald Michael Schmidt: Studien zur deutschen Minnerede. Untersuchungen zu Zilies von
Sayn, Johann von Konstanz und Eberhard von Cersne. Göppingen 1982, S. 17–30.
35 Dass sich Hartmann hier einer gelehrt-klerikalen Form bedient, bedenkt Volker Mertens:
Factus est per clericum miles cythereus. Überlegungen zu Entstehungs- und Wirkungsbedin-
gungen von Hartmanns ›Klage-Büchlein‹. In: Hartmann von Aue. Changing Perspectives.
Hrsg. von Timothy McFarland und Silvia Ranawake. Göppingen 1988, S. 1–19.
36 Vgl. Francoise Salvan-Renucci: Selbstentwurf als Utopie im ›Büchlein‹ Hartmanns von Aue.
In: Gesellschaftsutopien im Mittelalter. Hrsg. von Danielle Buschinger und Wolfgang Spie-
wok. Greifswald 1994, S. 101–117, sowie Susanne Köbele: Der paradoxe Fall des Ich. Zur
Klage Hartmanns von Aue. In: anima und sêle. Darstellungen und Systematisierungen von
Seele im Mittelalter. Hrsg. von Katharina Philipowski und Anne Prior. Berlin 2006, S. 265–
283, mit weiterer Literatur, die S. 266 die „perspektivische Komplexität“ der Innendarstel-
lung hervorhebt. Ob der Disput zwischen Herz und Leib in eine Harmonie führt (vgl. Ka-
tharina Philipowski: sêle und herz in geistlichen und höfischen Dialoggedichten des Mittelal-
ters. In: anima und sêle [s.o.], S. 299–319), oder ob trotz der formalen Einigung eine unter-
schwellige Spannung zwischen beiden Gesprächspartnern bestehen bleibt (Köbele: Der pa-
radoxe Fall des Ich), steht hier nicht zur Diskussion.
37 Vgl. Marie-Sophie Masse: der rehte zouberlist aus Karlingen. Ältere und neuere Überlegungen
zu Hartmanns ›Klage‹. In: Mertens lesen. Exemplarische Lektüren für Volker Mertens zum
75. Geburtstag. Hrsg. von Monika Costard, Jacob Klingner und Carmen Stange. Göttingen
2012, S. 89–106, die auf S. 92 den Kräuterzauber in der Klage als Kern der Lehre einschätzt,
der dann zur Versöhnung der beiden Instanzen führt.
38 Vgl. V. 1271f.: ich hôrt dich zouber versprechen: / daz gelübede muost dû brechen. Tatsächlich hatte
der Leib zuvor versprochen, auch einen leidvollen Minnedienst zu erdulden und sämtliche
Ratschläge zu befolgen, solange sie nicht auf Zauberei und Mord ausgehen, vgl. V. 1120–
1123: âne zouber und âne mort / und daz an die triuwe gât / so verwirfe ich deheinen rât, / ichn leiste
in durch ir êre.
39 Vgl. V. 1309–1318: ouch hrent ander würze derzuo / ê daz man im rehte tuo, / triuwe unde stte: /
swer die dar zuo niht hte, / sô müese der list belîben: / ouch muost dû dar zuo trîben / beide
kiuscheit unde schame: / dannoch ist ein krûtes name / gewislîchiu manheit: / sô ist der zouber gar be-
reit.
Als Mittel, wie man Minneleid in Minneglück verwandelt, rät Hartmanns Klage
also zur tugendhaften Vervollkommnung des Minnedieners, was zunächst ein-
mal nicht weiter verwunderlich ist, und so sind auch die gewählten Tugenden
im Kanon höfischen Minnedienstes verortet. Interessant ist aber die Form, die
Präsentation der Tugendlehre als zouberlist. Auf den ersten Blick sieht das aus
wie ein augenzwinkernder Trick, eine schöne und aufmerksamkeitsträchtige
Verpackung für eine eher konventionelle Tugendlehre. Aber was sich mit den
Zentraltugenden Mildtätigkeit, Anstand, demütige Bescheidenheit und den fünf
weiteren Tugendkräutern zunächst so glatt liest, wird problematisch, wenn man
nach der logischen Motivierung des Zaubers fragt. Eigentlich ist der Leib nach
den anfänglichen Anklagen nämlich durchaus zur Versöhnung mit dem Herzen
und ausdrücklich zur Unterordnung unter seine Führung bereit, denn er formu-
liert unmissverständlich: Nû leiste ich gerne swaz dû wil (V. 1173). Als attraktiven
Köder, um den Leib zum Einlenken zu überreden, braucht das herze den Kräu-
terzauber in der Gesprächslogik gar nicht, und so wird die Zauberbildlichkeit zu
einem überschüssigen Argument, an dem die Deutung ansetzen kann.
In Hartmanns Konzeption des Kräuterzaubers sind zwei Elemente hervorzu-
heben, die für die späteren Minnereden relevant werden, nämlich 1.) die Unter-
scheidung eines richtigen und eines falschen Zaubers, d.h. die Reflexion dar-
über, welche Formen magischen Handelns im Minnediskurs zulässig sind, und
2.) die Öffnung des Zaubermotivs hin zur Tugendallegorie, die Verschiebung
von den botanischen Kräutern hin zu den Tugendkräutern im menschlichen
Herzen. Bedenkt man dabei, dass das mittelhochdeutsche Substantiv tugent
neben der ethischen Tugend zunächst einmal eine grundsätzliche Tauglichkeit
und Kraft meint, die einer Person oder auch einem Ding zukommen kann, ist die
Verbindung zu magischen Kräften naheliegend, und so können etwa die magi-
schen Eigenschaften eines Steins ganz gängig als tugent bezeichnet werden. 40 Für
40 Vgl. beispielsweise Wirnt von Grafenberg: Wigalois. Text der Ausgabe von J.M.N. Kapteyn.
Übersetzt, erläutert und mit einem Nachwort versehen von Sabine Seelbach und Ulrich
Seelbach. Berlin, New York 2005, V. 1477–79, wenn der Blick des Protagonisten auf den ma-
gischen Stein vor dem Artushof fällt: bî einer linden er dô sach / ligen einen breiten stein, / des
tugent im inz herze schein. Vgl. auch Rudolf von Ems: Barlaam und Josaphat. Hrsg. von Franz
Pfeiffer. Leipzig 1843. Neudruck Berlin 1965, wenn es im Gespräch zwischen dem als Kauf-
mann verkleideten Barlaam und dem Erzieher Josaphats über den angebotenen Edelstein
heißt, 39,1–4 (V. 1500–1504), doch hân ich her von kindes jugent / alsô gelebet, daz ich die tugent /
vernam von steine nie sô rich. / im wart nie steines kraft gelîch, und der Edelstein später zum
Gleichnis für die christliche Lehre wird, mit der die Tugenderziehung des Josaphat zu leis-
ten ist. Vgl. dazu Uwe Ruberg: ›Wörtlich verstandene‹ und ›realisierte‹ Metaphern in deut-
scher erzählender Dichtung von Veldeke bis Wickram. In: ›Sagen mit Sinne‹. Festschrift für
Marie-Luise Dittrich zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Helmut Rücker. Göppingen 1976,
S. 205–220, hier S. 208–210. Auch die von den vier Elementen ausgehenden Kräfte können
als tugent bezeichnet werden, vgl. die gleichnishafte Auslegung der Schlange im Barlaam,
119,37–40 (V. 4737–4740): Der vier slangen houbet sint / vier tugende, von den al diu kint, / diu von
menschen sint bekomen, / lîp und leben hânt genomen.
die Tugendkräuter der Klage wird in der Übertragung auf eine innere Eignung
des Menschen die Plötzlichkeit der Zauberwirkung, der magische Automatis-
mus in eine vom Menschen abhängige Prozessualität der tugendhaften Bewäh-
rung überführt: Nicht nur das Zusammenfügen der Zutaten, sondern das – nicht
näher beschriebene – richtige Mischen derselben, das durchaus eine Phase des
Ausprobierens und der schrittweisen Vervollkommnung vorsieht, entscheidet
über den Erfolg. Das schnelle, garantiert wirkende Zauberrezept wird durch
einen zeitlich ausgedehnten Prozess ethischer Vervollkommnung und die Stei-
gerung der eigenen Tauglichkeit ersetzt, was sich besser zum Konzept eines
prinzipiell auf die Ewigkeit ausgerichteten Minnedienstes fügt.
In einen stärker lehrhaften Kontext übertragen, wird die Verknüpfung von
Minne und Magie, wie sie für die höfische Epik und den Minnesang skizziert
wurde, nicht einfach weitergeschrieben, sondern transformiert. Hartmann macht
aus dem Zaubertrank eine Tugendmagie, das minnebetroffene Ich ist nicht mehr
auf die Hilfe eines zwielichtigen Zauberers angewiesen, sondern kann über eine
entsprechende Ethik seine Handlungsmacht im Bereich der Minne behaupten.
Dass Hartmann damit ein Bild entwirft, das für die Gattung der Minnereden
attraktiv wird, sollen einige Textbeispiele verdeutlichen.
4 Minnereden
Das Corpus der rund 600 Texte, das nun im Heidelberger Minnereden-Hand-
buch von Ludger Lieb und Jacob Klingner besser verfügbar ist, 41 demonstriert
eindrucksvoll die Beliebtheit der Gattung Minnerede im Spätmittelalter. Thema
ist immer noch die ideale Minne als radikale Kraft, wie sie die höfische Literatur
als Konzept entwickelt hat, doch wird sie in den Minnereden in den Formen
eines stärker lehrhaften, verbindlichen Sprechens fortgeführt und so auf eine
neue Diskussionsebene gestellt. 42 Die komplexen Reflexionen des hochhöfischen
Minnediskurses werden heruntergebrochen auf die Frage nach dem richtigen
Umgang mit der Minne. Dabei präsentieren sich die Minnereden häufig, wenn
auch nicht im konkreten Anspruch, so doch im kommunikativen Gestus als
Verhaltenslehren, die das Phänomen der Minne einerseits handhabbar machen
und andererseits als Faszinosum erhalten wollen. Es zeigt sich das verstärkte
Bemühen, bestimmte Grundwerte der Minne in Variation immer wieder ge-
danklich zu umkreisen und festzuschreiben, sodass sich die Poetik der Minnere-
den zentral über die Faktoren Wiederholung und Serialität erschließt. 43 Die Ich-
41 Vgl. Jacob Klingner, Ludger Lieb: Handbuch Minnereden, mit Beiträgen von Iulia-Emilia
Dorobanţu, Stefan Matter, Martin Muschick, Melitta Rheinheimer und Clara Strijbosch. Ber-
lin, Boston 2013.
42 Einen frühen – freilich nicht unumstrittenen Versuch – einer Gattungsbestimmung unter-
nimmt Tilo Brandis: Mittelhochdeutsche, mittelniederdeutsche und mittelniederländische
Minnereden. München 1968, S. 8–12. Bereits Glier: Artes amandi (Anm. 32), S. 10, spricht für
die Minnereden von einem „gleitenden System von Gattungsmerkmalen“.
43 Vgl. Ludger Lieb: Eine Poetik der Wiederholung. Regeln und Funktionen der Minnerede. In:
Rede der Gattung ist, was die Betroffenheit des Ichs von der Minne angeht,
übergängig zum Minnesang, zugleich setzen sich Redetraditionen aus der
Spruchdichtung fort, in denen sich ein nichtbetroffenes Ich lehrhaft-autoritativ
über ein Thema äußert. 44 Stärker als der Minnesang zeigen die Minnereden das
Bedürfnis, ein Wissen über die Minne verfügbar zu machen und Verhaltensrat-
schläge zu formulieren, um den Verlauf der Minne lenkbar und kontrollierbar
zu machen.
Freilich erreichen die meisten Minnereden nicht das Reflexionsniveau von
Hartmanns Klage, argumentieren deutlich einfacher, als es das komplizierte
psychologische Arrangement zwischen Herz und Leib vorgibt. Vielleicht etwas
plakativ lässt sich dies an der Minnerede B 70 demonstrieren, die eine Reihe von
Liebesklagen zusammen überliefert. Die Ablehnung eines magischen Min-
nezaubers ist ähnlich strikt wie bei Hartmann, und das Argument einer Wir-
kungslosigkeit des Zaubers bringt bereits Ovid in seiner Schelte auf die via ve-
neficii, 45 aber die Magiekritik wird in der Minnerede deutlich handfester und
schnörkelloser formuliert:
Ich muz den olden wiben
sprechen an ir ere,
daz sie den tober [= Zauber – S.L.] triben.
und van iren tromen sagen mere.
wär ez myr nach denen tromen ergangen.
ich hette tuzent werbe mein allerliebste umvangen. 46
Die Liebeszauber sind ehrlos, weil sie nicht funktionieren, und die Träume der
alten Frauen versprechen Liebeserfüllung, die aber ausbleibt.
Zwar lehnt man magische Tricks ab, um Liebeserfolg zu erlangen, aber auf
einem anderen Feld, das der Minnerede ein besonderes Anliegen ist, sind die
magischen Hilfsmittel dann wieder zulässig, nämlich wenn es darum geht, sich
mit Zaubermitteln Zugang zu einem Arkanbereich der Minne zu verschaffen
und Wissen über sie zu erlangen. So kann die Sprecherin in der Minnerede Das
Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150–1450. DFG-Symposion 2000. Hrsg. von Ur-
sula Peters. Stuttgart, Weimar 2001, S. 506–568.
44 Wie die Minnereden den Anspruch auf Lehrautorität und die persönliche Minnebetroffen-
heit des Sprechers in der Ich-Rolle austarieren, habe ich gezeigt in: Sandra Linden: Lieben
lernen? Lehrhafte Vermittlung und ihre Problematisierung in Minnereden. In: Lehren –
Lernen – Bilden. XXIII. Anglo-German Colloquium (Nottingham 2013). Hrsg. von Henrike
Lähnemann, Nicola McLelland und Nine Miedema, im Druck.
45 Vgl. das Zitat aus der Ars amatoria im ersten Teil dieses Beitrags.
46 Erasmus Nyerup: Symbolae ad literaturam Teutonicam antiquiorum ex codicibus manu
exaratis qui Havniae asservantur ed. sumtibus Petri Friderici Suhm. Havniae 1787, S. 93–
102, hier S. 93, Str. 3.
Zauberkraut (B 407) 47 mit einem magischen Kraut plötzlich das Problem der Aus-
drucksverstellung umgehen und allen Männern direkt ins Herz blicken. 48 Das
nutzt sie aber nicht etwa, um einen geeigneten Partner zu finden, wie es sich die
Minnesänger gelegentlich ausmalen, 49 sondern um endlich eine aufrichtige
Antwort auf die sie schon lange umtreibende Frage zu bekommen, ob die treue
Liebe zu einer Frau oder der Dienst für viele Frauen für Männer attraktiver ist.
Sie führt eine Diskussion mit einem Ritter, in dessen Herz sie mehrere Frauen
erblickt hat und der ihr, nachdem sie ihm die Zauberwirkung des Krauts eröff-
net hat, auch aufrichtig Rede und Antwort steht. Die Magie ist hier an ein Requi-
sit gebunden, ihre Funktionsweise bleibt im Unklaren, aber sie wird akzeptiert,
weil sie im Dienste des Wissenserwerbs über die Minne nützlich ist und hilft,
einen theoretischen Minnekasus argumentativ zu entfalten. Eine ähnliche Funk-
tion hat ein Brief in der Minnerede Die alte und neue Minne (B 451), der unsicht-
bar macht und den Besitzer alle Wege finden lässt. 50 Die Sprecherin bekommt
den Brief von der personifizierten alten, rechtmäßigen Minne verliehen und
nutzt das magische Ding, um zur neuen, treulosen Minne zu reisen, sich aus-
führlich über sie zu informieren, um dann am Ende für die alte Minne zu votie-
ren. Das Zauberkraut und der Brief verschwinden, sobald sie ihre Funktion, den
Wahrnehmungs- und Wissensbereich des Sprechers zu erweitern, erfüllt haben:
Das Zauberkraut landet in einem Bach, und das Tarn- und Wegebrieflein wird
einfach gar nicht mehr erwähnt.
47 Vgl. Mittelhochdeutsche Minnereden II. Die Heidelberger Hss. 313 und 355; die Berliner Hs.
ms. germ. fol. 922. Auf Grund der Vorarbeit von Wilhelm Brauns hrsg. von Gerhard Thiele.
Berlin 1938, S. 87–97, Nr. 16.
48 Vgl. V. 18–35: do brach ich uff dem anger wit / meng crut das mir was unerkant. / Do ward mir ains
in min hant / do von mir groß aubentúr geschach. / als bald ich das crútlin ie abgebrach, / do sach ich
vor mir alle man / wer z der minn ie kain mt gewann, / und hort och all ir red wol, / der ich doch
gar nit sagen sol, / und wúst och allen irn gedannck. / [...] / do merckt ich erst das daz crúttelin / an
im selbes hett die crafft. Sowie V. 75f.: ich hön ain crüt in miner hant, / das tt mir gantz din hertz
bekant.
49 Vgl. etwa Ulrich von Liechtenstein: Frauendienst. Hrsg. von Reinhold Bechstein. Leipzig
1888, Lied XIV Ouwê daz ich bî den wolgemuoten alsô, Str. 4.
50 Vgl. Lieder-Saal. Sammlung altdeutscher Gedichte. Hrsg. von Joseph Freiherr von Lassberg.
Bd. 3. Neudruck Hildesheim 1968, S. 83–95, Nr. 182, vor allem die Beschreibung der Wir-
kung des Briefs, V. 168–173: Si sprach nim hin daz brifelin / Und slsz ez in d hant din / So sint
dir all weg bechant / Wie ser du wilt in d lant / D wort dar an hant slich phligt / Wenn du wilt
dich nieman sicht.
51 Vgl. Liederbuch der Clara Hätzlerin. Hrsg. von Carl Haltaus. Quedlinburg, Leipzig 1840,
S. 217 (Nr. 50).
52 Zur Überlieferung vgl. Klingner, Lieb: Handbuch Minnereden (Anm. 41), Bd. 1, S. 614. Eine
genaue Analyse der intertextuellen Bezüge bietet Thomas Bein: Hartmann von Aue und
Walther von Grieven im Kontext: Produktion, Rezeption, Edition. In: editio 12 (1998), S. 38–
54.
53 Vgl. Ditz mere ist wie die wip ir man / Mit zouber gewinnen dan (Co); Ditz ist wie die wip ir man /
Mit zouber gewunnen han (He 6) und Ain hubsche zauberlist den frawen (Lo 4). Zur Überliefe-
rung vgl. Klingner, Lieb: Handbuch Minnereden (Anm. 41), Bd. 1, S. 614f.
54 Deutlich für eine ironische Lesart der Fassung in cpg 384 votiert Bein: Hartmann (Anm. 3),
S. 53.
55 Eine Transkription der Fassung in cpg 384 findet sich in der Einleitung zum Liederbuch der
Clara Hätzlerin (Anm. 51), Einleitung, S. XXXVII, V. 57f.
Gott eingerichtete Miteinander von Mann und Frau als die vermeintliche Be-
zwingung des Mannes betont. Was als magische Korrektur eines Fehlverhaltens
der Männer angekündigt wurde, wandelt sich über den Kräuterzauber zu einer
Tugendlehre für die Frau, die jedoch im Vergleich zu Hartmann die Anforde-
rungen bewusst überzeichnet und eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der
Klage der Frauen verweigert. Ohne das rahmende Streitgespräch von herze und
lîp wird der Kräuterzauber hier zu einer ironischen Kritik an denjenigen, die für
alles einen bequemen Zauber haben und nicht zuerst das eigene Verhalten ver-
ändern wollen.
56 Vgl. Mittelhochdeutsche Minnereden I. Die Heidelberger Hss. 344, 358, 376 und 393. Hrsg.
von Kurt Matthaei. Berlin 1913. Neudruck Dublin, Zürich 1967, S. 134–143, Nr. 13.
57 Einen Einfluss bei dieser Variation des Motivs mögen die in der Gattung gängigen Pflan-
zenallegoresen haben, die so funktionieren, dass in einer Liste einzelne Pflanzen auf ihre
Bedeutung in der Minne hin ausgelegt werden, so dass sich eine Art Blumensprache der
Liebe ergibt und z.B. Eichenblätter Festigkeit bedeuten. Jacob Klingner hat gezeigt, dass
man bei diesen Pflanzenallegoresen immer auch damit rechnen muss, dass mit dem Tragen
bestimmter Blumen oder Blätter dann wieder die Funktion eines Liebeszaubers verknüpft
wird, dass also die getragene Blume den bezeichneten Zustand erst herbeiführt, vgl. Jacob
Klingner: Gattungsinteresse und Familientradition. Zu einer wieder aufgefundenen Sam-
melhs. der Grafen von Zimmern. (Lana XXIII D 33). In: Zeitschrift für deutsches Altertum
137 (2008), S. 204–228, hier S. 212.
58 Die Zauberin (Z 51). Berlin, SBB-PK, Hs. 115, f. 15r–19r. Vgl. die Beschreibung und Inhalts-
zusammenfassung in Klingner, Lieb: Handbuch Minnereden (Anm. 41), Bd. 1, S. 1045–1047,
sowie Tilo Brandis: Eine späte Minneredenhandschrift. In: Codices Manuscripti 9 (1983),
S. 19–25. Ich danke Ludger Lieb und Iulia-Emilia Dorobanţu (Heidelberg) herzlich, dass sie
mir aus der Heidelberger Materialiensammlung des Handbuch Minnereden-Projekts Bilder
und Transkription der Handschrift zur Verfügung gestellt haben. Ein Digitalisat der Hand-
schrift ist mittlerweile auch online verfügbar: http://digital.staatsbibliothek-berlin.de/ werk-
ansicht/?PPN=PPN622669508&LOGID=LOG_0001 (07.08.2014). Um einen schnellen Einstieg
in den bisher nicht edierten Text zu ermöglichen, erfolgt die Analyse mit ausführlicher Zita-
tion, zum besseren Verständnis wird die Transkription mit Interpunktion versehen.
59 Vgl. etwa V. 71–74: wan von mir zaúbereÿ, / des sÿ phlicht, / damit sÿ mir angesicht. / ir solt aúch
wissen sonder wan, / mein herz khain rúe haben kan, oder V. 103f.: zwar das múes von zaúbereÿ
komen, / das sÿ sich hat angenomen.
60 Vgl. V. 124–132: ach gott, wie zart und wie fein / ist mir das súnlain des lachen! / wie súes khan es
sich machen / in meinem herzen grúndt! / gelob sÿ der stúndt, / wo es mir ie kúndt wart. / es wart
vollen Worte ist eine Ebene eingezogen, die das Zwanghaft-Gefährliche dieser
Minne reflektiert, wenn etwa in die Schönheitsbeschreibung plötzlich der Ge-
danke hereinbricht, dass der Liebende für dieses Lächeln auch verschmerzen
würde, wenn sie ihm alle Freunde erschlagen und ihm selbst den Tod bringen
würde. 61 Wiederholt gibt der Sprecher zu bedenken, dass alles nur Zauberei ist:
so sües ist mir <ir> güezen, / wer es nicht von zaúbereÿ list, / des sÿ pflicht zu aller frist
(V. 139–141). Nach der beschreibenden Bestandsaufnahme setzt er zur Erklärung
an (nú wil ich eúch wissen lan, / wie das zaúberÿ ist gethan, V. 142f.), und es folgt
eine Tugend- und Schönheitsbeschreibung der Dame – auch sie zaubert wie
schon Walthers Dame mit natürlichen Mitteln.
Hier spricht ein Ich, das zwar vom Zauber der Dame gefangen ist, aber noch
recht rational darüber reflektieren und die Minnemagie in ihrem Wirken für den
Rezipienten wenn auch nicht erklären, so doch an sich selbst diagnostizieren
und auf variante Weise besprechen kann. Wie eingangs gesagt wird, hält der
Sprecher den Einsatz von Magie in der Minne für ein Problem, das viele angeht,
und er scheint sich vorgenommen zu haben, trotz der eigenen Betroffenheit die
Umstände und Bedingungen eines minnemagischen Verhältnisses darstellen
und für ein Publikum lehrhaft objektivieren zu wollen. Zugleich wird die ge-
betsmühlenartig wiederholte Versicherung, dass es sich um Zauberei handeln
muss, zu einem Erklärungsmodell für die Minnewirkung der Dame, die das Ich
als so radikal empfindet, dass es seiner Einschätzung nach nicht mit rechten
Dingen zugehen kann.
mir lieb so súes so zart / so ir minigleicher leib, / sÿ vil rain súes selig weib.
61 Vgl. V. 135–138: het sÿe mir alle die erschlagen, / die solt von schúlden khlagen, / darzúe mich in den
todt vertraút, / des wirt vergessen so zú stúndt.
62 Vgl. Von einem Schatz. Eine mittelhochdeutsche Minneallegorie. Edition und Übersetzung
von Michael Mareiner. Bern 1988.
63 Wie die gelehrte Diskussion verläuft, analysiert Frank Fürbeth: Die Stellung der artes magi-
cae in den hochmittelalterlichen Divisiones philosophiae. In: Artes im Mittelalter. Hrsg. von
Ursula Schäfer. Berlin 1999, S. 249–262. vgl. auch – allerdings in einer breiteren Perspektive –
Karl-Heinz Göttert: Magie. Zur Geschichte des Streits um die magischen Künste unter Phi-
losophen, Theologen, Medizinern, Juristen und Naturwissenschaftlern von der Antike bis
zur Aufklärung. München 2001.
64 Vgl. Lynn Thorndike: A History of Magic and Experimental Science. 8 Bde. New York,
London 1923–1958, Bd. 2, S. 279–89, vor allem S. 281. Vgl. auch den Beitrag von Frank Für-
beth in diesem Band.
65 Vgl. Str. 165: Ich hab ir wol empfunden / lang zit in minem hertzen.
und die magische Tugendwirkung als reale Heilwirkung einzelner, zum Teil
wieder allegorisierter Kräuter umgesetzt wird. In der Minnerede über die Dame
als Zauberin (4c) wird die vom Ich negativ bewertete Zauberkraft der Dame mit
ihrer Tugend und Schönheit gekoppelt. Dabei laufen im Sprecher-Ich die beiden
Perspektiven des betroffenen Liebeswerbers und der objektiven Lehrinstanz
zusammen. Eine Art wissenschaftliche Legitimation erfährt die Verbindung von
Minne und Magie schließlich in der Minnelehre über den Schatz (4d), die in eine
Zehnerreihe der Artes mit Nigromantie, Alchemie und ars notoria drei magische
Künste integriert. Dabei ist nicht nur die Dame zauberkundig, sondern die ars
notoria rangiert als ein probates Mittel, das der Werber im Minnedienst einsetzen
kann.
Hartmanns Idee, den Liebeszauber zu einem Tugendzauber zu allegorisie-
ren, ist kein einmaliger innovativer Entwurf, sondern wird, wie die Rezeption
zeigt, für die Gattung der Minnerede zu einer attraktiven Gedankenform. Die
mit der Zauberwirkung verbundene Dynamik des Zustandswechsels wird in
den Minnereden für die Tugendlehre produktiv gemacht, und so wird die Ver-
bindung von Magie und Liebe, vor allem aber die von Hartmann eingeführte
Innovation des Tugendzaubers der Minne auf vielfältige Weise aufgenommen
und variiert. Der Tugendzauber liefert nämlich einen Zugang dazu, was die
Minnereden, wenn auch nicht in der realen Anwendung, so doch zumindest im
lehrhaften Gestus als ihr kommunikatives Ziel vorgeben: Sie wollen die Tugen-
den des Menschen so tempern und mischen, dass der Mensch durch sie eine ma-
gische Wirkung erfährt und aus eigener Kraft sein Minneglück finden kann.
Zwar wird der Mensch von der radikalen Kraft der Minne schicksalhaft erfasst,
doch kann er aktiv damit umgehen, wenn er seine Minnetugenden richtig ent-
wickelt – die Minnereden, die die Tugenden und Werte in immer neuer Syste-
matisierung zusammenfügen, sind ihm dabei eine Art magische Rezeptur zum
Glück. Wendet man das Ganze ins Poetologische, so avancieren die Minnereden
selbst zum Zauberbuch, in dem man die magische Formel für das Liebesglück in
Form einer wirksamen Tugendlehre findet, die man aber im eigenen Verhalten
wie ein Zauberrezept auch selbst ins Werk setzen muss.
Die mit der Magie verknüpfte Dynamik der Wirkung kommt dem Selbstver-
ständnis der Minnereden entgegen und hilft auch, die immense Popularität der
Gattung im Spätmittelalter zu erklären: Sie will keine trockene Ethik und ab-
strakte Verhaltenslehre mit erhobenem Zeigefinger sein, sondern im Lebensbe-
reich der Minne einen Zauber der Tugenden vermitteln, und zwar nicht so sehr
in der konkreten außerliterarischen Anwendung, sondern als literarisch-
ästhetisches Spiel mit dem, was die hochhöfische Literatur im Modell der idea-
len Minne vorgibt. Die Minnereden antworten auf die radikale Emotion der
Minne mit einem magischen Faszinations- und Wirkpotential der Tugenden.
Dieses Verständnis der Tugenden als magischem Potential des Menschen ist als
Programm durchaus ernstzunehmen: Mit ihren Tugenden kann die Dame das
liebende Ich verzaubern, und umgekehrt kann der Werber mit seinen Tugenden
das Wunder einer gelungenen Minnebindung ins Werk setzen. Die Minnereden
wollen weniger Minnedidaxe als vielmehr Minnezauber sein, sie propagieren
Ethik nicht als mühsamen Zwang, sondern als faszinierende Magie und entwi-
ckeln dabei eine Begeisterung für ethische Systematisierungen, die man heute
nur noch bedingt nachvollziehen kann. Dass sie dabei als meist anonyme Dich-
tung, die wohl hauptsächlich von interessierten Gelegenheitsdichtern geübt
wurde, nicht die inhaltliche Komplexität und stilistische Qualität so mancher
hochhöfischer Minneliteratur erreichen, ist leicht zugestanden, tut aber der
grundsätzlichen Ausrichtung der Texte auf eine Diskursivierung von Verhal-
tensformen der Minne keinen Abbruch.
Nur vor der Hand kommt in den Variationen des Kräuterzaubers die in der
lehrhaften Literatur verbreitete Strategie der Arzneimetapher zur Anwendung,
die die bittere Medizin, d.h. die abstrakte Verhaltenslehre, in eine süße, attrakti-
ve Hülle verpackt, um die Aufnahmebereitschaft der Rezipienten zu erhöhen.
Die Magie ist nicht nur trickreiche Verpackung der Tugendlehre, sondern ein
ernst gemeintes moraldidaktisches Konzept, das die Tugenden als ein magisches
Potential des Menschen etabliert und erstrebenswert macht. Er ist in seinen
Minnenöten nicht mehr auf die zweifelhafte Wirksamkeit dämonischer Liebes-
tränke, die ihm dubiose Mittlerfiguren zusammenbrauen, angewiesen, sondern
wird selbst zum Magier und kann den Herausforderungen Minne mit seinem
eigenen Tugendzauber begegnen. Die Minnereden liefern ihm das Rezept dazu.
Meine These ist riskant, und ich kann an dieser Stelle nicht mehr als den ersten
Schritt zu ihrer Untermauerung tun. Sie lautet, dass der Diskurs über Magie die
ästhetische Debatte der Frühen Neuzeit beeinflusst und dass zwischen dem 16.
und dem späten 18. Jahrhundert Teile des Diskurses über Magie in einen ästheti-
schen Diskurs überführt werden.
1
Ich beginne am Endpunkt: In Wielands Agathon (1767) 1 wird erzählt, wie der
sittenstrenge Titelheld der Hetäre Danae verfällt. Die Verführungsgeschichte
steht im Zeichen von sinnlichem Begehren, Kunst und Zauber. Natürlich han-
delt es sich nicht um wirklichen Zauber, sondern um die Bezauberung der Ein-
bildungskraft durch eine verführerische Frau, aber diese funktioniert nicht an-
ders als jener. Sie paralysiert die Willenskraft und macht die Wirkung von eroti-
scher Attraktion unwiderstehlich. Diese Wirkung wird durch die Kunst gestei-
gert, mit der Danae sich umgibt: durch den Zauber ihrer Gärten, durch die
Schönheit der Architektur, durch geistreiche Gespräche, vor allem aber durch
Malerei, Drama, Tanz und Musik, die die Sinne überwältigen, indem sie der
Einbildungskraft eine höhere Wirklichkeit, die göttliche Welt des Mythos, vor-
spiegeln.
Die Entdeckung der Sinnlichkeit ist ein notwendiger Schritt in der Entwick-
lungsgeschichte Agathons, mit dem er den blutleeren Stoizismus seiner Jugend
hinter sich lässt. Trotzdem bleibt Verführung Verführung; sie wird den Helden
auf einen langen Weg schicken, auf dem Sinnlichkeit und Vernunft zusammen-
geführt werden sollen, ein Ziel, an dem Wieland lebenslang gearbeitet hat, ohne
eine restlos überzeugende Lösung zu finden. 2 Doch nicht davon soll hier die
Rede sein, sondern von einer Genealogie der Konstellation, die der Episode
zugrunde liegt, des Zusammenwirkens der Trias Zauber, Erotik, Kunst.
1 Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon. Unveränderter Nachdruck der Editio
princeps (1767). Bearbeitet von Klaus Schäfer. Berlin 1961. Die folgenden Seitenzahlen aus
dieser Ausgabe.
2 Jan-Dirk Müller: Wielands späte Romane. Untersuchungen zur Erzählweise und zur erzähl-
ten Wirklichkeit. München 1971, S. 82–96.
3 Insofern unterscheidet er sich dann doch vom Garten der Danae und von dieser selbst: Hier
werden Kunst und Natur ununterscheidbar.
4 Wieland: Agathon (Anm. 1), S. 37: „Zur Verhütung alles Mißverstandes berichtet der Ver-
fasser, daß, was Hippias hier und forthin scheinbares zur Behauptung des Epicureismus
vormahlet, im folgenden Theile, worinn eine der wahren Religion und christlichen Tugend
vollkommen günstige Philosophie die Oberhand behält, gründlich wird widerlegt werden;
so daß dieses Blendwerk, wo die in den Zeiten des Pericles herrschende Philosophie, nach
der historischen Wahrheit, in der Hülle einer Geschichte vorgetragen wird, vor der Wahr-
heit verschwinden soll, wie der Nebel vor der Sonne.“ Dazu schreibt der Herausgeber Klaus
Schäfer: „Wieland war darüber verärgert und schrieb im Druckfehlerverzeichnis: ‚deleatur
die sehr überflüssige Anmerkung‘.“ Die Vorsicht des Verlages zeigt, wie brisant die durch
zauberähnliche Kunst gesteigerte Sinnlichkeit 1767 noch schien.
te“ (S. 103). So wie in Torquato Tassos Gerusalemme liberata Armida die Natur
verzaubert, um die Liebe des Ritters Rinaldo zu gewinnen, 5 hat Danae in diesem
Landgut eine Umgebung geschaffen, in der Agathon ihr verfallen soll. Ihr Tanz
verbindet höchste Kunst mit der Wahrheit der Natur. Ihrem Zauber verfällt der
Held zuletzt, wenn sie selbst im Kreis ihrer Dienerinnen und sie alle überbietend
ein allegorisches Tanzspiel aufführt. Im Tanzspiel Apollo und Daphne hatte Aga-
thon die Darstellerin kritisiert, die in ihr Spiel zu viel Kunst und damit Zweideu-
tigkeit gelegt und so den Charakter der vom Gott verfolgten Unschuld verlassen
hatte. Die Gesellschaft um Hippias teilte die Kritik nicht, doch Danae schlüpft
selbst in die Rolle der Daphne und spielt alles das, was Agathon an der ersten
Tänzerin der Daphne vermisst hatte: „Ihr ganzes Spiel drükte die eigenste Idee
des Agathon aus, aber mit einer Anmuth, mit einer Zauberey, wovon ihm seine
Phantasie keine Idee gegeben hatte“ (S. 93). Was Agathon zuvor, auch schon bei
Hippias, als allzu große Künstlichkeit kritisiert hatte, das verschwindet in Da-
naes Kunst. 6 In Danaes Kunst verbinden sich „Anmuth“ und „Zauberey“. Der
Zauber der Danae lässt die Bezauberungen durch Schönheit und Luxus im Um-
kreis des Hippias hinter sich. Kein Wunder, dass Agathon ihr verfallen wird;
Danae wird seine Geliebte werden.
Das geschieht in einer Reihe von Inszenierungen, in denen sinnliche Attrak-
tion und Phantasie zusammenwirken. Stimulans ist die Kunst. Wieland entwirft
eine Welt, die er mit Hilfe einer anderen Dichtung als Kunstwelt kennzeichnet,
mit einem Abschnitt aus der Gerusalemme liberata des Torquato Tasso. Solche
literarischen Heterotope hat Wieland immer wieder zur Ausmalung seiner Er-
zählwelten zitiert. 7 Doch verweist das Zitat darüber hinaus auf eine Umbeset-
zung im literarischen Diskurs, die sich zwischen der italienischen Dichtung der
Renaissance und der frühklassischen Literatur in Deutschland vollzogen hat. Er
betrifft das Verhältnis von Kunst, Magie und Sinnlichkeit. In Danaes verführeri-
scher Schönheit wirken sie zusammen. ‚Zauber‘ ist eine Metapher für ihre durch
Kunst gesteigerte sinnliche Attraktivität. Dieser Zauber nimmt Agathon eine
Zeit lang gefangen, aber er ist, anders als der Verfasser der Fußnote suggeriert,
nicht bloß Blendwerk, sondern hilft Agathon, an sich eine Seite zu entdecken,
die sein Tugendrigorismus leugnen zu können glaubte. Die Liebe zu Danae,
Ergebnis des Zusammenwirkens von Kunst, Magie und Sinnlichkeit, erscheint
5 Torquato Tasso: La Gerusalemme liberata. In: Torquato Tasso: Opere Bd. 1. Mailand 1957;
vgl. die Ausgabe a cura di Severino Ferrari. Nuova edizione curata e riveduta da Pietro
Papini. Nuova presentazione di Ezio Raimondi. Florenz [1970]; hierzu die Übersetzung Tor-
quato Tasso: Das befreite Jerusalem. Aus dem Italienischen übersetzt von J[ohann] D[ietrich]
Gries. Leipzig o.J.
6 Das ist eine weitere Anspielung auf Tassos Armida. Über ihren Garten heißt es in Gerusa-
lemme liberata XVI, 9: L’arte che tutta fa, nulla si scopre. Zu diesem Motiv und zur Bedeutung
des Gartens der Armida für Literatur und Kunst bis zur Romantik Mario Praz: Il giardino
dei sensi. Studi sul manierismo e il barocco. Mailand 1975; vgl. S. 111.
7 Müller: Wielands späte Romane (Anm. 2), S. 143–145.
deshalb nicht bloß als Fehltritt (wenn Agathon sie auch überwinden muss), son-
dern als notwendiger Schritt in seiner Biographie. Eben dies setzt aber eine fun-
damentale Umbesetzung im Verhältnis und in der Bewertung der drei Kompo-
nenten voraus. Der Verlauf dieser Umbesetzung, die in Deutschland mit erhebli-
cher Verzögerung stattfindet, muss weiter ausgreifenden Untersuchungen vor-
behalten bleiben. Hier sollen nur einige verstreute Stationen aus ihrer Vorge-
schichte berührt werden.
2
Die intertextuelle Verbindung zu Tassos Zauberin Armida ist aufschlussreich.
Ich skizziere kurz die Handlung, wobei die Skizze stark vergröbert ist und ich
auf Tassos oszillierende Darstellung von Magie, Erotik und Tugend nicht näher
eingehen kann. 8 Armida ist eine wirkliche Zauberin, die der Teufel gegen das
christliche Kreuzfahrerheer aufbietet, um dessen Vordringen gegen Jerusalem zu
verhindern. Doch zunächst sind es gar nicht Armidas magische Künste, die sie
gegen die Christen einsetzt, sondern ihre erotischen Reize, die den Rittern den
Kopf verdrehen und sie ihr Ziel vergessen lassen. 9 Ihr wichtigstes Opfer ist Ri-
naldo, der beste Ritter im Heer Gottfrieds von Boullion. Ihm zuliebe schafft sie
die Isole Fortunate, indem sie die Natur in einen Zaubergarten verwandelt. Das
ist die Welt, die Wielands Leser imaginieren soll. In diesem Zaubergarten wird
Rinaldo ihr Geliebter und vergisst seine eigentliche Aufgabe, so lange jedenfalls,
bis ihm in einem Zauberspiegel an seinem Bild gezeigt wird, was aus ihm ge-
worden ist. Dann ist der Zauber sofort gebrochen. Rinaldo erinnert sich an seine
ritterliche Tapferkeit und verlässt Armida.
Letztlich also erweisen sich Armidas Zauberkunststücke als vergeblich. Das
bedeutet jedoch nicht, dass die Wirkung ihrer Schönheit auf Rinaldo verschwin-
det. Zwar bricht zuletzt die teuflische Magie zusammen, die Ritter kehren zu
ihrer Pflicht zurück, doch Armida wird nicht ausgeschlossen. Sie bekehrt sich
zum Christentum, entsagt ihren Künsten und unterwirft sich dem geliebten
Rinaldo. 10 Eine Zauberin ist sie nicht mehr, bezaubernd noch immer. Es findet
also eine Verschiebung der Semantik von ‚Zauber‘ statt. Es gelingt, die Frau,
deren dämonische Kräfte die christliche Ordnung bedrohen, in diese zu integrie-
8 Die Tasso-Forschung hat das längst herausgearbeitet. Ich zitiere nur den Sammelband Tor-
quato Tasso e la cultura Estense. A cura di Gianni Venturi. Florenz 1999; darin besonders: Jo
Ann Cavallo: Armida: La Funzione della donna-maga nell‘ epica Tassiniana, S. 99–114. Re-
mo Fasani: Il racconto di Armida: Dalla finzione a la realtà, S. 115–133; Gianni Venturi: Ar-
mida come un paesaggio, S. 203–217.
9 Cavallo: Armida (Anm. 8), S. 107 unter Berufung auf Gerusalemme liberata IV, 23: la nuova
seduttrice, Armida, viene presentata come una donna che è pratica delle arti sia femminili che ma-
giche.
10 Mit der marianischen Formel Ecco l’ancilla tua unterwirft sie sich nicht Gott (obwohl ihre
Konversion vorausgehen muss), sondern dem Geliebten (vgl. Cavallo: Armida, Anm. 8,
S. 108 und 110f. zur Umbesetzung des Verhältnisses von conversio und Liebe).
ren, doch so, dass ihre Zauberkräfte zur erotischen Attraktivität domestiziert
sind. In der Gerusalemme liberata ist das Thema der Zauberei durch den christli-
chen Kontext des Kreuzzugsepos gerahmt und begrenzt. Armidas Zauberkräfte
verwandeln die Natur tatsächlich. Sie beruhen auf teuflischen Gegenkräften und
müssen im Dienst der Sache Christi zerstört werden.
Armidas Zauberkünste sind aber nur die andere Seite und die unermessliche
Steigerung ihrer sexuellen Verführungskraft. Auch diese muss domestiziert
werden, verschwindet aber nicht vollständig. Die erotische Attraktion, die auf
Rinaldo nach wie vor wirkt, wird in die Bahnen der Legitimität gelenkt. Das
letztendliche Ziel von Zauberei ist zwar Schadenszauber – das christliche Heer
soll wehrlos gemacht werden –, ihre Erscheinungsform aber ist „raffinierte
Kunst“, 11 die eine ideale Landschaft bewirkt. Es ist, wie Gerhard Regn gezeigt
hat, eine hochmoderne Kunst, die Kunst des Manierismus, die Tasso zugleich
zitiert und distanziert. Armidas Kunst verwandelt die Natur in einen wunderba-
ren Zaubergarten. Dieser besitzt
eine klar erkennbare manieristische Faktur. Die manieristische Welt soll
faszinieren und sie tut es auch. Gleichwohl ist sie bei Tasso der faule Zau-
ber einer Gegenwelt, die […] der Vernichtung anheim gegeben werden
muss. 12
Diese manieristische Kunstwelt bleibt zwar „in Tassos Kreuzzugsepos […] nur
Episode“, 13 belegt aber die Affinität des Diskurses über Zauberei und des Dis-
kurses über Kunst. Wieland ist Zeuge, dass man dieses gegenreformatorische
Arrangement knapp 200 Jahre später anders lesen konnte, selbst wenn auch bei
ihm sich noch ein Vorbehalt gegenüber der künstlichen Zurichtung von Natur
findet. 14
Bei Wieland bleibt von der heidnischen Zauberin nur die verführerische Frau
übrig, von ihren Zauberkünsten der bewusste Einsatz ihrer Reize und derjenigen
der Kunst. Auffällig ist freilich, wie abundant Wieland auf die Semantik von
Zauber anspielt. An die Stelle wirklichen Zaubers tritt die „bezauberte Phanta-
sie“ (S. 104), die „magische Einbildungskraft“ (S. 109), und diese ist Quelle der
„Liebe“ (S. 105). Die Verführung wirkt durch die „magische Kraft der Musik“
(S. 110) und die „Zaubergewalt“ des „Gemähldes“ (der Szene, die sich dem Au-
ge darbietet) (S. 111), durch die „Zauberkräfte der Kunst“ (S. 112). Die Magie der
Schönheit ist positiviert, wenn auch nicht ohne Rest, denn Danae bleibt eine
Hetäre, die Agathon verführt und die er verlässt, als er das entdeckt. Das ist
letzter Rest einer Diskreditierung des Zaubers und der Zauberin. Deshalb hat
auch Danae einen Bußweg vor sich. 15 Am Ende soll aber kein Sieg des Glaubens
stehen – wie noch bei Tasso – oder stoizistischer Tugend – wie zu Beginn des
Agathon –, sondern die Integration und Harmonisierung der unterschiedlichen
Kräfte der menschlichen Natur.
Wielands intertextueller Verweis macht auf eine Konstellation aufmerksam,
die für die europäische Literaturgeschichte der Frühen Neuzeit zentral ist. In
ihrem Zentrum steht Magie, die auf der einen Seite mit erotischer Attraktion
(gewertet meist als Verführung) und auf der anderen mit der Erschaffung einer
Kunstwelt verknüpft ist. Im 16. Jahrhundert wird ‚Zauber‘ noch proprie verstan-
den, und diesem wörtlichen Verständnis entsprechend werden die beiden ande-
ren Komponenten religiös und moralisch diskreditiert. Diese Beurteilung scheint
Schritt für Schritt abgeschwächt und durch eine ästhetische ersetzt zu werden,
die die ursprüngliche Bewertung zweifelhaft macht. Allerdings schwinden Miss-
trauen und Reserve gegen diese Verbindung nur langsam und nie vollständig.
Es wäre reizvoll, Stationen dieses Prozesses, angefangen von Ariosts Orlando
Furioso und seiner Alcina zu verfolgen. 16 Ich kann mich hier nur auf einige an-
fängliche Konfigurationen der Trias in der gegenüber den Nachbarliteraturen
eher rückständigen deutschen Literatur beschränken, und zwar anhand des
Faustbuchs und des Amadis sowie deren Rezeption.
3
Romanhafte Unterhaltungsliteratur hat es in der Frühen Neuzeit nicht leicht. Die
Romane sind volkssprachig, sodass der Bildungswert der lateinischen Sprache
entfällt. Sie sind nicht in Versen, sondern in Prosa verfasst und liegen damit
unterhalb der Wahrnehmungsschwelle der Poetik. Und sie sind Fiktion, also
‚erlogen‘. Sie bedürfen damit mehrfacher Rechtfertigung: durch die Vorbildlich-
keit ihrer Sprache (ein anfangs vor allem für den Amadis gebrauchtes Argu-
ment), 17 durch ihre Annäherung an die historia oder mindestens ihren Anspruch
auf Anschließbarkeit an makrohistorische Zusammenhänge und schließlich
durch die Vermittlung von Sachwissen sowie das bekannte integumentale Mo-
dell versteckter Belehrung unter scheinbar anspruchslos-gefälliger Oberfläche. 18
Die Romankritik hat das nicht zum Verstummen gebracht. Die angebliche
sprachliche Vorbildlichkeit wurde in Zweifel gezogen, der Wahrheitsanspruch
ridikülisiert und der praktische Nutzen – etwa die Fülle vermittelten Wissens –
als bloße Schutzbehauptung bestritten. 19 In dieser Kritik vereinigten sich Ge-
lehrte, Pfarrer, Lehrer, Juristen und sogar Inquisitoren und Hexenverfolger. Zu
den bekannten Argumenten kommt im 16. Jahrhundert ein weiterer Vorwurf
hinzu: Man wirft der verderblichen Literatur vor, von Zauberdingen zu reden
und zur Zauberei anzuleiten. Dieses Argument ist insofern überraschend, als
zwar in einigen Texten wie dem Faustbuch und den Amadis-Romanen tatsächlich
Zauberei vorkommt, dies aber keineswegs bei der Mehrzahl der übrigen Titel
der Fall ist, wenn es auch dort häufig Wunderbares gibt, das die Kritiker auf
Dämonenkräfte zurückführen. Handelt es sich bei ‚Zauberei‘ einfach um ein
Modethema eines „Faustian Century“, eines Jahrhunderts der Hexenverfolgung,
der Alchimie, der Versprechen magischer Künste? 20 Aber auch dann wäre die
Übertragung auf die Rezeption fiktionaler Literatur insgesamt erklärungsbe-
dürftig. Meine These ist, dass die Assoziation etwas mit der oben beschriebenen
Konfiguration von Zauber, Kunst und Verführung zu tun hat.
Die Lektüre schöner Historien ist eine zweckfreie Beschäftigung, und eben
dies weckt den Verdacht. Die Romanlektüre steht im Horizont müßiger curio-
sitas. 21 Zauberei ist eine Radikalisierung von curiositas, der Beschäftigung mit
Dingen, die Gott vorbehalten sind und den Menschen nichts angehen. Diese
Dinge lenken den Menschen, wenn er sie zu ergründen versucht, von Gott ab.
Zauberei geht aber noch einen Schritt weiter. Sie zielt nicht nur auf die Erkennt-
nis solcher Dinge, sondern auf ihre Manipulation gegen die von Gott geschaffe-
nen Naturgesetze und ihren Gebrauch gegen ihre ihnen von Gott verordnete
Natur. Zauberei pfuscht Gott ins Handwerk, wo curiositas sich damit begnügt, in
sein Wissen eindringen zu wollen. Beides aber ist Abfall von Gott. Zauberei ist
nur dessen letzte Stufe dämonischer Verführung.
Curiositas hat überdies aber noch eine andere Bedeutung. Als ungeordnetes
Begehren ist sie Werkzeug der cupiditas, dient also der Verführung zur Wollust
und der Erfüllung rücksichtsloser sinnlicher Begierde. Instrument der cupiditas
sind vor allem Frauen, nicht nur dämonische Wesen und Hexen, sondern ebenso
verführerische Schönheiten. Ariosts Alcina und Tassos Armida sind beides,
Zauberinnen und Verführerinnen, denn Zauberei und Wollust gehören eng
zusammen.
4
Wie das eine Thema das andere nach sich zieht, kann man an der Geschichte des
Erzzauberers Faustus beobachten. Dort sind curiositas und cupiditas zwar zwei
verschiedenen Rubriken, unterschiedlichen Lebensabschnitten zugeordnet, ge-
hören aber zusammen, auch wenn die Historia sich nicht die Mühe macht, ihren
Zusammenhang psychologisch oder handlungslogisch zu entfalten. Der Gelehr-
te, der alles Wissbare im Himmel und auf Erden wissen will und der darüber
zum Magier wird, der den Teufel beschwört, muss auch ein schlimmer Wüstling
sein, dem der Teufel immer neue Beischläferinnen verschaffen muss, der im
Harem des Sultans Staunenswertes vollbringt und der zuletzt der schönen Hele-
na, dem Urbild verderblicher Verführung, verfällt.
Faustus ist ein Negativexempel, seine Lebensform gilt aber offensichtlich als
attraktiv, sodass die, die sich für ihn interessieren, gefährdet sind. Trotz der gut
lutherischen Warnung des Faustbuchs vor Magie scheint man mit der Faszination
des Gegenstandes gerechnet zu haben. Die Wirkungsästhetik der Zeit unterstellt,
dass literarische Texte zur Nachahmung anleiten. Die Überzeugung lectio transit
in mores verbindet Humanisten, die daraus den erzieherischen Wert der Lektüre
antiker Schriften ableiten, mit Pfarrern und Pädagogen, die vor verderblichen
Büchern warnen. Das Erzählen von Zauberei würde demnach die Lust am Zau-
bern fördern. Das bedeutet, dass man Faustus statt als abschreckendes Exempel
auch als Vorbild rezipieren kann. Ein Buch über einen Magier macht seinen
Besitzer verdächtig. Wenig bekannt ist, dass der Besitz des Faustbuchs und des
Amadis in den Hexenverfolgungen als Verdachtsindiz für Hexerei und Häresie
galt. 22 Einige Juristen hielten die Lektüre bereits für einen hinreichenden Grund
für die Folter. 23
Tatsächlich schließt die „Vorred an den christlichen Leser“ mit der Bemer-
kung, damit niemand zu Frwitz vnd Nachfolge mcht gereitzt werden seien im
Faustbuch die formae coniurationum ausgelassen worden vnd allein das gesetzt /
was jederman zur Warnung vnnd Besserung dienen mag. 24 Die Behauptung, aus
22 Julius Schwering: Amadis und Faustbuch in den Hexenprozessen. In: Zeitschrift für deut-
sche Philologie 51 (1926), S. 106–116. Schwering unterscheidet leider nicht zwischen Ro-
mankritik im Allgemeinen und dem besonderen Vorwurf der Zauberei. Im Folgenden wer-
den einige Spuren, auf die er verwies, verfolgt.
23 Schwering: Amadis und Faustbuch (Anm. 22), S. 115f.
24 Faustbuch. In: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen
Sorge um die Tugend des Lesers die Zaubersprüche weggelassen zu haben, mag
Teil der Authentifizierungsstrategie des Verfassers sein, der ja behauptet, seine
Erzählung sei dokumentarisch beglaubigt: Man besitzt die Beschwörungsfor-
meln, gibt sie aber aus Verantwortungsgefühl nicht weiter. Auch könnte es sich
um ein Zugeständnis an die Zensur handeln, um bei diesem gefährlichen Thema
Rechtgläubigkeit unter Beweis zu stellen. Jedenfalls rechnet man mit identifika-
torischer Lektüre, mit unmittelbarer Applikation des Gelesenen auf die eigene
Praxis.
Dabei ist, was Faustus’ Zauberei mit Hilfe des Teufels schafft, meist Blend-
werk, nicht nur die Streiche, die er Bauern, Juden und anderen spielt, sondern
auch die verführerischen Genüsse, die er herbeizaubert: die üppigen Gärten im
Winter, das köstliche Essen, von dem man nicht satt wird, die schönen Frauen,
mit denen er schläft. Zauberei und sinnliche Ausschweifung liegen eng beiein-
ander, sollen aber im Blick des christlichen Lesers beide gleichermaßen als bloße
Phantasmen erscheinen, letztlich leer und nichtig. Die Zauberkunststücke des
Faustus bringen den Scheincharakter sinnlichen Genusses heraus, der ihm, auch
wo er nicht nur vorgespiegelt ist, sub specie aeternitatis grundsätzlich eignet. Das
Phantasma aber ist die negative Erscheinungsform der Phantasie.
Wie eng beide zusammenhängen, zeigt sich an einer meist überlesenen Epi-
sode, in der in verzerrter Form eine Verknüpfung von Zauber und sinnlicher
Ausschweifung mit Kunst erscheint. Faustus, der spätere Liebhaber der schönen
Helena, zaubert diese zum ersten Mal am Weißen Sonntag für seine Studenten
herbei. Sie erscheint als eine hinreißend schöne Dirne, deren Reize und anzügli-
che Blicke den Studenten den Kopf verdrehen. Zwar versichert der Erzähler dem
christlichen Leser beruhigend: weil die Studenten es aber fůr einen Geist achteten /
vergienge jhnen solche Brunst leichtlich (S. 948). Das Blendwerk wird also angeblich
durchschaut und wirkt nur flüchtig auf die Studenten. Dazu will allerdings nicht
recht passen, dass offenbar das Phantasma doch weiter ihre Phantasie beschäf-
tigt, denn sie können, wie es wenig später heißt, der verführerischen Frau we-
gen, die sie sichtbarlich gesehen haben, nachts nicht schlafen: Hierauß dann zusehen
ist / daß der Teuffel offt die Menschen in lieb entzndt vnd verblendt / daß man ins
Huren Leben gerth / vnd hernacher nit leichtlich widerumb herauß zubringen ist.
(S. 949)
Die Studenten bitten Faustus, Helena am nächsten Tag noch einmal zu be-
schwören, so wolten sie einen Mahler mit sich bringen / der solte sie abconterfeyten
(S. 948). Das klingt harmlos: Wenigstens ihr Bild wollen sie besitzen. Doch
schlägt Faustus das ab, da er jhren Geist nicht allezeit erwecken knte. Er bietet
jedoch an:
Holzschnitten. Hrsg. von Jan-Dirk Müller. Frankfurt 1990, S. 831–986; hier S. 841; aus dieser
Ausgabe die folgenden Zitate; vgl. Marina Münkler: Narrative Ambiguität. Die Faustbücher
des 16. bis 18. Jahrhunderts. Göttingen 2011. Sie kommentiert die Stelle S. 45: man fürchtete
offenbar, die „Funktionalisierung des Exempels“ könne scheitern.
Er wollte jhnen aber ein Conterfey darvon zukommen lassen / welches sie
die Studenten abreissen mchten lassen / welches dann auch geschahe /
vnd die Maler hernacher weit hin vnd wider schickten / dann es war ein
sehr herrlich Gestalt eins Weibsbilds. Wer aber solches Gemld dem Faus-
to abgerissen / hat man nicht erfahren knnen. (S. 948f.)
An die Stelle eines von Menschen geschaffenen Bildes, wie es die Studenten
wollten, tritt ein Bild unbekannter Herkunft, vermutlich vom Teufel. Durch das
Bild wirkt er auf die Studenten und die Maler, die es kopieren. Die verführeri-
sche Illusionierung durch das Blendwerk der Magie setzt sich in der Illusionie-
rung durch das Bild fort. Das Gemälde der herrlich Gestalt überdauert die Be-
schwörung und ihre Folgen; es hat eine breite Wirkung. Mit dem Bild gelingt es
dem Teufel, das verführerische Objekt sündiger Begierde omnipräsent zu ma-
chen. Auf versteckte Weise enthält diese Szene damit eine Kritik an den teufli-
schen Verführungskräften einer Kunst dubiosen, wahrscheinlich dämonischen
Ursprungs, die mit Zauber und Wollust einhergeht.
5
Zu den immer wiederkehrenden Motiven des Amadis gehören neben unablässi-
gen ritterlichen Kämpfen hauptsächlich außereheliche Liebesverhältnisse und
das einmal positive, einmal negative Wirken von Zauberern. 25 Im kollektiven
Gedächtnis geblieben sind dank dem Don Quijote nur die ritterlichen Abenteuer,
deren Albernheit und mangelnder Realitätsgehalt auch damals schon auffiel. Die
wichtigsten zeitgenössischen Punkte der Kritik am Amadis aber sind sexuelle
Ausschweifung und Magie. Die ausführlichste Auseinandersetzung stammt von
dem Hugenotten François de la Noue (Lanovius) in seinen Discours politiques et
militaires (1586). 26 In den Discours würde man eigentlich keine Literaturkritik
erwarten, Zeichen, für wie wichtig de la Noue diesen Roman in der Adelsdidaxe
hält. Der sechste Discours ist überschrieben: Que la lecture des livres d’Amadis n’est
moins pernicieuse aux jeunes gens, que celle des livres de Machiavel aux vieux (S. 160).
Dieser Vergleich mit dem schlimmsten aller schlimmen Autoren unterstreicht
die Gefahr, die de la Noue im Ritterroman wittert. Er habe, sagt de la Noue, sich
anfangs von Machiavellis Discorsi und seinem Principe und den darin verhandel-
ten hautes et belles matieres politiques et militaires blenden lassen, bis er genauer
25 Wie Henrike Schaffert gezeigt hat, werden aus diesen drei Ingredienzien, aus denen wiede-
rum einige rekurrente Erzählkerne abgeleitet sind, die seriell angelegten 24 Bände (in der
deutschen Ausgabe) generiert; vgl. künftig dies.: Der Amadisroman. Serielles Erzählen in
der Frühen Neuzeit. Diss. München 2013 (erscheint 2015 in der Reihe Frühe Neuzeit).
26 François de la Noue: Discours politiques et militaires. Publiés avec une introduction et des
notes par F. E. Sutcliffe. Genf, Paris 1967; vgl. Myriam Barakat: Édition commentée des Dis-
cours politiques et militaires de François de la Noue (1531–1591), Thèse du doctorat. Mont-
pellier 2011. Das 1586 erschienene Buch wurde bereits 1592 ins Deutsche übersetzt durch Ja-
kob Rathgeb: Discours Oder Beschreibung vnd vßführliches rähtliches bedencken, von al-
lerhandt so wol Politischen, als Kriegssachen. Frankfurt 1592, 6. Discours, S. 163–180.
zusah und erkannte, wie die verführerischen Gedanken auf voyes de deshonneur et
de dommage (S. 160) führten. Als Zeugen ruft er Innocent Gentillets Anti-
Machiavel auf. 27 Bis ins 18. Jahrhundert gilt Machiavelli als Zerstörer der Grund-
lagen einer auf Moral gegründeten politischen Ordnung, und als ebenso gefähr-
lich schätzt de la Noue Les livres d’Amadis ein, die er für „äußerst geeignete Mit-
tel zur Verderbnis der Sitten“ (des instrumens fort propres pour la corruption des
moeurs) hält. Er wolle die „unschuldige Jugend“ davor schützen, sich in ihren
fein gewebten Netzen zu fangen (S. 162). Der Amadis habe die Nachfolge der
alten Romane 28 angetreten, dem verfeinerten Geschmack einer neuen Zeit ange-
passt; so beliebt seien die Amadis-Romane unter Heinrich II. gewesen, dass jeder
Kritiker angespuckt worden sei. Man lernte Amadiser de paroles („in der Rede zu
‚amadisieren‘“), eine Mode, mit deren Süßigkeiten man sich den Magen verder-
ben konnte; jeder wollte taster seulement un petit morceau des friandises [Gaumen-
kitzel] qui y sont si naivement & naturellement representées (S. 162). 29 Doch dann
holt er zur Kritik aus. Der Verfasser ist Werkzeug des Teufels:
C’est qu’il me semble […] que ç’a esté un Magicien courtisan, habile & ac-
cort, 30 qui les a composez, lequel pour mettre son art en estime, & rendre
ceux qui s'en meslent honnorez & craints, a dextrement feint mille mer-
veilles, qu’il a couvertes & envelopees de plusieurs choses plaisantes, de-
sirees, & en usage, à fin que l’un coulant parmi l’autre, le tout fust mieux
receu. (S. 162f.)
Mir scheint, dass es ein Magier bei Hof war, fähig und raffiniert, der sie
verfasst hat, um seiner Kunst [der Magie] Anerkennung zu verschaffen
und die, sie sich darauf einlassen, geehrt und gefürchtet zu machen. Er
hat 1000 wunderbare Ereignisse erfunden, die er mit zahlreichen ange-
nehmen, erwünschten und allgemein üblichen Dingen verdeckt und ver-
kleidet hat, damit eins aus dem andern fließt und alles desto besser auf-
genommen wird. 31
Sein Ziel, der Zauberei Ansehen zu verschaffen, verfolgt er durch die Erfindung
von Wunderbarem, eingekleidet in choses plaisantes, desirees & en usage. Teufli-
sche Verführung camoufliert sich durch ästhetische Gestaltung.
27 Discours sur les moyens de bien gouverner et maintenir en bonne paix un royaume ou autre
principauté […] contre Nicolas Machiavel. s.l. 1576.
28 Immer schon habe es Leute gegeben, qui ont esté diligens d’escrire & mettre en lumiere des choses
vaines. Er nennt, wie seit Juan Luis Vives üblich, die alten Ritterromane Lancelot, Tristan,
Perforest oder Giron le courtois (S. 161f.).
29 Rathgeb: Discours (Anm. 26), ist noch direkter, indem er den Bezug auf das Schmecken von
Delikatessen kappt; doch auch bei ihm geht es um sinnliche (leibliche) Genüsse: der Amadis
wecke im Leser das Begehren nur ein geringes stcklin der darinnen so artlich / eigentlich / vnd
leiblich vorgestelten wollste zu versuchen / vnd zu probieren.
30 Rathgeb: Discours (Anm. 26): ein verschmitzter / subtiler / abgefrter Hoffmann / vnd zumahl
grosser Schwartzknstler (S. 165).
31 Übersetzung hier und im Folgenden v. V.
32 l'intention de l’autheur desdits livres, n’a esté autre que de laisser à la posterité un pourtrait des
exercices des cours de son temps, & forger un aiguillon, pour picquer les jeunes gentils-hommes, &
les inciter à la pratique de l’amour & des armes. Mais ils jugent trop a la bonne foy (S. 163). Das ist
eine Umkehrung des üblichen Arguments, das fabulae rechtfertigen soll: nützliche Wahrheit
unter erlogener Oberfläche (vgl. Anm. 18). Nicht die Oberfläche erregt Anstoß, sondern, was
unter ihr liegt (vgl. Rathgeb: Discours, Anm. 26, S. 163): vnder solchen hbschen Deckin/ viel
grober fehler (S. 165; ähnlich S. 169).
33 Rathgeb: Discours (Anm. 26) übersetzt: die schn vnd zierligkeit außwendig vs. die rechte warheit
inwendig (S. 166).
34 Mir scheint es daher unrichtig, wenn Sutcliffe (Anm. 26), S. 164 die guten Zauberer mit
weißer Magie zusammenbringt, denn diese liegt jenseits der Romanwelt.
Plusieurs ne cuident pas qu’il y ait aucun inconvenient à voir & aprendre
choses qui font rire & esmerveiller. Mais ils n’aperçoyvent pas que ce
n’est que le commencement de la farce, & qu’à la queuë gist le venin.
(S. 167)
Viele Leute finden nichts Schlimmes dabei, lächerliche und wunderbare
Sachen zu sehen und kennenzulernen. Aber sie merken nicht, dass dies
nur am Anfang eine Farce ist und dass am Ende das Gift droht.
Solche Schriften untergraben die Moral, nous servent d’amorces pour nous apprivoi-
ser aux misteres diaboliques (S. 168), sie gewöhnen ans Laster, indem sie den Ge-
schmack kitzeln.
Die zweite Gefahr ist noch offenkundiger als die erste: das Gift der Wollust (poi-
son de volupté, dont plus de gens tastent). 35 Es ist so fein und wirksam (suptil &
penetratif), dass es der stärksten Gegenmittel bedarf (S. 168). Der Amadis lockt mit
plusieurs especes d’amours deshonnestes, die so gut dargestellt sind (si bien depein-
tes), dass sie die jungen Leute täuschen. Hier kommt nun ein weiterer ästheti-
scher Aspekt ins Spiel. Die Verführung zur Wollust bedient sich nämlich der
Mittel der Kunst. Der Jugend gehe es, führt de la Noue aus, wie den Vögeln, die
die gemalten Trauben des Zeuxis – einer Anekdote aus der Historia naturalis des
älteren Plinius zufolge – für echte ansahen. Verführt werden Vögel wie junge
Leute nicht nur durch das Begehren selbst, die sinnliche Attraktion der Früchte
bzw. des anderen Geschlechts, sondern in diesem Fall durch eine Kunst, die den
Gegenstand des Begehrens auf besonders reizvolle Weise vortäuscht. De la Noue
bindet die verführerische Wirkung ausdrücklich an die vollkommene ästheti-
sche Gestalt. Erst die kunstvolle Ausgestaltung der schlichten spanischen Ama-
dis-Romane durch die französischen Übersetzer hat nämlich den Romanen ihre
Verführungskraft verliehen, der der Leser bereitwillig erliegt:
[…] tous les plus beaux ornemens qu’ils ont peu emprunter de la rhe-
torique, à fin que le nouveau eust plus d’efficace de persuader, ce que
plusieurs ne se persuadent que trop volontiers. Et l’ayant rendu fluide &
affetté, il ne faut point demander si son murmure est doux aux aureilles,
où apres avoir passé, il va chatouiller les plus tendres affections du coeur,
lesquelles il esmeut, plus ou moins, selon que les personnes sont prepares.
(S. 168f.) 36
[…] der ganze schöne Ornatus, den sie der Rhetorik entlehnen konnten,
damit das Neue um so wirksamer von dem überzeugt, von dem sich viele
nur zu gerne überzeugen lassen. Und nachdem sie es eingängig und raf-
finiert gemacht haben, muss man nicht fragen, ob die gefällige Rede den
Ohren wohltut, wo sie, noch wenn sie vergangen ist, die zärtlichsten Ge-
fühle des Herzen kitzeln wird, sie stärker oder schwächer hervorruft, je
nach dem die Personen darauf vorbereitet sind.
Die vollendete Kunst erregt die Sinne und lockt mit dem Reiz des Neuen. Mit
‚neu‘ nennt de la Noue neben dem Wunderbaren, den milles merveiles, eine wei-
tere zentrale Kategorie frühneuzeitlicher Ästhetik. 37 Zwar sind Magie und sinn-
liche Ausschweifung vornehmlich gefährliche Erzählgegenstände, die man mei-
den muss. Doch ihre magische Verführungskraft entfalten sie durch ihre kunst-
volle Form. 38 Und de la Noue malt aus, wie für die jungen Mädchen nicht die
Moral, nicht honte et modestie, nicht pudicité attraktiv sind, sondern deren Über-
tretung, gefasst wieder in Kategorien der Esslust: elles sont contraintes de se jetter
par la fenestre, pour aller dans quelque delicieux jardin manger des abricots (S. 169). 39
Nicht anders die jungen Kavaliere, die unablässig brennen und listiger als ein
Fuchs die Vögel herbeilocken avec friandes pipees de volupté (S. 170). Und der Au-
tor bietet all seine Beredsamkeit auf, um zu zeigen, dass darin das Glück besteht,
pour donner des mauvaises impressions à la jeunesse delicate (S. 170).
Die außerehelichen Liebschaften enden zwar im Amadis meist in der Ehe,
aber erst später; zuerst dominiert die Wollust; auch gibt es andere Helden, die
der incontinence (S. 171) Vorschub leisten. Ein Teil der Liebesaffairen hängt wie-
der direkt mit Zauber zusammen, aber der Zauber vollendet nur, was sich unter
den Verliebten, etwa Amadis aus Griechenland und Zahara schon anbahnt:
Car aucuns magiciens voyans qu’ils s’entreregardoyent de bon oeil, en-
cores que cest Amadis fust marié, neantmoins esmeus de pitié de leur
passion, & aussi pour oster la coulpe de l’adultere, ils les enchantment
tous deux ensembles en de beaux verger delicieux, où s’oublians eux mes-
mes, il n’oublierent pas pourtant de forger deus beaux enfans. (S. 172)
Denn manche Zauberer, wenn sie sehen, dass sie sich mit verliebten Bli-
cken anschauen, werden, obwohl Amadis verheiratet ist, auch um sie von
37 An der Ästhetik Johann Jakob Breitingers und Johann Jakob Bodmers wäre dieser Zusam-
menhang aufzuweisen. wenn die Schweizer auch das in der Dichtung legitime ‚Wunderba-
re‘ vom ‚Abenteuerlichen‘ unterscheiden, mit dem u.a. die wilden und haltlosen Erfindun-
gen der Ritterromane gemeint sind.
38 Hier unterscheidet sich die deutsche Übersetzung. Rathgeb fügt hinzu: Sie hetten zwar dessen
so hoch nit bedrfft / weil der Mensch vorhin von Natur darzu geneigt / daß gut zu lassen / vnd dem
bsen zu folgen, Rathgeb: Discours (Anm. 26), S. 171. Sein Misstrauen gegen die schöne Form
äußert sich auch, wenn er den kunstvoll gestalteten Roman verdeckt Gifft nennt, vgl. Rath-
geb: Discours (Anm. 26), S. 171.
39 Wieder übernimmt der deutsche Übersetzer die Geschmacksmetaphorik nicht: […] seyen sie
als in Lieb hefftig entbrendt / verursacht worden / sich etwan zu einem Fenster hinab zu lassen / vnd
im grnn Graß / vnder lustigen Rosenhecken / die Blmchen abzubrechen (S. 172). Blumenbrechen
ist eine konventionelle Metapher für den Sexualverkehr; das ist sehr direkt, wo de la Noue
von süßen Früchten spricht.
der Schuld des Ehebruchs zu entlasten, von Mitleid über ihre Leiden-
schaft gerührt und verzaubern die beiden in einem wunderschönen Gar-
ten, wo sie ihrer selbst vergessen, freilich nicht vergessen zwei schöne
Kinder zu zeugen.
Die Passion geht dem Zauber voraus, motiviert seine Anwendung und schafft
die Voraussetzung für die Selbstvergessenheit, die die Leidenschaft verursacht.
Solche Passion ist flüchtig. Es ist wieder eher eine Aussage über die Psychologie
der Leidenschaft in der Perspektive rigoristischer Moral: Schwindet der Zauber,
dann geht jeder seiner Wege ohne Erinnerung an das, was passiert ist. Das alles
ist
une couverte representation du paradis de Mahommet, dont cest autheur
vouloit donner quelque petit goust aux crestiens de son temps […] à fin
qu’ils s‘accoustumassent à repaistre leurs esprits et leurs corps de pense-
mens & d’actes charnels. (S. 171f.)
eine versteckte Darstellung des Paradieses der Muslim, von dem der Au-
tor den Christen seiner Zeit einen kleinen Vorgeschmack geben wollte,
um sie daran zu gewöhnen, Seele und Leib mit fleischlichen Gedanken
und Akten zu nähren.
Erinnert man sich, dass de la Noue auch in dem der Zauberei gewogenen Ver-
fasser einen Muslim vermutete, ist hinter der Amadis-Kritik das Interesse religiö-
ser Orthodoxie erkennbar, auf allen Ebenen die Unterhaltungsliteratur zu be-
kämpfen.
Erst mit dem dritten Vorwurf kehrt de la Noue zu seinem eigentlichen The-
ma politischer und militärischer Didaxe zurück. Er nennt die unablässigen
Zweikämpfe, die oft zwischen nahen Verwandten der Ehre wegen oder im
Dienst der Damen oder wegen unsinniger Gelöbnisse oder einfach, um sich zu
beweisen, stattfinden, mauvaises drogues, ein gefährliches Genussmittel. Die Hel-
den massakrieren sich pour choses frivoles, zum Vergnügen und Zeitvertreib von
Königen, Damen, Höfen und Städten (S. 173). Er führt die Händelsucht im Adel
darauf zurück, dessen sinnloses Blutvergießen er mit den Tierkämpfen in Eng-
land vergleicht. Die Polemik gegen Duelle erklärt sich aus dem Bemühen des
frühmodernen Staats, das Gewaltmonopol durchzusetzen; sie gehört in den
Rahmen frühneuzeitlicher Sozialdisziplinierung. 40 Überdies macht er sich über
die Unglaubwürdigkeit der Kämpfe lustig, die im Adel völlig falsche Vorstel-
lungen wecken, sodass aus Amadis-Lesern nie gute Soldaten werden (S. 174).
De la Noues religiös-moralische Polemik gegen die Sittenlosigkeit und Blut-
rünstigkeit der Amadis-Serie ist mit latent ästhetischen Argumenten, freilich in
verzerrter Form, verknüpft. Die verderblichen Inhalte werden als Nahrung auf-
genommen; sie schmeicheln dem Geschmackssinn, einem der niederen Sinne,
40 Gegeninstanz gegen die Unordnung im Adel ist deshalb der König Heinrich II. (S. 176).
6
Durch Rathgebs Übersetzung wurde, wie bemerkt, de la Noues Discours schon
1592 in Deutschland bekannt. Das Urteil des Calvinisten hat deshalb im lutheri-
schen Deutschland – wie übrigens auch in der katholischen Welt – große Reso-
nanz, wobei sich auch die Verbindung von Romankritik und Magiekritik als
erfolgreich erweist. Die Behauptung eines ‚sarazenischen‘ Ursprungs des Ro-
mans neutralisiert mögliche konfessionelle Spannungen und macht die Kritik
des Calvinisten auch für Lutheraner und Katholiken nachvollziehbar.
Sonst konzentriert sich die Romankritik meist auf die unsinnige Handlung
und Nutzlosigkeit der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Romane, die
seit den Schriften des Juan Luis Vives, die eigentlich auf den französischen
Markt bezogen waren, in einem festen Kanon genannt werden mit Titeln, die es
z.T. in Deutschland gar nicht gibt. 41 Ein weiterer Anstoß ist, dass hauptsächlich
von Liebe die Rede ist. 42 Hinter beidem steckt der Teufel. Er sucht mittels ge-
suchter und absurder Plots, die Menschen von sinnvoller, auf Gott bezogener
Tätigkeit abzulenken, gaukelt ihnen Wunschbilder sinnlichen Genusses vor und
taucht das Laster so in schönes Licht. Da kommt es gar nicht mehr darauf an, ob
ausdrücklich von Zauberei die Rede ist, denn was erzählt wird, hat allemal eine
ähnlich verheerende Wirkung. Mit dem Amadis und der prominenten Behand-
lung von Zauberei erhält die Kritik einen zusätzlichen Akzent. 43
Johann Valentin Andreae 44 erweitert die übliche Liste der vanae fabulae mit
Tristan, Kaiser Octavian, Melusine, Magelone usw. noch um den Guzman de Alfa-
rache, den Brissonetus, den Don Quixote oder die literati histriones Rabelais und
Merlin. Für den Amadis beruft er sich auf de la Noue. Er nennt den Roman einen
„berüchtigten Betrüger bei Hof, bei Müßiggängern und besonders beim weibli-
41 Fritz Wahrenburg: Funktionswandel des Romans und ästhetische Norm. Die Entwicklung
seiner Theorie in Deutschland bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1976; vgl. zu Vi-
ves Müller (Anm. 19), S. 19–21.
42 Siegmund Feyerabend bringt eine große Sammlung erfolgreicher Prosaromane unter dem
Titel Buch der Liebe heraus.
43 Ich konzentriere mich im Folgenden auf Kritiker, die diesen Akzent hervorheben.
44 Johann Valentin Andreae: Mythologiae Christianae sive Virtutum et vitiorum vitae huma-
nae imaginum Libri III. Straßburg [1619], S. 47. Dort auch alle folgenden Zitate.
chen Geschlecht“ (famosum impostorem in aula et apud otiosos, tum femineum etiam
sexum) und setzt ihn von den übrigen fabulae noch einmal als besonders gefähr-
lich ab. Diese sind nämlich – wie die ältere Romankritik betont hatte – bloß ge-
schwätzig und nichts wert, im Angebot von Marktschreiern (nugivendi), und
sollten aus den Palästen vertrieben werden. Der Amadis dagegen, das Spitzen-
werk der Sittenverderbnis (morum corrumpendorum antesignanum), sollte bei le-
bendigem Leib verbrannt werden. Durch Spiel und Blendwerk verleite er die
Menschen zum Bösen (miris ludibriis animos hominum ad pessima quaeque fascina-
vit). Besonders gefährlich ist er wieder wegen der Dreiheit Nekromantie, Wol-
lust und eine große Brutalität:
Nam et scelestissimam Necromantiam pro divina sapientia venditabat, et
impuris libidinibus virgineum et conjugalem thorum polluebat, et feroci-
tate bestiali animos generosos imbuebat, et religionis legumque vincula
dissolvebat, et vanis fabulis puriorem mentem occupabat.
Er pries nämlich verbrecherischste Nekromantie statt göttlicher Weisheit
an [oder auch: „… verkaufte sie für …“], besudelte mit schmutzigen Be-
gierden jungfräuliche und eheliche Betten und tränkte hochdenkende See-
len mit bestialischer Wildheit; er löste die Bande von Religion und Gesetz
auf und besetzte reine Gemüter mit leeren Fabeleien.
Die Amadis-Bücher, von großen Herren gefördert, seien voll von Beschwörun-
gen, Hurereien, Zweikämpfen, leichtfertigen Gelöbnissen 45 und törichten Phan-
tastereien (incantionibus, lenociniis, duellis, votis frivolis, et stulta imaginatione). Das
ist überwiegend auf den Inhalt der Reihe bezogen; doch stulta imaginatio weist
über diese Ebene hinaus. Die Einbildungskraft ist zwar töricht, aber sie ist es, die
die inkriminierten Gegenstände so verführerisch macht.
Deutlich ist das soziale Ressentiment gegen eine höfische Oberschicht, die
nichts zu tun hat. Um leere Zeit zu füllen und die Melancholie zu vertreiben,
empfahlen schon die Vorreden die Amadis-Bücher. ‚Muße‘ ist in den Augen An-
dreaes nicht Freisetzung von alltäglicher Beschäftigung, sondern Müßiggang,
Vermeiden ernsthafter Tätigkeit, damit Einfallstor des Lasters. Wieder trifft man
unter negativen Vorzeichen auf eine Bedingung ästhetischen Genießens: die
Entlastung von Alltagsgeschäften und -sorgen.
Allgemein gilt die Ansicht, dass die Romane die sittlichen Kräfte schwächen.
Insofern steht der Amadis auch in der Nachbarschaft von Schwankbüchern, 46
45 Gemeint sind die eidlichen Versprechungen, die die Helden unbedacht leisten und die sie
zu unerhörten, manchmal unsinnigen Abenteuern verpflichten.
46 Candorin [Conrad von Höveln]: Des hochlbl: adelen Swanen=Ordens Deutscher Cim-
ber=Swan. Lübeck 1662, der zu Vives’ üblichen Titeln Schwankbücher, Hurenlieder, Wahr-
sagebücher, auch Amadisi grillen aufführt (S. 150–154); Martin Zeiller: Epistolische Schatz-
kammer bestehend Von Siebenhundert vnd sechs Sendschreiben / Worinnen Allerhand
kstliche Schtze […] anzutreffen vnd zu finden seind. Ulm 1683, 73. Epistel, S. 304; Johann
bus Fabularum, quae Romanas vocant; et de Maleficis“ (Sectio IX, S. 238ff.). Ro-
mane sind Produkte otiosorum ingeniorum für otiosi lectores (S. 237). Seine Kritik
des Amadis, dieses liber pestilens, folgt de la Noue, indem er wie dieser als Verfas-
ser einen schlauen, magiekundigen spanischen Hofmann vermutet (Magicae rei
callentissimum), der unter der täuschenden Oberfläche Satanskünste verbreiten
wollte, einen Mohammedaner oder Sarazenen, einen Dämonenknecht oder
Adepten dämonischer Künste (sub hoc involucro artes Diaboli propagare Satagentem,
Mahometanum illum vel Saracenum; Daemoniacum et Daemonomaniam professum)
(S. 239). Das Urteil ist vernichtend. Er nennt den Amadis ein Werk, „das für die
Lüste der meisten Höfe bestimmt sei und sich durch Unzucht mit Hilfe aberwit-
zigster Gedanken den erbärmlichsten Liebhabern warm empfehle“ (Amadisium
plerarumque Aularum deliciis sepositum, et ex incestu ineptissimis cogitationibus mi-
serrimis amatoribus commendatissimum) (S. 239). Solche Häufung von Lastern hat
strafrechtliche Konsequenzen. Magische und häretische Schriften sind zu ver-
brennen. Deckher fragt sogar, ob die Lektüre eines solchen Buchs nicht als
Grund für die Verhängung der Folter ausreiche. Für das Faustbuch verneint er
diese Frage, weil dieses ja mit einem (vermutlich gefälschten) obrigkeitlichen
Privileg erschienen sei, das treffe für den Amadis jedoch nicht zu. Damit führt die
literarische Kritik zur Erörterung der Frage, wie man Zauberer überführen kön-
ne, und so geht das Kapitel über anonyme Romane ganz selbstverständlich in
einen Exkurs über malefici über (S. 240ff.). Beides gehört für ihn offenbar zu-
sammen. Nach dieser Abschweifung ruft Deckherr sich zur Ordnung und kehrt
zu einer nun überwiegend positiven Erörterung von Romanen (Sophonisbe, Theu-
erdank, Hercules und Herculiscus, Heldenbuch, S. 246ff.) zurück.
Die katholische Seite argumentiert nicht anders. So geißelt der Jesuit Jeremias
Drexel in seinem Nicetas (1628) die obszönen Bücher (impuri et obscoeni libri), die
zur Unkeuschheit einladen (incontinentiae invitamentum) und Büchern mit from-
men geistlichen Mahnungen vorgezogen würden (S. 26–33). 51 Auch bei ihm steht
der Satz lectio transit in mores im Hintergrund. Er fragt in seinem Plädoyer gegen
Unterhaltungslektüre: „Was lese ich viel, wenn ich nicht tun will, was ich gele-
sen habe. Wenn wir etwas gelesen haben, fangen wir an, so zu sein, wie das
Buch es uns lehrt“ (Quid multa lego, si facturus non sum quod legi? Post lectionem
tales incipiamus esse, quales esse praecipit liber, S. 181f.). Er weitet die Romankritik
zur allgemeinen Literaturkritik. Der Amadis steht an der Seite Ovids, des Golde-
nen Esels und des Faustbuchs (S. 33), denn es ist der böse Geist, der hinter Un-
keuschheit ebenso wie hinter der Zauberei steht (S. 32). Schuld ist der Müßig-
gang (S. 185f.). Die schöne Gestalt dient nur der Verführung.
Auch die Bibliotheca selecta des Antonio Possevino gibt eine Übersicht über
die Bücher, die der gute Katholik lesen darf. In der 4. Sectio des 16. Buchs über
die humana historia geht es um falsche und verderbliche historiae, darunter über
Geschichtsfälschungen, die Werke Machiavellis, Schriften des konfessionellen
55 Ich nenne nur Händel (neben Rinaldo auch Alcina), Jomelli, Gluck, Haydn, Rossini.
Der bayerische Hof- und Leibarzt Johann Hartlieb schrieb im Jahre 1456
für den Markgrafen Johann von Brandenburg, genannt „der Alchemist“,
das Buch aller verpotten kunst, vnglaubens vnd der zaubrey, in welchem er
den Markgrafen vor allerhand teuflischen Künsten warnt und eine Reihe
von Büchern nennt, vor denen er sich besonders hüten soll. Da heißt es im
35. Kapitel:
,Es ist noch gar ein mercklich püch in der künst nigramancia das hebt sich
an ,ad laudem dei et gloriosissime virginis Marie‘, haisst picatrix. das ist
das vollkomenst püch, das jch ye gesach jn der kunst. das selp püch ist
ainem küng von Hysponia gesambelt worden durch ainen hochen doc-
torem sunder zweifel, wann er hat die kunst also gerümt mit natürlichen
aygenschaft vnd mit sprüchen der hailigen geschrift, das maniger wolge-
lerter man gantz gelaubt, das es nit sünd sey, das püch verfürt gar vil lewt
zu ewiger verdambnuss. vor dem püch sol sich dein fürstlich genad am
maisten hütten, wann vnder seinen süssen worten ist der potter gift ver-
mist. das püch Piccatrix ist grösser dann drey psalter, o was hocher list
vnd gespenst hat gehabt sathanas, bis er das püch einpläsen hat.‘ […]
Trotz solcher Warnungen hat sich das Buch mit dem merkwürdigen Na-
men Picatrix, von dessen Ursprung man nicht viel mehr wußte, als dass es
der spanische König Alfons (,der Weise‘) für sich hatte schreiben lassen,
sehr weit verbreitet. Es gab eine große Reihe von Handschriften davon,
1
Kaiser Maximilian hatte sogar zwei in seiner Bibliothek.
Diese einleitenden Worte stammen aus der Einführung zur deutschen Überset-
zung des Picatrix, die 1961 von Hellmut Ritter und Martin Plessner in den Stu-
dien der Warburg Bibliothek herausgegeben worden ist. Ritter geht es hier offen-
sichtlich darum, zwei Kronzeugen für die weite Verbreitung dieses nigromanti-
schen Zauberbuchs im Mittelalter anzuführen: zum einen die genannte Schrift
1 Picatrix. Das Ziel des Weisen von Pseudo-Mağrīṭī. Translated into German from the Arabic
by Hellmut Ritter and Martin Plessner. London 1962, S. XX. Der Hinweis auf die beiden
Exemplare in der Bibliothek Maximilians bezieht sich auf Theodor Gottlieb: Die Bücher-
sammlung Kaiser Maximilians I. Mit einer Einleitung über älteren Bücherbesitz im Hause
Habsburg. Leipzig 1900, S. 99. Das Inventar nennt unter der Rubrik Nigromantia vnd Arzney
außerdem noch die Clauicula Salomonis und die Secreta secretissima Salomonis.
Hartliebs, 2 die bis heute immer wieder herangezogen wird, wenn man einen
Überblick über magische Praktiken im Spätmittelalter zu gewinnen sucht, 3 und
zum anderen die vermeintlich große Zahl an direkten und indirekten Zeugnis-
sen für die Existenz dieses Zauberbuchs in mittelalterlichen Bibliotheken. Dieser
letzten These soll im Folgenden in einem größeren Zusammenhang nachgegan-
gen werden. Es soll danach gefragt werden, welche magischen Texte in mittelal-
terlichen Buchsammlungen überhaupt und in welcher Zahl vorhanden waren.
Anlass für diese Frage ist ein immanenter Widerspruch der beiden Kronzeugen:
Wenn nämlich der Picatrix und andere Zauberbücher wirklich so teuflisch sind,
dass ihr Gebrauch die Menschen in die ewige Verdammnis führt, wie es Hartlieb
behauptet, dann wäre eher zu erwarten, dass man kaum Spuren ihrer Existenz
finden würde. Dies also gilt es zu untersuchen, wobei in drei Schritten vorge-
gangen werden soll: Zuerst soll ein knapper Überblick über die magischen Texte
des Mittelalters und ihre Überlieferung gegeben werden, ehe dann am Beispiel
des Picatrix auf die Details der handschriftlichen Überlieferung eingegangen
wird. Zuletzt wird schließlich das Ergebnis noch in den Kontext weiterer Zeug-
nisse von magischen Texten in den Buchverzeichnissen des Mittelalters gestellt.
Zuerst aber soll noch einmal in aller Kürze auf das Buch Hartliebs zurückge-
kommen werden. Hartlieb ordnet seine Liste magischer Bücher und Praktiken
nach einem Schema der Magie, das sich schon bei Isidor findet und dann von
Hugo von St. Viktor im Didascalicon in eine systematische Ordnung gebracht
wurde. Die erste Species der Magie ist die Mantik, die einerseits die Necroman-
tie und andererseits die vier sogenannten „elementischen“ Künste Geomantie,
Hydromantie, Aeromantie und Pyromantie umfasst. 4 Hartlieb folgt dieser Fün-
fer-Reihe, fügt diesen aber noch die Chiromantie und die Spatulamantie hinzu;
er verspricht außerdem Informationen zu allen anderen Täuschungen des Teu-
fels, wozu es aber in diesem Buch nicht mehr gekommen ist. Die Einfügung der
Chiromantie und, besonders wichtig, die Umbenennung der Necromantie in Nig-
romantie bei Hartlieb verdankt sich nun der Rezeption einschlägiger arabischer
2 Johannes Hartliebs Buch aller verbotenen Kunst. Untersucht und hrsg. von Dora Ulm. Halle
a.S. 1914. Eine Neuedition nach der Hs. Heidelberg, UB, cpg 478 mit Übersetzung und
Kommentar wurde hrsg. von Falk Eisermann und Eckhard Graf: Johannes Hartlieb. Das
Buch aller verbotenen Künste, des Aberglaubens und der Zauberei. Ahlerstedt 1989. Zur
Abhängigkeit Hartliebs von dem Tractatus de superstitionibus des Nikolaus Magni de Jawor
vgl. Frank Fürbeth: Johannes Hartlieb. Studien zu Leben und Werk. Tübingen 1992, S. 88–
120.
3 Vgl. etwa Hans Biedermann: Handlexikon der magischen Künste von der Spätantike bis
zum 19. Jahrhundert. 3. verbesserte und wesentlich vermehrte Auflage. 2 Bde. Graz 1986,
wo Hartlieb in Bd. 1, S. 198 sogar einen eigenen Eintrag erhalten hat.
4 Isidori Hispalensis Episcopi Etymologiarum sive Originum Libri XX. Hrsg. von W. M.
Lindsay. 2 Bde. Oxford 1911, Buch VIII, Kap. 9; Hugo von St. Viktor: Eruditionis didascali-
cae libri septem. In: Migne, PL 176, Sp. 739–812, Buch VII, Kap. 15. Vgl. Frank Fürbeth: Art.
Artes magicae. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. Berlin, New York
1997, S. 146–149.
Schriften seit dem 13. Jahrhundert. In der arabischen Wissenssystematik, wie sie
durch Dominicus Gundissalinus nach Europa gekommen ist, 5 wird die Nigro-
mantie allerdings der Naturwissenschaft zugezählt; 6 ein Reflex dieser Zuord-
nung findet sich bei Hartlieb in seiner Warnung, dass der Picatrix sich angeblich
mit natürlichen aygenschaft befasse. 7 Die in den folgenden Jahrhunderten stattfin-
denden Systematisierungen ordnen nun diese neue Terminologie in das alte
Schema Hugos ein, als Beispiel sei nur die Divisio scientiarum des Arnould de
Provence genannt. 8 Dass Hartlieb in seiner Darstellung der magischen Künste
zwischen den alten Katalogen Isidors oder Hugos einerseits und der neuen Sys-
tematisierung der Araber andererseits steht, zeigt sich weiter ganz deutlich da-
rin, dass er für die Nigromantie fast nur eine Reihe von Büchern aufzählt, wäh-
rend er für die weiteren sechs Künste ausschließlich magische Praktiken darstellt.
Sein Buch, so könnte man sagen, ist damit deutlich zweigeteilt: Im ersten Teil
nennt er schriftliche Quellen einer Buchmagie, und im zweiten Teil führt er Ver-
fahrensweisen einer mündlich-praktischen Magie auf, die entweder volksläufig
ist oder von entsprechenden Experten ausgeübt wird; bei letzteren nennt er für
den Fall der Handlesekunst eine Gruppe von Zigeunern 9 und für den Fall des
Wettermachens eine Hexe, die er in ihrer Kunst ausgeforscht habe. 10
1
Für unseren Zusammenhang ist nun wichtig, dass man für alle diese Formen der
praktischen Magie keine schriftlichen Zeugnisse in den Bibliotheken finden
wird, sieht man einmal von versprengten Niederschriften einzelner Anleitungen
ab, denen hier aber nicht nachgegangen wird. Zu erwarten sind dagegen Texte
der Buchmagie, von denen Hartlieb selbst 15 mit Autor oder Titel nennt: sigillum
Salomonis, claviculum Salomonis, Jerarchia, Schamphoras, 11 püch Kyrammdorn, 12 The-
bit, Ptholomeus, Luipoldus de Austria, Arnoldus, Arnoldus de noua uilla, 13 das gesegent
puch, 14 Liber Raselis, 15 piccatrix, 16 ein püch der hailigen drey küngen 17 und die pücher
Pittagoras. 18
Es sind dies zum größten Teil Werke der arabischen Astrologie, Magie und
Mantik, die man ab dem 13. Jahrhundert in lateinischen Übersetzungen in den
europäischen Bibliotheken findet. Eine systematische Erfassung der Überliefe-
rung dieser Texte ist bis heute noch nicht geleistet worden; ausführliche Infor-
mationen zu ihren Verfassern, ihrer Entstehungszeit und zu ihrem Gegenstand
findet man zwar in den Editionen und der Forschungsliteratur 19 sowie in den
einschlägigen Überblickswerken 20 und Handbüchern, 21 eine überlieferungsge-
schichtliche Untersuchung, die insbesondere auch die von Ritter postulierte
,sehr weite Verbreitung‘ verifizieren würde, steht allerdings noch aus. Hier kann
daher für einen ersten Überblick nur das Incipit-Verzeichnis von Lynn Thorn-
dike und Pearl Kibre 22 sowie ergänzend die History of Magic and Experimental
Science von Lynn Thorndike 23 und die Bibliographie von Francis Carmody 24
ausgewertet werden, wobei die methodischen Bedenken angesichts des Frage-
ziels vernachlässigbar erscheinen. 25
Insgesamt können so 314 Texte gezählt werden, die sich im weitesten Sinne
mit magischen Verfahren beschäftigen, wovon der größte Teil, nämlich 240 Tex-
te, anonym überliefert ist. 26 Im Vergleich zu der Gesamtzahl der bei Thorndike/
Kibre verzeichneten Werke, die auf etwa 8000 bis 9000 geschätzt werden kann, 27
macht dies gerade einmal 3,5 Prozent aus. 237 dieser magischen Texte lassen
sich durch Titel und Inhalt eindeutig der spätmittelalterlichen Systematisierung
der artes magicae zuordnen, 28 wie sie auch von Hartlieb verwendet wird. Auffäl-
lig sind drei Punkte: Erstens sind die Chiromantie mit 40 29 und die Geomantie
mit 95 Texten 30 überproportional vertreten; dies ist meines Erachtens darin be-
gründet, dass es sich meistens um recht kurze und theorieferne Texte handelt,
die also einerseits rasch und mit wenig Platzbedarf abgeschrieben werden kön-
nen und sich so auch immer wieder in umfangreichen Sammelhandschriften
finden. Zum anderen sind sie auf die Anwendung orientiert und von daher
ebenfalls von größerem Interesse. Zweitens sind Hydromantie und Aeromantie
jeweils nur mit einem Text, Pyromantie und Spatulamantie 31 jeweils nur mit
zwei Texten vertreten; dies zeigt, dass Hartlieb hier tatsächlich keine buchmagi-
schen Texte zur Verfügung standen, auf die er hätte zurückgreifen können, 32
gleich der Überlieferungshäufigkeit von magischen und sonstigen Werken und um die
Gruppenbildung innerhalb der magischen Werke.
26 Vgl. die Liste im Anhang.
27 Die Schätzung resultiert aus einer Auszählung des Autoren- und Werkindex auf Sp. 1717–
1935, wobei durchschnittlich 40 Werke pro Spalte aufgeführt werden, was insgesamt 8760
Werke ergeben würde.
28 Nicht berücksichtigt wurden solche Texte, die über Thorndike bzw. Carmody nicht eindeu-
tig identifiziert werden konnten und deren Incipit nicht eindeutig erkennen lässt, ob es sich
um eine magisch-mantische Anleitung oder im Gegenteil um eine kritische Auseinanderset-
zung mit solchen Praktiken handelt. Dies betrifft ausschließlich die anonym überlieferten
Texte insbesondere zur Dämonologie, Divination und Magie.
29 Darunter sind 28 anonym. Zur Überlieferung der Chiromantie im Mittelalter vgl. Manuali
medievali di chiromanzia. Hrsg. von Stefano Rapisarda. Rom 2005; Frank Fürbeth: Das Jo-
hannes Hartlieb zugeschriebene Buch von der hand im Kontext der Chiromantie des Mittelal-
ters. In: ZfdA 136 (2007), S. 449–479.
30 Darunter sind 75 anonym. Zur Überlieferung der Geomantie im Mittelalter vgl. a. Thérèse
Charmasson: Recherches sur une technique divinatoire: la géomancie dans l’occident mé-
diéval. Geneve, Paris 1980.
31 Zur Spatulamantie im Sinne der Vorhersage aus den Schulterknochen großer Tiere im Mit-
telalter vgl. Charles Burnett: Magic and Divination in the Middle Ages. Texts and Tech-
niques in the Islamic and Christian World. Aldershot 1966, Nr. XII („Scapulimancy“), XIII
(„Arabic divinatory texts and Celtic folklore: a comment on the theory and practice of sca-
pulimancy in Western Europe“), XV („An Islamic divinatory technique in medieval Spain:
An editon of the earliest Latin Scapulimancy “).
32 Die drei artes magicae der Aeromantie, Hydromantie und Pyromantie verdanken ihr Leben
in der Magie des Mittelalters offensichtlich nicht der Tradierung einschlägiger Praktiken
und der entsprechenden Texte, sondern ihrer Nennung und Systematisierung als elementi-
sche Künste bei Isidor und Hugo von St. Viktor. Erwähnt werden sie vor allem in supersti-
tionskritischen Werken des Mittelalters. So meint Michael Scotus in seiner Introductio in ast-
rologiam, dass die Hydromantie darin bestehe, dass bei der Opferung für die Dämonen Blut
wobei zudem noch zu bedenken ist, dass sich allein vier dieser Texte in einer
Handschrift des späten 15. Jahrhunderts finden, in der sie unter dem wohl fin-
gierten Autornamen Almadel als Liber de firmitate sex scientiarum zu Pyro-mantie,
Aeromantie, Hydromantie, Augurium, Geomantie und Chiromantie zusam-
mengefasst werden. 33 Die Informationen, die Almadel hier zu Pyromantie, Ae-
romantie und Augurium – unter dem er eine Form der Wettervorhersage ver-
steht – gibt, sind ebenso allgemeiner Natur wie bei Hartlieb und beruhen daher
wohl nicht auf älteren Quellen, sondern sind erst im Rahmen und zur Erfüllung
dieser gängigen Systematisierung zusammengestellt worden.
Damit bin ich bei dem dritten Punkt, der zeitlichen Verteilung. Der Großteil
der Handschriften stammt aus dem 14. und 15. Jahrhundert. Dies ist nicht weiter
verwunderlich, da bekanntermaßen der weitaus größte Teil der erhaltenen mit-
telalterlichen Handschriftenproduktion in diesen Jahrhunderten erfolgt ist. 34
Umso auffälliger ist dann allerdings, dass die Geomantie schon mit acht Hand-
schriften aus dem 13. Jahrhundert vertreten ist, dies erinnert daran, dass es ein
geomantischer Text mit Angabe von Incipit und Explizit ist, der auf der Lektüre-
und Diskussionsverbotsliste des Bischofs Tempier für die Pariser Artisten von
mit Wasser vermischt werde (Thorndike, Anm. 23, Bd. II, S. 321f.), und in dem Albertus
Magnus zugeschriebenen Speculum astronomiae werden die vier elementischen Künste nach
der Nigromantie aufgeführt, weil sie mit dieser dieselbe Wortendung teilen; Hydromantie
wasche das Fleisch der Tiere und inspiziere die Muskelfasern, Pyromantie sage aus dem
Feuerschein voraus (ebd., S. 701f.). Weitere Erwähnungen von Aeromantie, Hydromantie
oder Pyromantie finden sich in der Klassifikation der artes magicae bei Thadeus von Parma
aus dem Jahr 1318 (ebd. Bd. III, S. 12), in Nicolaus Oresmes De divinationibus (ebd., S. 421),
bei Gerd Groot (ebd., S. 512), Nicolaus Eymeric (ebd., S. 514), Jacques Le Grand
(ebd., Bd. IV, S. 278), Johannes Gerson (ebd., S. 117), Giovanni da Fontana (ebd., S. 172) und
Bernard Basin (ebd., S. 492). Immer handelt es sich um mehr oder minder allgemein gehal-
tene Beschreibungen in magiekritischen Werken; Textkenntnis scheint nicht vorhanden ge-
wesen zu sein. Nur Johannes Calderia kündigt, ähnlich wie Hartlieb am Ende von dessen
Buch, in seinem um 1440 entstandenen Liber canonum astrologie an, dass er noch Weiteres
über Hydromantie, Aerimantie, Pyromantie, Geomantie und Chiromantie schreiben wolle,
hat dies aber nicht ausgeführt (ebd., Bd. IV, S. 165). Bezeichnenderweise schreibt auch Hugo
von Santalla in seiner Geomantie, dass er danach auch noch die Hydromantie behandeln
wolle, dass er aber keinerlei Bücher zur Aeromantie oder zur Pyromantie gefunden habe
(ebd., Bd. II, S. 86).
33 Vgl. Lynn Thorndike: Alfodhol and Alamadel. Hitherto unnoted mediaeval books of magic
in Florentine manuscripts. In: Speculum 2 (1927), S. 326–331; ders.: Alfodhol and Alamadel
once more. In: Speculum 20 (1945), S. 88–91.
34 Vgl. Uwe Neddermeyer: Von der Handschrift zum gedruckten Buch. Schriftlichkeit und
Leseinteresse im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Quantitative und qualitative Aspek-
te. 2 Bde. Wiesbaden 1998, Bd. 1, S. 217–307, bes. S. 305f. Neddermeyer geht davon aus, dass
ab dem Jahr 1370 aus verschiedensten Gründen eine erhebliche Intensivierung der Manu-
skriptproduktion eingesetzt hat. Unter Ansatz einer erschlossenen Verlustquote von 93 %
geht er davon aus, dass in Mitteleuropa vom ausgehenden 14. bis zum Ende des 15. Jahr-
hunderts 2,5 Millionen Handschriften entstanden sind. Vgl. Neddermeyer: Von der Hand-
schrift zum gedruckten Buch, S. 929.
1277 ganz oben steht; erst danach folgt ein summarisches Verbot jener libros,
rotulos seu quaternos nigromanticos aut continentes experimenta sortilegiorum, invoca-
tiones demonum, sive conjurationes in periculam animarum. 35
Die hier genannten nigromantischen Werke können nach dem im Mittelalter
Albertus Magnus zugeschriebenen Speculum Astronomiae 36 in drei Gruppen ein-
geteilt werden. Das Speculum geht von einer engen Nähe der Nigromantie, die es
als scientia imaginum bezeichnet, 37 zur Astrologie aus und kennt deshalb neben
zwei verwerflichen Species der Nigromantie, die eindeutig nur mit Hilfe der
Dämonen zu ihren Ergebnissen komme, eine licite dritte, welche imagines astro-
nomicarum herstelle, deren Kraft allein von den figurae caelesti herrühre. 38 Als
herausragende Bücher dieser Species nennt das Speculum den Liber Thebit filii
Chorat (Thabit ibn Qurra) und ein Opus imaginum Ptolemaei. 39 Allerdings seien
auch diese Bücher nicht zu dulden, wenn ihre imagines unter nigromantischen
Bedingungen hergestellt würden. Bei den anderen beiden Species gehe es zum
einen um die Herstellung von Talismanen, die Opferung und Invokation (der
Dämonen) verlange, 40 das Speculum nennt hier die Bücher von Toz dem Grie-
chen, Balenus (Belenus) und Hermes, wobei dies die schlimmste Art der Idola-
trie sei. 41 Zum anderen gehe es um die Einschreibung von magischen Figuren
(inscriptio characterum) bei gleichzeitiger Exorzierung gewisser Namen (per quae-
dam nomina exorcizandum); zu den Büchern dieser Species zählt das Speculum das
Buch Almandal Salomonis und den Liber Raziel. 42
Alle Bücher der Magie im Mittelalter, die handschriftlich überliefert sind und
die sich nicht mit Geomantie oder Chiromantie befassen, gehören diesen drei
Species der nigromantischen scientia imaginum an; wie nicht anders zu erwarten,
stammen mit einer Ausnahme 43 auch die von Hartlieb aufgeführten nigroman-
35 item librum Geomantie, qui sic incipit: Estimaverunt Indi, et sic terminatur: Ratiocinare ergo super
eum, et invenies etc., item libros, rotulos seu quaternos nigromanticos aut continentes experimenta
sortilegium, invocationes demonum, sive conjurationes in periculum animarum, seu in quibus de ta-
libus et similibus fidei orthodoxe et bonis moribus evidenter adversantibus tractatur. Aufklärung im
Mittelalter? Die Verurteilung von 1277. Das Dokument des Bischofs von Paris übersetzt und
erklärt von Kurt Flasch. Mainz 1989, S. 90.
36 Paola Zambelli: The Speculum Astronomiae and its Enigma. Astrology, Theology and Sci-
ence in Albertus Magnus and his Contemporaries. Dordrecht, Boston und London 1992 (mit
einer Edition des Textes und einer engl. Übersetzung).
37 Zambelli: The Speculum Astronomiae (Anm. 36), S. 240.
38 Zambelli: The Speculum Astronomiae (Anm. 36), S. 246.
39 Zambelli: The Speculum Astronomiae (Anm. 36), S. 248.
40 Zambelli: The Speculum Astronomiae (Anm. 36), S. 240. Ein solches ,Handbuch eines Nigro-
manten’ hat Richard Kieckhefer ediert und kommentiert: Forbidden Rites. A Necromancer’s
Manual of the Fifteenth Century. Stroud 1997.
41 Zambelli: The Speculum Astronomiae (Anm. 36), S. 240.
42 Zambelli: The Speculum Astronomiae (Anm. 36), S. 240.
43 Der von Hartlieb genannte Luipoldus de Austria hat kein nigromantisches Buch geschrie-
ben, es handelt sich wohl um den um 1271 tätigen Leopold de Austria, der eine aus den ver-
tischen Bücher aus diesen drei Species 44 und sind zum Teil mit denen im Spe-
culum astronomiae genannten identisch. Es wäre daher zu fragen, ob die durch
das Speculum und durch Hartlieb zugewiesene Bedeutung der genannten Werke
sich auch in einer entsprechend breiten Überlieferung widerspiegelt. Auch wenn
Thorndike/Kibre nicht die gesamte handschriftliche Überlieferung verzeichnen,
sondern sich meistens mit der Angabe eines oder zweier Textzeugen begnügen,
fallen umso mehr diejenigen Texte auf, bei denen eine größere Anzahl von
Handschriften aufgeführt wird. Ich nenne hier nur die Fälle mit mehr als fünf
Textzeugen: Ptolemäus, De imaginibus (7 Handschriften); Thabit ibn Qurra, De
imaginibus (8 Hss); Zahel, De imaginibus (6 Hss) und die ,Kyraniden‘ (6 Hss). Nach
Ausweis der bei Thorndike/Kibre verzeichneten Überlieferung kann also gesagt
werden, dass es die Werke der ersten, am wenigsten verwerflichen nigroman-
tischen Species sind, also die Anleitungen zur Herstellung von imagines nach
stellaren Einflüssen, die im Mittelalter am beliebtesten sind; dazu kommen als
Einzelwerke unter den Geomantien noch die Texte von Gerhard von Cremona
(10 Hss) und von Wilhelm von Moerbeke (7 Hss) sowie unter den Chiromantien
diejenigen von Adelard von Bath (9 Hss), Ps.-Aristoteles (8 Hss) und Johannes
von Sevilla (9 Hss). Es ist allerdings immer daran zu denken, dass dies nicht alle
heute bekannten Textzeugen sind, dass also unter Umständen durch die Hinzu-
ziehung der einschlägigen Forschung sowie durch weitere Handschriftenfunde
sich das Bild verschieben könnte; auf der anderen Seite sollte gleichfalls auch
2
Bei dem Picatrix 47 handelt es sich um die lateinische Übersetzung des arabischen
Buchs Das Ziel der Weisen (Gḥāyat al-ḥakīm) von Ps.-Al-Majrīṭī, das 1256 für Kö-
nig Alfons von Kastilien zuerst ins Spanische übertragen wurde; der Autorname
Picatrix ist ein Missverständnis aus dem arabischen Namen Buqrāṭīs oder über-
haupt nur fingiert. Das Werk ist in vier Bücher geteilt, wobei das erste eine Defi-
nition und Behandlung der Magie und der Talismane im Kontext von Kosmolo-
gie, Astronomie und Naturphilosophie gibt. Das zweite Buch beschäftigt sich
mit den Sternbildern und den Planeten sowie ihren Eigenschaften und gibt An-
leitungen, die stellaren Emanationen in Form von Talismanen einzufangen. Im
dritten Buch wird dies weiter ausgeführt, ehe dann im vierten Buch zu den Ver-
fahren der Anrufung der Planeten und ihrer Pneumata übergegangen wird.
Der Picatrix ist in 31 Handschriften überliefert, 48 wobei allerdings der Groß-
teil (elf Handschriften aus dem 16. und zehn aus dem 17. und 18. Jahrhundert)
nicht aus dem Mittelalter stammt. Die Überlieferung setzt, wenn man von einem
kleinen Exzerpt in einer Handschrift des 14. Jahrhunderts absieht, 49 überhaupt
erst im 15. Jahrhundert mit einer vollständigen Abschrift aus dem ersten Drittel
des Jahrhunderts ein; 50 der in der Chronologie nächste Textzeuge, der den Pica-
trix vollständig enthält, stammt aus dem Jahr 1466. 51 Ginge man also nur von
diesen erhaltenen Handschriften aus, hat Hartlieb mit großer Wahrscheinlichkeit
nie ein Exemplar des Buches zu Gesicht bekommen. Wie auch immer: Auffällig
ist auch hier, dass die integrale Überlieferung überhaupt erst im 15. Jahrhundert
beginnt. Dazu kommen noch weitere Punkte: Nur in drei der zehn Handschrif-
ten des 15. Jahrhunderts ist der Picatrix vollständig überliefert, 52 in einer bricht
die Abschrift im zweiten Buch ab, 53 in weiteren vier finden sich nur Exzerpte, 54
in einer nur Illustrationen, 55 und in einer gar nur kurze Zitate, in denen der Pica-
trix als sentenzenhafte Autorität der Magie dient. 56 Die Textzeugen der vollstän-
digen Abschriften überliefern in zwei Fällen den Picatrix monographisch, 57 in
dem anderen Fall steht er zusammen mit anderen Werken; letzteres gilt selbst-
verständlich auch für die Fragmente und Exzerpte sowie für die Kurzzitate.
Von besonderem Interesse ist nun einerseits die Frage, welche Textpartien
aus dem Picatrix ausgezogen und abgeschrieben werden, und andererseits, in
welchen Werkkontexten die Exzerpte wie auch die nicht-monographische Ab-
schrift stehen. Alle Sammelhandschriften haben einen astronomisch-astrolo-
gischen Textkern; neben Tafeln zur Bewegung der Planeten und Sterne sowie zu
ihren Konjunktionen 58 stehen kanonische Texte wie Albubathers De nativitati-
bus, 59 Ps.-Alkindis De planetis, 60 Albumasars Electiones planetarum, 61 Messahalahs
De revolutione annorum mundi 62 oder die von Hartlieb der Nigromantie zugerech-
nete Compilatio de astrorum scientia des Leopold von Österreich. 63 Drei Hand-
giques. In dies.: Images et Magie (Anm. 47), S. 13–24, hier S. 13, Anm. 4 („Le plus ancien co-
dex latin daté est le manuscrit 793 de la Bibliothèque Jagellone“) ist entsprechend zu korri-
gieren.
51 Wien, ÖNB, 3317 (1466).
52 Weimar, Anna Amalia-Bibliothek, Oct 95; Wien, ÖNB, 3317; Paris, BN, lat. 10272 (1494).
53 Krakau, BJ, 793 (1458/59).
54 Florenz, BiBl. Laurenziana, 89 sup., Cod. 38 (15. Jh.); Krakau, BJ, 610 (1440/77); London,
Wellcome Inst., 128 (1487); Rom, Vat., Pal. lat. 1354 (1463/64).
55 Krakau, BJ, 3411. Vgl. dazu Grażyna Rosińska: Scientific Writings and Astronomical Tabels
in Cracow. A Census of Manuscript Sources (XIVth–XVIth Centuries). Wrocław [u.a.] 1984,
S. 444, Nr. 2315.
56 Oxford, Bodl., 499 (15. Jh.).
57 Wien, ÖNB, 3317; Paris, BN, Lat. 10272.
58 Weimar, Anna Amalia-Bibliothek, Oct 95, f. 183v–185r (Kurzbeschreibungen von 28 Stern-
bildern); Krakau, BJ, 610, f. 1r–289v, 317r–346v, 350v–357v (diverse Tabulae).
59 Krakau, BJ, 793, f. 1r–33v. Vgl. Carmody: Arabic Astronomical and Astrological Sciences
(Anm. 24), S. 136f.
60 Krakau, BJ, 793, f. 47v–48v. Vgl. Carmody: Arabic Astronomical and Astrological Sciences
(Anm. 24), S. 81f.
61 Krakau, BJ, 793, f. 53v–59r. Vgl. Carmody: Arabic Astronomical and Astrological Sciences
(Anm. 24), S. 96.
62 Krakau, BJ, 793, f. 157r–158r. Vgl. Carmody: Arabic Astronomical and Astrological Sciences
(Anm. 24), S. 25f.
63 Krakau, BJ, 793, f. 153r (fragm.); Rom, Vat. Pal. lat. 1354, f. 169ra–233rb. Vgl. Carmody:
Arabic Astronomical and Astrological Sciences (Anm. 24), S. 170f.
64 Weimar, Anna Amalia-Bibliothek, Oct 95; Krakau, BJ, 610; London, Wellcome Inst., 128.
65 Krakau, BJ, 793, f. 44r–46r, 107v–109v, 153r–155r.
66 Krakau, BJ, 793, f. 63r–85v (vier geomantische Texte), 87v–103v (Bernhard Silvestris, Experi-
mentarius).
67 Krakau, BJ, 793, f. 61r–63r, 63v, 139rv, 139v–140v, 140v–143v.
68 Rom, Vat. Pal. lat. 1354, f. 2va–30v (De arte visorandi cubica), 98vb–99va (Euklid, Elementa,
Auszüge), 121ra–126rb (De phlebotomia).
69 Rom, Vat. Pal. lat. 1354, f. 58v–59v.
70 Florenz, BiBl. Laurenziana, 89 sup., Cod. 38.
71 Krakau, BJ, 610, 312v–316r.
72 London, Wellcome Inst., 128, f. 14–17. Abgedruckt als Exzerpt IX bei Pingree: Picatrix
(Anm. 47), S. lxii–lxvi.
73 Rom, Vat., Pal. lat. 1354, f. 243va–246rb. Abgedruckt als Exzerpt V bei Pingree: Picatrix
(Anm. 47), S. xlvi–li.
74 Florenz, BiBl. Laurenziana, 89 sup., Cod. 38, f. 18–23 u. 27–30. Abgedruckt als Exzerpt IV bei
Pingree: Picatrix (Anm. 47), S. xxxviii–xlvi.
wird deutlich, dass der Picatrix, gerade weil er in seiner besonderen eklektischen
Art verschiedenste Quellen philosophischer, naturkundlicher, astronomisch-
astrologischer und magischer Art ausschreibt, für die unterschiedlichsten Rezep-
tionsperspektiven offen ist, die sich fallweise nur der interessierenden Partien
bedienen oder vielleicht auch, wenn sie den gesamten Text abschreiben, nur die
interessierenden Partien lesen. Insofern ist die Warnung Hartliebs vor dem Pi-
catrix zwar berechtigt, denn mit seinen Anleitungen für die Herstellung von
Talismanen und zur Invokation der Planetengeister fällt das Buch genau unter
die beiden im Speculum astronomiae verbotenen Species der Nigromantie; der
handschriftliche Kontext wie auch die Exzerpierungen, deren Schwerpunkt auf
der Liste mit den 28 Mondstationen liegt, legen jedoch die Vermutung nahe,
dass der Picatrix hier eher als Vertreter der dritten, erlaubten, weil astrologi-
schen Species der Nigromantie gelesen wurde. Es ist nun abschließend zu fra-
gen, ob solch eine ,naturwissenschaftliche‘ Rezeptionsperspektive auch für die
anderen nigromantischen Texte vermutet werden kann, wozu nun in einem
dritten Teil auf deren Vorkommen in den mittelalterlichen Bibliotheken einge-
gangen werden soll.
3
Ich beschränke mich dazu in Auswahl auf die Editionen in den Mittelalterlichen
Bibliothekskatalogen Deutschlands, der Schweiz und Österreichs; 75 da dieses Editions-
werk auf die Zeit bis etwa 1500 wie auch auf den südlichen Teil des deutsch-
sprachigen Raum beschränkt ist sowie die Quellen des norddeutschen Raums
nicht berücksichtigt sind, sollen für diesen ersten Überblick die Büchersamm-
lungen außerhalb dieser zeitlichen und geographischen Grenzen außer Betracht
bleiben. 76 In den MBK sind Kataloge, Inventare, Schenkungen und ähnliches zu
295 Buchsammlungen ediert, unter deren Besitzern sich 88 Klöster, 25 Pfarrkir-
chen, 14 Domkapitel, drei Universitäten, drei Rats- und sechs Spitalbibliotheken
sowie 97 Kleriker, 15 Gelehrte und 40 weitere Privatpersonen befinden; vier
Sammlungen sind hinsichtlich des Besitzers nicht bestimmbar. Wie nicht anders
zu erwarten, dominieren also insgesamt die kirchlichen, insbesondere klösterli-
chen Sammlungen; zählt man den Buchbesitz der Kleriker dazu, der in den
meisten Fällen durch Schenkung oder testamentarische Verfügung in die Biblio-
75 Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz. Bearb. von Paul Leh-
mann u.a. Bd. Iff. München 1918ff. (MBKD); Mittelalterliche Bibliothekskataloge Öster-
reichs. Bearb. von Theodor Gottlieb u a. Bd. Iff. Wien 1915ff. (MBKÖ).
76 Zum Editions- und Forschungstand vgl. Ladislaus Buzas: Deutsche Bibliotheksgeschichte
des Mittelalters. Wiesbaden 1975; ders.: Deutsche Bibliotheksgeschichte der Neuzeit (1500–
1800). Wiesbaden 1976; Frank Fürbeth: Privatbibliotheken des Spätmittelalters und der frü-
hen Neuzeit. Forschungsstand und -perspektiven. In: Zur Erforschung mittelalterlicher Bi-
bliotheken. Chancen – Entwicklungen – Perspektiven. Hrsg. von Michael Embach und An-
drea Rapp. Frankfurt a.M. 2009, S. 185–208. Insgesamt zähle ich etwa 1200 Bibliotheksver-
zeichnisse bis zum Jahr 1600 im deutschen Raum.
thek der Mutterinstitution gelangt, kommt man so auf 224 klerikale Sammlun-
gen, denen 61 weltliche Sammlungen gegenüberstehen. Wie viele Bücher insge-
samt in diesen Bibliotheken vorhanden waren, kann nicht gesagt werden, die
Größe der einzelnen Sammlungen variiert beträchtlich. Hatte etwa das Kloster
St. Gallen schon im 9. Jahrhundert einen Bestand von 428 Büchern, 77 so besaß
das Kloster Echenbrunn im Jahr 1487 nur 30 Bände. 78 Auch bei den privaten
Besitzern ist die jeweilige Büchersammlung von sehr unterschiedlicher Größe
und reicht im 15. Jahrhundert von meist wenigen Exemplaren 79 bis zu über 250
Büchern. 80 Eine Durchschnittszahl ist also kaum zu schätzen, aber selbst wenn
man den Besitz der klerikalen Sammlungen vorsichtig auf nicht mehr als 100
Bücher und den der Privatbesitzer auf nicht mehr als zehn Bücher ansetzen
würde, käme man schon auf eine Gesamtzahl von 12700 und 1520, zusammen
also 14220 Bücher. Da in jedem Buch, sofern es sich um eine Handschrift han-
delt, üblicherweise mehrere Texte enthalten waren, ist die Zahl der Bücher noch
mit einem hier nicht zu bestimmenden Faktor zu vervielfachen.
Dies sei nur deshalb angeführt, um die Gesamtzahl der in diesen 295 Samm-
lungen vorhandenen magischen Texte einordnen zu können. Diese beläuft sich
auf insgesamt 98 Werke, 81 die in 16 Sammlungen zu finden sind. 82 Machen die
77 MBKD I, S. 16–20.
78 Buzas: Bibliotheksgeschichte des Mittelalters (Anm. 76), S. 35.
79 Vgl. etwa Frank Fürbeth: Literatur in Frankfurter Privatbibliotheken des 15. und 16. Jahr-
hunderts. In: Frankfurt im Schnittpunkt der Diskurse. Strategien und Institutionen literari-
scher Kommunikation im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Hrsg. von Robert
Seidel und Regina Toepfer. Frankfurt a.M. 2010, S. 54–80.
80 So etwa die Bibliothek des Südtiroler Adligen Anton von Annenberg; vgl. Frank Fürbeth:
Die spätmittelalterliche Adelsbibliothek des Anton von Annenberg: ihr Signaturensystem
als Rekonstruktionshilfe. In: Sources for the History of Medieval Books and Libraries. Hrsg.
von Jost M. M. Hermans, M. Hoogvliet und Rita Schlusemann. Groningen 2000, S. 61–78.
81 Ich habe auch die Nennungen der Introductio scientiae astrorum des Leopold von Österreich
aufgenommen, da Hartlieb sie unter den Büchern der Nigromantie verzeichnet.
82 Bücherverzeichnis des Gallus Kemli, St. Gallen, um 1470 (MBKD I, S. 121–135); Verzeichnis
des Schatzes des Klosters Pfäfers, 1155 (MBKD I, S. 485f.); Katalog des Amplonius Rating,
Erfurt, 1410–1412 (MBKD II, S. 7–96), Verzeichnis der Wohltäter des Collegium Maius, Er-
furt, 1407 (MBKD II, S. 109–116); Standortregister des Collegium Universitatis, Erfurt, um
1497 (MBKD II, S. 135–179); Bibliothekskatalog der Karthause Salvatorberg vom Ende des
15. Jh.s, Erfurt (MBKD II, S. 239–593); Benediktinermönch Veit Bild, St. Ulrich und Afra,
Augsburg, Bücherwünsche, 1514 (MBKD III, S. 114f.); Bücherschenkung des Pfarrers Ge-
rungus von Reimlingen, Anfang des 14. Jh.s, an das Cistercienserkloster Kaisheim (MBKD
III, S. 135); Katalog des Augustinerchorherrnstifts Rebdorf, 15./16. Jh. (MBKD III, S. 265–
316); Bibliothekskatalog des Benediktinerklosters St. Ägidien, Nürnberg, Ende d. 15. Jh.s
(MBKD III, S. 432–569); Kirchenbibliothek im Pfarrhof von St. Sebald, Nürnberg, Ende d. 15.
Jh.s (MBKD III, S. 685–690); Sigismund Meisterlins Katalog der Kirchenbibliothek von St.
Sebald, Nürnberg, 1486–1502 (MBKD III, S. 693–729); Katalog der Bibliothek Hartmann
Schedels, Nürnberg, 1498/1507 (MBKD III, S. 807–839); Katalog des Benediktinerklosters St.
Emmeran, Regensburg, 1500/01 (MBKD IV, S. 188–388); Katalog des Benediktinerklosters
Reichenbach, 1585 (MBKD IV, S. 485, Anm. 13); Katalog des Zisterzienserklosters Walden-
magischen Texte so weniger als ein Prozent des Gesamtbestandes aus, so kon-
zentrieren sie sich in kaum einem Zwanzigstel der Sammlungen. Dieses Bild ist
nun noch weiter zu differenzieren, indem gefragt wird, in welchem Sammlungs-
typ diese Texte vor allem zu finden sind. Die Schwerpunkte der Überlieferung
liegen bei privaten Bibliotheken von Gelehrten und Klerikern (wobei auch bei
den Klerikern des 15. Jahrhunderts fallweise ein gelehrter Hintergrund aufgrund
eines Studiums angenommen werden kann), während in Rats-, Dom- und Spi-
talbibliotheken überhaupt kein magischer Text zu finden ist. Allerdings gibt es
bei den Klerikern und den Gelehrten mit Gallus Kemli, Amplonius Rating und
Hartmann Schedel drei aufgrund der Größe ihres Buchbesitzes untypische Ver-
treter dieser Gruppe, die zwar die Statistik verfälschen, gleichwohl aber signifi-
kant sind; darauf wird noch zurückzukommen sein. Bereinigt um diese Ausrei-
ßer ergäbe sich folgendes Mittel: In 13 Sammlungen sind 32 Texte der Magie
vorhanden, im Durchschnitt also etwas mehr als zwei Texte, wobei auch solche
Texte mitgezählt wurden, die aufgrund der Angaben in den Inventaren sicher
oder wahrscheinlich eher dem Bereich der Magiekritik zuzurechnen sind.
Dieses Bild kann und muss nun noch weiter aufgeschlüsselt werden, indem
gefragt wird, um welche Texte es sich dabei jeweils handelt. Ich beginne mit den
Klöstern: In der Kartause Salvatorberg findet sich die Verteidigung der Magie
des Apuleius, allerdings in einer Apuleius-Handschrift mit mehreren seiner
Werke, außerdem ein Werk De cognicione daemonum und eine Ars notoria; 83 das
Kloster St. Mang in Füssen verleiht 1515 die Chiromantie des Ambrosius Alant-
see an Veit Bild, Mönch in St. Ulrich und Afra in Augsburg; 84 der Katalog des
Augustinerchorherrenstifts Rebdorf des ausgehenden 15. Jahrhunderts ver-
zeichnet einen Tractatus de cyromantia und einen Tractatus De incantatricibus,
wlgariter unholden; 85 im Kloster St. Ägidien in Nürnberg findet sich ebenfalls am
Ende des 15. Jahrhunderts eine Handschrift mit Experimenta secretissima vera et a
multis approbata; 86 im Katalog von St. Emmeran in Regensburg aus dem Jahr 1500
stehen der Tractatus de ymaginibus Thebit Benchorat, die Introductoria astronomie
leopoldi de Austria, De celesti ierarchia des Dionisius Areopagita, außerdem ein
Text De sortilegiis und eine Liste De nominibus, id est magis, incantatoribus, auruspi-
cibus et ceteris talibus. 87 Die ‚Einführung‘ des Leopold von Österreich findet sich
Traktate de imaginibus, darunter einmal derjenige des Hermes und dreimal der
von Thabit ibn Qurra, 106 eine Anleitung zur Verfertigung von magischen Sie-
geln, 107 zwei Exemplare der Einführung in die Astrologie Leopolds von Öster-
reich, 108 vor allem aber 17 Geomantien, 109 vier Chiromantien 110 und, immerhin,
eine Pyromantie. 111 Damit liefert die Bibliothek des Amplonius einen recht ge-
treuen Spiegel der gesamten Überlieferung nigromantisch-mantischer Werke im
Mittelalter.
Das gleiche Bild, wenn auch in kleinerem Maßstab, zeigt sich ebenfalls bei
Hartmann Schedel. Auch er ordnet die einschlägigen Texte in die Rubrik Mathe-
matica, die er allerdings als Libri astronomie, astrologie et mathematici 112 bzw. als
Libri naturales et mathematici 113 explizit mit den astronomischen und astrologi-
schen Büchern zusammenfasst. Auch bei ihm stehen sie in fast identischen
handschriftlichen Zusammenstellungen, so etwa mit dem astrologischen Werk
des Messahalah. 114 Insgesamt finden sich bei ihm allerdings mit 13 Texten 115
weniger nigromantisch-mantische Werke als bei Amplonius, wobei es sich aber
im Kern um dieselben Texte handelt. Schedel besitzt ebenfalls die Einführung in
die Astrologie des Leopold von Österreich und die Clavicula Salomonis, und auch
bei ihm überwiegen mit einer Chiromantie und sechs Geomantien diese manti-
schen Texte, wobei bei letzteren für die jeweilige Gebrauchsfunktion aufschluss-
reich ist, dass Schedel zwischen einer sciencia geomantiae 116 und einer practica
geomantiae 117 unterscheidet. Im Übrigen scheint Schedel von dem naturwissen-
schaftlichen Charakter der jeweiligen Verfahren überzeugt zu sein, was sich
nicht nur daran zeigt, dass er sie unter die libri naturales rechnet, sondern dass er
gleichzeitig auch Ulrich Molitoris’ De lamiis et phitonicis mulieribus und den Mal-
106 MBKD II, S. 21, 38; 21, 41 (Hermes); 21, 42; 23, 42; 26, 14 (Thabit); 27, 30 (Thabit); 30, 36
(Thabit).
107 MBKD II, S. 22, 20.
108 MBKD II, S. 21, 28; 23, 22;
109 MBKD II, S. 21, 28; 22, 15; 22, 15; 23, 17–18 (fünf Geomantien); 26, 35; 28, 19 (Wilhelm von
Moerbeke); 28, 20; 28, 30 (Wilhelm von Moerbeke); 30, 16 (Abdallah); 30, 27 (Gerhard von
Cremona); 30, 40 (zwei Geomantien); 31, 12 (Basilegus); 31, 18.
110 MBKD II, S. 22, 12; 25, 2; 31, 17; 31, 22.
111 MBKD II, S. 31, 18.
112 MBKD IV, S. 808, 14.
113 MBKD IV, S. 831, 26.
114 MBKD IV, S. 832, 1–3 (Liber mathematicus, in quo liber iudiciorum Messahala, methodus archani
sublimis Die et certum iudicium secundum scienciam geomantie, puncta astrologorum de arte sig-
illandi).
115 MBKD IV, S. 808, 33 (Geomantie); 808, 15 (Leopold von Österreich, De astrorum scientia);
809, 11 (dass.); 812, 30 (Apuleius; Apologia magiae); 832, 2 (Geomantie); 832, 3 (Ars sigillan-
di); 832, 4 (zwei Geomantien); 832, 7 (Michael Scot, Nigromancia); 832, 12 (Gerhard von
Cremona, Geomantie); 832, 14 (Geomantie); 833, 1 (Chiromantie); 833, 1f. (Clavicula Salo-
monis).
116 MBKD IV, S. 832, 3.
117 MBKD IV, S. 832, 4.
leus maleficarum besitzt, welche er unter die Sacri codices historie sancte theoloice
veritatis einordnet. 118
Ich fasse an dieser Stelle zusammen. Der Durchgang durch die Überlieferung
und die Bibliothekskataloge zeigt, dass es sich bei den schriftlich festgehaltenen
Texten zum größten Teil um nigromantische Texte astrologischer und dämono-
logischer Art sowie um geomantische und chiromantische Anleitungen aus der
arabischen Tradition handelt. Auch wenn alle diese Verfahren aus der Perspek-
tive der kirchlichen Superstitionenkritik als dämonisch galten und deshalb ver-
boten waren, gehören sie gleichwohl zum Kanon der naturwissenschaftlichen
Studien und wurden daher nicht als superstitiös wahrgenommen, auch wenn
bei explizit talismanischen und dämonologischen Schriften die Besitzer sich der
potentiellen Gefährlichkeit bewusst sind und vor unbefugtem Gebrauch warnen.
Es fällt allerdings in diesem Zusammenhang auf, dass gerade das Buch, vor dem
Hartlieb am dringlichsten warnt, der Picatrix, nicht nur im 15. Jahrhundert
handschriftlich nur schwach überliefert ist, sondern auch in keiner der unter-
suchten Buchsammlungen nachweisbar ist. Dem soll noch zuletzt in einem kur-
zen Ausblick am Beispiel des Picatrix nachgegangen werden, der vielleicht auch
verstehen lässt, wie die einzelnen nigromantischen Texte in klerikalen und klös-
terlichen Besitz gekommen sind.
Bei den Handschriften des Picatrix aus dem 15. Jahrhundert ist nur in drei
Fällen die Provenienz festzustellen, wobei diese Handschriften alle im Umkreis
einer Universität entstanden sind. 119 Einer der Besitzer war der Emmeraner
Mönch ‚Fridericus Astronomus‘, 120 hinter dem sich vielleicht Fridericus Am-
mann verbirgt, 121 der nach einem Studium in Leipzig seit 1427 vielleicht 1464 in
das Regensburger Kloster eingetreten war und dort 1472 starb; seine während
des Studiums hergestellten Bücher hat er mit in das Kloster gebracht. Sechs sei-
ner astronomischen Handschriften sind bis heute erhalten und auch im spätmit-
telalterlichen Katalog von St. Emmeran verzeichnet. Umso mehr verwundert es,
dass diese Handschrift mit dem Exzerpt des Picatrix nicht im Klosterkatalog
aufgeführt ist und, wie die Besitzgeschichte zeigt, auch nicht im St. Emmeraner
Kloster verblieben ist. Die Vermutung könnte sein – wobei ich zugeben muss,
dass dies reine Spekulation ist – dass der Grund genau diese Textzusammenstel-
lung der Handschrift war: Zusammen mit dem Picatrix finden sich De iudiciis
des Arnaldus de Villanova und De astrorum scientia des Leopold de Austria,
Werke also, die von Hartlieb auf die schwarze Liste gesetzt worden waren und
die deshalb vielleicht nicht im Kloster verbleiben durften. Dass das Exzerpt aus
dem Picatrix mit einem Liebeszauber endet, setzt dem Ganzen vielleicht die
Krone auf und erklärt, wie überhaupt der ganze dämonisch-magische Chrakter
des Picatrix, wieso dieses Zauberbuch in keinem Katalog verzeichnet worden ist.
Der Inhalt des Giftschranks wird, nicht anders als heute, 122 nicht in den offiziel-
len Katalog aufgenommen, nur ein Kaiser kann es sich leisten, den Besitz offi-
ziell zu verzeichnen. Immerhin hat man dieses Zauberbuch, ebenso wie die im
folgenden Anhang aufgeführten Werke, nicht verbrannt; dieses Schicksal haben
nicht wenige Exemplare mittelalterlicher nigromantischer Bücher 123 – in drei
Fällen zusammen mit ihrem Besitzer 124 – erleiden müssen. 125 Soweit in den Quel-
122 Vgl. dazu den instruktiven Ausstellungskatalog: Der ,Giftschrank‘. Erotik, Sexualwissen-
schaft, Politik und Literatur – ,REMOTA‘: Die weggesperrten Bücher der Bayerischen
Staatsbibliothek. Hrsg. von Stephan Kellner. München 2002.
123 Vgl. dazu die Nachweise bei Thomas Werner: Den Irrtum liquidieren. Bücherverbren-
nungen im Mittelalter. Göttingen 2007, S. 545–652 (Anhang A: Schriftenvernichtung im
Mittelalter. Eine chronologische Darstellung).
124 1398, Johannes de Barro, Paris, vgl. Werner: Den Irrtum liquidieren (Anm. 123), S. 576,
und oben Anm. 44; 1441, Roger Bolingbroke, Kleriker, London, vgl. Werner, S. 586; 1450,
Giovanni Cani, Arzt, Florenz, vgl. Werner, S. 586.
125 Werner: Den Irrtum liquidieren (Anm. 123), S. 560 (1232, libri malefitiorum in Bologna),
S. 569 (1326/27, Schriften aus dem Bereich der dämonenbeschwörenden Magie, Erlass
Papst Johannes’ XXII.), S. 571 (1332, ein nigromantisches Buch aus dem Besitz des Magis-
ters Robert de la Marche, Canterbury), S. 572 (ca. 1357/58, ein Liber Salomonis, Barcelona),
S. 573 (1368, verschiedene libri nigromancie aus dem Besitz eines weltlichen Beamten, Gi-
rona), S. 573 (ca. 1368/69, verschiedene libri nigromancie aus dem Besitz des Priors des
Klosters Sant Miquel de Cruïlles), S. 573 (ca. 1370, ein liber nigromancie aus dem Besitz von
Berenguer ça Costa, Girona), S. 574 (1371, ein magisches Buch aus dem Besitz von John
Crok, Westminster), S. 574 (1372/73 verschiedene Bücher de daemonum invocatione aus dem
Besitz von Raymund von Tárrega OP, Tarragona), S. 575 (1384, libros nigromantie aus dem
Besitz von Niccolò Consigli, Florenz), S. 575 (1393, livres et invocations de l’enemy aus dem
Besitz von Bertrand Bonfils, Paris), S. 576 (1398, magische Bücher aus dem Besitz von Jean
de Bar [vgl. oben Anm. 44], Paris), S. 576 (1404, libros dicte malefice et mathematice artis aus
dem Besitz von Jacopo di Francesco von Sant Miniato, Florenz), S. 577 und S. 631,
Anm. 286 (1412, ein Buch mit ,diabolischen Zeichen und Imagines‘ aus dem Besitz von
Giovannino di Giovanni von Turin, Florenz), S. 585 (1434/35, ca. 50 volumes de libros de ma-
las artes aus dem Besitz des Enrique de Villena, Onkel König Johanns’ II. von Kastilien,
Madrid), S. 585 (1440, Sammlung von magischen Schriften aus dem Besitz von Pedro
March, Barcelona), S. 586 (1441, nigromantische Bücher aus dem Besitz von Roger Boling-
len die verbrannten Zauberbücher näher beschrieben werden, sind es genau die
im Speculum astronomiae, im Buch aller verbotenen Künste oder in den spätmittelal-
terlichen Bibliotheken zu findenden Werke: der Liber Salomonis, 126 die Clavicula
Salomonis, 127 Semaforas 128 und der Liber Razielis. 129 Auch dies ist ein nicht unwe-
sentlicher Teil der Überlieferungsgeschichte mittelalterlicher Magie.
Aerimantia (TK 534) 403, 452, 462, 548, 557, 558, 569, 583,
Ars magica (TK 1209) 599, 600, 656, 683, 687, 690, 695, 703,
Ars notoria (TK 48, 91, 169, 485, 487, 727, 733, 782, 801, 888, 889, 923, 936,
488, 618, 713, 729, 733, 1371, 1550, 949, 958, 993, 1032, 1085, 1091, 1092,
1704) 1098, 1099, 1121, 1136, 1142, 1152,
Augurium (TK 294, 835, 1173, 1463) 1236, 1239, 1244, 1286, 1295, 1300,
1352, 1402, 1416, 1419, 1425, 1441,
Caracteres (TK 655, 783) 1446, 1450, 1459, 1460, 1467, 1578,
Chiromantie (TK 42, 125, 153, 157, 1593, 1594, 1618, 1623, 1627, 1633,
281, 286, 291, 294, 296, 303, 335, 531, 1692)
596, 710, 777, 778, 781, 825, 848,
1045, 1101, 1299, 1416, 1434, 1453, De imaginibus (TK 489, 1237)
1531, 1585, 1502) De incantationibus (TK 1081, 1373)
De daemonibus (TK 461, 464, 473, Magie (TK 21, 26, 43, 52, 244, 259,
655, 674, 771, 822, 900, 1067, 1201, 358, 378, 421, 489, 602, 809, 1073,
1278, 1603, 1628, 1643, 1661, 1667) 1209)
Divinatio (TK 32, 185, 249, 339, 37, Magische Kerze (TK 574)
372, 602, 616, 653, 710, 733, 806, 880, Magisches Quadrat (TK 731)
926, 938, 1054, 1056, 1197, 1226, Magische Invokation (TK 169)
1238, 1243, 1257, 1281,1446, 1449,
1451, 1454, 1455, 1456, 1459, 1470, Necromantie/Nigromantie (TK 733)
1475, 1536)
--, aus dem Donner (TK 315, 652, Pyromantia parva (TK 684)
653, 830, 867, 936, 946, 1451, 1466,
1504, 1712) Sigillum (TK 23, 26, 330, 384, 428,
448, 492, 604, 617, 695, 725, 729,
Gem, consecration (TK 78, 996) 1013, 1088, 1344, 1452, 1506, 1603,
Gem, engraved (TK 487, 715, 1169, 1317, 485)
1254, 1344, 1436, 1452) Sors, Sortes (TK 1226)
Geomantie (TK 28, 51, 62, 109, 112, Superstition (TK 970)
176, 188, 189, 248, 254, 336, 392, 399,
1 Jean Bodin: De la démonomanie des sorciers. Paris 1580 [Nachdruck: Hildesheim, Zürich,
New York 1988]; Jean Bodin, Johann Fischart: De Daemonomania magorum. Vom auß-
gelaßnen wütigen Teuffelsheer der besessenen unsinnigen Hexen vnd Hexenmeyster […].
Straßburg: Bernhard Jobin 1581. Eine zweite, mit weiteren Zusätzen Fischarts versehene
Auflage der Übersetzung erschien 1586. Die dritte Auflage von 1591 ist mit hoher Wahr-
scheinlichkeit posthum und enthält auch keine Bearbeitungen Fischarts mehr. Moderne
Textausgaben von Fischarts Daemonomania liegen nicht vor. Die zweite Auflage von 1586
sowie die dritte Auflage von 1591 sind als Reprint verfügbar: Bodin/Fischart: De Magorum
Daemonomania […] Unveränderter Faksimilereprint der Ausgabe Straßburg 1586. Erweitert
um ein Nachwort von Ralf Georg Bogner und Christian Böhm. Saarbrücken 2008; Bodin/
Fischart: Vom aussgelasnen wütigen Teuffelsheer […]. Um ein neues Vorwort von Hans
Biedermann vermehrter Nachdruck der Ausgabe Straßburg 1591. Graz 1973. Am Germanis-
tischen Seminar der Universität Heidelberg entsteht zur Zeit eine historisch-kritische Aus-
gabe des Textes mit umfassendem Kommentar.
2 [Johann Fischart (Hrsg.):] Correctorium Alchymiae Richardi Anglici. Das ist Reformierte
Alchimy/ oder Alchimeibesserung/ vnd Straffung der Alchimistischen Mißpruch: vom Al-
ten vnd lngstberümten Medico/ Richardo aus Engelland beschriben. II. Rainmvndi Lvlli
Apertorium & Accuratio Vegetabilium. Von erffnung v entdeckung wachsender Sachen /
v des Philosophischen steyns/ des Wolbekannten Philosophi vnd Eremiten Rainmundi Lul-
wird Fischarts zweite Auflage seiner Übersetzung von Rabelais’ Gargantua unter
dem Titel Affentheurliche und Naupengeheurliche Geschichtklitterung gedruckt.
Diese Auflage ist gegenüber der 1575 erschienenen Erstauflage von Fischart
vielfach ergänzt worden, 3 unter anderem mit satirischem Spott die Alchemie
betreffend und mit Parodien der alchemischen Sprache. Im Werk Johann Fisch-
arts ist somit eine Auseinandersetzung mit der Alchemie auszumachen, welche
durch eine eigentümliche Unabgegoltenheit wissensvermittelnder, dämonisie-
render und satirisch-parodistischer Schreibweisen gekennzeichnet ist. Eine sol-
che auf frühneuzeitliche Pluralisierungsphänomene verweisende, gewisserma-
ßen multiple auktoriale Position zum Thema findet eine erste Erklärung darin,
dass der Ort von Fischarts Schreiben eine frühneuzeitliche Offizin ist, mithin ein
Ort, an dem Pluralisierungsvorgänge in besonderer Weise relevant und manifest
werden. Der Überlagerung verschiedener Schreibweisen soll in diesem Beitrag
besonders mit Blick auf die skizzierte, zu Beginn der 1580er Jahre entstandene
Werkgruppe nachgegangen werden. Im Zentrum steht dabei die Edition alche-
mischer Schriften, das 1581 erschienene Correctorium Alchymiae.
li Tractat. III. Des Knigs Gebers auß Hispanien Secret, dessen sich die Venetianer hoch
austhun. Alles nun erstmals zu dienst vnd nutz allen Reyner vnd Geheymnußreicher Artz-
nei vbenden v beliebenden inn Truck gefrtigt. Straßburg: Jobin 1581, Vorrede. Im Jahr
1596 erschien bei Jobins Erben eine seitenidentische Ausgabe.
3 Johann Fischart: Geschichtklitterung (Gargantua). Synoptischer Abdruck der Fassungen von
1575, 1582 und 1590. Mit 3 Titelblättern und den Originalholzschnitten der Ausgabe von
1590 von Tobias Stimmer. Neu hrsg. von Hildegard Schnabel. 2 Bde. Halle a.S. 1969 (Neu-
druck deutscher Literaturwerke 65/69; 70/71). Die erste Auflage erschien noch unter dem Ti-
tel Affentheurliche Naupengeheurliche Geschichtschrift. Die beiden Folgeauflagen, die noch zu
Lebzeiten Fischarts erschienen, enthalten jeweils Zusätze Fischarts.
ſcheid zugeben/ vnd diß Wort/ Arbeitet/ nichts anderſt auff ſich trage/
dann daß ſie der Alchimei müſſig ſtehn/ vnd auff ſonſt ehrliche Arbeit
vnd kunſt jhr müh v fleiß wenden ſollen/ darmit ſie ſich ernehren vnd
außpringen mgen. Seiteinmal es eitel Affenwerck iſt/ in ſo kurtzer zeit
vermeinen Golt nachzumachen/ ſo doch die Natur wol tauſent Jar darzu
bedarf: deßgleichen aus betrachtung/ weil nicht jeder darzu genaturt iſt/
noch inn eym gantzen Land kaum eynem die Gab beſcheret. 4
Diese äußerst skeptischen Bemerkungen zur Alchemie werden an gegebenem
Ort nicht überraschen, sind doch die bösen Umtriebe und der Schadenszauber
von Hexen und Zauberern, ihr Umgang mit Dämonen und die Notwendigkeit
ihrer unnachgiebigen juristischen Verfolgung Gegenstand dieses Buches. Satiri-
scher Zusatz Fischarts über Bodins Vorlage hinaus ist die Rede vom Lapide Ploß-
auffico. Im Neologismus steckt das Aufgeblasene (‚auff ploßen‘) – womit die
alchemistische Rede von Stein gemeint sein könnte – sowie der Hinweis auf das
Trinken (‚bloß sauffen‘) und damit eine Diskreditierung der Adepten. Spott über
Alchemisten und Parodien alchemistischer Sprache finden sich bei Fischart auch
an anderer Stelle, wie etwa im Catalogus catalogorum, 5 Fischarts Parodie der Ges-
nerschen Weltbibliographie Bibliotheca universalis. Ich nenne nur zwei Beispiele
aus den vielen Verballhornungen in Fischarts imaginärem Bibliothekskatalog:
Die Morgenrt der auffgehenden Knst / mit Gegenschein derselbigen Abendrt: durch
Woluffgang Ehrenbrot und Cacatorium Medicorum: per Blasium Bechofen. 6 Im ersten
Beispiel wird dem in Titeln alchemistischer Publikationen mitunter vorkom-
menden Morgenrot das Abendrot – und damit der Untergang der Kunst – ent-
gegengesetzt, wodurch das Pathos des Beginns in parodistischer Inversion un-
terlaufen wird. In der Verballhornung des Namens Wolfgang zu Woluffgang
wird aus dem Wolf ein schöner Sonnenaufgang (‚wol uffgang‘), was man als
betrügerisches Beschönigen des ‚wölfischen‘ Namens und mithin als Verbergen
von Betrugsabsichten deuten mag. Der zweite Titel kontaminiert in der Tradi-
tion Rabelais’ und der Dunkelmännerbriefe Wissensliteratur mit fäkalischen
Ausdrücken.
Die ältere Fischartforschung, aber auch die jüngere Alchemieforschung ha-
ben angesichts solcher Späße skeptisch über die von Fischart besorgte Heraus-
gabe alchemistischer Schriften in deutscher Sprache geurteilt. Betrachteten die
Fischartforscher des 19. und frühen 20. Jahrhunderts prinzipiell die Alchemie als
entbehrliche und bedauerliche Verwirrung des Geistes, so suchten sie Fischart
davon zu entlasten, indem sie unterstellten, er habe das Correctorium Alchymiae
nur seinem Schwager und Drucker Bernhard Jobin zu Gefallen ediert, und über-
haupt sei das Ganze nur auf den geschäftlichen Erfolg ausgerichtet gewesen. 7
Noch Wilhelm Kühlmann und Joachim Telle, denen man ein mangelndes Inte-
resse an der Alchemie nicht unterstellen kann, schreiben nach Berücksichtigung
aller Umstände, die Vorwarnung mache:
[…] in Fischart keinen von paracelsistischen Lehren durchdrungenen
Publizisten kenntlich, wohl aber einen Apologeten der von Paracelsisten
aktualisierten Transmutationsalchemie. Mit ziemlicher Sicherheit beteilig-
te sich Fischart an der Drucklegung der von Toxites hinterlassenen und
zum Druck vorbereiteten Alchemicaabschriften H. Wolffs nur „zu gefal-
len“ seines aus kommerziellen Gründen an einem Druck interessierten
Schwagers B. Jobin. 8
Gemeinsam ist diesen Einschätzungen die Frage nach der Einstellung: Entweder
ist Fischart überzeugter Alchemiker oder das Projekt ist nur auf kommerziellen
Erfolg berechnet. Ich möchte im Folgenden fragen, ob es vielleicht noch andere
Gründe für die Herausgabe alchemischer Schriften gab, und gehe dazu in einem
ersten Schritt auf Fischarts Sprachprogrammatik in der Vorrede zu diesem
Kompendium ein (III.), 9 sodann auf die Umsetzung des Programms in den
7 Camillus Wendeler: Fischart als Herausgeber alchymistischer Schriften. In: Archiv für Litte-
ratur-Geschichte 6 (1877), S. 487–509, hier S. 501, 509; Hauffen: Johann Fischart (Anm. 5),
S. 189–196.
8 Wilhelm Kühlmann, Joachim Telle: Corpus Paracelsisticum. Dokumente frühneuzeitlicher
Naturphilosophie in Deutschland. Der Frühparacelsismus. Bd. 3. Tübingen 2013, Nr. 116,
S. 419.
9 Ich knüpfe hier ergänzend an bereits publizierte Überlegungen zur Alchemie bei Fischart
an, vgl. Tobias Bulang: Konzepte der literarischen Produktivität – Probleme ihrer Begrün-
dung am Beispiel Johann Fischarts. In: Konzepte von Produktivität im Wandel vom Mittel-
alter in die Frühe Neuzeit. Hrsg. von Corinna Laude und Gilbert Heß. Berlin 2008, S. 89–118;
ders.: Zur poetischen Funktionalisierung hermetischen Wissens in Fischarts Geschichtklitte-
rung. In: Erzählen und Episteme. Literatur im 16. Jahrhundert. Hrsg. von Beate Kellner, Jan-
Dirk Müller, Peter Strohschneider unter Mitarbeit von Tobias Bulang und Michael Walten-
edierten Texten (IV.) und die von Fischart ergänzten Paratexte (V.), um zuletzt
alternative Funktionsbestimmungen zu erwägen (VI.).
berger. Berlin, New York 2011, S. 41–68; ders.: Enzyklopädische Dichtungen. Fallstudien zu
Wissen und Literatur in Spätmittelalter und früher Neuzeit. Berlin 2011, S. 448–466.
10 Zum Correctorium Alchymiae sind nach wie vor die Ausführungen Wendelers informativ,
auch wenn diese nicht ihre Ablehnung der Alchemie verhehlen und Fischart entsprechend
in Schutz zu nehmen suchen: Wendeler: Fischart als Herausgeber (Anm. 7). Bei ihm auch ein
Abdruck der Vorrede (S. 496–501); vgl. auch Bulang: Enzyklopädische Dichtungen (Anm. 9),
S. 459–460. Die Vorrede zitiere ich nach ihrer kommentierten Edition von Kühlmann/Telle
(Anm. 8), S. 415–418. Die Traktate des Bandes werden im Folgenden nach der Ausgabe von
1581 zitiert. Ich verwende das Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek München (Signa-
tur: Alch. 236), welches auch als Digitalisat verfügbar ist: https://download.digitale-
sammlungen.de/pdf/1404729432bsb00015164.pdf (29.7.2014).
Hier kritisiert Fischart die dunkle Rede des alchemistischen Schrifttums, ein
Reizthema des alchemistischen Diskurses, 11 fordert von den Autoren Verständ-
lichkeit und occiniert den Rähterschreibern folgendes Lied:
Entweder schreib/ daß man versteh/
Oder des Schreibens müssig geh:
Willt schreiben/ daß man nicht soll wissen/
So last das Papir wol vnbschissen. (S. 417)
Im Folgenden entkräftet Fischart die Standardapologien der Alchemiker ihre
dunkle Rede betreffend. 12 Er fordert schließlich eine Klarheit der Diktion als
Form des naturgemäßen Schreibens:
Wiltu ein Nachömer vnd Folger der Natur sein vnd heyssen/ so folge
auch im schreiben der Natur/ vnd schreib verstäntlich: Es wirts dannoch
nur fassen/ der da mag. Sonst wo du die fremdesten vnd weitgesuchtes-
ten Wörter vnd Gleichnussen fürgrübelst vnd brauchst/ bringstu bei den
Guthertzigen die Natürgeschickte kunst vil mehr inn bösen verdacht/ dan
inn ein Großachtung: vnd bei den Neidern vil mehr zu spott/ dan zu ey-
ner verwunderung. (S. 417–418)
Die Polemik gegen die fremdesten vnd weitgesuchtesten Wörter vnd Gleichnussen
zeigt, wie der alchemistische Diskurs einerseits bedient, andererseits stilkritisch
und sprachdidaktisch auch distanziert wird. Die in diesem Buch zusammenge-
tragenen Autoren Richardus Anglicus, Rainmundus Lullus und Geber werden
als besonders zu ehrende Männer gepriesen, die das von Gott Offenbarte deitlich/
verständlich/ treulich vnd guthertziglich männiglichen/ so zu diser Kunst lust trägt/
haben zum vnterricht inn Schrifften mitgetheylt (S. 418). Gelobt werden auch jene,
die sich um solche, von Neidern zurückgehaltene Bücher bemühen und sie zum
Druck befördern und dem gemeinem Nutzen zur Verfügung stellen. Der Nürn-
berger Arzt Heinrich Wolff habe dem Toxites seine Collectaneis übergeben, um
deren Druck zu befördern, was aber aufgrund des Todes von Toxites unterblie-
ben sei und nun nachgeholt würde. Fischarts Vorwort würdigt die in der Edition
versammelten Texte nicht allein aufgrund ihrer deutschen Sprachgestalt, son-
dern unterstellt ihnen auch die Umsetzung eines Stilideals der Klarheit und
Verständlichkeit. Diese Behauptung sei im Folgenden geprüft: Zeichnen sich die
von Fischart edierten Texte tatsächlich durch die Abwesenheit der Decknamen
und Allegorien aus, die in weiten Bereichen des alchemistischen Diskurses obli-
gatorisch sind?
11 Vgl. mit weiterer Literatur Bulang: Enzyklopädische Dichtungen (Anm. 9), S. 448–452.
12 Vgl. hierzu: Corpus Paracelsisticum. Bd. II: Dokumente frühneuzeitlicher Naturphilosophie
in Deutschland. Der Frühparacelsismus. Zweiter Teil. Hrsg. und erläutert von Wilhelm
Kühlmann und Joachim Telle. Tübingen 2004, S. 18–27.
13 Vgl. Joachim Telle: Ricardus Anglicus. In: Die deutschsprachige Literatur des Mittelalters.
Verfasserlexikon. Zweite, völlig neu bearbeitete Auflage hrsg. von Kurt Ruh u.a. Bd. 8. Ber-
lin, New York 1992, Sp. 38–41.
14 Vgl. Joachim Telle: Geber. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters (Anm. 13) Bd. 2. 1980,
Sp. 1105–1109.
5 Sprachpatriotismus im Paratext
Fischarts Anteil am Correctorium Alchymiae jedoch beschränkt sich nicht allein
auf die Vorrede, von seiner Hand sind auch Paratexte wie Kapitelüberschriften
und Marginalien sowie Kolumnentitel. Hier findet sich vereinzelt absichtlich
17 Gemeint ist folgender Druck: Avriferae artis, quam chemiam vocant antiquissimi avthores,
ſiue Tvrba philosophorvm, Basel: Peter Perna 1572.
18 Tvrba philosophorvm. Das iſt/ das Buch von der gldenen Kunſt/ neben anderen Authori-
bus, welche miteinander 3.6 Bcher in ſich haben. Darinn die beſten vrltesten Philosophi
zuſammen ge tragen/ welche tractiren alle einhellig von der Univerſal-Medizin […] durch
Philippum Morgenstern Islebiensem, Basel: Ludwig Knig 1613.
19 Tvrba philosophorvm (Anm. 18), S. 477.
20 Vgl. zur Manierismusdiskussion Rüdiger Zymner: Manierismus. Zur poetischen Artistik bei
Johann Fischart, Jean Paul und Arno Schmidt. Paderborn u.a. 1995; Tobias Bulang: Manie-
jedoch, dass Fischart hier auch Übersetzungsarbeit betreibt und deutsche Ent-
sprechungen für Fachsprachliches vorstellt: Von den Natürlichen principijs oder
anfngen (Bl. 3v), Von den Metallen/ die jren vrſprung haben auß Mercurio inn gemeyn
vnd genere (Bl. 4v) bzw. Wie die Metallen auß Mercurio gemacht werden/ innsonder-
heyt inn specie (Bl. 5r), Wie der weiſſe vnd rote Sulphur oder Schwebel in Luna vnd
Sole, oder Son und Mon ſeien (Bl. 15v), Wie der Lapis preparirt oder zubereitet werde
(Bl. 52v).
Dieses Verfahren ist auch in anderen Texten Fischarts anzutreffen, wie zum
Beispiel in seiner Bodin-Übersetzung, der Daemonomania magorum, dort etwa in
Fischarts Übersetzungsvorschlägen zum Begriff der Antipathia bei Bodin: Sei-
teynmal zwiſchen dem Zucker vnd Butter eyne Natürliche widerige Neygung vnd ge-
genart oder Antipathia iſt. 21 Einer umfassenden Abhandlung zu den verschiedenen
Formen der Prophetie ist folgende Überschrift vorangestellt: Von dem Prophe-
ceien/ oder GotsWarsagungen vnd anderen Gttlichen Mittelen/ verborgene ſachen
vorzuwiſſen und Weißzuſagen. 22 In der Vorlage Jean Bodins werden in diesem
Zusammenhang Sprachreflexionen ausgeführt, welche Fischart übersetzt und
auf die deutsche Sprache hin erweitert:
Die Griech nennen eynen Vor oder Worſager Manten/ vom Wrtlein
Manteia, welches eyne Vorſagung oder Vormanung heyſſet: (Darmit
beinach das Teutsch Wort Manen ubereyn stit/ als ob die Mante weren /
die eyns Manten eh es geſchicht.) 23
Auch im satirischen Schrifttum Fischarts lässt sich dieses Verfahren ausmachen,
so etwa allenthalben in seiner Rabelais-Übersetzung, der Geschichtklitterung. Wo
bei Rabelais im 23. Kapitel des Gargantua das neue humanistische Studium des
Riesenprinzen unter der Überschrift Comment Gargantua feut institué par Ponocra-
tes en telle discipline qu’il ne perdoit heure du jour erzählt wird, 24 heißt es bei Fisch-
art in der Ausgabe von 1582: Wie Gargantual mit dermaſſen feiner zuchtlehrung v
lehrzucht durch Lobkundum von Ehrnsteig ward vnterricht/ daß er kein stndlin verge-
bens hinricht. 25 Fischart hat das Riesenhafte seines Helden durch phonetische
Assoziation an einen Wal (Gargantual) gegenüber Rabelais eigens betont und mit
Zuchtlehrung vnnd Lehrzucht semantische Alternativen angeboten, auch den Na-
rismus? Johann Fischarts Geschichtklitterung. In: Alterität als Leitkonzept für historisches
Interpretieren. Hrsg. von Anja Becker und Jan Mohr. Berlin 2012, S. 285–300.
21 Bodin/Fischart: Daemonomania magorum 1581 (Anm. 1), S. 217; vgl. Deutsches Fremdwör-
terbuch. Begonnen von Hans Schulz, fortgeführt von Otto Basler. Zweite Auflage, völlig neu
bearbeitet am Institut für deutsche Sprache. Bd. 2: Antinomie-Azur. Bearbeitet von Gerhard
Strauß u.a. Berlin, New York 1996, S. 4–7, hier S. 4f.
22 Bodin/Fischart: Daemonomania magorum 1581 (Anm. 1), S. 104.
23 Bodin/Fischart: Daemonomania magorum 1581 (Anm. 1), S. 104.
24 François Rabelais: Œuvres complètes. Édition établie, annotée et préfacée par Guy Demer-
son. Paris 1973, S. 106.
25 Geschichtklitterung 1582 (Anm. 3), cap. XXVII.
Oder sie giengen auß, oder fuhren herumb etliche knstliche Werck vnd
fnd zubeschawen, wie man die Metall extrahirt vnd soluirt, scheidet vnd
auß ziehet: die Alchemisten, wie sie calcinieren, reuerberiren, cimentiren,
sublimiren, fixiren, putreficirn, circulirn, ascrudirn, lauiren, imbibiren,
cohobiren, coaguliren, tingiren, transmutiren, laminiren, stratificiren, den
Knig suchen, den Geist, den ‚lapidem philosophorum‘, den Mann beim
Weib, den entloffenen Mercurium, vnd ‚per omnes species‘ gradiren […]:
Jtem wie man falsche Perlein, Edelgestein vnd Corallen mach: dann auß
dem mißbrauch lehrt man den rechten brauch: der mißbrauch ist aller gu-
ten bruch rost, der sich stets an hngt: also dz auch einer schreibet, ‚Su-
perstitiones‘ seien ‚Religionis Rubigines‘. 29
Der Alchemistenspott dieser Passsage steht im Anschluss an die umfassend
ausgebreitete Fachsprachenterminologie. Das entsprechende Kapitel des Ro-
mans bietet viele weitere solcher Wortlisten, welche die Fachterminologie der
Münzpräger, der Fechter, der Bergleute etc. versammeln und alle mit Invektiven
gegen die speziellen Betrugsmöglichkeiten enden. Der Spott ergießt sich also
über alle Gewerke und Verrichtungen. Die deutschen Fachausdrücke, welche
Fischarts 27. Kapitel bietet, wurden von den Brüdern Grimm aus der Geschicht-
klitterung in das Deutsche Wörterbuch aufgenommen. Die fachsprachlichen al-
chemischen Ausdrücke sind noch nicht Bestandteil der ersten, 1575 erschienenen
Auflage der Geschichtklitterung, sie wurden in der zweiten Auflage ergänzt, die
1582, also ein Jahr nach dem Correctorium Alchymiae, erschien. Das Beispiel zeigt
mithin auch den Austausch zwischen den satirischen Schriften Fischarts und
seinen Fachschriften.
Vor diesem Hintergrund nun wären die für das Correctorium Alchymiae in der
bisherigen Forschung formulierten Alternativen (Ausdruck eines überzeugten
Alchemisten oder nur kommerziell orientiert) noch einmal zu hinterfragen. Die
Handreichung für an deutschsprachigen Texten interessierte Freunde und Lieb-
haber der Alchemie passt auch in die verschiedenen patriotischen Bemühungen
der Offizin Jobin, zur Aufwertung des Deutschen und zu einer Vorführung der
Differenziertheit und Genauigkeit deutscher Fachbegriffe beizutragen. Über die
patriotischen Bestrebungen Jobins und Fischarts, deutsche Fach- und Literatur-
sprache durch den Druck verschiedener literarischer und fachsprachlicher Texte
voranzubringen, wird demnächst die Zusammenschau über die Bücher der Offi-
29 Fischart: Geschichtklitterung 1969 (Anm. 3), S. 280f. – Die kursivierten Passagen in der Aus-
gabe von Hildegart Schnabel weisen auf den 1582 gegenüber der Erstauflage hinzugekom-
menen Text Fischarts. Die in einfache Anführungszeichen gesetzten lateinischen Begriffe
sind im Original durch Antiqua ausgezeichnet, die deutschsprachigen Passagen sind in
Schwabacher gesetzt.
zin Jobins in der Dissertation von Silvia Brockstieger informieren. 30 Ich meine,
dass trotz aller Mängel in der konsequenten Durchführung so ein Bestreben
auch in den von Fischart herausgegebenen alchemischen Schriften erkennbar
bleibt. Fischarts Zusammenarbeit mit Toxites an den Onomastica due zeigt, dass
hier von einer Schnittmenge zwischen einem Interesse an der Verbreitung para-
celsistischer und alchemischer Schriften und der patriotischen Sprachpolitik
Fischarts und Jobins ausgegangen werden kann. Fischart wird dadurch nicht
zum glühenden Paracelsisten oder Alchemiker, eine kommerzielle Orientierung
allein greift als Erklärungsmodell allerdings zu kurz.
Und Fischart belässt es nicht bei der Sprachpräsentation. In der Geschicht-
klitterung werden die Fachsprachen Gegenstand sprachlicher Manipulation und
poetischer Modifizierung. Ein letztes Beispiel aus dem Bereich der Alchemie, das
durch Sprachspiele mit anderen Fachterminologien ergänzt werden kann: Fisch-
art entwirft eine aberwitzige Aitiologie des Krieges aus einem Streit um Eier und
kommt von da aus auf die Alchemisten zu sprechen. Auch dieser Passus findet
sich in der Erstauflage von 1575 nicht, Fischarts Ergänzung lässt sich mithin im
Umfeld der Auseinandersetzung mit alchemischer Sprache im Correctorium Al-
chymiae situieren:
Vnd die Alchymisten, wie viel verderben sie Eyer mit jrem Calcinieren?
Aber es sind bß Bruthennen, sie lauffen gemeynlich bald von der Brut?
[…] Daruon der Londisch Johan vom Ey groß Monadisch heimlichkeit
den Keyser lehrt, als er beweißt, die Welt geh wie ein Ey umb: […] Nun so
viel hat dannoch der vom Ey, auß den Grabakarabis ‚Pillularijs‘ erga-
rakrabelet, daß wir all auß eim Ey herkommen, weil die Welt ein Ey ist:
das hat gelegt ein Adler, das ist die hoch, weit und schnellfliegend Hand
des Jupiters, das ist das ‚Chaos‘, das ‚Cauum‘, das ‚Chaouum‘, der offen
Ofen, hauffen, Hafen, welches des Adlers Hitz Chaouirt, Fouirt, Feurofirt,
Chaoquirt vnnd Coquirt: Ja Jupiters krafft war distillirer inn dem ‚Vacuo
Cauo Ouo‘, inn dem Ofen Hafen Ey: Der schoß war der Himmel: O jhr
Alchymisten frewet euch, hie geht euer geheimnuß an. Diß schn Ey, hat
zerstrt die Sndflutisch Mistkäferey, da ein Mistkasten vber die Wolcken
inn den andern Elementen ist vmbgefahren, der Dotter im Eyerklar. 31
Wenn es in der Alchemie nicht gelingen kann, die Metalle auf eine materia prima
zu reduzieren und durch Neuformierung zu etwas Anderem und Neuem zu
machen – in der Sprache ist dergleichen durchaus möglich. Wortbildungsspiele,
die nach der alchemistischen Devise solve et coagula die Morpheme durch Kom-
30 Der Arbeitstitel der 2014 verteidigten Dissertation lautet: Arbeit am Deutschen. Johann Fi-
schart im Kontext der Offizin Bernhard Jobin. Die Arbeit wird voraussichtlich 2015 in der
Reihe Frühe Neuzeit erscheinen.
31 Fischart: Geschichtklitterung (Anm. 3), S. 294–95 – zur typographischen Einrichtung vgl.
oben Anm. 29.
32 Vgl. dazu die Beiträge von Volkhard Wels und Jan-Dirk Müller in diesem Band.
* Dieser Beitrag ist im Rahmen eines Projekts entstanden, das vom support-the-best-
Programm aus Mitteln der Exzellenzinitiative an der Technischen Universität Dresden ge-
fördert wird.
Frühen Neuzeit klären zu können. Er versteht sich vielmehr als Beitrag zur Dis-
kussion über die Frage epistemologischer Schwellen.
1 Vgl. Michel Foucault: Die Archäologie des Wissens. Frankfurt a.M. 1973, S. 270 (frz. Origi-
nal: L’archéologie du savoir. Paris 1969).
2 Vgl. Foucault: Archäologie des Wissens (Anm. 1), S. 270f. Ein imposantes Beispiel für diese
Art der Wissenschaftsgeschichtsschreibung, wie sie insbesondere im 19., aber auch noch bis
weit in das 20. Jahrhundert dominant war, ist Lynn Thorndike: History of Magic and Ex-
perimental Science. 8 Bde. London, New York 1923–1958.
3 Foucault: Archäologie des Wissens (Anm. 1), S. 271.
4 Vgl. Foucault: Archäologie des Wissens (Anm. 1), S. 271f.
5 Vgl. Foucault: Archäologie des Wissens (Anm. 1), S. 265f.
Schwelle in der Geschichte des Wissens markiert. 6 Die Geschichte der epistemi-
schen Ordnungen ist daher nicht mit der Geschichte der Wissenschaften gleich
zu setzen.
Unter Episteme versteht Foucault
die Gesamtheit der Beziehungen, die in einer gegebenen Zeit die diskur-
siven Praktiken vereinigen können, durch die die epistemologischen Fi-
guren, Wissenschaften und vielleicht formalisierten Systeme ermöglicht
werden; den Modus, nach dem in jeder dieser diskursiven Formationen
die Übergänge zur Epistemologisierung, zur Wissenschaftlichkeit und zur
Formalisierung stattfinden und sich vollziehen; […] die lateralen Verhält-
nisse, die zwischen epistemologischen Figuren oder Wissenschaft beste-
hen, insoweit sie zu benachbarten, aber distinkten diskursiven Praktiken
gehören. 7
In Bezug auf den Zusammenhang von Magie, Alchemie und Chemie sind die
zuletzt genannten „lateralen Verhältnisse“ von besonderem Interesse, denn sie
weisen darauf hin, dass weder alle epistemologischen Figuren in einer Wissen-
schaft aufgehen noch von ihr unmöglich gemacht werden. Obgleich diese latera-
len Verhältnisse darauf schließen lassen, dass es sich um übergreifende Wissens-
formen handelt, versteht Foucault sie keineswegs als synonym zu Begriffen wie
Weltbild oder Mentalität. Wenn er schreibt, dass die Episteme nicht das sei, was
man in einem Zeitalter „unter Berücksichtigung der technischen Unzulänglich-
keiten, der geistigen Gewohnheiten oder der durch die Tradition gesetzten
Grenzen“ 8 wissen könne, sondern das, was in einer diskursiven Praxis die Exis-
tenz der epistemologischen Figuren und Wissenschaften möglich mache, wird
deutlich, dass er damit nicht universale, epochale Merkmale oder Denkmuster
meint, sondern eine bestimmte diskursive Anordnung dessen, was ausgesagt
werden kann.
Episteme lässt sich demnach am ehesten mit Wissensordnung übersetzen,
deren besondere Gestalten die epistemologischen Figuren bilden, also je spezifi-
sche Anordnungen des Wissens, die einerseits unterhalb der Schwelle der Wis-
senschaftlichkeit liegen, andererseits das Feld bilden, in dem diese erscheinen
kann. 9 Wissenschaftlichkeit ist hier nicht im Sinne eines eingelösten Anspruchs
6 Vgl. Barbara Birkhan: Foucaults ethnologischer Blick. Kulturwissenschaft als Kritik der
Moderne. Bielefeld 2012, S. 132f.
7 Foucault: Archäologie des Wissens (Anm. 1), S. 272f.
8 Foucault: Archäologie des Wissens (Anm. 1), S. 274.
9 Die epistemologischen Figuren sind daher nicht mit Vorläufern von Wissenschaften zu
verwechseln. Siehe dazu die instruktiven Ausführungen Hans-Jörg Rheinbergers (Histori-
sche Epistemologie zur Einführung. Hamburg 2007, S. 104) zu George Canguilhems Model-
lierung der Wissenschaftsgeschichte sowie zu Michel Foucaults Archäologie. Vgl. Georges
Canguilhem: Der Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte. In ders.: Wissenschaftsgeschich-
te und Epistemologie. Gesammelte Aufsätze. Hrsg. von Wolf Lepenies, übers. von M. Bi-
auf Wahrheit zu denken, sondern im Sinne eines leitenden Paradigmas mit insti-
tutionalisierten Räumen, Statusverteilungen und Positionen, dem Wahrheit als
Geltungsanspruch zugeschrieben wird.
2 Epistemologische Figurationen
In der Archäologie des Wissens wie schon in der Ordnung der Dinge werden solche
epistemologischen Figuren jenseits ihrer Protagonisten gedacht. 10 Weder Auto-
ren noch Werke von Vertretern einer jeweiligen Wissensordnung spielen für
Foucault eine Rolle, vielmehr schreibt er die „stumme Geschichte“ eines Den-
kens. 11 In seiner Antrittsvorlesung am Collège de France (1970) ändert er diese
Auffassung aber insofern, als er nunmehr den Autor „als Prinzip der Gruppie-
rung von Diskursen, als Einheit und Ursprung ihrer Bedeutungen, als Mittel-
punkt ihres Zusammenhalts“ begreift. 12 Während er ein Subjekt, das Bedeutung
generiert, ablehnt, fasst er den Autor als eine Funktion der Regulierungs-
mechanismen von Diskursen. Der Diskurs bestimmt demnach die Regeln, nach
denen Aussagen gemacht werden können, und definiert, wie und in welcher
Weise Autoren darin erscheinen. Dazu gehören in erster Linie die Regeln der
Disziplin, die nach dem Prinzip der Ausschließung, der Verknappung und der
Beschränkung organisiert sind. 13 Über diese beiden Funktionen wird der Zugang
zu Diskursen reglementiert. An Diskursen kann nicht jeder teilhaben, sondern
nur diejenigen, die durch das Ritual, die Diskursgesellschaften, die Doktrinen
und die gesellschaftlichen Aussagen zugelassen werden. Das Ritual besteht aus
den vorgeschriebenen Qualifikationen, Gesten und Verhaltensweisen, die die
sprechenden Individuen besitzen bzw. beherrschen müssen, um eine bestimmte
Position einnehmen und eine bestimmte Aussage tätigen zu können. 14
Obwohl es naheliegend wäre, erwähnt Foucault in diesem Kontext bestimm-
te Typisierungen von Diskursfunktionen nicht. Die Funktion des Autors und des
Rituals sind jedoch auch insofern miteinander verschränkt, als beide in bestimm-
ten Typisierungen miteinander korreliert werden. Diskurse bringen nicht nur
die Funktion des Autors hervor, der sich bestimmten Ritualen unterwerfen
schoff und W. Seitter. Frankfurt a.M. 1979 (frz. Original: L’objet de l’histoire des sciences.
Paris 1968). Vgl. auch Hans-Jörg Rheinberger: Historialität, Spur, Dekonstruktion. In ders.:
Experiment, Differenz, Schrift. Zur Geschichte epistemischer Dinge. Marburg 1992, S. 47–66,
sowie Ulrich Johannes Schneider: Wissensgeschichte, nicht Wissenschaftsgeschichte. In: Mi-
chel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001. Hrsg.
von Axel Honneth und Martin Saar. Frankfurt a.M. 2003, S. 220–229.
10 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften.
Frankfurt a.M. 1971, S. 46–56 (frz. Original: Les mots et les choses. Paris 1966).
11 Philipp Sarasin hat dies unter anderem auf Foucaults Cassirer-Lektüre zurückgeführt. Vgl.
ders.: Michel Foucault zur Einführung. Hamburg 2005, S. 102f.
12 Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Mit einem Essay von Ralf Konersmann. Erw.
Auflage. Frankfurt a.M. 1991, S. 20 (frz. Original: L’ordre du discours. Paris 1971).
13 Vgl. Foucault: Ordnung des Diskurses (Anm. 12), S. 20–22.
14 Vgl. Foucault: Ordnung des Diskurses (Anm. 12), S. 27.
stück dessen, was hier als Figuration bezeichnet wird, als Figuration auf-
einander ausgerichteter, voneinander abhängiger Menschen. [...] Der Be-
griff der Figuration ist gerade darum eingeführt worden, weil er klarer
und unzweideutiger als die vorhandenen begrifflichen Werkzeuge der
Soziologie zum Ausdruck bringt, daß das, was wir ‚Gesellschaft‘ nennen,
weder eine Abstraktion von Eigentümlichkeiten gesellschaftslos existie-
render Individuen, noch ein ‚System‘ oder eine ‚Ganzheit‘ jenseits der In-
dividuen ist, sondern vielmehr das von Individuen gebildete Interdepen-
denzgeflecht selbst. 15
Insofern haben Figurationen bei Elias einen hohen Allgemeinheitsgrad. Sie sind
aber mit Machtbalancen verknüpft, die ein integrales Element personaler Bezie-
hungen bilden:
Aber ob die Machtdifferenziale groß oder klein sind, Machtbalancen sind
überall da vorhanden, wo eine funktionale Interdependenz zwischen
Menschen besteht. Der Gebrauch des Wortes Macht führt uns in dieser
Hinsicht in die Irre. [...] Macht ist nicht ein Amulett, das der eine besitzt,
der andere nicht; sie ist eine Struktureigentümlichkeit menschlicher Be-
ziehungen […]. 16
Dass solche Machtdifferenziale immer auch ein Bestandteil diskursiver Ordnun-
gen sind, hat Foucault in der Ordnung des Diskurses formuliert und damit gegen-
über der Archäologie des Wissens seiner Diskursanalyse einen neuen und zentra-
len Aspekt eingefügt. Die Ausschlussmechanismen von Diskursen sind grund-
sätzlich vom Willen zur Macht bestimmt. 17 Auf Machtbalancen beruhende In-
terdependenzgeflechte lassen sich auch als Netzwerke mit je spezifischen Kno-
tenbildungen beschreiben, in denen Aspekte kulminieren, die bestimmte Identi-
täten ausprägen. Der Einzelne wird darin nicht mehr als konkrete Person, son-
dern als Verkörperung bestimmter Vorstellungen, Haltungen und Handlungen
innerhalb eines Netzwerkes begriffen. Figurationen entstehen somit innerhalb
von Netzwerken und bilden bestimmte Identitäten aus. 18 Pierre Bourdieu be-
15 Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Frankfurt a.M. 1976 (zuerst 1939), Bd. 1,
S. LXVIIf. Vgl. auch ders.: Die Gesellschaft der Individuen. Frankfurt a.M. 1967, S. 31–34.
16 Norbert Elias: Was ist Soziologie? Weinheim 102004, S. 85. Zur Figurationssoziologie vgl.
Herbert Willems: Theatralität als (figurations-)soziologisches Konzept: Von Fischer-Lichte
über Goffman zu Elias und Bourdieu. In: ders.: Theatralisierung der Gesellschaft. Hrsg. von
dems. Bd. 1: Soziologische Theorie und Zeitdiagnose. Wiesbaden 2009, S. 75–110, zu Elias
S. 100–107.
17 Vgl. Michel Foucault: Ordnung des Diskurses (Anm. 12), S. 11.
18 Eine sehr instruktive Analyse von Figurationen, allerdings mit einem anderen Fokus, hat
Jan A. Fuhse vorgelegt. Vgl. ders.: Systeme, Netzwerke, Identitäten. Die Konstitution sozia-
ler Grenzziehungen am Beispiel amerikanischer Straßengangs. (Schriftenreihe des Instituts
für Sozialwissenschaften der Universität Stuttgart: No. 1/2003) Stuttgart 2003. Fuhse ver-
weist darin auf die Untersuchung von Eiko Ikegami über den japanischen Samurai, dessen
greift solche Interdependenzgeflechte als die Verfügung über soziales und kul-
turelles Kapital innerhalb eines sozialen Feldes, das einen bestimmten Habitus
ausprägt. 19
Niklas Luhmann schließlich versteht derart generierte Identitäten als Ord-
nungsaspekte, die Erwartungen hervorrufen und bestätigen:
Es werden Identitäten projektiert, an denen man Erwartungen festmachen
kann, und durch solche Zuweisung an identisch Bleibendes werden Er-
wartungen sachlich geordnet. So richtet man Zusammenhänge und Un-
terscheidungen ein. [...] Die Identität ist mithin [...] ein punktualisierter,
hochselektiver Ordnungsaspekt von Welt. 20
Solche Identitäten begreife ich als Figurationen, die bestimmbare Positionen, d.h.
Knotenpunkte innerhalb von Netzwerken, Machtkonstellationen und Wissens-
ordnungen ausmachen.
3 Magisches Wissen
Die Geschichte der Magie wird zumeist als Geschichte magischer Praktiken und
Rituale beschrieben. 21 Häufig wird sie unter dem Rubrum ‚Geschichte des Aber-
glaubens‘ zusammengefasst und mit der Volkskultur in Verbindung gebracht. 22
Magie war im Mittelalter aber keineswegs nur ein Element der Volkskultur,
sondern sowohl von ihrer theoretischen Konzeption als auch von ihren Prakti-
ken her ein Elitenphänomen. Mittelalterliche Gelehrte, Theologen, Philosophen
und Mediziner beschäftigten sich mit Magie, und an den mittelalterlichen Höfen
Konstruktion ähnlichen Netzwerkregeln folgt, wie ich sie hier für den Magier und den Al-
chemisten annehme. Vgl. dies.: The Taming of the Samurai. Honorific Individualism and the
Making of Modern Japan. Cambridge, Mass. 1995.
19 Zum Habitusbegriff vgl. Pierre Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frank-
furt a.M. 1970, bes. S. 132–145; siehe dazu auch Pierre Bourdieu, Loïc J.D. Wacquant: Refle-
xive Anthropologie. Frankfurt a.M. 1996, S. 155. Zu den Kapitalsorten vgl. ders.: Ökonomi-
sches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Soziale Ungleichheiten. Hrsg. von
Reinhard Kreckel. Göttingen 1983, S. 183–198.
20 Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Frankfurt a.M. 1996, S. 426f.
21 Zur Geschichte der Magie im Mittelalter vgl. nach wie vor Richard Kieckhefer: Magie im
Mittelalter. München 1992 (engl. Original: Magic in the Middle Ages, Cambridge 1992);
ders.: Magic. In: Medieval Latin. An Introduction and Bibliographical Guide. Hrsg. von
Frank A.C. Mantello, Arthur G. Rigg. Washington 1996, S. 422–426; Helmut Birkhan: Magie
im Mittelalter. München 2010; Christoph Daxelmüller: Zauberpraktiken. Eine Ideenge-
schichte der Magie. Düsseldorf 42001.
22 Vgl. dazu den instruktiven Tagungsbericht von Thomas Wünsch: Religion und Magie in
Ostmitteleuropa: Spätmittelalter und frühe Neuzeit. Ein Tagungsresümee. In: zeitenblicke 5
(2006), Nr. 1, URL: http://www.zeitenblicke.de/2006/1/Wuensch/index_html, URN: urn:nbn:
de:0009–9–2833 (02.01.2015). Beide Ansätze der Geschichte der Magie als Volks- und als Eli-
tenphänomen verbindet Kieckhefer: Magie im Mittelalter (Anm. 21).
23 Vgl. Frank Fürbeth: Die Stellung der artes magicae in den hochmittelalterlichen ‚Divisiones
philosophiae‘. In: Artes im Mittelalter. Hrsg. von Ursula Schäfer. Berlin 1999, S. 249–262; für
einen Überblick über die in der Forschungsgeschichte zugrunde gelegten Magievorstellun-
gen und den mittelalterlichen Wortgebrauch von ars magica und magia siehe auch ders.: Zum
Begriff und Gegenstand von Magie im Spätmittelalter. Ein Forschungsproblem oder ein
Problem der Forschung? In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 12 (2000),
S. 411–422.
24 Vgl. Kieckhefer: Magie im Mittelalter (Anm. 21), S. 45–51.
25 Zu Marsilio Ficino vgl.: Marsilio Ficino: His Theology, his Philosophy, his Legacy. Hrsg. von
Michael J.B. Allen und Valery Rees. Leiden 2002. Siehe daneben nach wie vor: Paul Oskar
Kristeller: Die Philosophie des Marsilio Ficino. Frankfurt a.M. 1972. Zur Konzeption der na-
türlichen Magie bei Marsilio Ficino vgl. Wolf-Dieter Müller-Jahncke: Astrologisch-magische
Theorie und Praxis in der Heilkunde der frühen Neuzeit. Stuttgart 1985, S. 41–56; ders.: Zum
Magie-Begriff in der Renaissance-Medizin und Pharmazie. In: Humanismus und Medizin.
Hrsg. von Rudolf Schmitz und Gundolf Keil. Weinheim 1984, S. 99–116, hier S. 100–104.
Siehe daneben auch Wayne Shumaker: The Occult Sciences in the Renaissance. Los Angeles,
London 1972, S. 120–133.
26 Vgl. Marsilio Ficino: Liber de vita triplici. Three Books on Life. A Critical Edition and Trans-
lation with Introduction and Notes. Hrsg. von Carol V. Kaske und John R. Clark, Bing-
hamton, N.Y. 1989, III, S. 248 u. 258.
27 Vgl. Kieckhefer: Magie im Mittelalter (Anm. 21), S. 168–171.
Wie Ficino betonte er aber den Wert der natürlichen Magie, die Kräfte der
Natur zu erkennen und zu nutzen. In seiner Schrift De hominis dignitate (1496)
schrieb er dem Magier nahezu schöpferische Macht zu:
[…] sie [die Magie, MM] holt die in den Tiefen der Welt, im Schoß der Na-
tur, in den geheimen Speichern Gottes verborgenen Wunder ans Licht
hervor, als wäre sie selber ihr Schöpfer, und wie der Bauer die Ulmen mit
den Weinreben, so vermählt der Magier die Erde mit dem Himmel, das
heißt das Untere mit den Gaben und Kräften des Höheren. 28
Für Giovanni Pico war die Magie jedoch weniger ein Instrument der Manipula-
tion als vielmehr der Erkenntnis der Natur. Insofern stand sie auch nicht im
Widerspruch zur Erkenntnis Gottes, sondern war vielmehr ihr Medium:
Denn nichts fördert die Frömmigkeit und die Verehrung Gottes mehr als
die ständige Betrachtung der Wunder Gottes. Wenn wir diese durch die
natürliche Magie, die wir hier behandeln, gut erforscht haben, werden
wir uns für die Verehrung und Liebe des Schöpfers glühender begeistern
und nicht anders können als zu singen: ‚Voll sind die Himmel, voll ist die
ganze Erde von der Majestät deiner Herrlichkeit.‘ 29
Mit Giovanni Pico rückte das Studium der jüdischen Kabbala ins Zentrum magi-
schen Wissens. Die magischen Worte der Kabbala waren für ihn die Grundlage
magischer Macht. 30
Das gilt auch für Johannes Reuchlin, der seit seinen beiden Florentiner Auf-
enthalten in den Jahren 1482 und 1490 mit Ficino und Pico in Kontakt stand und
das Studium des Hebräischen und der Kabbala mit großer Inbrunst betrieb. In
seinem im Abstand von mehr als zwanzig Jahren entstandenen Werken De verbo
mirifico (1494) und De arte Cabalistica (1517) beschreibt er die machtvollen Worte
der Kabbala als Grundlage der wunderbaren Werke, die der Magier mit der
Hilfe Gottes zu bewirken vermag. 31 Das wunderwirkende Wort (verbum mirifi-
cum) wirkte aber nicht nur auf der Grundlage einer mystischen Vereinigung von
28 […] [magia] in mundi recessibus, in naturae gremio, in promptuariis arcanisque Dei latitantia
miracula, quasi ipsa sit artifex, promit in publicum, et sicut agricola ulmos vitibus, ita Magus terram
caelo, idest inferiora superiorum dotibus virtutibusque maritat. Giovanni Pico della Mirandola:
De hominis dignitate / Über die Würde des Menschen. Lateinisch-deutsch. Übers. von
Norbert Baumgarten, hrsg. und eingeleitet von August Buck. Hamburg 1990, S. 57.
29 Pico della Mirandola: De hominis dignitate (Anm. 28), S. 57.
30 Vgl. Kieckhefer: Magie im Mittelalter (Anm. 21), S. 170–174. Zur Rezeption der Kabbala im
15. und 16. Jahrhundert vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Geschichte der christlichen Kab-
bala: 15. und 16. Jahrhundert. Stuttgart-Bad Cannstatt 2012.
31 Vgl. Charles Zika: Johannes Reuchlin und die okkulte Tradition der Renaissance. Sigma-
ringen 1998; ders.: Exorcising Our Demons: Magic, Witchcraft, and Visual Culture in Early
Modern Europe. Leiden 2003, S. 21–68.
Mensch und Gott, sondern trug diese Macht in sich selbst und konnte so die
Wundermacht des Menschen begründen. 32
Heinrich Cornelius Agrippa, der die naturmagischen und kabbalistischen
Schriften Marsilio Ficinos, Giovanni Picos della Mirandola und Johannes Reuch-
lins rezipiert hatte, stellte sich in diese Tradition und führte unterschiedliche
Aspekte im Prinzip des Okkulten zusammen. In seinem 1510 zunächst hand-
schriftlich verbreiteten und 1533 in einer erweiterten Ausgabe gedruckten Werk
De occulta philosophia unterschied er die elementarische, die himmlische und die
geistige Welt, woraus sich drei verschiedene Arten von Magie ergaben: Die na-
türliche Magie beschäftigte sich mit der elementarischen Welt und untersuchte
deren okkulte Sympathien; die Magie der himmlischen Welt behandelte die
Einflüsse und Kräfte der Planeten und deren Nutzbarmachung; die zeremonielle
Magie richtete sich an die Engel, die der Magier sich durch mystische Gebete
und andächtiges Flehen geneigt machen könne. 33 Die Möglichkeit einer magia
caeremonialis beruhte auf der Kenntnis der seelischen virtutes des Menschen, die
der anima mundi ähnelten, weil beide die vom Archetypus ausgehenden Ideen in
sich trugen. 34 Wirksam werden konnte sie allerdings nur, wenn es dem magus
gelang, seine Seele vom Körper zu lösen und so Mikrokosmos und Makrokos-
mos zu beherrschen. Nach Agrippa bot die magische Wissenschaft den besten
Weg, die Natur zu erkennen, die in ihr wirkenden virtutes elementales und virtu-
tes occultae zu verstehen und wirksam zu machen. 35
Die magische Wissenschaft, der so viele Kräfte zu Gebot stehen, und die
eine Fülle der erhabensten Mysterien besitzt, umfasst die tiefste Betrach-
tung der verborgensten Dinge, das Wesen, die Macht, die Beschaffenheit,
den Stoff, die Kraft und die Kenntnis der ganzen Natur. Sie lehrt uns die
Verschiedenheit und die Übereinstimmung der Dinge kennen. Daraus
36 Magica facultas, potestatis plurimae compos, altissimis plena mysteriis, profundissimam rerum
secretissimarum contemplationem, naturam, potentiam, qualitatem, substantiam et virtutem toti-
usque naturae cognitionem complectitur et quomodo res inter se differunt et quomodo conveniunt nos
instruit, hinc mirabilis effectus suos producens, uniendo virtutes rerum per applicationem earum ad
invicem et ad sua passa congruentia, inferiora superiorum dotibus ac virtutibus passim copulans
atque maritans: haec perfectissima sumaque scientia, haec altior sanctiorque philosophia, haec denique
totius nobilissimae philosophiae absoluta consummatio. Cornelius Agrippa: De occulta philoso-
phia libri tres. Hrsg. von Vitoria Perrone Compagni. Leiden 1992, Liber I, cap. 2, S. 86.
37 Zur Funktion der Sprache vgl. Christopher I. Lehrich: The Language of Demons (Anm. 34),
bes. S. 157–159.
38 Vgl. Michael Keefer: Cornelius Agrippa’s Double Presence in the Faustian Century. In: The
Faustian Century. German Literature and Culture in the Age of Luther and Faustus. Hrsg.
von James M. van der Laan und Andrew Weeks. Rochester, New York 2013, S. 67–92, hier
S. 70–72. Zur Faust-Tradition vgl. Marina Münkler: Narrative Ambiguität. Die Faustbücher
des 16. bis 18. Jahrhunderts. Göttingen 2011; zu Faust als Alchemist vgl. Helen Watanabe-
O’Kelly: Exploring the „Three-Fold World“: Faust as Alchemist, Astrologer, and Magician.
In: The Faustian Century. German Literature and Culture in the Age of Luther and Faustus.
Hrsg. von James M. van der Laan und Andrew Weeks. Rochester, New York 2013, S. 241–
256.
nicht verhinderte, dass er verdächtigt wurde, mit dem Teufel im Bund zu stehen
und schwarze Magie zu betreiben. 39
Eine ähnlich Geste der Abgrenzung vollzog Agrippa auch gegenüber der Al-
chemie, deren allegorische Arkansprache er scharf von der Sprache der Magie
abgrenzte. Im XC. Kapitel von De incertitudine et vanitate scientiarum spottete er
über die Sprache der Alchemisten,
es wäre allzu langatmig all die törichten Mysterien und unnützen Rätsel
dieser Kunst zu erzählen, von dem grünen Löwen, dem fliehenden Hir-
schen, dem fliegenden Adler, dem springenden Narren, dem Drachen,
der seinen Schwanz verschlingt, der aufgeblähten Kröte, dem Rabenkopf,
von der Schwärze, die schwärzer als schwarz ist, dem Siegel des Hermes,
dem Dreck der Narrheit (ich sollte sagen Weisheit) und ähnlichem unend-
lichen Unsinn. 40
39 Vgl. Keefer: Cornelius Agrippa’s Double Presence (Anm. 38). Paola Zambelli: Scholastiker
und Humanisten: Agrippa und Trithemius zur Hexerei. In: Archiv für Kulturgeschichte 67
(1985), S. 41–79.
40 Agrippa von Nettesheim: De incertitudine et vanitate scientiarum, Kap. XC: De alcumistica.
In: Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim, Opera. Hildesheim, New York 1970, S. 263.
41 Sebastian Brant: Das Narrenschiff. Studienausgabe. Mit allen 114 Holzschnitten des Drucks
Basel 1494. Hrsg. von Joachim Knape. Stuttgart 2005, Kap. 102, S. 464.
42 Brant: Das Narrenschiff (Anm. 41), Kap. 102, 1–4, S. 465.
45 Vgl. Iohannis Scotti annotationes in Marcianum. Hrsg. von Cora E. Lutz (Mediaeval Aca-
demy of America). Cambridge, Mass. 1939, S. 59.
46 Hugo von St. Viktor: Didascalicon de studio legendi. Hrsg. von Ch. H. Buttimer. Washing-
ton 1939, Buch II, Kap. XX, 760A (Divisio mechanicae in septem): Mechanica septem scientias con-
tinet: lanificium, armaturam, navigationem, agriculturam, venationem, medicinam, theatricam. Ex
quibus tres ad extrinsecus vestimentum naturae pertinent, quo se ipsa natura ab incommodis prote-
git, quattuor ad intrinsecus, quo se alendo et fovendo nutrit, ad similitudinem quidem trivii et qua-
drivii, quia trivium de vocibus quae extrinsecus sunt et quadrivium de intellectibus qui intrinsecus
concepti sunt pertractat. Dt. Übers. zitiert nach: Hugo von Sankt Victor: Studienbuch [Di-
dascalicon de studio legendi, um 1128]. Übers. und eingeleitet von Thilo Offergeld. Freiburg
1997, S. 193f.
47 Zu den artes mechanicae vgl. Jutta Bacher: Artes mechanicae. In: Erkenntnis, Erfindung,
Konstruktion. Hrsg. von Hans Holländer. Berlin 2000, S. 35–49; zum Verhältnis von artes me-
chanicae und artes liberales vgl. ‚Scientia’ und ‚ars’ im Hoch- und Spätmittelalter. Hrsg. von
Ingrid Craemer-Ruegenberg und Andreas Speer. 2 Bde. Berlin, New York 1994. Zum Status
der Alchemie im Mittelalter vgl.: Barbara Obrist: Die Alchemie in der mittelalterlichen Ge-
sellschaft. In: Die Alchemie in der europäischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte. Vor-
träge des 16. Wolfenbütteler Symposiums vom 2.–5. April 1985 in der Herzog August Biblio-
thek. Hrsg. von Christoph Meinel. Wiesbaden 1986, S. 33–60; George-Florin Călian: Alkimia
operativa und alcimia speculativa. Some modern controversies on the Historiography of Al-
chemy. In: Annual of Medieval Studies at CEU, Bd. 16 (2010), S. 166–190.
48 Vgl. Joachim Telle: Alchemie und Poesie. Deutsche Alchemikerdichtungen des 15. bis
17. Jahrhunderts. Untersuchungen und Texte, Bd. 1. Berlin, Boston 2013, S. 380.
nirgendwo wirklich zuordnen ließ, sondern darauf, dass sie den Anspruch er-
hob, unterschiedliche Arten von Stoffen durch Rückführung auf eine prima mate-
ria wandeln zu können.
Seit Beginn der Frühen Neuzeit beanspruchte die Alchemie überdies für sich
den Rang einer selbstständigen Wissenschaft. Dieser Anspruch ist in erster Linie
mit dem Namen Paracelsus und dem sich auf ihn beziehenden Paracelsismus
verbunden, der durch seine Verehrung als Begründer einer neuen Wissenschaft,
die nicht in der galenischen medizinischen Tradition, sondern ganz in Gott wur-
zelte, als Konkurrenz zur akademischen Medizin auftrat. 49
Die gelehrte Alchemie stand der Magie durchaus nah, denn wie die gelehrte
Magie versuchte sie, die Geheimnisse der Natur zu ergründen und ihre verbor-
genen Kräfte zu beherrschen. Die Annahme von qualitates und virtutes occultae,
der okkulten causae und rationes der stofflich-materiellen Geschehnisse stellte
eine systematische Verbindung zwischen der Astrologie, der Magie und der
Alchemie her. 50 Alle drei gingen davon aus, dass es der unmittelbaren Wahr-
nehmung verborgene Eigenschaften und Wirkungen der Substanzen gab, die
man dem Verstehen zugänglich machen und nutzen konnte.
Die substanzspezifische Wirkung von Medikamenten und Giften, die
Identität chemischer Verbindungen, die Einflüsse von Sonne und Mond,
elektrostatische und magnetische Anziehung, all dies war durch bloße
Mischung der Primärqualitäten warm/kalt, feucht/trocken und der davon
abgeleiteten Tastqualitäten nicht zu erklären. Daß aber derartige virtutes
oder facultates existierten, war nicht zu bestreiten. Folglich mußte auf die
Frage nach der causa efficiens eine sinnlich nicht wahrnehmbare, ‚verbor-
gene‘ Qualität als Ursache angegeben werden. 51
Daran änderte auch die Verkürzung von Alchemie in Chemie nichts. 52 Aus der
Perspektive der Wissenschaftsgeschichte der Chemie scheint es eine klare Tren-
nung zwischen der Alchemie und der Chemie zu geben. Die Alchemie gehört
demnach zur nicht-wissenschaftlichen Vorgeschichte der Chemie. Freilich ent-
spricht dies, wie William R. Newman und Lawrence M. Principe gezeigt haben,
keineswegs dem frühneuzeitlichen Sprachgebrauch. 53 Sowohl im 16. als auch im
17. Jahrhundert finden sich zahlreiche Quellen, in denen die Begriffe Alche-
mie/Alchymie und Chemie/Chymie synonym verwendet werden und die Diffe-
renz lediglich sprachlich auf die Nutzung des arabischen bestimmten Artikels al
oder sein Fehlen zurückgeführt wird. So schreibt Werner Rolfinck (1599–1673),
der erste Professor für Chemie an der Universität Jena, in seiner 1661 erschiene-
nen Chimia in Artis Formam Redacta:
Tatsächlich gibt es zwischen der Chemie und der Alchemie keinen Unter-
schied. Mit beiden Worten wird dieselbe Kunst [ars] bezeichnet. Auch
sind diejenigen nicht auf dem richtigen Weg, welche die Alchemie und
die Chemie daran unterscheiden, dass diese sich nur mit der kunstvollen
Herstellung von Medikamenten, jene mit der Transmutation von Metal-
len beschäftige. Beide bezeichnen die gleiche Sache, mit dem einzigen Un-
terschied, dass die erstere einen Arabischen Praefix hat, der dem griechi-
schen Artikel ho, hē, to entspricht. 54
Zwar lehnte Rolfinck die Suche nach dem Stein der Weisen entschieden ab, aber
er nutzte dies nicht, um darüber eine grundsätzliche Entgegensetzung von Al-
chemie und Chemie vorzunehmen. Die Differenz zwischen Alchemie und Che-
mie beruhte nach seiner Auffassung eher auf der Trennung von Alchemisten
und Chemikern. Rolfinck trennte Alchemie und Chemie nicht über eine begriff-
liche, sondern eine sozio-moralische Differenzierung. Das wird etwa an einer
Äußerung über die Motive, Fähigkeiten und insbesondere die prekären Lebens-
umstände der Alchemisten deutlich, über die Rolfinck unter Bezug auf eine
englische Publikation anmerkt:
52 Vgl. Kaspar von Greyerz: Alchemie, Hermetismus und Magie. Zur Frage der Kontinuitäten
in der wissenschaftlichen Revolution. In: Im Zeichen der Krise. Religiosität im Europa des
17. Jahrhunderts. Hrsg. von Hartmut Lehmann und Anne-Charlott Trepp. Göttingen 1999,
S. 415–432, hier S. 425f.
53 Vgl. William R. Newman, Lawrence M. Principe: Alchemy vs. Chemistry: The Etymological
Origins of a Historiographic Mistake. In: Early Science and Medicine 3 (1998), S. 32–65.
Scharfe Kritik an Newman/Principe übt George-Florin Călian: Alkimia operativa und alki-
mia speculativa (Anm. 47), bes. S. 170–172.
54 [Werner Rolfinck] Guerneri Rolfincii Chimia In Artis Formam Redacta. Jena 1661, S. 21:
Verùm inter chimiam & alchimiam nullum discrimen. Utroque vocabulo eadem ars denotatur. Neque
etiam reĉtam insistunt viam, qui alchimiam & chimiam sic distinguunt, ut haec solùm in artificiosa
medicamentorum praeparatione, illa verò in metallorum transmutatione saltem occupata sit. Eadem
est ejusdem rei appellatio, nisi qvod altera praefixum habeat Arabicum Al aequipollens Graecorum ar-
ticulo ho, hē, to. (Transkr. und Übers. MM)
55 Rolfinck: Chimia In Artis Formam Redacta (Anm. 54), S. 26 (Transkr. und Übers. MM).
,Alchimia‘, breviter Mercurius Britannicus in mundo altero & eodem, ,est ars sine arte, cujus scire
est pars cum parte, medium strenuè mentiri, finis mendicatum ire, vel in patibulo superbite‘. In pa-
tibulo sapite, den Galgen besteigen, hatte Rolfinck seiner angegebenen Quelle hinzugefügt.
56 Zur Geschichte der frühneuzeitlichen Laboratorien vgl. Ursula Klein: Die technowissen-
schaftlichen Laboratorien der Frühen Neuzeit. In: Zeitschrift für Geschichte der Wissen-
schaften, Technik und Medizin (NTM), N.S. 16 (2008), S. 5–38; Pamela Smith: Laboratories.
In: The Cambridge History of Science. Bd. 3: Early Modern Science. Hrsg. von Katharine
Park und Lorraine Daston. Cambridge 2006, S. 290–305; dies.: The Business of Alchemy. Sci-
ence and Culture in the Holy Roman Empire. Princeton 1994, S. 228–246; Rudolf Werner
Soukup, Helmut Mayer: Alchemistisches Gold, Paracelsische Pharmaka. Laboratoriums-
technik im 16. Jahrhundert. Chemiegeschichtliche und archäometrische Untersuchungen am
Inventar des Laboratoriums von Oberstockstall/Kirchberg am Wagen. Wien, Köln und
Weimar 1997; Henning Schmidgen: Labor. In: Europäische Geschichte Online (EGO). Hrsg.
vom Institut für Europäische Geschichte (IEG). Mainz 2011–01–03. URL: http://www.ieg-
ego.eu/schmidgenh-2011-de URN: urn:nbn:de:0159-20101025256 (01.02.2015).
Klosters. Im 16. Jahrhundert bezeichnete der Begriff Labor dann zunehmend die
Werkstätten von Apothekern, Alchemisten und Metallurgen.
Freilich gab es noch lange Zeit keinerlei Festlegung, wie das Labor eines Al-
chemisten beschaffen sein musste, um den behaupteten wissenschaftlichen An-
sprüchen zu genügen. „Die Laboratorien der Frühen Neuzeit, einschließlich
derjenigen des 18. Jahrhunderts, waren hybride Institutionen, in denen Naturbe-
obachtungen und Experiment mit handwerklich-gewerblicher Produktion und
Innovation auf vielfältige Weise verwoben waren.“ 57 Nur einige wenige Alche-
misten, denen es gelungen war, die Gunst eines Landesherrn zu erringen, ver-
fügten über saubere und wohl geordnete Räume, die allein der alchemistischen
Arbeit vorbehalten und mit den besten verfügbaren Instrumenten ausgestattet
waren. 58
Einer davon war Tycho Brahe, für den auf der dänischen Insel Ven in einem
schlossartigen Gebäude ein astronomisch-mathematisches Forschungszentrum
eingerichtet worden war, das nach Urania, der antiken Muse der Astronomie,
Uraniborg hieß. Im obersten Stockwerk beherbergte es eine Sternwarte, im mitt-
leren Geschoss Räume für Karten und Berechnungstafeln und im Keller ein al-
chemistisches Labor mit den besten und neuesten Geräten der Zeit. 59 Die alche-
mistische Praxis der Zeit war zumeist eine andere: Auch an den Laboratorien
der Höfe war eine Mischung unterschiedlicher Tätigkeiten und Verfahren gang
und gäbe. So hatte Wolfgang II. Graf von Hohenlohe im frühen 17. Jahrhundert
zwar ein Labor eingerichtet, aber es war kaum von einer Werkstatt zu unter-
scheiden. 60
Die Trennlinie innerhalb der alchemistischen Tradition zwischen gelehrter
und praktischer Alchemie zeigte sich auch in den Bildern. Bis ins 17. Jahr-
hundert waren die bildlichen Darstellungen von Alchemisten in ihren Werkstät-
ten oder Laboren häufig mit einer deutlich negativen Konnotation versehen. 61
Die Alchemisten erschienen nicht als Gelehrte, sondern als armselige Anhänger
einer Kunst, die unwirksam war oder die sie jedenfalls nicht zu beherrschen in
der Lage waren.
Abb. 1: Philips Galle nach Pieter Bruegel d.Ä.: Der Alchemist, um 1558.
Das wird etwa deutlich in einer nach 1558 entstandenen Federzeichnung Pieter
Bruegels d.Ä., die als Vorlage für einen Kupferstich Philips Galles diente. 62
Bruegel zeigt auf seinem Bild, wie sinnlos die Bemühungen des Alchemisten
sind und welche verhängnisvollen Folgen das für seine Familie hat. 63 Die Dar-
stellung hat zwei Zeitebenen: Im Vordergrund sieht man die wüste Werkstatt
eines auf der linken Seite an einem offenen Kamin sitzenden, in zerrissene Lum-
pen gekleideten Alchemisten, der damit beschäftigt ist, Münzen zu schmelzen.
Über seinem Kopf hängt an der Kaminhaube ein Zettel mit unleserlicher Schrift,
auf dem vermutlich eine alchemistische Rezeptur steht. Rechts vor ihm steht
eine gewaltige Destillierhaube, aus der eine Flüssigkeit in einen Krug fließt. In
der Werkstatt stehen und liegen zahlreiche Dinge herum, von denen einige als
Destillierkolben oder andere Alchemistengerätschaften zu erkennen sind. Hinter
62 Philips Galle nach Pieter Bruegel d.Ä.: Der Alchemist (um 1558), Kupferstich, 30,7 x 43,6 cm,
Kupferstichkabinett Berlin. Inv.-Nr. KdZ 4399.
63 Zu Bruegels Alchemist vgl. Roger H. Marijnissen: Bruegel. Das vollständige Werk. Unter
Mitarbeit von Peter Ruyffelaere, Peter van Calster, A.W.F.M. Meij. Köln 2003 (niederl. Orig-
inal: Bruegel, Amsterdam 1988), S. 103–109; Walter S. Gibson: Pieter Bruegel and the Art of
Laughter. Berkeley, Los Angeles 2006, S. 44–46; Lawrence M. Principe, Lloyd DeWitt:
Transmutations. Alchemy in Art. Selected Works from the Eddleman and Fisher Collections
at the Chemical Heritage Foundation. Philadelphia, Penns. 2002, S. 11f.
dem Alchemisten liegt ein achtlos hingeworfener Blasebalg, neben dem in der
Bildmitte seine auf einem Schemel hockende Frau den leeren Geldbeutel aus-
schüttet, hoffend, es werde noch eine Münze in ihre hingehaltene hohle Hand
fallen. Links hinter ihr befindet sich an der Wand ein Vorratsschrank, in den die
drei hungrigen Kinder des Alchemistenpaars, offenbar auf der Suche nach etwas
Essbarem, hineinzugelangen versuchen. Eines der Kinder sitzt schon mit einem
leeren Topf auf dem Kopf darin, das zweite klettert gerade hinein, während das
dritte, kleinste der Kinder, schreiend auf einem Schemel steht und hilflos die
Arme emporreckt. Neben der abgehärmt aussehenden Ehefrau hockt ein Narr
mit einem Blasebalg in der Hand auf dem Boden und versucht damit, in einer
Metallschüssel ein Feuer zu entfachen, in dem Gefäße geschmolzen werden
sollen. Rechts von ihm sitzt an einem Pult ein Gelehrter, der mit seinem Habit
nicht wirklich in die Werkstatt zu passen scheint. Er deutet mit der rechten offe-
nen Hand auf ein vor ihm liegendes aufgeschlagenes Buch, das mit Alghe Mist
betitelt ist. Alghe Mist ist doppeldeutig und kann Alchemist oder al he mist bedeu-
ten, was sowohl „alles ist vergeblich“ als auch „alles hier ist Mist“ heißen kann. 64
Der Gelehrtenkommentar wird durch die zweite Zeitebene des Bildes, oberhalb
seines Pults bestätigt: Durch ein großes, einfach aus der Wand herausgebroche-
nes Fenster sieht man den zwei seiner Kinder mühsam an der Hand haltenden
Alchemisten, dessen Frau mit dem mittleren Kind gerade eine Nonne bittet, sie
ins Armenhaus aufzunehmen.
Ähnliche Motive finden sich bei Adriaen van de Venne und Adriaen van
Ostade (1610–1685). 65 Beide zeigen auf ihren Gemälden chaotische Werkstätten,
in denen der verarmte Alchemist versucht, Gold herzustellen, während der Blick
auf die ebenfalls im Bild befindliche verhärmte Ehefrau und die hungrigen Kin-
der diese Bemühungen als sinnlos und den Anspruch als wahnhaft erscheinen
lassen.
64 Die Bedeutung des Gelehrten ist in der Forschung umstritten; in manchen Untersuchungen
wird er als Kommentator des Geschehens begriffen, z.B. von Marijnissen: Bruegel
(Anm. 52), S. 106, in anderen wird er als der eigentliche Alchemist gedeutet, der die Anwei-
sungen für die Transmutationsversuche erteilt und die Familie damit ins Unglück stürzt,
vgl. Jürgen Müller: Der Alchemist. In: Pieter Bruegel d.Ä. und das Theater der Welt. Hrsg.
von Ingrid Mössinger und Jürgen Müller. Berlin, München 2014, S. 182f.; Gibson: Pieter
Bruegel (Anm. 63), S. 45.
65 Adriaen van Ostade: Der Alchemist (1661), Öl auf Eiche, 34 x 45,2 cm, London, National
Gallery (NG846); Adriaen van de Venne: Rijcke-armode (1636), Öl auf Eiche, Chemical Heri-
tage Foundation Collections, Fisher Collection 00.01.284. Zu van de Venne vgl. Lloyd de
Witt, Lawrence M. Principe: Alchemy and its Images in the Eddleman and Fisher Collec-
tions at the Chemical Heritage Foudation. In: Art and Alchemy. Hrsg. von Jacob Wamberg.
Kopenhagen 2006, S. 221–247, hier S. 225f.
Abb. 2: Unbekannter Stecher nach Jan van der Straet: Distillatio, um 1576-1600.
66 Unbekannter Stecher nach Jan van der Straet: Distillatio (um 1576-1600), Kupferstich, 244 x
370 mm, Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel, Signatur: Graph. A1: 784d.
67 Der flämische Maler Jan van der Straet stellte in seinen Kupferstichen die neuen Erfindun-
gen und Entdeckungen seiner Zeit dar. Dazu gehörten der Buchdruck, die Entdeckung
Amerikas, aber auch die Alchemistenlabore, die an den großen Höfen eingerichtet wurden,
wie in diesem Fall am Hof des toskanischen Großherzogs Cosimo I. Jan van der Straet malte
1571 auch für das Studiolo Francescos I. im Florentiner Palazzo Vecchio ein Gemälde, das
einen Alchemisten in seinem Labor zeigt.
selbst, sondern von seinen Gehilfen ausgeführt. Der Alchemist sitzt dagegen mit
Brille in humanistischer Gelehrtentracht am linken Bildrand auf einem beque-
men Sessel, hinter dem interessiert in das aufgeschlagene Buch schauend ein
Mann steht, bei dem es sich vermutlich um den Großherzog handelt. Macht und
Wissen sind auf diese Weise eng zusammengerückt, der Alchemist ist von der
unmittelbaren körperlichen Arbeit befreit, die ihm den Odor des untergeordne-
ten Dienstes verliehen hatte, und in den Status des Wissenden aufgerückt.
Der unter dem Bild abgedruckte lateinische Wahlspruch verkündete optimis-
tisch die Fähigkeit, das von den Alchemisten lange gesuchte Lebenselixier her-
zustellen: „Hast Du durch Kunst im Feuer den Saft aller Körper geschieden,
wird er ein heilsames Nass, klar und so tausendfach stark.“
Eine vergleichbare Bildkarriere blieb dem Magier verschlossen. Als epistemi-
sche Figuration ist der Magier eine nahezu bildlose Gestalt. Er wird jedenfalls
nicht in der Weise figurativ typisiert, dass er mit bestimmten Bildmotiven ver-
knüpft wäre, in denen eine Figur unmittelbar als Magier erkennbar wäre, wie
dies für den Alchemisten gilt. Eine der wenigen Ausnahmen bildet das Titelbild
zu Paulus Ricius 1516 in Augsburg erschienenen Portae Lvcis H[a]ec est porta
Tetragra[m]maton iusti intrabu[n]t p[er] eam, einer Übersetzung von Joseph Gika-
tillas Kabbalakommentar. 68
Das Bild zeigt einen auf einem Schemel sitzenden gelehrten Kabbalisten, der
einen stilisierten Baum mit den in hebräischer Schrift geschriebenen zehn Sefirot,
den göttlichen Namen und Wesenheiten, in der recht Hand hält und ihn sinnie-
rend betrachtet.
Diese Darstellung des durch die Namen Gottes die Natur erkennenden Ma-
giers ist jedoch äußerst selten. In der Regel wird er von konkreten Gestalten
verkörpert: seine positive Figuration in der Gestalt des Hermes Trismegistos, die
negative Seite in Simon Magus. Eine weitere Verkörperung erlebt der Magier
dann noch einmal in der zentralen Gestaltung als der Teufelsbündner Johann
Faust. 69 Seit dem Beginn des Hexendiskurses hat jedoch die Hexe das Bild des
Magiers weitgehend abgelöst. 70
68 Ǧîqaṭîlā, Yôsēf Ben-Avrāhām/Paulus Ricius: Portae Lvcis H[a]ec est porta Tetragra[m]maton
iusti intrabu[n]t p[er] eam. Augustae Vindelicoru[m], 1516, 17,37 x 20,31 cm, Bayerische
Staatsbibliothek, München, Signatur: 4 Exeg. 690, Tbl. Urn:nbn:de:bvb:12-bsb00002115-2. Zu
Paulus Ricius vgl. Schmidt-Biggemann: Geschichte der christlichen Kabbala (Anm. 30),
S. 209–262; zu den Portae Lucis S. 235–241.
69 Vgl. zur Rolle der curiositas und der Melancholie in diesem Kontext: Marina Münkler: allezeit
den Spekulierer genennet. Curiositas als identitäres Merkmal in den Faustbüchern des 16. und
17. Jahrhunderts. In: Faust-Jahrbuch 2 (2005/2006). Hrsg. von Tim Lörke und Bernd Mahl.
Tübingen 2006, S. 61–81; dies.: Melancholy and Despair: The Historia von D. Johann Fausten.
In: Melancholie – zwischen Attitüde und Diskurs. Konzepte in Mittelalter und Früher Neu-
zeit. Hrsg. von Andrea Sieber und Antje Wittstock. Göttingen 2009, S. 75–93.
70 Vgl. Charles Zika: The Appearance of Witchcraft. Print and Visual Culture in Sixteenth-
Century Europe. London, New York 2007.
71 Vgl. Călian: Alkimia operativa und alkimia speculativa (Anm. 47), S. 179. Grundsätzlich zur
Verbindung von Religiosität, Reformation und Alchemie vgl. Urszula Szulakowska: The
Sacrificial Body and the Day of Doom: Alchemy and Apocalyptic Discourse in the Protestant
Reformation. Leiden 2006.
72 Vgl. Foucault: Die Ordnung der Dinge (Anm. 10), S. 46–56.
durch ihre Zwillingsgestalt, die Antipathie, kompensiert werden, damit die Din-
ge sich nicht vollständig assimilieren und ununterscheidbar werden. Die Antipa-
thie garantiert, dass Raum und Zeit ausgedehnte Größen bleiben und nicht zu
Punkten zusammenschmelzen, sie zieht die Grenze, die von der Ähnlichkeit
zwar immer wieder übersprungen, aber nicht vollständig verwischt wird. Über
die Grenzen hinweg können die Dinge aber kommunikativ vermittelt, d.h. so
verglichen werden, dass die Relation zwischen ihnen als eine Relation gewahrt
bleibt. Die Ähnlichkeit war freilich nicht selbstevident und nicht auf den ersten
Blick äußerlich erkennbar. Um sie erkennen zu können, bedurfte es der Signatur,
des Zeichens an der Oberfläche, das die unsichtbaren Ähnlichkeiten signalisierte
und erkennbar machte. Deshalb mussten die Dinge zunächst beschrieben und
benannt werden, um die Signaturen auffinden und die Ähnlichkeiten aufdecken
zu können. Dabei konnten die Namen der Dinge ebenso zeichenhaft sein wie
ihre Gestalt und die Orte, an denen sie sich befanden, ebenso bedeutsam wie die
Eigenschaften, die ihnen zugeschrieben werden. Ähnlichkeit und Signatur er-
möglichten somit auch, dass man in der Beschreibung der Welt alles aufnehmen
und nebeneinander stellen konnte, was aus den unterschiedlichsten Quellen
überliefert war. Schon Augustinus hatte betont, Gott sei nicht der Verfasser ei-
nes, sondern zweier Bücher. 73 Neben die Heilige Schrift trat das Buch der Natur,
das ebenfalls gelesen, d.h. über die unmittelbare Wahrnehmung hinaus nach
denselben hermeneutischen Regeln gedeutet werden konnte wie die Schrift. In
dieser Weise hatte schon Alain de Lille im zwölften Jahrhundert in seinem Ro-
senhymnus die Lesbarkeit der Welt in den berühmten Vers gefasst: Omnis mundi
creatura/ Quasi liber et pictura/ Nobis est et speculum. Nostrae vitae, nostrae mortis, /
nostri status, nostrae sortis / fidele signaculum. 74
Die Natur war das Buch, in dem der Mensch las, das Bild, das er betrachtete,
und der Spiegel, in dem er sich sah. 75 Alle Gegenstände konnten damit ebenso
untereinander wie zu ihrem Schöpfer in Beziehung gesetzt werden, und indem
man die Zeichen las, die Gott auf der Oberfläche der Welt niedergelegt hatte,
konnte zugleich der Schöpfer selbst erkannt werden. Auf der Oberfläche der
Welt ließ sich in den Dingen ihr Sinn ablesen, und dieser Sinn konnte dann wie-
der in Büchern niedergelegt werden, die das Buch der Natur deuteten, wie
Bonaventura in seinen Collationes in Hexaemeron formulierte: Hic autem liber est
Scripturae, qui ponit similitudines proprietates et metaphoras rerum in libro mundi
scriptarum. 76
73 Vgl. Aurelius Augustinus: De Genesi ad Litteram. In: Patrologia Latina 34. Hrsg. von Jean
Paul Migne. Paris 1845, S. 219ff.
74 Alani ab Insulis: Liber De Planctu Naturae. In: Opera Omnia. Hrsg. von Jean Paul Migne
(Patrologia Latina, CCX), Paris 1855, S. 579f. Vgl. Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der
Welt. Frankfurt a.M. 21983, S. 51.
75 Vgl. Clarence Glacken: Traces on the Rhodian Shore. Berkeley 1990, S. 73f.
76 Bonaventura Sanctus: Collationes in Hexaemeron. Das Sechstagewerk. Lateinisch und
Deutsch. Übersetzt und eingeleitet von Wilhelm Nyssen. München 21979, S. 409. „Dies aber
Aufgrund der prinzipiellen Zeichenhaftigkeit aller Dinge gab es, wie Michel
Foucault gezeigt hat, nicht nur zwei Bücher, die Heilige Schrift und das Buch der
Natur; vielmehr traten Sprache und Natur als prinzipiell einheitliches Deutungs-
feld nebeneinander:
Es gibt keinen Unterschied zwischen jenen sichtbaren Zeichen, die Gott
auf der Oberfläche der Erde gezeigt hat, um uns deren innere Geheimnis-
se erkennen zu lassen, und den lesbaren Wörtern, die die Bibel oder die
Weisen der Antike, die durch ein göttliches Licht erleuchtet worden sind,
in ihren Büchern, die die Überlieferung gerettet hat, niedergelegt haben.
Die Beziehung zu den Texten ist von gleicher Art wie die Beziehung zu
den Dingen; hier wie da nimmt man Zeichen auf. 77
Durch die Homogenität von Natur und Sprache war es möglich, die Signaturen
des Seins aus den Signaturen der Sprache abzulesen.78
ist das Buch der Schrift, das die Gleichnisse (similitudines), Eigenschaften und den Sinn der
Dinge, die im Buch der Welt geschrieben sind, darstellt.“ (S. 410) Similitudines wäre m.E.
besser mit Ähnlichkeiten zu übersetzen. Vgl. zu Bonaventura und der Natur als Buch Cars-
ten Colpe: Weltdeutungen im Widerstreit. Berlin, New York 1999, S. 160f.
77 Foucault: Die Ordnung der Dinge (Anm. 10), S. 65.
78 Foucaults Darstellung des epistemischen Bruchs zwischen der Episteme der Ähnlichkeit
und der Episteme der Repräsentation ist nicht unkritisiert geblieben. Vgl. etwa – mit Bezug
auf die Magie – Gary Tomlinson: Music in Renaissance Magic: Toward a Historiography of
Others. Chicago 1993, S. 32–66. Dagegen hat Maximilian Bergengruen betont, dass der Ma-
gier das Buch der Natur nicht nur zu lesen, sondern auch [mit-]zu schreiben beanspruche.
Vgl. Bergengruen: Nachfolge Christi (Anm. 49), S. 160–176.
Prinzipien aufgrund der Sinne, der Erinnerung und der Erfahrung an-
nehmen und wissen muss; […]. 79
Erfahrung war vielmehr eng mit Erinnerung verknüpft, wie dies schon Aristote-
les formuliert hatte, der von einer dreistufigen Relation von Wahrnehmung (gr.
aisthesis, lat. perceptio), Erinnerung (gr. mneme, lat. memoria) und Erfahrung (gr.
empeiria, lat. experientia) ausging.
empeiria im aristotelischen Sinne war die durch Kenntnis des Besonderen er-
worbene Fähigkeit, eine Unterscheidung zu treffen. Sie war nicht identisch mit
der sinnlichen Wahrnehmung, vielmehr war sinnliche Wahrnehmung (aisthesis)
eine ihrer Voraussetzungen:
„Aus der Erinnerung geht bei den Menschen die Empirie hervor; erst viele
Erinnerungen nämlich ein und derselben Sache ergeben die Fähigkeit einer Er-
fahrung.“ 80
Auf einem ähnlichen Erfahrungsbegriff baute die paracelsische Erfahrung
auf, wie schon am Titel seiner Medicinae Paramirum deutlich wird: Volumen medi-
cinae Paramirum Philippi Theophrasti Paracelsi des hocherfarnen Philosophi / vnd bei-
der Artzney Doctor. Wenn Paracelsus hier als „hocherfarner Philosoph“ bezeich-
net wird, so ist damit Erfahrenheit im Sinne einer Kombination von Wahrneh-
mung, Erinnerung und daraus resultierender Urteilskraft zu verstehen.
Die Grundlage der Erkenntnis war bei Paracelsus zwar die einzelne Sinnes-
wahrnehmung, das experimentum, die jedoch nur den Anfang der Erkenntnis
bildet:
und weiter merket von der experienz, das beweisen die augen, noch ist
aber der verstant nit da, dan die augen zeigen experimentum an, aber nit
experientiam, dan sie sehen experientiam nicht, welche also verstanden
sol werden. 81
Es bedarf jedoch des „richtigen Sehens“, nämlich der Theorie der Ähnlichkeit
und damit des Wissens um die Ordnung der Natur, der Verbindung von Mikro-
und Makrokosmos und der Erinnerung an gleichartige oder unterschiedliche
Sinneswahrnehmungen. Daraus resultiert dann Erfahrenheit (experientia, experi-
79 Item omnis propositio universalis in scientia naturali debet concredi tanquam principium que potest
probari per experimentalem inductionem sic quod in pluris singularibus ipsius manifeste inveniaur
[i.e. inveniatur] ita esse et in nullo nunquam apparet instantia, sicut enim bene dicit Aristoteles quod
oportet multa principia esse accepta et scita sensu, memoria et experientia; […]. [Johannes Buri-
dan]: Acutissimi philosophi reuerendi Magistri Johannis buridani subtilissime questiones
super octo phisicorum libros Aristotelis diligenter recognite et reuise A magistro Johanne
dullaert de gandano antea nusquam impresse. Parisiis 1509 (Faksimiledruck Frankfurt a.M.
1964), fol. 73v, col 1 (Transkr. MM).
80 Aristoteles: Metaphysik, 980b.
81 Paracelsus: Sämtliche Werke, Abt. I, Bd. 1: Labyrinthus medicorum errantium. Hrsg. von
Karl Sudhoff. München, Berlin 1922, S. 191f.
enz). 82 Insofern zeichnete sich hier kein epistemischer Bruch ab. Grundlage blieb
die Signaturenlehre, wie Paracelsus sie in der Philosophia sagax kennzeichnete:
„Nichts ist, das die natur nicht gezeichnet hab, durch welche zeichen man kann
erkennen, was im selbigen, was gezeichnet ist.“ 83
Das Labor brachte in dieser Hinsicht noch keinen fundamentalen Einschnitt.
Erst durch die im Empirismus erfolgende Begründung einer universalen Mathe-
sis 84 und die Neudefinition des Experiments 85 als planmäßig wiederholbarem
Ereignis, dessen Bedingungen genau definiert und nicht mehr in einer alchemi-
schen Geheimsprache verborgen waren, änderte sich die Ordnung der Dinge.
82 Ähnlich argumentiert auch Andrew Weeks. Vgl. ders.: Paracelsus. Speculative Theory and
the Crisis of the Early Reformation. Albany, NY 1997, S. 183f. Vgl. auch Matthias Vollmer:
Die bildhafte Sprache des Paracelsus und ihr Verhältnis zu den alchemistischen Diagram-
men. Die Zeichen und das Zeigen. In: Paracelsus im Kontext der Wissenschaften seiner Zeit.
Kultur- und mentalitätsgeschichtliche Annäherungen. Hrsg. von Albrecht Classen. Berlin
u.a. 2010, S. 129–150, hier S. 135–140.
83 Philippus Theophrastus Paracelsus: Astronomia Magna oder die ganze Philosophia sagax
der großen und kleinen Welt. Hrsg. von Norbert Winkler. Frankfurt a.M. u.a. 1999, S. 65.
84 Zur Begründung einer universalen Mathesis mit Descartes als ihrem herausragenden Expo-
nenten vgl. Foucault: Die Ordnung der Dinge (Anm. 10), S. 82f. Als grundlegendes Kennzei-
chen der Diskontinuität zwischen der schriftdominierten Kultur der Ähnlichkeit und der
messbarkeitsdominierten Kultur der Identität und des Unterschieds bezeichnet Foucault die
Beziehung zum Text: „Von da an hört der Text auf, zu den Zeichen und zu den Formen der
Wahrheit zu gehören.“ (S. 89).
85 In der Scholastik und der Renaissance wird experimentum weitgehend mit experientia gleich-
gesetzt. Die Neudefinition des Experiments als definierten Bedingungen unterworfenem,
planbarem und wiederholbarem Ereignis findet sich erst bei Francis Bacon ausformuliert.
Vgl. G. Frey: Art. Experiment. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 2. Hrsg. von
Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Basel 2007, S. 868f.
1 Die Literaturangaben in den Anmerkungen beschränken sich auf die Arbeiten, die für mei-
ne Argumentation von unmittelbarer Bedeutung sind und verstehen sich insofern als stell-
vertretende Verweise.
2 Allgemein zur Alchemie vgl. den Überblick von Joachim Telle: Art. Alchemie II. In: Theolo-
gische Realenzyklopädie Bd. 2 (1978), S. 199–227. Eine unter wissensgeschichtlichem Aspekt
hervorragende Darstellung der frühneuzeitlichen Alchemie, der ich viel verdanke, ist Bruce
T. Moran: Distilling Knowledge. Alchemy, Chemistry, and the Scientific Revolution. Cam-
bridge, Mass. 2005. Stellvertretend zur Geschichte der vormodernen Chemie verweise ich
auf William R. Newman: Promethean Ambitions. Alchemy and the Quest to Perfect Nature.
Chicago, London 2004 und Lawrence M. Principe: The Secrets of Alchemy. Chicago, London
2013. Ein Überblick zur deutschen Tradition von Bernhard Dietrich Haage findet sich in:
Bernhard Dietrich Haage und Wolfgang Wegner: Deutsche Fachliteratur der Artes in Mit-
telalter und Früher Neuzeit. Berlin 2007, S. 106–126. Den Begriff der „Leitwissenschaft“ ver-
wenden Kühlmann und Telle in ihrer Einleitung in: Corpus Paracelsisticum. Dokumente
frühneuzeitlicher Naturphilosophie in Deutschland. Hrsg. und erläutert von Wilhelm
Kühlmann und Joachim Telle. Tübingen 2001–2013, hier Bd. I, S. 17.
3 Joachim Telle: Bemerkungen zum Rosarium Philosophorum. In: Rosarium Philosophorum. Ein
alchemisches Florilegium des Spätmittelalters. Faksimile der illustrierten Erstausgabe
Frankfurt 1550. Hrsg. und erl. von Joachim Telle, aus dem Lateinischen ins Deutsche übers.
von Lutz Claren und Joachim Huber. Weinheim 1992, S. 161–201, hier S. 163f.
4 Diese Behauptung ist insofern zu relativieren, als William R. Newman: The Summa Perfectio-
nis of the Pseudo Geber. Leiden 1991 und ders.: Experimental Corpuscular Theory in Aristo-
telian Alchemy. In: Late Medieval and Early Modern Corpuscular Matter Theories. Hrsg.
von Christoph Lüthy, John E. Murdoch, und William R. Newman. Leiden 2001, S. 291–329
gezeigt hat, dass der mittelalterlichen Alchemie von Anfang an eine korpuskulare Theorie
der Materie zugrunde liegt. Zum Atomismus im 17. Jahrhundert vgl. Antonio Clericuzio:
Elements, Principles and Corpuscles. A Study of Atomism and Chemistry in the Seven-
teenth Century. Dordrecht 2000.
Weiß in der Art der Farbe der Asche an den Tag kam, nannten sie das In-
cineration (‚Veraschung‘) bzw. Dealbation (‚Weißung‘). 5
Die vormoderne Chemie analysiert keine Prozesse, die sich zwischen einzelnen
Elementen abspielen, sondern ‚deduziert‘ aus der Vielzahl der zu beobach-
tenden Veränderungen der Materie eine kleine Zahl immer wiederkehrender
Vorgänge.
Die gesamte vormoderne Chemie von vornherein unter den Generalverdacht
der Scharlatanerie und Betrügerei zu stellen, wie es seit dem 18. Jahrhundert
immer wieder geschehen ist (paradigmatisch etwa in Adelungs Geschichte der
menschlichen Narrheit oder Lebensbeschreibungen berühmter Schwarzkünstler, Gold-
macher, Teufelsbanner, Zeichen- und Liniendeuter, Schwärmer, Wahrsager und anderer
philosophischer Unholden, 1785-89), wäre dabei völlig verfehlt. Einmal ganz abge-
sehen von den unzweifelhaften Erfolgen dieser Wissenstraditionen, etwa im
Bergbau oder in der Pharmazeutik, konnte auch die Goldherstellung als durch-
aus erfolgreich wahrgenommen werden, wie die zahlreichen Berichte erfolgrei-
cher Transmutationen zeigen. Bei der Bewertung solcher Transmutationen ist
immer zu bedenken, dass ‚Gold‘ in Zeiten vor der exakten Bestimmbarkeit des
Feingehaltes eines Metalls ein relativer Begriff ist, der sich vor allem an sinnli-
chen Qualitäten wie Farbe und Gewicht festmacht. 6
Die zweite große Erwartung, von der man sich bei der vormodernen Chemie
befreien muss, betrifft die Sprache dieser Chemie. Die klassische Form eines in
Fachterminologie abgefassten Lehrbuchs oder Prosatraktats, wie es sie immer
schon etwa für die Logik, die Medizin oder die Rechtswissenschaft gegeben hat,
findet sich nur in Teilen der vormodernen Chemie, insbesondere in der arabi-
schen Tradition. Im lateinischen Mittelalter hat diese Tradition ihren bedeu-
tendsten Ausdruck in der Summa perfectionis aus dem 13. Jahrhundert gefunden.
Neben dieser ‚prosaischen‘ Tradition gibt es – wohl mit zunehmender Ten-
denz zur Frühen Neuzeit hin – Visionsbeschreibungen, Dialoge, Spruchsamm-
lungen, Lehrgedichte oder Rätsel, häufig in Versform. Während die Summa per-
fectionis in einer relativ klaren und ‚technischen‘ Sprache verfasst ist, begegnet
daneben – wohl auch mit zunehmender Tendenz, die Forschungslage lässt auch
hier noch keine klaren Aussagen zu – eine metaphorische, bildliche Sprache, in
der von grünen Löwen, von Sonne und Mond, von Drachen, Schlangen und
Vögeln, von Hermaphroditen und Königen die Rede ist. Diese scheinbar so ‚poe-
tische‘ Sprache hat entscheidend zur ‚spirituellen‘ Deutung der Alchemie beige-
tragen.
5 Rosarium Philosophorum (Anm. 3) Bd. 2, S. 150. Das lateinische Original Bd. 1, S. 178. Die
Ergänzungen in Klammern stammen von den Übersetzern.
6 Zur Geschichte der Alchemie als experimenteller Wissenschaft vgl. William R. Newman:
Atoms and Alchemy. Chymistry and the Experimental Origins of the Scientific Revolution.
Chicago 2006.
Der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung etwa hat die Bilderserie des Rosarium
philosophorum 1946 gar nicht als Symbole stofflicher Prozesse aufgefasst, sondern
als „intuitive Antizipationen“ 7 und unbewusste Beschreibung psychischer Struk-
turen: „Nicht nur in allgemeinen Umrissen, sondern auch in oft verblüffenden
Einzelheiten schildert die Alchemie jene psychische Phänomenologie, die der
Arzt im Verlaufe der Auseinandersetzung mit dem Unbewußten beobachten
kann.“ 8 Alchemie erscheint damit nicht als technisches Wissen um natürlich
Prozesse, sondern als „mystische Philosophie“ 9 und symbolische Darstellung
eines Wegs der inneren Wandlung. 10 Diese ‚spirituelle‘ oder ‚esoterische‘ Deu-
tung der Alchemie geht – freilich mit signifikanten Veränderungen, und um nur
einige Stationen zu nennen – über Rudolf Steiner und die „Theosophische Ge-
sellschaft“, die „Esoterik“ des 19. Jahrhunderts, die „Gold- und Rosenkreuzer“
des 18. Jahrhunderts und Teile der Romantik über Jakob Böhme und die Mystik
des 17. Jahrhunderts zurück bis auf den Paracelsismus des 16. Jahrhunderts.
Über die Legitmation einer solchen ‚spirituellen‘ Deutung der Alchemie kann
mithin kein Zweifel bestehen.
Schwierig wird diese Deutung der Alchemie, wo sie die frühneuzeitliche und
mittelalterliche Alchemie insgesamt zu vereinnahmen sucht. Denn die metapho-
rische Sprache der Alchemie ist – zumindest ursprünglich – weder ‚poetisch‘
noch ‚spirituell‘ gemeint, sondern gehört zur Tradition der Arkansprachen. 11 Es
7 Carl Gustav Jung: Die Psychologie der Übertragung. In ders.: Gesammelte Werke Bd. 16.
Zürich u.a. 1956, S. 174–345, hier S. 180.
8 Jung: Psychologie der Übertragung (Anm. 7), S. 211.
9 Jung: Psychologie der Übertragung (Anm. 7), S. 180.
10 Modifiziert aufgegriffen haben diese Deutung der Alchemie neuerdings Hereward Tilton:
The Quest for the Phoenix. Spiritual Alchemy and Rosicrucianism in the Work of Count Mi-
chael Maier. Berlin, New York 2003, bes. S. 1–34 und George-Florin Călian: Alkimia operati-
va and Alkimia speculativa. Some modern controversies on the Historiography of Alchemy.
In: Annual of Medieval Studies at CEU 16 (2010), S. 166–190 (digital zugänglich unter
www.archive.org). Beide richten sich vor allem gegen Lawrence M. Principe und William R.
Newman: Some Problems with the Historiography of Alchemy. In: Secretes of Nature.
Astrology and Alchemy in Early Modern Europe. Hrsg. von Anthony Grafton und William
R. Newman. Cambridge 2001, S. 385–430.
11 Zur chemischen Arkansprache vgl. die präzise Zusammenfassung von Joachim Telle: Der
Splendor Solis in der frühneuzeitlichen Respublica Alchemica. In: Daphnis 35 (2006), S. 421–
448, hier S. 421–423. Zur Transformation der Arkansprache in der Frühen Neuzeit vgl. Flori-
an Ebeling: ‚Geheimnis‘ und ‚Geheimhaltung‘ in den Hermetica der Frühen Neuzeit. In: An-
tike Weisheit und kulturelle Praxis. Hermetismus in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Anne-
Charlott Trepp und Hartmut Lehmann. Göttingen 2001, S. 63–80. Zur Entstehung der Vor-
stellung von einer „wissenschaftlichen Öffentlichkeit“ und der mittelalterlichen Secreta-
Literatur William Eamon: From the Secrets of Nature to Public Knowledge. The Origins of
the Concept of Openness in Science. In: Minerva 23 (1985), S. 321–347. Spezifisch zur
Chemie Jan V. Golinski: Chemistry in the Scientific Revolution: Problems of Language and
Communication. In: Reappraisals of the Scientific Revolution. Hrsg. von David C. Lindberg
und Robert S. Westman. Cambridge 1990, S. 367–396 sowie besonders Stephen Clucas: Al-
chemy and Certainty in the Seventeenth Century. In: Chymists and Chymistry. Studies in
the History of Alchemy and Early Modern Chemistry. Hrsg. von Lawrence M. Principe.
Sagamore Beach 2007, S. 39–51.
12 Telle: Art. Alchemie II (Anm. 2), S. 211.
13 Zu Marburg vgl. Bruce T. Moran: The Alchemical World of the German Court. Occult Phi-
losophy and Chemical Medicine in the Circle of Moritz of Hessen (1572–1632). Stuttgart
1991, zur Institutionalisierung der Alchemie vgl. Christoph Meinel: „Artibus Academicis In-
serenda“: Chemistry’s Place in Eighteenth and Early Nineteenth Century Universities. In:
History of Universities 7 (1988), S. 89–115. Zur Entwicklung in Frankreich vgl. Antonio Cle-
ricuzio: Teaching Chemistry and Chemical Textbooks in France: From Beguin to Lemery. In:
Science and Education 15 (2006), S. 335–355.
14 Zur Text- und Druckgeschichte sowie zur historischen Einordnung des Rosarium vgl.
Joachim Telle: Bemerkungen zum Rosarium Philosophorum (Anm. 3).
Abbildungen aus dem Rosarium Philosophorum, Frankfurt a.M. 1550, f. Fiijv (Coniunctio), M 4r
(Hermaphrodit), Yiijr (Löwe) und f. a4r (Christus).
Das Rosarium philosophorum ist deshalb ein gutes Beispiel für die epistemische
Konfiguration der vormodernen Chemie. Bei diesem Text handelt es sich um
eine florilegienhafte Kompilation alchemischer Prozessbeschreibungen aus dem
14. Jahrhundert, dessen eigentliche Wirkungsgeschichte allerdings erst mit der
editio princeps 1550 beginnt. Die Holzschnitte, die sich in dieser Druckfassung
finden – das Sol und Luna-Bildgedicht, wie es Joachim Telle genannt hat 15 –, ha-
ben dabei weder bloß illustrativen Charakter, noch sind sie Ausdruck einer
‚mystischen‘ Alchemie. Die Verbildlichung der alchemischen Arkansprache hat
didaktische und mnemotechnische Zwecke, indem sie etwa die Gliederung
übersichtlich macht und gleichzeitig das alchemische Lehrgut vereinfacht und in
einprägsame Bilder bringt. 16
Im Rosarium wird die Summa perfectionis außerdem mit den Worten zitiert:
„Wo immer wir offen gesprochen haben, dort haben wir […] nichts gesagt. Aber
wo wir etwas verschlüsselt […] und in Bildern niedergeschrieben haben, dort
haben wir die Wahrheit verhüllt.“ 17 Diese Verschlüsselungstechnik wird an an-
derer Stelle ausdrücklich mit den Verfahren der Dichtung verglichen: „Die Phi-
losophen wissen, daß ein solcher Stoff nur in verdeckter Weise (mystice) weiter-
gegeben werden darf, (etwa) in der Art, wie die Poesie mit Fabeln und Parabeln
(arbeitet).“ 18 Damit ist sehr deutlich gesagt, dass es sich bei der sprachlichen
Form der Alchemie weder um ‚Mystik‘ noch um Dichtung handelt, sondern um
eine bewusste Verschlüsselungstechnik, die sich lediglich der Methoden der
Dichtung bedient.
Sowohl mit seiner Verbildlichung wie mit seiner bewussten Verrätselung des
alchemischen Wissens könnte das Rosarium Philosophorum dabei eine ähnliche
wissensgeschichtliche Entwicklung unter den Bedingungen einer ‚pragmati-
schen Schriftlichkeit‘ 19 illustrieren, wie sie bei den Fecht- oder Büchsenmeister-
lehren dieser Zeit zu beobachten ist. Auch bei diesen handelt es sich um ein
nicht-akademisches, handwerkliches, ursprünglich im mündlichen Unterricht
vermitteltes Wissen, das unmittelbare ökonomische Relevanz besaß. Bei seinem
Übergang in die Schriftlichkeit wird es gezielt verschlüsselt und verrätselt, um
einerseits den Zugang zu diesem Wissen zu reglementieren, gleichzeitig aber
den Schülern und Eingeweihten mnemotechnische Unterstützung zu bieten. Die
Fechtlehre Hans Lecküchners, wie sie Jan-Dirk Müller beschrieben hat, 20 bedient
sich mit einem zum Teil bewusst, für sich genommen unverständlichen Versteil,
einem ‚erklärenden‘ Prosakommentar und der bildlichen Darstellung ganz ähn-
licher Formen wie das Rosarium.
Auch im Falle einer solchen Fechtlehre dürften nicht nur die Verse, sondern
vor allem auch die Abbildungen mnemotechnisch motiviert gewesen sein. Sie
rufen bestimmte Körperhaltungen und Bewegungsabläufe, die im mündlichen
Unterricht vermittelt und auf dem Fechtboden eingeübt worden sind, wieder in
Erinnerung beziehungsweise halten sie dort fest. Ähnlich könnte man sich vor-
stellen, dass die Verse und Abbildungen des Rosarium vor allem als Gedächtnis-
stütze für ein ursprünglich mündlich vermitteltes Wissen unter den Bedingun-
gen des Übergangs in die Schriftlichkeit dienen. Sie wären dann mnemotechni-
sche Hilfestellungen für denjenigen, der bereits weiß, was mit ihnen gemeint ist.
Wenn es sich bei der Bildlichkeit der Alchemie um eine Übernahme poeti-
scher Verfahren zum Zweck der Verschlüsselung handelt, ist damit auch schon
ein Hinweis auf den religiösen Kontext der vormodernen Alchemie gegeben.
Der letzte Holzschnitt des Rosarium zeigt den auferstandenen Christus über
einem geöffneten Grab. In den begleitenden Versen heißt es: Nach meinem viel
und manches Leiden vnnd Marter groß/ | Bin ich erstanden/ clarificiert vnd aller mackel
bloß. Damit wird die Reinigung und Läuterung der Materie, wie sie sich im che-
mischen Prozess vollzieht, mit der Auferstehung Christi und seiner Lösung vom
irdischen Körper parallelisiert. Im begleitenden Prosatext des Rosarium wird
diese Analogie allerdings gar nicht erwähnt, 21 was die mnemotechnische Moti-
vation dieser Abbildung nur umso deutlicher macht. Auch die Tatsache, dass
gerade dieses Bild (und die beiden vorhergehenden) der handschriftlich tradier-
ten Fassung des Sol und Luna-Bildgedichtes nachträglich für den Druck einge-
fügt wurde, 22 unterstützt diese These. Wenn es sich bei den Abbildungen um
mnemotechnisch motivierte Hilfestellungen handelt, spricht wenig dagegen,
dass jeder Bearbeiter und Herausgeber diese Hilfestellungen bearbeitet und
erweitert.
Allgemein spielen im Rosarium christliche oder überhaupt religiöse Glau-
bensinhalte keine nennenswerte Rolle. Auch damit ist das Rosarium nicht unty-
pisch für die alchemische Textwelt des späten Mittelalters. Zwar gibt es Texte
wie die Aurora consurgens aus dem 14. oder frühen 15. Jahrhundert, die wohl den
alchemischen Prozess mit dem Läuterungsprozess der Seele analogisiert, oder
wie das Buch der Heiligen Dreifaltigkeit (1410-19), 23 aber auch diese Texte entfalten
keine religiös aufgeladene Alchemie, sondern bringen religiöse Inhalte in ein
metaphorisches Verhältnis zu chemischen Prozessen – oder anders gesagt, sie
verwenden chemische Prozesse als allegorische Bildgeber. 24 Das ist theologisch
harmlos, und damit unterscheidet sich die allegorische Deutung chemischer
Prozesse nicht von der allegorischen Deutung von Pflanzen, Himmelserschei-
nungen oder etwa der antiken Mythologie. Auch die Alchemie der Aurora
consurgens und des Buchs der Heiligen Dreifaltigkeit ist mit diesen allegorischen
Deutungen kein Phänomen der Religionsgeschichte, sondern tut nur das, was im
Mittelalter und in der Frühen Neuzeit überall zu beobachten ist: Sie deutet Er-
scheinungen der Natur und Geschichte allegorisch auf das Heilsgeschehen hin
aus. Erst mit dem Paracelsismus bekommt die Alchemie eine spirituelle, religiö-
se Dimension.
23 Zur Aurora consurgens vgl. den Artikel von Joachim Telle in: Lexikon des Mittelalters Bd.1.
München, Zürich 1980, S. 1245f., zum Buch der Heiligen Dreifaltigkeit den Artikel „Ulmannus“
von Telle in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon Bd. 11: Nachträge und
Korrekturen. Berlin, New York 2004, Sp. 1573–1580.
24 Vgl. auch den Befund von Joachim Telle: Art. Alchemie II (Anm. 2), S. 208 („Zwischen Al-
chemie und Theologie kamen erst seit der frühen Neuzeit tiefergehende Konflikte auf.“)
sowie den Befund von Principe und Newman: Some Problems with the Historiography of
Alchemy (Anm. 10), S. 399: „But in all these interactions of alchemy with spirituality, it is
clear that alchemy functions as a source of tropes and imagery for rhetorical embellishment
or didactic exemplification rather than as an inherently spiritual exercise which elevates the
practitioner by some exoteric illumination“.
25 Zum Paracelsismus vgl. die umfassende Dokumentation: Corpus Paracelsisticum. Doku-
mente frühneuzeitlicher Naturphilosophie in Deutschland. Hrsg. und erläutert von Wilhelm
Kühlmann und Joachim Telle. Tübingen 2001–2013. Insbesondere die Einleitungen in die
einzelnen Bände bieten einen hervorragenden Überblick. Grundlegend zum religionsge-
schichtlichen Kontext sind außerdem Carlos Gilly: ‚Theophrastica sancta‘. Der Paracelsis-
mus als Religion im Streit mit den offiziellen Kirchen. In: Analecta Paracelsica. Studien zum
Nachleben Theophrast von Hohenheims im deutschen Kulturgebiet der frühen Neuzeit.
Hrsg. von Joachim Telle. Stuttgart 1994, S. 425–488 und zwei Arbeiten Wilhelm Kühlmanns,
vgl. ders.: Paracelsismus und Hermetismus: Doxographische und soziale Positionen alterna-
tiver Wissenschaft im postreformatorischen Deutschland. In: Antike Weisheit und kulturelle
Praxis. Hermetismus in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Anne-Charlott Trepp und Hartmut
Lehmann. Göttingen 2001, S. 17–39 und ders.: Das häretische Potential des Paracelsismus –
gesehen im Licht seiner Gegner. In: Heterodoxie in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Hartmut
Laufhütte und Michael Titzmann. Tübingen 2006, S. 217–242.
26 Hanns-Peter Neumann: Wissenspolitik in der frühen Neuzeit am Beispiel des Paracelsis-
mus. In: Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch. Hrsg. von
Herbert Jaumann. Berlin, New York 2011, S. 255–304.
27 Zur paracelsistischen Signaturenlehre am Beispiel Crolls vgl. Wilhelm Kühlmann: Oswald
Crollius und seine Signaturenlehre: Zum Profil hermetischer Naturphilosophie in der Ära
Rudolphs II. In: Die okkulten Wissenschaften in der Renaissance. Hg. von August Buck.
Wiesbaden 1992, S. 103–123.
Auf Aristoteles und Plinius könne man „scheißen“, heißt es wörtlich im Buch
Paragranum. 28 Auch diese Wortwahl gehört zum antiakademischen Gestus.
Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit über die paracelsistische Alchemie
als Wissensform. Mit dem ‚Licht der Natur‘ beruft sich der Paracelsismus nicht
nur auf ein neues, empirisches Wissen, sondern – indem dieses ‚Licht der Natur‘
mit dem ‚Licht der Gnade‘ identifiziert wird – auch auf ein ‚spirituelles‘, religiö-
ses Wissen. Die Natur spricht nur deshalb zum paracelsistischen Arztalchemi-
ker, weil Gott als spirituell in dieser Natur anwesend gedacht wird. Diese An-
nahme einer spirituellen Präsenz Gottes in der Materie knüpft sich meist an die
Auslegung der „Genesis“ und erscheint damit als „mosaische Physik“ (physica
mosaica), das heißt als eine aus dem Schöpfungsbericht abgeleitete Chemie. 29
Weil die Schöpfung der Welt sich nach Gen. 1.1-2 („Am Anfang schuf Gott
Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der
Tiefe, und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser.“) als eine ‚Begeisterung‘
der primordialen Materie („Wasser“) vollzog, ist der göttliche Geist das lebens-
erhaltende Prinzip der Natur. Heinrich Khunrath kann die Natur geradezu mit
dem göttlichen Geist identifizieren:
Freylich ist die Natur ein Höchstweises/ sich selbst bewegendes/ leben-
digmachendes/ vberaus sehr mechtiges vnd wunderthetiges Licht vnd
Fewer/ ja ein mechtig-krefftiger Geist/ oder Geistliche krafft/ von dem Al-
lerweisesten/ Ewigen/ lebendigen/ Allmechtigen vnd wunderbaren drey-
einigen Gott (der ein Fewer vnd Geist ist) selbst herfliessende/ in das erst
Weld-anfangs erschaffene Hylealische/ das ist/ Pri-materialische wesse-
rige Chaos eingehende/ dasselbige seeligende vnnd auch schwengerende/
vnd das gantze daraus erbawete Gebew der grossen Weld/ bis an sein
von Gott demselben angesatztes ende/ erhaltende. 30
28 Paracelsus: Das Buch Paragranum. In ders.: Werke. Hrsg. von Will-Erich Peuckert. Bd. 1:
Medizinische Schriften. Darmstadt 1965, S. 495–584, hier S. 501f.
29 Zur physica mosaica vgl. Stephan Meier-Oeser: Das kosmogonische Modell der ‚physica
mosaica‘. In: Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. 4: Das Heilige Römische Reich Deut-
scher Nation, Nord- und Ostmitteleuropa. Hg. von Helmut Holzhey und Wilhelm Schmidt-
Biggemann. Basel 2001, S. 12f. und die Hinweise von Kühlmann und Telle in Corpus Para-
celsisticum Bd. 2 (Anm. 25), S. 669f.
30 Heinrich Khunrath: Vom hylealischen, das ist/ pri-materialischen catholischen oder allge-
meinen natürlichen Chaos, der naturgemässen Alchymiae und Alchymisten. Frankfurt a.M.
1708. Ndr. mit einer Einführung von Elmar R. Gruber, Graz 1990, S. 67. Zu Khunraths Al-
chemie vgl. vor allem die Arbeiten von Peter Forshaw, darunter insbesondere Peter J.
Forshaw: Curious Knowledge and Wonder-Working Wisdom in the Occult Works of Hein-
rich Khunrath. In: Curiosity and Wonder from the Renaissance to the Enlightenment. Hrsg.
von R.J.W. Evans und Alexander Marr. Ashgate 2006, S. 107–129; Peter J. Forshaw: Subli-
ming Spirits: Physical-Chemistry and Theo-Alchemy in the Works of Heinrich Khunrath
(1560–1605). In: Mystical Metal of Gold. Essays on Alchemy and Renaissance Culture. Hrsg.
von Stanton J. Linden. New York 2007, S. 255–275; Peter Forshaw: Alchemy in the Amphi-
theatre. Some Considerations of the Alchemical Content of the Engravings in Heinrich
Ähnliche Überzeugungen finden sich bei Alexander von Suchten, Oswald Croll,
Heinrich Nolle, Abraham von Franckenberg und Johann Baptist van Helmont
und dürften zum Kernbestand des Paracelsismus gehören. Entscheidend bei
dieser Annahme einer spirituellen Präsenz Gottes in der Natur ist für den Para-
celsismus als Wissensform dabei die religiöse Aufladung des naturphilosophi-
schen, medizinischen Wissens. Aufgrund der spirituellen Präsenz Gottes in der
Natur hat der Paracelsist es niemals nur mit den natürlichen Eigenschaften der
Dinge zu tun, sondern immer auch mit übernatürlichen, eben spirituellen Eigen-
schaften.
Die medizinische Instrumentalisierung dieser im wörtlichen Sinne überna-
türlichen Eigenschaften nennt der Paracelsismus Magie, und auch das ist in
erster Linie als eine gezielte Provokation der akademischen Wissenschaften zu
verstehen. Magie und Alchemie erscheinen vor allem als eines, nämlich als wirk-
same Beherrschung der Natur im Gegensatz zum wirkungslosen Geschwätz der
akademischen Ärzte und Professoren.
So etwa heißt es bei Alexander von Suchten, die menschliche Vernunft sei
immer trügerisch, das wahre Wissen dagegen sei das Wissen der Magie. 31 Dieses
magische Wissen bekomme niemand ohne Offenbarung deß H. Geistes/ und Einge-
bung Gottes, er sey Baccalaureus, Meister/ oder Doctor. 32 Oswald Croll ist sich sicher,
dass nicht durch die Vernunft, nicht mit Syllogismis oder Schlußreden/ sondern
Reipsa oder mit der That der Betrug der Schulen widerlegt werde. Wo prächtige Titul
zugegen, da sei keine Demut, kein wahrhaft christliches Leben und also auch
keine Präsenz des Heiligen Geistes zu erwarten, sondern nur tieffe Finsternuß
und der Zanck der vnrühigen vermeinten Gelährten. 33 Der academische Geist steht als
ein Geist der Zanksucht dem Heiligen Geist konträr entgegen. 34
1648 beschreibt Johann Baptist van Helmont, der mit seinem ganzen Leben
und Werk paradigmatisch den Antiakademismus der paracelsistischen Medizin
und Alchemie illustriert, in seinem Ortus Medicinae seinen eigenen Erkenntnis-
prozess als eine Abkehr von der Vernunft. Wenn Salomon den Geist des Men-
schen eine Leuchte nenne, so meine er damit, daß die geheimen Wissenschaften der
Dinge/ von dem Vater des Lichts/ vermittelst dieser Lampe in uns eingestrahlet werden.
Khunrath’s Amphitheatre of Eternal Wisdom (1609). In: Art and Alchemy. Hrsg. von Jacob
Wamberg. Kopenhagen 2006, S. 195–220.
31 Alexander von Suchten: Vom Antimonio Oder Spießglaß. In ders.: Chymische Schrifften.
Hrsg. von Ulrich C. Dagitza. Frankfurt a.M. 1680, S. 229–304, hier S. 247.
32 (Pseudo-)Alexander von Suchten: Dialogus. In: Alexander von Suchten: Chymische Schrif-
ten. Hrsg. von Ulrich C. Dagitza. Frankfurt a.M. 1680, S. 305–356, hier S. 317.
33 Oswald Croll: Basilica Chymica Oder Alchymistisch Königlich Kleinod. Frankfurt a.M. 1623,
S. 59.
34 Croll: Basilica chymica (Anm. 33), S. 73.
Die natürliche angeschaffne Erkänntnus sei deshalb viel edler und gewisser als jede
akademisch-institutionell vermittelte Erkenntnis. 35
Dieser paracelsistische Antiakademismus richtet sich nicht nur gegen die
medizinische Fakultät, sondern auch gleichermaßen gegen die theologische.
Ausdrücklich hatte Luther die Möglichkeit einer unmittelbaren Inspiration oder
überhaupt einer außerbiblischen Offenbarung Gottes bestritten. Was Gott den
Menschen zu sagen hatte, stand in der Bibel, und auf deren richtiges Verständnis
kam deshalb alles an. Glaube, so konnte es damit scheinen, war das Ergebnis
eines langen Studiums, mithin eines Wissens, das nur an den Universitäten zu
erhalten war. In der Konsequenz hatte das Luthertum eine Fixierung auf die
‚Schrift‘ und das ‚äußere Wort‘ der Bibel entwickelt, die in der zweiten Hälfte
des 16. Jahrhunderts – also zeitgleich mit dem Erstarken des Paracelsismus –
eine akademische Theologie hervorgebracht hatte, die mit ihren philologisch-
hermeneutischen Exzessen alles bis dahin Bekannte in den Schatten stellte.
Gegen diese Intellektualisierung und Rationalisierung des Glaubens einer als
‚tote Orthodoxie‘ geschmähten akademischen Theologie richtet sich der Ruf
nach einer ‚lebendigen Gotteserfahrung‘ und einer ‚gelebten Frömmigkeit‘ (pra-
xis pietatis), wie das Schlagwort bis hin zur Entwicklung des Pietismus lauten
wird. Diese Konvergenz von Paracelsismus und betont antiakademischer Fröm-
migkeit kommt in der Person Johann Arndts – des späteren Generalsuperinten-
denten des Fürstentums von Braunschweig-Lüneburg, der während seines Me-
dizinstudiums mit dem Paracelsismus bekannt geworden sein dürfte – am präg-
nantesten zum Ausdruck. Während seine äußerst einflussreichen Vier Bücher
vom wahren Christentum (1606 ff.) sich als eine Art Anleitung zur Frömmigkeit
verstehen und sich nur implizit gegen die akademische Theologie richten, bietet
seine nur handschriftlich überlieferte Oratio. Welcher gestalt die uhralte Philosophia,
und Göttliche Weißheit der alten weysen wiederumb zu erlangen. Item Von Eytelkeit der
Wissenschafften und Künsten dieser itzigen Zeit (1580) einen expliziten und in ihrer
Aggressivität kaum zu überbietenden Angriff auf die akademisch institutionali-
sierte Theologie und Medizin. 36
Auch bei Arndt äußert sich die Kritik des akademischen Wissens als eine Be-
rufung auf das ‚uralte‘ Wissen der Magie, in diesem Fall bereits parallelisiert mit
einer weiteren, gleichermaßen ‚uralten‘ wie antiakademischen Wissensform,
nämlich der jüdischen Kabbala. Diese Parallelisierung von Alchemie, Magie und
Kabbala im Zeichen des Paracelsismus findet sich programmatisch auch in
35 Zitiert nach der deutschen Übersetzung Jan Baptista von Helmont: Aufgang der Artzney-
Kunst. Sulzbach 1683. Ndr. München 1971, S. 21.
36 Zu Arndt vgl. Hanns-Peter Neumann: Natura sagax – die geistige Natur: zum Zusammen-
hang von Naturphilosophie und Mystik in der frühen Neuzeit am Beispiel Johann Arndts.
Tübingen 2004 und das leider schwer lesbare Buch von Hermann Geyer: Verborgene Weis-
heit. Johann Arndts Vier Bücher vom Wahren Christentum als Programm einer spiritualistisch-
hermetischen Theologie. 2 Bde. Berlin, New York 2001. Hanns-Peter Neumann bereitet eine
Edition der Wolfenbütteler Handschrift von Arndts Oratio vor.
Oswald Crolls Basilica chymica (1609). Die Kabbala steht dort für den theologi-
schen, die Magie für den astrologisch-makrokosmischen und die Alchemie für
den medizinisch-mikrokosmischen Aspekt des paracelsistischen Wissens. Genau
dieselbe Analogie figuriert in Heinrich Khunraths Amphitheatrum sapientiae ae-
ternae (1595/1609) wirkmächtig schon im vollständigen Titel: Amphitheatrum
sapientiae aeternae solius verae, christiano-kabalisticum, divino-magicum, nec non phy-
sico-chymicum, tertriunum, catholicon. Mit seinen Kupferstichen bietet das Am-
phitheatrum die eindrücklichste Darstellung der gleichermaßen alchemischen,
magischen und kabbalistischen Erkenntnisform. 37
Diese Verbindung von Alchemie, Magie und Kabbala ist für die ältere Al-
chemie keineswegs selbstverständlich. Im 16. Jahrhundert ist sie ein Spezifikum
des Paracelsismus und erklärt sich vor allem aus dessen Antiakademismus.
Wenn seit dem 18. Jahrhundert Magie und Alchemie ganz selbstverständlich
nebeneinander gestellt werden, dürfte das auf die Zeitenwende zurückgehen,
die mit dem Paracelsismus eingesetzt hat und im Laufe des 17. Jahrhunderts
zunehmend Geltung erlangt. Im Mittelalter jedenfalls scheinen Magie und Al-
chemie noch nicht als verwandte Wissensformen wahrgenommen worden zu
sein. Noch im Neuplatonismus der Renaissance um 1500 ist die Verbindung
bestenfalls ansatzweise vorhanden. Weder Marsilio Ficino, der in seinen De vita
libri tres (1489) die einflussreichste Theorie der Magie entwickelt, 38 noch Agrippa
von Nettesheim, der mit seiner Occulta philosophia (1510/31) die wichtigste Sys-
tematisierung der Magie liefert, stellt eine Verbindung zur Alchemie her. Agrip-
pa bestreitet in der Occulta philosophia die Möglichkeit einer Transmutation von
Metallen sogar ausdrücklich.
Interessanterweise verknüpft trotzdem Erasmus in einer kritischen Reaktion
auf Agrippas Occulta philosophia bereits Alchemie, Magie und Kabbala 39 und
Julius Cäsar Scaliger spottet 1557 in seinen Exercitationes exotericae in einem Zug
über Alchemie und Magie. Allerdings sieht Scaliger deren Gemeinsamkeit nicht
in ihrem ‚okkulten‘ Charakter, sondern in ihrer Wirkungslosigkeit. 40 Damit greift
er ein durchaus gängiges Argument der scholastischen Magie-Diskussion auf,
das sich gut in seine Polemik gegen die qualitates occultae als asylum ignorantiae
fügt. Die Annahme ‚verborgener Eigenschaften‘ der Dinge, deren sich die Magie
bedient, ist demnach nur ein Symptom von Unwissenheit. Das richtet sich auch
gegen Agrippa, der mit seinem Begriff einer occulta philosophia keinesfalls einen
modernen Begriff von ‚okkult‘ verwendet, sondern nur die gängige scholastische
Unterscheidung zwischen manifesten und verborgenen, im Sinne des Wortes
also ‚okkulten‘ Ursachen aufgegriffen hatte. Gegen deren Ausweitung polemi-
siert Scaliger mit seinem aristotelischen Begriff von scientia als Ursachen-
forschung. 41
Wenn im Laufe des 16. Jahrhunderts Magie und Alchemie gemeinsam zu
‚okkulten‘ Wissenspraktiken im modernen Sinne werden – also Wissensprakti-
ken, bei denen es jetzt um übernatürliche Ursachen geht – impliziert das auch
für den Begriff der Magie eine massive Umdeutung. Frank Fürbeth hat gezeigt,
dass es im Mittelalter zwei Traditionen gibt, was die Beurteilung der Magie
betrifft: eine kirchliche Tradition, „die jedes magische Verfahren als pagan-dä-
monisch und damit superstitiös“ disqualifizierte, und eine insbesondere an den
artes-Fakultäten beheimatete Tradition, in der die magischen Verfahren als Er-
forschung verborgener Ursachen (wie vor allem der stellaren Einflüsse) betrie-
ben wurde. 42 Während die Theologen die Magie qua impliziertem Dämonenpakt
ablehnten, verteidigten die Vertreter der artes-Fakultäten die Magie als Natur-
philosophie.
Wenn Magie und Alchemie also im Verlauf des 16. und 17. Jahrhunderts mit
der Umdeutung der verborgenen Ursachen zu übernatürlichen Ursachen auch
zu ‚okkulten‘ Wissenspraktiken im modernen Sinne wurden, ist eine Verteidi-
gung der Magie als naturphilosophische Ursachenforschung nicht mehr mög-
lich. 43 Dieser These ist der folgende Abschnitt gewidmet: Erst die Paracelsisten,
die sich bewusst und offensiv zu einer Magie als übernatürlicher Praxis bekann-
ten, machten eine Verteidigung der Magie als Erforschung verborgener, aber
natürlicher Ursachen unmöglich. Magie und Alchemie werden zu ‚okkulten‘
Wissensformen im modernen Sinne.
41 Zum Begriff der qualitates occultae und seiner Umdeutung in der Frühen Neuzeit vgl. Paul
Richard Blum: Qualitates occultae. Zur philosophischen Vorgeschichte eines Schlüsselbe-
griffs zwischen Okkultismus und Wissenschaft. In: Die okkulten Wissenschaften in der Re-
naissance. Hrsg. von August Buck. Wiesbaden 1992, S. 45–64.
42 Frank Fürbeth: Die Stellung der artes magicae in den hochmittelalterlichen ‚Divisiones phi-
losophiae‘. In: Artes im Mittelalter. Hrsg. von Ursula Schaefer. Berlin 1999, S. 249–262, hier
S. 260; sowie Frank Fürbeth: Zum Begriff und Gegenstand von Magie im Spätmittelalter. Ein
Forschungsproblem oder ein Problem der Forschung? In: Jahrbuch der Oswald von Wol-
kenstein Gesellschaft 12 (2000), S. 411–422.
43 Zur Entstehung des Gegensatzes von ‚okkulten‘ und ‚exakten‘ Wissenschaften vgl. Chris-
toph Meinel: Okkulte und exakte Wissenschaften. In: Die okkulten Wissenschaften in der
Renaissance. Hrsg. von August Buck. Wiesbaden 1992, S. 21–43, der dem Gegensatz von
‚okkulten‘ und ‚exakten‘ Wissenschaften jede Relevanz in historischem Kontext bestreitet.
44 Bruce T. Moran: Andreas Libavius and the Transformation of Alchemy. Separating Chemi-
cal Cultures with Polemical Fire. Sagamore Beach, Ma. 2007.
45 Insbesondere zum religiösen Kontext dieser Schrift vgl. Michael Hunter: The Reluctant
Philanthropist: Robert Boyle and the Communication of Secrets and Receits in Physick. In
ders.: Robert Boyle (1627–91). Scrupulosity and Science. Woodbridge 2000, S. 202–222.
46 Andreas Libavius: Rerum chymicarum epistolica forma. Frankfurt a.M. 1595, Liber primus,
praefatio ad lectorem, f. *7r.
47 Libavius’ ausführliche Rechtfertigung der Alchemie und ihre Abgrenzung gegenüber dem
Paracelsismus im Vorwort der Commentariorum Alchymiae, Frankfurt 1606, S. 1–68 ist gegen
das Pariser Urteil gerichtet.
50 Michael T. Walton: Genesis and the Chemical Philosophy. True Christian Science in the
Sixteenth and Seventeenth Centuries. New York 2011, Vorwort S. XIII.
51 Nahe gelegt wird dieser Befund von Moran: Libavius (Anm. 44), er verdiente allerdings eine
genauere Untersuchung. Die Möglichkeit von Wundern wird damit nicht geleugnet, denn
sie gelten gerade als Aufhebung der natürlichen Ursachen.
52 Zur Transformation der qualitates occultae in der Frühen Neuzeit vgl. Blum: Qualitates occul-
tae (Anm. 41).
Libavius und den Paracelsisten einen Punkt erreicht, an dem sich die spätere
Unterscheidung zwischen der Alchemie als einer im religiösen Sinne ‚spirituel-
len‘, ‚okkulten‘ Wissensform und der modernen Chemie als einer mechanisti-
schen Materialwissenschaft ankündigt, wie sie dann im 18. Jahrhundert zur
Entfaltung kommen wird.
In maximalem Gegensatz zu Khunraths Bestimmung der Natur als ein
Höchstweises/ sich selbst bewegendes/ lebendigmachendes/ vberaus sehr mechtiges vnd
wunderthetiges Licht vnd Fewer/ ja ein mechtig-krefftiger Geist/ oder Geistliche krafft
(vgl. Zitat oben) heißt es bei Robert Boyle in der Tradition von Libavius und
Sennert, unmittelbar aber natürlich im Gefolge des cartesianischen Mechanis-
mus, Gott hätte die Natur als eine „Maschine“ konstruiert, die „durch den blo-
ßen Behelf der rohen Materie“ (by the mere contrivance of brute matter) und bewegt
nur durch certain laws of local motion, mithin durch mechanische Ursachen, am
Laufen gehalten werde. Die Weisheit Gottes bezeuge sich in der Perfektion, mit
der er diese Maschine konstruiert habe. 53 Spätestens in der Mitte des 17. Jahr-
hunderts ist damit der Konflikt zwischen einem spiritualistischen und einem
mechanistischen Naturbegriff, wie er sich in der Auseinandersetzung von Liba-
vius mit den Paracelsisten ankündigte, manifest geworden. Im Falle von Boyle
kommt er in der Auseinandersetzung mit dem Cambridger Platoniker Henry
More zum Ausdruck. 54 Mit seinem Begriff einer plastic nature vertritt dieser ei-
nen spiritualistischen Naturbegriff, der vom Paracelsismus inspiriert gewesen
sein dürfte.
Wie bei Libavius und Sennert ist auch bei Boyle die mechanistische Konzep-
tion der Natur religiös keineswegs indifferent. Boyle hat im selben Maße theolo-
gische wie chemische Schriften verfasst. In den theologischen Schriften versteht
er seine experimentalphilosophischen Studien geradezu als religiöse Tätigkeit.
The Usefulness of Experimental Philosophy heißt eine Schrift von 1663, wobei es
dabei nur um den Nutzen der Experimentalwissenschaft für die Theologie geht.
The Christian Virtuoso: shewing that by being addicted to experimental philosophy, a
man is rather assisted than indisposed to be a good Christian, lautet der analoge Titel
einer Schrift von 1690.
53 Robert Boyle: A Free Enquiry Into the Vulgarly Receiv’d Notion of Nature. In ders.: Works
Bd. 10. Hrsg. von Michael Hunter und Edward B. Davis. London 2000, S. 437–571, hier
S. 447: And as it more recommends the skill of an Engineer, to contrive an Elaborate Engine, so as
that there should need nothing to reach his ends in it, but the contrivance of parts devoid of under-
standing; […] so it more sets off the Wisdom of God in the Fabrick of the Universe, that he can make
so vast a Machine, perform all those many things which he design’d it should, by the meer contriv-
ance of Brute matter, managed by certain Laws of Local Motion and upheld by his ordinary and gen-
eral concourse […].
54 Zur Auseinandersetzung zwischen Boyle und More vgl. John Henry: Henry More versus
Robert Boyle. The Spirit of Nature and the Spirit of Providence. In: Henry More (1614–1687).
Tercentenary Studies. Hrsg. von Sarah Hutton. Dordrecht 1990, S. 55–76.
59 Hans-Werner Schütt: Auf der Suche nach dem Stein der Weisen. Die Geschichte der Alche-
mie. München 2000. Auch wenn der Ausdruck „anständige Naturwissenschaft“ dort S. 476
ironisch gebraucht wird, illustriert er das historische Konzept Schütts. Ein ganz ähnliches
Konzept liegt auch Bernhard D. Haage: Alchemie im Mittelalter. Ideen und Bilder – von Zo-
simos bis Paracelsus. Zürich, Düsseldorf 1996 zugrunde, wenn Haage die Alchemie aus-
drücklich mit „Esoterik“, „Bildlichkeit“ und „Mystik“ verrechnet, die Chemie dagegen mit
einer „nüchternen Experimentalwissenschaft“, die sich in der Moderne vollständig von der
Alchemie getrennt habe.
60 Schütt: Geschichte der Alchemie (Anm. 59), S. 484. Ganz ähnlich auch Schütts Urteil über
Helmont, den er S. 468 als „Grenzfall“ zwischen Chemie und Alchemie charakterisiert.
61 Principe: The Aspiring Adept (Anm. 57).
62 Telle: Sol und Luna (Anm. 15), S. 66, sowie Telle: Bemerkungen zum Rosarium Philosophorum
(Anm. 3), S. 199. Allgemein zum Komplex der alchemischen Lehrdichtung in der Frühen
Neuzeit vgl. die gesammelten Studien von Joachim Telle: Alchemie und Poesie. Deutsche
Alchemikerdichtungen des 15. bis 17. Jahrhunderts. Untersuchungen und Texte. Berlin,
New York 2013.
63 Vgl. Jörg Völlnagel: Splendor solis oder Sonnenglanz. Studien zu einer alchemistischen Bil-
derhandschrift. München, Berlin 2004, sowie die Beiträge in Bd. 2 von: Splendor Solis.
Handschrift 78D3 des Kupferstichkabinetts der Staatlichen Museen zu Berlin, Preußischer
Kulturbesitz. Gütersloh, München 2005.
64 Die Ausgabe 1625 ist unter dem Titel Ein Tractat vom Philosophischen Stein erschienen in:
Dyas chymica tripartita. Hrsg. von Hermann Condeesyanus [Johannes Rhenanus]. Frankfurt
a.M. 1625, S. 83–117. Die Zentralbibliothek Zürich besitzt ein illuminiertes Manuskript aus
dem Jahr 1556, vgl. http://dx.doi.org/10.7891/e-manuscripta-6275. (26. 8. 2014)
65 Joachim Telle: Art. Lamspring. In: Killy Literaturlexikon. 2. Auflage. Hrsg. von Wilhelm
Kühlmann u.a. Berlin, New York 2010, Bd. 7, S. 184–18, hier S. 185.
66 Claus Priesner: Basilius Valentinus und die Labortechnik um 1600. In: Berichte zur Wissen-
schaftsgeschichte 20 (1997), S. 159–172; Lawrence Principe: „Chemical Translation“ and the
Role of Impurities in Alchemy: Examples from Basil Valentine’s Triumph-Wagen. In: Ambix
34 (1987), S. 21–30.
67 Grundlegend zu Maier ist Erik Leibenguth: Hermetische Poesie des Frühbarock. Die Canti-
lenae intellectuales Michael Maiers. Tübingen 2002.
Abbildung aus dem Lamspring, erschienen als: Ein Tractat vom Philosophischen Stein. In: Dyas
chymica tripartita. Hrsg. von Hermann Condeesyanus [Johannes Rhenanus]. Frankfurt a.M.
1625, S. 83–117, hier S. 101: „Die siebende Figur“. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der
Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Auf der hier nicht mit abgebildeten, gegenüberliegen-
den Seite stehen die dazugehörigen Verse: Es wird ein Nest im Wald gefunden | Hermetis Vogel
drinn hat sein Jungen/ | Der eine stets auffliegen will/ | Der ander im Nest lieget still/ | Der ein den
andern nicht will verlassen/ | Sondern behelt ihn bester massen/ | Das müssens im Nest zusammenblei-
ben | Als ein Mann im Haus mit seim Weibe/ | In der Eheschafft aufs best verbunden | Das wir vns
frewn zu allen stunden | Daß wir sie sampt haben behalten | Vnd lassens Gott den Vatter walten.
Basilius Valentinus: Vier Tractätlein. In: Dyas chymica tripartita. Hrsg. von Hermann Condee-
syanus [Johannes Rhenanus]. Frankfurt a.M. 1625, S. 5: „Erster Schlüssel“. Abdruck mit freund-
licher Genehmigung der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel.
auch schon sehr deutlich, es handle sich bei dieser um poëtische Gedichte, verblüm-
te Redens-Arten, Bilder und Emblemata (ficta, poëtica et allegorica, picta, emblemati-
ca). 68 Maier hat die Atalanta damit klar als poetischen Text ausgewiesen.
Das besagt auch, dass es sich bei dem in der Atalanta vermittelten Wissen
nicht um Magie im Sinne des Paracelsismus oder um irgendwelche anderen
Formen von ‚Mystik‘ oder ‚Okkultismus‘ handelt. 69 Genauso wenig findet man
in der Atalanta konkrete chemische Anweisungen. Die Texte der Atalanta verrät-
seln und verschlüsseln ein allgemein naturphilosophisches, im heutigen Sinne
biologisches und chemisches Wissen. Die musikalische und bildliche Rahmung
macht dieses Sachwissen „sinnfällig“, indem sie ihm eine sinnliche, visionelle
und akustische Form gibt. Das ist auf jeden Fall eine Form der Veranschauli-
chung, wenn auch nicht unbedingt eine Form der Erklärung.
Gerade mit dieser eher abseitigen Form der Wissensvermittlung macht die
Atalanta fugiens deutlich, dass es einen Gegensatz zwischen ‚Literatur‘ und ‚Wis-
senschaft‘, wie er für die Moderne zumindest in bestimmten Facetten konstitutiv
ist, in der Frühen Neuzeit nicht gegeben hat. Martin Opitz hat 1624 in seinem
Buch von der deutschen Poeterey – also zeitgleich mit der Atalanta fugiens und dem
68 Michael Maier: Atalanta fugiens. Oppenheim 1618, S. 8. Ich zitiere die Übersetzung von
1708, vgl. Michael Maier: Chymisches Cabinet. Atalanta fugiens deutsch nach der Ausgabe
von 1708. Hrsg. von Thomas Hofmeier. Berlin, Basel 2007, Vorrede S. 77.
69 Vgl. allerdings dagegen Tilton: Quest for the Phoenix (Anm. 10), der die Atalanta weiterhin
in der Tradition von Carl Gustav Jung als Ausdruck einer „spirituellen Alchemie“ liest.
von Merian illustrierten Lamspring – die Dichtung als eine sinnreiche faßung aller
sachen mit dem Zweck der vberredung vnd vnterricht auch ergetzung der Leute defi-
niert. 70 Das ist keine Leerformel, sondern wörtlich zu nehmen. Um genau eine
solche sinnreiche, das heißt sinnlich ansprechende faßung oder „Veranschauli-
chung“ von chemischem und biologischem Sachwissen handelt es sich bei der
Atalanta fugiens. Genauso, wie sich Maier in seiner Septimana philosophica (1620) –
einem Lehrgespräch zwischen Salomon und der Königin von Saba – der dialogi-
schen Form bedient, um das vermittelte Wissen interessant zu machen, bedient
er sich in der Atalanta der Bilder und der Musik.
Solche ‚Veranschaulichungen‘ von naturphilosophischem Wissen sind um
1600 ein kommerzieller Erfolg. 1624 veranstaltet der Verleger Lucas Jennis unter
dem Titel Viridarium Chymicum (Chymisches Lustgärtlein) eine Sammelausgabe
der alchemischen Kupferstiche aus den Werken von Daniel Mylius und Michael
Maier, wobei es in erster Linie darauf ankam, die wertvollen Kupferplatten ein
zweites Mal zu verwenden. Daniel Stoltzius, den Jennis damit beauftragt, die
Kupferstiche mit begleitenden Versen zu versehen, gesteht im Vorwort mit dan-
kenswerter Offenheit ein, im Verlauf der Arbeit gemerkt zu haben, dass die Be-
schreibungen mit den Figuren nicht vberein stimmeten/ ich auch jhre Außlegungen
niergend finden kunde, was ihn in grosse angst versetzt und in ein vnaufflößliche[s]
Labyrinth geführt hätte. 71
Die Bemerkung zeigt, dass schon 1624 die chemische Entschlüsselung der
Bilder als zweitrangig gegenüber ihrem enigmatischen Charakter empfunden
wurde. Man konnte anfangen, die Kupferstiche mit Versen zu versehen, ohne
genau zu wissen, was sie bedeuten. Erst waren die Kupferstiche da, dann wurde
jemand beauftragt, die ‚erklärenden‘ Verse zu schreiben. Der ‚poetische‘, rätsel-
hafte Charakter, nicht der alchemische Sinngehalt, ist das Argument für den
Abdruck der Kupferstiche – von den kommerziellen Interessen des Verlegers
einmal abgesehen. Paradigmatisch belegt diese Anekdote die Faszinationskraft
der alchemischen Bildlichkeit.
Was für die bildlichen Darstellungen gilt, dürfte auch für die literarischen
Bearbeitungen gelten, die sich der alchemischen Bildlichkeit bedienen. Genauso,
wie die Atalanta fugiens kein ‚mystisches‘ und ‚esoterisches‘ Werk ist, sind auch
die Chryseidos Libri IIII (1631) des Johann Nicolaus Furichius, 72 die Jäger-Lust
(1635) von Thomas Rappolt, 73 der Philosophische Phönix des Johann Rist, 74 die
70 Martin Opitz: Buch von der deutschen Poeterey. In ders.: Gesammelte Werke. Hrsg. von
George Schulz-Behrend, Bd. II.1. Stuttgart 1978, S. 331–416, die Zitate hier S. 360 und S. 351.
71 Daniel Stoltzius von Stolzenberg, unpag. Vorrede. In: Chymisches Lustgärtlein. Frankfurt
a.M. 1624. Ndr. Darmstadt 1987. Zu Kontext und Entstehungsgeschichte vgl. Telle: Sol und
Luna (Anm. 15), S. 65f.
72 Vgl. dazu Thomas Reiser: Mythologie und Alchemie in der Lehrepik des frühen 17. Jahr-
hunderts: die Chryseidos Libri IIII des Straßburger Dichterarztes Johannes Nicolaus Furichius
(1602–1633). Berlin, New York 2011.
73 Vgl. Rosmarie Zeller: Hermetisches Sprechen in alchemischen Texten. Die Jäger-Lust von
Thomas Rappolt. In: Konzepte des Hermetismus in der Literatur der Frühen Neuzeit. Hrsg.
von Peter-André Alt und Volkhard Wels. Göttingen 2010, S. 195–212.
74 Vgl. dazu den Beitrag von Stefanie Stockhorst in diesem Band.
75 Johann Valentin Andreae: Mythologia christiana. Straßburg 1619, S. 329; Johann Valentin
Andreae: De curiositatis pernicie syntagma ad singularitatis studiosos. Straßburg 1621. Ndr.
Schwäbisch Gmünd 1963, S. 35.
76 Johann Valentin Andreae: Christianopolis 1619. Originaltext und Übertragung nach D.S.
Georgi 1741. Eingel. und hrsg. von Richard van Dülmen. Stuttgart 1972, 44, S. 114: non exer-
cuisse hanc artem, sed inspexisse.
77 Schütt: Geschichte der Alchemie (Anm. 60), S. 401 deutet das Vordringen von Bildern in die
Alchemie als Anzeichen für das „Überhandnehmen von hermetischen oder neo-hermeti-
schen Vorstellungen“ und bringt es damit per se in einen Gegensatz zur Chemie als ‚Natur-
wissenschaft‘.
78 Rudolf Steiner: Mysteriengestaltungen. Vierzehn Vorträge. Hrsg. von Marie Steiner. Dor-
nach 1931. Neunter Vortrag vom 9. 12. 1923, S. 98–113, hier S. 110f. Dort auch alle folgenden
Zitate.
5 Schlussfolgerungen
Die vormoderne Chemie repräsentiert ein Wissen, dass die modernen Katego-
rien der ‚Wissenschaft‘, ‚Religion‘ und ‚Literatur‘ transzendiert. Eine Wissensge-
schichte dieser Chemie ist also nicht bloß interdisziplinär, sondern muss die
historische Bedingtheit der modernen Disziplinen und Kategorien selbst heraus-
arbeiten. Eine Wissenschaftsgeschichte, die ihren Wissenschaftsbegriff dagegen
aus dem bezieht, was sich im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts als ‚Wissen-
schaft‘ konfiguriert hat, wird die vormoderne Chemie immer als bloße Vorge-
schichte wahrnehmen, als „Alchemie“ im Gegensatz zur „Chemie“.
Wenn Principe und Newman aus einer ähnlichen Diagnose heraus für die
frühneuzeitliche Chemie den Begriff der „Chymistry“ vorgeschlagen haben, als
ein Kunstwort für eine Epoche, die zwischen der mittelalterlichen „Alchemy“
und der modernen „Chemistry“ vermittelt, 81 geht dieser Vorschlag noch nicht
weit genug, denn damit wird nur ein zweistufiges durch ein dreistufiges histo-
riographisches Modell ersetzt. Wichtig aber wäre, die Kontinuitäten und Dis-
kontinuitäten des chemischen Wissens jenseits aller vorher schon getroffenen
Klassifikationen, jenseits der ‚scientific revolution‘ als angeblicher Schwelle von
‚Moderne‘ und ‚Vormoderne‘ herauszuarbeiten. Indem diese ‚wissenschaftliche
Revolution‘ den Begriff der ‚Wissenschaft‘ überhaupt erst hervorbringt, eignet
sich dieser Begriff nicht, ein Wissen zu beschreiben, das noch vor der ‚Wissen-
schaft‘ liegt.
79 Einen Anfang bildet Regine Frey-Jaun: Die Berufung des Türhüters. Zur Chymischen Hochzeit
Christiani Rosenkreutz von Johann Valentin Andreae (1586–1654). Bern u.a. 1989.
80 Volker Meid: Die deutsche Literatur im Zeitalter des Barock. Vom Späthumanismus zur
Frühaufklärung 1570–1740. München 2009, S. 820. Michael Maier erfährt kaum eine nament-
liche Nennung. Das ist kein Vorwurf, denn der Band repräsentiert damit nur den Stand der
Forschung.
81 William R. Newman und Lawrence M. Principe: Alchemy vs. Chemistry: The Etymological
Origins of a Historiographical Mistake. In: Early Science and Medicine 3 (1998), S. 32–65.
Ähnliches gilt für den religionshistorischen Aspekt. Auch hier sind die Wei-
chenstellungen des 17. Jahrhunderts von einschneidender Bedeutung, insofern
der Begriff der Religion in dieser Zeit eine zunehmend schärfere Trennung zwi-
schen einem supranaturalistischen Gott und einem rein mechanisch ablaufenden
Weltgeschehen impliziert. Der Graben zwischen der mechanischen und der
moralischen Welt, zwischen ‚Religion‘ und ‚Naturwissenschaft‘ wird größer. Die
religiöse Dimension insbesondere der paracelsistischen Alchemie wird dagegen
im selben Zuge zu einer frühen Form der ‚Esoterik‘ oder des ‚Okkultismus‘ er-
klärt und in einen Topf geworfen mit der poetischen Alchemie der Chymischen
Hochzeit oder der Atalanta fugiens.
Dem gegenüber ist festzuhalten, dass die Kategorien der ‚Esoterik‘ und des
‚Okkulten‘ moderne Konstrukte sind, denen in der Vormoderne nichts ent-
spricht. Für die religiöse Konfiguration der frühneuzeitlichen Chemie entschei-
dend ist dagegen, dass mit dem mechanistischen Supranaturalismus einerseits
und dem paracelsistischen Spiritualismus andererseits zwei eigenständige reli-
giöse Aufladungen des chemischen Wissens zu beobachten sind, in denen sich
jeweils ganz unterschiedliche Konzeptionen von Religion spiegeln. Ausgehend
von ihren Vorläufern im Paracelsismus wird die ‚Esoterik‘ im Laufe des 18. und
19. Jahrhunderts genau in den Leerraum treten, den die ‚Supranaturalisierung‘
Gottes und die Mechanisierung der Natur hinterlassen haben. Der merkwür-
dige, zwischen den modernen Kategorien von ‚Wissenschaft‘ und ‚Religion‘
changierende Status der ‚Esoterik‘ dürfte sich aus dieser Herkunft erklären.
Eine Wissensgeschichte könnte schließlich auch drittens die disziplinäre Ein-
grenzung einer Literaturgeschichte aufheben. Weil man in der Frühen Neuzeit
nicht ohne weiteres zwischen sogenannten ‚Sachtexten‘ und ‚poetischen‘ Texten
unterscheiden kann, und der Begriff der ‚Literatur‘ schon ganz und gar ein Kon-
strukt des 18. Jahrhunderts ist, kann man alchemische Texte in poetischen For-
men nicht als Gegenstand einer ‚Literaturgeschichte‘ isolieren. Die Chymische
Hochzeit Andreaes oder die Atalanta fugiens Maiers sind im Sinne der Zeit poeti-
sche Texte, und das heißt: Sie vermitteln auf anschauliche Art ein sachliches
Wissen. Oder etwas präziser: Sie spielen mit dem Anspruch, ein solches Wissen
zu vermitteln. Eine Wissensgeschichte der frühneuzeitlichen Chemie könnte
dabei helfen, den poetischen Status von Texten wie der Chymischen Hochzeit
überhaupt erst zu erkennen und sie damit aus der ‚Mystik-‘ und ‚Esoterik‘-Ecke
zu befreien.
1 Vgl. u.a.: „Ewigkeit, Zeit ohne Zeit“. Gedenkschrift zum 400. Geburtstag des Dichters und
Theologen Johann Rist. Hrsg. von Johann Anselm Steiger. Neuendettelsau 2007; siehe auch
Hans-Henrik Krummacher: Lehr- und trostreiche Lieder. Johann Rists geistliche Dichtung
und die Predigt- und Erbauungsliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Vox Sermo Res.
Beiträge zur Sprachreflexion, Literatur- und Sprachgeschichte vom Mittelalter bis zur Neu-
zeit. FS Uwe Ruberg. Hrsg. von Wolfgang Haubrichs, Wolfgang Kleiber und Rudolf Voß.
Stuttgart 2001, S. 143–168; W. Gordon Marigold: Aspekte des geistlichen Liedes im 17. Jahr-
hundert. Johann Rist, Hinrich Elmenhorst, Christian Knorr von Rosenroth. In: Morgen-
Glantz 6 (1996), S. 81–98; Donald Lee Madill: Johann Rist as Hymnwriter. A Study of his Life
and Works with Particular Emphasis on his Himmlische Lieder und Sonderbahres Buch. Kansas
1985; Irmgard Scheitler: Das geistliche Lied im deutschen Barock. Berlin 1982, S. 230–271;
Leif Ludwig Albertsen: Strophische Gedichte, die von einem Kollektiv gesungen werden.
Das Zersingen, analysiert am Schicksal einiger Lieder von Johann Rist. In: Deutsche Viertel-
jahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 50 (1976), S. 84–102.
2 Vgl. u.a. Thomas Rahn: Krieg als Störfall der Rhetorik. Die Friedensspiele von Johann Rist
und Justus Georg Schottelius. In: Krieg und Rhetorik. Hrsg. von dems. Tübingen 2003, S. 43–
57; Klaus Garber: Pétrarquisme pastoral et bourgeoisie protestante: La Poésie pastorale de
Johann Rist et Jakob Schwieger. Übers. von Danielle Laforge. In: Le genre pastoral en Eu-
rope du XVe au XVIIe siècle. Hrsg. von Claude Longeon. Saint-Etienne 1980, S. 269–297, bes.
S. 273–290; Eberhard Mannack: Johann Rists Perseus und das Drama des Barock. In: Daphnis
1 (1972), S. 141–149.
3 Günter Dammann: Johann Rist als Statthalter des Opitzianismus in Holstein. Aspekte seiner
literaturpolitischen Strategie anhand der Widmungsbriefe und Vorreden. In: Literaten in
der Provinz – provinzielle Literatur? Schriftsteller einer norddeutschen Region. Hrsg. von
Alexander Ritter. Heide, Holstein 1991, S. 47–66; vgl. auch Klaus Garber: Literarischer und
kulturpolitischer Statthalter im Norden Deutschlands. Ein Portrait Johann Rists. In: „Ewig-
keit, Zeit ohne Zeit“ (Anm. 1), S. 9–36; Eberhard Mannack: Opitz und seine kritischen Ver-
ehrer. In: Martin Opitz (1597–1639). Nachahmungspoetik und Lebenswelt. Hrsg. von
Thomas Borgstedt, Walter Schmitz. Tübingen 2002, S. 272–279; sowie Ulrich Moerke: Die
Naturphilosoph hingegen ist Rist bislang sehr viel weniger erforscht, und das,
obwohl er auf diesem Gebiet keineswegs nur dilettierte, sondern vielmehr die
beiden Schwerpunkte seiner akademischen Ausbildung, die Theologie und die
Pharmazie, miteinander verknüpfte. 5 Die vergleichsweise geringe wissenschaft-
liche Aufmerksamkeit, die diesem Bereich bisher zuteilwurde, hängt vermutlich
mit der Wertungsproblematik zusammen, die sich mit den Monatsgesprächen
(1663–68) als naturwissenschaftlichem Hauptwerk Rists traditionell verband. In
Verkennung seiner anspruchsvollen kosmologischen Architektur wurde diesem
Text lange ein „seltsame[r] Mischcharakter“ 6 unterstellt. Dieses Missverständnis
wurde nicht nur durch eine grundsätzliche Barock-Aversion der älteren For-
schung begünstigt, sondern auch dadurch, dass Rist vor der Fertigstellung des
Werkes verstarb. Daher wurden die fehlenden sechs von zwölf Gesprächen
durch den Buntschriftsteller Erasmus Francisci (1627–1694) ergänzt, der jedoch
nur die äußere Form, nicht aber die kosmologischen Finessen der zyklischen
Komposition fortführte – vielleicht absichtlich mit Blick auf anders gelagerte
Publikumsinteressen, vielleicht, weil er sie selbst nicht bemerkte oder beherrsch-
te. Neuerdings werden zumindest Rists Anteile an den Monatsgesprächen nicht
nur als mögliche Vorläufer von Literaturkritik und Zeitschrift diskutiert, 7 son-
dern rücken auch als naturwissenschaftliche bzw. naturphilosophische 8 sowie
als kosmologische 9 Schriften in den Blick.
In diesen Monatsgesprächen bekennt die Figur des ‚Rüstigen‘, wie Rists Ge-
sellschaftsname bei den Fruchtbringern lautete, an mehreren Stellen eine lang-
jährige Begeisterung für die Alchemie. 10 Außerdem widmet Rist sogar das ganze
März-Gespräch (1664) diesem Gegenstand. Er beschreibt darin außerordentlich
11 Vgl. Johann Rist: Die AllerEdelste Tohrheit Der gantzen Welt, Vermittelst eines anmuhtigen
und erbaulichen Gespräches, Welches ist diser Ahrt Die Dritte, und zwahr Eine Märtzens-
Unterredung, Beschrieben und fürgestellet [1664]. In ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. von
Eberhard Mannack. Bd. 5: Epische Dichtungen (Die alleredelste Torheit, Die alleredelste Be-
lustigung). Berlin, New York 1974, S. 1–181, hier insbes. S. 163–166; van Ingen nimmt hier
irrtümlich Augenzeugenschaft an, vgl. van Ingen: Johann Rist und die Naturwissenschaften
seiner Zeit (Anm. 8), S. 505.
12 Rist: Die AllerEdelste Tohrheit (Anm. 11), S. 167f.
13 Johann Rist: Die alleredelste Zeit-Verkürtzung Der Gantzen Welt, Vermittelst eines anmut-
higen und erbaulichen Gespräches, Welches ist dieser Art die Sechste, Und zwahr eine
Brachmonats Unterredungen, Beschrieben und fürgestellet [1668]. In ders.: Sämtliche Wer-
ke. Unter Mitwirkung von Helga Mannack hrsg. von Eberhard Mannack. Bd. 6: Epische
Dichtungen (Die Alleredelste Erfindung, Die Alleredelste Zeitverkürzung). Berlin, New
York 1976, S. 241–448, hier S. 288.
14 Johann Rist: Die alleredelste Erfindung Der Gantzen Welt, Vermittelst eines anmutigen und
erbaulichen Gespräches, welches ist dieser Art, die Fünffte, Und zwar eine Mäyens-Vnter-
redungen, Beschrieben und fürgestellet [1667]. In ders.: Sämtliche Werke (Anm. 13), S. 1–
240, S. 29; vgl. auch ders.: Die AllerEdelste Tohrheit (Anm. 11), S. 152.
15 Jericke: Johann Rists Monatsgespräche (Anm. 6), S. 57.
16 Hans-Georg Kemper: „Eins in All! Und all in Eins!“. Christliche Hermetik als trojanisches
Pferd der Aufklärung. In: Aufklärung und Esoterik. Rezeption – Integration –
Konfrontation. Hrsg. von Monika Neugebauer-Wölk. Tübingen 2008, S. 28–52, hier S. 38,
Anm. 34.
17 Vgl. zur Allianz von Christentum und Alchemie Johann Anselm Steiger: Medizinische
Theologie. Christus medicus und theologia medicinalis bei Martin Luther und im Luther-
tum der Barockzeit. Mit Edition dreier Quellentexte […]. Leiden, Boston 2005; sowie Anne-
Charlott Trepp: Zur Differenzierung der Religiositätsformen im Luthertum des 17. Jahrhun-
derts und ihrer Bedeutung für die Deutung von ‚Natur‘. In: Pietismus und Neuzeit 32
(2006), S. 37–56.
18 Vgl. Volkhard Wels: Zwischen Spiritualismus, Hermetik und lutherischer ‚Orthodoxie‘. Zu
Hans-Georg Kempers Vorgeschichte der Naturlyrik. In: Zeitsprünge 16 (2012), H. 3, S. 243–
284, darin speziell zu Rist S. 262f.
19 Johann Rist: Die alleredelste Erfindung Der Gantzen Welt, Vermittelst eines anmutigen und
erbaulichen Gespräches, welches ist dieser Art, die Fünffte, Und zwar eine Mäyens-Vnterre-
dungen, Beschrieben und fürgestellet [1667]. In ders.: Sämtliche Werke. Unter Mitwirkung
von Helga Mannack hrsg. von Eberhard Mannack. Bd. 6: Epische Dichtungen (Die Aller-
edelste Erfindung, Die Alleredelste Zeitverkürzung). Berlin, New York 1976, S. 1–240, hier
S. 79.
20 van Ingen: Johann Rist und die Naturwissenschaften seiner Zeit (Anm. 8), S. 505.
21 Vgl. Martin Brecht: Die Aufnahme von Arndts Vier Bücher von wahrem Christentum im deut-
schen Luthertum. In: Frömmigkeit oder Theologie. Johann Arndt und die Vier Bücher von
nur Vnterredungen […] / so wol von der Vbunge der wahren Gottseligkeit / als auch
vielen in der Natur verborgenen Geheimnissen 22 führte, sondern ihm in Reminiszenz
an diese Gespräche später auch sein Alchemietraktat widmete, um dessen Wir-
kungsstrategien es im vorliegenden Beitrag gehen soll.
Nach eigenem Bekunden nahm Rist einiges in Kauf, um seinen alchemischen
Interessen nachgehen zu können. Zum einen hat er sich offenbar körperlich
nachhaltig verausgabt –
ich pflag etliche Tage und Nächte / nach ein ander bei meinem [!] unter-
schiedlichen öfen zu sitzen und zu schwitzen / und ie mehr ich fand in di-
sen Geheimnissen / ie unverdrossener ward ich zur Arbeit / kan aber nun
mit der Zeit spühren / daß ich dadurch meine Gesundheit nicht wenig
verletzt / ia mein Leben habe verkürtzet. 23
Zum anderen blieben die zu erwartenden Anfeindungen nicht aus, gegen die er
sich jedoch vehement verwahrt:
Einer der der wahren / ungeänderten Augsburgischen Bekenntnisse [sc.
der lutherischen Confessio Augustana, 1530] ist zugethan / hat mit etlichen
hocherfahrnen Philosophis, die man für Rosenkreützer / neüe Propheten
und Weigelianer [sc. für einen Anhänger des Paracelsisten Valentin Wei-
gel (1553–1588)] gehalten / guhte Kundschafft gepfleget / und nebenst
ihnen / (als welche er eintzig und allein deßwegen in seinem Hause zur
Herberge hat auffgenommen) in den allerschönsten Chymischen Wissen-
schafften sich geübet / darüm muß er auch nohtwendig ein Weigelianer /
Rosenkräutzer / neuer Prophet und Phantast sein / ist mir dieses nicht ein
schöner Schluß? 24
wahrem Christentum. Hrsg. von Hans Otte und Hans Schneider. Göttingen 2007, S. 231–262,
hier S. 235f.; sowie Krummacher: Lehr- und trostreiche Lieder (Anm. 1), S. 37–76.
22 Johann Rist: Philosophischer Phoenix. Das ist: Kurtze, jedoch Gründliche vnnd Sonnenklare
Entdeckunge der waren vnd eigentlichen Matery des AllerEdelsten Steines der Weisen […].
In ders.: Sämtliche Werke. Bd. 7: Prosaabhandlungen (Philosophischer Phoenix, Rettung des
Phoenix, Teutsche Hauptsprache, Adelicher Hausvatter). Unter Mitwirkung von Helga
Mannack und Klaus Reichelt hrsg. von Eberhard Mannack. Berlin, New York 1982, S. 1–29,
hier S. 5.
23 Rist: Die AllerEdelste Tohrheit (Anm. 11), S. 152.
24 Rist: Die AllerEdelste Tohrheit (Anm. 11), S. 153.
25 A. V. S.: Vindicatio: Phoenicis subreptitij in libertatem vindicatio. Daß ist: Ein kurtzes Philo-
sophisch Tractätlein vom Stein der Weysen: So kurtzverwiechener Zeit ein guter Geselle
fälschlich vor sein außgegeben, und zu Hamburg in offentlichen Druck verfertigen lassen,
unter dem Nahmen und Titul. J. R. H. Philosophischer Phoenix; Anjetzo aber von dem war-
hafften Authore erkant […]. [sine loco] 1638, S. [18] – Zit. nach dem Digitalisat der SLUB
Dresden: http://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/12911/1/cache.off (17.06.2014).
26 Vgl. dazu ausführlich, insbes. auch zur Problematik des Verfasserkürzels A. V. S., Stefanie
Stockhorst: Johann Rists Alchemietraktat Philosophischer Phoenix – Plagiat oder Parodie? In:
Johann Rist (1607–1667). Profil und Netzwerke eines Pastors, Dichters und Komponisten in
der Barockzeit. Hrsg. von Johann Anselm Steiger und Bernhard Jahn. Berlin, Boston 2015,
S. 673-696. – Überlegungen, die dort bereits angelegt sind, werden hier teilweise aufgegrif-
fen und weitergeführt.
27 Vgl. nur Theodor Verweyen: Die Dunkelmännerbriefe (‚Epistolae obscurorum virorum‘): Ein
Beispiel humanistischer Satire und Parodie [1997]. In: Einfache Formen der Intertextualität.
Theoretische Überlegungen und historische Untersuchungen. Hrsg. von Theodor Verweyen
und Gunther Witting. Paderborn 2010, S. 83–99; sowie Karl Riha: Zur ‚Sache‘ der ‚Dun-
kelmänner‘. Ein satirischer Humanistenbriefwechsel. In ders.: Kritik, Satire, Parodie. Ge-
sammelte Aufsätze […]. Opladen 1992, S. 7–16.
sondern mit guter vnd vntadlicher Manier an [s]ich gebracht 28 habe. Zudem versi-
chert er in der Nothwendigen Rettung bezüglich des Verfassers der fraglichen
Handschrift wiederholt und mit Nachdruck, dass
dieses Conceptlein keines andern als eben deß Edlen vnd weitberühmten
Chymici Alexandri Von Süchten währe / dessen hinterlassen Scripta also
distrahiret vnd von etlichen ignoranten vmbher getragen würden / die
denn solche vnd derogleichen Sachen offt vor die jhrige außruffeten. 29
Der Aufruf gerade des polnischen Alchemikers Alexander von Suchten (ca.
1520–1575) 30 als Gewährsmann, unter dessen Namen postum eine ganze Flut
von mehr oder weniger dubioser, paracelsistisch-spiritualistisch orientierter
Alchemieliteratur kolportiert wurde, 31 erscheint in ideengeschichtlicher Hinsicht
für einen ansonsten linientreuen Lutheraner mehr als unwahrscheinlich 32 und in
philologischer Hinsicht nichtssagend, zumal Rist die fragwürdige Überliefe-
rungslage gleich mit in Erinnerung ruft für den Fall, dass sie dem Leser nicht
präsent ist.
Während es in gelehrten Abhandlungen der Frühen Neuzeit allgemein üb-
lich war, möglichst viele einschlägige Koryphäen zur Betonung der eigenen
Gelehrsamkeit und Überzeugungskraft zu nennen, bleibt Rist in seinem Philoso-
phischen Phoenix vorzugsweise unspezifisch – ein grosser hauffe Philosophorum, alle
vernünftige vnd hocherfarne Philosophi oder viel fleissige vnd ohnverdroßne Philosophi
vnd Naturkündiger 33 verbürgen seinen Standpunkt anonym. Das mag teilweise
der traditionell heterodoxen Verfasstheit alchemischen Wissens geschuldet sein,
bewirkt aber zugleich eine unspezifische Selbstverortung im alchemischen Dis-
kurs. Ohne eine markierte Traditionslinie fortzuschreiben, vergegenwärtigt Rist
in seinen Ausführungen beiläufig einige Archegeten der Alchemie. Er lässt je-
doch nur völlig unstreitige, aufgrund ihres Verbreitungsgrades beinahe etwas
34 Vgl. Sylvain Matton: Marsile Ficin et l’alchimie. Sa position, son influence, appendice: La
Critique de Ficin alchimiste par Nicholas Guibert (texte latin). In: Alchimie et philosophie à
la Renaissance. Actes du Colloque international de Tours, 4–6 décembre 1991. Hrsg. von
dems. und Jean-Claude Margolin. Paris 1993, S. 123–192.
35 Rist: Philosophischer Phoenix (Anm. 22), S. 13.
36 Julius Ruska: Tabula Smaragdina. Ein Beitrag zur Geschichte der hermetischen Literatur.
Heidelberg 1926, S. 2.
37 Thomas Erastus hatte die Tabula Smaragdina schon 1572 für „offensichtlich falsch und erfun-
den“ erklärt, vgl. Thomas Erastus: Explicatio quaestionis famosae illius, utrum ex metallis
ignobilioribus aurum verum et naturale arte conflari possit. Basel 1572, S. 101ff., zit. nach
Carlos Gilly: Vom ägyptischen Hermes zum Trismegistus Germanus. Wandlungen des
Hermetismus in der paracelsistischen und rosenkreuzerischen Literatur. In: Konzepte des
Hermetismus in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Peter-André Alt, Volkhard Wels. Göttingen
2010, S. 71–131, hier S. 105, Anm. 114; siehe auch Wilhelm Kühlmann: Der ‚Hermetismus‘ als
literarische Formation. Grundzüge seiner Rezeption in Deutschland. In: Scientia Poetica 3
(1999), S. 145–157, bes. S. 150f.
38 Rist: Philosophischer Phoenix (Anm. 22), S. 16.
39 Rist: Philosophischer Phoenix (Anm. 22), S. 14.
Abb. 1: Michael Maier: Emblema I: Portavit eum ventus in ventre suo. In: ders.: Atalanta
Fugiens, hoc est, Emblemata Nova De Secretis Naturae Chymica […]. Oppenheim 1618, S. 13.
Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung nach dem Digitalisat der HAB Wolfenbüt-
tel: http://digilib.hab.de/drucke/196-quod-1s/start.htm, S. [15] [28.03.2014].
quod est superius, et quod est superius, est sicut (id) quod est inferius […]. 40 Nachdem
Rist seine Vertrautheit mit den überlieferten Hauptquellen demonstriert hat,
aber fast schon ostentativ darauf verzichtet, eine profilierte, womöglich originel-
le Position einzunehmen, beklagt er für seine Gegenwart eine Trivialisierung der
Alchemie ob der schändlichen Kremerey / die heut zu tage mit herrlichsten Scriptis der
hocherleuchteten Männer / als des Theophrasti, Bernhardi, Comitis Trevisani, Crollij
vnd anderer wird getrieben. 41 Diese Diagnose von der schändlichen Krämerey, zu der
die hohe Kunst der Alchemie verkommen sei, gilt es für eine Deutung des Philo-
sophischen Phoenix sehr ernst zu nehmen.
Wenn Rist in den theoretischen Vorüberlegungen seines Traktats darlegt,
dass der Stein der Weisen nichtes anders seyn solle / als eben daßjenige / was wir
sonsten Lufft heissen / zu Latein AER, AURA vnd SPIRITUS genand, 42 stützt er sich
zum einzigen Mal in seinem Text auf eine neuzeitliche Quelle der Alchemie, und
zwar ausgerechnet auf den in aller Welt hochberühmte[n] Sendivogius, der von
diesem lufftigen Geist in seinen güldenen Schrifften sehr herlich vnd vortreflich berich-
te. 43 Das Hauptwerk Novum Lumen Chymicum (1604) des nicht minder populären
als obskuren Alchemikers Michael Sendivogius (1566–1636) erschien bis 1787 in
47 Ausgaben und neun Nachdrucken. 44 Die Nennung solcher Vorbilder musste
das kundige zeitgenössische Publikum hellhörig machen, zumal Rist sich ja
ausdrücklich gegen die zeitgenössische Populäralchemie stellte. In freier Über-
setzung referiert Rist indes aus der Gedankenwelt des Sendivogius einen Passus,
der den Ansatzpunkt für seinen eigenen praktischen Anweisungsteil bildet:
Der Mensche auß der Erden erschaffen / lebet von der Lufft / denn in der
Luft ist eine verborgene Speise deß Lebens / welches wir des Nachtes
Thaw / deß Tages aber Aquam rarefactam oder ein dünn gemachtes Was-
ser nennen / dessen vnsichtbarer / congelirter, dick- oder festgemachter
Geist seinem Wesende / Tugenden vnnd Wirckungen nach viel edler vnd
besser auch höher ist zu schätzen / als der gantze Kloß der Erden. 45
Mit dieser freilich dekontextualisierten Anleihe bei Sendivogius öffnet Rist be-
reits vorab zumindest die Denkmöglichkeit, dass der Stein der Weisen gleichsam
aus der Luft gegriffen sei, auch wenn der spiritus mundi als Materie des Steins
alchemisch tatsächlich in der Luft vermutet wurde. Eine ganz deutlich ridiküli-
sierte Wendung gibt er der Suche in der Luft später im März-Gespräch, wenn er
die Anekdote von einem Bekannten mitteilt, der glaubte, die wahre Materia des
Steins der Weisen“ sei in der Luft zu finden, weshalb er allmorgendlich nach seinem
Gebet ehrfürchtig in ein Behältnis zu hauchen pflegte – Rist gab ihm darauf „deütlich
zuverstehen / daß es nichtes / als nur ein Glaß / voll nüchtern Speichel wäre / die man
nirgends nützen könte. 46 Nicht minder sachlich nennt er bereits im Philosophischen
Phoenix als Bedingungen für eine erfolgversprechende alchemische Tätigkeit,
dass man für allen dingen Gott vnd dessen heilige Gebot fürchtet vnd liebet“ und dazu
mit „nohttürfftigen vnd geschickten Instrumenten, Gefessen / Herden / Oefen vnd allen
anderen dazu gehörigen Dingen genugsam versehen ist. 47 Auf ein gebetsförmiges
Gnadengesuch für sich und alle nach göttlicher Weisheit strebenden Mitmen-
schen folgt ein praktischer Teil, in dem auffälliger Weise die ohnehin simplen
Dinge genau beschrieben werden, die experimentell anspruchsvolleren hingegen
knapp oder gar nicht, sodass die vordergründige Anleitung in Wirklichkeit als
solche gar nicht taugt.
Gefäß, welches die Gestalt vnnd das ansehen einer Glocken oder Cucurbiten haben
und ohnegefehr an seiner dicke die helffte des allerkleinesten Fingers an eines Mannes
Hand behalten 50 solle. Als Ingredienzen nennt Rist [e]rstlich die Feilspäne vom Staal
oder Eisen / hernacher der Weißliechten durchscheinenden Kiesel-Steine, also die gän-
gigen alchemischen Grundstoffe Erz und Stein, welche man in pulverisierter
Form zu gleichen Teilen in ein großes Behältnis geben müsse, um darüber den
als alchemische Zutat ansonsten nicht verbürgten außgepresseten Saft von den
Bachkrebsen zu gießen, dessen prominenteste Eigenschaft sein strenger Geruch
sein dürfte, vnd zwar desselben Safftes so viel / daß es nicht allein dies vermischte Pul-
ver oben bedecke / besonderen noch dazu vier querFinger [!] breit darüber her stehe. 51
Diesen Sud müsse man acht Tage mit einander stille stehen vnnd digeriren 52 lassen
und sodann zur Destillation in eine Retorte umfüllen. In dem gewonnenen Des-
tillat solle das Walknochengefäß ohngefehr 24. Stunde in einer feinen / sanfften vnd
gelinden Wärme einweichen und dann schleunigst über einem grossen vnnd starcken
Kohlfewr trocknen, ein Mazerationsvorgang, den es nach Rist siebenmal zu wie-
derholen gilt. 53 Das solchermaßen vorbereitete Behältnis müsse man nun
auff einem hohen vnnd bergichten Orte / entweder an einen Zweig eines
Baums oder auch an eine lange Stangen auffhengen / so wird alßdenn
selbiges Gefäß in einer einzigen Stunde so viel unsers Lufftes an sich zie-
hen / als seine weite vnd grösse immer kann fassen 54.
Die Fähigkeit eines offenen Gefäßes, gerade so viel Luft in sich aufzunehmen,
wie es seinem Fassungsvermögen entspricht, vermag zwar physikalisch nicht
eben zu verblüffen, aber immerhin ließe sich das beschriebene Procedere soweit
mit etwas Geschick vermutlich bewerkstelligen. Im Gegensatz zur übertriebenen
Simplizität der vorbereitenden Schritte erscheint die Vollendung des Ristschen
opus magnum technisch allenfalls in den Laboratorien von Laleburg denkbar:
So bald du nun vermerckest / daß das Gefässe voll ist / so lange es herun-
ter / thu die gesamlete Lufft herauß vnd mache es ledig / darauff henge
oder setze es wieder an seinem vorigen Ort / vnnd wann es sich wie-
drumb voll gezogen / alßdenn entledige es wieder / vnnd treibe solche
Arbeit so lange / biß daß du endlich einen guten grossen Vorrath sollicher
Lufft hast zu hauffe gebracht vnd versamlet. 55
Nach diesem Umschlag von der Banalität in die Unmöglichkeit solle man fer-
nerhin die auffgefangene Lufft in eine Phiole einfüllen, diese auff Hermetische Weise
versiegelen, den Inhalt zwei Wochen lauwarm digeriren vnd circuliren lassen, durch
einen alembic abziehen, ihn anschließend wieder in eine Phiol giessen, und das so lan-
ge, bis das Wasser heller vnd klarer ist als ein Christall. An diesem Punkt liege das
rechte gebenedeyte Wasser vor, das Hermes Trismegistos totius Fortitudinis fortitu-
dinem fortissimam die allerkräfftigste Krafft aller Kräfte nenne, wie Rist einmal mehr
aus der Tabula Smaragdina zitiert. 56
Zum Abschluss des Philosophischen Phoenix brennt Rist ein regelrechtes Feu-
erwerk der alchemischen Bildlichkeit ab, das er mit Anspielungen aus der klassi-
schen Mythologie untermengt. Freilich gilt es diese Überspitzung der Arkan-
ästhetik nicht laborpraktisch zu entschlüsseln, sondern aus einer poetisch ver-
mittelten Distanz, was Rist zu Beginn des letzten Teils mit zwei Absätzen über
Pegasus nahelegt, dem ein Platz als Symboltier weniger in der Alchemie als in
der Poesie zukommt. Rist berichtet, mit seinem Hufschlag habe das geflügelte
Pferd auf dem Parnass das Chrystalline Bächlein der Musen (m potabile) 57 freige-
setzt, wobei der erläuternde Klammerzusatz das zu den höchsten Arkana der
Alchemie gehörige Trinkgold als Produkt derselben Quelle demaskiert, aus der
für gewöhnlich die poetische Inspiration entspringt, wie – der Analogieschluss
scheint nicht nur erlaubt, sondern gewünscht – auch manche Spielarten der
Alchemie nicht mehr als erfindungsreiche Chimären seien.
Auf ein genuin poetisches Verfahren, nämlich das der aemulatio, greift Rist
auch selbst zurück, wenn er im rasanten Endspurt seines Philosophischen Phoenix
nicht nur einmal, sondern gleich dreimal eine chymische Hochzeit, also gewis-
sermaßen die Kernfusion der Alchemie, stattfinden lässt. Das erste Mal heißt es:
Dieses ist vnsere wunderschöne Diana, welche jhrem allerliebsten Bräutigamb dem
Apollini, bald / bald auff eine geistliche Weise soll zugefüret vnd vermählet werden. 58
Beim zweiten Mal geht es um die Vermehrung von Gold, indem das zuvor her-
gestellte Wasser in gleichem Gewichte mit Gold gemischt werden solle, welcher
Bräutigamb alß denn diesen Geist / als seine liebste Braut vnnd Eheweib / auff das aller-
freundlichste wird vmbfangen. 59 Auch beim dritten Mal macht Rist deutliche ter-
minologische Anleihen aus der Alchemieliteratur, die er mit fortgesetztem An-
weisungsduktus so ausspielt, als müssten sie gar nicht metaphorisch, sondern
wörtlich verstanden werden:
So nimb derowegen des Männlichen güldenen Saamens ein theil; des
Weiblichen Sylberen Samens neun theil: Diese beyderley Saamen füge
fein zusammen in einem Philosophischen Ey / vnd nach dem du solches
auf recht Hermetische Art vnd weise hast versiegelt / so setze es alßdenn
56 Rist: Philosophischer Phoenix (Anm. 22), S. 24; in der Tabula Smaragdina: totius fortitudinis
fortitudo fortis, Ruska: Tabula Smaragdina (Anm. 36), S. 2.
57 Rist: Philosophischer Phoenix (Anm. 22), S. 24.
58 Rist: Philosophischer Phoenix (Anm. 22), S. 25.
59 Rist: Philosophischer Phoenix (Anm. 22), S. 26.
ins Fewr / damit dasselbe diese junge Eheleute mit einem vnauflößlichem
Bande verknüpffe vnd zusammen heffte. 60
Spielerisch unternimmt Rist den Ansatz, seine Anweisung kosmologisch in den
Jahreslauf einzuordnen, was in der alchemischen Tradition durchaus üblich ist
(vgl. z.B. Abb. 2). Während diese und weitere Einlassungen, die dem Winter
zugeordnet werden, mehrere Druckseiten einnehmen, folgt nur ein kurzer Ab-
satz über den Frühling, der mit mancherley schönen Blumen vnd wolschmeckenden
Früchten 61 Einzug halte, wobei jeglicher alchemische Bezug fehlt.
Völlig unvermittelt geht es in den beiden anschließend eingeschobenen Ab-
sätzen zum ersten und einzigen Mal im ganzen Text um den Vogel Phönix, der
in der Alchemie die höchste, rote Stufe (rubedo) im opus magnum d. h. in der Er-
langung des lapis philosophorum, symbolisiert (Abb. 2), gefolgt von der weißen
Stufe des Schwans (albedo) und der untersten, schwarzen Stufe des Raben (nigre-
do):
Wann nun ferner auch die Schwärtze ist hinweg gethan vnnd vergangen /
so wird alßdenn ein bunter vnnd sehr gläntzender Pfaw erscheinen / vnd
wenn hierauff das Fewr gebührlich wird gestärcket / so wird sich alßdenn
bald sehen lassen ein schneeweisser Schwan / auff welchen zu guter letzte
folget ein schöner / Braunrohter / oder Rubinfarber PHOENIX. Vnd also
kan man augenscheinlich mercken / wie der allerschönste Sylbern Vogel /
der mit seinen Lilien weissen Federen auch die hell gläntzende Tauben
beschemet / in einen gantz Kohlschwartzen Raben auff eine sehr wunder-
bare weise wird transformiret vnd verkehret. 62
Am Beispiel von Michael Maiers Symbola aureae mensae duodecim nationum (1617)
machte Wilhelm Kühlmann deutlich, wie darin gerade der Phönix eine „irritie-
rende Mehrdeutigkeit“ anzeigt, fungiere er doch „als übergeordneter mythischer
Bildcode jener philosophisch-alchemischen Arkanmetaphern […], die ihrerseits
der Entschlüsselung durch den Wissenden bedurften“. 63 Nichts anderes ist bei
Rist der Fall, denn der Phönix bildet offensichtlich nicht ansatzweise den Gegen-
stand des Textes, sondern vielmehr einen bildlichen Fingerzeig auf seinen Rät-
selcharakter. Zugleich lässt sich in der Resurrektionssymbolik des stets werden-
den und wieder vergehenden Vogels auch ein Hinweis auf die zutiefst christli-
che Auflösung sehen. Anne-Charlott Trepp vereindeutigte daher ihre Interpreta-
tion dahingehend, dass Rists Botschaft lautet: „Aus dem alchemischen Wand-
lungsgeschehen können ‚Beweise‘ für die Auferstehung erbracht werden. […]
Mehr noch: Er versucht die Offenbarungen durch das Experiment regelrecht zu
‚verifizieren‘.“ 64
Nach der ebenso effektvollen wie kurzen Erscheinung des titelgebenden Fa-
belwesens lässt Rist das begonnene kosmologische Schema des Jahreszeitenzyk-
lus ins Leere laufen, indem er den Sommer gänzlich überspringt und zum
Herbst ausgesprochen lapidar feststellt, er endiget sich nun auch zuletzt. 65 Das
abrupte Finale lässt im praktischen Teil des Philosophischen Phoenix für die Praxis
zwar manche Frage offen. Jedoch gibt Rist am Ende die ganz entscheidende Ver-
stehenshilfe, dass trotz der vordergründigen Verworrenheit seiner Ausführun-
gen darin doch alles Nötige gesagt sei:
Mehr vnd weitleuftiger von diesem hohen Geheimnisse zu schreiben / wil
so wenig die kürtze der Zeit / als auch sonsten andere Vngelegenheit vor
dieses mahl nicht leyden noch zugeben / wiewol ein jedweder rechtver-
ständiger Liebhaber vnserer geheimen Philosophey / benebenst mir auff-
richtig wird bekennen müssen / daß den wahren Philosophis vnd Kin-
deren dieser heiligen Kunst / dasselbe / was jhnen zu wissen hochnöhtig /
mit nichten verheelet / besonderen zu genüge / auch schier mehr als sich
gebühren wollen davon kund gethan vnd offenbaret worden. 66
64 Anne-Charlott Trepp: Im ‚Buch der Natur‘ lesen: Natur und Religion im Zeitalter der Kon-
fessionalisierung und des Dreißigjährigen Krieges. In: Antike Weisheit und kulturelle Pra-
xis. Hermetismus in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von ders. und Hartmut Lehmann. Göttingen
2001, S. 103–143, hier S. 138 und 140 (fortlaufend, S. 139 ganzseitige Abb.).
65 Rist: Philosophischer Phoenix (Anm. 22), S. 29.
66 Rist: Philosophischer Phoenix (Anm. 22), S. 29.
67 Claus Priesner: Über die Wirklichkeit des Okkulten. Naturmagie und Alchemie in der Frü-
hen Neuzeit. In: Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch. Hrsg.
von Herbert Jaumann. Berlin [u.a.] 2011, S. 305–345, hier S. 333.
68 Vgl. z.B. Florian Ebeling: „Geheimnis“ und „Geheimhaltung“ in den Hermetica der Frühen
Neuzeit. In: Antike Weisheit und kulturelle Praxis (Anm. 64), S. 63–80.
69 A. V. S.: Vindicatio (Anm. 25), S. [16]f.
70 Rist: Nothwendige Rettung (Anm. 28), S. 62.
71 Rist: Nothwendige Rettung (Anm. 28), S. 42.
welcher der allgemeine Geist (welchen wir nochmahlen auram vnd Spiri-
tum nennen) sein tägliche ja stündliche Wirckung hat. 72
Aufgrund dieser klaren Gewichtung von Idee und Umsetzung sei der praktische
Teil seines Traktats zwar auch etlicher massen / jedoch nur kurtz vielleicht auch etwas
dunckel auffgesetzet worden / weil es mir fürnemlich vmb die Erkentnüsse der wahren
materiæ zu thuende gewesen. 73
Nicht zufällig klingt in dieser programmatischen Erklärung Rists der homile-
tische Dreischritt von doctrina, consolatio und adhortatio an, der hier unter al-
chemischen Vorzeichen durch die naturphilosophische Belehrung, die Tröstung
in der Allmacht Gottes und die Aufforderung zur Einhaltung des rechten Weges
zur Gotteserkenntnis umgesetzt wird. Eine derartige, theologisch grundierte
Wirkungsästhetik stellt eine wesentliche Qualität von Rists gesamtem Œuvre
dar. Sie zeigt sich nicht nur in den naturwissenschaftlichen Schriften, sondern
auch in der Lyrik. So wies Hans-Henrik Krummacher nach, dass die wiederkeh-
renden Tröstungsmotive in den Titeln der geistlichen Liedersammlungen Rists
„keine bloßen Formeln sind, sondern programmatischen Charakter haben“, dass
Rist oft „ausführlich und eindringlich seine Lieder mit den homiletischen usus
Lehre, Trost, Vermahnung und Warnung begründend verknüpft“, und schließ-
lich auch, dass diese Lieder nicht nur rhetorisch, sondern auch inhaltlich „nahe
verwandt [sind] mit der umfangreichen Erbauungsliteratur in Prosa, die eine der
kennzeichnendsten Erscheinungen geistlicher Literatur im 17. Jahrhundert ist“. 74
Die Verschränkung homiletischer und alchemischer Schreibweisen, wie Rist
sie im Philosophischen Phoenix unter dem Deckmantel der Satire anlegt, erscheint
in einer Zeit, in der Teile des ehemals streng gehüteten alchemischen Arkanwis-
sens zunehmend der Popularisierung unterlagen, 75 durchaus naheliegend. Zum
einen verbanden sich mit der volkssprachlich für weite Kreise in Umlauf ge-
brachten Populäralchemie einige Risiken, die ohne weiteres in die Zuständigkeit
eines lutherischen Seelenhirten fielen, sei es die kommerziell betriebene Über-
vorteilung derer, die nach Reichtum, Macht oder Weisheit streben, sei es der
Missbrauch chemischer Erzeugnisse 76 oder auch das Problem der superbia, der
eine allzu spirituell ausgerichtete Alchemie gefährlich nahestehen konnte. Zum
anderen erfolgte im 17. Jahrhundert nach und nach eine Aufspaltung des alche-
mischen Schrifttums in zwei Strömungen, über die Claus Priesner zutreffend
festhielt:
gen / daß sie auch am hellen vnd liechten Mittage in diesem hohen Ge-
heimnisse mit offenen Augen nichtes sehen noch erkennen mügen. 81
Mit dieser Stoßrichtung darf Rists Alchemietraktat füglich wie die Atalanta fu-
giens als „alchemisches Andachtsbuch“ aufgefasst werden, in dem, so Volkhard
Wels über Maiers Text, „weder Goldmacherkunst noch überhaupt Laborpraxis“
vermittelt wird, sondern die „Erkenntnis der Natur als einer Schöpfung Got-
tes“. 82 Auch bei Rist geht es keineswegs darum, alchemische Geheimnisse wo-
möglich anleitungsförmig zu lüften; vielmehr ruft er wie Maier mit Nachdruck
in Erinnerung, dass die Alchemie über die secreta naturae zur Erkenntnis höchs-
ter Wahrheit aus den Werken der Schöpfung führen könne. Im Unterschied zu
Maier arbeitet Rist jedoch nicht mit den Mitteln der Ästhetisierung, sondern
bietet eine polemisch flankierte Satire auf die seit Vergil sprichwörtlich gewor-
dene auri sacra fames (Vergil, Aeneis 3, 57). Diese Alchemie bedarf weder beson-
derer Kosten und Mühen noch ausgeklügelter Destillations- und Coagulations-
verfahren, sondern sie erweist sich als Frage der Gedankenarbeit, die aus der
Tugend eines gläubigen Christen erwächst. In dieser Ermahnung zum rechten
Gebrauch der Alchemie besteht Rists zentrale theologische Botschaft, sodass er
guten Gewissens noch drei Jahrzehnte nach der Publikation des Philosophischen
Phoenix die folgende Bilanz aus seinem alchemischen März-Gespräch ziehen
kann:
Auß disem Allem erscheinet nun Sonnenklahr / das das Suchen und for-
schen nach disem hohen Geheimnisse des Steins der Weisen mitnichten /
wie viele unverständige Knadasten [sc. grobe Menschen] urtheilen / für
die AllerEdelste Tohrheit / sondern vielmehre für die Aller-Edelste Klug-
heit der gantzen Welt sei zu schätzen […]. 83
1 Siehe dazu André Schnyder: Der Malleus Maleficarum. Fragen und Beobachtungen zu seiner
Druckgeschichte sowie zur Rezeption bei Binsfeld, Bodin und Delrio. In: Archiv für Kultur-
geschichte 74 (1992), S. 323–364; zur allgemeinen Orientierung verweise ich auf die Beiträge
in: Der Hexenhammer. Entstehung und Umfeld des Malleus Maleficarum von 1487. Hrsg.
von Peter Segl. Köln 1987.
2 Zu Fischarts Übersetzung siehe Gerhild Scholz-Williams: Die Wissenschaft von den Hexen:
Jean Bodin und sein Übersetzer Johann Fischart als Dämonologen. In: Knowledge, Science,
and Literature in Early Modern Germany. Hrsg. von ders. und Stephan K. Schindler. Chapel
Hill 1996, S. 191–218; zur praktischen Anwendung des Teufelsheers bei Verfahren gegen
vermeintliche Hexen siehe Wolfgang Behringer: Hexenverfolgung in Bayern. Volksmagie,
Glaubenseifer und Staatsräson in der Frühen Neuzeit. München 1987, S. 132. – Das ver-
dienstvolle Unternehmen einer kritischen und kommentierten Edition von Fischarts Dämo-
nologie hat jüngst eine Heidelberger Forschergruppe um Prof. Tobias Bulang in Angriff ge-
nommen.
3 Ludwig Milichius: Der Zauber Teuffel. Das ist/ Von Zauberei Warsagung/ Beschwehren/
Segen/ Aberglauben/ Hexerey/ vnd mancherley Wercken des Teufels/ wolgegründter […]
Bericht […]. Frankfurt a.M.: Sigmund Feyerabend und Simon Hüter 1563. In: Teufelbücher
in Auswahl. Hrsg. von Ria Stambaugh. Bd. I: Ludwig Milichius. Zauberteufel. Schrapteufel.
Berlin 1970, S. 1–185.
4 Siehe Milichius: Der Zauber Teuffel (Anm. 3), S. 22,9f.
5 Milichius: Der Zauber Teuffel (Anm. 3), S. 15,3–6. Zur im Einzelfall prekären Unterschei-
dung zwischen ‚natürlicher‘ und illiziter Magie vgl. Wilhelm Kühlmann: Grimmelshausen
und Prätorius. Alltagsmagie zwischen Verlockung und Verbot. Anmerkungen zu Simplicis-
simi Galgen-Männlin (1673). In: Simpliciana 26 (2004), S. 61–75, hier S. 62–64.
Wer schrieb dieses gelehrte Werk? Das mit seiner Feder das Tiefste und
Höchste durchdringt und mit Weisheit und Geist die Zauberinnen und
höllische Hexen entlarvt? Was du, thessalisches Land und ihr, verruchte
Kolcher mit euren bösartigen Zaubergesängen vollbracht habt; was ihr,
Pane, Satyrn und Nachtmahre gesündigt habt, ihr schamloses und geiles
Volk, all das hat er zu Tage gefördert und ihm Abhilfe geschaffen: Aber
wer? – Delrio, der von Gelehrsamkeit ebenso wie vor Frömmigkeit glänzt.
Also ist hier alles rein und klar; hier gibt es kein Gift der [widerstreiten-
den] Meinungen, die du fürchten müsstest. Schätze dieses Buch hoch,
gönne es dir selbst und lese es, auf dass du das Tiefste und Höchste ken-
nest.
Kaum noch nötig zu erwähnen, dass alle hier genannten Werke, wenngleich in
unterschiedlicher Deutlichkeit, eine Verbindung von Magie, Teufelsbund (auf
den auch Lipsius in V. 6f. anzuspielen scheint) und Häresie vornehmen und
somit weltliche wie geistliche Institutionen zu höchster Wachsamkeit und tat-
kräftigem Durchgreifen auffordern.
Dies alles ist bekannt und soll hier nur den Hintergrund für eine bemer-
kenswerte literarhistorische Leerstelle bilden. Gemessen an der Brisanz des
Themas und seinen praktischen gesellschaftlichen Auswirkungen ab der zweiten
Hälfte des 16. Jahrhunderts werden Hexerei oder Hexenverfolgung in der früh-
neuzeitlichen Lyrik des Alten Reiches – soweit diese bisher zu überblicken ist –
erstaunlich wenig thematisiert. Und dies obwohl die antike Tradition humanisti-
schen Dichtern ja mit Horazens Hexe Canidia, Lucans Nekromantin Erictho und
Ovids diversen Zauberinnen, unter anderem Dipsas (am. 1,8), Medea und Circe
hinreichend literarischen Stoff zur Verfügung gestellt hat. Zwar werden die
genannten Figuren und entsprechende Szenen in verschiedenen, meist misogy-
nen Kontexten oft katalogartig genannt, doch schlägt kaum ein Poet die Brücke
zum zeitgenössischen Hexenwesen. Selbst im Zusammenhang der Konfessions-
polemik bleiben Zauberei und Teufelsbündlertum marginal, abzulesen etwa bei
dem Niederländer Andreas Alenus, der in einem allegorisch-kirchenge-
schichtlichen Gedicht lediglich in zwei Distichen vermerkt, Luthers Abneigung
6 Zitiert nach Martin Delrio: Disquisitionum Magicarum libri sex […]. Mainz: Peter Henning
1624, S. (:)2r.
gegen die (altgläubige) Messe sei aus seinem regelmäßigen Umgang mit dem
Teufel zu erklären. 7
Im Folgenden seien nun die wenigen lyrischen Zeugnisse, in denen Zauberei
und Hexerei in einem zeitgenössischen Rahmen zur Darstellung kommen,
durchgemustert und die Art und Absicht dieser Darstellung untersucht. Zu-
nächst aber ist eine frühneuzeitlichen Mode-Gattung zu betrachten, in der schon
von ihren antiken Vorläufern her Magie eine Rolle spielen konnte und die in
gewisser Weise eine Zwischenstellung zwischen der gelehrt-antikisierenden
Einzelanspielung und Gedichten zum frühneuzeitlichen Hexenwesen einnimmt:
die Ekloge.
7 Siehe Andreas Alenus: Sacrarum Heroidum libri tres. Louvain: Velpius 1574, S. 142v–145r
(epist. III,28: Ecclesia Militans Ecclesiae Triumphanti), hier S. 144r, V. 65–68.
8 Theokrit: Gedichte. Griechisch-deutsch. Hrsg. von F.P. Fritz. Stuttgart 1970, S. 16–27 (Phar-
makeutría); Vergil: Opera. Hrsg. von R.A.B. Mynors. Oxford 1969, S. 22f.: ecl. 8,64–109.
9 „Bringt aus der Stadt ihn nach Haus, meine Zaubersprüche, bringt meinen Daphnis.“ Vergil:
Opera (Anm. 8), ecl. 8, V. 68, 72, 76, 79, 84, 90, 94, 100, 104 und 109 (dort variiert: parcite, ab
urbe uenit, iam parcite carmina, Daphnis. – „Lasst ab, schon kommt aus der Stadt – lasst ab, ihr
Zaubersprüche – mein Daphnis.“). Übersetzungen aus dem Lateinischen hier und im Fol-
genden, sofern nicht anders angegeben, von mir.
nazaro (1458–1530), ansonsten für sein Epyllion auf die Jungfrauengeburt (De
partu virginis) berühmt, publizierte 1526 ein sehr einflussreiches Buch mit fünf
Eklogen, in denen er den ländlichen Raum der vergilischen Hirten durch den
der Fischer am Golf von Neapel ersetzte. 10 Auch er bietet, in der Ecloga piscatoria
5, eine Pharmaceutria-Episode, hier im Gesang des Fischers Dorylas. Dessen
Beginn sei zitiert:
Sebethi ad liquidas descenderat Herpylis undas,
Herpylis Euboidum non ultima, quam pater Alcon
Erudiit, Musis et Phoebo cognitus Alcon.
Venerat et socii partem subitura laboris
Unanimis soror et calathum de more ferebat. 25
Ipsa comas effusa pedemque exuta sinistrum
Cum philtris longum submurmurat atque ita fatur:
„Pone aram et vivos hauri de flumine rores
Canaque vicino decerpe absinthia campo;
Illum illum magicis conabor adurere sacris 30
Qui miseram tota spoliatam mente reliquit.
Volvite praecipitem iam nunc, mea licia, rhombum. 11
Herpylis stieg hinab zu den klaren Fluten des Sebethos; Herpylis, nicht
die letzte unter den Frauen Neapels, sie, die der Vater Alcon unterrichtet
hatte, Alcon, bekannt bei den Musen und Phoebus. Es kam auch, ihren
Teil an den Mühen der Gefährtin zu tragen, ihre Schwester, gleichen
Muts, und trug, wie es Sitte war, einen Korb. Sie selbst trug das Haar of-
fen und den linken Fuß unbedeckt, murmelte lange über ihren Liebes-
tränken und sprach so: „Richte den Altar auf, schöpfe frisches Wasser aus
dem Fluss und pflücke weißen Wermut vom Feld dort drüben. Ihn, ihn
will ich mit zauberischem Werk zu verbrennen suchen, der mich Elende
mit ganz zerrüttetem Geist zurückließ. Dreht den Kreisel, der sich schon
neigt, meine Fäden.
Der letzte zitierte Vers bildet zugleich den Refrain, der im Weiteren – ganz ana-
log zu Vergil – das Gedicht gliedern wird. 12 Der Zauber-Kreisel, der bereits bei
antiken Elegikern auftauchte, 13 soll hier dazu beitragen, einen gewissen Maeon
10 Jacopo Sannazaro: Latin Poetry. Ed. and transl. by Michael C. J. Putnam. Cambridge 2009,
S. 102–141; siehe dazu Carmelo Salemme: Il canto del Golfo. Le Eclogae piscatoriae di Iacopo
Sannazaro. Napoli 2007.
11 Die Ekloge findet sich in Sannazaro: Poetry (Anm. 10), S. 132–141, siehe hier die V. 20–75,
zitiert V. 21–32.
12 Siehe Sannazaro: Poetry (Anm. 10), S. 132–141, V. 36, 40, 43, 48, 64, 59, 63 sowie 69 und 73
variiert: Sistite praecipitem, iam sistite, licia, rhombum. – „Bremst den sich neigenden, bremst
schon, meine Fäden, den Kreisel.“ Die aemulatio Vergils wird so schon strukturell deutlich.
13 Vgl. etwa Properz 2,28,35: Deficiunt magico torti sub carmina rhombi („Es versagen die Kreisel,
zu behexen, der Herpylis verlassen hat. Das doppelte illum (V. 32) verdeutlicht
mit seinem zweifachen Bezug – einerseits auf das absinthium (V. 29), andererseits
als Korrelativ zum Relativpronomen „Qui“ (V. 31) – die magische Praxis im
Grammatischen: Wie die Pflanze brennt, so soll auch der untreue Liebhaber
brennen. Als weitere magischen Ingredienzien dienen verbrannte Algen (V. 37),
das Gift eines Zitterrochens, aus dem die Zauberin Maeon einen giftigen Trank
kredenzen will (V. 60–62), sowie ein zerschnittener Seehase, mit dessen Überres-
ten die Schwelle des Verhassten bestrichen werden soll (V. 64–68). Carmelo
Salemme hat nachgewiesen, dass diese steigernd geschilderten magischen In-
haltsstoffe nicht nur die bukolisch-ländlichen Materialien aus Vergils Alphesi-
boeus-Lied durch fischerlich-marine ersetzen, sondern dass Sannazaro neben
Vergil auch das zweite Idyllion Theokrits mit einbezieht, auf dessen Zauber etwa
das Bestreichen der Schwelle und vermutlich auch der Zitterrochen (als marine
Entsprechung zum Salamander) anspielen. 14
Nun stellten Sannazaros Fischer-Eklogen nicht nur in sich ein raffiniertes
Spiel mit literarischen Traditionen dar, 15 sondern sollten ihrerseits die weitere
Renaissance-Bukolik maßgeblich beeinflussen, 16 wohl auch deshalb, weil Euro-
pas einflussreichster Poetiker, Julius Caesar Scaliger, Sannazaros zweite Piscato-
ria im Rang unmittelbar nach den Eklogen Vergils positionierte. 17 Just sein Phar-
maceutria-Gedicht scheint dabei das am meisten imitierte gewesen zu sein. 18 So
unterschiedliche Dichter wie Petrus Lotichius Secundus, Simon Lemnius oder
Melchior Barlaeus legten Bucolica nach Vergil und Sannazaro vor, ebenso der
die unter zauberischen Gesängen gedreht wurden“; z.B.: Popertius: Elegiarum libri sex.
Hrsg. von Paulo Fedeli. Stuttgart 21994, S. 117); Ovid: Liebesgedichte. Lateinisch/Deutsch.
Übers. und hrsg. von Michael von Albrecht. 2. Auflage. Stuttgart 2010, S. 30f. (am. 1,8,7f.,
von der Hexe Dipsas): scit bene quid gramen, quid torto concita rhombo / licia, quid valeat […]. –
„Sie weiß wohl um die Kraft der Kräuter, der bewegten Fäden an gedrehter Scheibe […].“ –
Als Bezugstext für beide kommt wohl Theokrit, Id. 2,17 in Frage.
14 Salemme: Canto (Anm. 10), S. 89–91.
15 Salemme: Canto (Anm. 10), S. 91: [U]n gioco finissimo di riprese, di variazioni, di combinazioni.
16 Einen sehr guten Überblick gibt Eckart Schäfer: Zur Sannazarius-Rezeption in der Renais-
sance-Bukolik. In: Sannazaro und die Augusteische Dichtung. Hrsg. von dems. Tübingen
2006, S. 249–275; beizuziehen ist ferner Nicholas Smith: The Genre and Critical Reception of
Jacopo Sannazaro’s Eclogae Piscatoriae (Naples, 1526). In: Humanistica Lovaniensia 50 (2001),
S. 199–219.
17 Scaligers Text ist bequem greifbar bei Ilse Reineke: Julius Caesar Scaligers Kritik der Neula-
teinischen Dichter. Text, Übersetzung und Kommentar des 4. Kapitels von Buch VI seiner
Poetik. München 1988, S. 240–255, hier V. a. 252f.: „Auch im Hirtengedicht ist von allen, die
nach Vergil geschrieben haben, er allein lesenswert.“ Siehe dort ferner Reinekes Kommentar
zu Scaligers Auffassung von Sannazaro, S. 494–496.
18 Schäfer: Sannazarius-Rezeption (Anm. 16), S. 253; eine weitere frühneuzeitliche Pharmaceu-
tria-Ekloge präsentiert Alexander Cyron: Melchior Barlaeus, 5. Ekloge Pharmaceutria. Text –
Übersetzung – antike Vorbilder. In: Vestigia Vergiliana. Vergil-Rezeption in der Neuzeit.
Hrsg. von Thorsten Burkard, Markus Schauer und Claudia Wiener. Berlin, Boston 2010,
S. 147–168.
aus dem Umkreis von Minden gebürtige spätere Rostocker Professor Johannes
Bocer (1526–1565), der wie Sannazaro in seiner Schluss-Ekloge eine Hexe auftre-
ten lässt. 19
Bei ihm fällt allerdings der singende Hirte perspektivisch mit dem lyrischen
Ich zusammen, das in bewusster Nachfolge von Vergils Tityrus und seiner „Mu-
se“ 20 von der betrogenen Liebe einer gewissen Crocale zum Jüngling Thrasyllus
erzählt und dabei, ganz der bukolischen Tradition entsprechend, die Rede der
verlassenen Frau wiedergibt. Nachdem diese über gut vierzig Verse ihre Liebe
zu Thrasyllus und dessen Treulosigkeit beschrieben hat, entschließt sie sich, den
Liebeszauber zu unternehmen.
Geh, Schwester, und errichte zwei Altäre für geheime Riten dort, wo To-
tengeister für gewöhnlich düstere Gräber umfliegen. Dieser Ort ist für
magische Künste geeignet. Hier schlachte einen schwarzen Hahn und
gieße sein mit frischer Milch vermischtes Blut dreimal auf die aufgestell-
ten Altäre, doch mit abgewandtem Gesicht. Und nicht erblicke dich der
helle Tag, während du dort verweilst. Die Nacht liebt, als Komplizin, die
magischen Künste. Dreht euch sogleich, dreht euch geschwind, ihr Schüs-
seln!
Vers 55 fungiert im Folgenden als Refrainvers, der dreimal wiederkehrt und
dann noch zweimal in negativer Abwandlung, wie es von Theokrit bis Sannaza-
19 Zu Leben und Werk Bocers jetzt umfassend Lothar Mundt: ‚Bocer(us) (Bodeker, Bokerus),
Johannes‘. In: Frühe Neuzeit in Deutschland 1520–1620. Literaturwissenschaftliches Ver-
fasserlexikon. Hrsg. von Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Michael Schilling, Johann
Anselm Steiger und Friedrich Vollhardt. Bd. 1. Berlin, Boston 2011, Sp. 296–307; die muster-
gültige Edition von Bocers Eklogen stammt ebenfalls von Mundt, vgl. Johannes Bocer: Sämt-
liche Eklogen. Mit einer Einführung in Leben und Gesamtwerk des Verfassers hrsg., übers.
und komm. von Lothar Mundt. Tübingen 1999.
20 Das fragliche Gedicht findet sich bei Bocer: Eklogen (Anm. 19), S. 72–79 (Pharmaceutria.
Aegloga VII), siehe hier V. 1: Dum pastorali sequimur te, Tityre, Musa, in Mundts Übersetzung:
„Da wir im Hirtengesang dir nachfolgen, Tityrus“.
21 Zitiert nach Bocer: Eklogen (Anm. 19), S. 74, V. 48–55; die Übersetzung Bocer: Eklogen
(Anm. 19), S. 75.
ro üblich war. 22 Doch damit nicht genug. Bocer weiß sich im Wettstreit mit sei-
nen Vorgängern, zumal Sannazaro, dessen Zauberin Herpylis ja auch Hilfe von
ihrer Schwester bekam. 23 Ebenso hier Crocale, die aber nach dem magischen Tun
der Gehilfin auch selbst aktiv wird:
Hoc nigrum laevo sic dirige pollice filum.
Hoc omnes vinctos stringam captosque ligabo
Currite iam magica vertigine, currite fila!
Hac virga coryli, gelido qua nuper in antro
Mordentem ranam lubricum placavimus anguem 95
Et qua servavi muscam, quam laesit Arachne,
Hac ego Thrasylli leviter si tempora tangam,
Ferreus ille licet fuerit, miserebitur ultro
Et supplex iterum nostro se subdet amori.
Currite iam magica vertigine, currite fila! 24 100
Führe diesen schwarzen Faden so mit dem linken Daumen. Damit werde
ich alle [sc. soeben beschworenen Geister] gefesselt im Zaume halten und
als Gefangene binden. Lauft jetzt durch magische Drehung, lauft, ihr Fä-
den! Wenn ich mit dieser Haselrute, mit der ich kürzlich in kühler Grotte
eine Schlange besänftigte, die einen Frosch biß, und mit der ich eine von
einer Spinne verletzte Fliege rettete: wenn ich mit dieser Rute leicht des
Thrasyllus Schläfen berühre, wird er, mag er auch aus Eisen gewesen
sein, von sich aus Mitleid empfinden und sich demütig wieder meiner
Liebe unterwerfen. Lauf jetzt durch magische Drehung, lauft, ihr Fäden!
Bocers Gesang fügt der ersten Refrain-Serie eine zweite hinzu, die dann bis zum
Ende der Ekloge reicht, wodurch er nicht nur die magischen Handlungen weiter
ausschmückt, sondern auch seine antiken und rinascimentalen Vorgänger über-
bietet. 25 Betrachtet man die magischen Handlungen selbst, so zeigt sich auch hier
eine Technik von Ausschmückung und Kumulation: Zwei Altäre werden errich-
tet statt eines bei Sannazaro, Tiere werden geschlachtet und Flüssigkeiten wie
22 Vgl. Bocer: Eklogen (Anm. 19), V. 60, 66, 73 und in den V. 80 und 86 die Variationen State,
nec ulterius celeres procedite, pelves! In Mundts Übersetzung: „Haltet an und bewegt euch
nicht geschwind weiter, ihr Schüsseln!“ – Welche rituelle Funktion diese sich drehenden
Schüsseln genau haben, bleibt – auch dem Kommentator – unklar.
23 Lothar Mundt weist in seinem Kommentar zur Ekloge ferner plausibel auf eine Pharmaceu-
tria-Ekloge des Pfälzer Neulateiners Petrus Lotichius Secundus sowie auf die Dido-Episode
in Vergils Aeneis als Vorläufer hin, vgl. Bocer: Eklogen (Anm. 19), S. 163 und 166.
24 Zitiert nach Bocer: Eklogen (Anm. 19), S. 76, V. 91–100; Mundts Übersetzung Bocer: Eklogen
(Anm. 19), S. 77.
25 Siehe Bocer: Eklogen (Anm. 19), S. 76–78, V. 107, 114, 120, 126, 132 und die dreimalige (!)
Variation in V. 139, 147 und 158: Sistite, fila, citos, iam tandem sistite cursos! In Mundts Über-
setzung: „Haltet ein, Fäden, es ist genug, haltet jetzt ein in eurem schnellen Lauf!“
bei Sannazaro vergossen. Die „Komplizin Nacht“ (V. 54) markiert im Lateini-
schen einen gängigen Bezug zur römischen Epik und Liebeselegie. 26 Zugleich
scheint das Schwesternpaar Geister zu beschwören (Spiritibus, V. 88), die der
Crocale, welche buchstäblich die Fäden in der Hand hält, dann dienstbar sein
sollen. Doch der Einsatz dieser Geister wird im Folgenden nicht thematisiert,
vielmehr setzen die vom Refrainvers gerahmten Segmente immer wieder mit
neuen magischen Praktiken und Werkzeugen ein, die Thrasyllus Schaden zufü-
gen sollen, etwa der Haselrute im obigen Zitat. 27 Zu ihr gesellen sich Tierhaare
(V. 101–104), magische Kräuter (V. 108–113), behauene Pfähle (V. 115–119), Mu-
scheln (V. 121–125), Pfeil und Bogen (V. 126–131), und sogar Sannazaros Seehase
wird zerteilt, obwohl die Szene sich keineswegs in Meeresnähe abspielt (V. 140–
146). Offenkundig geht es Bocer in diesen Passagen nicht um die Präsentation
magischen Wissens in Form eines einheitlichen, zweckhaften magischen Rituals,
sondern um die Anreicherung mit möglichst vielen verschiedenen Motiven aus
der Tradition antiker Darstellungen des Liebeszaubers.
Dennoch würden vor dem Hintergrund zeitgenössischer Dämonologie hier
zweifelsfrei Nekromantie und Hexenwerk dargestellt, indem Crocale und ihre
Schwester sich Geister, womöglich der Toten auf dem Friedhof, dienstbar ma-
chen und mit allerhand magischem Gerät hantieren. Dass Thrasyllus schließlich
auf einem Bock durch die Lüfte fliegt, spielt einerseits deutlich auf die Daphnis-
Ekloge des Lotichius an, kann aber im Horizont frühneuzeitlicher Imaginationen
von Hexentanz und Hexenflug auch einen ganz anderen, teuflischeren Reiter
meinen. Drei Faktoren, die sich mutatis mutandis auf alle frühneuzeitlichen Phar-
maceutria-Eklogen übertragen lassen, stellen sich freilich einer solchen Interpre-
tation entgegen: Gattungstopoi, Fiktionssignale und eine für die Frühneuzeit
typische imitatio veterum. Letztere lässt sich etwa für das letzte Segment der Ek-
loge in Anschlag bringen, wenn Crocale die Wirkmacht ihrer Zaubersprüche
(Carmina) herausstellt, die den Lauf der Natur ändern, Wetter machen und auf
alles, was lebt, einwirken könnten. 28 Die Verse ließen sich als Beleg zeitgenössi-
schen Wetter- und Schadenszaubers lesen, doch Lothar Mundt weist im Kom-
mentar zur Stelle die zahlreichen Similien zu Vergils achter Ekloge auf. 29 Bocer
geht es somit nicht um eine wie auch immer authentische Präsentation von He-
xenwesen und Schadenszauber, sondern darum, sich wie Sannazaro, Lotichius
und andere vor ihm als innovativen Dichter in der Imitation und Aemulation
einer traditionellen Gattung zu erweisen.
Zu den Topoi dieser Gattung gehört es auch, die Handlung in einem teils fik-
tiven, teils (etwa in Vergils ecl. 1 und 4) historisch situierbaren ländlichen Raum
26 Vgl. Ovid: epist. 18,105, oder im eher sakralen Zusammenhang Ovid, Met. 6,587; Met. 13,15.
27 Zur frühneuzeitlichen Diskussion um die magische Wirkung von Hasel- und Wünschelru-
ten vgl. den Beitrag von Bernd Roling im vorliegenden Band.
28 Siehe Bocer: Eklogen (Anm. 19), S. 78f., V. 147–157.
29 Siehe Bocer: Eklogen (Anm. 19), S. 166.
30 Bocer: Eklogen (Anm. 19), S. 72, V. 2f., deutsch S. 73: „[…] und im Wechsel Wahres mit
Erfundenem mischen, werden wir jetzt auch von der unseligen Liebe reden, in der Crocale
glücklos entbrannte.“
31 Vgl. Vergil: Opera (Anm. 8), S. 241 (Aeneis 6,456).
32 Vgl. Bocer: Eklogen (Anm. 19), S. 58–71 sowie den Kommentar auf S. 156–162.
33 So verweist etwa der erwähnte Ludwig Milichius in seinem Zauber Teuffel bei der Erörte-
rung magischer Mittel und Zeremonien ganz selbstverständlich auf antike Dichtungen von
Horaz, Ovid oder Juvenal und bringt als Beispiel für Zauberformeln eine deutsche Vers-
übersetzung just aus Vergils achter Ekloge, (Milichius: Zauber Teuffel [Anm. 3], S. 47,1–6;
47,25–48,9; siehe etwa auch S. 82,20–83,2, wo als Belege für Giftmischerei Vergils drittes Ge-
orgicon sowie Plinius zitiert werden). – Auf der anderen Seite der konfessionellen Trennlinie
sah es nicht anders aus. Martin Delrio etwa führt in seinem Kompendium über Magie als
Teufelsbündlertum reichhaltige Stellenkataloge aus antiker und teils zeitgenössischer Dich-
tung an, ohne sich an der Frage der Fiktionalität zu stören; über die Wirkungen von Magie
und Hexerei etwa zitiert er ausführlich die ‚klassischen Stellen‘ über das Wettermachen,
Herabholen des Mondes, über Circe, Medea, Erictho u.a. aus Vergil, Ovid, Tibull, Properz,
Lucan, Seneca, Silius, Claudian, Ausonius u.a.: Delrio: Disquisitiones (Anm. 6), S. 125,2C–
129,2E; 139,1D; 141,2D, 152,1B–152,2B, 154,2D–155,1C, 187,1A–187,2C, 198,1C–198,2A, 204,
2A; speziell zu Liebeszauber und ihren Gegenmitteln werden Pharmaceutria-Eklogen ein-
schlägig genannt: S. 364,2E–365,1D und 368,1B–374,1D.
Alsbald umwinde ich meine Haare mit einer Binde, setze eine dunkle
Priestermütze auf, hülle den Körper in gräßliches Leinen und zeichne
schnell mit gezücktem Schwert eine schräge Figur auf den Boden. Ich las-
se eine Rute in lebendigen Flammen aufgehen und singe dreimal rings
um den Altar, furchtlos im Schutze des Schwertes; darauf bezeichne ich
die vier Richtungen des Himmels und der Erde, wo sich Phoebus im Auf-
gang erhebt und wo er zur Ruhe niedersinkt in hesperische Wasser, wo in
der Nacht das kalte Siebengestirn leuchtet und wo der sich neigende
Himmel den warmen Südwind aufnimmt. Dann weihe ich den Ort mit
34 Das Gedicht samt deutscher Übersetzung und reichhaltigem Kommentar findet sich in:
Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts. Lateinisch-deutsch. Ausgewählt, übers., erl. und
hrsg. von Wilhelm Kühlmann, Robert Seidel und Hermann Wiegand. Frankfurt a.M. 1997,
S. 86–97, hier zitiert S. 91, lat. S. 88, V. 63f.
35 Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts (Anm. 34), S. 90–92, V. 98–132, hier zitiert V. 98–
114.
höllischen Fackeln und mit Schwaden von Weihrauch, zum Altar geneigt
mit verhülltem Haupt, schon geweiht mit magischem Nass; sodann er-
schallen unheilvolle Gesänge aus meinem grausigen Mund. Bald aber
(mich schaudert bei dem Bericht) eröffnete die Erde tief in ihrem unge-
heuren Schoß unter lautem Getöse einen ins Leere klaffenden Schlund.
Von dort ertönten Grabesstimmen […].
Die Genauigkeit der Darstellung reicht bis in die Requisiten: Von einer dunklen
Priestermütze und einem entsprechenden Gewand 36 ist die Rede, von Schwert
und Dolch, von verbranntem Holz, Weihrauch und genau abgemessenen Bewe-
gungen und Gesten, von zauberkräftigen Flüssigkeiten und grausigen Zauber-
formeln (V. 110f.: carmina Tristia 37). Die magischen Handlungen sind teils in sehr
gedrängten Formulierungen zum Ausdruck gebracht: Die Wendung terque ante
altaria circum / Intrepidus mucrone cano (V. 102f.) drückt zugleich aus, dass der
Beschwörende dreimal seine Formel spricht, wobei ihm die zuvor mit dem
Schwert gezogene magische Figur um ihn herum (circum) als Schutz dient
(Intrepidus). Neben solchen sehr knappen Fügungen finden sich aber auch deut-
lich antikisierende, ausführlichere Passagen, wie etwa die Antonomasie der vier
Himmelsrichtungen. Diese Tempowechsel erzeugen Spannung, ebenso der re-
tardierende Kommentar zum Erfolg dieser Beschwörung (V. 111–114): Das Ge-
schehen lässt das lyrische Ich noch beim Bericht darüber erschauern!
Sachlich ist dieser Zauberritus dabei nicht weit von den ähnlichen Vorgän-
gen in den oben genannten Eklogen entfernt. Folgenreich scheint aber die Inse-
rierung desselben in einen nun elegischen Kontext zu sein, in dem wir uns –
trotz der an sich regelwidrigen, rein hexametrischen Form – mit den Amores
befinden. Hier wird eben nicht mehr der verderbliche Liebeszauber einer wie
immer fiktionalen Zauberin in den fernen Welten der Schäferei (oder Fischerei)
dargestellt, sondern das lyrische Ich, das in der frühen Neuzeit – zumal im Ge-
nus der Elegie 38 – niemals ganz vom Autor zu trennen war, geriert sich als prak-
tizierender Adept schwarzer Künste. Damit geht Celtis bei aller antikisierenden
36 Die Formulierung furiali lino bereitet einer deutschen Übersetzung Probleme. Einerseits
wird, wie hier im Deutschen ausgedrückt, auf die Furien und ihre Schrecken angespielt, an-
dererseits hängt furialis auch mit dem furor, dem göttlich (oder dämonisch) initiierten
Wahnsinn des Priesters zusammen. Gemeint ist, dass der magische Practicus hier den Bo-
den der Vernunft verlässt.
37 Die Majuskel in „Tristia“ könnte eine Anspielung auf Ovids gleichnamigen autobiographi-
schen Trauer-Brief aus dem Exil nach Rom darstellen. Immerhin entwickelte der Augusteer
mit den Tristia die elegische Form weiter, die Celtis in den Amores ja seinerseits fortschreibt.
38 Autobiographische Deutungen sowohl antiker als auch zeitgenössischer Elegik stellten die
Regel dar, was Folgen für Produktion wie Rezeption hatte. Vgl. dazu etwa Achim Aurn-
hammer: Tristia ex Transilvania. Martin Opitz’ Ovid-Imitatio und poetische Selbstfindung
in Siebenbürgen (1622/23). In: Deutschland und Ungarn in ihren Bildungs- und Wissen-
schaftsbeziehungen während der Renaissance. Hrsg. von Wilhelm Kühlmann und Anton
Schindling. Wiesbaden 2004, S. 253–272.
Dies sprach ich; der Schatten aber ergriff eilends die leichtbewegliche Tür
und schwieg; das Tor aber gab gleich darauf ein rauhes Geräusch aus den
Angeln von sich und zeugte mir damit von einer wirklich existierenden
Gestalt. Ich aber sagte: „Wieso konnte eine lebendige Gestalt mein Herz
erschrecken? Nicht noch einmal wirst du Spott mit mir treiben, flüchtiger
Schatten, und es nächtens mit meinem Mädchen treiben.“
39 Hermann Wiegand: Konrad Celtis, die Magie und Horaz. Zu Elegie 1,14 der Amores, ihren
Traditionslinien und ihrer Zeitgenossenschaft. In: Horaz und Celtis. Hrsg. von Ulrike Au-
hagen, Eckard Lefèvre und Eckart Schäfer. Tübingen 2000, S. 307–319, hier S. 315. – Der an-
tike Text ist bequem greifbar in Horaz: Sämtliche Werke. Lateinisch/deutsch. […] Mit einem
Nachwort hrsg. von Bernhard Kytzler. Stuttgart 22006, S. 382–387.
40 Horaz: Sämtliche Werke (Anm. 39), V. 1.
41 Horaz: Sämtliche Werke (Anm. 39), V. 17–45. – Diese Nekromantie-Szene wurde in dämono-
logischen Traktaten der Frühen Neuzeit häufig als Beleg zitiert; vgl. etwa Delrio: Disquisiti-
ones (Anm. 6), S. 537,1C–537,2A.
42 Horaz: Sämtliche Werke (Anm. 39), S. 386, V. 46–50.
43 Humanistische Lyrik (Anm. 34), S. 94–96, V. 157–162.
44 Zugleich konzediert Wiegand, dass dies in anderen Gedichten durchaus der Fall sein kann;
vgl. Wiegand: Konrad Celtis (Anm. 39), S. 316f. sowie die von ihm diskutierte Forschung.
45 Vgl. dazu immer noch das Standardwerk von Klaus Arnold: Johannes Trithemius (1462–
1516). Zweite, bibliographisch und überlieferungsgeschichtlich neu bearbeitete Auflage.
Würzburg 1991, hier S. 180–200; ferner Noel L. Brann: Trithemius and Magical Theology. A
Chapter in the Controversy over Occult Studies in Early Modern Europe. Albany, NY 1999.
46 Vgl. Fünf Bücher Epigramme von Konrad Celtes. Hrsg. von Karl Hartfelder. Ndr. Hildes-
heim 1963: 1,43; 2,16; 2,73; 3,37.
47 Zitiert nach: Fünf Bücher Epigramme (Anm. 46), S. 36 (2,60).
48 Vgl. systematisch Delrio: Disquisitiones (Anm. 6), S. 543,2A–545,1A (lib. 4, cap. 2, quaest. 6,
sect. 3).
49 Peter Dinzelbacher: Das fremde Mittelalter. Gottesurteil und Tierprozess. Essen 2006,
S. 35f. – Letztlich stellt diese Kaltwasserprobe ihrerseits eine Art Hydromantie dar, wie Jo-
hann Georg Krünitz in seiner Encyklopädie lakonisch vermerkt: Oekonomische Encyklopä-
die, oder allgemeines System der Staats- Stadt- Haus- u. Landwirthschaft, in alphabetischer
Ordnung, Bd. XXVII. Berlin: Pauli 1783, S. 479. – Selbst unter den affirmativen Dämonolo-
gen war sie übrigens umstritten, Delrio etwa lehnte die Wasserprobe als „deutsche Unsitte“
ab (Delrio: Disquisitiones [Anm. 6], S. 637,1B–641,2A).
50 Siehe dazu die primär philosophischen Überlegungen von Maximilian Bergengruen: Genius
malignus. Descartes, Augustinus und die frühneuzeitliche Dämonologie. In: Unsicheres
Wissen. Skeptizismus und Wahrscheinlichkeit 1550–1850. Hrsg. von Carlos Spoerhase, Dirk
Werle und Markus Wild. Berlin, New York 2009, S. 87–108, hier v.a. S. 98–103.
51 Wilhelm Kühlmann: Poetische Hexenangst – Zu zwei Gedichten des pfälzischen Humanis-
ten Paul Schede Melissus (1539–1602) und ihrem literarischen Kontext. In ders.: Vom Hu-
manismus zur Spätaufklärung. Ästhetische und kulturgeschichtliche Dimensionen der
in der sich die existenzielle Angst vor Schadenszauber aus dem Munde eines
(vermeintlich) Betroffenen äußert. Solch’ offene Aussprache des kurfürstlichen
Hof- und Bibliotheksrates entbehrten nicht der Brisanz, galt doch die Pfälzer
Regierung im späten 16. Jahrhundert als dem sog. ‚Hexenwahn‘ gegenüber
weitgehend resistent, was zum Einen mit bestimmten Rechtsauffassungen des
Rates, zu Anderen auch mit dem Einfluss prominenter Gegner der Verfolgun-
gen, wie Johannes Weyer oder Hermann Witekind, 52 zusammenhing. Nichts
davon bei Schede, dessen alkäische Ode gerade in der ‚frommen‘ calvinistischen
Kurpfalz das Wirken von Giftmischern beklagt und sich selbst samt seiner Man-
neskraft als Opfer von Schadenszauber und Pharmaceutria präsentiert. 53 Ich
möchte hier kurz das zweite Hexengedicht zitieren, an dessen Eingang sich Kon-
traste und Bezüge zu den bisher vorgestellten Gedichten ablesen lassen: 54
In veneficarum sagarumque incantamenta. & Christianae fidei ejerationes.
Carmen VIII
Dira monstra veneficæ noxiosaque sagae
Turba, quae magicis nigri Ditis artibus usae
Nemini prope parcitis; quid lucrive bonive
Ex mala capitis technâ? Vos tenella puellûm
Membra, tum juvenum & senum fascinare suëstis 5
Corda.
frühneuzeitlichen Lyrik und Verspublizistik in Deutschland. Hrsg. von Joachim Telle, Fried-
rich Vollhardt und Hermann Wiegand. Tübingen 2006, S. 323–340, hier S. 330f.
52 Johannes Wierius: De praestigiis daemonum, et incantationibus, ac veneficijs libri V. Basel
1563 u.ö.; Augustin Lerchheimer [i.e. Hermann Wilken, alias Witekind]: Christlich be-
dencken und erinnerung von Zauberey. Heidelberg 1585 u.ö. Über Witekind siehe Otto Ul-
bricht: Der sozialkritische unter den Gegnern: Hermann Witekind und sein Christlich be-
dencken vnd erjnnerung von Zauberey von 1585. In: Vom Unfug des Hexen-Processes. Gegner
der Hexenverfolgung von Johann Weyer bis Friedrich Spee. Hrsg. von Hartmut Lehmann
und dems. Wiesbaden 1992, S. 99–128. – Auf der anderen Seite hatte der herzogliche Leib-
arzt Thomas Erastus in seiner Disputatio de Lamiis seu Strigibus (1572) scharf Position für die
tödlichen Hexenprozesse bezogen, konnte sich aber letztlich nicht durchsetzen; vgl. dazu
H.C. Erik Midelfort: Witch Hunting in Southwestern Germany 1562–1684. The Social and In-
tellectual Foundations. Stanford, CA 1972, S. 56–58.
53 Vgl. die Ode mit deutscher Übersetzung und Kommentar in Humanistische Lyrik
(Anm. 34), S. 850–853.
54 Zitiert mit leichter Modifikation der Übersetzung nach Kühlmann: Poetische Hexenangst
(Anm. 51), S. 340f., V. 1–6.
welchen Nutzen zieht ihr aus eurer üblen Kunst? Ihr pflegt der Knaben
zarte Glieder und überdies die Herzen junger und alter Männer zu verhe-
xen.
Weder von der kühnen Selbstermächtigung mittels magischer Verrichtungen
noch von der bitterbösen Ironie eines Conrad Celtis ist hier etwas zu finden. Ein
Opfer magischer Künste flucht auf die Hexen und stellt ihnen im weiteren Ver-
lauf des Gedichtes ewige Höllenstrafen in Aussicht. Die Membra (V. 5) dürften
wiederum auf die Impotenz des Sprechers gemünzt sein, eine Wirkmacht des
Schadenszaubers, die bereits im Malleus maleficarum und generell in dämono-
logischer Literatur ausführlich thematisiert wurde. 55 Wichtiger als die Bezüge
zum Sachschrifttum scheint mir aber die seltene metrische Form des Poems zu
sein, der allenfalls aus Catull geläufige Priapeus, zu dem sich die hier und in den
folgenden 38 Versen beachtliche Anzahl von Flüchen und Beschimpfungen ge-
gen die Hexen fügt. Inhaltliche Beziehungen zu Catull oder der Appendix Vergili-
ana scheinen weniger ergiebig als die Vermutung, dass Priapus gleichsam als
Gegenmittel gegen die versehrte Manneskraft gelten soll, freilich um des decor-
ums willen lediglich metrisch greifbar wird. 56 Doch gerade bei dem Horaz-
Kenner und -Aemulator Schede scheint mir ein Bezug zur oben erwähnten ach-
ten Satire des Venusiners wahrscheinlich. Wie dort soll auch hier der potente
Gartengott schließlich die Hexen vertreiben. So erst geraten die incantamenta
(Titel) zu Trägern eines Gegenzaubers, dem freilich jedes Spottgelächter des
horazischen sermo fern liegt.
Überdies wandelt sich das Gedicht von den Klagen eines persönlich Be-
troffenen über die Aufzählung diverser Schadenszauber (V. 7–20) zu einer bitte-
ren Anklage an die Zauberinnen als Teufelsbündler:
Pacta turpia inistis 20
Cum manu Cacodaemonum sonte, foedifragaeque
Desciistis ab optimo maximoque JEHOVA,
Lubricâ instabiles fide, pravitate rebelles.
Abnegastis item sacri jura sancta lavácri,
Infideliter a DEI filio, duce nostro, 25
Castra in hostica transfugae; nequiter quibus ipsam
55 Johannes Trithemius etwa widmete das gesamte vierte Buch seines gegen Hexerei gerichte-
ten Traktats Antipalus maleficiorum (1508) ausschließlich der Frage nach einer durch Scha-
denszauber induzierten Impotenz und ihren Heilmöglichkeiten; vgl. Arnold: Johannes
Trithemius (Anm. 45), S. 196f. mit der dort genannten Literatur. – Delrio bringt das Beispiel
eines durch Schadenszauber Impotenten, der wiederum von einem Magier kuriert wird, vgl.
Delrio: Disquisitiones (Anm. 6), S. 925,2B–926,1C.
56 So Kühlmann: Poetische Hexenangst (Anm. 51), S. 335.
Üble Pakte habt ihr geschlossen mit der grausen Schar böser Dämonen.
Den [alten] Vertrag gebrochen habt ihr und euch losgesagt vom gütigsten
und höchsten JEHOVA, ihr Aufrührer in eurem schwankenden Glauben
und eurer Verdorbenheit! Ihr habt die unantastbaren Gesetze der heilige
Taufe verleugnet, indem ihr treulos von GOTTES Sohn, unserem Herrn,
ins Lager des Feindes übergelaufen seid, in nichtswürdiger Weise diesem
Leben und Seele verpfändet und von der Klaue Satans ein schändliches
Mal empfangen habt.
Dies stellt nun einen wichtigen Zusatz dar, den der Jurist Schede sicherlich ab-
sichtsvoll so stark betont hat: Durch den Teufelsbund, der gleich mehrfach und
teils drastisch mit den „Klauen Satans“, die ein Kainsmal aufgeprägt haben,
umschrieben wird (V. 20, 24, 26f.), werden die zunächst als schädliche Zauberin-
nen weltlich belangbaren Frauen obendrein zu Ketzerinnen (V. 23: rebelles!), die
ebenso von geistlicher Gerichtsbarkeit verfolgt werden müssen. Mit dieser star-
ken Betonung des häretischen Status’ der Hexen, den auch zeitgenössische dä-
monologische Traktate immer wieder herausstellten, verlässt Schede sichtlich
das Feld antikisierender Aemulatio, wie sie für die Pharmaceutria-Eklogen prä-
gend war, und positioniert sich im Hexerei-Diskurs seiner Gegenwart. Bemer-
kenswert muss angesichts dessen jedoch erscheinen, dass Schede am Schluss des
Gedichts tatsächlich eine Möglichkeit der Rettung für diese „verkommenste
Schar“ formuliert:
Si DEUM tamen, o manus perditissima, vestri 45
Vel parum miseresceret; gratiâ illius unâ
Entheam bene posse vos obtinere salutem
Dico, & aetheriâ dehinc porró sede potiri. 58
Wenn GOTT dennoch mit euch, ihr verkommenste Schar, nur ein wenig
Erbarmen hat, dann könnt ihr allein durch seine Gnade auf gute Weise
das Heil der Gottesnähe erlangen und künftig in die himmlische Wohn-
statt einziehen. Das verkünde ich euch.
Im calvinistischen Kontext kann es nur die Gnade Gottes sein, durch welche die
Hexen noch zu retten wären. Wilhelm Kühlmann hat m.E. zu Recht in der
merkwürdigen Formulierung von Enthea salus (V. 47) und aetheria sedes eine hin-
57 Zitiert nach Kühlmann: Poetische Hexenangst (Anm. 51), S. 340f., V. 20–28 unter leichter
Modifikation der deutschen Übersetzung.
58 Zitiert nach Kühlmann: Poetische Hexenangst (Anm. 51), V. 45–48 unter leichter Modifika-
tion der deutschen Übersetzung.
tersinnige Pointe vermutet: 59 Die Hexen steigen insofern in die Lüfte und nähern
sich demzufolge Gott an, indem sie als Ketzer verbrannt werden. Das selbstbe-
wusste Dico im letzten Vers führt somit die konsequente Verfluchung der Zau-
berinnen durch eines ihrer Opfer zu einem konsequenten Schluss- und Höhe-
punkt.
59 Kühlmann: Poetische Hexenangst (Anm. 51), S. 338: „[…] bleibt für die […] Unholde allen-
falls die Hoffnung auf Gottes Erbarmen – zu ergänzen: nach ihrem verdienten Tod durch
den irdischen Henker.“
60 Ausführlicher zu Bislins hier nur knapp skizziertem Leben siehe die Einleitung in Johannes
Bisselius: Deliciae Veris – Frühlingsfreuden. Lat. Text, Übersetzung, Einführungen und
Kommentar. Hrsg. von Lutz Claren, Jost Eickmeyer, Wilhelm Kühlmann, Hermann Wie-
gand u.a. Berlin, Boston 2013, S. 4–17; bibliographisch flankierend dazu: Philipp Weiß, Ale-
xander Winkler: Der Dichter und Historiker Johannes Bisselius SJ (1601–1682) – Ein perso-
nalbibliographischer Überblick. In: Humanistica Lovaniensia 61 (2012), S. 482–510.
61 Zitiert nach Bisselius: Deliciae Veris (Anm. 60), S. 293.
Mit mir ging ein Grüppchen von Männern meines Alters: Die Gefährten
Nisus und Euryalus, nicht von einer Mutter geboren, doch aus einer Fa-
milie, dann Lupus, Trebulus, Lepidus, Marcus und Anser (ANSER, der
geschwätziger ist als hundert Gänse). In Händen hielten wir Lauten und
Tamburine, die mit ihrem drögen Dröhnen sogar gemalte Pferde hätten
antreiben können. Wir kamen zum Weideland. Die ganze Herde folgte
dem Hirten, und die LEICHTE Muse vereinte uns in fröhlichen Liedchen.
Ich spielte den Mopsus, meine Gefährten den Menalcas. Der Hirtenruf
schallte: „Oh Meliboeus, ein GOTT!“
Die teils bukolischen Musikinstrumente sowie die Nennung der wie auch immer
verschlüsselten Namen erzeugen den Eindruck ungezwungener Privatheit und
verweisen womöglich im autobiographischen Rückgriff auf eine gesellige Praxis
jesuitischer Bildungseinrichtungen. Wenn gegen Ende des Zitates auch Hirten-
namen aus der Tradition der Schäferdichtung – namentlich Vergils fünfter Eklo-
ge – fallen, wähnt man sich gänzlich in der idyllischen Sphäre augusteischer
Bukolik. Bezeichnend für Bisselius’ souveränen Umgang mit der Tradition der
Hirtendichtung, der sich die Elegie somit zunächst annähert, wirkt das Ludebam
(V. 15), das nicht nur ein durchaus plausibles Hirtenspiel der jungen Jesuiten-
zöglinge evoziert, sondern eben auch Bisselius’ Fähigkeit betont, hier bukolische
Szenerien spielerisch zu entwerfen.
Dann jedoch schlagen Stimmung und Wetter um, ein ungeheures Hagelwet-
ter bricht los, dem die jungen Leute kaum unverletzt entkommen und das jeden-
falls die umliegenden Fluren und Felder verwüstet (V. 16–31). Die Ursache
solch’ unverhoffter Zerstörung ist am folgenden Tag ausgemacht und ordnet das
Gedicht urplötzlich der Hexendichtung zu:
Kaum hatte uns der nächste Tag die Sonne ganz und wohlbehalten zu-
rückgebracht, klagt man eine Alte an; Brullia hieß sie. Brullia wurde über-
führt, im ersten Morgengrauen angelegentlich um verschiedene Türen
herumgeschlichen zu sein; ferner, sich frische Milch beschafft und von
dieser Milch einen Kübel auf das Land eines alten Nachbarn gebracht zu
haben. Zeugen hatten, von der Hexe selbst unbemerkt, gesehen, wie die
Erde, die sie damit begossen hatte, in weißem Tau schwamm: und sie sa-
hen auch – es bringt schon Unglück, es nur auszusprechen, aber die He-
xen und bösen Weiber wissen davon –, wie auf einen Zauberspruch der
Alten Rauch zu den Sternen emporgezogen wurde.
Milchdiebstahl sowie der daran geknüpfte Schadenszauber des „Hagelsiedens“
gehören zu gängigen Vorwürfen dämonologischer Kompendien oder Wetter-
predigten 64 wie auch zu den Geständnissen in dokumentierten Hexenprozes-
sen; 65 gerade das diebische Abmelken hatte auch Paul Schede in seinem Pria-
peen-Gedicht den Zauberinnen zum Vorwurf gemacht. 66 Das Abziehen des Rau-
ches markiert – wie auch die antikisierende Bezeichnung Megaeris (V. 41) – inter-
textuelle Bezüge zu antiken Vorläufern. Der bukolische Anfang der Elegie wird
nun durch eine ganz andere Wendung als bei Theokrit, Sannazaro oder Bocer
mit dem Motiv der Zauberei verknüpft. Kein bloß im Lied vergegenwärtigter
Liebeszauber begegnet hier, sondern ein mit aller Gewalt wirkender ländlicher
Schadenszauber. So vorbereitet, wird der Leser in den abschließenden beiden
Distichen geschickt zum Mitwisser gemacht, der das notwendig folgende To-
desurteil über die Hexe nur bestätigen kann:
Sollen wir da noch bezweifeln, dass sie zugleich auch selbst mitgeflogen
ist und die Kräfte der rauchigen Dreschgabel verbreitet hat? Es ist gewiss,
die Alte gestand ihr Verbrechen. Diese Medea, die so große Schuld be-
kannt hatte, hob dann eine Gabel (aber eine verbrannte) zu den Wolken.
Gerade die suggestive erste Person Plural soll auch beim Leser jede Zweifel an
der Wirklichkeit dieser Hexerei vertreiben. Prozess, Vernehmung, eventuell
Folterung und Urteil werden von Bisselius in einem Distichon maximal verdich-
tet. 68 Als geradezu bösartige Lakonik, die Paul Schedes oben zitierten Gedicht-
schluss mühelos überbietet, kann die sinnreiche Verknüpfung gelten, in der ein
angeblicher Hexenflug auf der fumosa traha (V. 44) mit dem letztlichen ‚Aufflug‘
der verurteilten Hexe, nun aber an einer „verbrannten Gabel“ (V. 46), nämlich
dem Stamm, an dem sie auf dem Scheiterhaufen gefesselt ist, steht. Von den
Einwänden, die zeitgleich in Bayern, wo sich auch diese Jugenderinnerung des
Bisselius zumindest fiktional abgespielt haben dürfte, Adam Tanner als Ordens-
genosse des Autors vehement gegen die Hexenprozesse erhob, 69 ist in diesem
Gedicht nichts zu spüren. Womöglich ist es sogar als ausdrückliche Einrede
gegen Tanners Position zu lesen.
Die folgende ungleich längere Elegie lässt unter dem unverdächtigen Titel
„Ein Bäcker im Mehl“ nichts weniger als ein Hexengedicht erwarten, obendrein
eines, das, wenn nicht in der generellen Aussage, so doch in Stil und Tonlage
ganz anders geartet ist. Bisselius versieht es, wie viele seiner Gedichte in der
Sammlung, mit einem Prosa-Vorspann, der für die Authentizität des Geschilder-
ten wichtig ist. Es fasst zunächst die Handlung kurz zusammen: Ein Bäckerge-
selle beobachtet nächstens seine Dienstherrin Pulta (gleich eingangs als Canidia
bezeichnet) dabei, wie sie sich mit Hexensalbe einreibt und mit Hilfe einer Zau-
berformel zum Hexenflug ausfährt. Neugierig geworden, versucht er auch von
der Salbe, kann aber die Zauberformel nicht mehr reproduzieren und behilft sich
mit einem anderen Vers. Doch die Salbe, doppelt aufgetragen, wirkt immerhin,
und so erhebt er sich halb in die Lüfte, wobei er in den mehlbestäubten Backtrog
stürzt. Nach abermaligem Murmeln der falschen Formel erhebt sich der auch ein
wenig gesalbte Trog samt dem unglücklichen Gesellen in die Lüfte und fliegt
über Land. Nur die im Affekt gestammelte Anrufung Christi entkräftet den
Zauber, sodass der verhinderte Zauberer samt Trog in ein Sumpfgebiet stürzt.
Nach längerem Rückmarsch zeigt er die Hexe an. Wichtig ist nun der Nachsatz,
mit dem Bisselius diese halb komische Hexengeschichte abschließt:
sui similibus Exemplum non fabulosum futurus; Ne LVSVM tentent, quem sine
scelere nemo didicit, sine Numinis ira nemo exercuit, sine flamma (vel mortali
vel immortali) nemo expiavit. 70
ein nicht erdichtetes Beispiel für Seinesgleichen. damit sie sich nicht an einem
‚SPIEL‘ versuchen, das noch niemand ohne ein Verbrechen erlernte, niemand oh-
ne Gottes Zorn ausübte, niemand ohne das Feuer (ob irdisch oder ewig) sühnte.
Die Formulierung non fabulosum deutet auf einen zumindest für den Dichter
empirischen Grund der Erzählung, der im Sinne der gattungstheoretischen
Dyade von fabula und historia (wichtig u.a. für die Roman-Diskussion der Frühen
Neuzeit 71) das Geschehen als authentisch bekräftigt. Zugleich schlägt die hier
formulierte Warnung vor einem nur scheinbar unernsten „Spiel“ die Brücke zur
Thematik des Titels über dem gesamten Kapitel.
Unabhängig von dieser Beglaubigungsstrategie ist anzumerken, dass die
Ausgangssituation für den versuchten Hexenflug, nämlich die nicht ohne eroti-
schen Beiklang geschilderte Beobachtung der Zauberin durch einen Türspalt,
einen unmarkierten intertextuellen Bezug zu den Metamorphosen des Apuleius
darstellt, wo die ohnehin verdächtige Pamphile ebenfalls von Bediensteten bei
ihrem zauberischen Treiben beobachtet wird (zitiert nach der Übersetzung von
Rudolf Helm):
[…] und heißt mich durch eine Türritze beobachten, was dort in folgender
Weise vor sich ging: Zunächst entkleidet sich Pamphile aller Gewänder,
schließt eine kleine Truhe auf und entnimmt daraus mehrere Büchsen;
von einer von ihnen entfernt sie den Deckel und holt daraus eine Salbe,
die sie lange in ihren Händen reibt; dann bestreicht sie sich ganz und gar
von den Zehenspitzen bis zu den Haaren, spricht im Geheimen viel mit
der Lampe und schüttelt in zitternder Bewegung ihre Glieder. Und wäh-
rend sie in sanfter Schwingung sich wiegen, sprießt zarter Flaum hervor
[…]. Pamphile wird zum Uhu […], dann hebt sie sich in die Höhe und
fliegt mit mächtigen Flügelschlag hinaus. 72
Bei Bisselius wird freilich die Verwandlung in einen Vogel durch die Gabel als
Fluggerät ersetzt, welche in einschlägigen Berichten der Frühen Neuzeit ebenso
anzutreffen ist wie auf unzähligen bildkünstlerischen Darstellungen, etwa den
Hexen-Zyklen eines Hans Baldung Grien.
Zum Abschluss soll noch die Repräsentation magischen Wissens in dieser
Elegie genauer betrachtet werden. Sie unterscheidet sich wesentlich von den
akkumulierten ‚literarischen‘ magischen Praktiken in frühneuzeitlichen Phar-
maceutria-Eklogen, deren Motivarsenal mehr oder minder aus antiken und zeit-
genössischen Prätexten geschöpft war. Wie verhält es sich nun bei Bisselius mit
den Passagen, die sich mit der Zauberformel befassen? Anders als die meisten
Dämonologen und Autoren von Teufelsbüchern scheut sich Bisselius nämlich
nicht, die magischen Worte der Hexe anzuführen. Er muss ja den komischen
Effekt vorbereiten, der entsteht, wenn der Bäckergeselle die Formel zu ersetzen
sucht:
Oblita, carminibus lenit: furcáque prehensâ;
Furca, per has, per eas, (inquit) abito vias! 20
Ecce tibi! erupit; celeríque volumine vecta,
Iam non visa fuit, quae modò visa fuit. 73
Die Glieder, die beschmiert waren, lullt sie mit Gesängen ein und ergreift
die Gabel: „Gabel“ (sprach sie), „trag mich dahin auf diesen, auf jenen
Wegen!“ Sieh nur, sie steigt auf, und im schnellen Bogen empor getragen,
ward sie, die eben noch sichtbar war, schon nicht mehr gesehen.
Durch Wortwiederholung und vor allem den mehrfachen Binnenreim auf „-as“
imitiert Vers 20 mehr eine Zauberformel, als dass der Leser sie für eine tatsächli-
che halten dürfte. Der vom Alkohol benebelte Verstand des Bäckergesellen hat
freilich nur den optischen, nicht den akustischen Eindruck der magischen Prak-
tik aufnehmen können:
Sola recordatur nondum bene Thessala verba:
Haeret, et haerentem linguáque vóxque fugit. 30
74 Zitiert nach Bisselius: Deliciae Veris (Anm. 60), S. 296f., V. 29–40; Kursivierung im Original.
75 Manuel Álvarez: De institutione grammatica libri tres. Köln: Birckmann 1596, S. 250; zu
diesem sehr verbreiteten Lehrbuch siehe das Lemma im Kommentar Bisselius: Deliciae
Veris (Anm. 60), S. 653.
In der Logik der Handlung mag ein skeptischer moderner Leser vermuten,
dass der völlig betrunkene Bäckerlehrling zunächst die Backstube samt Trog
verwüstet und dann im schweren Schlaf die Hexenausfahrt geträumt haben oder
gar zur Rechtfertigung des Schadens erfunden haben könnte. Der Schluss des
Gedichtes unterstützt zum Einen diese Skepsis, will sie aber sogleich in einer
drastisch-lakonischen Wendung, die an die vorangegangene Elegie erinnert,
ausräumen: In dubio mala caussa diu fuit: acta negabant. / Iudicium clarum postmodo
Flamma dedit. – „Im Zweifel stand lange die böse Sache: Sie [i.e. Pulta und ihre
Gefährtinnen] leugneten das Geschehene. Ein klares Urteil gab bald darauf das
Feuer.“ 76
Bisselius’ so ganz eindeutige, beinahe grausame Position in der Hexenfrage,
die weit von den Bemühungen seiner Zeit- und Ordensgenossen Adam Tanner,
Friedrich Spee oder auch eines Johann Matthäus Meyfart entfernt ist, 77 mag au-
tobiographische Gründe haben. Im Nekrolog von 1682 findet sich die wohl auf
eigene Angaben des Autors zurückgehende Nachricht, dass der kleine Johannes
Nachstellungen einer Hexe ausgesetzt gewesen sei, vor denen ihn lediglich die
Fürbitte seiner Mutter gerettet habe. 78 Wie es sich damit auch verhalten mag, in
den beiden zitierten Gedichten tritt uns eine deutlich andere (heutige Leser
mindestens befremdende) Haltung entgegen als bei dem mit Magie und Hexerei
mal spöttisch, mal poetisch ingeniös umgehenden Celtis oder bei dem aus der
Perspektive des Opfers die Zauberei verwünschenden Schede Melissus. Als
souverän auch mit den Traditionen der Pharmaceutria-Ekloge vertrauter Autor
verurteilt Bisselius die Hexen, sinnt dieses Urteil auch seinen Lesern an oder
nutzt die Schilderung einer Hexenausfahrt trotz komisierendem Ton zur War-
nung vor zauberischem Unwesen.
1
In ihrem Aufsatz zur Beziehung von „Wunder und Beweis“ zwischen Mittelalter
und Früher Neuzeit rekonstruiert Lorraine Daston einen historischen Wand-
lungsprozess in der Auffassung des Wunderbaren, der von der Reformation bis
in die frühe Aufklärung reicht. Der Bereich, in dem die außernatürlichen weltli-
chen Wunder angesiedelt sind – und der bis ins 18. Jahrhundert hinein in einer
Flut von Wunderbüchern und magiologischen Schriften aller Art publizistisch
präsent ist –, wird spätestens seit dem 16. Jahrhundert von zwei tiefgreifenden
Prozessen der Ausdifferenzierung von Wissen erfasst: Auf der einen Seite füh-
ren Reformation und Konfessionalisierung dazu, dass das übernatürliche Wun-
der im christlichen Sinne vom außernatürlichen Wunder schärfer abgegrenzt
wird – mit der Folge, dass das Außernatürliche „immer enger mit Magie und
Wahrsagerei, also mit obskuren, möglicherweise dämonischen Praktiken in Ver-
bindung gebracht“ wird. 1 Auf der anderen Seite mündet die in Scholastik und
frühneuzeitlicher Naturphilosophie getroffene Unterscheidung von Natur und
Außernatürlich-Wunderbarem in die Auslagerung fremder, unerklärlicher Phä-
nomene aus dem Bereich der Natur. 2 Das Außernatürlich-Wunderbare vor der
Aufklärung lässt sich damit als doppelt liminale Kategorie beschreiben: Auf der
einen Seite begrenzt vom Bereich des naturphilosophisch Zugänglichen – dem
(Natur-)Wissen –, auf der anderen vom Bereich des Übernatürlichen – der Of-
fenbarung – eignet ihm eine erkenntnistheoretische „Labilität“ 3, die Ausdruck
seiner (tendenziellen) Uneinholbarkeit im Sinne epistemischer und religiöser
Ordnungskonzepte ist. Bevor die unerklärlichen außernatürlichen Dinge im
späten 17. und 18. Jahrhundert zum Gegenstand aufklärerischer Wissenschaft
werden, bleiben sie Objekte des Staunens, oder – und dies ist im deutschspra-
chigen 17. Jahrhundert insgesamt wohl häufiger noch der Fall – es muss vor
1 Lorraine Daston: Wunder und Beweis im frühneuzeitlichen Europa. In dies.: Wunder, Be-
weise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Aus dem Englischen von Gerhard
Herrgott, Christa Krüger und Susanne Scharnowski. Frankfurt a.M. 2001, S. 29–76, hier 36.
2 Daston: Wunder und Beweis (Anm. 1), S. 36.
3 Daston: Wunder und Beweis (Anm. 1), S. 38.
4 Die Rede von einer Geschichte der Literatur impliziert im Fall der Frühen Neuzeit ein Be-
wusstsein für die z.T. tiefgreifende Alterität des Literaturbegriffes vor 1750: Weder kann Li-
teratur in der Frühen Neuzeit mit Fiktionalität gleichgesetzt werden, noch darf übersehen
werden, dass die poetisch-rhetorischen Verfahren, die die (aus moderner Sicht) ‚literari-
schen’ Texte der Zeit prägen, auch in anderen Bereichen des Schrifttums Anwendung fin-
den. Von entscheidender Bedeutung schließlich ist die Tatsache, dass die Funktion literari-
scher Texte der Frühen Neuzeit im Anschluss an Konzepte der (römischen) Antike und des
Mittelalters an einem moralisch-theologischen Geltungsrahmen gemessen wird, der erst im
18. Jahrhundert an Verbindlichkeit verliert. Dazu allgemein Ingo Stöckmann: Vor der Litera-
tur. Eine Evolutionstheorie der Poetik Alteuropas. Tübingen 2001.
5 Christel Meier: ‚Ut rebus apta sint verba’. Überlegungen zu einer Poetik des Wunderbaren
im Mittelalter. In: Das Wunderbare in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Dietrich
Schmidtke. Göppingen 1994, S. 37–83, hier 71f. Es sei darauf hingewiesen, dass Meier sich
insbesondere auf das Hochmittelalter und die frühe Aufklärung konzentriert. Die sich ab
dem 16. Jahrhundert in der Literatur manifestierende dämonologische Deutung des Außer-
natürlich-Wunderbaren entgeht ihr dadurch ebenso wie die frühneuzeitlichen Konkurren-
zen zwischen Naturwissen und Wunderglaube, die sich – mit Daston gesprochen – an den
Grenzen zwischen dem Natürlichen und dem Außernatürlich-Wunderbaren abspielen.
6 Meier: Ut rebus (Anm. 5), S. 81.
7 So kann man zwar, wie Karl-Heinz Stahl dies getan hat, die Regelpoetiken der Frühen
Neuzeit auf ihre Beobachtung des Wunderbaren hin untersuchen – das Ergebnis bildet dann
aber nur den Bereich einer Poetik des Wunderbaren ab, der regelpoetischer Beobachtung
zugänglich ist. Wesentliche Diskurse, die (tendenziell) außersystemische Gattungen wie den
Roman und die Satire betreffen, bleiben dabei auf der Strecke. Vgl. Karl-Heinz Stahl: Das
Wunderbare als Problem und Gegenstand der deutschen Poetik des 17. und 18. Jahrhun-
derts. Frankfurt a.M. 1975.
8 In diesem Sinne spricht auch schon Meier: Ut rebus (Anm. 5), S. 81, von einer „notwendigen
Differenzierung der literarischen Genera und Aussagemitteln“.
9 Torsten Hoffmann und Claudius Sittig: Art. ‚Das Wunderbare’. In: Historisches Wörterbuch
der Rhetorik. Bd. 9. Hrsg. von Gert Ueding. Tübingen 2009, Sp. 1444–1459, hier: Sp. 1447.
10 Ich greife hier ein Beispiel von Christel Meier auf. Vgl. Meier: Ut rebus (Anm. 5), S. 51.
11 Meier: Ut rebus (Anm. 5), S. 51. Auf Grimmelshausen geht Meier ebd., S. 78, kurz ein.
12 Meier: Ut rebus (Anm. 5), S. 75.
13 Lorraine Daston, Katharine Park: Wunder und die Ordnung der Natur 1150–1750. Aus dem
Englischen von Sebastian Wohlfeil sowie Christa Krüger. Berlin 1998, S. 18.
Zentrum der Überlegungen dieses Aufsatzes stehen soll. Bei dem Roman han-
delt es sich um ein hervorstechendes Beispiel für die Relevanz generischer As-
pekte bei der Erkundung des poetischen bzw. metapoetischen Funktionsspek-
trums des Außernatürlich-Wunderbaren in der Literatur des späten 17. Jahrhun-
derts. Im Modus satirischer Weltschau erzählt das Vogel-Nest in zwei Teilen von
den Erlebnissen und Erfahrungen zweier Figuren, die nacheinander in den Be-
sitz eines unsichtbar machenden Vogelnestes kommen. Der erste unter ihnen,
ein einfacher Stadtsoldat namens Michael Rechulin von Sehmsdorff, nutzt das
Wunderding, um seine leiblichen Bedürfnisse zu befriedigen, behält dabei je-
doch eine moralisierende Weltsicht bei, die seine Abkehr vom Nest am Ende des
ersten Romanteils begünstigt. Im zweiten Teil meldet sich ein Kaufmann, der
mit dem Nest teilweise schwerste Verbrechen begeht. Dass auch er am Ende
seines Erfahrungsberichtes vom Nest Abstand nimmt und in dessen Vernich-
tung einwilligt, scheint auf den ersten Blick ein klarer Beleg für die auf Erbau-
ung und moralisch-religiöse Einsicht zielende satirische Erzählstrategie des Ro-
mans. 14 Auf den zweiten Blick erweist sich dieses Urteil jedoch als anfechtbar:
Trotz der schematischen Struktur der autodiegetischen Erfahrungsberichte, die
jeweils mit der Auffindung des Nestes beginnen und mit der Bekehrung der
Erzählerfiguren enden, bleibt die Funktion des Außernatürlich-Wunderbaren in
Grimmelshausens Roman ambivalent. Dies zumindest hat die jüngere For-
schung festgestellt und dabei auf die besonderen poetischen und metapoeti-
schen Potenziale des Nestes hingewiesen: Der satirische Einsatz des „Instru-
ments des Wunderbaren“, so schreibt etwa Zeller, laufe bei Grimmelshausen auf
einen Prozess metapoetischer Selbstverständigung des Erzählens hinaus, der es
erlaube, „die beiden Romane auch als Romane über die Wirkung der Imaginati-
on bzw. fiktiver Literatur [zu] lesen“. 15 Ganz ähnlich lautet die Diagnose bei
Wesche, der vom wunderbaren Nest als einem „Fiktionsindikator“ spricht, aus
dessen „Möglichkeitsspielraum“ dem satirischen Diskurs, historisch gesehen,
neue „poetische Lizenzen“ zuwüchsen. 16 Interessant ist, dass in beiden Lektüren
eine Verbindung hergestellt wird zwischen der Dynamik metapoetischer Selbst-
verständigung des Textes und der Destabilisierung eben jener moralisch-
religiösen Geltungen, die die Bekehrung der Hauptfiguren begründen. Zeller
14 Als erbaulich wurde der Schluss der Romane in der älteren Forschung denn auch aufge-
fasst. In der Dialektik von Weltbeobachtung und Selbsterkenntnis der Vogelnestträger, so
heißt es etwa bei Stefan Trappen, verbinde sich „die satirische Kritik mit der erbaulichen Be-
stärkung der Frömmigkeit“ und verdichte sich das Ziel des Textes, den Leser in die Lage zu
versetzen, „daß Sünden gemieden werden und Anfechtungen widerstanden wird.“ Vgl. Ste-
fan Trappen: Grimmelshausen und die menippeische Satire. Eine Studie zu den historischen
Voraussetzungen der Prosasatire im Barock. Tübingen 1994, S. 318.
15 Rosmarie Zeller: Magia naturalis, Zauberkunst und Kritik des Wunderbaren im Wunderbarli-
chen Vogelnest. In: Simpliciana 28 (2006), S. 151–167, hier S. 163.
16 Jörg Wesche: Unsichtbares Lesen. Narrative Selbstreflexion in Grimmelshausens Vogel-Nest.
In: Simpliciana 28 (2006), S. 69–82, hier S. 76f.
spricht in diesem Sinne von einer Negation der „moralische[n] Absicht“ durch
die Eigenlogik des simplicianischen Diskurses. 17 Und Wesche betont den Unter-
schied zwischen dem Roman und dem Modell traditioneller Moralsatire: Der
„Möglichkeitsspielraum“ des Erzählens „und nicht die Vermittlung strenger
Verhaltensnormen“ seien das eigentliche Thema des Vogel-Nestes, weshalb der
Text ein Beispiel für die Entfaltung „poetischer Freiheit“ in der Literatur der
Spätfrühneuzeit gebe. 18
So anregend die Überlegungen Zellers und Wesches sind, bleiben sie in ihrer
Begründung des Zusammenhangs von Außernatürlich-Wunderbarem und poe-
tischer Fiktionalität im Vogel-Nest (zu) vage. Vor allem Wesches Begriff der ‚poe-
tischen Freiheit’ dürften sich eines gegen ihn erhobenen Anachronismus-
verdachtes kaum erwehren können. Wenn bei Grimmelshausen Fiktionalität
zum Thema wird – und diese Grundeinschätzung teile ich vollauf –, dann sicher
nicht unter den Auspizien eines modernen Freiheitsbegriffes von Kunst, der im
17. Jahrhundert so schlechterdings nicht zu finden ist. In den Blick zu nehmen
sind vielmehr die wissens- wie literarhistorisch spezifischen Bedingungen, unter
denen sich das Erzählen im Vogel-Nest ausbildet. Dies betrifft zum einen das
Nest und seine Funktion als ‚wunderbarliches’ Medium des Erzählens. Zum
anderen betrifft es die Einbettung dieser Funktion in den übergeordneten Dis-
kurs satirischer Weltbeobachtung, der im Vogel-Nest (wie auch anderswo bei
Grimmelshausen) in „auffallend paradoxe[ ] Selbstthematisierungen des Erzäh-
lens“ 19 mündet. Um Fiktionalität geht es dabei auf beiden Ebenen: Erregt das
Nest als wunderbares Ding, wie Vollhardt schreibt, „Zweifel an der Objektrefe-
renz und der Zuverlässigkeit der Zeichenvermittlung“ 20 – leistet also einer Fikti-
onalisierung des Diskurses Vorschub –, so lässt sich die poetologische und epis-
temologische Relevanz dieses Vorgangs erst unter Einbezug der im Roman me-
tareflexiv beobachteten Programmierungen eines Erzählens begreifen, das ge-
mäß der Tradition menippeischer Satire Fiktionalität, Wunderbares und Skepsis
zu einem hochdynamischen poetisch-epistemologischen Komplex verknüpft. Im
Zeichen einer paradoxen Selbstaufhebung der normativen Ansprüche satiri-
schen Erzählens operiert das Vogel-Nest an den Grenzen und Schwellen jenes
Komplexes von (Nicht-)Wissen und Glauben, als der sich der Bereich des Au-
ßernatürlich-Wunderbaren im späten 17. Jahrhundert darstellt.
2
Weil das Vogelnest, anders als der spiritus familiaris in Grimmelshausens Coura-
sche (1670) oder die Alraune aus Grimmelshausens Galgen-Männlin (1673), in den
einschlägigen deutschsprachigen magiologischen Kompendien des 17. Jahrhun-
derts nicht auftaucht, hat die Forschung bisher dazu geneigt, dasselbe als Erfin-
dung des Autors aufzufassen. 21 Dies kann verwundern, ist doch in einem seit
dem Spätmittelalter weit verbreiteten Wunderbuch eben von einem solchen Nest
die Rede. So heißt es im Liber de mirabilibus mundi des Pseudo-Albertus Magnus –
einem Text wohl des späten 13. Jahrhunderts –, dass ein Mensch sich unsichtbar
machen könne, wenn er jenen wunderbaren Stein bei sich trage, der im Nest des
Wiedehopfes zu finden sei: In nido upupæ est quidam lapis, qui est diversorum colo-
rum, defer tecum ipsum, & eris invisibilis. 22 Mehr erfährt man über Stein und Nest
bei Pseudo-Albertus nicht. Knappheit von Information und gesichertem Wissen
bedeutet im Fall des Wunderbaren allerdings nicht unbedingt einen Mangel.
Vielmehr, so scheint es, eröffnet der Text mit seiner schlichten Folge von Propo-
sition und Instruktion genau jene Zone des (Nicht-)Wissens, in der in Mittelalter
und Früher Neuzeit das Wunderbare dies- und jenseits der ausgeleuchteten
Bereiche epistemischen Wissens, aber auch religiöser Wunder-Diskurse blüht.
Ins Auge fällt zumal der Verzicht auf eine die Ursachen für die außernatürliche
Wirkung des Nestes erforschende Beobachtung: Über das Nest darf der Leser
staunen oder muss sich fürchten – denn wo genau dessen Ort in der „elektrisch
geladen[en]“ Liminalordnung des Außernatürlich-Wunderbaren 23 ist, lässt sich
auf Grundlage der Informationen des (Pseudo-)Albertus Magnus nicht sagen.
Ausgeschlossen werden kann mithin auch nicht, dass das Nest dämonischen
Ursprungs ist. Wenn sich in einer Hexenprozessakte des 16. Jahrhunderts Hin-
weise auf die schwarzmagische Verwendung von Vogelnestern finden lassen, 24
21 So konnte Rosmarie Zeller noch 2006 schreiben, es sei „kein Zufall, dass die Grimmelshau-
sen-Forschung noch keine Quelle ausmachen konnte für das Phänomen des unsichtbar ma-
chenden Vogelnestes.“ Vgl. Zeller: Magia naturalis (Anm. 15), S. 166, hier Anm. 30.
22 Hier zitiert nach einer Ausgabe aus Grimmelshausens Lebenszeit: [Pseudo-]Albertus Mag-
nus: De mirabilibus mundi. In ders.: De Secretis Mulierum Item De Virtutibus Herbarum
Lapidum et Animalium. Amstelodami. Apud Ioannem Ianßonium A° 1662, S. 170–218, hier
S. 204f. Soweit ich sehe, liegt bis 1672/75, den Jahren der Veröffentlichung des Vogel-Nest-
Romans, keine vollständige deutsche Übersetzung von De mirabilibus mundi vor. Eine solche
wird, auf Grundlage der hier zitierten lateinischen Ausgabe, erst 1678 bei Johann Hoffmann
in Nürnberg vorgelegt. In einer späteren Auflage dieser Übersetzung wird die Stelle folgen-
dermaßen übersetzt: In einem Widhopffen=Nest ist ein Stein / von unterschiedlichen Farben; den
trage bey dir / so wirst du unsichtbar seyn. Vgl. [Pseudo-]Albertus Magnus: Von den Geheim-
nussen derer Weiber; Wie auch Von den Tugenden derer Kräuter / Steine und Thiere: Und
den Wunderwercken der Welt. Samt Michael Scoti Büchlein / Von den Geheimnussen der
Natur. [...] Nürnberg / Jn Verlegung Johann Hoffmanns / seel. Wittib [...] / 1704, S. 333.
23 Daston, Park: Wunder und die Ordnung der Natur (Anm. 13), S. 22.
24 Vgl. Maximilian Bergengruen: Nachfolge Christi – Nachahmung der Natur. Himmlische
und Natürliche Magie bei Paracelsus, im Paracelsismus und in der Barockliteratur (Scheff-
ler, Zesen, Grimmelshausen). Hamburg 2007, S. 259.
25 Dies stellt schon Zeller: Magia naturalis (Anm. 15), S. 161, fest.
26 Damit reproduziert die Figur den bereits antiken Diskurs über das Wunderbare, der sich in
zahlreichen Filiationen bis ins 17. und 18. Jahrhundert fortsetzt. Vgl. dazu auch Stefan Matu-
schek: Über das Staunen. Eine ideengeschichtliche Analyse. Tübingen 1991.
27 Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Das Wunderbarliche Vogel-Nest. Erster Teil.
In ders.: Werke. Hrsg. von Dieter Breuer. Bd. I/2. Frankfurt a.M. 1997, S. 297–447, hier S. 303.
Nach dieser Ausgabe wird im Folgenden aus den Werken Grimmelshausens zitiert. Die
beiden Teile der Vogel-Nest-Dilogie werden im Kurztitel als Vogel-Nest I und Vogel-Nest II
angegeben.
28 Grimmelshausen: Springinsfeld. In ders.: Werke I/2 (Anm. 27), S. 153–295, hier S. 276.
einer erdapt und endlich an seinen allerbesten Hals auffgehenckt werden möchte. 29 Wie
berechtigt Springinsfelds Furcht ist, zeigt der Fortgang der Handlung. Am Ende
des Romans erfährt der Leser, dass die Leyrerin von ihrem nächsten Geliebten –
einem Bäckersknecht, der es ob der wundersamen Fähigkeiten seiner Gespielin
mit der Angst zu tun bekommen hatte – in eine Falle gelockt und mit einem
Straich erschlagen worden ist, daß man nit allein die viel gedachte Melusina selbst
dort todt ligen; Sonder ihr auch Lung und Leber sambt dem Jngeweid in ihrem Leib:
Und das Hertz noch zapplen sehen konte. Die Kleinodien, köstliche[n] Ring und Gold
und Perlen, die man bei der Leiche findet, bringen die Taten der Erschlagenen
ans Licht: Sie hat ihre Unsichtbarkeit genutzt, um Reichtümer anzuhäufen. 30
So klar das Erzählmuster damit zunächst auch scheint – auf die Verlockung
durch das Nest und die Missetaten folgt die (Todes-)Strafe –, so unklar bleibt, ob
das gegen die Leyrerin postum vollstreckte Urteil der Hexerei 31 durch das (text-
immanente) Wissen vom Nest gedeckt ist. Eine dämonische Herkunft des Nestes
wird zwar im direkten Anschluss an die Passage, nämlich zu Beginn des Vogel-
Nestes I vom nächsten Träger des Nestes, Michael Rechulin von Sehmsdorff, ins
Spiel gebracht. Allerdings kann von sicherer Erkenntnis dabei nicht die Rede
sein. 32 Rechulins Argumentation ist nicht geeignet, dem Nest einen festen Platz
in der kosmologischen Ordnung der Dinge zuzuweisen (und sei es der des Teu-
fels). Vielmehr zieht er sich auf eine moralisch-praktische Argumentation zu-
rück, für die er Vorbilder in der Roman-Literatur des 16. Jahrhunderts findet:
Seiner Meinung nach sei schon dem Fortunatus zu entnehmen, dass dergleichen
verwunderliche Stück [...] endlich sonst nichts als alles Unglück auf dem Rucken mit
sich bringen, weshalb letzthin nichts daran gelegen sei, solche seltene ungewöhnliche
extraordinari Glücks Stücke (wie man sie nennen möchte) hätten gleich ihrem [sic!]
Ursprung und ihre Würckungen auß dem überreichen: aber gleichwol annoch vielen
verborgenen Schätzen und Geheimnussen der Natur / oder seyen vom Schaden froh /
dem Verderber und Ertzfeind deß menschlichen Geschlechts selbst an die Hand gegeben
worden […]. 33 Als symptomatisch für die besondere Stellung des Wunderbaren
bei Grimmelshausen darf die auffällige affektive Widerläufigkeit in Rechulins
Rede betrachtet werden. Auf der einen Seite wird in paränetischer Absicht der
Teufel als Schaden froh, Verderber und Ertzfeind deß menschlichen Geschlechts an die
Wand gemalt – und damit einer dämonologischen Zuspitzung zugearbeitet, die
am Ende des zweiten Teils in der Mahnrede des den zweiten Erzähler zur Be-
29 Grimmelshausen: Springinsfeld. In ders.: Werke I/2 (Anm. 27), S. 153–295, hier S. 276.
30 Grimmelshausen: Springinsfeld. In ders.: Werke I/2 (Anm. 27), S. 153–295, hier S. 291.
31 Springinsfeld berichtet davon: Sie ist ohngefähr aus ihrem Angesicht vor 20. Jahr alt geschätzt:
Und ihr Cörper als einer Zauberin verbrand [...]. Vgl. Grimmelshausen: Springinsfeld. In ders.:
Werke I/2 (Anm. 27), S. 153–295, hier S. 292.
32 In diesem Sinne ist Bergengruen zu widersprechen, der die dämonische Herkunft des Nes-
tes im Roman als gesichert ansieht. Vgl. Bergengruen: Nachfolge Christi (Anm. 24), S. 259.
33 Grimmelshausen: Vogel-Nest I. In ders.: Werke I/2 (Anm. 27), S. 297–447, hier S. 302.
3
Um das Andere zu beschreiben, das sich im Außernatürlich-Wunderbaren des
Nestes manifestiert, braucht es eine Einsicht in die Formationen des Eigenen,
von denen aus Aspekte der Liminalität und Transgressivität erst beobachtet
werden können. In den Blick kommen im Vogel-Nest-Roman dabei zwei Dimen-
sionen von Macht und Erkenntnis, die über die Grenzverläufe im Diskursgefüge
der integrierten Erzählungen bestimmen. Auf die erste dieser Dimensionen, die
Religion, hat die Forschung bereits vielfach hingewiesen. 36 Laut dem Springins-
34 Der Pater hat eine wichtige Rolle inne, denn er ist es, der am Ende des zweiten Teils den
Kaufmann von der Vernichtung des Nestes überzeugt. Dies gelingt ihm, indem er den Ein-
fluss des Teufels auf Denken und Handeln des Menschen totalisiert. Ähnlich wie Rechulin
argumentiert er, dass es nicht wichtig sei, ob das Nest als solches teuflischen Ursprungs sei
oder nicht. Der Teufel sei imstande, natürliche Dinge zum Instrument der Verführung zu
machen, wobei er streng ökonomisch vorgehe: Was hat der leidige Teuffel weiters vor Mühe an
dich zu wenden bedörfft / dich zu sich in sein Reich der Verdampten zu ziehen / da er dich mit der
Unsichtbarkeit schon dermassen angeseylet hatte / daß du von dir selbst gegen der Höllen zurennest?
Vgl. Grimmelshausen: Vogel-Nest II. In ders.: Werke I/2 (Anm. 27), S. 449–650, hier S. 635.
35 Dieter Breuer: Grimmelshausen-Handbuch. München 1999, S. 106.
36 Vgl. dazu u.a. Friedrich Gaede: Substanzverlust. Grimmelshausens Kritik der Moderne.
Tübingen 1989, S. 56–58; ders.: Das plicarische Prinzip – Die Astgabel als poetischer Initial-
punkt. In: Simpliciana 28 (2006), S. 57–67; Peter Heßelmann: Gaukelpredigt. Simplicianische
Poetologie und Didaxe. Zu allegorischen und emblematischen Strukturen in Grimmelshau-
sens Zehn-Bücher-Zyklus. Frankfurt a.M. 1988, S. 323.
feld-Roman fällt das Nest der Leyrerin auff der Zwickgabel 37 eines Baumes in die
Hände, wodurch der Leser auf eine religiöse Deutungsfolie für die Vogel-Nest-
Dilogie eingeschworen wird. Das „Motiv des Baumes (Erkenntnis)“, so hält
Vollhardt fest, weise, verbunden mit dem in der Astgabel diagrammatisch prä-
senten „Y-Signum (Wegewahl)“, auf die Dialektik von Sünde und Bekehrung,
Laster und Tugend als eigentlichem Thema der Vogel-Nest-Romane:
Wie die Wirkung des Instrumentes [i.e. des Vogelnestes] den Wider-
spruch von Verhüllung und Aufrichtigkeit, Schein und Wesen, Täu-
schung und Wissen verstärkt und damit ins Verderben, aber auch zur
Einsicht in die eigene Sündhaftigkeit, zu Bekehrung und Tugend führen
kann, zeigen die beiden Vogelnest-Romane – es geht um die Suche nach
Erkenntnis. 38
Aus der von Vollhardt aufgewiesenen religiösen Perspektive bedeutet Erkennt-
nis (die nicht fromme Selbsterkenntnis ist) freilich in erster Linie superbia. Ent-
sprechend furchtsam registriert Michael Rechulin – der skrupulöseste der Vo-
gelnestträger – die Erlangung des Vogelnestes als Wiederholung des Sünden-
falls. Das Versprechen des Eritis sicut Deus scientes bonum et malum (1 Mose 3,5),
das der Teufel den Stammeltern des Menschengeschlechts gibt, erzeugt aus
christlicher Sicht die Ur-Paradoxie irdischer Erkenntnis, stellt es doch eine Über-
tragung des „absoluten Blick[es]“ 39 Gottes auf den Menschen in Aussicht, die die
Hierarchie innerhalb des göttlichen ordo infrage stellt. Wenn sich Rechulin im
frischen Besitz des Nestes vor [s]einer Macht entsetzt[ ] 40, so in (unbewusster)
Vorwegnahme der frommen Einsichten, die ihn am Ende seines Parcours zur
Aufgabe des Nestes bewegen. Das theologische Modell hinter dem Erzählen
bleibt damit durchaus überschaubar: Nachdem insbesondere im ersten Teil des
Romans das Spiel der Verwechslung menschlicher und göttlicher „Kontroll- und
Strafblicke“ 41 ausgiebig gespielt worden ist, führt aus christlicher Perspektive
kein Weg an der Vernichtung des Nestes vorbei, dessen außernatürliche Kräfte
die Grenzen theologischer Normen sprengen.
Dass es damit im Vogel-Nest-Roman nicht getan ist, liegt an der Verflechtung
der religiösen mit der satirischen Dimension des Erzählens, welche bei Grim-
melshausen auf einem eigenen, von religiösen Geltungen abweichenden Er-
kenntnisprogramm basiert. Paradigmatisch gefasst wird dieses auf dem Titel-
37 Grimmelshausen: Springinsfeld. In ders.: Werke I/2 (Anm. 27), S. 153–295, hier S. 275.
38 Vollhardt: Die interpretatorische Relevanz nichtfiktionaler Elemente (Anm. 20), S. 257.
39 Vgl. Paul Ricœur: Symbolik des Bösen. Phänomenologie der Schuld II. Freiburg, München
1971, S. 100.
40 Grimmelshausen: Vogel-Nest I. In ders.: Werke I/2 (Anm. 27), S. 297–447, hier S. 302.
41 Vgl. Wilhelm Kühlmann: Machtspiel und Begehren. Zum epischen Tagtraum in Grimmels-
hausens Vogelnest-Romanen. In: Simpliciana 28 (2006), S. 11–23, hier: S. 16.
42 Vgl. die Abbildung in: Grimmelshausen: Vogel-Nest I. In ders.: Werke I/2 (Anm. 27), S. 297–
447, hier S. 298.
43 Vgl. Breuer: Grimmelshausen-Handbuch (Anm. 35), S. 100f.; außerdem ders.: Stellenkom-
mentar. In: Grimmelshausen: Werke I/2 (Anm. 27), S. 889–944, hier S. 889.
44 Diesen Vorschlag unterbreitet bereits Wesche: Unsichtbares lesen (Anm. 16), S. 76f., ohne
allerdings auf Konsequenzen desselben einzugehen.
45 Nachweise für die Lauremberg-Lektüre Grimmelshausens liefert der reichhaltige Stellen-
kommentar Breuers in Grimmelshausen: Werke I/2 (Anm. 27), S. 770–1062. Auf die hier be-
sprochene Konstellation geht Breuer allerdings nicht ein.
46 [Peter Lauremberg:] Acerra Philologica Das ist: Zweyhundert außerlesene / nützliche /
lustige vnd denckwürdige Historien vnd Discursen, zusammen gebracht auß den berühms-
ten Griechischen vnd Lateinischen Scribenten. [...]. Rostock / Jn Verlegung Johann Haller-
vords / Buch=Händlers doselbst / 1637, S. 166f. Laurembergs Text gibt ein schönes Beispiel,
wie neugewonnene naturwissenschaftliche Erkenntnisse im 17. Jahrhundert per Buntschrei-
berei literarisch popularisiert werden. In dem kurzen Abschnitt der Acerra erfährt der Leser,
dass man sich die Mondflecken inzwischen als Licht/Schatten-Verhältnisse auf der Mond-
landschaft erkläre; außerdem seien vier Trabanten des Jupiter (die Sydera Medicea) entdeckt
worden, die Lauremberg als vier neue Planeten bezeichnet (weshalb es jetzt elf Planeten ge-
be); die Sonne sei elliptisch und habe Flecken; die Milchstrasse sei keine Wolke, sondern ei-
ne Menge von Fixsternen, von denen man inzwischen 1022 identifiziert habe usw.
brüten / ) daß es nemlich kauffen darff / wer Lust / Lieb und Geld darzu
hat. 52
Fällt das Wunderbarliche Vogel-Nest damit ins Hoheitsgebiet eines Souveräns,
dessen Reich Lauremberg als Beispiel für die erdichteten Fratzen Lukians anführt,
so liegt die Pointe des simplicianischen Konzeptes in der Aufwertung des fiktio-
nalen Wunderbaren gegenüber objektiven Erkenntnisverfahren, wie Laurem-
berg sie beschreibt. Durch das Vogelnest, so lautet das Versprechen des ersten
Titelkupfers, soll eine Wahrheit über die Welt sichtbar werden, die der optisch
gerüstete Beobachter auch dann nicht erkennt, wenn er die Dinge der Welt etzli-
che zwantzig / ja hundertmal vermehret vnnd vergrössert (Lauremberg).
Dies lenkt den Blick auf den Kernaspekt von Grimmelshausens Lukian-
Rezeption. 53 Demnach geht es im Vogel-Nest (auch) um die reflexive Begründung
einer Schreibweise des Wunderbaren, die ihre Fiktionalität nicht nur offen aus-
stellt, sondern als notwendige Bedingung des satirischen Erkenntnisverfahrens
begreift. Charakteristisch für diese Form menippeischer Fiktionalitätsaffirmation
ist die Gleichzeitigkeit von Entgrenzung und Paradoxierung der satirischen
Perspektive. Wie Koppenfels im Rückgriff auf Bachtin und Frye betont, gewinnt
die Menippea seit der Antike ihr alteritäres epistemologisches Profil durch die
Entfaltung exzentrischer Perspektiven auf die Welt. 54 Diese können extraterris-
trischer Natur sein, etwa wenn Lukian seinen Helden auf den Mond schickt, wo
er durch einen wunderbaren Brunnen alles sehen (ja auch hören) kan / was hierunter
auff Erden geschehet (Lauremberg). Möglich sind aber auch „Situationen inner-
weltlicher Exzentrik“, die – wie die Metamorphosen des Apuleius, aber eben auch
Grimmelshausens Vogel-Nest zeigen – ein nicht weniger großes satirisches
Transgressionspotenzial freisetzen. 55 Der Mehrwert an Erkenntnis, der durch die
Aufhebung natürlicher, religiöser und epistemischer Grenzen von Beobachtung
im Zeichen des Wunderbaren entsteht, bleibt dabei an Formen „paradoxe[r]
52 Grimmelshausen: Vogel-Nest II. In ders.: Werke I/2 (Anm. 27), S. 449–650, hier S. 453. Den
Höhepunkt der Ironie erreicht das simplicianische Privileg, wenn Nullander – bei Lukian
heißt der Mondkönig Endymion – am Ende (ebd., S. 455) allen und jeden das Recht erteilt, diß
Tractätlein in Teutscher Sprach aller Orten und Enden nachzutrucken / feil zu haben / zu verkauffen
/ zu verstechen / und zu veralieniren / und zu ihrem allerbesten Nutzen zu verwenden / wann und so
offt es ihnen beliebt [...].
53 Ohne auf Lauremberg einzugehen, thematisiert die Lukian-Rezeption Grimmelshausens
Trappen: Grimmelshausen und die menippeische Satire (Anm. 14), S. 312f. Warum Trappen
Grimmelshausen keine direkte Lukian-Lektüre zutraut, sondern hartnäckig von Garzoni als
Vermittler ausgeht, bleibt sein Geheimnis. Zumindest Lukians Wahre Geschichten waren
durch die Übersetzung des Andreas Heinrich Bucholtz (1607–1671) zu Grimmelshausens
Zeit auch des Lateinischen unkundigen Lesern bequem zugänglich. Weitere Lukian-Kennt-
nis hätte Grimmelshausen aus Gabriel Rollenhagens Vier Büchern Wunderbarlicher biß daher
unerhörter / und ungleublicher Indianischer Reisen (erstmals 1603) beziehen können.
54 Werner von Koppenfels: Der andere Blick oder Das Vermächtnis des Menippos. Paradoxe
Perspektiven in der europäischen Literatur. München 2007, S. 27–29.
55 Koppenfels: Der andere Blick (Anm. 54), S. 27.
weil dieser über die Macht der Unsichtbarkeit verfügt, so birgt laut Rechulin
auch das Vogelnest die Kraft, seinen Träger auß aller Menschen Gewalt zu erlösen. 60
Diese Bemerkung spitzt den metareflexiven Diskurs – die Spiegelung des ‚ande-
ren Blickes’ des Textes auf sich selbst – auf das Moment der exemptio als Kern-
theorem frühneuzeitlicher Souveränitätslehre zu. Dieser Spur ist im Folgenden
mit Blick auf das Funktionsspektrum satirischer Poetik bei Grimmelshausen
genauer nachzugehen.
Was der simplicianische Text als Souveränitätsparadox an sich selbst beo-
bachtet, ist in der frühneuzeitlichen Satiretheorie in nuce bereits angelegt. So hat
Berns auf den Umstand verwiesen, dass der Argwohn gegen die Satire im
17. Jahrhundert nicht zuletzt aus deren exemptiven Status innerhalb des literari-
schen Systems resultiere, und dies an einer Stelle aus Gottfried Wilhelm Sacers
Literatursatire Reime dich / oder ich fresse dich (1673) belegt. 61 Angeblich mit Scali-
ger stellt Sacer hier fest, dass das einzige Gesetz, nach dem sich die Satire richte,
das Gesetz der Gesetzlosigkeit sei: Haec scribendae Satyrae lex est, scribendi sine
lege. 62 Sacers Argumentation läuft allerdings nicht auf eine Affirmation des Sat-
zes hinaus. Vielmehr geht es ihm darum, diejenigen Autoren des Regelverstoßes
zu überführen, die die – an sich zutreffende – Bestimmung Scaligers als Legiti-
mationsgrundlage für das Schreiben von Schmähschriften und Pasquillen nutz-
ten. Entsprechend rasch ist der Jurist mit einer Einschränkung des Souveräni-
tätsbegriffes bei der Hand. Auch die Satire habe am Ende ihre Leges auff gewisse
maaß [...] / wie bei Scaligero, Jacob Balde, Massenio, Alexandro Donato und andern
zu lesen. 63 Die Konzeptualisierung des Satirikers als unbeobachtbarem Beobach-
ter erscheint bei Sacer in ihrer Bedrohlicheit damit deutlich abgemildert. Wel-
cher Art die Leges sind, denen sich die Satire zu unterwerfen hat, spielt für ihn
dabei keine wesentliche Rolle. 64 Entscheidend ist, dass es diese Gesetze gibt. Sie
ermöglichen eine (immanente) Beobachtung des satirischen Beobachters, der bei
60 Grimmelshausen: Vogel-Nest I. In ders.: Werke I/2 (Anm. 27), S. 297–447, hier S. 441.
61 Jörg Jochen Berns: Policey und Satire im 16. und 17. Jahrhundert. In: Simpliciana 13 (1991),
S. 423–441, zum Folgenden hier bes. S. 432–434.
62 [Gottfried Wilhelm Sacer:] Reime dich / oder ich fresse dich / Das ist / deutlicher zu geben /
ANTIPERICATAMETANAPARBEUGEDAMPHIRIBIFICATIONES POETICAE oder Schel-
len- und Scheltenswürdige Thorheit Boeotischer Poeten in Deutschland / […] Zu belachen
und zu verwerffen vorgestellet von Hartmann Reiholden […]. Northausen / Bey Barthold
Fuhrmannen. 1673, S. 56. Laut Sacer handelt es sich bei dem Satz um ein Zitat aus Scaligers
De re poetica. Welchen Text er damit meint, ist unklar. In Julius Caesar Scaligers Poetices libri
septem (1561) ist die Stelle nicht aufzufinden. Daher liegt der Verdacht nahe, dass Sacers Re-
ferenz falsch ist und der Satz aus einer anderen Poetik des 16. Jahrhunderts, etwa aus Georg
Fabricius’ De re poetica (1565), stammt. Ob dies der Fall ist, wäre zu prüfen.
63 Sacer: Reime dich / oder ich fresse dich (Anm. 62), S. 56.
64 Zu den Rahmenbedingungen und zum Verlauf der diesbezüglichen Debatte vgl. Christoph
Deupmann: Furor satiricus. Verhandlungen über literarische Aggression im 17. und 18. Jahr-
hundert. Tübingen 2002.
Sacer damit letzthin in die – wiederum paradoxe – Lage versetzt wird, souverän
zu operieren, ohne auß aller Menschen Gewalt (Rechulin) erlöst zu sein.
Der Blick auf die zeitgenössische Satiretheorie macht deutlich, wie rückhalt-
los sich das Vogel-Nest auf das Konzept unbeobachtbarer Beobachtung einlässt.
Von einer ‚Lösung’ des poetologisch gewendeten Souveränitätsparadoxes im
Sinne Sacers will Grimmelshausens Roman nichts wissen. Das hat seinen Grund
in der skizzierten Eigenschaft menippeischer Satire, die „paradoxe Widersprüch-
lichkeit der Standpunkte“ (Koppenfels) nicht nur auszuhalten, sondern – als
Katalysator des skeptischen Einwandes gegen das je herrschende politische
(religiöse, epistemische etc.) Stabilisierungsideal – poetisch produktiv werden zu
lassen. Das Vogel-Nest I tut dies, indem es mit dem städtischen Ordnungsbeam-
ten Rechulin einen diegetischen Vertreter des Titelkupfer-Satyrs präsentiert, der
sich dem ordo-Denken politischer Souveränität erkennbar verpflichtet fühlt.
Wenn der Hellebardierer unsichtbar in Wohnstuben, Küchen und Keller ein-
dringt, um das Tun und Lassen der Menschen zu beobachten (und gegebenen-
falls zu intervenieren), so handelt er im Einklang mit dem „Ideal der vollkom-
menen Information“, 65 wie es die Policey-Literatur des 17. Jahrhunderts propa-
giert. Als größter Tugendheld erscheint ihm jener edle Römer, der sein Haus ohne
jeden Winkel der Verborgenheit hätte bauen lassen:
Wie vermeinest du wol / daß uns Christen jener edle Römer / der doch
nur ein Heid war / und den wahren GOtt nicht erkannte / an jenem gros-
sen Tag / daran alle Werck offenbahr werden sollen / beschämen wird /
umb willen er nicht gewollt / daß ihm der Bau / oder Werckmeister sein
Hauß bauen solte / daß niemand sehen könte / was darinn geschahe /
sondern im Gegentheil begehrte / solches also zuzurichten / daß jederman
schauen und wahrnehmen könte / was darinnen vorgieng. 66
Entsprechend schrankenlos erstreckt sich Rechulins Erkenntnisinteresse in alle
Winkel der Welt. Wohin er blickt, entdeckt er Normverstöße: Angefangen mit
der Problematik des verarmten Adels, der seine Repräsentationspflichten nicht
mehr erfüllen kann, 67 über das Problem der falschen Bettler, 68 die Armut, 69 die
65 Justus Nipperdey: ‚Intelligenz’ und ‚Staatsbrille’. Das Ideal der vollkommenen Information
in ökonomischen Traktaten des 17. und frühen 18. Jahrhunderts. In: Information in der Frü-
hen Neuzeit. Status, Bestände, Strategien. Hrsg. von Arndt Brendecke und Sabine Friedrich.
Münster 2008, S. 277–299.
66 Grimmelshausen: Vogel-Nest I. In ders.: Werke I/2 (Anm. 27), S. 297–447, hier, S. 413.
67 Rechulin beobachtet die komisch-scheiternde Eheanbahnung in einem mittellosen Adels-
haus. Vgl. Grimmelshausen: Vogel-Nest I. In ders.: Werke I/2 (Anm. 27), S. 297–447, hier
S. 304–317.
68 Rechulin zieht ein Stück Wegs mit einer Gruppe ‚starker’ Bettler. Vgl. Grimmelshausen:
Vogel-Nest I. In ders.: Werke I/2 (Anm. 27), S. 297–447, hier S. 317–322.
69 Rechulin im Haus einer armen Familie. Vgl. Grimmelshausen: Vogel-Nest I. In ders.: Werke
I/2 (Anm. 27), S. 297–447, hier S. 368–373.
Frage nach der Ordnung des religiösen Lebens (cura religionis), 70 die Hygiene,71
die Gastwirtschaften, 72 bis hin zur Beobachtung der Ordnung in den Haushalten
(cura oeconomiae) 73 reihen sich die Episoden zu einem Generalaufriss policeyli-
cher Erkenntnisbereiche. Mühelos überbietet Rechulins Erfahrung dabei überlie-
fertes Buchwissen. Bei der Beobachtung eines Schäferehepaares meint er, so viel
gesehen zu haben, dass man den treuherzigen Colerum wol beschuldigen“ könne, er
seye den Schäfern noch lang nicht hinter alle ihre Schelmstück und Diebsgriffe kommen /
wiewol er deren zimlich in seiner Oeconomia erzehlet. 74
Um zu verstehen, auf welcher historischen Basis die Verschränkung satiri-
scher und policeylicher Beobachtung bei Grimmelshausen steht, lohnt ein kurzer
Seitenblick auf den Policey-Diskurs der Zeit. Dieser nämlich ist von einer Ten-
denz geprägt, die man mit Alt als Tendenz zur „Zerstreuung von Souveräni-
tät“ 75 bezeichnen kann. Anders als noch vor dem Dreißigjährigen Krieg gehen
die Policey-Schriften im späteren 17. Jahrhundert davon aus, dass die Stabilität
des Staates nicht allein vom Auge des Fürsten garantiert werden könne. Viel-
mehr bedürfe es der Ausbildung eines Apparates von Policey-Beamten, die ihre
Augen überall dorthin wenden, wo die „unmittelbare Gouvernementalität des
Souveräns als Souverän“ 76 nicht hinsehen kann. Welche Spannungen dies im
Souveränitätsdiskurs erzeugt, lässt sich anhand eines Abschnittes aus Harsdörf-
fers Teutschem Secretarius (1655/59) erhellen. Unter dem Titel Von dem Rugambt
präsentiert der zweite Teil der Schrift zwei Briefe, deren fiktive Urheber über die
Notwendigkeit der Einführung einer policeylichen Institution, des sogenannten
Rugambtes (Rügeamtes), diskutieren. Während der Schreiber des ersten Briefes
entschieden pro-policeylich argumentiert und anführt, ohne Rügeamt würde
erst dieses und jenes Hauswesen / endlich auch das gantze Regiment / als welches in
Haushaltungen bestehet / zu Grund fallen, äußert der Respondent Zweifel. 77 Aus
70 Rechulin beendet die Provokationen einiger Calvinisten gegen zwei Katholiken durch eine
beherzte Ohrfeige. Vgl. Grimmelshausen: Vogel-Nest I. In ders.: Werke I/2 (Anm. 27),
S. 297–447, hier S. 323–330.
71 Rechulin beobachtet eine Bäuerin dabei, wie sie auf einen zum Verkauf bestimmten Käse
uriniert. Vgl. Grimmelshausen: Vogel-Nest I. In ders.: Werke I/2 (Anm. 27), S. 297–447, hier
S. 334f.
72 Rechulin beim Wirt, der Wein verdünnt (vgl. Grimmelshausen: Vogel-Nest I. In ders.: Wer-
ke I/2 (Anm. 27), S. 297–447, hier S. 342f.), und beim reumütigen Wirt (ebd., S. 386f.).
73 Rechulin beim geizigen Bauern (vgl. Grimmelshausen: Vogel-Nest I. In ders.: Werke I/2
(Anm. 27), S. 297–447, hier S. 330–334), im Haus des sterbenden Reichen (ebd., S. 336–341),
im Haus der armen Familie (ebd., S. 368–373), bei den Schäfern (ebd., S. 385–386). Weitere
Episoden könnten angeführt werden.
74 Grimmelshausen: Vogel-Nest I. In ders.: Werke I/2 (Anm. 27), S. 386.
75 Peter-André Alt: Der Tod der Königin. Frauenopfer und politische Souveränität im Trauer-
spiel des 17. Jahrhunderts. Berlin u.a. 2004, S. 204.
76 Michel Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität
I. Vorlesung am Collège de France 1977–1978. Aus dem Französischen von Claudia Brede-
Konersmann und Jürgen Schröder. Frankfurt a.M. 2004, S. 488.
77 Vgl. [Georg Philipp Harsdörffer:] Deß Teutschen Secretarii Zweyter Theil. Oder: Allen
seiner Sicht sind die Rugbedienten dort, wo […] der Fürsten und Herren sind […]
nicht von nöthen / als welcher einen jeden / nach den Gesetzen deß Landes / zu gebührli-
cher Straffe / an Gelt oder am Leib zu verurtheilen wissen wird. 78 Die Rollen sind klar
verteilt: Des Respondenten Ablehnung des Rügeamtes wendet sich gegen die
Tendenz zur ‚Zerstreuung der Souveränität’, während der erste Briefschreiber
von einer das Staatswohl gefährdenden Begrenzung des absoluten Herrscher-
blicks ausgeht (massen unmüglich ist / daß die Obrigkeit aller Orten mit zusehen kön-
ne) 79. Sein Entwurf eines geordneten Policey-Staates, in dem „die Rugbeamten zu
der Burgerlichen Gebühr antreiben, die Gleichstimmigkeit und Gleichständigkeit deß
Regiments wolklingend zu machen, 80 wird vom Respondenten indes als Illusion
entlarvt. Davon auszugehen, dass alle Rugbeamte[n] […] redliche Leute seyn / wel-
che sich mit Geschenck nicht blenden / mit Freundschafft und Feindschafft die Pflicht
nicht vergessen / oder in andere Wege sich von ihrer Ambtsgebühr nicht wendig machen
lassen, 81 sei gefährlich, da auf diese Weise die zu Laster und Sünde neigende
Natur des Menschen vergessen werde. In der Praxis werde zu beobachten sein,
daß die Rüger gleich seyn den Lamien / die von aussen viel und alles übersehen / inwen-
dig aber / was ihre eigne Laster betrifft / blind sind. 82 Dass sich damit schließlich auch
der Respondent in Widersprüche verwickelt, liegt auf der Hand. Einerseits be-
fürchtet er, dass die Rügebeamten aufgrund mangelnder moralischer Selbstkon-
trolle zu Schädlingen des Staates werden könnten. Andererseits begründet er
seine Ablehnung des Rügeamtes damit, dass es für die Stabilisierung staatlicher
Ordnung ausreiche, wenn jeder Untertan sein Handeln vor seinem christlichen
Gewissen und vor Gott verantworte (Es ist genug / daß er Gott und seinem Gewis-
sen Rechenschafft geben). 83 Wer verhindert dann aber die Destabilisierung des
Gemeinwesens dort, wo moralische Selbstkontrolle der Untertanen ausbleibt?
Cantzleyen / Studier= und Schreibstuben dienliches Titular- und Formularbuch […]. Alles
nach gebräuchlichem Hof= Cantzley und Handels=Stylo zusammen getragen / auffs neu
übersehen / und mit allem Fleiß corrigirt, von Etlichen Liebhabern der Teutschen Sprache.
[…] Nürnberg / Jn Verlegung Christoph und Paul Endtern / Buchhändlern. Jm Jahr 1661,
S. 507.
78 Harsdörffer: Deß Teutschen Secretarii Zweyter Theil (Anm. 77), S. 508.
79 Harsdörffer: Deß Teutschen Secretarii Zweyter Theil (Anm. 77), S. 506.
80 Harsdörffer: Deß Teutschen Secretarii Zweyter Theil (Anm. 77), S. 506.
81 Harsdörffer: Deß Teutschen Secretarii Zweyter Theil (Anm. 77), S. 506.
82 Harsdörffer: Deß Teutschen Secretarii Zweyter Theil (Anm. 77), S. 509. Die mythologische
Allusion des Respondenten ist drastisch: Wie man in Plutarchs De Pythia oraculis (Kap. 9)
nachlesen kann, gehen die Lamien der antiken Mythologie auf die libysche Königin Lamia
zurück, eine Geliebte des Zeus-Jupiter, der ihr die Fähigkeit verlieh, die Augen aus dem
Leib zu nehmen. Nach der Ermordung ihres Sohnes verwandelt Lamia ihr Haupt in einen
Schlangenkopf und treibt als grausame Kindermörderin ihr Unwesen.
83 Harsdörffer: Deß Teutschen Secretarii Zweyter Theil (Anm. 77), S. 509. Bezüglich der Unter-
scheidbarkeit von Gut und Böse ist der Respondent übrigens Optimist. Es sei kein Mensch so
dumm / daß er nicht das Böse von dem Guten solte unterscheiden können – eine Aussage, die zur
pessimistischen Beobachtung der Rugbeamten in Spannung steht. Vgl. Harsdörffer: Deß
Teutschen Secretarii Zweyter Theil (Anm. 77), S. 510.
Hierauf gibt es bei Harsdörffer keine Antwort: Die Diskussion mündet in eine
Sackgasse, an deren Ende die Bruchlinie zwischen religiöser und politischer
Beobachtung des Menschen (als Kind Adams/als Untertan) sichtbar wird, um
die auch die Diskurse des simplicianischen Romans kreisen.
Die Parallelen zwischen Harsdörffers und Grimmelshausens Diagnosen fal-
len ins Auge. Im Teutschen Secretarius wie im Vogel-Nest I verdichtet sich das
Problem unbeobachtbarer Beobachtung nicht an der zentralen Sichtachse des
Souveräns, sondern im peripheren Raum von Staat und Welt, den die exzentri-
sche Perspektive der Rügebeamten/des Vogelnestträgers erschließt. Geht es hier
wie dort darum, die Obrigkeit – bei Grimmelshausen: den Leser – aller Orten mit
zusehen zu lassen, so gerät dieser Anspruch in beiden Texten in Konflikt mit
einem Diskurs religiöser Weltabstinenz, dessen einzig gestatteter Erkenntnis-
modus derjenige der frommen Selbsterkenntnis des Menschen ist. In der jeweils
empfohlenen bzw. vollzogenen Abkehr vom ‚Ideal der vollkommenen Informa-
tion’ (Nipperdey) kommt es zu einer Abspaltung des Anderen vom göttlichen
Eigenen des Christenmenschen, die mit einer Dämonisierung des Abgespaltenen
einhergeht: Aus den Rügebeamten bei Harsdörffer werden monströse Lamien,
während Rechulin sein Handeln als Vogelnestträger an der religiösen Schlüssel-
stelle des Textes metapoetisch unzweideutig mit dem dämonischen Treiben des
Satyrs assoziiert. [W]ie ein geiler Bock und wider Natur strebender Satyrus (deren
Gestalt und Annehmung den höllischen Geistern zum höchsten beliebet), sei er für
seine eigene Laster blind gewesen – und dies, wie er ergänzt, ausgerechnet dort,
wo Gott ihm durch Vorstellung anderer Leute / ihnen selbst verderblichen Exempeln
(daran du dich billich hättest spiegeln sollen) gelernet / daß du seine Gegenwart allweg
vor Augen haben und zu deinem Nutz ehren soltest. 84
Die Formulierung ist zu beachten, nicht nur, weil sie die liminale Stellung des
Außernatürlich-Wunderbaren in der Frühen Neuzeit in Erinnerung ruft. 85 Auch
wird in ihr die Widersprüchlichkeit der Perspektiven bis zu dem Punkt zuge-
spitzt, an dem die funktionale Paradoxie simplicianischer Satire an die Textober-
fläche tritt. Sie besteht darin, dass die Vorstellung von verderblichen Exempeln, die
Rechulin nun als Strategie Gottes zur Besserung des Menschen auffasst, im sati-
rischen Verfahren des Textes an das wunderbare Erkenntnismedium des Nestes
und damit an das Andere göttlicher Ordnung gebunden bleibt. Wenn Rechulin
das Nest am Ende des ersten Teils zum Zeichen seiner Bekehrung vernichtet,
geht er damit auch gegen das satirische Prinzip vor, dem er seine Bekehrung
verdankt.
84 Vgl. Grimmelshausen: Vogel-Nest I. In ders.: Werke I/2 (Anm. 27), S. 297–447, hier S. 430.
85 Zur dämonischen Dimension von Satyr und Satire im 17. Jahrhundert vgl. Bergengruen:
Nachfolge Christi (Anm. 24), S. 267–285; außerdem Walter E. Schäfer: Der Satyr und die Sa-
tire. Zu Titelkupfern Grimmelshausens und Moscheroschs. In: Literatur im Elsaß von Fisch-
art bis Moscherosch. Gesammelte Studien. Hrsg. von Wilhelm Kühlmann und Walter E.
Schäfer. Tübingen 2001, S. 245–287. Hier bes. S. 258.
4
Mit dem Verfahren der Vorstellung von verderblichen Exempeln spricht Rechulin
das erbauungspoetische Konzept an, das ihn zur Abfassung jener Erzählung, die
in der simplicianischen Diegese als das wunderbarliche Vogel-Nest / ein so genanntes
Tractätlein in offenem Druck 86 zirkuliert, motiviert. Wenngleich vom Schreibakt im
Roman litteraliter nicht erzählt wird, bleiben dessen subjektive Voraussetzungen
keineswegs im Dunkeln – zu offensichtlich lädt die Erzählung von der Vernich-
tung und Ausstreuung des Nestes im Irgendwo des Schwarzwaldes zu einer
allegorischen Deutung als Schreibszene ein. Welche Autoritäten Rechulins Den-
ken als Autor bestimmen, zeigt seine Sprache. 87 Vom Moment des Zerreißens
des Nestes berichtet der Hellebardierer in einer Diktion, in der sich typische
Elemente biblischer Offenbarungsrhetorik [a] mit Elementen juridisch-bürokrati-
scher Sprache [b] mischen:
Sihe [a] so fällete ich das Urtheil [b] darüber / daß es [das Nest, S.Z.] un-
verweilet cassiret und vertilgt [b] werden solte / nahme es derowegen auß
meinem Busen hervor / und zerrisse es wol zu sibenzehenhundert Fetzen.
Gehe hin [a] / sagte ich / deinet halben soll hinfort keines Menschen
Heimligkeit durch einen andern gesehen und offenbaret werden […]. 88
Die lokale Sprachanalyse zeigt: Im Moment des Zerreißens des Nestes konkur-
rieren in Rechulins Diskurs eben jene Codes, die auf metareflexiver Ebene des
Textes als unvereinbar beobachtet werden. Dem vom Nest kurierten, in seinem
Selbstbild jedoch alles andere als demütigen Hellebardierer bleibt dieser Wider-
spruch freilich unbewusst (soweit dieser Begriff auf frühneuzeitliche Figuren-
konzepte angewendet werden kann). Anstatt die zumal aus religiöser Sicht be-
drohlichen Paradoxien satirischen Schreibens zu erkennen und vom Abfassen
des Wunderbarlichen Vogel-Nestes abzusehen – was in der Konsequenz bedeuten
würde, dass das simplicianische Buch auch dem realen Leser nicht zur Verfü-
gung stände –, imaginiert er eine Ordnung der Dinge, in die die Geltungen von
Religion und Politik konfliktlos integrierbar erscheinen. Unter dieser Vorausset-
zung bringt der Bekehrte seine Erzählung als gedrucktes Buch unters Volk – ein
Vorgang, den der Text allegorisch durch die Geste des Ausstreuens der sieben-
86 Dass das Buch in der simplicianischen Diegese zirkuliert, bestätigt mit diesen Worten der
dritte Vogelnestträger, der, sich Rechulins Bericht zum Vorbild nehmend, am Ende des
zweiten Teils seine eygene Histori verfasst. Vgl. Grimmelshausen: Vogel-Nest II. In ders.:
Werke I/2 (Anm. 27), S. 449–650, hier S. 650.
87 Als Meta-Schreibweise, die von der Hybridisierung von Sprach- und Diskurstypen (Satyra
als satura, Mischmasch etc.) lebt, ist die menippeische Satire ein – wenn nicht das – Beispiel
für die Leistungsfähigkeit vormoderner Verfahren sprachorientierter Diskursanalyse. In der
systematischen Untersuchung dieses Aspekts liegt ein bisher weitgehend unbearbeitetes
Feld (nicht nur) der Grimmelshausen-Forschung.
88 Grimmelshausen: Vogel-Nest I. In ders.: Werke I/2 (Anm. 27), S. 297–447, hier S. 441 (Her-
vorhebung S.Z.).
89 Über die Auslegung der Zahl 1700 darf spekuliert werden. Unzweifelhaft ist, dass es sich bei
ihr um eine Variante der Zahl 17 handelt, die, wie Breuer gezeigt hat, als Chiffre für die Au-
torfunktion Grimmelshausen anzusehen ist. Vgl. Dieter Breuer: Die sinnreiche Siebzehn.
Zahlenallegorese bei Grimmelshausen. In: Literatur und Kultur im deutschen Südwesten
zwischen Renaissance und Aufklärung. Festschrift für Walter E. Schäfer. Hrsg. von Wilhelm
Kühlmann. Amsterdam 1995, S. 267–282. Angesichts der Höhe der Zahl kommen allerdings
weitere Deutungsmöglichkeiten ins Spiel. Eine davon geht in Richtung einer möglichen
Auflage des Wunderbarlichen Vogel-Nestes I: Sollte diese irgendwo zwischen 1500 und 2000
gelegen haben – was immerhin nicht völlig außerhalb der heute üblichen Schätzungen
liegt –, könnte der Akt des Zerreißens des Nestes als Hinweis auf die drucktechnische Ver-
vielfältigung des Textes gelesen werden. Eine andere Möglichkeit besteht darin, die Zahl als
Hinweis auf die Gesamtzahl der Seiten des Simplicianischen Zyklus’ in den Erstausgaben
zwischen 1668 und 1675 zu verstehen, die bei knapp über 1700 liegt. Der Einwand, dass
Grimmelshausen die finale Seitenzahl des Zyklus’ 1672 noch nicht kennen konnte, lässt sich
relativieren, wenn man bedenkt, dass der ‚Simplicianische Autor‘ am Ende des ersten Vogel-
Nest-Romans die in Kürze zu erwartende Veröffentlichung des zweiten Teils ankündigt. Es
ist nicht zu beweisen, aber auch nicht auszuschließen, dass ein Anagrammatiker und Zah-
lenspieler wie Grimmelshausen den Umfang des Manuskriptes für die Fortsetzung (und
damit die daraus wahrscheinlich resultierende Anzahl an Druckseiten) zu diesem Zeitpunkt
bereits abschätzen konnte. Nimmt man diese Deutung ernst, so würde in der allegorischen
Chiffre der Vernichtung und Ausstreuung des Nestes der metareflexive Bezugsrahmen we-
sentlich erweitert. Nicht nur der Doppelroman, sondern der gesamte Simplicianische Zyklus
als satirisches Großunternehmen stände auf dem Spiel.
90 Grimmelshausen: Vogel-Nest I. In ders.: Werke I/2 (Anm. 27), S. 297–447, hier S. 442.
91 Niels Werber: Ameisengesellschaften. Eine Faszinationsgeschichte. Frankfurt a.M. 2013.
95 Wobei es, wie Zeller gezeigt hat, wichtig ist, zwischen dem Beschwörungsszenario und dem
Vogelnest magiologisch zu unterscheiden. Wenngleich der Kaufmann durch die Hilfe eines
Schwarzmagiers zum Nest gelangt, bleibt das Nest selbst ein Gegenstand unklarer Her-
kunft. Mit anderen Worten: Das Außernatürlich-Wunderbare wird auch im zweiten Teil
nicht einfach dämonisiert, sondern fungiert weiterhin als Index epistemischer und religiöser
Liminalität. Vgl. Zeller: Magia naturalis (Anm. 15), bes. S. 155–160.
96 Vgl. Grimmelshausen: Vogel-Nest II. In ders.: Werke I/2 (Anm. 27), S. 449–650, hier
S. 450/451.
97 Vgl. Grimmelshausen: Vogel-Nest II. In ders.: Werke I/2 (Anm. 27), S. 449–650, hier S. 650.
98 Grimmelshausen: Vogel-Nest II. In ders.: Werke I/2 (Anm. 27), S. 449–650, hier S. 478. Auf
die interessante Tatsache, dass die Auffindung des Nestes im Ameisenhaufen zu den
simplicianischen Ereignissen gehört, die aus zwei verschiedenen Perspektiven – aus der
Rechulins und aus der des Kaufmanns – erzählt werden, kann hier nicht näher eingegangen
werden. Als These darf jedoch formuliert werden, dass der Fokalisierungswechsel die Ent-
faltung widerstreitender, nicht vereinbarer Perspektiven auf das Außernatürlich-Wunder-
bare im Roman unterstützt.
unsichtbar wird. 99 Die anschließende Bergung des, wie es heißt, kleinen Stein-
lein[s] oder Würtzlein[s], geschieht mit höchster Sorg und Auffsicht und stellt damit
die genaue Kontrafaktur der Achtlosigkeit dar, die die Nestsucher beim Aussor-
tieren der natürlichen Materialien des Nestes an den Tag legen. 100 Der Vorgang
lässt sich unschwer als Allegorie auf das Lesen des Wunderbarlichen Vogel-Nestes
entschlüsseln. Der Akt des Auf-Lesens (collectio/ receptio) der Nestfetzen steht
dabei für eine Lektüre, die alle Illusionen des frommen (Co-)Autors Rechulin
zerstört. In der von dämonischen Erscheinungen umlagerten Glücks-Stund, 101 in
der sich der Kaufmann das Nest aneignet, kommt es zu einer Selektion, der die-
jenigen Elemente des Nestes zum Opfer fallen, die bloß der Stabilisierung des
ordo (Ameisenhaufen) dienen. Was für den Kaufmann zählt, sind nicht die
Wunder der von Gott geordneten Schöpfung, sondern ist die verlockende Kraft
des Außernatürlich-Wunderbaren, das ihm einen Weltzugang jenseits der Gren-
zen des Bekannten und Erlaubten verspricht.
Wird der letzte Vogelnestträger damit als Leser zu seinem eigenen Gegenbild
– am Beginn des Romans liest er das Vogel-Nest im Bann des Außernatürlich-
Wunderbaren, am Ende unter dem Eindruck seiner (temporären?) Bekehrung –,
so verbindet sich damit die Frage, wie sich die Doppelung von Leseszenen zum
Paradox der Vogel-Nest-Poetik insgesamt verhält. Wichtig ist auch hier zu beto-
nen, dass die unterschiedliche moralisch-religiöse Bewertung der Lektüreakte
keine letzten Schlüsse über deren metareflexive Funktion im Roman zulässt.
Zwar steht der Rezeptionsvorgang am Ende des zweiten Teils im Zeichen der
Warnung des Kaufmanns vor solchen gefährlichen Künsten 102 und wiederholt da-
mit die erbauliche Distanzierungsgeste, wie Rechulin sie bereits vollführt hatte.
Insofern der Kaufmann zur Beglaubigung dieser Abgrenzung jedoch ein weite-
res Buch namens Das wunderbarliche Vogel-Nest in die Welt setzt, ist auch dem
Ende des zweiten Teils die Möglichkeit einer – von keiner Autorität beherrsch-
baren – literarischen Wiederkehr des Außernatürlich-Wunderbaren eingeschrie-
ben. 103 Auf dieser Ebene simplicianischer Metareflexion erscheint die Linearität
99 Grimmelshausen: Vogel-Nest II. In ders.: Werke I/2 (Anm. 27), S. 449–650, hier S. 478.
100 Grimmelshausen: Vogel-Nest II. In ders.: Werke I/2 (Anm. 27), S. 449–650, hier S. 478.
101 Grimmelshausen: Vogel-Nest II. In ders.: Werke I/2 (Anm. 27), S. 449–650, hier S. 479.
102 Grimmelshausen: Vogel-Nest II. In ders.: Werke I/2 (Anm. 27), S. 449–650, hier S. 650.
103 Wie wahrscheinlich diese Rückkehr ist, zeigen die Einlassungen des Simplicianischen
Autors – einer Art Meta-Erzähler des Simplicianischen Zyklus – in der dem zweiten Teil
vorausgehenden Vorrede an den geneigten Leser. Hier heißt es einerseits zwar, dass dieser
zweite Teil geschrieben worden sei, um die unbehutsame Menschen (auch mit Exempeln) un-
ter dem Schein kurtzweiliger Geschichte / vor dem jenigen treulich zu warnen / was sie / wie ge-
meldt / gar leicht vom höchsten Gut absondern / hingegen in deß leidigen Teufels Gewalt [...] brin-
gen mag. Andererseits werden jedoch ausgerechnet die unbehutsame[n] Menschen, an die
sich die Paränese richtet, als prinzipiell ungeeignet angesehen, die erbauliche Botschaft
des Textes zu ‚finden’. Es sei unter 17. Lesern kaum einer [...] / der da findet / was er [der ‚Au-
tor‘, S.Z.] ihn unterrichten wolle; nur die [v]erständige Leut / denen es gedeyt, würden den
Kern schon zu finden / und ihnen zu Nutz zu machen wissen. Damit relativiert die vom
Simplicianischen Autor entworfene Typologie des Publikums den von den Erzählerfigu-
ren und auch vom Simplicianischen Autor erhobenen Erbaulichkeitsanspruch. Belehrt
werden durch das Vogel-Nest nur diejenigen, die bereits belehrt (verständig) sind. Alle an-
deren verfallen der Faszinationskraft des „wunderbarlichen“ Erzählens und werden da-
mit in einen Bereich des Wissens und Glaubens hineingeführt, in dem eine Orientierung
kaum möglich ist. Vgl. Grimmelshausen: Vogel-Nest II. In ders.: Werke I/2 (Anm. 27),
S. 449–650, hier S. 458f.
104 Dies als Einwand gegen Wesches Einschätzung, dass sich das „überfließende ingenium“
Grimmelshausens mit der Vernichtung des Nestes „etwas Endgültiges verordnet“ habe.
Vgl. Wesche: Unsichtbares lesen (Anm. 16), S. 78.
105 Grimmelshausen: Vogel-Nest II. In ders.: Werke I/2 (Anm. 27), S. 449–650, hier S. 649.
Bereits sein erster Biograph sah sich mit der Herausforderung konfrontiert, eine
angemessene Berufsbezeichnung für den Tausendsassa Johann Joachim Becher
zu finden. Denn da man nun nicht weiß/ ob er mehr ein Philologus oder Mathemati-
cus, ein Chimicus oder Cameraliste/ ein Medicus, oder Kauffmann gewesen/ so lässt
sich seine Wissenschafft in keines von diesen Fächern accurat einsperren. 1 Am ehesten
erschien Urban Gottfried Bucher deshalb Das Muster eines Nützlich-Gelehrten
(1722) die vielseitigen Betätigungsfelder Bechers einfangen zu können. Tatsäch-
lich war Becher als Alchemiker, Hofökonom, Reformpädagoge, Arzt und ande-
res mehr international bekannt und hat sich mit seinem Schaffen einen festen
Platz in der Geschichte der Naturwissenschaften, der politischen Ökonomie, der
Erziehungswissenschaften und auch der Agrarwissenschaft gesichert. Vor die-
sem Hintergrund entwerfe ich in meinen folgenden Ausführungen Becher als
typischen Repräsentanten der frühneuzeitlichen Projektemacherei. Dabei er-
scheint er als eine interessante Wissensfigur in der epistemologischen Unschär-
fezone zwischen vormoderner und ‚Neuer Wissenschaft‘ des 17. Jahrhunderts,
insofern er mit seinen zahlreichen Projekten einerseits wichtige und anschluss-
fähige Impulse für die funktionelle Ausdifferenzierung von Wissen in moderne
Einzeldisziplinen lieferte, er aber andererseits in seinen Schriften immer noch
ganz klar einem universalwissenschaftlichen Reformdenken verpflichtet blieb. 2
Ich fokussiere dabei vor allem sozialutopische Aspekte in Bechers Schaffen, die
sich – wie ich zeigen werde – trotz aller Modernität immer noch maßgeblich aus
eschatologischen Vorstellungen speisen. Die Alchemie bleibt, so meine zentrale
These, für Becher in all seinen Projekten letzter und maßgeblicher Bezugspunkt:
Sein ganz spezifisches Verständnis der göttlichen Kunst bildet gewissermaßen
die Hintergrundfolie, auf der seine heterogenen Tätigkeiten zusammengeführt
werden können. Abschließend zeichne ich nach, auf welche Weise Becher die
Alchemie in die politische Hofökonomie einführt und damit gewissermaßen
eine alchemia oeconomica begründet. Mein Augenmerk liegt hier auf den Rei-
bungspunkten zwischen Bechers alchemischem Sozialutopismus und der früh-
neuzeitlichen Staatsräson, wobei vor allem die – scheinbare – Paradoxie im Zent-
rum steht, die sich zwischen Becher als Sozialutopisten und Becher als politi-
schem Ökonom ausmachen lässt. 3
3 Mit der hier aufgeworfenen Fragestellung habe ich mich bereits aus der wissensgeschichtli-
chen Perspektive der historia literaria des 18. Jahrhunderts beschäftigt, sodass sich inhaltliche
Überschneidungen sowohl mit Blick auf die biographischen Eckdaten Bechers als auch mit
Blick auf Teilaspekte der inhaltlichen Diskussion ergeben. Vgl. Michael Lorber: Der
Wunsch, einen ‚seichten aufgeblasenen Kopf in seiner ganzen Größe darzustellen‘. Histori-
sche Hintergründe zur Rezeption Johann Joachim Bechers in der historia literaria. In: Schar-
latan! Eine Figur der Relegation in der frühneuzeitlichen Gelehrtenkultur (= Zeitsprünge.
Forschungen zur Frühen Neuzeit/ Studies in Early Modern History, Culture and Science 17
(2013), 2/3). Hrsg. von Tina Asmussen und Hole Rößler. Frankfurt a.M. 2013, S. 183–214.
4 Vgl. Johann Joachim Becher: Methodus didactica, Das ist: Gründlicher Beweis, daß die Weg
und Mittel, welche die Schulen bißhero ins gemein gebraucht/ die Jugend zu Erlernung der
Sprachen/ insonderheit der Lateinischen zuführen/ nicht gewiß/ noch sicher seyen/ sondern
den Reguln und Natur der rechten Lehr und Lern-Kunst schnurstracks entgegen lauffen/
derentwegen nicht allein langweilig/ sondern auch gemeiniglich unfruchtbar und vergeblich
ablaufen. Sambt Anleitung zu einem besseren. München 1668, S. 27.
5 We met in our passing through Maintz a rare artiste, called Becher, a young man, who hath found, he
saith, the perpetual motion, the possibility whereof hath been hitherto so much disputed by Philoso-
phers. He hath almost finished a work, wherein he doth demonstrate his invention, which we haue
seen, and the dessein and way whereof the master told himself he would within a very few weeks put
dieser Zeit zum Katholizismus. Nach einem Aufenthalt in Mainz (ca. 1657–1664)
und ständigen Reisen zwischen Wien und München (1664–1670) wechselt Be-
cher 1670 als kaiserlicher Kommerzienrat schließlich fest an den Wiener Kaiser-
hof. Im Rahmen einer Hofintrige, in der seine Rolle nicht ganz geklärt ist, wird
Becher in Abwesenheit Bestechlichkeit vorgeworfen, weshalb er von einer 1676
angetretenen Reise nicht mehr nach Wien zurückkehrt. Es beginnt erneut ein
Wanderleben von Hof zu Hof. Nachdem in Holland das aufwendige Projekt
misslungen ist, aus Meeressand Gold zu gewinnen, flüchtet Becher vor seinem
schlechten Ruf auf dem Kontinent und von Schulden geplagt nach London. 6
Dort versucht er, Fellow der Royal Society zu werden. 7 Die Königliche Gesell-
schaft lehnt seinen Antrag aber ab, womit sich für Becher die letzten Hoffnungen
auf einen glücklichen Neuanfang in England in Luft auflösen. Im Oktober 1682
stirbt Becher in ärmlichen Verhältnissen in London. 8
Becher war einer der letzten großen und zu seiner Zeit weithin anerkannten
Alchemiker des 17. Jahrhunderts. Sein Lebensweg entsprach aber nicht mehr
dem schon zu seiner Zeit zum Klischee gewordenen Adepten, der in seiner Al-
chemistenküche abgeschieden vor sich hin laboriert und ausschließlich damit
beschäftigt ist, mit Athanor und Destillierkolben das alchemische opus magnum
zu realisieren. Bereits er selbst entwarf von sich das Bild eines Alchemikers, der
gleichsam über den traditionellen Tellerrand seiner Profession hinausblickt und
der seine naturphilosophischen Kenntnisse und Fähigkeiten auf klare und nach-
vollziehbare Weise in den Dienst von Fürsten/ und dem Vatterland stellt. 9 Im Laufe
in print here at Frankford which being, I shall buy severall copies of it to communicate to [my?]
friends. [Henry Oldenburg an Samuel Hartlib, 18. Juli 1658]. The Hartlib Papers. Second Edi-
tion. A Complete Text and Image Database of the Papers of SAMUEL HARTLIB (c. 1600–
1662). Held in Sheffield University Library. 2 CD-Roms. Sheffield, England, 2002, Bun.
39/3/16A.
6 Vgl. H. A. M. Snelders: Becher und sein Gold-aus-Sand-Projekt. In: Johann Joachim Becher
(1635–1682). Hrsg. von Gotthardt Frühsorge und Gerhard F. Strasser. Wiesbaden 1993,
S. 103–114.
7 Vgl. Thomas Birch: The History of the Royal Society of London for Improving of Natural
Knowledge from its First Rise. 4 Bde. Eingel. und bibliogr. Anmerkungen von A. Rupert
Hall und Maria Boas Hall. New York, London 1968 [Nachdruck d. Ausg. London 1757],
Bd. 4, S. 17.
8 Zur Biographie Bechers siehe Herbert Hassinger: Johann Joachim Becher (1635–1682). Ein
Beitrag zur Geschichte des Merkantilismus. Wien 1951, sowie Pamela H. Smith: The Busi-
ness of Alchemy. Science and Culture in the Holy Roman Empire. Princeton (NJ) 1997.
9 Johann Joachim Becher: Chymisches Laboratorium, Oder Unter-erdische Naturkündigung:
Darinnen enthalten wird I. Die tieffe Zeugung derer unter-erdischen Dinge: Wie auch der
wunderbare Bau der ober- und unter-erdischen Erd-Wasser und Lufft-Kugel: Und dann die
absonderliche Natur der unter-erdischen Dinge Aufflöß und Zerlegung in ihre Theile/ und
derselben Eigenschafft. II. Neue Chymische Proben/ einiger künstlichen gleich darstelligen
Verwandelung derer Metallen/ nach Anleitung der in vorigen Jahren in Druck gegebenen
Physicae subterraneae. III. Ein nochmalicher Zusatz und Philosophischer Beweißthumb/ de-
rer Chymischen/ die Wahr- und Möglichkeit derer Metallen Verwandelung in Gold/ bestrei-
tenden Lehr-Sätze. IV. Ein Chymischer Rätseldeuter/ derer verdunckelten Wort-Sätze Urhe-
seines Lebens hat Becher zahlreiche Projekte entworfen und zu realisieren ver-
sucht, die allesamt entweder unmittelbar oder zumindest mittelbar darauf ab-
zielten, die fürstliche oder kaiserliche Ökonomie zu stabilisieren und zu fördern:
Neben vielfältigen technischen Erfindungen zählt zu diesen Projekten u.a. der
Plan für eine Seidenraupenzucht in München. Des Weiteren hat Becher in Wien
mit dem Kunst- und Werckhaus einer Art internationales Handwerks- und For-
schungszentrum für Materialien gegründet. Mit der sogenannten Besoldungs-
Cassa, eine Art Rentenversicherung, versprach Becher, die Hofbeamten für Not-
fälle absichern und den Fürsten gegen Korruption schützen zu können. Zwar
wurde auch das Projekt einer Besoldungs-Cassa nie realisiert, es beeinflusste aber
Leibniz maßgeblich bei seinem Entwurf von Öffentliche Assekuranzen (1680). 10 Zu
Bechers Projekten zählt auch die Einrichtung einer Sprachschule zur Erlernung
des Lateinischen samt angeschlossenem Theatrum Naturae & Artis (eine Art en-
zyklopädischer Kunstkammer): Eine gute Ausbildung könne die Bevölkerung
ökonomisch und damit auch moralisch festigen, und die Kunstkammer würde
zugleich die teure, beschwerliche und oft auch enttäuschende peregrinatio bei
Weitem übertreffen. 11
Blickt man auf seine zahlreichen Unternehmungen, erscheint Becher als typi-
scher Vertreter der barocken Projektemacherei, insofern es sein – mal mehr, mal
weniger – einträglicher Beruf war, von Hof zu Hof zu ziehen und den Herr-
schenden mit seinen sozialen, technischen oder naturphilosophischen Projekten
eine sowohl ökonomisch als auch machtpolitisch verheißungsvolle Zukunft in
bung und Geheimnisse offenbahrend und aufflösend. Wie solches alles durch fleissige Un-
tersuchung außgefertiget Joh. Joachimus Becherus, von Speyer/ der Artzney Doctor, Nun-
mehr aber auff Begehren der Artzney- und Chymiae-Liebhabern in Druck übergeben hat.
Franckfurt 1680 [lat. Physica subterranea [...], Frankfurt 1669], S. 26 (Paginierung in: III. Ein
nochmalicher Zusatz).
10 Vgl. Michael Lorber: Vom Kauf der Gefahr. Projektemacherei und Versicherung im 17. Jahr-
hundert. In: Drohung und Verheißung. Mikroprozesse in Verhältnissen von Macht und Sub-
jekt. Hrsg. von Elke Koch, Evamaria Heisler und Thomas Scheffer. Freiburg im Breisgau
2007, S. 287–314.
11 Zu Bechers Theatrum Naturae & Artis vgl. Michael Lorber: ‚... wie wäre ein solches Ding ein
herrliches Werck‘. Das Theatrum Naturae & Artis (1668) des Alchemikers Johann Joachim
Becher. In: Spuren der Avantgarde: Theatrum alchemicum. Frühe Neuzeit und Moderne im
Kulturvergleich. Hrsg. von Helmar Schramm, Jan Lazardzig und dems. Berlin, New York
[in Vorbereitung]. Die Bezeichnung Theatrum Naturae & Artis im Sinne eines Ortes universa-
len Wissens greifen im Anschluss an Becher sowohl Athanasius Kircher als auch Gottfried
Wilhelm Leibniz auf. Vgl. Horst Bredekamp: Die Fenster der Monade. Gottfried Wilhelm
Leibniz’ Theater der Natur und Kunst. Berlin 2004, insbes. S. 42f. sowie Angela Mayer-
Deutsch: Athanasius Kirchers ‚theatrum naturae artisque‘ als idealer, synoptischer Blick auf
ein Wissenstheater. In: Dimensionen der Theatrum-Metapher in der Frühen Neuzeit. Ord-
nung und Repräsentation von Wissen/ Dimensions of the Early Modern Theatrum-Meta-
phor. Order and Representation of Knowledge. Hrsg. von Flemming Schock, Oswald Bauer
und Ariane Koller. Hannover 2008, S. 281–301, hier S. 288.
12 Zur frühneuzeitlichen Projektemacherei vgl. Fritz Redlich: Die Rolle der Neuerung in einer
quasi-statischen Welt. Francis Bacon und seine Nachfolger. In: Der Unternehmer. Wirt-
schafts- und Sozialgeschichtliche Studien. Nachwort von Edgar Salin. Göttingen 1964,
S. 233–247; Alex[ander] Keller: The Age of the Projectors. In: History Today 16 (1966), 7,
S. 467–474; Norbert [Herbert] Breger: Närrische Weisheit und weise Narrheit in Erfindungen
des Barock. In: Ästhetik und Kommunikation. Beiträge zur politischen Erziehung 45/46
(1981), S. 114–122; Ulrich Troitzsch: Erfinder, Forscher und Projektemacher. Der Aufstieg
der praktischen Wissenschaften. In: Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wis-
sensgesellschaft. Hrsg. von Richard van Dülmen und Sina Rauschenbach. Köln, Weimar,
Wien 2004, S. 439–464 (dort zu Becher S. 462f.) sowie Marcus Krajewski (Hrsg.): Projektema-
cher. Zur Produktion von Wissen in der Vorform des Scheiterns. Berlin 2004.
13 Martin Mulsow: Die unanständige Gelehrtenrepublik. Wissen, Libertinage und Kommuni-
kation in der Frühen Neuzeit. Stuttgart, Weimar 2007, S. VIII und S. 13. Im Gegensatz zu
den meisten unanständigen Gelehrten trifft es auf Becher jedoch nicht zu, dass er aus rei-
chem Hause stammt.
14 Vgl. Anm. 8.
15 Becher: Unter-erdische Naturkündigung [...] III. Nochmalicher Zusatz (Anm. 9), S. 16. Die-
sem dritten Zusatz seiner Unter-Erdischen Naturkündigung stellt Becher ein Zitat des zeit-
mentierten Projekten, die – wie etwa das erwähnte Kunst- und Werckhaus – selbst
zum größten Teil nicht mehr erhalten sind, und sozial durch die von ihm beab-
sichtigte Überblendung traditioneller Alchemie mit neuartigen ökonomischem
Ansätzen, weswegen er auch sein Leben lang darüber klagt, sich mit seinen
revolutionären Ideen nicht gegen die Interessen der alteingesessenen und intri-
ganten Hofbeamten durchsetzen zu können. 17
Vor diesem Hintergrund lehne ich ausdrücklich eine Sichtweise ab, die einer-
seits Bechers großartigen ökonomischen Sachverstand lobt, aber andererseits
dessen Schriften mit „alchimistischen Erörterungen ‚belastet‘“ sieht. 18 In eben
diesen vermeintlichen ‚Lasten‘ können vielmehr wesentliche Anhaltspunkte für
die Verschränkung von verheißungsvoller Sozialutopie alchemischer Provenienz
und politischer Ökonomie ausgemacht werden. Im Folgenden geht es mir somit
auch nicht darum, ‚vormodernes‘ und ‚modernes‘ Wissen gegeneinander auszu-
spielen bzw. radikal voneinander abzugrenzen, um Becher als gleichsam zerris-
sene Figur irgendwo dazwischen zu skizzieren. Stattdessen gilt es zu zeigen, wie
sich im spezifischen Wissensgefüge des universalwissenschaftlichen Reform-
denkens Bechers neue Möglichkeiten der Welterkenntnis und -erfahrung entfal-
ten, die für ihn eben noch nicht – wie aus einer modernen Perspektive – im offe-
nen Widerspruch zur Alchemie stehen, sondern diese vielmehr von innen nach-
haltig transformieren und sie für neue Gegenstandsbereiche öffnen.
Wie bereits dargelegt, kann Bechers Schaffen aus sozialgeschichtlicher Per-
spektive im Bereich der frühneuzeitlichen Projektemacherei verortet werden.
Für das Verständnis der sozialutopischen Implikationen dieses Schaffens ist ein
Blick zurück in das Jahrhundert vor Becher aufschlussreich und notwendig.
Einige Spuren, die ich im folgenden Kapitel aufgreife, verdanken sich den wich-
tigen Arbeiten Herbert Bregers zu Becher, 19 allerdings komme ich in wesentli-
chen Punkten zu ganz anderen Schlussfolgerungen.
17 Mulsow benennt – neben einem entsprechenden Inhalt – drei weitere Merkmale prekären
Wissens in der Frühen Neuzeit, die im Falle Bechers alle zutreffen: 1. „Prekärer Status des
Wissensträgers“ (bezogen auf die Materialität des Wissensträgers, „wenn dieser Träger
leicht verlorengehen oder vernichtet werden kann“); 2. „Prekärer gesellschaftlicher Status“
(Personen sind gezwungen, „ihre Überzeugungen im geheimen zu kommunizieren, sei es
durch Verbergen ihrer Identität oder zumindest durch Verbergen ihrer Absichten und Mei-
nungen“); 3. „Prekärer Status der Sprecherrolle“ (Personen haben „raffinierte Formen ge-
funden, um ihre Überzeugungen – wenn sie sie nicht clandestin publiziert haben – zumin-
dest indirekt einem größeren Publikum zugänglich zu machen [...]: Maskierung, die Kon-
struktion einer doppelten Persona und Pseudonymisierung“). Martin Mulsow: Prekäres
Wissen. Eine andere Ideengeschichte der Frühen Neuzeit. Berlin 2012, S. 15f., Hervorhebun-
gen im Original.
18 Anton Tautscher: Wirtschaftsgeschichte Österreichs auf der Grundlage abendländischer
Kulturgeschichte. Berlin 1974, S. 287.
19 Vgl. insbes. Herbert Breger: Sozialutopische Tendenzen und (Al)chemie des 17. Jahrhun-
derts. Johann Joachim Becher und Johann Rudolph Glauber. In: Aufklärung und Esoterik.
Hrsg. von Monika Neugebauer-Wölk. Hamburg 1999, S. 108–116.
20 Joachim Telle hat darauf hingewiesen, dass sich Paracelsus – trotz gewisser Interferenzen
zwischen alchemia medica und alchemia transmutatoria zu seiner Zeit und entgegen der schon
unmittelbar nach seinem Tode einsetzenden Legendenbildung – nicht mit der Transmutati-
onsalchemie beschäftigt hat. Hinsichtlich des Ziels dieser beiden Alchemieformen, nämlich
„Erkundung der Stoffeswelt“ und „Heilung von Mensch und Metall“ können aber dennoch
Gemeinsamkeiten festgehalten werden, die auch die Inanspruchnahme der oben angeführ-
ten Definition von Alchemie über die alchemia medica hinaus rechtfertigen. Das noch zu Leb-
zeiten des Paracelsus erschienene und deshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit authentische
Werk beschränkt sich auf iatrochemische und prognostische Texte. Joachim Telle: Paracelsus
als Alchemiker. In: Paracelsus und Salzburg. Vorträge bei den Internationalen Kongressen
in Salzburg und Badgastein anläßlich des Paracelsus-Jahres 1993. Hrsg. von Heinz Dopsch
und Peter F. Kramml. Salzburg 1994, S. 157–172, hier S. 162.
21 Paracelsus: Das Buch Paragranum. Letzte Bearbeitung in vier Abschnitten. In: Sämtliche
Werke. Hrsg. von Karl Sudhoff u.a. München, Berlin 1923ff., 1. Abteilung: Medizinische, na-
turwissenschaftliche und philosophische Schriften, Bd. 8: Schriften aus dem Jahre 1530, ge-
schrieben in der Oberpfalz, Regensburg, Bayern und Schwaben (1924), S. 133–221, hier
S. 181. Dass der Gedanke der Vollendung der Natur durch Menschenhand ein wesentliches
Kernelement des alchemischen Denkens seit der Antike ist, weist Newman en détail nach.
Vgl. William R. Newman: Promethean Ambitions. Alchemy and the Quest to Perfect Na-
ture. Chicago 2004.
22 Paracelsus: Die 9 Bücher de Natura rerum an Johansen Winkelsteiner zu Freiburg im Ücht-
land, angeblich Villach 1537. In: Sämtliche Werke (Anm. 21), 1. Abt., Bd. 11: Schriftwerk aus
den Jahren 1537–1541 (1928), S. 307–403, hier S. 312.
23 Vgl. Will-Erich Peuckert: Die Rosenkreutzer. Zur Geschichte einer Reformation. Jena 1928,
S. 48.
24 Joachim Jeremias: Ἠλ(ε)ίας. In: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament. Hrsg.
von Gerhard Kittel. 10 Bde. Stuttgart 1933–1970, Bd. 2 (1935), S. 930–943, hier S. 934. Strittige
Fälle hinsichtlich des Sinns der Heiligen Schriften können im Rabbinertum bis heute mit
ment ist Elias als eschatologische Figur präsent und wird mit der Offenbarung
göttlichen Wissens assoziiert, das er den Menschen unmittelbar vor der Wieder-
kehr Jesu Christi verkünden werde. 25
Paracelsus greift dieses Erlösungsversprechen im Kontext seines Elias artista
auf, wenn er von einer kurz bevorstehenden und von allen Verkommenheiten
gereinigten güldin welt spricht. Diese Welt werde wieder mit der ursprünglich
vollkommenen Natur in Übereinstimmung gebracht sein, und die Menschen
könnten ein seliges Leben führen. 26 Kurt Goldammer schreibt im Kontext seiner
„Paracelsischen Eschatologie“, dass für Paracelsus die „Natur nach Erlösung
[schreit]“, 27 und zwar die gefallene Natur, der sich der Mensch mit all seinen
ihm zur Verfügung stehenden Mitteln – eben der Alchemie – anzunehmen ha-
be. 28 Der Elias artista vermittelt somit zwischen den alchemischen und den theo-
logischen Aspekten paracelsischen Denkens im Zeichen der Heilsgeschichte. 29
Der Mensch, so lässt sich resümierend festhalten, ist nach Paracelsus mit der
göttlichen Kunst in der äußerst bemerkenswerten Lage, heilsgeschichtlich rele-
vantes Wissen zu produzieren und zur materiellen Vollendung des göttlichen
Schöpfungsplans aktiv beizutragen. 30 Dies wird möglich, indem Paracelsus die
dem Ausspruch „bis zur Rückkehr Elias’“ vertagt werden, da sich dann alle Unklarheiten
auflösen. Vgl. Markus Öhler: Elia im Neuen Testament. Untersuchungen zur Bedeutung des
alttestamentlichen Propheten im frühen Christentum. Berlin, New York 1997, S. 136.
25 Vgl. Öhler: Elia im Neuen Testament (Anm. 24), S. 299f. Vgl. im Neuen Testament z.B. Mat-
thäus 16,14 bzw. 17,11 und Johannes 1,21 sowie weiterführend Johann E. Stadler (Hrsg.):
Elias. In: Vollständiges Heiligen-Lexikon oder Lebensgeschichten aller Heiligen, Seligen etc.
etc. aller Orte und Jahrhunderte. 5 Bde. Augsburg 1858–1882, Bd. II (1861), S. 32–33 und Je-
remias: Ἠλ(ε)ίας (Anm. 24), S. 938f.
26 Paracelsus: Von den natürlichen Dingen. In: Sämtliche Werke (Anm. 21), 1. Abt., Bd. 2:
Frühe Schriften zur Heilmittellehre (1930), S. 59–175, hier S. 164f. Zum Begriff des „seligen
Lebens“ bei Paracelsus vgl. Kurt Goldammer: Paracelsische Eschatologie. Zum Verständnis
der Anthropologie und Kosmologie Hohenheims. In: Nova acta Paracelsica. Jahrbuch der
Schweizerischen Paracelsus-Gesellschaft 5 (1948), S. 45–85 (Teil 1) und 6 (1952), S. 68–102
(Teil 2), S. 78f. (Teil 2). Hier wird auch der Unterschied zur augustinischen Tradition deut-
lich gemacht: Der Gottesstaat ist bei Augustinus noch transzendent gedacht. Vgl. auch
Richard Saage: Utopische Profile. 4 Bde. Münster 2001, Bd. 1: Renaissance und Reformation,
S. 48f.
27 Kurt Goldammer: Paracelsus. Natur und Offenbarung. Hannover-Kirchrode 1953, S. 81. Vgl.
hierzu auch Peter Dilg: Paracelsus-Forschung gestern und heute. Grundlegende Ergebnisse,
gescheiterte Versuche, neue Ansätze. In: Resultate und Desiderate der Paracelsus-For-
schung. Hrsg. von dems. und Hartmut Rudolph. Stuttgart 1993, S. 9–24, hier S. 13f.
28 Vgl. hierzu auch den Brief an die Römer 8,22–23: „Wir wissen ja, daß die gesamte Schöp-
fung bis zur Stunde seufzt und in Wehen liegt. Und nicht nur das, auch wir, die wir die
Erstlingsgabe des Geistes besitzen, auch wir seufzen in uns selbst in der Erwartung der Er-
lösung unseres Leibes.“
29 Zum christlich-teleologischen Zeitverständnis von Paracelsus, in dessen Rahmen die Voll-
endung gedacht werden muss, vgl. Goldammer: Paracelsische Eschatologie (Anm. 26),
S. 58–63 (Teil 1).
30 Vgl. hierzu ausführlich Michael Lorber: Alchemie, Elias artista und die Machbarkeit von
Wissen in der Frühen Neuzeit. In: Natur – Religion – Medien. Transformationen frühneu-
zeitlichen Wissens. Hrsg. von Thorsten Burkard, Markus Hundt, Steffen Martus, Steffen Oh-
lendorf und Claus-Michael Ort. Berlin 2013, S. 87–113.
31 Die grundsätzliche Machbarkeit von Wissen als solche ist im 16. Jahrhundert allerdings
schon kein spezifisch alchemisch-naturphilosophischer Gedanke mehr. Das produktive Zu-
sammenwirken von Ingenieurskunst, gelehrtem Wissen und humanistischem Gedankengut
im Sinne der dignitas-Diskurse prägte bereits maßgeblich dieses Zeitalter der mechanischen
Erfindungen, was das zeitgenössische Ordnungssystem der artes liberales und artes mechani-
cae in heftige Unruhe versetzte. Vgl. Edgar Zilsel: Die sozialen Ursprünge der neuzeitlichen
Wissenschaft. In: Die sozialen Ursprünge der neuzeitlichen Wissenschaft. Hrsg. von Wolf-
gang Krohn. Frankfurt a.M. 1976, S. 49–65. Der entscheidende Unterschied zu diesen For-
men der Machbarkeit von Wissen ist allerdings in der naturphilosophisch-heilsgeschicht-
lichen Einbettung der Alchemie zu sehen, die nicht nur auf eine Hervorbringung von Natur
mittels bloß mimetischer alchemischer Prozeduren beschränkt ist, sondern – zumindest la-
tent und manchmal auch explizit – in deren naturschöpferischer Kraft begründet ist.
32 Vgl. Johannes Fried: Aufstieg aus dem Untergang. Apokalyptisches Denken und die Entste-
hung der modernen Naturwissenschaft im Mittelalter. München 2001.
33 Eine gute Übersicht zur Geschichte menschlichen Schöpfertums bietet Vinzenz Rüfner:
Homo secundus Deus. Eine geistesgeschichtliche Studie zum menschlichen Schöpfertum.
In: Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 63 (1955), 2, S. 248–291.
34 Ein Großteil der unter dem Namen des Paracelsus erschienenen Schriften ab 1560 dürfte aus
der Feder einer „‚fortschreibenden‘ Gesinnungs- und Publikationsgemeinschaft naturkund-
licher, oft auch quer zum Konfessionalismus stehender, akademischer wie vor allem außer-
akademischer Dissidenten“ stammen. Wilhelm Kühlmann: Paracelsismus und Hermetis-
mus. Doxographische und soziale Positionen alternativer Wissenschaft im postreformatori-
schen Deutschland. In: Antike Weisheit und kulturelle Praxis. Hermetismus in der Frühen
Neuzeit. Hrsg. von Anne-Charlott Trepp und Hartmut Lehmann. Göttingen 2001, S. 17–39,
hier S. 18.
35 Vgl. Hermann Kopp: Die Alchemie in älterer und neuerer Zeit. Ein Beitrag zur Cultur-
geschichte. 2 Bde. Heidelberg 1886, Bd. I: Die Alchemie bis zum letzten Viertel des
18. Jahrhunderts, S. 250–252; Walter Pagel: The Paracelsian Elias artista and the Alchemical
Tradition. In: Medizinhistorisches Journal 16 (1981), 1/2, S. 6–19; Herbert Breger: Elias
Artista – A Precursor of the Messiah in Natural Science. In: Nineteen Eighty-four. Science
markiert Oswald Croll, der in seiner Basilica Chymica (1609) göttliche Natur und
menschliche Kunst im paracelsi(sti)schen Sinne auf besondere Weise gleichsetzt:
Der biblische Prophet Elias als apokalyptischer Offenbarer göttlichen Wissens
wird – unter Bezug auf die Drei-Status-Lehre des Joachim von Fiore 36 – explizit
mit dem Elias artista als fähigem Reparator omnnium überblendet. 37 Auch in den
Rosenkreuzermanifesten sind seine Spuren zu finden, wenn Adam Haslmayr in
seiner Antwort an die lobwürdige Bruderschaft, die bereits der ersten gedruckten
Ausgabe der Fama Fraternitatis (1614) beigefügt ist, die Bruderschaft des Christi-
an Rosencreutz mit dem geprophetierten Eliae Artistae identifiziert. 38 Implizite
Bezüge auf den Kern des Elias artista-Gedankens lassen sich auf dieser Spur über
die späteren Sozietätsentwürfe Johann Valentin Andreaes, den Hartlib-Circle im
englischen Umfeld der puritanischen Revolution und seiner Verbindung zu
Johann Amos Comenius bis hin zu dessen kritischer Auseinandersetzung mit
der Royal Society ausmachen. 39 In den 1650er und 60er Jahren greift auch der
Alchemiker Johann Rudolph Glauber – Bechers erklärter Intimfeind, mit dessen
vermeintlicher Unredlichkeit er sich in einer frühen Schrift unter dem Pseudo-
nym Antiglauberum auseinandersetzt 40 – die Figur des Elias artista wieder auf
und erkennt in ihm das Anagramm Et artis salia für sein wundertätiges Glauber-
between Utopia and Dystopia. Hrsg. von Everett Mendelsohn und Helga Nowotny. Dord-
recht u.a. 1984, S. 49–72; William R. Newman: Elias artista. In: Alchemie. Lexikon einer her-
metischen Wissenschaft. Hrsg. von Claus Priesner und Karin Figala. München 1998, S. 127–
128; Carlos Gilly: Johann Arndt und die ‚dritte Reformation‘ im Zeichen des Paracelsus. In:
Nova Acta Paracelsica – Neue Folge 11 (1997), S. 60–77 sowie Antoine Faivre: Elie artiste, ou
le messie des philosophes de la nature. In: Aries. Journal for the Study of Western Esoteri-
cism 2 (2002), 2, S. 119–152 (Teil 1) und 3 (2003), 1, S. 25–54 (Teil 2).
36 Zur Joachims Geschichtsmodell vgl. Anne Eusterschulte: Trinitarische Geschichtstheologie.
Statuslehre und spirituelle Typologie bei Joachim von Fiore. In: Scientia Poetica. Jahrbuch
für Geschichte der Literatur und der Wissenschaften 5 (2001), S. 1–34.
37 Oswald Croll: Basilica Chymica oder Alchymistisch Königlich Kleiynod: Ein Philosophisch/
durch sein selbst eigne erfahrung confirmirte und bestättigte Beschreibung und gebrauch
der aller fürtrefflichsten Chimischen Artzneyen so auß dem Liecht der Gnaden und Natur
genommen/ in sich begreiffent. Beneben angehengetem seinem newen Tractat von den in-
nerlichen Signaturn oder zeichen der dinge. Franckfuhrt 1623, S. 5. Auch Breger weist auf
diese Passage hin (vgl. Breger: Elias arista (Anm. 35), S. 57), verzichtet jedoch darauf, auf
den interessanten Umstand einzugehen, dass Croll in der beistehenden Marginalie auf Elias-
Stellen in den Heiligen Schriften verweist. Es ist eben die den Ausführungen zum Elias ar-
tista beigefügte Marginalie, über die besagte identifizierende Überblendung auch im Seiten-
arrangement zum Ausdruck gebracht wird.
38 Vgl. Adam Haslmayr: Antwort An die lobwürdige Brüderschafft der Theosophen von Ro-
senCreutz [Faksimile der Erstausgabe 1612]. In: Carlos Gilly: Adam Haslmayr. Der erste
Verkünder der Manifeste der Rosenkreuzer. Amsterdam 1994, S. 69–80, hier S. 74.
39 Vgl. Michael Lorber: Der Wunsch (Anm. 3), S. 201–210.
40 Antiglauberum „Hai soo muß ich ja berechnen“ [Anagramm ergibt: Johannes Ioachim Be-
cheruß]: Glauberus Refutatus Sev Glauberianarum Sophisticationum Centuria Prima [...].
S. l. 1661.
salz. 41 Noch Johannes Helvetius berichtet in seinem Vitulus aureus (1667) vom
Besuch eines Adepten, der niemand anderes gewesen sei als der Elias artista und
ihm als Auserwähltem einen Einblick in die Kraft des lapis philosophorum ge-
währt habe, 42 und der amerikanische Alchemiker George Starkey sah sich selbst
als Vorboten des paracelsistischen Elias artista. 43
Ob nun in der Verkörperung eines Propheten, einer gelehrten Bruderschaft
oder eines Salzes mit wunderbaren Eigenschaften, die Wissensallegorie des Elias
artista entfaltete über ein Jahrhundert lang eine enorme Wirkkraft am Konnex
von alchemischer Naturphilosophie und Heilsgeschichte und war zu Bechers
Zeiten auch an der Alchemie interessierten Laien bestens bekannt. In seiner Phy-
sica subterranea erwähnt Becher den Elias artista wie folgt:
Des gegenwärtigen Lebens überdrüssig/ eröffne ich euch Lehrgefliessen-
en den Weg/ auf welchem ihr zu bessern und leichtern Sachen werdet
kommen: und wartet ja auf keinen andern Eliam Artistam, ohne des Isaac
Hollandi seine Wercke. 44
41 Elias Artista, Et Sal Artis haben uns die Thüer zu allen Götlichen und Naturlichen Geheimnussen
auffgethan/ und daß [von Paracelsus] Prophezeihete bessere Seculum, oder gelobte Landt gezeiget:
Gott wolle den frommen vollents darein zu kommen/ und zu Gottes Ehren/ und Trost der der dürffti-
gen die Frächten daselbsten zu geniessen/ Gnädige hülff und beystande verleihen/ AMEN. Johann
Rudolph Glauber: Miraculi mundi, Ander Theil. Oder/ Dessen Vorlängst geprophezeiten
ELIAE ARTISTÆ/ TRIUMPHIRLIcher Ein Ritt. / Und auch/ Was der ELIAS ARTISTA für
einer sey? Nemlich der Weisen ihr SAL ARTIS Mirificum, als aller Vegetablien, Animalien,
und Mineralien höchste Medicin./ Wie beweislich/ wann es der Vegetablien Sahmen oder
Wurtzel beygebracht/ dieselbe unglaublicher massen davon wachsen und sich vermehren.
Und bey allen in- und eüßerlichen Kranckheiten der Menschen und Viehes/ wie sie auch
Nahmen haben möchten/ vor allen andern Artzneyen Miraculosè wircket. Wie dan auch die
Unvolkommene Metallen Realiter nicht allein in [Gold] und [Silber] zu verwandlen/ son-
dern auch das feine [Gold] uber seinen Natürlichen 24sten/ auff den 28ten feürbeständigen
Grad dardurch zu bringen. Und was noch mehr ist/ aus allen Kräutern ein Naturliches
[Gold] zu ziehen/ und ein fixes [Gold] in ein jedes Kraut wiederumb dardurch thun wach-
sen machen/ möglich ist. Also ein Herrlicher/ Glorioser, und Triumphierender Monarch ist/
Elias Artista, wenigen bekant/ Et Artis Salia, Vielen genant. Dieses alles durch die grosse
Gnad und Barmhertzigkeit Gottes erfunden/ und durch desselben weitere Hülff und Bey-
standt den Freunden Publicè zu demonstriren, und wahr zu machen, sich erbietet und dars-
telt. Ambsterdam 1660, Vorrede, fol. Avv.
42 Vgl. Johann Friedrich Helvetius: Vitulus aureus quem mundus adorat et orat. Oder ein sehr
Curieuses Tractätlein/ in welchem das rare und wundersame Werck der Natur in verwande-
lung derer Metallen Historice ausgeführet wird. Wie nemlich das gantze Wesen des Bleyes
in einem Augenblick durch Hülffe eines sehr kleinen Stücklein des Steins der Weisen zu
dem allerbesten Gold von obgenandten Herrn Helvetio im Haag gemacht und verwandelt
worden. Aus dem Lateinischen ins Hochteutsche übersetzet [1667]. S. l. 1705 (Elias artista-
Anekdote und Dialog dort ab Cap. III).
43 Vgl. William R. Newman: Gehennical Fire. The Lives of Georg Starkey. An American Al-
chemist in the Scientific Revolution. Cambridge (Mass.) 1994, S. 14.
44 Becher: Unter-erdische Naturkündigung [...] I. Die tieffe Zeugung derer unter-erdischen
Dinge (Anm. 9), S. 145.
Nach Breger verwirft Becher an dieser Stelle gemeinsam mit dem apokalyptisch
aufgeladenen Paracelsismus auch das Konzept des erlösenden Elias artista. 45
Tatsächlich finden sich im Werk Bechers immer wieder heftige Attacken gegen
Paracelsus und seine Anhänger, insbesondere auch gegen Glauber, der sich
intensiv mit dem Elias artista beschäftigt hat. Allerdings richten sich diese An-
griffe weniger gegen paracelsi(sti)sche Lehrinhalte als solche, die in Bechers
Überlegungen durchaus eine zentrale Rolle spielen. 46 Vielmehr sind sie vor al-
lem gegen die Person des Paracelsus selbst gerichtet, den Becher des ausufern-
den Ideendiebstahls beim Alchemiker Johann Isaac Holland (frühes 15. Jahr-
hundert) bezichtigt. Damit ist zwar Bregers Interpretation insoweit zuzustim-
men, als dass der Elias artista als paracelsistischer Terminus – insbesondere in
seiner chiliastischen Variante – bei Becher expressis verbis verworfen wird. Aber
das bedeutet nicht, dass Becher dem Konzept eines intrikaten Bezugs von al-
chemischer Naturphilosophie und Heilsgeschichte, das unter dem Namen Elias
artista über ein Jahrhundert weiter entwickelt worden ist, überhaupt nichts mehr
abgewinnen kann. Denn Becher verwirft im obigen Zitat nicht den Elias artista
an sich, vielmehr argumentiert er, dass dieser nicht in den paracelsi(sti)schen
Schriften, sondern im Kontext jenes Schrifttums zu situieren und zu erwarten
sei, bei dem sich Paracelsus unverschämterweise bedient hat.
Obwohl der Elias artista für das Verständnis der sozialutopischen bzw. ge-
sellschaftspolitischen Bedeutung der Alchemie bei Becher wichtig ist und dessen
Grundlage bildet, müssen auch die entscheidenden Unterschiede zur paracel-
sistischen Tradition herausgestellt werden. Denn erst in den Differenzen ge-
winnt Bechers eigenwilliger alchemischer Sozialutopismus deutlich an Kontur.
Im Wesentlichen sind diese Differenzen in den Unterschied zwischen einem
apokalyptischen und einem utopischen Denken in der christlichen Vormoderne
eingeschrieben: In beiden Fällen – Apokalypse und Utopie – wird eine verkom-
mene oder zumindest hochgradig verbesserungswürdige Gegenwart analysiert
und eine zukünftige Gegenrealität entworfen, in der diese Fehler in einem als
vollkommen gedachten historischen Endzustand beseitigt sind. Der entschei-
dende Unterschied zwischen Apokalypse und Utopie ist in der Imagination der
Realisierung dieses Ziels zu sehen: Die Apokalypse zeichnet sich definitionsge-
mäß durch die radikale Vernichtung des Ist-Zustands durch Gott aus, die in der
vormodernen Vorstellung gleichsam die Voraussetzung für die Erlösung und
die Errichtung des vollkommenen Reiches in Form des Himmlischen Jerusalems
gemäß der Offenbarung des Johannes darstellt. Die Utopie hingegen geht meist
von der Möglichkeit einer sukzessiven Verbesserung der vorhandenen Zustände
durch den Menschen aus, ohne dass eine völlige Vernichtung des Gegenwärti-
gen als notwendig vorausgesetzt wird. Diese Gegenüberstellung von Apokalyp-
se und Utopie ist aber vor allem für heuristische Zwecke geeignet und als ideal-
typisch zu begreifen. Wolfgang Braungart hat diverse Erzählstrategien in litera-
rischen Texten der Frühen Neuzeit analysiert und darlegen können, dass sich
apokalyptische und utopische Motivik sehr gut gegenseitig ergänzen können. 47
Bezogen auf die apokalyptische Figur des Elias artista von Paracelsus bis hin
zu Becher lässt sich vor diesem Hintergrund eine Verlagerung von einer eher
apokalyptisch hin zu einer stärker utopisch geprägten Denkweise beschreiben.
Bei Paracelsus steht die Figur des Elias artista zwar für die qua Alchemie expe-
rimentelle Machbarkeit heilsgeschichtlich relevanten Wissens. Die Realisierung
der vollkommenen güldin welt hängt aber für Paracelsus letztlich noch davon ab,
dass zuvor zwei Drittel der Menschheit entweder erschlagen werden oder auf-
grund von Betrügereien umkommen müssen. 48 Dieser implizite Verweis auf die
Offenbarung des Johannes 9,15–21 stellt die güldin welt dann doch wieder in
einen stärker apokalyptischen als utopischen Kontext – und zwar im Gegensatz
zur heilsgeschichtlichen Relevanz, die in der Konzeption des Elias artista der
experimentellen Machbarkeit von Wissen beigemessen wird. Dies gilt auch noch
für die Rosenkreuzermanifeste, wenn etwa in der Confessio fraternitatis (1615) der
in den letzten Jahrzehnten beträchtlich angewachsene naturphilosophische Wis-
sensstand der Menschheit, der nahezu adamitisch sei, mit dem kurz bevorste-
henden Ende der Welt in Verbindung gebracht wird. 49
Bei Becher steht in Abgrenzung zur paracelsi(sti)schen Tradition hingegen
viel stärker der utopische Aspekt einer sukzessiven Verbesserung durch Men-
schenhand im Vordergrund. Als Begründung sind hierfür vor allem zwei Punk-
te anzuführen: Der erste Punkt ist in einer im Vergleich zum Paracelsismus zeit-
lichen Entkoppelung von Apokalypse und Naturwissen zu sehen. Francis Bacon
hat jene Entkoppelung erstmals programmatisch wirklich erfolgreich, d. h. für
nachfolgende Generationen verbindlich, formuliert; 50 eine Entkoppelung, die
47 Vgl. Wolfgang Braungart: Apokalypse und Utopie. In: Poesie der Apokalypse. Hrsg. von
Gerhard R. Kaiser. Würzburg 1991, S. 63–102, sowie ausführlich ders.: Die Kunst der Utopie.
Vom Späthumanismus zur Frühen Aufklärung. Stuttgart 1989.
48 Paracelsus: Von den natürlichen Dingen (Anm. 26), S. 164f.
49 Johann Valentin Andreae: Confessio Fraternitatis R. C. In: Rosenkreuzerschriften (= Gesam-
melte Schriften, hrsg. von Wilhelm Schmidt-Biggemann, Bd. 3). Bearb., übs., komm. und
eingel. von Roland Edighöffer. Stuttgart-Bad Cannstatt 2010, S. 189–252, hier S. 213.
50 Im Kern verbirgt sich hinter der frühneuzeitlichen Entkoppelung von Apokalypse und Na-
turwissen bei Bacon die alte Problematik des Verhältnisses von Vernunft- und Offenba-
rungswissen, die bereits seit der mittelalterlichen Debatte um die duplex veritas für heftige
Kontroversen sorgte. Vgl. hierzu grundlegend Anneliese Maier: Das Prinzip der doppelten
Wahrheit. In: Studien zur Naturphilosophie der Spätscholastik. 5 Bde. Rom 1949–1958,
Bd. IV: Metaphysische Hintergründe der spätscholastischen Naturphilosophie (1955), S. 3–
44 sowie Ludwig Hödl: ‚... sie reden, als ob es zwei gegensätzliche Wahrheiten gäbe‘. Le-
gende und Wirklichkeit der mittelalterlichen Theorie von der doppelten Wahrheit. In: Philo-
sophie im Mittelalter. Entwicklungslinien und Paradigmen. Hrsg. von Jan P. Beckmann u.a.
Hamburg 1996, S. 225–243.
noch in Bechers Pragmatik wirksam ist (vgl. das dritte Kapitel dieses Beitrags):
Bacon unterscheidet zwischen Gott als first cause und den in der Natur wirksa-
men Kräften als second causes. 51 Aufgabe der experimentellen Naturphilosophie
ist es nach Bacon, sich ganz auf die Zweitursachen zu konzentrieren. Zwar gibt
auch Bacon das eschatologische Programm einer Verbindung von Naturwissen
und Heilsgeschichte noch nicht ganz auf, wenn er schreibt, the true ends of know-
ledge sei a restitution and reinvesting (in a great part) of man to the sovereignty and
power (for whensoever he shall be able to call the creatures by their true names he shall
again command them) which he had in his first state of creation. 52 Für ihn steht die
Apokalypse aber nicht mehr unmittelbar bevor, sondern verschiebt sich in eine
ferne Zukunft. Deswegen entwirft er ein Wissenschaftsprogramm, das aus-
drücklich auf viele Generationen von Naturforschern ausgelegt ist, bevor das
Ende der Zeiten zu erwarten sei. 53
I take it those things are to be held possible, which may be done by some
person, though not by every one; and which may be done by many,
though not by any alone; and which may be done in succession of ages,
though not within the hourglass of one man’s life[.] 54
In ähnlicher Weise entwickeln kurze Zeit später auch René Descartes, Samuel
Hartlib, Johann Amos Comenius und Blaise Pascal ein auf Generationen von
Forschern ausgerichtetes naturphilosophisches Wissenschaftsprogramm, 55 das
51 Francis Bacon: Advancement of Learning. In: The Works of Francis Bacon. Hrsg. von James
Spedding, Robert Leslie Ellis und Douglas Denon Heath. 14 Bde. Stuttgart-Bad Cannstatt
1982 [Nachdruck d. Ausgabe London 1857–1874], Bd. 3, S. 253–491, hier S. 267.
52 Francis Bacon: Valerius Terminus of The Interpretation of Nature. In: The Works of Francis
Bacon (Anm. 51), Bd. 3, S. 215–252, hier S. 222. Zur Relevanz der Heilsgeschichte für Bacons
Denken vgl. Klaus Reichert: In diesem Herbst der Welt. Francis Bacons Begründung der
Wissenschaft aus dem Geist der apokalyptischen Verheißung. In: Wissensideale und Wis-
senskulturen in der frühen Neuzeit/ Ideals and Cultures of Knowledge in Early Modern Eu-
rope. Hrsg. von Wolfgang Detel und Claus Zittel. Berlin 2002, S. 239–257.
53 Ein wichtiges Argument dafür, Theologie und Naturphilosophie in dieser Weise voneinan-
der zu entkoppeln, findet sich in Bacons vehementer Ablehnung der Alchemie: Obwohl der
Alchemie viele gute Entdeckungen und nützliche Erfindungen zu verdanken seien, so Ba-
con, sei sie dennoch beherrscht von blindem Aberglauben und religiöser Verzückung. Statt-
dessen fordert Bacon eine ganz den Sinnen gehorchende und vorurteilsfreie Experimen-
talphilosophie, die bei der Wissensgewinnung strikten induktiven Regeln folgt. Die Funda-
mentalkritik, die Becher ein halbes Jahrhundert später an der Alchemie vor seiner Zeit übt,
beklagt in ähnlicher Weise deren Vorgehensweise, nämlich einerseits Meinungen ungeprüft
weitergetragen und – ohne Methodik und Theorie – in planlosem Laborieren nur experi-
mentelle Zufallsentdeckungen gemacht zu haben. Vgl. Francis Bacon: The New Organon or,
True Directions Concerning the Interpretation of Nature. In: The Works of Francis Bacon
(Anm. 51), Bd. 4, S. 38–248, hier S. 40, S. 65, S. 81 und S. 84, sowie Becher: Unter-erdische Na-
turkündigung [...] I. Die tieffe Zeugung derer unter-erdischen Dinge (Anm. 9), S. 10f.
54 Bacon: Advancement of Learning (Anm. 51), S. 328f.
55 Vgl. René Descartes: Discours de la méthode pour bien conduire sa raison, et chercher la
verité dans les sciences/ Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissen-
schaftlichen Forschung [1637]. Französisch-Deutsch. Hrsg. und übs. von Lüder Gäbe.
Durchges., Register und Bibliographie von George Heffernan. Hamburg 1997, S. 103; Samu-
el Hartlib: A brief Discourse Concerning The Accomplishment of our Reformation: Tending
to shew, That by an Office of Publike Addresse in Spirituall and Temporall Matters, the Glo-
ry of God and the Happinesse of this Nation may be highly advanced. In: Considerations
Tending To the Happy Accomplishment of Englands Reformation in Church and State.
Humbly presented to the Piety and Wisdome of the Highe and Honourable Court of Par-
liament. S. l. [1647], S. 1–59; Johann Amos Comenius: Der Weg des Lichtes/ Via lucis [1668].
Eingel., übs. und mit Anmerkungen von Uwe Voigt. Hamburg 1997 sowie Blaise Pascal:
Fragment eines Vorwortes zur Abhandlung über den leeren Raum [1651]. In: Vermächtnis
eines großen Herzens. Die kleineren Schriften. Hrsg. und übs. von Wolfgang Rüttenauer.
Wiesbaden 1947, S. 1–10.
56 Die Formulierung „theologische Letztbegründung“ übernehme ich von Peter Nitschke: Der
doppelte Sieg der Nützlichkeit. Zur Interdependenz von Staatsräson und Utopie in der poli-
tischen Theorie der Aufklärung. In: Die Politisierung des Utopischen im 18. Jahrhundert.
Von der Frühaufklärung zum Zeitalter der Revolution. Hrsg. von Monika Neugebauer-
Wölk und Richard Saage. Tübingen 1996, S. 27–39, hier S. 28.
57 Werner Krauss: Studien zur deutschen und französischen Aufklärung. Berlin 1963, S. 185.
Zitiert nach H. R. Jauß: Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexion in der ‚Querelle
des anciens et des modernes‘. In: Charles Perrault: Parallèle des anciens et des modernes en
ce qui regarde les arts et les sciences. Mit einer einleitenden Abhandlung von H. R. Jauß und
kunstgeschichtlichen Exkursen von M. Imdahl. München 1964 [Nachdruck d. Ausgabe Paris
1688–1696], S. 8–64, hier S. 11.
auf eine kurz bevorstehende apokalyptische Erlösung, die zu Beginn des Jahr-
hunderts allerorten spürbar war, hat sich mit dem Krieg vollends zerschlagen.
Sie musste angesichts der Tragödie den konkreten politischen und ökonomi-
schen Erfordernissen des kriegsgebeutelten Reiches weichen. 61 Vor diesem zeit-
historischen Hintergrund einer stark dezimierten und schlecht versorgten Be-
völkerung sowie einer brachliegenden Wirtschaft müssen Bechers sozialutopi-
sche Ideen zum Wiederaufbau des Reiches nach dem Krieg in der zweiten Hälfte
des 17. Jahrhunderts beurteilt werden.
Smith widmet sich ausführlich dieser Passage und identifiziert das Cicero-Zitat
salus populi suprema lex esto als Kernsatz, insofern Becher hier mit der Doppel-
deutigkeit des lateinischen salus populi spielt: Die Gesundheit des Volkes sei das
oberste Gesetz! wird von Becher mit der Bedeutung der alternativen Übersetzung
Die Wohlfahrt des Volkes sei das oberste Gesetz! überblendet. 63 Sein Interesse und
Engagement für die Hofökonomie begründet Becher nach Smith hier mit seiner
Stellung als Alchemiker und Hofmedicus also damit, dass er auf die Bedeutung
der politischen Ökonomie für die sozialen Verhältnisse verweist, von denen die
gesundheitliche Verfassung der Bevölkerung maßgeblich abhänge. Die Gesund-
heit der arbeitenden Bevölkerung sei wiederum für die wirtschaftliche Prosperi-
tät des Landes wichtig. Mithin geht es Becher hier darum, seine Zuständigkeit
für jene zwei Kernthemen der politischen Ökonomie zu begründen, die für den
absolutistischen Kameralismus in der Nachkriegssituation entscheidend waren:
Die Bevölkerungszahlen sollten stabilisiert und die Einkünfte der Staatskasse
verbessert werden, wofür eben neue Strukturen zur Organisation des Gemein-
wesens entwickelt werden mussten: [...] je volckreicher also eine Stadt ist/ je mächti-
ger ist sie auch; derohalben leichtlich zu erachten/ daß die vornehmste Staats-Regul/ oder
maxima einer Stadt oder Lands seyn soll/ Volckreiche Nahrung[.] 64
Bei der ausgereizten Doppelbedeutung von salus populi handelt es sich aber
nicht, oder zumindest nicht nur, um einen von Becher rhetorisch gekonnt durch-
geführten Übersetzungstrick, mit dem er seine Kompetenzen über seine eigent-
liche höfische Position hinaus zu erweitern gedenkt. Becher überträgt hier und
auch in seinen zahlreichen anderen Projekten vielmehr den Gedanken der trans-
formativ-veredelnden Kraft der Alchemie auf den politisch-ökonomischen Be-
reich sozialer Interaktion. 65 Becher hat sich selbst, wie bereits erwähnt, in erster
Linie als Alchemiker begriffen. Dass er sich neben seinen experimentellen La-
borarbeiten auch auf so unterschiedlichen Gebieten wie politischer Hofökono-
mie, Reformpädagogik oder Maschinenbau hervorgetan hat, findet hier seine
logische Fundierung. Denn wenn die heterogenen Projekte Bechers weit über die
66 „Becher forderte hier die niedergetretenen und ausgebeuteten Bauern auf, der Obrigkeit
nicht mehr Folge zu leisten [...]. Er rief die Massen auf zum Kampf gegen die Tyrannei [...].
In vielen anschaulichen Bildern verstand er es, Grausamkeiten des Adels lebendig darzu-
stellen.“ Heinz Kelbert: Johann Joachim Becher. Ein Beitrag zur Erforschung des berufspä-
dagogischen Erbes. Berlin 1954, S. 12. Inwieweit Becher als historische Projektionsfläche für
den jeweiligen Zeitgeist der politischen Verhältnisse und Interessen diente, wird darin deut-
lich, dass er auch im Rahmen nationalsozialistischer Propaganda instrumentalisiert wurde.
Konrad Ullrichs Becher gänzlich überhöhende Studie zu dessen Experimenten mit Kohlen-
gasen ist ein Schreiben des Amts für Technik der NSDAP vorangestellt, aus dem hervor-
geht, dass seine Arbeit der ‚Kanzlei des Führers‘ vorgelegen habe. Dem Exemplar der
Staatsbibliothek zu Berlin ist zudem ein Originalbrief von Karl Bunte, Professor für Gas-
technik und Brennstoffverwertung und Vorstand des Gasinstitutes in Karlsruhe, beigefügt,
in dem er dem „zünftigen Forscher der Geschichte der chemischen Technik“ für seine „Op-
ferbereitschaft“ dankt. Konrad Ullrich: Dr. Johann Joachim Becher. Der Erfinder der Gasbe-
leuchtung, geb. zu Speyer a. Rh. 1635. München [1936], S. 1 und Anhang (Staatsbibliothek
zu Berlin, Sig. 5Per1093–23,1).
sophie und sozialer Lebenswelt. Auf diese Weise scheint es kaum einen Wis-
sensbereich zu geben, für den sich der Alchemiker Becher nicht zuständig zu
fühlen vermag. Denn aus seiner Sichtweise können alle seine heterogenen Ambi-
tionen und Projekte unter dem Dach einer universalwissenschaftlich-reformato-
risch gedachten Alchemie subsumiert werden. In Bechers Denken bildet die
göttliche Kunst der Alchemie somit die ontologische Grundlage für naturphilo-
sophische und soziopolitische Belange gleichermaßen. Letztlich weist er damit
Alchemie als universalen Königsweg für den absolutistischen Souverän aus:
Denn mit ihr gelingt es Becher, Herrschaftsanspruch und materielle Wissenspra-
xis mit Blick auf zielorientiertes politisches Handeln dergestalt aufeinander zu
beziehen und miteinander zu verzahnen, dass eine Verbesserung bis hin zur
Vervollkommnung der Lebensumstände in universeller, d. h. in sozialer, reform-
pädagogischer, moralischer als auch politisch-ökonomischer Hinsicht möglich
erscheint. Genau aus dieser alchemisch-universalistischen Perspektive greifen
denn auch die äußerst heterogenen praktischen Projekte und theoretischen Ar-
beiten Bechers ineinander. Mit Blick auf das utopische Ziel einer allumfassenden
Wohlfahrt können so unterschiedliche Schriften Bechers wie etwa die Methodus
didactica (1668), der Politische Discurs (1668), der Moral-Discurs (1669) oder auch
die Närrische Weisheit Oder Weise Narrheit (1682), in der Becher am Ende seines
Lebens eine kritische Bilanz eigener und fremder Projektemacherei gleicherma-
ßen zieht, in einen gemeinsamen Kontext gestellt werden. 67
Ausgehend von den dargelegten Dimensionen des paracelsistischen Elias ar-
tista lässt sich für Becher somit folgendes Resümee ziehen: Becher nutzt jene
Gestaltungs- und Handlungsspielräume, die durch die zeitliche Entzerrung von
Naturwissen und Apokalypse entstanden sind, um für die Alchemie neue Auf-
gabengebiete im Zeichen einer utopischen Vollkommenheit im Sinne einer noch
zu realisierenden ‚Glückseligkeit‘ zu erschließen. 68 Diese Aufgabengebiete er-
kennt Becher insbesondere in der Optimierung und Vervollkommnung der poli-
tisch-ökonomischen Situation des Reiches, also in der angestrebten allgemeinen
Wohlfahrt. Bechers Sozialutopismus, in den seine fortschrittlichen Reformen
münden sollen, zielt expressis verbis auf eine vollkommene christliche Gemein-
schaft ab: In dieser kommenden Gemeinschaft stehen alle Menschen auf einer
67 Vgl. Becher: Methodus didactica (Anm. 4); ders.: Politische Discurs (Anm. 62); ders.: Moral
Discurs Von den eigentlichen Ursachen deß Glücks und Unglücks/ Allwo gleichsam auff ei-
ner Wagschal Alle und jede menschliche Actiones auf der gantzen Welt/ so zum Guten/ und
Bösen gericht/ ohnpartheyisch erwogen werden. Franckfurt am Mayn 1669, sowie ders.:
Närrische Weißheit Und Weise Narrheit: oder Ein Hundert/ so Politische alß Physicalische/
Mechanische und Mercantilische Concepten und Propositionen/ deren etliche gut gethan/
etliche zu nichts worden/ Sampt den Ursachen/ Umbständen und Beschreibungen dersel-
ben. Ein Tractätlein vor die Liebhaber/ sehr curios und nützlich zu lesen/ als worinnen viel
nachdenckliche Sachen enthalten. Franckfurt 1682.
68 Vgl. hierzu auch Ulrich Engelhardt: Zum Begriff der Glückseligkeit in der kameralistischen
Staatslehre des 18. Jahrhunderts (J. H. G. V. Justi). In: Zeitschrift für Historische Forschung 8
(1981), S. 37–79.
Augenhöhe, gibt es kein Geld mehr, keinen Neid erregenden Besitz und keine
Ungerechtigkeiten, 69 wobei Becher in seiner pragmatischen Art durchaus aner-
kennt und in der täglichen politischen Praxis auch produktiv zu nutzen weiß,
dass Geld der nervus rerum gerendarum jetziger Zeiten ist. 70 In den konkreten, al-
lerdings recht überschaubaren Beschreibungen dieser Ziele spielen für Becher
heilsgeschichtliche Bezüge eine wichtige Rolle, insofern der Sündenfall bis in die
Alltagsprobleme diffundiert und deren konkrete Lösung wiederum auf die uto-
pische Erlösung in einem christlichen Sinne verweist.
[D]ieser Gegentheil [die Vollkommenheit im Vergleich zur gegenwärtigen
Lage] aber ist eine vollkommene Glückseeligkeit/ so weit sie sich in dieser
Welt erstrecken kan/ dann es ist zuwissen/ daß die menschliche Natur
sambt der Erden von Gott so weit nicht verflucht/ als sie von uns verböst
und verderbt ist worden/ darumb so seynd allezeit gewisse Puncten ge-
wesen/ darin einige Glückseligkeit der Menschen auff dieser Welt bestan-
den ist/ daß aber die Menschen solche nicht gebrauchet/ sondern in un-
glückselige Irrwege gelaufen seynd/ ist nicht so Gott/ oder der Natur/ als
der Menschlichen Boßheit zuzuschreiben [...] So dann noch etwas Guts
und Glückseeliges in der Natur ist/ so lasset uns besehen/ was es seye/
und in was vor einer Larven es verborgen lige/ in deme so viel es suchen/
und doch so wenige finden/ ehe ich aber solches suche/ muß ich mich deß
Wegs wegen besinnen/ und kan keinen anderen finden/ als den/ welchen
die Natur uns selbsten offenbahret/ und in welchem wir/ wann wir die
Warheit bekennen wollen/ übereinstimmen/ nemlich dieser Mensch seye
glückseelig/ welcher Erstlich Gottselig seye; welcher Zweytens seine Ver-
nunfft und Verstand in Wissenschafften wol gebrauchen kan; welcher
Drittens/ einen ehrlichen Namen; welcher Vierdtens ehrlich zu leben ha-
be; un endlich/ welcher Fünftens gesund seye und lang lebe. [...] [D]iese
fünff Puncten seynd die Gesetze der Natur/ ja die Wurzeln aller anderer
Gesetze/ als in welche alle Gesetze deß ganzen Corporis Juris Civilis, &
Canonici, &c. könen reducirt, auch darauß gar leicht/ nemblich auß dem
rechten Grund/ wie ich wol erweisen könte/ resolvirt und interpretirt wer-
den[.] 71
Die Realisierung der vollkommenen christlichen Gemeinschaft aus dem Geiste
der Alchemie ist aber nur die eine, eher theoretische Seite der politischen
Hofökonomie Bechers. Betrachtet man seinen ökonomischen Ansatz auch mit
Blick auf seine konkrete Umsetzung bzw. auf die damit verbundenen Konse-
quenzen im unmittelbaren politischen Umfeld, ergibt sich ein ganz anderes Bild
als das anvisierte Ziel einer utopischen Glückseligkeit. Denn es ist auffällig, dass
72 Becher spart in seinem Moral Discurs (1669) aber auch nicht mit einer Kritik am mächtigen
Adel: Aber vergebt es mir ihr Herrn/ ists nicht wahr/ daß wir alle Menschen und Bürger der Welt
seyn? Ja. Wo rühret dann die Leibeygenschafft und euer vorgewandte servitut her? Sicher von nichts
anders/ als von einer Tyranney. Ich bin der Obrigkeit unterthan/ wann sie mich zum Guten anführet/
ihr zu folgen/ aber im übrigen mit Gut und Blut unterhan seyn/ und ihme die Haut über die Ohren
ziehen lassen/ das hat unter dem Praetext nichts mit dieser Unterthänigkeit zu thun. Ja ich thue
sünd/ so ich solches leide/ und mich mit Fleiß einer Tyranney unterwerffe/ wie solches klärlich stehet
[...] Es sey fern von mir/ daß ich der Obrigkeit ihr Gebühr disputiere/ wann Sie eine Obrigkeit ist/
aber warlich solche Obrigkeit ist vor keine zuachten/ durch welche alles Elend in die Welt kombt. Um
dem Machtmissbrauch seitens der Herrscher vorzubeugen und sie zu befähigen, die Bevöl-
kerung in die richtigen Bahnen zu lenken, bedarf es schon in den frühesten Kindertagen der
guten Erziehung der Fürsten und der guten Beratung während ihrer Amtszeit. Für beide
Bereiche sah sich Becher als politischer Berater zuständig, um die Glückseligkeit der Men-
schen herbeizuführen. Mithin skizziert er bei näherer Betrachtung in diesem Zitat viel eher
die Gefahren des zivilen Ungehorsams, als dass er dazu aufruft, und empfiehlt seine Bera-
tertätigkeit dem Fürsten zugleich als geeignetes Remedium. Becher: Moral Discurs
(Anm. 67), S. 42f.
73 Vgl. Max Weber: Politik als Beruf [1919]. In: Gesammelte politische Schriften. Hrsg. von
Johannes Winckelmann. Tübingen 1980, S. 505–560.
Institution verbunden gewesen war, auf die gesamte Gesellschaft aus und
stützte eine Reihe von Institutionen. 75
Mit der Absicht, die Regierbarkeit der Bevölkerung sicherzustellen, zielen Be-
chers Bemühungen ganz im gouvernementalen Sinne Foucaults in zwei Haupt-
richtungen, die im 18. Jahrhundert schließlich zur gesellschaftlichen Polizierung
im modernen Verwaltungsstaat führen: nämlich auf die ‚Individualisierung‘ der
einzelnen Untertanen im Sinne ihrer umfassenden Bildung und ökonomischen
Produktivmachung sowie auf die ‚Totalisierung‘ aller Untertanen im Sinne einer
mit entsprechenden institutionellen Techniken regierbaren Bevölkerungsmasse.
Effekt dieser Verschaltung von Individualisierung und Totalisierung im Zeichen
der profanierten Pastoralmacht ist jene ‚Führung zur Selbstführung‘, 76 die den
Grundstein der modernen Staatsräson bildet.
Der Ausdruck „Führung“ (conduite) vermag es in seiner Mehrdeutigkeit
das Spezifische an den Machtbeziehungen vielleicht noch am besten zu
erfassen. „Führung“ heißt einerseits, andere (durch mehr oder weniger
strengen Zwang) zu lenken, und andererseits, sich (gut oder schlecht)
aufzuführen, also sich in einem mehr oder weniger offenen Handlungs-
feld zu verhalten. Machtausübung besteht darin, „Führung zu lenken“,
also Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit von Verhalten zu nehmen. Macht
gehört letztlich weniger in den Bereich der Auseinandersetzung zwischen
Gegnern oder der Vereinnahmung des einen durch den anderen, sondern
in den Bereich der „Regierung“ in dem weiten Sinne, den das Wort im
16. Jahrhundert besaß. Damals bezog es sich nicht nur auf politische
Strukturen und die Staatsverwaltung, sondern meinte auch die Lenkung
des Verhaltens von Individuen und Gruppen: von Kindern, Seelen, Ge-
meinschaften, Familien, Kranken. Es umfasste nicht nur institutionalisier-
te und legitime Formen politischer und ökonomischer Unterordnung,
sondern mehr oder weniger überlegte und berechnete Handlungsweisen,
die jedoch alle darauf abzielten, die Handlungsmöglichkeiten anderer In-
dividuen zu beeinflussen. In diesem Sinne heißt Regieren, das mögliche
Handlungsfeld anderer zu strukturieren. 77
Ganz deutlich kommt bei Becher dieser Aspekt einer Führung zur Selbstfüh-
rung, der aus dem Bereich der vom Pastor angeleiteten christlichen Lebensfüh-
rung in den Interessensbereich des Staates übertragen wird, zum Vorschein,
wenn er die fürstliche Macht als gottgegeben verteidigt und feststellt, dass
75 Michel Foucault: Subjekt und Macht [1982], übs. von Michael Bischoff. In: Dits et Ecrits.
Schriften. 4 Bde. Hrsg. von Daniel Defert und François Ewald. Frankfurt a.M. 2001–
2005, Bd. IV (2005), S. 269–294, hier S. 278f.
76 Zu dieser Verschaltung vgl. Michel Foucault: About the Beginning of the Hermeneutics of
the Self. Two Lectures at Dartmouth [1980]. In: Political Theory 21 (1993), 2, S. 198–227.
77 Foucault: Subjekt und Macht (Anm. 75), S. 286f.
Gott nach dem Fall die Obrigkeit gesetzt [hat]/ und Gesetze gegeben/ die
Menschen in den natürlichen Gesetzen zu erhalten/ [...] diese [...] Gesetze
und deren Untergebene nun zu regiren, nemblich die Menschen in dem
Stand der Menschheit/ und natürlichen Gesetzen zu erhalten/ hat GOtt
die Obrigkeit eingesetzt/ deren man als GOtt selbsten gehorsam seyn
soll[.] 78
Die Übernahme einer Passage des Römerbriefs aus der Luther-Übersetzung 79 ist
mit Blick auf jene nachhaltigen Veränderungen aufschlussreich, die sich ab Mitte
des 16. Jahrhunderts für die frühneuzeitliche Staatsmacht ergeben und im Sinne
der Gouvernementalität interpretiert werden können. Denn im Rahmen der
Reformation wurden einige der ursprünglich der Kirche vorbehaltenen Kompe-
tenzen dem weltlichen Souverän überantwortet. Weithin bekannt ist dies im Fall
der Ehe, die nach Luther ausdrücklich ein weltlich Ding ist wie kleider und speise,
haus und hoff, weltlicher oberkeit unterworffen, wie das beweisen so viel keiserliche
rechte daruber gestellet, und die deshalb für ihn keinen sakramentalen Status mehr
besitzt. 80 Weniger offensichtlich, aber um nichts weniger wichtig für die Stär-
kung der weltlichen Macht ist der in Luthers Katechismus festgelegte Gehorsam
gegenüber der Obrigkeit, den Becher im obigen Zitat aufgreift: Gehorsam ge-
genüber den Eltern ist Gehorsam gegenüber der weltlichen Macht und in letzter
Instanz gegenüber Gott. 81 Diese sukzessive „Verweltlichung des Geistlichen“, 82
die – wenn nicht als Intention – so doch zumindest als ein Effekt der reformato-
rischen Bewegungen beschrieben werden kann, 83 ermöglicht es der weltlichen
Macht, ihren Zugriff auf das gesellschaftliche Miteinander bis in die Mikrostruk-
turen des Familienlebens hinein zu erweitern, indem der Staat als Vaterfigur mit
erzieherischem Auftrag zwischen Familie und Gott in Erscheinung tritt. Ganz in
diesem Sinne identifiziert Becher die Aufgaben von Staat und Familie: Obrigkeit
und Kinderzucht seynd der Zaum und die Peitsche so die Menschen in der Glückselig-
keit erhält/ und vor ihren Feinde beschützet [...]. 84 Diesen für die Konstituierung des
modernen Staates paradigmatischen Bruch in der herrschaftlichen Form des
Regierungshandelns hat Foucault pointiert als Biopolitik beschrieben: Politische
Macht manifestiert sich nicht mehr dadurch, mit dem Tod drohen zu können,
sondern sie erkennt das Leben der Individuen als jene entscheidende Ressource
an, welche produktiv zu regieren und mit pädagogischem Anspruch anzuleiten
zur wichtigsten politischen Aufgabe und Verantwortung des Staates mutiert,
um sich selbst zu erhalten. 85
Als direkte und aufschlussreiche Vertiefung und Fortentwicklung dieses
Führungsanspruchs des Staates kann bei Becher unter anderem sein Engage-
ment gegen die Zünfte angesehen werden, das in vielen seiner Projekte eine
wichtige Rolle einnimmt. Die Zünfte standen der weltlichen Macht als ein
durchaus ernstzunehmender, privat organisierter wirtschaftlicher Gegenpol
gegenüber. Um das Zunfthandwerk zu umgehen – dem Becher aufgrund seiner
quasi-monopolistischen Stellung maßlose Faulheit vorwarf, mit der es den Han-
del zu Lasten der Staatskasse behindern würde – setzte er sich intensiv für alter-
native Formen wie das Verlagswesen 86 oder das sogenannte hofbefreite Hand-
werk ein. 87 Insbesondere mit der Förderung der hofbefreiten Handwerker ging
das konkrete Produktionswissen unmittelbar auf den Fürsten über, indem die
rigiden Regelungen der Zunftordnungen zur Geheimhaltung von Produktions-
prozessen schlicht unterlaufen wurden. Die Zünfte wurden damit nach und
nach ihrer existentiellen Grundlage beraubt, weil sie einerseits ökonomisch mit
den hofbefreiten Handwerkern langfristig nicht konkurrieren konnten und sie
andererseits ihr gut gehütetes geistiges Kapital in Form von Herstellungstechni-
ken verloren. Somit wurde sukzessive nicht nur das Produktionswissen, son-
dern auch der Produktionsprozess direkt in die Hände des absolutistischen Sou-
veräns verlegt. Diese Entwicklung verschränkt sich wiederum mit von Becher
angestrebten Steuerreformen, welche die einst den Landesständen vorbehalte-
nen Steuereinkommen aus Zunftgeschäften nun direkt dem absolutistischen
Herrscher zukommen lassen sollten. 88
Paradoxerweise ist es vor dem Hintergrund der dargelegten Entwicklungen
sein erweiterter Alchemiebegriff im Zeichen der Sozialutopie, der Becher einer-
seits in der politischen Praxis zum Vorreiter einer fortschrittsorientierten politi-
schen Ökonomie, Pädagogik und Sozialpolitik in der absolutistischen Staatsrä-
son werden lässt. 89 Andererseits weist ihn sein theoretisches Bemühen, diese
heterogenen Bereiche in einer vollkommenen christlichen Gemeinschaft letzten
Endes wieder zu kontextualisieren, als Vertreter eines zu seiner Zeit obsolet wer-
denden universalwissenschaftlichen Reformdenkens aus, dem die moderne und
zusehends auch institutionell verankerte funktionelle Ausdifferenzierung in
autonome Wissens- und Wissenschaftsdisziplinen gegenübersteht. Aus diesem
Blickwinkel erklären sich auch die Widersprüche, die sich aus heutiger Perspek-
tive zwischen Becher als machtpolitischem Berater nahezu macchiavellistischer
Härte und Becher als sozialutopischem Philosophen einstellen. Über sein beson-
Steuern befreit. Deshalb waren hofbefreite Handwerker gegenüber den lokalen Zünften im
Vorteil, was regelmäßig deren Zorn erregte. Mit der festen Residenzenbildung geht auch die
politisch wichtige Entwicklung der Zeremoniallehre einher, denn erst mit den festen Höfen
fand die pompöse Inszenierung des Souveräns ihren ureigenen Ort, an dem für die reprä-
sentativen Festlichkeiten eben das Spezialwissen der besten Handwerker, die man bekom-
men konnte, benötigt wurde. Vgl. ausführlich Herbert Haupt: Das Hof- und hofbefreite
Handwerk im barocken Wien 1620–1770. Ein Handbuch. Innsbruck, Wien, Bozen 2007, ins-
bes. S. 17–49, sowie Jörg Jochen Berns: Der nackte Monarch und die nackte Wahrheit. Aus-
künfte der deutschen Zeitungs- und Zeremoniellschriften des späten 17. und frühen
18. Jahrhunderts zum Verhältnis von Hof und Öffentlichkeit. In: Daphnis. Zeitschrift für
Mittlere Deutsche Literatur 11 (1982), 1/2, S. 315–349, hier insbes. S. 335f. Zu den Zünften als
finanzpolitischem Ärgernis für Regierende seit dem 16. Jahrhundert vgl. Hans J. Hatschek:
Das Manufakturhaus auf dem Tabor in Wien. Ein Beitrag zur österreichischen Wirtschafts-
geschichte des 17. Jahrhunderts. Leipzig 1886, S. 9f., sowie Ulrich Troitzsch: Johann Joachim
Becher als Techniker und Erfinder. In: Johann Joachim Becher (Anm. 6), S. 85–101, hier
S. 91f.
88 Vgl. Smith: Business of Alchemy (Anm. 8), S. 27f. und S. 94f.
89 Zu Bechers daraus abgeleiteten Regeln für eine erfolgreiche absolutistische Herrschaft vgl.
Becher: Politische Discurs (Anm. 62), S. 20–60.
deres Verständnis von Alchemie lassen sich diese Widersprüche aber zumindest
näher analysieren.
Für Becher fungiert Alchemie als eine Art übergeordnetes Naturrecht, deren
wesentlich naturphilosophische Konturierung in seinem Denken aber eine neue,
erweiterte Gestalt annimmt. Denn mittels Alchemie kann sich Becher nun auch
das soziopolitische Funktionieren der Welt erschließen, jedoch nicht ohne dabei
in besagte Widersprüche zu geraten. Deutlich werden diese Widersprüche, so-
bald man Bechers Denken im größeren Kontext dessen verortet, was als neuzeit-
liche „Enttheologisierung des Naturrechts“ bezeichnet wurde, wonach – zumin-
dest theoretisch – zusehends ein Naturrecht denkbar erschien, dessen Begrün-
dung aus der mathematischen Vernunft auch ohne Gott auskam. 90 Becher steht
dieser Enttheologisierung des Naturrechts einerseits völlig entgegen, wenn man
unter Enttheologisierung die neutralisierende Profanierung von göttlichen At-
tributen versteht, in deren Rahmen die säkular-autonome Herrschaft des Men-
schen über seine Welt sichergestellt wird. Denn ein Wissen, das in seiner ontolo-
gischen Bestimmung und seiner praktischen Anwendung wesentlich nur noch
dem Diesseits verpflichtet ist und Gott als oberste Instanz gar nicht mehr unbe-
dingt benötigt, liegt Becher in letzter Konsequenz gänzlich fern. Andererseits
kann Bechers Schaffen aber auch genau im Zentrum des erstarkenden enttheo-
logisierten Naturrechts situiert werden: Sein Denken fügt sich nämlich dann in
diese Entwicklungen, wenn es ihm darum geht, seine ganz konkreten Projekte
angesichts der soziopolitischen Herausforderungen seiner Zeit unmittelbar zu
legitimieren. Dabei verzichtet er meist auf eine tiefer gehende Reflexion seiner
90 „Die Enttheologisierung des N. war [...] in der These angelegt, daß die natürliche, durch
menschliche Vernunft einsehbare Ordnung Teil der göttlichen Ordnung sei. [...] Der Unter-
schied zwischen christlichem und weltlichem N. macht sich [nach Luther] einzig darin be-
merkbar, daß der weltliche Mensch infolge des Sündenfalls das göttliche Gesetz leiblich statt
geistlich [...] versteht und daß sein Herz so sehr verfinstert ist, daß er durch das natürliche
Recht allein nicht mehr regiert werden kann. Er bedarf daher des ‚gesatzten‘ (kaiserlichen)
Rechtes, des Stadt- und Landrechtes und einer starken Obrigkeit, die als Abbild und Statt-
halter des göttlichen Regiments, als Vollstrecker des göttlichen Zornes und Werkzeug seiner
erhaltenden Liebe mit dem Schwert für die Durchsetzung der göttlichen Ordnung sorgt. [...]
N. als Ordnung der menschlichen Beziehungen verpflichtet uns, das menschliche Leben
und die menschliche Gesellschaft mit ihren Institutionen wie Ehe, Familie und Staat zu er-
halten und im zwischenstaatlichen Bereich das ‚jus gentium‘ zu befolgen. [...] Verbindliches
N. sei daher, was den Geboten der Vernunft nicht widerstreite und der vernünftigen Natur
entspreche. Die naturrechtlichen Bestimmungen der Vernunft wären, wie Grotius [...] sagt,
auch dann gültig, wenn es keinen Gott gäbe; denn sie seien ebenso unwandelbar wie die
mathematischen Sätze, sie zu leugnen, hieße, sich selbst zu widersprechen. Nur weil die ver-
nünftigen Handlungen in sich selbst moralisch schlecht oder moralisch notwendig sind,
sind sie von Gott verboten oder geboten, und nicht umgekehrt.“ A. Hügli u.a.: Naturrecht.
In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter u.a. 13 Bde. Basel,
Stuttgart 1971–2007, Bd. 6 (1984), Sp. 560–623, hier Sp. 582–584. Vgl. auch Michael Stolleis:
Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. 3 Bde. München 1988–1999, Bd. 1:
Reichspublizistik und Policeywissenschaft (1988), S. 271f.
sondern auch zwischen Theorie und Praxis einstellt. Brauneder hat diese prag-
matische, d. h. „nichtjuristische“ Denkweise, die sich an den aktuellen Bedürf-
nissen des Staates orientiert und die in der Verwaltung die entscheidende Auf-
gabe der politischen Hofökonomie erkennt, lakonisch und zugleich konzise auf
den Punkt gebracht.
Staatstheorie zu treiben und diese umfassend für die Staatspraxis nutzbar
zu machen, war kaum das Anliegen Bechers. Lavieren, in bestimmter
Weise tätig sein: Zu Recht sind diese Rezepte nicht so sehr als eine Staats-
lehre, sondern als ein Aspekt davon, nämlich eine Verwaltungslehre, ver-
standen worden. 93
Statt die Unvereinbarkeit des Sozialutopisten mit dem Naturphilosophen zu
konstatieren und beide deshalb in moderner Manier getrennt zu behandeln,
eröffnet ein gemeinsamer Horizont auf den Spuren von Bechers eigenen Aussa-
gen die Möglichkeit, sein Kernproblem in den Blick zu bekommen, das er gegen
Ende seines Lebens selbst identifiziert hat: nämlich das politische Scheitern sei-
ner Sozialutopie im Zeichen der Alchemie. In der Psychosophia Oder Seelen-
Weißheit (1678) greift er in einem zutiefst melancholischem Ton genau eben diese
für ihn wichtige Verbindung von alchemischer Naturphilosophie, Politik und
Utopie auf, wenn er enttäuscht schreibt, er könne leichter den lapis philosophorum
als den lapis politicum herstellen.
Der Philosophische Stein ist zwar rar und künstlich zu machen/ trauete
mir ihn aber eher zu verfertigen als den Lapidem politicum, dann die Mate-
ri des Ersten bestehet in einer Sach ganz des Meister Disposition. [...]
Dann was bringt die Länder eher in Abgang/ als Regiersucht/ und wo
man die erhalten/ übernommene Macht/ so man Tyranney nennt und
Krieg/ Hoffart und Geiz/ woraus Geld Erpressung erfolget/ und der Un-
terthanen Armuth/ Wollust und Faulheit/ wordurch das Regiment/ Vor-
sorg/ Gerechtigkeit/ an Nagel gehenckt/ alle gute Rathschläge verachtet/
Pfaffen/ Ministris und Weibern das Regiment übergeben wird/ daß es nach
dem alten Sprichwort kein gut Ende nimt. 94
Becher wollte auf Basis seiner alchemischen Naturphilosophie die utopische
Vervollkommnung des christlichen Gemeinwesens vorantreiben und erkannte
hierfür in der politischen Ökonomie der absolutistischen Staatsräson das geeig-
nete Mittel, ohne dabei zu merken, dass Utopie und Staatsräson in einem unauf-
löslichen Konflikt zueinander stehen. Denn wie es die mittlerweile klassische
93 Wilhelm Brauneder: Bechers Lehre vom Staat. In: Johann Joachim Becher (Anm. 6), S. 41–67,
hier S. 67.
94 Johann Joachim Becher: Psychosophia Oder Seelen-Weißheit/ Wie nemlich ein jeder Mensch
auß Betrachtung seiner Seelen selbst allein alle Wissenschaft und Weißheit gründlich und
beständig erlangen könne. Zweyte Edition. Von dem Authore selbsten übersehen/ corrigirt
und in vielem verbessert. Franckfurt 1683, S. 165f.
Definition der Staatsräson von Friedrich Meinecke besagt, gibt es vor allem eine
„Grundaufgabe der Staatsräson“, nämlich „das Streben nach Sicherheit und
Selbstbehauptung um jeden Preis, mit allen Mitteln“ im nur sich selbst gegen-
über verpflichteten Staat. 95 Mit Blick auf die sich zu Bechers Zeiten konstituie-
rende moderne Staatsräson trifft auch Koselleck implizit den wunden Punkt von
Bechers Sozialutopismus, wenn er schreibt:
Die Genese des absoluten Staates ist begleitet von einem anhaltenden
Kampf gegen religiöse und politische Weissagungen aller Art. Der Staat
erzwingt sich ein Monopol der Zukunftsbeherrschung, indem er die
apokalyptischen und astrologischen Zukunftsdeutungen unterdrückt. [...]
Insgesamt kann man sagen, daß eine harte Politik erreicht hatte, die
handfesten religiösen Zukunftshoffnungen, die nach dem Zerfall der
Kirche wucherten, aus dem Bereich der politischen Willensbildung und
-entscheidungen zu eliminieren. [...] Statt der erwarteten Endzeit hatte
sich tatsächlich eine andere, eine neue Zeit eröffnet. 96
Das Verhältnis von Utopie und Staatsräson gestaltet sich also schwierig, wie der
Lebensweg Bechers beweist, aber die beiden schließen sich in der Praxis einer
„Politisierung des Utopischen“ auch nicht gegenseitig aus. 97 Die Utopie kann
weiterhin eine Funktion haben – aber eben nur im vorrangigen Interesse der
Staatsräson. Denn für die Staatsräson erweist sich eine politische Ökonomie mit
utopischer Grundierung à la Becher dann als wichtiger Faktor, wenn sie mit den
umzusetzenden Projekten bis in die Mikrostrukturen gesellschaftlicher Organi-
sation vordringen kann, um sie in einem gouvernementalen Sinne produktiv zu
gestalten.
Dort, wo die Staatsräson im operationellen Raum von Gesellschaft ein-
greift, versucht die Utopie mittels des Harmonie-Prinzips zumindest
theoretisch die ideelle Gemeinsamkeit von Herrschaft und Gesellschaft zu
retten. Insofern könnte man die Staatsräson auch als angewandte Utopie-
komponente sehen: Während die Utopie die Zieloption verheißt, sucht
die Staatsräson die Zweck-Mittel-Relation zu bewältigen. [...] Insofern
bedarf es immer auch der sozialdisziplinierenden Funktion von Staat-
lichkeit, damit überhaupt die Gesellschaftlichkeit der Individuen nicht
nur erreicht, sondern auch stabilisiert werden kann. Dieser Prozeß der
Vergesellschaftung, der die Polizierung aller Vertragsteilnehmer bein-
haltet, ist auf dem Gesetzeswege deshalb so schwierig, weil die „Einfach-
95 Friedrich Meinecke: Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte. München 1963,
S. 251.
96 Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft der frühen Neuzeit. In: Vergangene Zukunft. Zur
Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a.M. 1989, S. 17–37, hier S. 26f.
97 So lautet auch der Haupttitel eines von Monika Neugebauer-Wölk und Richard Saage her-
ausgegebenen Sammelbandes (vgl. Anm. 56).
gramm gewordenen Experimentalisierung des Lebens, die bei Becher aus dem
alchemischen Labor in den sozialen Raum der Gesellschaft übertritt und die
Foucault als gouvernementale Biopolitik klassifiziert hat: mithin die Produktion
des Subjekts durch die Staatsräson in der Moderne.
Daß das allgemeine Funktionsmodell dieser Produktion von Subjekten
das Panopticon ist, nicht nur als konkrete Form von Anstalten, die dem
Ideal des geordneten Raumes und der regulierten Bewegungen in ihm
entsprechen [...], sondern auch als grundlegende Erkenntnisdisposition,
ist freilich auch kein Zufall. Das Panopticon ist ein [sc. soziales] Laborato-
rium, in dem experimentelle Naturforschung ‚an den Menschen‘ betrie-
ben wird, um ein möglichst lückenloses Wissen vom Menschen und sei-
nen Möglichkeiten zu erstellen. 100
Becher war einerseits ein sozialutopischer Reformer, der im Zeichen eines al-
chemischen Universalismus und unter Bezug auf die christliche Heilsgeschichte
die vollkommene Gemeinschaft realisieren wollte. Zugleich war er andererseits
einer der maßgeblichen Ökonomen der absolutistischen Staatsräson, in dessen
Denken sich im Kern bereits die volkswirtschaftlichen Staats- und Verwaltungs-
lehren des 18. Jahrhunderts abzeichnen. In diesem Sinne steht seine alchemia
oeconomica genau am Scheidepunkt der umbrechenden Wissenssysteme der
Frühen Neuzeit zur Moderne. Ich denke aber nicht, dass man sich für einen der
beiden Bechers entscheiden muss. Stattdessen muss man bei ihm vielleicht noch
viel stärker als bei Anderen zwischen den Zielen unterscheiden, die er persön-
lich verfolgt hat, und dem, was er letztlich langfristig bewirkt hat. Becher war
sich seines Scheiterns gegen Ende seines Lebens durchaus bewusst. Aber den-
noch scheint er einen wichtigen Punkt bis zuletzt nicht erkannt zu haben: Nicht
er hat geschickt die absolutistische Staatsräson benutzt, um mit ihrer Hilfe zu-
mindest langfristig der kommenden Gemeinschaft zum Durchbruch zu verhel-
fen; vielmehr hat ihn die Staatsräson benutzt, um in der zu verwaltenden Bevöl-
kerung ein – ökonomisch höchst produktives – Begehren nach dem historischen
Telos einer utopischen Gemeinschaft zu implementieren: ein Begehren, durch
das sich die Staatsräson legitimiert – und zugleich ein Begehren, durch das die
Staatsräson kontrolliert.
Das Scheitern von Bechers Sozialutopismus am Schnittpunkt von Alchemie
und politischer Ökonomie kommt in der bereits erwähnten Psychosophia noch-
mals an anderer Stelle aufschlussreich zum Ausdruck, und zwar im ganz im Stil
der rosenkreuzerischen Manifeste gehaltenen Appendix Entwurff Oder Einladung
Einer Ruh-Liebenden und ihrem Nechsten zu dienen suchenden Philosophischen Gesell-
schaft: 101 Man habe sich mit der Verkündigung dieser Gesellschaft Zeit gelassen,
bis alle ihr vorausgegangenen erwartungsgemäß gescheitert seien. Denn diese
hätten sich nur auf religiöse Streitereien, phantastische Ideen und Zeremonien,
Machterhalt und -vergrößerung kapriziert, anstatt dem Nächsten zu dienen. In
dieser Gesellschaft aber herrsche Religionsfreiheit, es gebe keine Kleider- oder
Zeremonialvorschriften und keine weitreichenden finanziellen Abhängigkeiten.
Es müssten nur wenige Regeln eingehalten werden: Diese Regeln untersagen
den religiösen und weltlichen Zwist, fördern den moralisch-bescheidenen Le-
bensstil, Fleiß, Gehorsam und Verschwiegenheit. Die Ziele der Gesellschaft seien
ein ruhiges Leben abseits der turbulenten Weltgeschehnisse, ein von den tägli-
chen Sorgen um Wohnen, Essen und Kleidung enthobenes Leben zu führen, die
Unterrichtung der Jugend in Moral und Wissenschaft sowie die Versorgung der
Alten und Kranken mit Hilfe der Iatrochemie. Um die Gesellschaft in dieser
Form zu realisieren, solle ein Stück Land gekauft werden, auf dem alle notwen-
digen Lebensmittel in Eigenproduktion angebaut werden, ohne dabei aber die
Gesellschaft gänzlich von der Welt abzuscheiden. Denn für die Gesellschaft
notwendige Güter könnten auch außerhalb gekauft werden, die Gesellschaft ist
also nicht gänzlich autark.
Bei Bechers Entwurf einer Philosophischen Gesellschaft handelt es sich im
Kern vielleicht um jene soziale Formation, die ihm als Konsequenz einer Har-
monisierung von alchemischer Naturphilosophie und politischer Ökonomie
ursprünglich vor Augen gestanden haben mag. Gleichermaßen aufschlussreich
wie irritierend ist jedoch der Umstand, dass Becher diese Philosophische Gesell-
schaft eben nicht in klassischer Manier als eine zukünftige entwirft, deren Mit-
glieder in religiöser Einigkeit miteinander verbunden sein werden, sondern als
eine Art offene Parallelgesellschaft, die nach ganz eigenen, stark an einer weltli-
chen Ethik ausgerichteten Regeln funktioniert: Die Gemeinschaft ist auch nicht
auf einer Insel völlig abgeschottet, sondern liegt „an einer Revier“, 102 einem
Wasserlauf, der Zu- und Abfahrt für Mitglieder und Gäste ermöglichen soll.
Vom Rechtsstatus her entwirft Becher die Philosophische Gesellschaft als zivile
Einrichtung, die von der Obrigkeit, d. h. dem jeweiligen Landesherrn, geneh-
migt werden muss. Angesichts des Lebenswegs Bechers als politischer Ökonom
erscheint dieses Festhalten an den ganz konkret gegebenen zeitgenössischen
politischen Bedingungen im Entwurf der Philosophischen Gesellschaft konse-
quent. Und dennoch zeugt dieser Entwurf zugleich auch von dem ihm ganz
bewussten Scheitern seiner sozialutopischen Hoffnungen: Eine künftige Ge-
meinschaft, in der ideale Bedingungen für alle Menschen herrschen und die auf
einem gemeinsamen Glauben fußt, scheint angesichts der zeitgenössischen Zu-
101 Johann Joachim Becher: Entwurff Oder Einladung einer Ruh-Liebenden und ihrem
Nechsten zu dienen suchenden Philosophischen Gesellschaft. In: Psychosophia (Anm. 94),
Appendix (o. S.).
102 Ebd., o. S. (p iiiir).
stände, in denen Habsucht, Gier und Neid den politischen Alltag bestimmen, für
den vom Leben enttäuschten Becher wenige Jahre vor seinem Tod nicht mehr
realisierbar zu sein. Was als Möglichkeit noch bleibt, ist der kollektive Weg von
Gleichgesinnten in die gesellschaftliche Emigration. Aber auch in der Imagina-
tion eines kollektiven Lebens in der Emigration bleibt die Freiheit durchwoben
von Regierungstechniken, die in Bechers Philosophischer Gesellschaft in Form
ihrer notwendigen Genehmigung durch die Obrigkeit eben explizit mitbedacht
werden müssen. Es gibt kein Außerhalb der Macht. Bis zum Schluss bleibt Be-
cher als politischer Pragmatiker den realen Lebensbedingungen verpflichtet, was
der nahezu grenzenlosen Phantasie des Sozialutopisten jedoch nicht zuwider-
läuft.
Die große Zahl der Übersetzungen griechischer Texte ins Lateinische und latei-
nischer Texte in die Volkssprachen während des Mittelalters und der Renais-
sance, die oft durch Vermittlung über das Arabische und Hebräische verlief, hat
schon immer die Aufmerksamkeit von Wissenschafts- und Medizinhistorikern
auf sich gezogen. 1 Mein Beitrag teilt die Faszination für diesen umfassenden
Prozess der Migration von Wissen, möchte aber den Fokus speziell darauf rich-
ten, wie die aus der Antike übernommene Gelehrsamkeit mit Wissensbeständen,
die an bestimmte Orte gebunden waren, konfrontiert und verknüpft wurde. Mit
Blick auf lokales Wissen ergab sich das Problem, dass Informationen zu ver-
sprachlichen waren, für die es in der gelehrten Welt noch kein Begriffs-
Äquivalent gab. Ein prominentes Beispiel dafür ist in der frühen Neuzeit die
Begegnung mit indigenen Pflanzen und ihren Bezeichnungen, insbesondere
außerhalb Europas. Die Reisenden waren mit einer Fülle ihnen unbekannter
Namen, Begriffe und Konzepte konfrontiert. Die Definition und Benennung der
Naturgegebenheiten und der Kategorien, denen sie zugeordnet waren, konnte
sich selbst in ein und derselben Sprache als konfliktträchtige Angelegenheit
erweisen. Eines der Hauptprobleme lag im Mangel an Vollständigkeit: Das Buch
der Natur wuchs stetig an, und in der Konsequenz musste auch das Vokabular
kontinuierlich erweitert werden. Von der Struktur den Prozessen der Benen-
nung von indigenen außereuropäischen Pflanzen vergleichbar ist die Einfüh-
rung neuer Bezeichnungen im Rahmen des Kunsthandwerks und die Verwen-
dung dieser Terminologie in Übersetzungen und Publikationen, wenn es dafür
im Lateinischen oder in den Volkssprachen keine Entsprechung gab. Um eine
solche Übersetzung von kunsthandwerklichem Wissen soll es hier in einem ganz
spezifischen Zusammenhang gehen, nämlich in dem der Alchemie.
2 Pamela O. Long: Artisan/Practitioners and the Rise of the New Sciences, 1400–1600. Corval-
lis 2011, S. 94–126.
zones‘ der frühen Neuzeit bestanden aus „arenas in which the learned taught
the skilled, and the skilled taught the learned, and in which the knowledge in-
volved in each arena was valued by both kinds of ,traders’.” 3 Mit dem Konzept
der ‚trading zone‘ lässt sich der Aspekt der Sprache hervorheben. Galison
beschreibt es als „characterized by the development of pidgin languages and, at
times, full-scale Creole languages as a means of communication between people
from two different cultures.” 4 Sprache ist für Long ein zentrales Anliegen. Sehr
folgerichtig zeigt sie, dass die Erfindung des Feuers ein ganzes Spektrum von
handwerklichen Fertigkeiten ermöglichte, vor allem aber, nach Vitruv, „[promp-
ted] early humans to gather around fires, and this new proximity led them to
begin to communicate and acquire language“. 5 Während Long sich in erster
Linie darauf konzentriert, Interaktionen zwischen heimischen Kunsthandwer-
kern und belesenen Humanisten aufzuspüren, welche Lateinisch sprachen und
eine Universitätsausbildung besaßen, geht es mir um die Übersetzung von
Künstlerwissen, das heißt um den Prozess des Umstrukturierens von prakti-
schem Wissen in Schriften über die Künste.
Dazu gehört an zentraler Stelle die Begegnung des Übersetzers mit lokalen
Objekten und Wissensbeständen. Richtet man darauf den Fokus, ergibt sich als
eine erste wichtige Einsicht, dass Mehrsprachigkeit ein Schlüsselproblem dar-
stellt. So weist Florike Egmond darauf hin, dass Latein und Volkssprachen und
die entsprechenden Bezeichnungen in der Praxis und in Veröffentlichungen zur
Pflanzenkunde im 16. Jahrhundert nebeneinander existierten. 6 Obwohl lateini-
sche Namen dazu verwendet wurden, die internationale Kommunikation zu
vereinfachen, besaß das Lateinische keinen besonderen konzeptionellen Status
(bei der Entwicklung einer Klassifizierung) und hatte auch keinen höheren Sta-
tus als die sogenannten Volkssprachen oder als lokale Bezeichnungen für indi-
gene Pflanzen. Dies bedeutet eine wichtige Korrektur gegenüber der dominan-
ten Tradition der Geschichtsschreibung, die sich fast ausschließlich auf die Über-
setzungsbewegung vom Lateinischen in die Volkssprachen und auf das soge-
nannte Aufkommen der Volkssprache konzentriert hat. 7 Stattdessen zeigt Eg-
mond, dass Mehrsprachigkeit die Regel war. Mehrsprachigkeit ist typisch für
8 Mark Clarke, Bert de Munck und Sven Dupré: Transmission of Artists’ Knowledge. Brüssel
2012; Secrets and Knowledge in Medicine and Science 1500–1800. Hrsg. von Elaine Leong
und Alisha Rankin. Farnham, Burlington 2011; Pamela H. Smith: Why Write a Book? From
Lived Experience to the Written Word in Early Modern Europe. In: Bulletin of the German
Historical Institute 47 (2010), S. 25–50.
9 Arie Wallert: Standard and Procedures for Art Technology and Mediaeval Encyclopedias.
In: Mark Clarke, Bert de Munck und Sven Dupré: Artists’ Knowledge (Anm. 8), S. 69–74.
10 Sylvie Neven: Transmission of Alchemical and Artistic Knowledge in German Mediaeval
and Premodern Recipe Books. In: Laboratories of Art: Alchemy and Art Technology from
Antiquity to the 18th Century. Hrsg. von Sven Dupré. Heidelberg, New York, Dordrecht
und London 2014, S. 23–52, 30–36.
11 Lawrence M. Principe: The Secrets of Alchemy. Chicago, London 2013.
12 Sven Dupré, Dedo von Kerssenbrock-Krosigk und Beat Wismer: Kunst und Alchemie. Das
Geheimnis der Verwandlung. München 2014.
13 Sven Dupré: The Value of Glass and the Translation of Artisanal Knowledge in Early Mod-
ern Antwerp. In: Netherlands Yearbook for History of Art 64 (2014), S. 139–161; Marco
Beretta: The Alchemy of Glass. Counterfeit, Imitation and Transmutation in Ancient Glass-
Making. Sagamore Beach 2009.
14 Lothar Kuhnert: Johann Kunckel, Ritter von Löwenstern: Die Erfindung der Nanotechnolo-
gie in Berlin: Ein Bericht. Berlin 2008.
15 H. Günter Rau: Das Glaslaboratorium Johann Kunckels auf der Pfaueninsel. In: Ausgrabun-
gen in Berlin 3 (1972), S. 148–171.
16 Dedo von Kerssenbrock-Krosigk: Rubinglas des ausgehenden 17. und des 18. Jahrhunderts.
Mainz 2001.
17 Ursula Klein: Introduction: Artisanal-scientific Experts in Eighteenth-Century France and
Germany. In: Annals of Science 69 (2012), S. 303–306; Ursula Klein: Chemical Experts at the
Royal Prussian Porcelain Manufactory. In: Ambix 60 (2013), S. 122–138.
18 Johannes Kunckel: Ars vitraria experimentalis oder Vollkommene Glasmacher-Kunst.
Frankfurt a.M., Leipzig 1689, S. 89.
19 Kunckel bedient sich der Rhetorik der secreta-Literatur. Vgl. dazu William Eamon: Science
and the Secrets of Nature: Books of Secrets in Medieval and Early Modern Culture. Prince-
ton 1994; Secrets and Knowledge in Medicine and Science, 1500–1800. Hrsg. von Elaine
Leong und Alisha Rankin. Farnham, Burlington 2011; Jo Wheeler: Renaissance Secrets: Reci-
pes and Formulas. London 2009.
lien erschienen war. Neri war ein Alchemiker aus Florenz. 20 Die Glasrezepte, die
er in L’arte vetraria sammelte, sind auf Erfahrungen und Studien gegründet, die
er in der Glaswerkstatt im Casino San Marco in Florenz und im Haus des portu-
giesischen Handelsbankiers Emmanuel Ximenez sowie in der Glaswerkstatt von
Filippo Gridolfi in Antwerpen gemacht hatte. 21
Worum ging es also in Neris Buch? Neris Arte vetraria besteht aus sieben Bü-
chern, von denen nur das erste der Herstellung von cristallo, also farblosem Glas,
gewidmet ist. Die anderen sechs Bücher enthalten mehrere Rezepte für farbiges
Glas, an denen die Medici, Neri und Ximenez ein Interesse hatten, besonders an
denjenigen, die Edelsteine imitierten. 22 Neris Buch über Glas beruht teilweise auf
handschriftlich kursierenden Rezeptsammlungen, wie zum Beispiel dem Manu-
skript Ricette per far vetri colorati e smalti d’ogni sorte havute in Murano (1536) aus
Montpellier, und zahlreichen anderen anonymen Sammlungen, die in Florenz
im Umlauf waren. 23 Darüber hinaus war Isaac Hollandus eine sehr wichtige
Quelle, besonders für Buch 5 über das Imitieren von Edelsteinen. Der Antwer-
pener Maler Otto van Veen hob Hollandus als die wichtigste Autorität in der
Alchemie hervor. 24 Hollandus war ein paracelsischer Chemiker – eine vermut-
lich fiktive Gestalt –, dem zahlreiche Manuskripte auf Niederländisch und in
anderen Sprachen zugeschrieben wurden. Er erlangte zu dieser Zeit einen my-
thischen Status, teilweise auch als vermeintlicher Vorgänger von und als Quelle
für Paracelsus. 25 Neri las Hollandus’ Buch in der Bibliothek von Ximenez. 26 Über
einzelne Rezepte für die Herstellung künstlicher Edelsteine hinaus wurden Neri
bei der Lektüre der Opera Mineralia von Isaac Hollandus die Ähnlichkeiten zwi-
schen Glas und Mineralien stärker bewusst, und sie machten ihn mit naturphilo-
sophischen Überlegungen zur Glasherstellung bekannt. Auch wenn Neris Buch
zum Teil aus reiner Lektüre hervorging, spielte auch die Erfahrung eine wichtige
Rolle. In Buch 2 der Arte vetraria zur Produktion von Chalzedongläsern finden
20 Maria Grazia Grazzini: Discorso sopra la Chimica. The Paracelsian Philosophy of Antonio
Neri. In: Nuncius 27 (2010), S. 411–467; Paolo Galluzzi: Motivi paracelsiani nella Toscana di
Cosimo II e di Don Antonio dei Medici: Alchimia, medicina ‚chimica‘ e riforma del sapere.
In: Scienze, credenze occulte, livelli di cultura. Hrsg. von Leo S. Olschki. Florenz 1982, S. 31–
62.
21 Sven Dupré: Trading Luxury Glass, Picturing Collections and Consuming Objects of
Knowledge in Early Seventeenth-Century Antwerp. In: Intellectual History Review 20
(2010), S. 53–78.
22 Sven Dupré: The Value of Glass (Anm. 13), S. 146–147.
23 Cesare Moretti und Tullio Toninato: Ricettario vetrario del Rinascimento. Trascrizione da un
manoscritto anonimo veneziano. Venedig 2001.
24 Sven Dupré: The Value of Glass and the Translation of Artisanal Knowledge in Early Mod-
ern Antwerp: In: Trading Values in Early Modern Antwerp. Hrsg. von Bart Ramakers,
Christine Göttler und Joanna Woodall. Leiden, Boston 2014, S. 138–161, hier S. 155.
25 Annelies van Gijsen: Isaac Hollandus revisited. In: Chymia. Science and nature in medieval
and early modern Europe. Hrsg. von Miguel López Pérez, Didier Kahn und Mar Rey Bueno.
Newcastle 2010, S. 310–330.
26 Sven Dupré: The Value of Glass (Anm. 13), S. 155–156.
27 D.E. Allen: Merret, Christopher (1614–1695). In: Oxford Dictionary of National Biography
(2004), URL: http://www.oxforddnb.com/view/article/18599?docPos=1 (16.04.2015)
28 Christopher Merrett: The Art of Glass. London 1662.
29 Ursula Klein: Experimental History and Herman Boerhaave’s Chemistry of Plants. In: Stud-
ies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 34 (2003), S. 533–567;
Cesare Pastorino. Weighing Experience: Experimental Histories and Francis Bacon‘s Quanti-
tative Program. In: Early Science and Medicine 16 (2011), S. 542–570.
nologie, mit der schon Merrett seine Kommentare zu Neri bezeichnet hat. Mer-
rett und Kunckel mögen hier an das epistemische Genre der medizinischen ‚Ob-
servationes‘ gedacht haben. 30 Dieses Genre bestand aus Sammlungen von Fall-
geschichten und entstand im 16. Jahrhundert aus einem anderen typisch huma-
nistischen Genre, den ‚Curationes‘. Diese epistemischen Genres waren keine
Blaupausen für Kunckels Fixierung von Irrtümern. Beide Genres thematisierten
medizinisches Versagen – die ‚Observationes‘ allerdings nicht so häufig wie die
Curationes, denn dort richteten die Autoren den Fokus nicht auf die Effizienz
von Heilmethoden, wie es für die Curationes typisch war. Schon in der Philolo-
gie des 15. Jahrhunderts markierte der Titel ‚Observationes‘ ein Werk, das sich
auf einzelne Teile eines Textes konzentrierte; das passt gut zu Kunckels Ver-
wendung des Begriffs. 31 Kunckel benutzte also offensichtlich gelehrte Formate –
ohne eine explizite Vorliebe – zur Organisation von handwerklichem Wissen.
30 Gianna Pomata. Sharing Cases: the Observationes in Early Modern Medicine. In: Early
Science and Medicine 15 (2010), S. 193–236; Gianna Pomata: Observation Rising: Birth of an
Epistemic Genre, 1500–1650. In: Histories of Scientifc Observation. Hrsg. von Lorraine Das-
ton und Elizabeth Lunbeck. Chicago, London 2011, S. 45–80.
31 Pomata: Sharing Cases (Anm. 30), S. 193–236, hier S. 200.
32 Kunckel: Ars vitraria experimentalis (Anm. 18) S. 2.
33 Theo Hermans: Concepts and Theories of Translation in the European Renaissance. In:
Kittel: Übersetzung (Anm. 7), S. 1420–1428.
34 Paul Taylor: Italian Artistic Terms in Karel van Mander’s Schilder-Boeck. In: Translating
Knowledge in the Early Modern Low Countries. Hrsg. von Harold John Cook und Sven
Dupré. Zürich, Berlin 2012, S. 197–216.
35 Kunckel: Ars vitraria experimentalis (Anm. 18), S. 35.
36 Long: Artisan/Practitioners (Anm. 2), S. 95.
Sprache verfügbar. Der ersten Ausgabe von Neris L’arte vetraria im Jahr 1612
folgten nicht nur weitere italienische Auflagen in den Jahren 1661, 1663 und 1678
sowie die englische Übersetzung von Merrett, sondern auch eine lateinische
Übersetzung von Neri, die zum ersten Mal 1668 gedruckt wurde. Kunckel er-
wähnte auf der Titelseite ausdrücklich, dass dies eine Übersetzung von Neris
Veröffentlichung aus dem Italienischen und Lateinischen war. In einem Kom-
mentar zu Neris Rezept für goldgefärbtes Glas im dritten Buch schreibt Kunckel:
Es hat mir dieser hierinn beschriebene Proceß die allergröste Müh und
Verdruß über alle andere so in diesem Buch enthalten verursacht: Indeme
die von dem Autor beschriebene Dosis ganz unrecht und falsch ist. Ich
habe immer zu vermeint es sein in der Lateinischen Version ein Fehler ge-
wesen; nachdem mir aber das Italiänische (als worinnen es der Autor
selbst beschrieben) zu händen kommen habe ich befunden daß die Ver-
sion mit demselben hierinnen ganz zutrifft: Ob es nun in dem Italiäni-
schen Druck oder von dem Autor selbst versehen kann ich nicht wissen:
[...] 37
Hier erfahren wir gleich mehrere Dinge: Kunckel wurde mit Neris Buch über die
später erschienene lateinische Ausgabe bekannt, betrachtete aber die italienische
Ausgabe als die maßgebliche („als worinnen es der Autor selbst beschrieben“);
seine Übersetzung war also ein Ergebnis des Vergleichens und Auswertens von
Ausgaben in mehr als einer Sprache. Mehrsprachigkeit stand sowohl am Anfang
der Übersetzung als auch an ihrem Ende.
Das mehrsprachige Ergebnis von Kunckels Übersetzungsbemühungen be-
schränkt sich nicht auf die Verwendung von italienischen Begriffen, selbst dort,
wo eigentlich eine deutsche Entsprechung vorhanden wäre. Das Vorwort zu
seinem Buch ist von Begriffen wie observiret, demonstrationen, operiret, experi-
mentiret, determinirte dosin durchzogen – die hier und überall im Buch stets durch
die Verwendung einer anderen Schriftart hervorgehoben werden. Die meisten
dieser Begriffe haben eine epistemische Bedeutung. Hier ein Beispiel:
Es wird auch der fleissige Künstler in diesen und allen andern Dingen
was ich hier tractire, befinden daß ich auch die jenige Warheit welche ich
nicht von einem andern entlehnet oder erlanget sondern mit diesen mei-
nen händen operiret, experimentiret und gelernet allhier aufgeschrieben
und bewiesen habe. 38
Ein weiteres Beispiel, das sich direkt auf Kunckels Behauptung bezieht, er habe
jedes einzelne von Neris Rezepten selbst ausprobiert, ist das folgende: „Letzlich
füge ich noch dieses hinzu [...] daß [...] ich nichts allhier mittheile welches ich
nicht selbst untersuchet und geapprobiret habe“. 39 Wieder ist die epistemische
Kategorie durch eine andere Schriftart hervorgehoben. Kunckel rühmt sich nicht
nur der Durchführung eigener Versuche, sondern warnt seine Leser auch davor,
dass die in dem Buch zu findenden Rezepte beim ersten Versuch misslingen
könnten. Dies bedeute nicht, dass die Rezepte falsch seien; wahrscheinlicher sei,
dass der Leser einen Fehler gemacht habe. Wenn der Leser in diese Situation
geraten sei, rät Kunckel, möge er es wieder und wieder versuchen. In diesem
Zusammenhang erinnert er daran, dass Übung den Meister macht. 40
Pamela Smith vertritt die These, dass es bei Anleitungen und ‚How-To’-
Büchern nicht immer, oder nicht ausschließlich, darum geht, dem Leser mitzu-
teilen, wie etwas zu bewerkstelligen ist, sondern wie es richtig zu machen ist. 41
Sie sind nicht – oder nicht nur – dazu da, Wissen zu kommunizieren, sondern
dienen auch der Vermittlung von epistemischen Werten, die in der Werkstatt
von großer Wichtigkeit waren. Ein Beispiel dafür ist stete Aufmerksamkeit, ein
weiteres Wiederholung, die Kunckel für sehr wichtig hielt. Die Vermittlung von
solchen epistemischen Werten ist eines der Hauptziele von Kunckels Neri-
Übersetzung. Die Verwendung fremdsprachiger Terminologie bietet dem Leser
mit dem Aufgreifen von epistemischen Kategorien (Beobachtung und Experi-
ment) ein umfangreicheres Vokabular, um darüber zu sprechen, wie man etwas
richtig macht.
Das Experimentieren brachte Kunckel dazu, Neris Rezepte zu bewerten.
Manchmal war seine Einschätzung voll und ganz positiv. Häufig brachten ihn
seine Versuche aber auch dazu, die Rezepte den lokalen Gegebenheiten, Metho-
den und Ausgangsstoffen anzupassen. Eine bestimmte von Neri verwendete
Materialzutat konnte sehr teuer gewesen sein oder vielleicht in Brandenburg
schlichtweg nicht erhältlich. Eine der häufigsten Veränderungen nahm Kunckel
aufgrund der unterschiedlichen Bedingungen bei Schmelzöfen vor. So schreibt
er beispielsweise in seinen Kommentaren zu einer Lattimo-Farbe in Buch 3, Ka-
pitel 55: „Lehret der Autor daß die Composition, 18. Tage und Nacht im Ofen
stehen soll welches ganz unnötig sonderlich in unsern Deutschen Glaß-Oefen da
es nicht 3. Tag und Nacht stehen darff“. 42
Um das Handwerk des Glasmachens zu lehren, reichte es jedoch nicht aus,
nach der experimentellen Erprobung Änderungen vorzunehmen und die Rezep-
te dem vorhandenen Material und Wissen anzupassen. Kunckel war sich der
Grenzen, die das Schreiben und Lesen mit sich brachte, sehr bewusst. Alles war
eine Sache der Übung. So musste der Glasmacher etwa ein gutes Auge haben –
Kunckel spricht von ‚Augenmaß‘. 43 Vielleicht waren die Grenzen der Vermitt-
schiede zu machen. 48 Neri selbst listet noch drei weitere auf. Sein Nachdruck
liegt auf der Herkunft der Experimente und dem Netzwerk von persönlichen
Verbindungen, mit denen man an die Rezepte gelangt war. So erwähnt er, dass
er das erste Rezept 1601 im Florentiner Casino di San Marco unter der Leitung
von Niccolo Landi ausprobiert habe; das zweite Rezept habe ihm zur Herstel-
lung von Chalzedonglas in Flandern gedient und sei vom Großherzog Fer-
dinand de Medici bewundert worden. Beim dritten Rezept heißt es, es sei das
Ergebnis von Experimenten in der Glaswerkstatt von Gridolfi in Antwerpen im
Januar 1609 gewesen, wobei Neri hinzufügt, dass er zwei Stücke des Chalze-
donglases, das nach dieser Technik hergestellt worden war, dem Fürsten von
Oranien präsentiert habe. 49 Man sieht also, dass Neri zwar die Rezepte zur
Glasherstellung gelesen und gelegentlich auch seine Quellen angegeben hat. Er
hat jedoch nicht die Irrtümer aufgezeichnet, die er in den Ursprungsrezepten
fand. Kunckel aber tat das.
Manchmal lehnt Kunckel in seinen Anmerckungen eines von Neris Rezepten
sogar rundweg ab. So schreibt er zum Beispiel zu einem Rezept zur Imitation
von Lapis Lazuli: „Der Autor lehret bin ich ganz gewiß versichert daß er es nicht
gemacht er würde es sonst anders befunden und nicht also hier gefaßet haben
denn es gehet im geringsten nicht an.“ 50
Ein Rezept konnte in vielerlei Hinsicht falsch sein. Wie schon bemerkt, lag
eine der häufigsten Fehlerquellen in der Menge der Zutaten. Manchmal war
auch Neris Vorgehensweise falsch – entweder führte sie zum falschen Resultat
oder sie enthielt überflüssige Verfahren, die zum Erreichen des Ziels zu um-
ständlich oder gar nicht notwendig waren. So notierte Kunckel zu einem von
Neris Rezepten für Chalzedonglas: „Der Autor macht diese Composition nur
sehr schwer und kostbar da sie doch mit viel geringer Mühe und Kosten könnte
gemacht werden“. 51 Es gab mehr als eine Möglichkeit, Dinge falsch zu machen.
3 Fazit
Abschließend möchte ich meine Ergebnisse noch einmal zusammenfassen. Es
ging mir um zwei Arten von Übersetzung: eine zwischen der Praxis in der
Werkstatt und deren sprachlicher Darstellung, die andere zwischen zwei Spra-
chen. Kunckel war sich der Grenzen, die Sprache dem Bemühen setzt, Werk-
stattpraxis darzustellen, sehr bewusst. Bei Übersetzungen von Rezepten aus
einer Sprache in eine andere treten diese Grenzen noch deutlicher hervor, ja, das
problematische Verhältnis von Text und Praxis wird bei der Übersetzung von
Rezepten und technischem Wissen in eine andere Sprache unmittelbar deutlich.
48 Cesare Moretti und Tullio Toninato: Ricettario vetrario del Rinascimento. Trascrizione da un
manoscritto anonimo veneziano. Venedig 2001, S. 43.
49 Antonio L. Neri: L’arte vertraria. Florenz 1612, S. 39–48.
50 Kunckel: Ars vitraria experimentalis (Anm. 18), S. 100.
51 Kunckel: Ars vitraria experimentalis (Anm. 18), S. 75.
Man fragt sich, ob eine Übersetzung ohne den Rückgriff auf die Praxis – das
heißt, ohne ein bestimmtes Rezept zu erproben – überhaupt möglich ist. Denn
der Übersetzer ist an ortsspezifische Namen und Begriffe gebunden. Kunckel hat
daraus die Konsequenz gezogen, Neris Rezepte zu erproben. Das lässt ihn in der
langen Geschichte der kunsthandwerklichen Anleitungen als einen außerge-
wöhnlichen Leser erscheinen, denn diese Anleitungen stellen in der Regel nur
die Beschreibung einer Werkstattpraxis mit der Funktion dar, handwerkliches
Wissen über die physischen Grenzen der Werkstatt hinaus zu vermitteln.
Kunckels Übersetzung von Glasrezepten zeigt nicht nur, wie sich Künstlerwis-
sen geografisch und gesellschaftlich von einem Ort zum anderen bewegt hat.
Noch wichtiger ist, dass sich im Prozess des Übersetzens das Verständnis von
handwerklichem Wissen als solchem verändert. Der auffälligste Unterschied
zwischen Neris L’arte vetraria und vorangegangenen Rezeptsammlungen ist der,
dass Neris Buch Menschen und Orte benennt. Er gibt nicht nur die Namen von
Patronen und Städten an, sondern auch die von neueren Autoritäten – selbst
dann, wenn sie so ephemer sind wie der nicht existierende Isaac Hollandus. Im
Fall von Neri ging kunsthandwerkliches Wissen aus Experiment und Lektüre
hervor. Indem Kunckel auf seine Erfahrungen mit Grenzen des sprachlich Mög-
lichen mit der schriftlichen Fixierung von Irrtümern reagierte, führte er Neris
Konzeption noch einen Schritt weiter.
Wie kommt es zu diesem Wandel bei der Niederschrift von kunsthand-
werklichem Wissen? Hier sind mehrere Faktoren zu berücksichtigen. Einer da-
von ist die Welt des gedruckten Wortes. Es ist schwer vorstellbar, dass Kunckel
ein solches Netz von Irrtümern hätte dokumentieren können, ohne Zugang zu
den gedruckten Texten von Neri und Merrett gehabt zu haben. Die schriftliche
Fixierung von Irrtümern ist damit ein Effekt der durch den Buchdruck garantier-
ten Beständigkeit. 52 Ein zweiter Faktor ist das Erscheinen von Experten an den
Fürstenhöfen, die in der Alchemie bewandert waren und Luxusprodukte her-
stellen konnten. 53 Diese Experten verbanden gelehrte und kunsthandwerkliche
Kultur. Kunckel führte unterschiedliche wissenschaftliche Formate zusammen –
die ‚experimental history‘ von Bacon, medizinische ‚Observationes‘ und die
Tradition der naturphilosophischen Kommentare –, um handwerkliches Wissen
zu ordnen. In seinem Übersetzungsprozess begann das Schreiben über alchemi-
sche Techniken die Lektüre zu reflektieren.
1 Vgl. Hilary Putnam: The Meaning of ‚Meaning‘. In ders.: Mind, Language and Reality.
Philosophical Papers, Volume 2. Cambridge 1975, S. 215–271, hier S. 227f.
2 Vgl. Hilary Putnam: Explanation and Reference. In ders.: Mind, Language and Reality
(Anm. 1), S. 196–214, hier S. 198–207, sowie ders.: The Meaning of ‚Meaning‘ (Anm. 1),
S. 223–227.
3 Putnam zeigt dies am Beispiel von ‚Jade‘, worunter man in China einst zwei chemisch voll-
thetische natürliche Art (wie z.B. Phlogiston) kann sich herausstellen, dass sie
gar nicht existiert. Zudem kann ein Experte – oder mehrere – eine besondere Be-
griffsverwendung einführen, ohne dass dies aber Folgen für den geläufigen Be-
griff hat. Schließlich führt auch der Zuwachs an Wissen – auch an irrtümlichem
Wissen – zu keiner Bedeutungsänderung. Es hat deshalb keinen Sinn zu sagen
oder anzunehmen, jemand könne entdecken, dass Gold kein Gold sei. Sehr wohl
kann er aber entdecken, dass etwas Scheingold – oder etwas anderes als Gold –
ist. Ich schließe daraus, dass die Alchemisten seit der Spätantike, auch wenn sie
noch nicht über den modernen Elementbegriff verfügen, von demselben Gold
sprechen, von dem wir immer noch sprechen. Wenn sie für einen hypotheti-
schen gold- oder andersartigen Stoff einen begrifflichen Vorbehalt geltend ma-
chen (s.u.), so bezeugt das ihre terminologische und theoretische Umsicht.
Zu 2. Es gibt (mindestens) zwei Arten von Irrtümern: sozial oder durch die
Begegnung mit der Natur induzierte. Man kann durch andere getäuscht werden,
die dies beabsichtigen oder auch nur verursachen bzw. bewirken. Oder man
kann sich etwa hinsichtlich der näheren Beschreibung natürlicher Arten irren.
Die Geschichte der Wissenschaften führt nicht nur zu einem Wissenszuwachs,
sondern auch zur Korrektur von Irrtümern, in die man immer wieder verfällt. In
der Praxis will man im Übrigen nicht betrogen werden (z.B. durch Scheingold,
d.h. eine dem Gold ähnliche Legierung). Irrtümer bilden keine moralische Kate-
gorie, Betrug schon.
Die Erzeugung von Scheinwissen besitzt eine wichtige Funktion für die Ge-
nerierung von Wissen. Wenn die Geschichte der Alchemie einerseits einen ge-
waltigen Wissenszuwachs produziert, so ist sie andererseits durch alle Arten
von Irrtümern gekennzeichnet: solche, die die natürliche Beschaffenheit von
Metallen und anderen Stoffen betreffen; solche, die auf absichtsvollem Betrug
beruhen; schließlich aber auch solche, die sozial verursacht sind, ohne beabsich-
tigt worden zu sein. Dies sind die interessanteren Irrtümer, da sie Wissenschaft
als komplexes soziales Unternehmen erkennen lassen. Die unfreiwillige Kumu-
lation von Irrtümern mitsamt den darauf aufliegenden Umdeutungsprozessen
dürfte gerade für die Geschichte der Alchemie noch nicht zureichend analysiert
worden sein. Diese Geschichte ist zu einem erheblichen Anteil Religions- und
Literaturgeschichte, in der die Kategorie des Irrtums keinen Platz hat; insofern
sie allerdings Wissensgeschichte ist, darf die weitgehende Auffächerung unfrei-
williger Irrtümer einen zentralen Gegenstand der Untersuchung und Analyse
bilden.
Zu 3. Wissens- und Wissenschaftsgeschichte kann nur aus zwei Perspektiven
betrieben werden: einer Perspektive, die von einem jeweils aktuellen Wissens-
stand aus eingenommen wird, und einer Perspektive, die sich in einen je zeitge-
nössischen Wissensstand zurückbegibt. In diesem Sinne trifft sie – ggf. nur im-
kommen verschiedene Substanzen mit freilich sehr ähnlichen Eigenschaften verstand. Vgl.
Putnam: The Meaning of ‚Meaning‘ (Anm. 1), S. 241.
plizit – Aussagen darüber, was ein historischer Experte nicht wusste und fälsch-
lich zu wissen glaubte, aber insbesondere darüber, was er aufgrund welcher
Voraussetzungen für Wissen hielt. Während Gold Gold bleibt bzw. der Begriff
seinen Bezug unverändert behält, unterliegen doch das Wissen vom Gold wie
auch der Begriff eines solchen Wissens einem historischen Wandel.
Die Literatur der Alchemie ist eine Literatur, die eine Phantasmagorie umkreist.
Angesichts der Unzahl an Texten, die sie von der Spätantike an bis weit in die
Frühe Neuzeit hervorgebracht hat, 4 fragt man sich, wie es angehen konnte, dass
über anderthalb Jahrtausende ein Text nach dem anderen oft nur aus der Menge
vorhandener Texte abgeleitet wurde, ohne dass jemand einmal klar und wirk-
sam ausgesprochen hätte: Der Kaiser hat keine neuen Kleider, der Kaiser ist
nackt – es gibt keine Möglichkeit, Edelmetalle aus nicht edlen Metallen zu ge-
winnen. Derartiges vermuten und sagen zwar die schon immer vorhandenen
Kritiker der Alchemie, aber sie beziehen sich auf deren technologisches Versa-
gen und machen sich nicht erst die Mühe, sich in die umlaufenden Texte mit
ihren Theorieanstrengungen einzulesen. Dies wäre allemal nach dem Ende des
Mittelalters zu einer Mammutaufgabe geworden, die man sich vielleicht hätte
ersparen können und sollen. Es gehört ein eigenes Interesse dazu, sich auf die
vielen alchemistischen Texte einzulassen, die ihren Referenzpunkt immer wie-
der weitgehend und fast ohne Ende nur in anderen Texten finden. Dies scheint
denn auch ein spezifischer Reiz der alchemistischen Textproduktion zu sein: die
Streckung der Sprache nahezu bis ins Unendliche.
Ich werde hiervon anhand eines Kernbegriffs der Alchemie, der in der Regel
am Ende alchemistischer Texte zum Zuge kommt, nur einen kleinen Ausschnitt
näher beleuchten. Es geht darum, dass – wenn man das Elixier, d.h. das Mittel
zur erfolgreichen Behandlung oder Umwandlung unedler Metalle, bereit ma-
chen will – man seine Wirksamkeit um ein Vielfaches verstärken kann. Es soll zu
einer Vermehrung einerseits der Kräfte des Elixiers, andererseits aber auch der
Menge des behandelten Stoffs kommen; theoretisch bis ins Unendliche – so die
Annahme. Dieser Vorgang wird multiplicatio genannt. Der Begriff wird von ei-
4 Einen Eindruck vermittelt die von John Ferguson vorbildlich katalogisierte, höchst umfang-
reiche, aber immer noch nicht ganz vollständige Sammlung von James Young of Kelly and
Durris, vgl. John Ferguson: Bibliotheca Chemica. A Catalogue of the alchemical, chemical
and pharmaceutical books in the collection of the late James Young of Kelly and Durris.
2 Bde. Glasgow 1906 (der Katalog umfasst über tausend Seiten). Mein Urteil bezieht sich auf
den großen Anteil im eigentlichen Sinn alchemistischer Texte in dieser Sammlung (unter
Ausschluss etwa der chemisch-pharmazeutischen Texte). Volkhard Wels, dem ich für eine
Reihe von Hinweisen danke, macht mich darauf aufmerksam, dass sich aus dieser Alche-
mie, die man Transmutationsalchemie nennen kann (in diesem Band, S. 233-265), viele
Folgedisziplinen herleiten, die eine Unzahl medizinischer, pharmazeutischer, metallurgi-
scher, kriegstechnischer, kunsthandwerklicher und anderer Kenntnisse zutage gefördert ha-
ben. Insofern hat man es mit einem wissenschaftsgeschichtlich in diesem Ausmaß wohl ein-
zigartigen Phänomen nicht-intendierten Wissenszuwachses zu tun.
nem Text zum nächsten weitergereicht. Ich werde seine Verwendung und sein
theoretisches Umfeld von der Spätantike bis in die Frühe Neuzeit erläutern.
In den griechischen chemischen Papyri aus dem 3. Jahrhundert nach Chris-
tus, dem Papyrus von Leiden und dem aus Stockholm, gibt es Rezepte, die die
Streckung von Silber durch Kupfer und Zinn beschreiben. Hergestellt werden
Legierungen, die so aussehen wie Silber, die aber nur zu einem Teil aus Silber
bestehen. Es ist die Rede von einer Verdopplung (dem διπλασιασμός) oder so-
gar Verdreifachung (der τρίπλωσις) des Silbers. Die Betrugsabsicht liegt offen
zutage, aber es gibt Formulierungen, die einen stutzen machen. Es heißt etwa
zum Ergebnis eines Verfahrens, in dem Kupfer und Zinn (wohl mit Silber) zu-
sammengeschmolzen werden: „es wird zu erstklassigem Silber (ἄργυρος ὁ
πρῶτος), ohne dass die Handwerker daran etwas merken können.“ 5 In einem
Satz wird hier verpackt, dass man so eine Mogelpackung herstellen kann, die
sich selbst dem Sachverstand der Handwerker entzieht; sie wird aber zugleich
als erstklassiges Silber bezeichnet. 6 Normalisiert man diesen Sprachgebrauch,
dann ist es nicht weit zu der missverständlichen Behauptung „das Kupferkalk
zu Silber zu machen“ (Τὰ χαλκᾶ ἁργυρᾶ ποιῆσαι; 7 so der Titel eines Rezepts),
die in den Rezepten der Papyri üblich ist. Zu Silber wird hier etwas erklärt, das
aussieht wie Silber und bei der Verarbeitung ungefähr dieselben Eigenschaften
aufweist, indem es sich auch nicht leicht in die ursprünglichen Bestandteile auf-
trennen lässt; erst stärkeres und längeres Erhitzen würde die Legierung zerstö-
ren. Gewöhnt man sich an eine solche Redeweise, dann kann man (vorgebliches)
Silber und Gold durch Zusatz unedler Metalle einfach vermehren. 8 Sofern die
Handwerker etwas merken, werden sie diese Redeweise tunlichst indizieren. In
den späteren alchemistischen Rezepten wird sie für die Herstellung von ‚Silber‘
und ‚Gold‘ aber in der Tat selbstverständlich. Man kann es verdoppeln und
vermehren, wie es heißt, 9 und es ist nicht leicht zu entscheiden, ob dabei ein
5 Otto Lagercrantz: Papyrus Graecus Holmiensis. Recepte für Silber, Steine und Purpur.
Uppsala 1913, S. 3f. (eine Übers. auf S. 150f.). Vgl. auch: Les alchimistes grecs. Tome I. Papy-
rus de Leiden. Papyrus de Stockholm. Fragments de recettes. Hrsg. und übersetzt (franz.)
von Robert Halleux. Paris 1981, Rezept Nr. 3, S. 111.
6 Fast identische Formulierungen fallen im Leidener Papyrus (Anm. 5) etwa zur Herstellung
von Asem (Nr. 8, S. 86; Nr. 39, S. 95).
7 Papyrus von Leiden (Anm. 5), Nr. 26, S. 91. Vgl. auch den Papyrus von Stockholm (Anm. 2),
Nr. 9, S. 112.
8 Entsprechend ist von Vermehrung (πλεονασμός), Verdoppelung (δίπλωσις) und Verdreifa-
chung die Rede (τρίπλωσις). Vgl. etwa im Leidener Papyrus (Anm. 2), Nr. 15 und 16 (S. 88),
im Stockholmer Papyrus (Anm. 5), Nr. 7, S. 112 u.ö.
9 Collection des alchimistes grecs. Hrsg. von Marcellin Berthelot, unter Mitarbeit von Charles-
Emile Ruelle. 3 Bde. Paris 1887/1888, Nachdruck London 1963, Bd. 2, Texte grec, S. 38f., 309
u.ö. Es finden sich noch weitere seltsame Rezepte schon in den Papyri: So wird gesagt, man
besäße in einem aus acht Teilen Silber mit je zwei Teilen Kupfer und Zinn zusammenge-
schmolzenen Klumpen eine unerschöpfliche Masse (μᾶζα ἀνέκλειπτος) Silber, da man
hiervon Teile (als Silber) hinweg nehmen und das Hinweggenommene durch Zusatz weite-
rer Teile Kupfer und Zinn ersetzen könne (vgl. Lagercrantz: Papyrus Graecus Holmiensis
hinzugedachter Index mitspielt (‚Silber in dem Sinne, dass [...]‘). Wo nicht, dort
werden Silber und vorgebliches Silber irrtümlich unter einen Begriff gebracht.
Allerdings ist noch eine weitere Möglichkeit in Betracht zu ziehen: die Redewei-
se wird unter einen Theorievorbehalt gestellt – für den Fall, dass sich nämlich
tatsächlich bestätigen lassen sollte, dass Silber (und Gold) sich verdoppeln und
vermehren lassen.
Mit derartigen Vorbehalten arbeitet die Alchemie von Beginn an. Durch ihre
gesamte Geschichte läuft – schon von den Texten des 1. Jahrhunderts an bis weit
in die Frühe Neuzeit – ein terminologischer Vorbehalt, der ausweist, dass von
den genannten Stoffen nicht in dem Sinne die Rede ist, in dem die Stoffnamen
üblicherweise gebraucht werden. Man signalisiert, dass nicht vom gewöhnlichen
Gold die Rede ist, sondern von ‚unserem Gold‘ oder vom ‚philosophischen
Gold‘. „Unser Gold kann, sofern es die erforderliche Eigenschaft besitzt, [Gold]
machen bzw. [zu Gold] färben“ (Ὁ δὲ ἡμέτερος χρυσὸς, ἐπεὶ κατὰ ποιότητά
ἐστιν, ποιεῖν καὶ βάπτειν δύναται), 10 heißt es bei dem in Alexandria arbeitenden
griechischen Alchemisten Zosimos von Panopolis (Ende des 3., frühes
4. Jahrhundert nach Chr.). Hier wird der terminologische Vorbehalt zu einem
theoretischen, denn es wird mit dem eingeschobenen Satz eine Beschaffenheit
zur Bedingung gemacht, von der einstweilen offen bleibt, wodurch sie erreicht
wird. Dabei suggeriert der Nebensatz unwillkürlich, es gebe diese Beschaffen-
heit. Dass Gold oder Goldartiges – ‚unser Gold‘ – seinerseits Gold herstellen soll,
kann auf das in der Antike weitverbreitete hippokratische Prinzip similia simili-
bus curantur vertrauen. 11 Dennoch liegt nicht mehr als ein Theorieversprechen
vor, das erst noch einzulösen ist.
Die vielversprechende Redeweise gilt ebenso für Silber, später besonders für
den Mercurius (Quecksilber) und Schwefel und was der Stoffnamen mehr sind,
die unter den Vorbehalt fallen sollen. Er wird allerdings weniger als Vorbehalt
aufgefasst, sondern als Bestandteil einer Eingeweihtensprache sowie als Schutz-
klausel vor unbequemen Nachfragen. Wenn es heißt ‚unser XY‘, dann ist ein
Text immer auch gegen Festlegungsversuche aus der Praxis immunisiert. Es soll
so scheinen, als könne man den Text unter Eingeweihten lesen. Pseudisten kön-
[Anm. 5], S. 154–156; vgl. zur unerschöpflichen Masse auch Halleux: Les alchimistes grecs
[Anm. 5], S. 39f.). Berthelot hat angesichts des Ausdrucks μᾶζα an einen Gärungsprozess in
dieser μᾶζα gedacht (Berthelot: Collection des alchimistes grecs, Bd. 1, S. 270), der durch ein
Gärungsmittel bewirkt wird. In den Rezepten ist aber von einem derartigen weiteren Mittel
nicht die Rede, und der Silberanteil müsste stattdessen tatsächlich immer geringer werden.
Allerdings scheint hierbei die Vorstellung mitzulaufen, dass sich der überwiegende Silber-
gehalt ungeachtet seiner Verringerung dem zugesetzten Kupfer und Zinn weiterhin mittei-
le.
10 Berthelot: Collection des alchimistes grecs (Anm. 9), Bd. 2, S. 127. Weitere Stellenbelege
führt Edmund O. von Lippmann: Entstehung und Ausbreitung der Alchemie. Mit einem
Anhange: Zur älteren Geschichte der Metalle. Berlin 1919, S. 46 u.ö.
11 Vgl. zur Konzeption des Prinzips bei Zosimos Lippmann: Entstehung und Ausbreitung der
Alchemie (Anm. 10), S. 80.
nen darauf vertrauen, dass dies im Zweifelsfall niemand kann, da der Einge-
weihtenstatus grundsätzlich nicht dafür sorgt, die Sprache auf Kommunizier-
barkeit einzurichten. Eine auf Reproduzierbarkeit der Verfahren gerichtete und
auf allerorten nachvollziehbare Grundbegriffe gestützte Forschung stellt ein erst
modernes naturwissenschaftliches Ideal dar.
‚Unser XY‘ bleibt durch die Geschichte der Alchemie hindurch ein hypotheti-
sches Konstrukt, das allerdings unwillkürlich einen großen spekulativen Spiel-
raum eröffnet. Die fehlende Bestimmtheit und Bestimmbarkeit des Begriffs
schließt nicht aus, dass alchemistische Verfahren und Versuche über vie-
le Jahrhunderte ausprobiert werden: Eine reproduzierbare Grundlage einer er-
folgreich weiter zu gebenden Experimentierkunst liefern die alchemistischen
Texte aber nur selten. So bleiben ihre Verfasser gern anonym oder verbergen
sich hinter Pseudonymen, insbesondere im Mittelalter. Oft schreiben sie ihre
Texte auch prominenten Autoren zu, um den Texten die Lektüre und eine Fort-
wirkung zu sichern, ohne doch ansprechbereit dafür einzustehen und mit dem
eigenen Namen dafür zu ‚haften‘. Gleichwohl zeitigt dieser Zustand unabsehba-
re Folgen, indem er empirische Bemühungen in verschiedenste Richtungen lenkt
und ungewollt dennoch zur Identifizierung von Stoffen nötigt. In diesem Sinne
bringt er gewissermaßen sein Gegenteil hervor.
Warum sollte aus einer unbefangenen Perspektive nicht in der Tat eine er-
reichte Legierung bzw. Mischung besseres Silber darstellen, sodass die Anfüh-
rungsstriche doch vielleicht hinweg zu nehmen und der Vorbehalt unnötig wä-
re(n)? Was heißt überhaupt ‚Legierung‘ oder ‚Krasis‘ und was dergleichen Be-
griffe für chemische Verbindungen mehr sind, und was geschieht dabei: Warum
sollten sich die gemischten Bestandteile gleichbleiben und nicht zu einem neuen
und besseren Ganzen verschmelzen, das ist ja tatsächlich das Ergebnis einer
chemischen Reaktion? Wer weiß, ob im Innern der Natur – sei es im Erdinnern
oder in den Stoffen selbst – nicht bis ins Kleinste gehende Mischungsverhältnisse
einen neuen Stoff hervorzubringen erlauben oder doch neue Eigenschaften?
Genau das ist die Erfahrung im Umgang mit den Stoffen über dem Feuer oder
bei der Destillation. Man beginnt dabei, chemische Vorgänge zu beobachten und
begnügt sich nicht mehr damit, in der Natur begegnende Stoffe nur in Augen-
schein zu nehmen.
Wenn man aber (noch) nicht weiß, dass bestimmte Metalle Elemente darstel-
len, weil man noch nicht über den chemischen Elementbegriff verfügt; wenn
man zudem nicht weiß, was genau beim Zusammenschmelzen verschiedener
Metalle und weiterer zugesetzter Stoffe wie Schwefel, Salzen u.a.m. vor sich geht
und keine sorgfältigen Gewichtsproben vornehmen kann, die das spezifische
Gewicht oder die Dichte eines Stoffes zu bestimmen und zu beachten erlauben,
dann ist das Feld offen für Spekulationen verschiedenster Art. Damit beginnt die
Alchemie. Edelmetalle wie Silber und Gold könnten z.B. ihrerseits Mischungen
darstellen, bei denen nur ein Bestandteil den anderen so dominiert, dass er ihm
seine Qualität mitteilt 12 oder eine neue Qualität herstellt. Oder eine in die Tiefe
gehende Färbung verwandelt ein unedles Metall in ein edles – in der Färbung
zeigt sich nur eine tiefreichende Umwandlung der Eigenschaften des behandel-
ten Metalls. Auch andere Möglichkeiten wären denkbar.
Ungefähr zur Zeit der zitierten Papyri beginnt die Alchemie im 3. Jahrhun-
dert anhand derartiger Theorien zu experimentieren. Die Theorien besitzen ei-
nen technischen Anhalt, greifen aber auch spekulativ aus und laufen schnell in
eine frei flottierende, schon in der Antike extrem anspielungsgeladene, metapho-
risierte und allegorisierte Sprache aus, die den Anschluss an Philosophie und
Religion sucht. Die auf Miniaturvorgänge zugeschnittenen Experimente schei-
nen geeignet, übergreifende Gesichtspunkte, ja makrokosmische Dimensionen
zusammenzudenken.
Der Wunsch, eine Vermehrung von Gold und Silber herbeizuführen, hat Al-
chemisten früh auf den Gedanken gebracht, dass es eine chemische Wirkung
geben könnte, die der Gärung/Fermentation vergleichbar sei. Es heißt u.a. bei
Zosimos, dass man eine kleine Menge Gold oder Silber auf einen präparierten
Stoff werfen bzw. projizieren müsse, um wie beim Aufgehen von Brotteig nach
dem Zusatz von Hefe (ζύμη τοῦ ἄρτου) eine große Menge Gold oder Silber zu
erhalten. 13 Das Ferment soll also einen Stoff deutlich vermehren, indem es ihm
zugleich neue Eigenschaften mitteilt. Die spätantike Alchemie ist entsprechend
durch die Suche nach Konzepten gekennzeichnet, die nach dem Vorgang solcher
Vermehrung und Verwandlung die Herstellung edler Metalle erklären könnten.
Dann, so die implizite Annahme, müsste sich die Herstellung auch praktisch
bewältigen lassen.
Solche Konzepte werden u.a. aus der Medizin übernommen, indem statt der
ζύμη, der Hefe zum Backen, viel öfter noch vom ξήριον (daher al iksir bzw. ‚Eli-
xier‘), d.h. einem Wundpulver, oder vom φάρμακον, einem heilenden Gift, die
Rede ist. 14 Solche Mittel sollen auf eine vorbereitete Masse, eine Metallpaste o.ä.,
einwirken und sie verwandeln, wie sie ja schon als Behandlungsmittel im
menschlichen Körper ihre Wirkung entfalten und dabei in einem bemerkenswer-
ten Missverhältnis ihrer Menge zu ihrer großen Wirkung zu stehen scheinen.
12 Das auf Pseudo-Demokrits Physika kai Mystika (wohl noch vor Chr.) zurückgehende Diktum
natura naturam vincit (Berthelot: Collection des alchimistes grecs [Anm. 9], Bd. 2, S. 41–53,
hier S. 43 u.ö.) bringt dies zum Ausdruck.
13 Ὡς γάρ ἡ ζύμη τοῦ ἄρτου, ὀλίγη οὖσα, τοσοῦτον φύραμα ζυμοῖ, οὔτο καὶ τὸ μικρὸν χρυσίον
τὸ πᾶν μέλλει ξηρίον ζυμοῦν, Berthelot: Collection des alchimistes grecs (Anm. 9), Bd. 2,
S. 145 („Wie etwas Hefe den Teig aufgehen lässt, so lässt etwas Goldhefe die Trockenmasse
aufgehen“), vgl. ähnlich auch S. 175 und 248 (vgl. auch die Übersetzung Berthelots, Bd. 3,
S. 147, 174, 238). S. auch F. Sherwood Taylor: The Alchemists. Founders of Modern Chemis-
try. New York 1949, S. 36f.; Arthur J. Hopkins: Alchemy. Child of Greek Philosophy. New
York 1967, S. 75f.
14 Vgl. einige Stellennachweise bei Lippmann: Entstehung und Ausbreitung der Alchemie
(Anm. 10), S. 79f. Vgl. auch S. 68f. u.ö. Außerdem zur Fermentation Jack Lindsay: The Ori-
gins of Alchemy in Graeco-Roman Egypt. London 1970, s. Reg. zu ‚fermentation‘.
15 Paul Kraus: Jbir ibn Hayyn. Contribution à l’histoire des idées scientifiques dans l’Islam.
Jbir et la science grecque. Kairo 1942, Nachdruck Paris 1986. Dazu die Textausgabe von
dems.: Jbir ibn Hayyn. Contribution à l’histoire des idées scientifiques dans l’Islam. Vo-
lume I. Le corpus des écrits jabiriens. Kairo 1943, Nachdruck Hildesheim u.a. 1989. Hinter
vielen dem historischen Dschabir zugeschriebenen Texten scheint sich über Dschabir hinaus
ein Kollektiv zu verbergen, das unter seinem Namen ein Schriftenkorpus zusammen ge-
schrieben hat. Das literarische Verfahren, die Texte daraufhin über Querverweise zusam-
menzubinden und einem Autor zuzuweisen, spiegelt sich im mittelalterlichen Pseudo-Ge-
ber-Korpus. Es folgt einem aus der Antike stammenden Usus, zusammen gehörende Wis-
sensbestandteile auf verschiedenen Schriftrollen zu verteilen, um ihre Aneignung zu er-
schweren und bevorzugt Eingeweihten vorzubehalten.
16 Zu Gerhard vgl. Richard Lemay: Art. ‚Gerhard of Cremona‘. In: Complete Dictionary of
Scientific Biography. Detroit 2008, Bd. 15, S. 173–192. Der Liber de septuaginta wird hier als
Nr. 65 (nach der Zählung Wüstenfelds; Nr. 84 nach der Zählung Sartons) der Übersetzun-
gen Gerhards aufgeführt.
17 So William Newman: New Light on the Identity of Geber. In: Sudhoffs Archiv 69 (1985),
S. 76–90.
18 Siehe eine Ausgabe des Liber de septuaginta in Marcellin Berthelot: Archéologie et Histoire
des Sciences. Paris 1906, S. 308–363. Vgl. die entsprechende Beschreibungssprache hier auf
S. 320f., 323 u.ö.
19 Vgl. Newman in seiner Untersuchung: The Summa perfectionis of Pseudo-Geber. A Critical
Edition, Translation and Study by William Newman. Leiden u.a. 1991, Kap. 2.
20 Sie sind aus einem Ordenskonflikt von zelanti gegen solche Brüder hervorgegangen, die sich
eher weltlich orientieren (mitigati). Vgl. den Text bei Paul Sabatier: Speculum perfectionis
seu S. Francisci Assisiensis legenda antiquissima, auctore fratre Leone. Hrsg. von Paul Saba-
guriert möglicherweise von dem Ordensgeneral Elias von Cortona, 21 sind damit
offenbar auch auf eine andere Art von perfectio gerichtet, die Naturwirkungen
betrifft, und nicht nur auf Ordensmitglieder. Sie will auch natürliche Stoffe zur
perfectio führen.
Geber hält sich ziemlich weitgehend an das, was er in einer bemerkenswert
gut ausgestatteten Werkstatt selbst ausprobiert haben muss, und er beschreibt
Arbeitsverfahren in einer durchsichtigen und nachvollziehbaren Sprache. Bei
der Herstellung von tief eindringenden Medizinen, die unedle Metalle und
Quecksilber in eine Art Silber und Gold verwandeln, verfährt er allerdings sche-
matisch. Man kann durch Wiederholung der Präparation auch die Güte oder
Kraft (und Menge?) der Medizinen, zumal der Medizin zur Goldherstellung
erhöhen:
Je öfter die Behandlung wiederholt wird, desto stärker wird das Übermaß
[an Wirkung oder Menge?] der Medizin vervielfältigt, und ihre Kraft wird
erheblich vermehrt und die Zunahme an Vollkommenheit in höchstem
Maße erhöht. (Et quanto huius complementi ordo reiteratur pluries, tanto
et huius exuberantia medicine multiplicatur magis, et illius magis augetur
bonitas, et multiplicatur illius augmentum perfectionis maxime). 22
Geber suggeriert, es gäbe eine bestimmte besonders intensiv präparierte Medi-
zin, in der Schwefel bis in kleine Teile (per minima) mit einer Ausgangssubstanz,
die er im Anschluss an die Tradition lapis nennt, feuerbeständig verbunden
werden kann.
Die vorsichtige Wiederholung der Behandlung kann die Kraft der Medi-
zin bei der Bereitung des Steins schließlich so weit bringen, dass sie/er
[die Medizin/der Stein] schließlich Quecksilber in durch und durch [oder:
unendlich viel?] gold- oder silberähnliches Metall umwandelt, wobei dies
auf ihrer Multiplikation beruht [gemeint ist die Zahl der Behandlungen].
(Et huic quidem medicine reiteratio bonitatis administrationis cum talis
cautele industria potest in praeparatione lapidis evenire, quousque [me-
dicina/lapis, H.H.] argentum mutet vivum [in?] infinitum solificum et
verum lunificum, et non dependet nisi in multiplicatione illius). 23
tier. Paris 1989. Hier wird die perfectio der Minderbrüder in ihrer Armutsnachfolge (S. 40),
ihrer heiligen Demut (S. 70, 116) und anderen Ordensidealen propagiert. Sie scheint auch
eine Art Kampfbegriff zu werden.
21 Salimbene von Parma berichtet, dass man Elias nachgesagt habe, sich mit Alchemie zu
beschäftigen ([...] quod intromitteret se de alchimia; Salimbene von Parma: Cronica. Hrsg. von
Oswald Holder-Egger. [MGH SS 32]. Hannover 1913, S. 160) und Kontakt zu allen zu halten,
von deren Beschäftigung mit der Alchemie er wusste.
22 Newman: The Summa perfectionis (Anm. 19), S. 586f.
23 Newman: The Summa perfectionis (Anm. 19), S. 588. Ich übersetze: medicinae bonitas. Newman
versteht argentum vivum im zitierten Nebensatz als Subjekt des Satzes, vgl. Newman: The
Das soll wohl heißen, dass die Medizin, je mehr sie durch fortgesetzte Präparati-
on (Lösung und Sublimation) nach innen bzw. bis in immer kleinere Teile per-
fektioniert wird, so viel perfectio gewinnt, dass sie diese perfectio wieder an das
mit ihr behandelte Quecksilber abgeben kann, und zwar bis ins Unendliche.
Die verschiedenen antiken Annahmen über die Grundsubstanz des Goldes
sind mittlerweile durch eine Theorie ersetzt worden, nach der Quecksilber diese
Grundsubstanz darstellt, da es etwa die Malleabilität (Hämmerbarkeit) des Gol-
des in besonders hervorstechender Weise besitzt und nur durch eine Reihe von
Arbeitsschritten eine neue, festere Konsistenz und Farbe erreichen müsste. Das
soll durch die Zugabe von Schwefel geschehen. Das behandelte Quecksilber
wird nach Geber aber nicht gleich in sol und luna, also Gold und Silber, sondern
in solificum und lunificum verwandelt, es wird gewissermaßen ‚solifiziert‘ und
‚lunifiziert‘, d.h. gold- und silbermäßig gemacht. Hier schwingt wieder der oben
angesprochene Vorbehalt mit, von einer besonderen Art Gold und Silber – einer
perfekteren womöglich – zu sprechen. Dabei gibt Geber aber die Ausrichtung
chemischer Arbeitsvorgänge auf die Gold- und Silberherstellung nicht preis.
In dem zitierten Satz Gebers ist von der Verwandlung des Quecksilbers zur
perfectio die Rede, die von einer multiplicatio abhängig sein soll: multiplicatio
meint dabei wohl die Vervielfachung der beteiligten, aber immer kleiner wer-
denden Teile. Geber scheint eine Theorie zu vertreten, nach der Stoffe oder Me-
talle bis ins Unendliche teilbar sind. Die Natur hat im Erdinnern nur eine beson-
ders weit oder in die Tiefe gehende Vermischung von Teilen erreicht. Im Gold
ist die Verbindung von Quecksilber mit Schwefel so fein und subtil und im
Bauch der Erde so lange mit der richtigen Wärme durchgekocht, dass sie jede
Feuerprobe erfolgreich besteht. Gold wäre also kein irreduzibles Element, son-
dern ein Misch- oder Verbindungsprodukt, auf das Kräfte nur lange genug und
in der richtigen Proportion eingewirkt hätten. Die Skala der perfectio scheint bei
Geber entsprechend ins Unendliche zu reichen, je kleiner die Teilchen werden,
die sich in der Mischung verbinden. 24
Summa perfectionis (Anm. 19), S. 768. In Analogie zu einer parallelen Aussage im vorherge-
henden Kapitel, nach der Quecksilber in ein corpus lunare transformiert werden kann
(Newman: The Summa perfectionis (Anm. 19), S. 585), verstehe ich auch hier das Quecksilber
als den Bestandteil, auf den die Medizin angewendet werden soll; als Subjekt wären deshalb
medicina oder lapis aus dem übergeordneten Satz zu ergänzen. Diese zentrale Stelle bleibt
aber in mehrfacher Hinsicht schwierig und unklar.
24 Eine verwandte, auf die profunditas der Mischung gerichtete Theorie vertritt der pseudo-
aristotelische und sich in ein Rhazes-Korpus einfügende, möglicherweise (nach der Zu-
schreibung von Teilen des Textes in einigen Handschriften) aber von Elias von Cortona
stammende und Geber bekannte Text De perfecto magisterio. S. den Text u.a. in: Guglielmus
Gratarolus: Veræ alchemiæ artisque metallicæ [...] doctrina, [...]. Basel 1561, Bd. 2, S. 188–
225. Weitere Drucke bei Ferguson: Bibliotheca Chemica (Anm. 4), Bd. 1, S. 42. Nach der ei-
genartigen Theorie des Textes sind alle Metalle ineinander enthalten, indem sie an dimensi-
onierten Eigenschaften teilhaben, die hervorgekehrt werden können.
25 Gewichtsanalysen mit Bestimmung des spezifischen Gewichts von Metallen als Elementen
setzen sich erst Ende des 18. Jahrhunderts durch.
26 Vgl. so im Liber de septuaginta (Anm. 18), S. 362f. Vgl. außerdem Julius Ruska: Al-Razis Buch
Geheimnisse der Geheimnisse. Mit Einleitung und Erläuterungen in deutscher Übersetzung
von Julius Ruska (Quellen und Studien zur Geschichte der Naturwissenschaften und Medi-
zin, Band 6). Berlin 1937, S. 111, 116, 122, 124 u.ö.
27 Ruska: Al-Razis Buch Geheimnisse der Geheimnisse (Anm. 26), S. 132. Vgl. entsprechende
Stellen auch in einer bearbeiteten lateinischen Übersetzung des Secretum secretorum: Julius
Ruska: Übersetzung und Bearbeitungen von al-Razis Buch Geheimnis der Geheimnisse. Ber-
lin 1935, S. 31. Nach Ruska (ebd., S. 85–87) ist der Bearbeiter identisch mit dem Verfasser der
Summa perfectionis magisterii, also mit dem lateinischen Geber (vgl. auch Newman: The
Summa perfectionis [Anm. 19], S. 62f.). Zahlenverhältnisse werden in der Summa sowenig wie
in den bearbeiteten Partien des Secretum secretorum beachtet und berücksichtigt.
28 Eine Reihe von Formulierungen in der Bearbeitung des Secretum secretorum (Anm. 27) weist
in diese Richtung, wie auch schon viele Arbeitsschritte darin bestehen, immer kleinere Teile
herzustellen. So ist von einem penetrare per minima oder einem introducere tincturas per mini-
mas corporis partes die Rede; es soll eine unio bona et intima herbeigeführt werden, die in die
Tiefe (profunditas) geht usw. Von hier dürfte auch De perfecto magisterio (s. Anm. 24) den Be-
griff der profunditas beziehen.
29 Si vero utrumque opus album et rubeum perficere conaris, utrumque fermentum per se modo iam
dictum dissolve et serva. Et est nostrum argentum vivum de argento vivo extractum, quod volumus
pro fermento. Pastam vero fermentandum extrahimus more solito ex imperfectis corporibus. [...]. Li-
ber fornacum. In: Guglielmus Gratarolus: Verae Alchemiæ artisque metallicae [...]. Basel 1561,
Bd. 1, S. 193–201, hier S. 197.
30 Vgl. dazu die Hinweise von Ernst Darmstaedter in: Die Alchemie des Geber. Übers. und
erklärt von Ernst Darmstaedter. Berlin, Heidelberg und New York 1922, S. 180f. Dass der Li-
ber fornacum einem anderen Autor als Geber zuzuschreiben ist, zeigt Newman: The Summa
perfectionis (Anm. 19), S. 80f.
31 Was die multiplicatio ist, ist noch in den einschlägigen Nachschlagewerken zur Alchemie
unklar. Vgl. z.B. Claus Priesner und Karin Figala: Alchemie. Lexikon einer hermetischen
Wissenschaft. München 1998, S. 262, die darunter nur Mengenvermehrung verstehen bzw.
angeben.
32 Gärung durch ein fermentum auri wird u.a. in der Turba erwähnt, vgl. Julius Ruska: Turba
philosophorum. Ein Beitrag zur Geschichte der Alchemie (Quellen und Studien zur Geschich-
te der Naturwissenschaften und Medizin, Band 1). Berlin 1931, S. 140 und 169.
Texte, wie es häufig geschieht, auf ein Rezept für die Herstellung des Elixiers
zulaufen. 33
Das ist etwa der Fall in einem Traktat (De multiplicatione) des Thomas von
Aquin, den er auf Bitten seines Privatsekretärs, Reinald von Piperno, verfasst
haben soll. 34 Thomas von Aquin hätte sich allerdings gewiss nicht auf die
Arkansprache eingelassen, durch die der Text in hohem Maße geprägt ist. Dieser
dürfte vielmehr im 15. Jahrhundert entstanden und wohl nicht ohne eine latente
Ironie Thomas zugeschrieben worden sein. Zu dieser Ironie gehört auch der
Umstand, dass die Beziehung des Thomas zu seinem Lehrer Albertus Magnus,
der in der Tat hermetische Materialien verarbeitet hat und in dessen Schriften
etwa der Name des Hermes fällt, ausgespielt wird. Dem Bruder Reinald wird
am Ende von Thomas geraten, sich lieber um sein Predigeramt und das christli-
che Heil zu bemühen. Dieser ironische Deckmantel wird aber über einen ausge-
prägt alchemistischen Text geworfen.
Es werden in De multiplicatione viele Phraseologismen gebraucht, die durch
die gesamte alchemistische Literatur laufen, darunter etwa der, dass „unsere
ganze Arbeit in nur vier Worten auszudrücken ist, d.h. ein opus mulierum und
ludus puerorum darstellt“. 35 Das meint Kochen – und dies mit Ausdauer und
Geduld. Der alchemistische Phraseologismus lässt sich bis auf Zosimos zurück-
verfolgen. 36 Es ist weiter vom Urin zwölfjähriger Knaben die Rede, von der
Jungfrauenmilch und dem Drachenschwanz usw. und immer wieder von unse-
rem Mercurius (Quecksilber), der allein – so die Theorie dieses Textes – zu präpa-
rieren sei. Es wird nach einer Anzahl von Verfahrensschritten letztlich ein
Amalgam hergestellt; der Begriff fällt denn auch wiederholt. 37 Dieses Amalgam
– wechselweise auch als elixir, medicina oder fermentum bezeichnet, was die kon-
zeptuelle Unschärfe unfreiwillig demonstriert – soll dann als Pulver auf Queck-
silber projiziert werden, damit nach anschließender Kochung Gold oder feinstes
Silber vorgefunden werden kann. 38
Der Herstellung des Elixiers aber gilt nach einer Reihe von vorbereitenden
Maßnahmen ein Verfahren in drei Schritten, um ihm Eigenschaften mitzuteilen,
die es weitergeben können soll. Dieses Verfahren läuft auf eine multiplicatio hin-
aus. Im ersten Schritt gelangt man so weit, dass „ein Teil unseres Werks sieben
33 Ich gehe im Folgenden nicht auf die von Roger Bacon vertretene Theorie der multiplicatio
specierum ein, die einer eigenen Untersuchung bedürfte.
34 Vgl. die Edition des Textes in Dietlinde Goltz, Joachim Telle und Hans J. Vermeer: Der
alchemistische Traktat von der Multiplikation von Pseudo-Thomas von Aquin. Untersu-
chungen und Texte. Wiesbaden 1977.
35 totum opus nostrum stat in quattuor verbis, eo quod est opus mulierum et ludus puerorum; Goltz
u.a.: De multiplicatione (Anm. 34), S. 106.
36 παιδίου παίγνιον καὶ γυναικὸς ἔργον, Collection des alchimistes grecs (Anm. 9), Bd. 2,
S. 251. Die Vermittlung des Diktums könnte über die Turba philosophorum (Anm. 32), S. 126
(mulierum opus et ludus puerorum) gelaufen sein.
37 Goltz u.a.: De multiplicatione (Anm. 34), S. 112–116.
38 Goltz u.a.: De multiplicatione (Anm. 34), S. 120.
Teile gut gereinigten Mercurius“ färbt (j pars nostri operis vij tingit partes mercurii
bene purgati), 39 d.h. man muss ein vorbereitetes, wahrscheinlich stark goldhalti-
ges Pulver auf gereinigtes Quecksilber im Verhältnis 1 zu 7 projizieren, wobei
das Quecksilber erfolgreich (gold)gefärbt wird. Färbung, derentwegen das Eli-
xier auch Tinktur genannt wird, wird in der Alchemie als identifizierende Eigen-
schaft eines Metalls verstanden.
Ein weiterer Schritt verfeinert nun das im ersten Schritt gewonnene Produkt:
Das hier erhaltene Pulver ist schon subtiler, weil stärker digeriert – digestio,
‚Verdauung‘, ist ein sehr verbreitetes mittelalterliches Konzept. Das Pulver soll
nun aber noch subtiler werden. Es wird also wiederum auf sieben Teile Queck-
silber projiziert und weiter behandelt. Der Verfasser lässt einige Erfahrung mit
Arbeitsverfahren erkennen: So soll man es durch ein Leder passieren lassen und
im geschlossenen Gefäß bei geringer Wärme lange im Ofen erwärmen usw.
Danach – vermutlich ist der Quecksilberanteil dann entwichen – wird es wiede-
rum zu einem Pulver verarbeitet, das nun noch feiner sein soll. „Deshalb tingiert
ein Teil [des in diesem zweiten Schritt erhaltenen Pulvers] sieben mal sieben
Teile zum Elixier“ (Eo quod una pars tingit sepcies septem partes in elixir). 40 Jetzt
besitzt man also ein Pulver, das im Verhältnis 1:49 digeriert.
Im dritten Schritt erhält man ein sehr subtiles Pulver, „von dem eine Unze
sieben mal 49 Teile färbt, das sind dreihundert und dreiundvierzig Teile“ (quo-
rum [pulveres] uncia 1 tingit partes sepcies xlix, hec sunt ccc et xliij partes). „Der
Grund dafür ist folgender: Je mehr unsere Materie digeriert wird, um so feiner
wird sie. Und je feiner sie ist, desto mehr vermag sie zu durchdringen und umso
mehr färbt sie durch Eindringen“ (Racio quia quanto materia nostra plus digeritur,
tanto subtilior efficitur, et quanto subtilior tanto penetrabilior et tanto plus ingrediendo
tingit). 41
Nach der zugrunde liegenden Modellvorstellung schreitet die Verfeinerung
im Sinne einer arithmetischen Reihe aus Siebenerpotenzen voran. Was als po-
tenzierte Verfeinerung dargestellt wird – im Sinne einer multiplicatio der Wir-
kung – ist allerdings zunächst einmal einfach eine fortschreitende Verdünnung
des Ausgangspulvers; die Behandlungsverfahren wiederholen sich einfach. Dass
dabei eine erhöhte Wirksamkeit des Pulvers erreicht werden soll, beruht nur auf
der Suggestion der arithmetischen Reihe; die Angabe des Grundes ist gewisser-
maßen eine Leerbehauptung, die Angabe von Potenzen ein Zahlen-Bluff. Nach
dem dritten Schritt macht der Verfasser halt. Wohl weil die Drei ebenso wie die
Sieben eine symbolische Zahl darstellt. Das Verfahren ist im Prinzip das selbe
wie beim homöopathischen Potenzieren. 42 Für eine Medizin mag das Potenzie-
43 Vgl. Goltz u.a.: De multiplicatione (Anm. 34), S. 51, mit einer Rekonstruktion des Verfahrens.
44 Der historische Nikolas Flamel (1330–1418) könnte die Darstellungen auf dem Giebelfeld
des Toreingangs zum Cimetière des Innocents gestiftet haben. Sie sind nicht erhalten, aber
auf einem Kupferstich im Livre des figures hiéroglyphiques wiedergegeben. Der Livre, in dem
Flamel diese Darstellungen (angeblich) kommentiert, dürfte indes wohl erst Ende des
16./Anfang des 17. Jahrhunderts entstanden und dem historischen Nikolas Flamel fiktiv zu-
geschrieben worden sein. Zu den Drucken (ab 1612) s. Ferguson: Bibliotheca Chemica
(Anm. 4), Bd. 1, S. 249f. Zu (Pseudo-)Flamel vgl. Jacques van Lennep: Alchimie. Contribu-
tion à l’histoire de l’art alchimique. Brüssel 1985, S. 256–262; außerdem insbesondere Jean-
Michel Varenne: Nicolas Flamel. Son histoire, sa personalité, ses influences. Paris 2001. –
Man hat schon im 18. Jahrhundert Zweifel an der Verfasserschaft des historischen Flamel,
s. Johannes Franz Buddeus: Historisch- und politische Untersuchung von der Alchemie und
was davon zu halten sey? In: Friedrich Roth-Scholtz: Deutsches Theatrum chemicum. Nürn-
berg 1728, Nachdruck Hildesheim, New York 1976, Bd. 1, S. 1–146, hier § 34. – Nach dem
Kupferstich im Livre des figures hiéroglyphiques (vgl. unten Anm. 47) stellte das Giebelfeld
über dem Stifterbild den Kindermord in Bethlehem durch Herodes (Mt 2,16–18) dar und
darüber Paulus und Petrus, die eine Darstellung Gottes flankieren. Eine erkennbare alche-
mistische Bedeutung besitzt das Bildprogramm nicht.
45 Während z.B. die sog. Christus-Lapis-Parallele nur die konnotative Gleichung ‚Kochen (des
materiellen Substrats) = Quälen (Christi)‘ ausspielt, wird bei (Pseudo-)Flamel das christliche
Bildprogramm des Torbogens als alchemistische Allegorie ausgelegt.
send zur Million oder tausend mahl tausend; und von dannen durch
ebenmssige Operation biß auf unendliche Zahl, wie ich dann selbsten zu
dreyen mahlen, Gott sey Lob, solches versucht und gethan habe. Und
wenn nun dein Elixir auf diese Weise zur Unendligkeit wird gebracht
seyn, so wird ein Gran oder Gersten-Korn schwer desselben, wenn es
ber eine geflossene Metallische Quantitt [geworfen wird], ob sie auch
gleich so groß und tief wre, wie der Ocean, oder grosse Meer, 46 solche in
das aller vollkommenste Metall, das ist, in Silber oder Gold, nachdem es
imbibiret oder fermentiret worden, tingiren und verwandeln, auch alle
Unsauberkeit, und fremde Materie so sich demselben in der ersten coagu-
lation gesellet, von sich vertreiben und zurcke lassen. 47
Das Zitat lässt neben der Zahlenspielerei Präzision vermissen – ob die Teilung
ins Unendliche geht oder eine Mengenvermehrung statthat, wird kaum deutlich
–, es lässt dagegen Hyperbolik anklingen und es demonstriert eine gewisse Be-
reitschaft zum Fabulieren: Die Fremd- oder Selbstbezeugung der Durchführung
einer oder mehrerer Transmutationen gehört zu der in der Frühen Neuzeit weit
verbreiteten Gattung der Transmutationserzählungen. 48 (Pseudo-)Flamel schickt
eine solche Erzählung seiner Erklärung der hieroglyphischen Figuren voraus.
Die dargestellte multiplicatio schreitet bei ihm dann in Zehnerpotenzen voran.
Wenn aber davon die Rede ist, die Naturen in der Menge oder Grsse, Gestalt und
Tugend zu multiplizieren, so werden diese unterschiedlichen Faktoren der multi-
plicatio allesamt zusammengeworfen.
46 Die Formulierung scheint auf eine Stelle aus der Turba (Anm. 32), S. 119 (s. dazu auch die
Anm. Ruskas auf S. 189), zurückzugehen.
47 Ich zitiere: Des berühmten Nicolai Flamelli Chymische Werke [...]. Wien 1751, S. 41–88 (der
Kupferstich nach S. 40), hier S. 84f. Der Erstdruck (P. Arnauld: Trois Traictez de la Philoso-
phie naturelle [...]. Paris 1612, S. 45–88; Nachdruck in: Claude Gagnon: Description du Livre
des Figures Hiéroglyphiques attribué à Nicolas Flamel, suivie d’une réimpression de
l’édition originale et d’une reproduction des sept talismans du Livre d’Abraham authen-
tique dudit Flamel. Montréal 1977) hat auf S. 85 folgenden Wortlaut: Car tout autant de fois
que tu dissoudras & fixeras, autant de fois ces natures multiplieront en quantité, qualité & vertu se-
lon la multiplication de dix, de ce nombre venant à cent, de cette à mille, de mille à dix mille, de dix
mille, à cent mille, de cent mille à un million, & de là par mesme operation iusque à l’infini, ainsi que
i’ay faict trois fois, Loüé soit Dieu. Et quand ton Elixir est ainsi conduit à l’infini, vn grain d’iceluy
tombant sur une quantité metallique fondue, aussi profonde & vaste que l’Ocean, il le teindra et con-
uertira en tres parfaict metal, c’est à dire, en argent ou en or, selon qu’il esté imbibé & fermenté, chas-
sant & laissant loin de soy la matiere impure & estrangere qui s’estoit iointe en sa premiere coagula-
tion.
48 Vgl. Siegmund Heinrich Güldenfalk: Sammlung von mehr als hundert wahrhaften Trans-
mutationsgeschichten. Frankfurt a.M., Leipzig 1784. Vgl. weitere Beispiele auch bei Joachim
Telle: Alchemie und Poesie. Deutsche Alchemikerdichtungen des 15. bis 17. Jahrhunderts.
Untersuchungen und Texte. 2 Bde. Berlin, Boston 2013, Bd. 2, S. 867.
Dies ist nicht immer der Fall, und gelegentlich wird die multiplicatio der Kraft
und der Menge sehr wohl auseinandergehalten, so etwa in der Philosophia refor-
mata des Johannes Daniel Mylius:
Auf zwei Weisen kann die Medizin multipliziert werden: Erstens durch
die Lösung und wiederholte Koagulation, und dies ist ihre multiplicatio
hinsichtlich ihrer Kraft und Güte. Zweitens durch Gärung, und dies ist ih-
re multiplicatio hinsichtlich der Menge (Quantität). Schneller wirst du aber
die Vermehrung durch Gärung vollenden, denn mit der Lösung lässt sich
nicht gut arbeiten, wenn sie nicht zuerst in ihrem Ferment gärt. Voll-
kommener dagegen wird unsere Medizin durch Lösen und Hochtreiben
vervielfacht. Auf diese Weise wird sie verfeinert (spiritualisch), und nach
der ersten Lösung, Hochtreibung und Koagulation fällt ein Teil in der ers-
ten Projektion (erfolgreich) auf hundert Teile, in der zweiten auf tausend
Teile und so lässt sich weiter verzehnfachen, je durch weiteres Hochtrei-
ben bis ins Unendliche – was die allerwertvollste Gabe Gottes ist. (Duo-
bus autem modis multiplicari poterit medicina. Primo per solutionem et
reiteratam coagulationem, et haec est eius multiplicatio virtualis in boni-
tate. Secundo per fermentationem, et haec est eius multiplicatio in quanti-
tate. Citius autem augmentationem per fermentationem perficies, eo quod
soluta non bene operatur, nisi prius figentat [fermentat? H.H.] in suo fer-
mento. Perfectius ergo per solutionem et exaltationem nostra medicina
multiplicatur, et hoc modo spiritualia, et post primum solutionem, exalta-
tionem, et coagulationem pars vna in prima proiectione cadit super 100.
secunda super 1000. et sic vlterius decuplare, semper exaltando vsque in
infinitum, quod preciosissimum est Dei donum). 49
Bei Mylius wird klar, dass die multiplicatio virtualis in bonitate eine in Zehnerpo-
tenzen voranschreitende Verfeinerung darstellen soll, die bis ins Unendliche
fortgesetzt werden kann, und keine Vermehrung der mengenmäßigen Quantität.
Deutlich wird auch, dass der dem Quecksilber zuzusetzende Schwefel nicht
wieder flüchtig werden darf und deshalb die Verbindung zu einer solchen Ver-
feinerung getrieben werden soll, dass sie unauflöslich erscheint. Unabhängig
davon kann es auch eine Mengenvermehrung im Sinne der Gärung geben.
Entfesselte Schreibweisen lassen in der Frühen Neuzeit überlieferte Darstel-
lungsformen aufbrechen und zu eigenen textuellen Formen herauswachsen. Sie
kippen oftmals zur Verspoesie, wie denn alchemistische Lehrdichtungen schon
49 Johannes Daniel Mylius: Philosophia reformata. Frankfurt a.M. 1622, S. 132f. Die viel abge-
bildeten Kupferstiche der Philosophia reformata kehren wieder im Chymischen Lustgärtlein von
Stoltzius von Stoltzenberg, Frankfurt a.M. 1624, Nachdruck Darmstadt 1975, hier als vierter
zusammenhängender Zyklus mit den Nrn. 33–60. Der der multiplicatio gewidmete Stich, auf
den ich hier nicht eingehe, ist die Nr. 38. Die Stiche der Philosophia reformata werden bei John
Read: Prelude to Chemistry. An Outline of Alchemy, its Literature and Relationsships. New
York 1937, S. 260–273, diskutiert.
in der Antike in Verse gegossen werden, in ein Fabulieren übergehen und die
kunstvoll geprägten Decknamen und Phantasiebegriffe zu Chiffren gewendet
erscheinen. 50 Vom alchemistischen Prozess her wird in der Frühen Neuzeit indes
auch auf den Menschen, den Kosmos und die Heilsgeschichte übergesprungen, 51
und der Prozess bedeutet auf einmal viel mehr als nur ein handwerkliches Ver-
fahren. Dieses verliert sich ggf. zugunsten einer theosophischen Umdeutung.
Die Alchemie des Mittelalters wird entsprechend überformt und verallgemei-
nert, sodass eine breit ausladende Naturphilosophie daraus hervorgeht, die mit
jüdischer und christlicher Theosophie zusammenläuft. 52
Der Text, der im Folgenden im Zentrum stehen soll, ist weitgehend allein aus
der multiplicatio herausgesponnen und versucht ihr in jenem aufgesprengten
naturphilosophischen Feld einen neuen Sinn zu geben. Es handelt sich um den
Vorbothen der am philosophischen Himmel hervorbrechenden Morgenröthe (Amster-
dam 1703) des Johannes de Monte Raphaim. 53 ‚De Monte Raphaim‘ heißt ‚vom
Berg der Raphaim‘ – die Raphaim oder Rephaim sind Einwohner aus einer be-
stimmten Region Israels aus vorhistorischer Zeit. Zum Autor, der zu den sich in
Amsterdam aufhaltenden Juden gehören dürfte, gibt es keinerlei Nachrichten,
und es gibt sonst nur wenige Hinweise zur Druckgeschichte seines Textes. 54
jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Frankfurt a.M. 1980. Vgl. viele Hinweise auch
bei Wilhelm Schmidt-Biggemann: Geschichte der christlichen Kabbala. Bd. 1. 15. und
16. Jahrhundert. Stuttgart, Bad Cannstatt 2012; Bd. 2. 1600–1660. Stuttgart, Bad Cannstadt
2013; Bd. 3. 1660–1850. Stuttgart, Bad Cannstadt 2013.
53 Johannes de Monte Raphaim: Vorbothe der am philosophischen Himmel hervorbrechenden
Morgenröthe. Amsterdam 1703. Vgl. ein Digitalisat der Erstausgabe aus der Universitäts-
und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt unter der URL: http://digital.bibliothek.uni-halle.de/
hd/content/titleinfo/26112 (28.11.2014).
54 Ferguson: Bibliotheca Chemica (Anm. 4), Bd. 2, S. 103f.
Wahrscheinlich bedient Johannes sich eines Pseudonyms. 55 Auffällig ist der Titel
seines Textes (besonders in Bezug auf die Morgenröthe). Ein alchemistischer
Cento wohl aus dem 13. Jahrhundert führt den Titel Aurora sive aurea hora oder
Aurora consurgens (nach Hohelied 6,9), eine Reihe von Paracelsica führt gleich-
falls ‚Aurora‘ im Titel, 56 und natürlich ist dann auch an Jacob Böhmes Aurora
oder Morgenröthe im Aufgang aus dem Jahr 1612 zu denken. Im alchemistischen
Kontext ist die Morgenröte auf die letzte Station der Herstellung des Elixiers zu
beziehen, als Vorbote wird bei Johannes also wohl die diesem Verfahrensschritt
in der Regel vorausgehende Durchführung der multiplicatio verstanden. Da er
allerdings einen philosophisch gewendeten Text verfasst, bricht die Morgenröte
am philosophischen Himmel hervor.
Ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts versammeln sich viele Böhme-
Adepten, aber auch andere paracelsistisch und theosophisch inspirierte Intellek-
tuelle in Amsterdam, 57 wo der Vorbothe der am philosophischen Himmel hervorbre-
chenden Morgenröthe 1703 zum ersten Mal gedruckt wird. 58 Johannes de Monte
Raphaim dürfte einem vergleichbaren Kreis angehört haben. Nach dem Erst-
druck wird der Text im 18. Jahrhundert noch wiederholt nachgedruckt, 59 so von
Friedrich Roth-Scholtz 1728 in seinem Deutschen Theatrum Chemicum, aber auch
später noch. 60 Die Rezeption reicht noch bis in die Zeit der Aufklärung.
Johannes seinerseits führt eher beiläufig Nikolaus Flamel als alchemistischen
Adepten an, von dem er sich aber distanziert. 61 Daneben zitiert er aus dem Gul-
55 Emil Weller: Lexicon pseudonymorum. Nachdruck der zweiten Auflage Regensburg 1886.
Nachdruck Hildesheim 1963, S. 369, führt den Namen unter den Pseudonymen auf.
56 S. schon Hermann Kopp: Die Alchemie in älterer und neuerer Zeit. Ein Beitrag zur Kultur-
geschichte. Zweiter Theil: Die Alchemie vom letzten Viertel des 18. Jahrhunderts an. Hei-
delberg 1886, S. 389. Zu der von Gerhard Dorn – wohl fiktiv – dem Paracelsus zugeschrie-
benen Aurora s. Dorns Brief an Samuel Siderocrates, in: Der Frühparacelsismus. Zweiter
Teil. Hrsg. und erläutert von Wilhelm Kühlmann und Joachim Telle (Corpus Paracelsis-
ticum, Band II). Tübingen 2004, S. 906–910, mit der Erläuterung auf S. 911.
57 Ferdinand van Ingen: Böhme und Böhmisten in den Niederlanden. Bad Honnef 1984; Theo-
dor Harmsen: Jacob Böhmes Weg in die Welt. Zur Geschichte der Handschriftensammlung,
Hrsg. von Theodor Harmsen. Übersetzungen und Editionen von Abraham Willemsz van
Beyerland. Amsterdam 2007, S. 457–483.
58 In den einschlägigen Arbeiten und Namenlisten ist der Name nicht dingfest zu machen,
was – wenn es sich um ein Pseudonym handelt – nicht verwundert. Das gute Deutsch des
Vorbothen lässt auf einen Deutschen als Verfasser, die Nennung von Saltz / Scheffel und Mer-
cur (Johannes de Monte Raphaim: Vorbothe [Anm. 53], S. 46) auf einen Paracelsisten schlie-
ßen.
59 Zwei Drucke werden nachgewiesen bei Ferguson: Bibliotheca Chemica (Anm. 4), Band II,
S. 103f.; Kopp: Die Alchemie (Anm. 56), S. 389, nennt einen weiteren Druck.
60 Roth-Scholtz: Deutsches Theatrum chemicum (Anm. 44), Band 1, S. 597–637; später u.a. im
Hermetischen Museum. Reval, Leipzig 1782, S. 65–110.
61 Flamel setze sich von allen, die unedle Metalle als Ausgangsmaterial verwendeten, ab und
empfehle nur Gold selbst als Stoff, mit dem man arbeiten müsse (vgl. Johannes de Monte
Raphaim: Vorbothe [Anm. 53], S. 24). Dagegen favorisiert Johannes die Suche nach einem
Tinctur-Wesen ex Centro Macrocosmico (Johannes de Monte Raphaim: Vorbothe [Anm. 53]),
denen Kalb (Vitulus aureus) des Johannes Friedrich Helvetius (zuerst 1667), einer
besonders prominenten Transmutationserzählung. 62 Helvetius indes verstehe
selbst nicht, was er geschrieben habe. 63 Gewichtiger ist der Bezug auf Aegidius
Gutmanns Offenbarung göttlicher Majestat (1619, verfasst vielleicht um 1575). 64
Dies ist eine in zwei dicken Bänden weit ausgreifende physiko-theologische
Auslegung des Schöpfungsberichts aus dem ersten Buch Mose, die die Bestim-
mung der im Schöpfungsbericht genannten Größen mit der Elementenlehre
sowie mit ausgebreiteten Kenntnissen alchemistischer Verfahrensweisen und
chemischer Stoffe verschränkt. Auf charakteristische Weise werden dabei etwa
die Rolle von Wasser und Licht metaphorisch überdehnt. Wasser ist alles, was
flüssig ist, Licht wirkt als verborgenes Licht noch bis in Geist und Materie hin-
ein. 65
Johannes beruft sich auf Gutmanns Ansicht, daß das gemeine Gold voll Lichts
und Finsterns sey und man nur die Finsternis vom Licht scheiden müsse, d.h.
die unreinen Teile der Metalle aussondern müsse, damit das gantze Gold zu einem
rothen / Krystallischen geistlichen Crper werde. 66 Hiermit habe man dann Gold
aus seiner Art gebracht und zu einer Tinktur bereitet, die als Universaltinktur
alles, worauf sie angewendet werde, verwandele. 67 Gold erscheint dabei als ein
hypothetischer Stoff, der bis ins Unendliche verfeinerbar ist – es gibt bervoll-
kommnes Gold 68 –, das dann ungeahnte physikalische, aber auch medizinische
Wirkungen entfalten kann. Dazu muss aber eine Multiplikation eingetreten sein,
deren rechnerische Gestalt anzugeben Johannes sich bemüht. 69 Der durch den
Text laufende Grundgedanke einer ins Unendliche reichenden Perfektionierung
ist schon bei Geber angelegt, auch die Annahme einer im Innern der Erde vor-
findlichen Substanz, die den gewünschten Zustand schon erreicht hat. Will man
sie künstlich erzeugen, so muss man den Herstellungsprozess der Natur nach-
ahmen. Als Elementarprozess kann das Hervorgehen der Elemente auseinander
gelten. Dabei soll die Tinktur entstehen:
GOtt aber hat ein Ding geschaffen / welches auch in dem Golde ist / das
geringer geachtet wird als Gold / nemlich rothe Erde / und das ist die
Tinctur! Aber wie kommt man zu dieser tincturalischen Krafft-Erde?
Antwort: das Gold muß zu nicht Gold / das Leben getdtet / das Feur zu
Wasser / aus Wasser die Erde durchs Feur zur Lufft werden. 70
Johannes bedient hier die Sprache der Alchemie, die die Veränderbarkeit/Über-
gänglichkeit des über dem Feuer im Destillierkolben eingeschlossenen stoffli-
chen Substrats konventionell über die Bildung von Negationen und Oppositio-
nen wiedergibt sowie als durch die Zirkulation der Elemente – als Wechsel von
Aggregatzuständen desselben Substrats – zustandegekommen versteht.
Die Universaltinktur bildet den Kernprozess des Kosmos wie aber auch des
Geistes. Die Projektion auf den Geist kündigt schon die voranstehende Reim-
versansprache an die wahren Weißheits-Kinder an, die eine umfangreiche Samm-
lung von alchemistischen Topoi zum mit dem Mercurius identifizierten Stein
reiht, ihn aber auch als selbstreferentiellen Prozess des Geistes fasst:
Merckt / und verstehet recht / was hier wird angedeutet
Und daß man nur allein durch Gleichnß euch anleitet /
GOtt aber gibt den Geist zur Weisheit und Verstand
Dahin geht eur Gemth / dahin streckt eure Hand
Die Nahmen dieses Dings die sind nicht zu erzehlen
Habt ihr es dann erkannt so mgt ihr selbst erwehlen
Wie ihr es heissen wollt [...]. 71
Dies wiederholt sich sieben Mal. Die Reihen und Rotationen des Johannes
schreiten nicht in Siebenerpotenzen voran, sondern in Summanden, die jeweils
mit sich selbst addiert werden. Jede Siebenerreihe nennt er eine Rotation, die er
in eine geschweifte Klammer fasst:
24
48
96
192 Die erste große Rotation
384
768
1536
Es ist eine Seitenbeobachtung wert, wenn auch in Quirinus Kuhlmanns wenige
Jahre zuvor gleichfalls in Amsterdam (1684) erschienenem Kühlpsalter geschweif-
te Klammern verwendet werden, als Kuhlmann sein im Sinne seiner Privatmy-
thologie bedeutsames virmahlsibnes Jahr beschwört (V. 5760f.): 75
28 warwirdist
29 istwarwird
30 istwirdwar
31 wirdwarist
Jehovah waristwird ein ewig Libesfluguskus
33 warwirdist
34 istwarwird
35 istwirdwar
36 wirdistwar
Bei Kuhlmann geht es dabei um eine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
überbrückende heilsgeschichtliche Konstruktion, die er seinem Kühlpsalter ein-
schreibt. Es ist auffällig, wie hier numerologische Spekulation, sprachliche Kom-
binatorik und graphische Repräsentation ähnlich wie bei Johannes de Monte
Raphaim zusammenlaufen. 76 Es gibt einen gemeinsam geteilten intellektuellen
75 Quirinus Kuhlmann: Der Kühlpsalter. Hrsg. von Robert L. Beare. 2 Bde. Tübingen 1971,
Bd. 1, S. 198. Vgl. dazu Harald Haferland: Heilsbedeutung und spekulative Alchemie. Böh-
me-Rezeption bei Quirinus Kuhlmann. In: Offenbarung und Episteme. Zur europäischen
Wirkung Jakob Böhmes im 17. und 18. Jahrhundert. Hrsg. von Wilhelm Kühlmann und
Friedrich Vollhardt. Berlin, Boston 2012, S. 143–164.
76 Geschweifte Klammern dienen grundsätzlich als graphisches Mittel der Gruppierung.
Kuhlmann könnte durch ihren Gebrauch bei Lullus (vgl. dazu die Hinweise bei Erhard
Wolfram Platzeck: Raimund Lull. Sein Leben – Seine Werke – Die Grundlagen seines Den-
kens. 2 Bde. Düsseldorf 1962, Bd. 1, S. 128 u.ö.) angeregt worden sein. Vgl. auch Thomas
Leinkauf: Der Lullismus. In: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des
17. Jahrhunderts. Band 4. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Nord- und Ostmit-
teleuropa. Hrsg. von Helmut Holzhey und Wilhelm Schmidt-Biggemann. Basel 2001, S. 237–
290, hier S. 267f. (zu Kuhlmann).
77 Johannes de Monte Raphaim: Vorbothe (Anm. 53), S. 20f.
78 Johannes de Monte Raphaim: Vorbothe (Anm. 53), S. 21.
79 Johannes de Monte Raphaim: Vorbothe (Anm. 53), S. 27f.
80 Von vielen entsprechenden Reflexen – z.B. bei Jakob Böhme und Valentin Weigel – abgese-
hen, betreiben etwa Heinrich Khunrath (Vom hylealischen, Das ist, Pri-Materialischen Ca-
tholischen, oder Algemeinem Natürlichen Chaos [...]. Magdeburg 1597) und Georg von
Welling (Opus Mago-Cabbalisticum et Theosophicum [...]. Frankfurt, Leipzig 31784, Nach-
druck Stockholm 1971) eine großflächige Reinterpretation der Alchemie.
Es ist die Selbstbeschreibung des Ingeniums, die sich auf diese Weise be-
obachten lässt; die Tinktur erscheint als der offene und ins Unendliche laufende
Formulierungsprozess, der sich im Zuge ihrer Bestimmung einstellt:
36. Mercket hierbey: wann sich das Feuer nicht so mannigfaltig erwiese /
so wste man wenig oder gar nichts von der Tinctur / darum / so man-
cherley g ra d u s nun des Feurs gefunden werden / also mannigfaltig ist
auch die Tinctur / aber alles aus einem einigen / welches kein Mensch aus-
sprechen oder nennen kan; und wer es kennet und weiß / der kan es nie-
mand lehren; ja wann es gleich der Meister oft gemacht / lang bedacht
und durchgesucht / so findet er doch immerzu was neues darbey / dann
es fanget an ohne Ende / und endet sich ohne Anfang / darum kan nie-
mand dem Schler den Verstand geben / sondern selbiger [sc. der Ver-
stand] erzeiget sich nach der Gabe und Willen GOttes mancherley.
37. Denn so wir dieses t i n c t u ri sc h e Krafft-Wesen in seinem Grunde fas-
sen wollen / so ist es selbst das I n g e n i u m und F u n da m e n t ; i u di c i r e n
wir von ihm / so fllet es selbst das Urtheil; sinnen und dencken wir ihm
nach / so wird es zu lauter Sinnen und Gedancken; di s p u t i re n wir von
ihm / so ist es lauter Mund und Wort; Werden wir ungedultig / daß wir es
nicht haben knnen / wie wir es gerne wolten / so lachet es uns aus / denn
es vermag das oberste zu unterst zu kehren; Achten wir seiner gar nicht /
so machet es sich selbst / damit ihm der jenige keine Gewalt anthun kan /
der seiner nicht werth ist; die Proceß-La b ora n ten wollen es wieder allen
Danck regiren und in Proceß zwingen / und meinen sie seyn Herr darber
/ aber sie sind wahrhafftig die mhseligsten Tropfen unter dem gantzen
Himmel. 81
Der Gedanke an das Elixier ist das Elixier und es vervielfältigt sich ins Unendli-
che. Tritt aber der große Sabbat ein, so ist die Verfeinerung in immer kleinere
Teile/Bedeutungsdifferenzierungen über sieben Rotationen bis zu einer unvor-
stellbaren Zahl vorangeschritten. Freilich liegt ein Weltprozess darin, der von
den handwerklich arbeitenden Chemikern nur unvollkommen kontrolliert wer-
den kann.
Die multiplicatio wird von Johannes ad absurdum geführt. Der alchemistische
Prozess wird nicht nur auf den Menschen, 82 sondern auf den geistigen Prozess
überblendet, der mit diesem alchemistischen Prozess beschäftigt ist. Unfreiwillig
offenbart der Prozess dabei seine Selbstreferentialität. Er zerlegt sich bis ins Un-
endliche. 83
Als Philipp Nicolai im Jahre 1781 auf seiner Reise durch Deutschland und die
Schweiz auch ins weimarische Dornburg, ein Dorf an der Saale, gelangt, erfährt
er von einem großen Unternehmen, das von den Einwohnern vor Ort erst vor
zwölf Jahren in Angriff genommen worden war. Unter dem Nachbarberg, den
Geologen eindeutig als eine Ansammlung von Kalk und Lehmschichten identi-
fiziert hatten, war von einem bestellten Wünschelrutengänger eine Goldader
ausfindig gemacht worden. 1 Im Vertrauen auf die, so Nicolai, unbekannte Kraft
der Natur hatte man den Berg unter erheblichen Kosten und Mühen abtragen
lassen. Gefunden hatte man unter den Erdschichten: nichts. Warum gab es in der
heutigen Zeit, so Nicolai, noch immer Menschen, die lieber auf die sogenannten
Geheimen Wissenschaften vertrauten und die Erkenntnisse der ausgebildeten
Naturwissenschaftler in den Wind schlugen? Warum war die Wünschelrute so
viel leichter und bequemer als die Auseinandersetzung mit den Gesetzen der
Geologie? Der aufgeklärte Leser sollte es besser wissen, über die Einwohner
Dornburgs lachen und die Geheimwissenschaften fortan ignorieren. 2
Ein Blick in die Internetversion des Berliner Branchenbuchs offenbart uns,
dass die von Nicolai beschworene Aufklärung noch immer nicht so erfolgreich
war, wie es sich Nicolai vor 230 Jahren gewünscht hatte. Die dort angebotenen
Rutendienste der, wie es heute heißt, ‚Baubiologischen Gesundheitsberatung‘
erfreuen sich, wenn man der Kommentarfunktion glauben kann, sogar reger
Nachfrage. Eine nicht repräsentative Internetrecherche klärt außerdem darüber
auf, dass Wünschelruten seit jüngerer Zeit auch erfolgreich genutzt werden, um
den schädlichen Einfluss von Supermarkt-Barcodes auf die menschliche Aura
1 Ich danke den Alten Abteilungen der Universitätsbibliothek in Göttingen und in Greifswald
für ihre Hilfe bei der Erstellung dieser Studie, außerdem Marco Heiles (Hamburg) und Ni-
kolaus Staubach (Münster).
2 Philipp Nicolai: Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre
1781, nebst Bemerkungen über Industrie, Religion und Sitten (2 Bde.). Berlin 1788, Bd. 1, Ers-
tes Buch, II. Abschnitt, S. 47f.
weit verbreitet; 4 schon Paracelsus erwähnt sie kurz in seiner Philosophia occulta,
stand ihr aber noch skeptisch gegenüber. 5 In magischen Sammelhandschriften
taucht die magische Rute bereits im 15. Jahrhundert auf, wenn auch weitgehend
ohne theoretische Handreichungen. 6 Gewöhnlich verwendete man Haselnuss-
hölzer, mit einem gegabelten Ende, das der Träger in der Hand hielt. Die Rute
diente der Suche nach Metallen, Wasseradern, aber auch verlorenen Gegenstän-
den. Ihre Beschaffung und Verwendung begleiteten im Regelfall lokal divergie-
rende Gebete und Spruchformeln; auch der Zeitpunkt, an dem das Holz ge-
schnitten wurde, und sein Alter waren oft von großer Bedeutung. Das erste sys-
tematische Lehrbuch der Wünschelrutennutzung verdankte sich dem schwer
fassbaren Alchemisten Basilius Valentinus, 7 der in acht Kapiteln seines im Jahre
1600 zum ersten Mal veröffentlichten Testamentes beschreibt, wie man das In-
strument bei der Suche nach Metalladern zu handhaben hatte. 8 Großen Wert
hatte Valentinus darauf gelegt, dass bei verschiedenen Erzen unterschiedliche
Hölzer zur Anwendung gelangten. Die Haselstaude war auf Silber terminiert,
die Esche auf Kupfer, die Fichte auf Blei. Auch warum die Rute ausschlug, er-
klärt Valentin: Eine „magnetische Witterung“, eine attraktive Ausdünstung, die
aus dem Metall nach oben drang, versetzte das Schlagholz in Bewegung. 9
So schwammig Valentins Erklärung auch wirken mochte, so hatte der obsku-
re Alchemist doch einen entscheidenden Schritt zur Naturalisierung und Plausi-
bilierung der Wünschelrute getan und sie aus dem Reich des Volksglaubens
scheinbar ins Reich der Naturwissenschaft überführt. Die Rute aktivierte eine vis
venarum, eine Anziehungskraft, die sich als Variante der zahllosen weiteren
sympathetischen Kräfte der Naturordnung begreifen ließ. Auch wenn der deut-
sche Alchemist vielleicht nur einen Volksglauben paracelsisch überformt und in
semiakademische Chiffren gefasst hatte, konnte er viele Anhänger auf seiner
Seite wissen. Selten wurde die Hypothese dabei einer weiteren kritischen Reflek-
4 Friedrich Ohrt: s.v. Wünschelrute. In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Hrsg.
von Hanns Bachthold-Stäubli (10. Bde.). Berlin 1927–42. ND Berlin 1987, Bd. 9, Sp. 823–841.
5 Paracelsus: Liber de occulta philosophia. Auß einem uhralten Tractat wegen seiner einha-
benden Hochwichtigkeit von neuem hervorgebracht. s.l. 1686, c. 7, S. 49f.
6 Als Beispiel eine Rutenbeschreibung aus einer magischen Sammelhandschrift aus dem
schwäbischen Raum (Wien Nationalbibliothek Cod. 5327), abgedruckt bei Gerhard Eis: Alt-
deutsche Zaubersprüche. Berlin 1964, S. 148, dort gemeinsam überliefert mit anderen okkul-
ten Praktiken. Ich danke Marco Heiles für diesen Hinweis.
7 Bei Basilius Valentinus handelt es sich vermutlich um ein Pseudonym von Johann Thoelde,
vgl. Claus Priesner: Johann Thoelde und die Schriften des Basilius Valentinus. In: Die Al-
chemie in der europäischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte. Hg. V. Christoph Meckel.
Wiesbaden 1986, S. 107–118. Außerdem Joachim Telle: Basilius Valentinus. In: Killy Litera-
turlexikon. Berlin 2008, S. 348–350.
8 Basilius Valentinus: Geheime Bücher oder letztes Testament vom grossen Stein der Ur-alten
Weisen und andern verborgenen Geheimnissen der Natur. Straßburg 1645, dort Erstes Buch,
c. 22–28, S. 73–88.
9 Basilius Valentinus: Geheime Bücher (Anm. 7), z.B. Erstes Buch, c. 26, S. 82f.
tion unterzogen. Caspar Peucer erklärt die Wirksamkeit der virgula mercurialis,
wie man sie nannte, in seinen Libri de divinatione mit der Anziehungskraft des
Metalls, 10 ebenso auch Andreas Libavius in seinen Arcana. 11 Eine sympathia na-
turae war für die Reaktion des Holzes verantwortlich, ihre genaue Natur musste
dem Betrachter verschlossen bleiben. Mit Popularisatoren wie Georg Philipp
Harsdörffer, der in seinen Deliciae mathematicae auf die Rute eingeht, 12 wird die
Annahme, eine Korrespondenz von Metall und Holz sei für die erfolgreiche
Schatzsuche verantwortlich, zum Gemeinplatz. Ausdünstung, Sympathie und
Magnetismus werden im Folgenden fast ununterschieden verwendet. Veit Lud-
wig von Senckendorff empfiehlt den Gebrauch der auf Magnetismus beruhen-
den Rute in seinem Fürsten-Stat ausdrücklich. 13 Auch ein Gesteinskundler wie
Johann Becher, der mit seiner Physica subterranea ein Standardwerk der frühneu-
zeitlichen Geologie geschrieben hatte, referiert die Standardthese. Die Wün-
schelrute war von einer gravitas der Silber- und Goldminen, einer Ausdünstung
aus dem Erdinneren, einer metallischen exhalatio, angezogen worden. 14
Woraus aber sollte diese Anziehungskraft, die sich so leicht behaupten ließ,
bestehen? Was sollte sich hinter dem Schlagwort der Sympathie zwischen Erz
und Gehölz verbergen? Wie agierten beide Stoffe miteinander? War die Relation
beider so zwingend, dass die Gewalt des Teufels einfach ausgeschlossen werden
konnte? Es wundert vielleicht nicht, dass es gerade die Praktiker des Bergbaus
und die Mineralogen waren, die auf einer genaueren Überprüfung des Phäno-
mens beharrten. Die Grenze zwischen den Gegenständen der Dämonologie und
den natürlichen Ursachenketten ließ gerade für die Vertreter der neu entstehen-
den geologischen Disziplinen keine Unschärferelationen zu. Wo das Reich der
natürlichen Kausalität endete, musste das Imperium der causae secundae, der
Engel und Dämonen, oder die völlig kontingente Wirkdomäne des Schöpfers
beginnen.
Georg Agricola listet in seiner 1556 zum ersten Mal gedruckten Schrift De re
metallica, mit der das moderne Bergingenieurswesen seinen Anfang nimmt, eine
ganze Reihe von Instrumenten und Naturphänomenen auf, die dem Bergmann
auf der Suche nach Schürfgebieten hilfreich sein konnten. Am Ende des dritten
Buches kommt er auf das Werkzeug zu sprechen, das in dieser Zeit schon das
begehrte Hilfsmittel des Gold- und Silberfreundes, ja des Schatzhungrigen jeder
Art geworden war, der aus dem Haselholz gefertigten virgula. Auch Agricola
erklärt, wie die Rute zu schnitzen war und hat keinen Zweifel, dass dem Wün-
schelrutengänger Erfolge vergönnt waren. 15 Wie aber funktionierte sie? Viel-
leicht hatte die Rute ihre Vorbilder im Stab des Mose, der Wasser aus dem Fel-
sen geschlagen hatte, vielleicht war sie aber auch paganer Natur und hatte ihr
Urbild im Zweig, mit dessen Hilfe Aeneas den Weg ins Totenreich fand, oder im
Zauberstab der Circe, die die Gefährten des Odysseus in Schweine verwandelt
hatte. Die Freunde der Wünschelrute hatten behauptet, wie Agricola weiß, me-
tallische Ausdünstungen würden das Schlagholz aktivieren. Auch Bäume ließen
ihre Zweige hängen, wenn sie auf metallischem Boden ihre Wurzeln geschlagen
hatten. Zugleich funktionierte die Rute nicht in den Händen aller Menschen, wie
man zu wissen meinte, weil nicht jeder Träger über das richtige temperamentum
verfügte, um ihre magnetische Kraft weiterzureichen. Eine proprietas naturalis, so
der Jargon der Metalloskopen, hatte in diesem Fall den Einsatz der Rute blo-
ckiert. 16 Beide Argumente erscheinen Agricola nicht überzeugend. Wenn die
Rute aufgrund von Magnetismus tätig wurde, einer gewöhnlichen Naturkraft,
warum verweigerte sie manchen Benutzern dann ihre Wirkung? Wenn sie einer
magnetischen Attraktion unterlag, warum drehte sich dann nur ihre Vordersei-
te, während die hintere Hälfte keine Anstalten machte, sich zu neigen? Ein ge-
wöhnlicher Magnet müsste die Rute zur Gänze an sich heranholen. Auch die
Analogie mit den Zweigen ging für Agricola nicht auf. In vergleichbaren Fällen
hatte der metallische Boden die Bäume ausgetrocknet, und die waren schlicht
kraftlos geworden. Für Agricola liegt die Schlussfolgerung auf der Hand. Wenn
die Rute nur bei Erwählten tätig wurde, konnte sie keine natürliche Kraft bewe-
gen. Sie war also ein Werkzeug der Magie und schlug aus, weil ihre Träger sich
zuvor entsprechender Zaubersprüche und Formeln bedient hatten. 17 Sie war ein
Instrument des Teufels.
Der Freiberger Agricola, der die Metallurgie mitbegründet, doch zugleich
noch immer an Kobolde geglaubt hatte, 18 war im Ausschlussverfahren zu seiner
Entscheidung gelangt. Seine wissenschaftliche Expertise war enorm und Agrico-
las Position sollte in der Folgezeit von zahlreichen Autoren repetiert werden.
Dass sich Dämonen, mit denen man einen Pakt geschlossen hatte, für die Wün-
schelrute verantwortlich zeigten, proklamieren unter vielen anderen Ulysses Al-
15 Georg Agricola: De re metallica libri XII, quibus officia, instrumenta, machinae, ac omnia
denique ad metallicam spectantia describuntur. Basel 1667, Liber III, S. 26f.
16 Georg Agricola: De re metallica libri (Anm. 14), Liber III, S. 27.
17 Georg Agricola: De re metallica libri (Anm. 14), Liber III, S. 27f.
18 Zu den Kobolden vgl. z.B. Georg Agricola: De animantibus subterraneis liber (1549), in:
Georg Agricola: Ausgewählte Werke (7 Bde.). Berlin 1956–63, Bd. 6, Vermischte Schriften,
Liber II, c. 3, 3, S. 199f.
drovandi, der sich direkt auf Agricola beruft, 19 oder Anton Deusing. 20 Andere
deutsche Metallographen wie Caspar Schwenckfeldt oder Georg von Löhneyß
schließen sich ihrem mitteldeutschen Kollegen an. 21 Allein bei Satan war zum
Ende die Ursache für die Wirksamkeit der Rute zu suchen.
19 Ulysses Aldrovandi: Musaeum metallicum in libros III distributum. Bologna 1648, Liber I,
S. 20f.
20 Anton Deusing: Sympathetici pulveris examen: quo superstitiosa fraudibus Cacodaemonis
implicita vulnerum et ulcerum curatio in distans per rationis trutinam ad ipsas naturae leges
expenditur. Groningen 1662, S. 55–58.
21 Caspar Schwenckfeldt: Stirpium et fossilium Silesiae Catalogus in quo praeter etymon,
natales, natura et vires cum variis experimentis assignantur. Leipzig 1601, Liber I, S. 57;
Georg Engelhard von Löhneyß: Bericht vom Bergwerck: wie man dieselben bawen und in
guten wolstande bringen sol, sampt allen dazu gehörigen arbeiten, ordnung und rechtlichen
processen. s.l. 1618, Erster Theil, S. 14f.
22 Laurenz Forer: Viridarium philosophicum, hoc est disputationes aliquot de selectis quibus-
dam iocundioribus et utilioribus in philosophia materiis. Dillingen 1624, Disputationes de
magnete, Nr. 29, S. 273–276.
23 Bernardo Cesi: Mineralogia sive Naturalis Philosophiae thesauri. Lyon 1636, c. 7, Sectio 4,
S. 124–126.
farbliche Varianten, gelbe oder bläuliche Blätter oder berstende Zweige waren
Indizien, die auf verborgene Metallschichten einen Hinweis gegen konnten. Es
war denkbar, dass Pflanzen, die auf einer Silberader wuchsen, Eigenschaften
aufwiesen, die vom Silber hervorgerufen wurden. Doch durfte man daraus be-
reits schließen, dass Fichte und Blei, Esche und Kupfer oder Hasel und Silber in
direktem Bezug zueinander standen? 24 Kircher versucht zunächst, der Denkwei-
se der Wünschelrutengänger mit weiteren Argumenten entgegenzukommen.
Vielleicht war es sinnvoll, das Modell der Ausdünstung von der Idee des Mag-
netismus zu trennen. Der Dampf, der aus einer Wasser- oder Metallader nach
oben stieg, drang, so eine weitere mögliche Hypothese, in die Holzarten ein und
richtete sie auf die unter der Erdoberfläche verborgenen Substanzen aus. Ergeb-
nis wäre eine sympathetische Relation, die auch das zurechtgeschnittene Holz in
Gestalt der Wünschelrute mit einschließen konnte. Tatsächlich waren leicht
schimmernde Krokusse auf Schwefelgrundlage gesichtet worden oder Weinre-
ben, wie Kircher bemerkt, die als Folge von Quecksilber einen silbrigen Glanz
aufwiesen. Liefen nicht Alchemisten als Folge des ständigen Kontaktes Gefahr,
einen Flaum desselben Stoffes auf der Zunge zu tragen? 25
Kircher scheint im Jahre 1654 noch nicht recht überzeugt. Am Hofe des Kar-
dinals Palleotti, einem seiner vielen Förderer, kommt es zu einem seltsamen
Experiment, als dessen Ergebnis Kircher noch eine alternative Hypothese zur
Erklärung der Rute entwickelt. Aus Langeweile werfen die Vogelfänger des
Kardinals einige aus Haselholz geflochtene Nester eines Zaunkönigs ins Feuer.
Zur allgemeinen Erheiterung beginnt das Holz mit den noch lebenden Küken in
den Flammen zu rotieren. Im Angesicht der Tierquälerei hat Kircher eine Idee.
Könnte eine vergleichbare inwendige Wärme in den Fibern des Haselholzes
nicht auch die Bewegung der Wünschelrute verursachen? Drang die Wärme
vielleicht aus dem Boden durch die Hand des Rutengängers ins Haselholz? 26
Auch diese Erklärung erscheint für Kircher nicht ausreichend. Alle eigenen Ver-
suche, mit einer Wünschelrute Metalle aufzufinden, waren darüber hinaus ge-
scheitert, wie Kircher noch trocken bemerkt. 27 In einem späteren Werk, dem
Mundus subterraneus, geht der bayerische Jesuit noch einmal auf die Rute ein,
nun jedoch sichtlich desillusioniert. Von den Dämonen Agricolas möchte Kir-
cher noch immer nichts wissen. Jeder, der etwas von Magnetismus verstand,
musste sich darüber hinaus im Klaren sein, so Kircher, dass eine magnetische
Kraft, die selbst bei einem gewöhnlichen Stück Eisen mühsam ausbalanciert
werden musste, kaum in der Lage war, durch dicke Erdschichten auf ein Stück
Holz zu wirken. Auch Ausdünstungen waren niemals von einer solchen Intensi-
24 Athanasius Kircher: Magnes sive De arte magnetica opus tripartitum. Rom 1654, Liber III,
Pars V, c. 3, Consectarium, S. 500f.
25 Kircher: Magnes sive (Anm. 23), Liber III, Pars V, c. 3, Consectarium, S. 502f.
26 Kircher: Magnes sive (Anm. 23), Liber III, Pars V, c. 3, Consectarium, S. 503f.
27 Kircher: Magnes sive (Anm. 23), Liber III, Pars V, c. 3, Consectarium, S. 502.
tät, dass sie eine Rute in Bewegung versetzen konnten. 28 Doch es gab noch eine
weitere Option, der man bisher, wie Kircher schließt, zu wenig Beachtung ge-
schenkt hatte: den Rutengänger selbst. Die Rute arbeitete auf der Basis von Au-
tosuggestion. Der Träger des Holzes spekulierte auf eine Silberader, seine Ima-
gination ließ ihn den Druck spüren und die Rute setzte sich durch seine Muskel-
kraft in Bewegung. Das Ausschlagen des Holzes war ein Produkt der Adern und
Fingerspitzen des Halters, auch wenn dieser es sich selbst nie eingestehen wür-
de. 29
Kircher hatte also eine ganze Galerie möglicher Erklärungen der Rute gesich-
tet, ohne sie am Ende zur Gänze plausibel gemacht zu haben. Sein Meisterschü-
ler Caspar Schott nimmt den Faden in seiner Magia naturalis wieder auf, doch
erkennt man schnell, dass auch der Würzburger Jesuit seinem Freund in seiner
Ratlosigkeit wenig nachsteht. 30 Auch Schott studiert Agricola und lässt sich von
Experten mit der virgula mercurialis vertraut machen. Die Haselstaude hatte
ein Jahr alt zu sein und durfte nur zu bestimmten Zeiten geschnitten werden.
Beim Abtrennen hatte man das Messer vom Körper weg zu bewegen. Waren alle
Bedingungen erfüllt, waren die Schätze jedoch leicht zu finden, egal ob sie in der
Erde, im Garten, in Mauern oder Ställen verborgen waren. 31 Auch die befragten
Fachleute mussten zugeben, dass manche Rutengänger im Bund mit dem Teufel
standen. Zumindest bei den Schweden, die im Dreißigjährigen Krieg auf der
Suche nach Gold Deutschland durchzogen hatten, war dies sicher der Fall gewe-
sen. Doch galt dies für alle Rutengänger? 32 Bemerkenswert oft blieben die Su-
chen erfolglos, wie Schott feststellt. Bei einem namentlich nicht genannten Fürs-
ten war die Rotte der Metalloskopen noch vor kurzem in Erscheinung getreten,
um auf dem Hof vergrabene Reichtümer wieder zutage zu fördern, doch hatten
sie auch nach Stunden nichts gefunden. Ein anderer Fürst ließ die Ruten einseg-
nen, um vor dem Einfluss des Teufels sicher zu sein, doch auch diesen Ruten-
gängern war kein Erfolg vergönnt. Die Schätze, so die Replik der düpierten
Schatzsucher, waren von Dämonen einfach an einen anderen Ort versetzt wor-
den, doch war ein Irrtum ausgeschlossen. 33 Ein dritter Praxistext fiel noch un-
glücklicher aus. Ein erfahrener Rutengänger teilt Schott mit, das von ihm heran-
gezogene Instrument sei zur Gänze zuverlässig. Tatsächlich schlägt die Rute des
28 Athanasius Kircher: Mundus subterraneus in XII libros digestus (2 Bde.). Amsterdam 1678,
Bd. 2, Liber X, c. 7, S. 200af.
29 Kircher: Mundus subterraneus (Anm. 28), Bd. 2, Liber X, c. 7, S. 200b.
30 Eine wertvolle Synopse der Magia universalis gibt Dietrich Unverzagt: Philosophia, Historia,
Technica – Caspar Schotts Magia universalis. Diss. Berlin 2000, passim.
31 Caspar Schott: Magia universalis naturae et artis sive recondita naturalium et artificialium
rerum scientia cuius ope per variam applicationem activorum cum passivis admirandorum
effectuum spectacula, abditarumque miracula eruuntur: Opus quadripartitum (4 Bde.).
Frankfurt a.M. 1658–59, Pars IV, Liber IV, Syntagma IV, c. 1, S. 420–422, zu Agricola S. 426f.,
zu Kircher Annotatio I, S. 428f.
32 Schott: Magia universalis naturae (Anm. 30), Pars IV, Liber IV, Syntagma IV, c. 1, S. 423f.
33 Schott: Magia universalis naturae (Anm. 30), Pars IV, Liber IV, Syntagma IV, c. 1, S. 424f.
Mannes, den Schott ausdrücklich als Prahlhans bezeichnet, bei den sichtbaren
Silbermünzen aus, doch ignoriert sie den weitaus größeren Münzhaufen, den
Schott zuvor in dessen Nähe versteckt hatte. Die Wärme in der Hand konnte
kaum ausschlaggebend sein. Beruhte das Schlagholz, wie der letzte Fall naheleg-
te, auf Scharlatanerie oder Selbstbetrug? 34 Wenn eine vis naturalis des Metalls für
die Reaktion der Haselstaude verantwortlich war, warum musste die Rute dann
gabelförmig sein? Warum konnte sie keine Kreuzgestalt besitzen oder einfach
die Form eines Stabs? Schott holt sich noch ein weiteres Fachgutachten ein,
diesmal von seinem Ordensbruder Balthasar Conrad, der in Prag unterrichtete.
Conrad hatte selbst an seiner heimatlichen Akademie mehrere Rutengänge un-
ternommen, doch war das Organ in seinen Händen ebenfalls stumm geblieben.
Physische Erklärungen der Rute lehnt der Prager ab. Tatsächlich neigte sich kein
Haselzweig in Richtung einer Silberader, solange er noch am Baume hing. Un-
abhängig davon, welche Menge an Metall man der Rute präsentierte, die virgula
schlug immer mit der gleichen Intensität aus. Magnetismus oder Erdausdüns-
tungen konnten für dieses Phänomen also nicht verantwortlich sein. Conrad
immerhin hatte das Schlagholz im Anschluss in Böhmen verbieten wollen. War
es also doch der Teufel, der den Metalloskopen die Hand führte? 35
34 Schott: Magia universalis naturae (Anm. 30), Pars IV, Liber IV, Syntagma IV, c. 1, S. 425.
35 Schott: Magia universalis naturae (Anm. 30), Pars IV, Liber IV, Syntagma IV, c. 1, S. 425f.,
Annotatio II, S. 429f.
36 Allgemein zu Leben und Schriften Sperlings vgl. Bernd Roling: Philipp Melanchthon im
Streit um den Ursprung der Seelen im 17. Jahrhundert: Die Debatte zwischen Johannes
Sperling und Johannes Zeisold. In: Der Philosoph Melanchthon. Hrsg. von Günther Frank
und Felix Mundt. Berlin, New York 2012, S. 173–200.
37 Johannes Sperling: Disquisitio an Virgula mercurialis agat ex occulta qualitate? Ob die
Wünschel-Ruthe aus verborgener Kraft würcke? Wittenberg 1742 (zuerst Wittenberg 1658),
§ 14, S. 14f.
gende Zweig nicht von seiner Anziehungskraft verschont bleiben. 38 Die qualitas
occulta, eine der bekanntesten Krücken der Naturwissenschaft des 17. Jahrhun-
derts, konnte also, wie Sperling folgert, keine Hilfe bei der Erklärung der Rute
sein. Ihre Verteidiger hatten zudem beteuert, wie Sperling weiß, das tempera-
mentum des Halters könne die Wirkung vielleicht unterbinden. Wie aber sollte
der Säftehaushalt des Menschen auf die Rute, die ja zum Objekt der Erdkräfte
werden musste, übertragen werden können? 39 Für Sperling liegt die letzte Ant-
wort auf der Hand. Agricola hatte recht, die Rute fiel in den Geltungsbereich der
Dämonologie. 40
Auch ein anderer Physiker, Theodor Kirchmaier aus der Gelehrtendynastie
der Kirchmaiers zu Wittenberg, nimmt sich im Jahre 1669 der Wünschelrute an.
Wie seine Kollegen liest der sächsische Gelehrte nicht nur die einschlägigen
Traktate, sondern holt bei fachkundigen Bergmeistern vor Ort in Freiberg weite-
ren Rat ein. Man versichert ihm, dass die Ruten nicht auch verborgene Hand-
schuhe, Kerzen oder Schreibgeräte finden konnten; zugleich erhält Kirchmaier
konkrete Anweisungen, wie er die Rute zu handhaben hatte, zu welcher Nacht-
zeit sie zu schneiden war und welche Sätze man während dieses Vorgangs zu
deklamieren hatte. 41 Auch Kirchmaier beschließt, alle denkbaren Ursachen für
die Schlagkraft des Haselholzes zu durchlaufen, und vor allem der postulierten
vis venarum, der Anziehungskraft der Metalladern, auf den Grund zu gehen.
Konnte die Rute durch eine inwendige Wärme von Seiten des Trägers und des
Erdbodens aktiviert werden? Kirchers rotierende Vogelnester waren kaum aus-
sagekräftig, wie Kirchmaier versichert. Dass Erdwärme zudem aus dem Boden
in den Körper des Rutengängers und von dort ins Holz der Rute gelangen konn-
te, war als Hypothese kaum glaubhaft. 42 War es bloßer Zufall, dass die Rute
ausschlug, verstärkt vielleicht durch die Einbildung des Rutengängers, der seine
Hand bei einer groben Ahnung bewegte? Für diese Option konnten, wie Kirch-
maier konzediert, die Schatzsucher mit ihrem Instrument entschieden zu viele
Erfolge verbuchen. 43 War also die von den Adern ausgehende Anziehungskraft
verantwortlich? Auch diese Antwort erscheint dem Wittenberger Gelehrten
nicht tragfähig. Sollte es die gleiche magnetische Kraft sein, die auch Handschu-
he oder Einrichtungsgegenstände wieder ans Licht brachte? Sollte sie durch
dicke Erdschichten hindurch wirksam sein und gleichzeitig auch auf winzige
Münzen noch immer reagieren können? 44 Auch die okkulte Qualität kam für
Kirchmaier wie schon für Sperling nicht in Frage. Artefakte wie die berühmten
Handschuhe, von denen die Wünschelrutenfreunde gesprochen hatten, durften
von ihr nicht betroffen sein. Eine qualitas occulta musste darüber hinaus die gan-
ze Rute angreifen und nicht nur die Spitze, die in der Hand des Trägers aus-
schlug. Zu guter Letzt war das Holz der Rute tot und ihre forma konnte keinerlei
Wirkung mehr entfalten. 45 Auch für Kirchmaier blieb nach Ausschluss aller an-
deren Möglichkeiten nur eine Erklärung zurück, die Magie, die Inkantation
eines Dämons und der Teufelspakt, der den Träger der Rute in die Lage versetz-
te, mit ihrer Hilfe die Silberader wahrzunehmen. Der Teufelsbund musste nicht
explizit geschlossen worden sein, doch offenbarte er sich, wie Kirchmaier unter-
streicht, in seinen Auswirkungen, dem vom Teufel vermittelten Wissen. Nur zu
oft verkleidete sich der Engel des Finsternis als Engel des Lichtes und war die
Straße vom einfachen Aberglauben zur Idolatrie breit gepflastert. Auch die
scheinbar harmlosen Instrumente konnten dem ewigen Widersacher behilflich
sein, den Menschen zu verderben. 46
Es scheint, als wären die Wünschelrutengänger von der gottesfürchtigen Na-
turwissenschaft, die keine Grauzonen zulassen wollte, ins Reich der Finsternis
verbannt worden. Tatsächlich aber hatte sich die Rute, getragen von der Eupho-
rie zahlreicher frühkapitalistischer Glücksritter, zu sehr etabliert, um sich vom
Verdikt des Schwarzpriestertums dauerhaft belasten zu lassen. Noch immer
stand die offenkundige Praktikabilität der Rute daher im Raum. Es war so sicher
kein Zufall, dass die Karten in den letzten Dekaden des 17. Jahrhunderts noch
einmal neu gemischt wurden und die Dämonologen den Rückzug antreten
mussten. Teile der akademischen Wissenschaft waren geneigt, dem Volksglau-
ben und der mit ihr verbundenen Erfahrungswirklichkeit eine Legitimation zu
liefern.
Matthes Wille, ein Paracelsist aus Sulza in Thüringen, veröffentlicht im Jahre
1671 einen der wirksamsten Traktate zur Wünschelrute, der sich im Ton ganz
wie eine Werbeschrift geben kann, die Vera virgulae relatio. Ausdrücklich wendet
sich Wille gegen die, wie er sagt, akademischen Disputationen seiner Zeit, die
den Metalloskopen zum Nigromanten degradieren wollten. Gott selbst hatte
Edelmetalle, Erze und Schätze im Erdinneren verborgen, um dem Menschen zu
nutzen; er hatte ihnen auch die Instrumente in die Hand gegeben, um sie der
Erde zu entreißen. 47 Die Rute war ein Naturobjekt, dessen Kraft in der Schöp-
fung selbst angelegt war. Mehr rhetorisch distanziert sich Wille von den super-
stitiösen Praktiken, den festen Schnittzeiten und begleitenden Gebeten, die den
okkulten Charakter der Rute nahelegten. 48 Der Schatzsucher bedurfte dieser
Begleitumstände nicht. Das sympathetische System, auf dem die Wirkmacht des
Schlagholzes beruhte, war von extremer Komplexität, und verband mehrere
Ebenen, den Einfluss der Planeten und ihre Konstellationen, der richtigen Höl-
zer, die unter dem Influxus der betreffenden Gestirne standen, und die Metalle,
die wiederum in Relation zu den Pflanzen und Planeten auszuwählen waren. 49
Nur wer diese subtilen Gesetze beachtete und zudem in der Synkrasie der Ele-
mente seines eigenen Leibes die ideale Kombination besaß, konnte mit der Rute
erfolgreich sein. Es war so kein Wunder, wie Wille vermerkt, dass nicht alle
Menschen als Metalloskopen in Frage kamen. 50
Auch Wille hatte über das Gesetz der Sympathie hinaus keine wirkliche phy-
sikalische Erklärung für das Ausschlagen der Rute geben können. Johann Chris-
tian Frommann, ein Physiker aus Coburg, hatte seinen Traktat über die virgula
gründlich studiert. Auch in seinem monumentalen Traktat über die Sympathie,
De fascinatione, der auch auf die Wünschelrute eingeht, distanziert er sich
im Jahre 1675 mit Nachdruck von den dämonologischen Ansätzen seiner uni-
versitären Kollegen. 51 Die begleitenden Rituale konnten in keinem Bezug zur
erfolgreichen Arbeit der Rute stehen. Nur weil noch kein Gelehrter das unmit-
telbare Ursachengeflecht im Detail freigelegt hatte, besaß die Wissenschaft nicht
das Recht, die Gewalten der Unterwelt ins Spiel zu bringen. 52 Dass ein Gegen-
stand sich in seiner Wirksamkeit der sinnlichen Erfahrung verweigerte, musste
nicht gleichbedeutend sein mit seiner diabolischen Natur; die Erkenntnis schritt
weiter voran und konnte neue Ursachen zutage fördern. Ort, Zeit und die kon-
krete Anwendung der Rute und eine Fülle von komplementären Rahmenbedin-
gungen mussten möglichweise mit berücksichtigt werden, bis das völlige, alle
Ursachen mit einschließende sympathetische Geflecht von Rute und Metall sich
erkennen ließ. 53 Niemand konnte derzeit wissen, ob bestimmte Eigenschaften
des Schlagholzes akzidenteller Natur waren oder vielleicht doch notwendig.
Auch dass die Rute von Magiern verwendet wurde, deklassierte sie nicht, eben-
48 Wille: Vera Virgulae mercurialis relatio (Anm. 46), Prooemium, fol. A4r, c. 2, fol. B2vf.
49 Wille: Vera Virgulae mercurialis relatio (Anm. 46), c. 3–6, fol. B3r–D3v. Hauptquelle der
sympathetischen Symmetrie war für Wille August Etzler: Isagoge physico-magico-medica.
Straßburg 1631 (zuerst 1610), dort zur Haselstaude als herba mercurialis S. 133–135.
50 Wille: Vera Virgulae mercurialis relatio (Anm. 46), c. 7, fol. D3v–E2v. Zu den Paradoxien des
Willeschen Traktates gehört, dass er nicht nur mit Basilius Valentinus, sondern auch mit
agronomischen und metallurgischen Autoritäten aufwarten konnte, darunter Erasmus
Reinhold: Gründtlicher Bericht vom Feldmessen. Frankfurt a.M. 1615, oder Lazarus Ercker:
Beschreibung der allerfurnemisten mineralischen Ertz- unnd Bergkwercksarten. Frankfurt
a.M. 1580, die seinen Gegenstand gar nicht enthielten.
51 Christian Frommann: Tractatus de fascinatione novus et singularis. Nürnberg 1675, Liber III,
Pars V, c. 4, §§ 1–2, S. 688–690.
52 Frommann: Tractatus (Anm. 50), Liber III, Pars V, c. 4, §§ 3–4, S. 690f.
53 Frommann: Tractatus (Anm. 50), Liber III, Pars V, c. 4, §§ 5–6, S. 691f.
so wenig wie Feuer oder Wasser ihre gottgeschaffene Natur verloren, wenn sie
bei einem okkulten Ritus mit herangezogen wurden. 54
Meilen zu Wasser, wie es hieß, zu verfolgen und sie schließlich in einem Gast-
haus im Süden verhaften zu lassen. 57 War hier nicht die Grenze des Sinnvollen
endgültig überschritten worden? In den ersten akademischen Repliken auf den
Fall hatte man den Teufel am Werk gesehen. 58 Weder der Rückbezug auf vage
qualitates occultae, noch die einfache Behauptung, Ausdünstungen, vapores, wä-
ren für die exorbitante Reichweite der Rute verantwortlich, konnten in ver-
gleichbaren Fällen jedoch helfen, den Erfolg der Rute zu rekonstruieren, wie
Lorrain de Vallemont deutlich macht, geschweige denn Dämonen, die an der
Dingfestmachung eines Mörders wohl kaum ein Interesse haben konnten. Fein-
stoffliche Atome, die ständig abgesondert wurden und auf ihre Umwelt einwirk-
ten, umgaben jedes materielle Objekt, wie Gassendi, und, so Vallemont, auch
Descartes gelehrt hatten. Ihr Fluidum erklärte den Aktivitätsradius eines jeden
Gegenstandes, seine sphaera activitatis. 59 Freischwebende Atome drangen in an-
dere Objekte ein, kollidierten in ihren Poren mit anderen Atomen und versetzten
den anderen Gegenstand in Bewegung. Die Relation von Rute, Wasserquelle,
Metallader, aber auch Handschuh und Mörder ließ sich auf dieser Ebene hinrei-
chend erklären, wie Vallemont mit Nachdruck betont. Es war ein rein mechani-
scher Vorgang, der sich zwar der sinnlichen Wahrnehmung verweigerte, doch
keine causae secundae in Anspruch nehmen musste. Schon auf der Ebene der
Intuition, der groben Ahnung eines Gegenstandes, war die feinstoffliche Wir-
kung auf den menschlichen Tastsinn als vages und unbestimmbares Gefühl
durchaus spürbar. Auch Jagdhunde brachten ihre Beute durch eine atomistische
Affektion ihrer Sinnesorgane zur Strecke; Robert Boyle hatte gezeigt, dass der
bloße Geruch bestimmter Pflanzen auf der Ebene der transportierten Atome
bereits eine purgierende Wirkung haben konnte. Der weitere technische Fort-
schritt, der auch die Kleinstlebewesen Leuwenhoecks ans Licht gebracht hatte,
würde daher, wie Vallemont betont, auch die Wechselwirkung der Atome zur
57 Im Unterschied zur mitteldeutschen Debatte hat die französische Diskussion der Wünschel-
rute inzwischen erhebliche Aufmerksamkeit erhalten. Ausführlich zum Kasus Aymars und
seiner Aufarbeitung durch Vallemont vgl. Michael R. Lynn: Diving the Enlightenment. Pub-
lic Opinion and Popular Science in Old Regime France. In: Isis 92 (2001), S. 34–54, und Koen
Vermeir: The Physical Prophet and the Powers of Imagination II: a case study on dowsing
and the naturalisation of the moral (1685–1710). In: Studies in the History and Philosophy of
Science 36 (2005), S. 1–24. Die niederländische Reaktion auf Aymar und Vallemont und die
Einlassungen Bayles rekonstruiert Koen Vermeir: Circulation Knowledge or Superstition?
The Dutch Debate on Divination. In: Silent Messengers. The Circulation of Material Objects
of Knowledge in the Early Modern Low Countries. Hrsg. von Sven Dupré und Christoph
Lüthy. Berlin 2011, S. 293–328.
58 Johann Joachim Zentgraf, Johannes Georg Le Conte (resp.): Ex legibus Ebraeorum forensi-
bus contra magiam de divinationibus magicis eaque occasione de virgula divina et divina-
tione nupera Jacopo Aymari. Straßburg 1694, Corrollarium, § 18–28, S. 22–28.
59 Lorrain de Vallemont: La physique occulte (Anm. 55), c. 3, S. 40–70, deutsch Lorrain de
Vallemont: Der heimliche und unerforschliche Natur-Kündiger (Anm. 55), c. 3, S. 49–72.
stoffliche Schweiß des Verbrechens, war von Aymar als impression aufgenom-
men worden, so Vallemont, und hatte das Schlagholz auf den Gesuchten ausge-
richtet. Die atomare Spur war stark genug gewesen, um die Täter durch halb
Frankreich zu verfolgen. 66 Auch hier hatte es Jesuiten wie Francesco de Lana
Terzi gegeben, die in ihrer Theorie der Transpiration bereits das Fundament
gelegt hatten. 67
Lorrain de Vallemonts Ansatz war gleichsam selbsterklärend, zugleich bot er
die Option auf die finale Aufklärung des Rutenphänomens, die sicher nur weni-
ge Jahre auf sich warten ließ. Es kam wie erwartet: Die Wünschelrutengänger
affirmierten die atomistischen Erklärungen Vallemonts mit Begeisterung, fanden
sie hier doch die akademische Dignifizierung ihrer eigenen Tätigkeit; die Gegner
konnte dieses Modell, das sich in den Autoritäten der Gegenwartsphysik sonnte,
nicht von der Ernsthaftigkeit des Schlagholzes überzeugen. Einen seiner vielen
Anhänger fand Vallemont im Schweden Johann Hermansson, der auf die skan-
dinavische Erfolgsgeschichte der Wünschelrute, der slagruta, in einer eigenen
akademischen Disputation in Uppsala antwortete. Keine drei Jahrzehnte nach
den deutschen Arbeiten geht auch Hermansson in seiner Abhandlung nach dem
Ausschlussverfahren vor; doch kommt er zu einem diametral anderen Ergebnis.
Das Schlagen der Rute war nicht diabolischer in seiner Natur als das Gerinnen
von Butter. 68 Eine atomare Exhalation, das Hervorquellen der Partikel in Gestalt
einer effluvia atomorum, stellte den Kontakt zwischen Rute und Metall her. Es
waren die gleichen Atome, die auch die Phänomene der Faszination erklärten,
die Tatsache, dass menstruierende Frauen den Gärungsprozess von Bier unter-
brechen konnten, und die im Kern auch alle Erscheinungen des Magnetismus
plausibel machten. 69 Auch dass nicht jeder Mensch als Medium der Rute qualifi-
ziert war, das Hauptargument der Dämonologen, ließ sich leicht durch den
Atomismus entkräften. Blut, Muskeln und Körperwärme hatten eine feinstoffli-
che und fast individuierende Entsprechung, nicht in alle Poren drangen die
atomaren Bestandteile des Metalls und waren in der Lage, eine Reaktion hervor-
zurufen. 70 Kein Teufelspakt war vonnöten, wie Hermansson noch einmal be-
tont. 71
66 Lorrain de Vallemont: La physique occulte (Anm. 55), c. 8–9, S. 155–229, deutsch Lorrain de
Vallemont: Der heimliche und unerforschliche Natur-Kündiger (Anm. 55), c. 8–9, S. 159–235.
67 Francesco de Lana Terzi: Magisterium Naturae et Artis opus physico-mathematicum (3
Bde.). Brixen 1684–92, Bd. 2, Tractatus IV, Liber II, c. 1–3, S. 54–87.
68 Johann Hermansson, Johannes Maehlin (resp.): Specimen cogitationum de virgula divinato-
ria. Uppsala 1718, c. 2, §§ 1–2, S. 10–12.
69 Hermansson, Maehlin: Specimen cogitationum (Anm. 67), c. 2, §§ 3–9, S. 12–24.
70 Hermansson, Maehlin: Specimen cogitationum (Anm. 67), c. 3, §§ 1–4, S. 24–35.
71 Hermansson, Maehlin: Specimen cogitationum (Anm. 67), c. 3, §§ 6–7, S. 37–39.
nen Mundgeruch aus der Kneipe zu ziehen. 75 Wenn Atome auf Atome eine so
subtile Wirkung ausüben konnten, mussten sie sich überall mit ähnlicher Inten-
sität artikulieren. Die ersten sogenannten Versuche Zeidlers mit der Wünschel-
rute lassen den Rutengänger daher auch mit wild rotierender und um sich
schlagender Rute über die Felder ziehen; auch Salatköpfe werden zerhämmert
und sein vierjähriger Sohn erhält unfreiwillig eine gediegene Tracht Prügel,
denn die feinstofflichen Membranen der Rute mussten Allerortens auf Elemen-
tarteilchen treffen, die sie in Bewegung hielten. 76 Später gelingt es Zeidler, wie er
berichtet, das System zu perfektionieren. Er findet einen Schatz mit Hilfe von
Stricknadeln, 77 baut Ruten aus Scheren und Knackwürsten, 78 lernt, wie die Rute
bei richtigen Syllogismen ausschlägt oder offenbart, 79 ob der Hamster unter der
Erde allein wohnt oder mit seinem Weibchen. 80 Schließlich glückt es Zeidler
auch, den Brudermord Kains anhand seiner Atomspur durch die Weltgeschichte
zu verfolgen. 81
Wie bei allen Witzen über 600 Seiten stellt sich beim Leser eine gewisse Er-
müdung ein, doch hatte Zeidler deutlich gezeigt, zu welch’ paradoxen Schluss-
folgerungen das Atommodell Vallemonts in seinen Anwendungen im Detail
führen musste, wenn man seine theoretischen Voraussetzungen akzeptieren
wollte. 82 Auch Zeidler fand zwar noch einmal einen Gegner, Johann Michael
Weise, der Zeidlers Ironisierung der Rute nicht goutieren konnte, sondern sich,
wiederum auf insgesamt 700 Seiten in seinem Entdeckten Idolum der Wünschelrute,
noch einmal für den dämonischen Charakter der Rute stark machte. 83 Weise, der
seine Schriften schon unter dem Pseudonym Theophilus veröffentlichte, sollte
einer der letzten gewesen sein, der dieser Meinung anhing, und musste sich in
75 Johann Gottfried Zeidler: Pantomysterivm, oder Das Neue vom Jahre in der Wündschel-
ruthe, als einem allgemeinen Werckzeuge menschlicher verborgenen Wissenschafft, darin-
nen ihre Natur und Ursach ihrer Bewegung, auch weitläufftiger Gebrauch und Nutz aus des
Autoris eigener Erfahrung, und Physicalischen Grundlehren philosophisch ausgeführet,
und der gelehrten Welt zu weitern Nachsinnen übergeben wird. Halle a.S. 1700, Erstes
Hauptstück, c. 1, S. 9f.
76 Zeidler: Pantomysterivm (Anm. 74), Erstes Hauptstück, c. 1, S. 28–30.
77 Zeidler: Pantomysterivm (Anm. 74), Viertes Hauptstück, c. 1, S. 119f.
78 Zeidler: Pantomysterivm (Anm. 74), Zweites Hauptstück, c. 2, S. 44.
79 Zeidler: Pantomysterivm (Anm. 74), Viertes Hauptstück, c. 4, S. 142f.
80 Zeidler: Pantomysterivm (Anm. 74), Erstes Hauptstück, c. 1, S. 34.
81 Zeidler: Pantomysterivm (Anm. 74), Viertes Hauptstück, c. 3, S. 136f.
82 Dass Zeidlers Traktat auch heute nicht mehr gründlich gelesen wird, zeigt z.B. die Arbeit
von Heide Klinkhammer: Schatzgräber, Weisheitssucher und Dämonenbeschwörer: Die mo-
tivische und thematische Rezeption des Topos der Schatzsucher in der Kunst vom 15. bis
zum 18. Jahrhundert. Berlin 1993, S. 120f., die das Werk für eine ‚Verteidigungsschrift‘ der
Wünschelrute hält.
83 Johann Michael Weise (Theophilus Albinus): Das entlarvte Idolum der Wünschelruthe, oder
gründliche Untersuchung, was bishero historice mit derselben passiert, ob sie physice in der
Natur gegründet und wiefern moraliter zu operiren sey. Dresden 1704, dort bes. Sectio III, c.
2, q. 8–10, S. 535–585.
der Debatte um die Rute schon fast als Anachronismus begreifen lassen. Ein
ähnlicher Streit um die dämonische Natur der Rute wurde im Anschluss an
Weise noch 1734 in Wittenberg ausgetragen. 84 Eine dritte Gruppe von Autoren
rang sich in der Mitte des 18. Jahrhunderts schließlich endgültig dazu durch, das
Schlagholz und seine sympathetische Funktion zur Gänze als Schwachsinn ab-
zutun. Als der Geologe Johann Gottlob Krüger im Jahre 1746 abermals einen
Selbstversuch mit der Wünschelrute unternimmt, kommt er zu einem ernüch-
ternden Ergebnis: Der Träger drückte die Rute zusammen, doch nach einem
gewissen Zeitraum waren seine Muskeln fast zwangsläufig genötigt, den Druck
zu lockern, und die Rute schlug aus. Ihre Bewegungen waren ein Produkt des
Zufalls. 85 Auch der Verfasser eines anonymen Traktates aus dem Jahre 1757 teilt
die Argumente Krügers. 86
Es ist kein Geheimnis, dass die Kette der Verwissenschaftlichungen, die für
die Wünschelrute unternommen wurden, auch in der Mitte des 18. Jahrhunderts
nicht abbrechen sollte. 1764 macht der schwedische Chemiker Johann Wallerius,
kein Unbekannter seines Fachs, den Vorschlag, den Faktor der Elektrizität in die
Beurteilung der Rute mit einzuschließen. Vielleicht arbeitete das Schlagholz
aufgrund von unterirdischen Stromstößen oder Energiefeldern, deren Reichwei-
te erst noch erforscht werden musste. 87 Dennoch war mit der Mitte des 18. Jahr-
hunderts der Teufel und die verbotene Magie endgültig aus dem Hypothesen-
kanon der Wünschelrutenfreunde und -gegner verschwunden, und, wie sich
vielleicht zum Ende als Ergebnis festhalten lässt, mit ihr, wie die Rute sympto-
matisch zeigen kann, auch die Diskursfähigkeit der Magie als ganzer innerhalb
der akademischen Debatten. Anders als noch fünfzig Jahre vorher, bedurfte es
des Teufels nicht mehr, um Aberglauben, Dummheit und Wissenschaft vonei-
nander zu trennen.
84 Gegen die Rute wandte sich Johann Friedrich Wernher, Friedrich Florens Rivinus (resp.):
Dissertatio inauguralis de finibus per virgulam mercurialem non investigandis. Von Aufsu-
chung der Grenzen durch Wünschel-Ruthen. Wittenberg 1734, dort z.B. §§ 26–31, S. 31–36.
Noch einmal geht Wernher mit einem neuen Respondenten auf die Angelegenheit ein,
nachdem der Rechtsgelehrte Johann Christoph Meinig Zweifel an seinem Urteil geäußert
hatte, dazu Johann Friedrich Wernher, Johannes Hiob Thilemann (resp.): Vindiciae disserta-
tionis de finibus per virgulam mercurialem non investigandis. Wittenberg 1734, dort §§ 6–
20, S. 6–27, mit unveränderter Haltung.
85 Johann Gottlob Krüger: Geschichte der Erde in den allerältesten Zeiten. Halle a.S. 1746, § 55,
S. 99–102.
86 Gedanken über das Schlagen der Wünschelruthe auf die in der Erde verborgenen Erze und
Metalle, aufgesetzet von einem Liebhaber der Bergwerkswissenschaften. Eisenach 1757, dort
bes. S. 13–18.
87 Johann Gottschalk Wallerius, Petrus Adolph Ahlbom (resp.): Dissertatio gradualis de virgu-
la divinatoria. Stockholm 1764, § 6, S. 7f.
Ms. Egerton: Pictorial Illustrations of the Book of Genesis XIV. Century, 1894, fol.5r (letztes
Drittel 14. Jh.), URL: http://www.bl.uk/manuscripts/Viewer.aspx?ref=egerton_ms_1894_f005r
(22.10.2014).
Lambert von Saint-Omer: Liber floridus, Cod. Guelf. 1 Gud. lat., fol. 69v-70r (ca. 1180); Wolfen-
büttel Katalog-Nr. 4305), URL: 69v: http://diglib.hab.de/mss/1-gud-lat/start.htm?image=00144;
70r: http://diglib.hab.de/mss/1-gud-lat/start.htm?image=00145 (22.10.2014).
Schedelsche Weltchronik, Nürnberg 1493, xiiiiv: Hartmann Schedel, Michael Wolgemut und
Wilhelm Pleydenwurff: Liber chronicarum, Nürnberg, 1493.07.12, xiiiiv, URL:
http://daten.digitale-sammlungen.de/~db/0003/bsb00034024/image_99 (22.10.2014).
Splendor Solis, Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. germ. fol. 42. Abbildung f. 9r, der „Sumpfmensch“.
Splendor Solis, Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. germ. fol. 42. Abbildung f. 25r, die ‚schwarze
Sonne‘.