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Das Lebensalter der Dichter

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
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Titel: Das Lebensalter der Dichter
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aus: Die Gartenlaube, Heft 44, S. 787
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[787] Das Lebensalter der Dichter. Sehr ungleich ist die Lebenszeit, welche den Lieblingen der Musen auf Erden zugemessen ist. Einige erreichten ein hohes Alter, ohne daß ihr geistiges Leben dadurch verkümmert worden wäre. Altmeister Goethe, der in seinem dreiundachtzigsten Lebensjahre starb, blieb bis zu seinem Tode in regem Verkehre mit den Zeitgenossen und den Zeitbestrebungen. Ungefähr das gleiche Alter erreichte der größte französische Dichter der Neuzeit, Viktor Hugo, der ebenfalls noch in hohen Jahren mit jugendlichem Eifer seine oft kühnen, oft seltsamen Ideen verfocht. Von den griechischen Trauerspieldichtern erreichte Sophokles mit ungetrübter Schöpfungskraft das einundneunzigste Lebensjahr; Euripides wurde 79 Jahre, Aeschylos 69 Jahre alt. Auch Dichter, welche der neuen deutschen Litteraturepoche angehören, erreichten ein höheres Alter, so namentlich die poetischen Weisen aus dem Orient, deren Muse ruhiger Lebensbetrachtung gewidmet war: Friedrich Rückert, der Dichter der „Weisheit des Brahmanen“, und Leopold Schefer, der Verfasser des „Laienbreviers“. Beide wurden 78 Jahre alt, während Ludwig Uhland ein Alter von 75 erreichte. Die großen Dramatiker Schiller und Shakespeare starben im besten Mannesalter, der Erstere schon mit 46 Jahren, der Zweite mit 52 Jahren.

Doch eine große Zahl von Dichtern wurde dahingerafft in der Blüthe ihrer Jugend oder in den kräftigsten Lebensjahren – und nur selten war es die feindliche Kugel, die ihnen den Tod brachte, wie bei Theodor Körner, der im 23. Lebensjahre für das Vaterland starb: Krankheit oder innere Verwüstung waren bei vielen Poeten die Ursache frühen Todes. Novalis, der Romantiker der blauen Blume, ward 29 Jahre, Ernst Schulze, der Sänger der preisgekrönten „bezauberten Rose“, 28 Jahre, Wilhelm Müller, der Dichter der Griechenlieder, 33 Jahre, Wilhelm Hauff, der geistreiche Novellist, nur 26 Jahre, Paul Fleming, der beste Liedersänger der ersten schlesischen Schule, 31 Jahre, der Elegiker Hölty 28 Jahre alt. Der größte neue Dichter Englands, Lord Byron, starb mit 36 Jahren, der größte des neueren Italiens, Leopardi, mit 39 Jahren. Sehr jung starben auch viele römische Dichter: Catull mit 30 Jahren, Tibull und Properz mit ungefähr 35 Jahren, der Lustspieldichter Terenz mit 26 Jahren, der Satiriker Persius mit 28 Jahren. So war vielen hochbegabten Geistern nur ein kurzes Leben beschieden, und die Welt wurde um zahlreiche Früchte schöner Talente gebracht. Manchem gereichte indeß auch ein früher Tod zum Heil, denn er hätte sonst seinen Ruhm überlebt. †