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Die Saat des Kadmos - Staat, Demokratie und Kapitalismus

2016, Westfälisches Dampfboot

es werden drei Fragen diskutiert: warum trennt sich in der bürgerlichen Geselschaft die politische Macht von der ökonomischen Macht? Wie bildet sich die bürokratische Herrschaftsform der bürgerlichen Gesellschaft heraus? Wie hängen Demokratieund Kapitalismus zusammen?

Andreas Fisahn WESTFÄLISCHES DAMPFBOOT Die Saat des Kadmos Staat, Demokratie und Kapitalismus Fisahn Die Saat des Kadmos Andreas Fisahn, Prof. Dr. jur., geb. 1960 ist Professor für öffentliches Recht und Rechtstheorie an der Universität Bielefeld. Forschungsschwerpunkte sind Staats- und Rechtstheorien und Europa. Aktuell beschäftigen ihn vorrangig die Freihandelsabkommen zwischen Nordamerika und der EU. Andreas Fisahn Die Saat des Kadmos Staat, Demokratie und Kapitalismus WESTFÄLISCHES DAMPFBOOT Gefördert durch die Rosa-Luxemburg-Stiftung Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 1. Auflage Münster 2016 © 2016 Verlag Westfälisches Dampfboot Alle Rechte vorbehalten Umschlag: Lütke Fahle Seifert AGD, Münster Druck: Rosch-Buch Druckerei GmbH, Scheßlitz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier ISBN 978-3-89691-853-6 Inhalt Vorwort 11 Prolog: Die Sage um Kadmos 12 A. Der Markt und die Besonderung des Staates 15 I. Die Differentia specifica des bürgerlichen Staates 15 1. Hegel und die Besonderung des Staates 15 2. Warum trennt sich die politische von der ökonomischen Macht? – die Fragestellungen 20 II. Markt und das Recht 22 1. Der Markt braucht Regeln und Organe zur Durchsetzung a) Markt und Gewalt b) Instrument oder Form c) Rechtsform und Waren produzierende Gesellschaft d) Recht und Subjekt e) Rechtsform und Staat 22 22 23 24 25 27 2. Probleme der Erklärung des Staates aus dem Markt a) Vorkapitalistische Märkte und Recht b) Recht ohne Markt c) Die Besonderung des Staates wird nicht erklärt 27 27 29 30 3. Ergebnisse 32 B. Differentia specifica der bürgerlichen Gesellschaft und das Recht 33 I. Verwertung von Wert 35 1. Der Begriff Kapital a) Schatz und Kapital – Historisches 35 35 b) Webers Begriff des Kapitalismus c) Das Kapital 2. Recht und Verwertung von Wert a) Vermittlung von Qualität und Quantität b) Einhegung destruktiver Wirkungen c) Recht statt Solidarität II. Marktförmige Konkurrenz und Produktion auf höherer Stufenleiter 37 39 41 41 45 48 50 1. Konkurrenz und „freie“ Marktwirtschaft a) Die herrschende Volkswirtschaftslehre b) Markt ohne Konkurrenz – Historisches c) Konkurrenz als Zwangsgesetz 50 50 52 54 2. Vermittlung in der Konkurrenz: Recht und Staat a) Konkurrenz und die Trennung von Politik und Ökonomie b) Unterschiedliche Interessen und Gesellschaftsformation c) Formale Gleichheit – das allgemeine Gesetz 58 58 61 65 III. Arbeitsteilung und Lohnarbeit 1. Große Fabrik und freie Lohnarbeit a) Arbeitsteilung und Fabrik b) Revolutionierung der Produktionsmittel c) Freie Lohnarbeit 2. Rechtssubjekt und ideelles Allgemeines a) Lohnarbeit und die Konstituierung des Rechtssubjekts b) Arbeitsvertrag und die Ausdifferenzierung von Recht und Staat c) Arbeitsteilung und Konkurrenz d) Freiheit des Rechtssubjekts e) Disziplinierung der Arbeit f) Ideelles Allgemeines und bürokratischer Stab g) Eigengesetzlichkeit der staatlichen Abteilungen h) Staat und Kräfteverhältnis 73 73 73 75 77 78 78 80 85 88 90 93 99 102 IV. Eigentum und Staat 107 1. Eigentum und Mehrwert 107 2. Eigentum, Gewalt und Staat a) Spezieller Gewaltapparat und Besonderung des Staates b) Gewalt-Monopol und Eigentum c) Ambivalenzen des Gewaltmonopols d) Mehrprodukt, Differenzierung und Recht 110 110 112 114 118 3. Patriarchat, Eigentum, Arbeitsteilung und Gewalt a) Eigentum, Kapitalismus und Patriarchat b) Indifferenz und Überformung c) Strukturelle Indifferenz des Kapitalismus 124 124 127 127 V. Ergebnisse 133 C. „Wo kommen die Kapitalisten ursprünglich her?“ 139 I. Homologie und Geschichte – Zwischen Zufall und Notwendigkeit 139 II. Klassisch: Ursprüngliche Akkumulation, protestantische und katholische Ethik 143 1. Bauernlegen und Akkumulation von Kapital 143 2. Kapitalistischer Geist und protestantische Ethik a) Protestantismus und Rationalisierung b) Formal-rationales Recht und bürokratischer Staat 149 149 153 3. Der Geist des Kapitalismus und der Katholizismus 155 III. Rationalisierung und Protestantismus 159 1. Zwischen Humanismus und Protestantismus – Handelskaufmann und manufakturelle Bourgeoisie 159 2. Vom Verlagswesen zur Manufaktur 166 IV. Konkurrenz der Staaten und die neue Effizienz des Wirtschaftens 170 1. Konkurrenz und Nähe a) Revolutionierung von Produktion und Kommunikation b) Konkurrenz kleiner Staaten – die spezifischen Bedingungen in Europa 170 170 180 2. Territoriale Konkurrenz und die Auflösung des Feudalsystems a) Zentralisierung und der Prozess der Zivilisation – Elias b) Militär und kapitalistischer Geist – Sombart c) Von der persönlichen zur „versachlichten sozialen Beziehung“ 183 183 186 191 3. Ökonomische und territoriale Konkurrenz 194 4. Ergebnisse: Konkurrenz der Staaten und die Entwicklung der Produktivkräfte 204 D. Von der persönlichen Gefolgschaft zur institutionalen Herrschaft 207 I. Exkurs: Staat oder was? 207 II. Vom konkreten Privilegienrecht zum allgemeinen Gesetz 214 1. Konkretes Privilegienrecht 215 2. Die allgemein abstrakte Norm – das Recht der bürgerlichen Gesellschaft 219 III. Vom Personenverband zum Verwaltungsstab 231 1. Mittelalterliches „Regieren“ und der soziale Kampf innerhalb der herrschenden Klassen 231 2. Besoldung und Bürokratisierung der Herrschaft a) Die katholische Kirche als Vorbild effektiver Administration b) Staatsverwaltung 241 241 247 3. Ergebnisse 256 IV. Trennung von Ökonomie und Politik – Übergang zur Demokratie 257 1. Anspruch auf Beteiligung 257 2. Zwischen den Stühlen 259 3. Ermächtigung der Exekutive 262 E. Demokratie und Kapitalismus 266 I. Die demokratische Frage 266 II. Menschenrechte und Rechtsstaat 267 1. Bedeutung der Menschenrechte und des Rechtsstaates a) Die zwei Seiten des Rechtsstaates b) Struktur und Kampf c) Staat und Struktur 267 267 269 274 2. Eigentum, Freiheit und Vertrag a) Das Recht auf Eigentum b) Freiheit und Gleichheit 275 275 277 3. Marktsubjekt und Menschenrecht a) Struktur und der Anspruch auf Freiheit und Gleichheit b) Politisch-demokratische und individuelle Rechte 282 282 286 4. Menschenrechte und Demokratie a) Kontrolle des Gesetzgebers durch ein Gericht b) Der Streit um das richterliche Prüfungsrecht in Weimar c) Ambivalenz der Rechte in der Jurisdiktion d) Menschenrechte als Grenze und Absicherung der Demokratie 288 288 292 294 296 III. Affinitäten von Demokratie und Kapitalismus 301 1. Begriffe der Demokratie 301 2. Überschießende Tendenzen von Freiheit und Gleichheit 307 3. Vertrag und Demokratie 314 a) Gesellschaftsvertrag und Demokratie b) Normative Implikationen 314 320 4. Konkurrenz und Demokratie a) Elitetheorie der Demokratie b) Pluralistische Demokratie – Fraenkel c) Konkurrenz und Affinität 322 323 326 329 IV. Repugnanz von Demokratie und Kapitalismus 332 1. Halbierte Demokratie und strukturelle Dependenz 332 2. Autoritäre Sicherung ökonomischer Macht 338 3. Despotie der Fabrik und autoritärer Charakter a) Despotie der Fabrik b) Der autoritäre Charakter c) Normalisierung der Körper 345 345 346 349 4. Basislegitimität des Staates a) Begriff, Annäherungen und Abgrenzungen b) Staat und Doxa – Bourdieu c) Nationalstaat und das Andere 354 354 360 367 V. Die Mechanismen der Stabilisierung bürgerlicher Herrschaft 375 1. Hegemonie und Kulturindustrie 376 2. Soziale Integration 382 3. Supranationale Verrechtlichung a) Verschiebung des sozialen Kompromisses b) Vom Wettbewerbsstaat zur autoritären Wirtschaftsregierung 386 386 389 4. Zum Zustand der Demokratie 391 VI. Ergebnisse 397 Epilog: Staatlichkeit im Wandel? 402 Literatur 413 Vorwort „Das Buch erinnert mich“, sagte mein Freund, Alois Stiegeler, nachdem er es Korrektur gelesen hatte, „an eine Wanderung mit einem Bergführer. Nach einer schwierigen Kletterpartie zu Beginn hat dieser lachend erklärt: ‘Das war ein Test. Wenn Du das geschafft hast, schaffst Du den Rest der Tour auch.’ Das HegelKapitel am Anfang des Buches habe wohl eine ähnliche Funktion. Wer dann noch liest, kommt auch bis zum Ende.“ Nun gut – so ist das wohl mit Hegel, aber man kann das Kapitel auch getrost überspringen oder quer lesen, anders als bei einem Krimi bleibt der Rest auch ohne den Mord am Anfang verständlich – hoffe ich jedenfalls. Dank für Hilfe geht auch an Rainer Klein und meine Mitarbeiter Lennart Alexy, Ridvan Ciftci, Onur Ocak, Kerstin Steffmann. 11 Prolog: Die Sage um Kadmos Kadmos war der Bruder von Europa und Europa ist an allem Schuld. Weil sie so schön war, verliebte Zeus sich in das Menschenkind und trug sie – in einen Stier verwandelt – auf seinem Rücken nach Kreta. Wie Eltern so sind, waren Agenor, der König von Phönizien und seine Frau Telephassa besorgt um ihre Tochter. Agenor schickte deshalb seine drei Söhne los, ihre Schwester zu suchen. Telephassa war stinksauer, dass ihr Göttergatte nicht mehr tat und wollte bei der Suche dabei sein. Sie begleitete deshalb einen ihrer Söhne, eben Kadmos, der auf dem griechischen Festland nach Europa suchte. In Thrakien, das an die heutige Türkei grenzt, starb Telephassa. Kadmos hatte den Kaffee auf und ging nach Delphi, um dort die berühmten Wahrsager des Apollo um Rat zu fragen. Der Rat fiel – wie das beim Orakel von Delphi so üblich war – rätselhaft aus. Kadmos solle sich – statt weiter zu suchen – häuslich niederlassen. Das Orakel gab auch eine Anweisung, wo das geschehen solle. Kadmos solle einer Kuh mit zwei mondförmigen Kreisen folgen, wo die sich hinlege, solle er bleiben und eine Stadt gründen. Tatsächlich fanden Kadmos und seine Gefährten, die so ein griechischer Held typischerweise dabei hat, die Kuh und jagten diese bis ins heutige Böotien (was Kuhland bedeutet), wo die Kuh erschöpft zusammenbrach. Kadmos wollte sie als Opfer für die Göttin Athene schlachten – wieso für Athene und nicht für Apollon, verrät die Sage nicht. Zum Opferfest brauchte man Getränke, also schickte Kadmos seine Gefährten los, um Wasser zu holen. Zu viel mehr taugten die Gefährten auch nicht. Die Quelle, die sie nämlich fanden, wurde von einem Drachen, einem Sohn des Kriegsgottes Ares, bewacht. Der Drache tötete die Gefährten. Als Kadmos Durst bekam, machte er sich auf die Suche, fand die Leichen, geriet in Wut und erschlug den Drachen. Das ist eben der Unterschied zwischen wahren Helden und schlichten Gefährten: was mehrere der Letzteren nicht schaffen, besorgt der Held im Alleingang. Kadmos opferte Athena die Kuh, die ihm darauf erschien und rief, er solle dem Drachen die Zähne ziehen und wie Samen auf einem Feld aussähen. Die Saat geriet trefflich. Nach kurzer Zeit wuchsen aus den Zähnen wilde Krieger. Weil Kadmos fürchtete, mit diesen nicht fertig zu werden, warf er einen Stein. Klug waren die wilden Kerle nicht: In dem Steinwurf sahen sie einen Angriff der anderen, so fielen sie übereinander her und töteten sich gegenseitig, bis nur noch fünf übrig waren. Die Sage verrät nicht, warum diese fünf den Kampf einstellten. Jedenfalls gründeten diese „Gesäten Männer“ (Spartoi) mit Kadmos die Burg Kadmeia, um die später die Stadt Theben entstand. Zu mehr Bekanntheit gelangte diese durch Ödipus und Brechts Gedicht „Fragen eines lesenden Arbeiters“, das mit 12 der Frage beginnt: „Wer baute das siebentorige Theben? In den Büchern stehen die Namen von Königen. Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?“ Aus den fünf Spartoi rekrutierten sich – so endet die Sage – die Adelsgeschlechter des Staates Theben. Kadmos musste seine Schuld bei Ares begleichen und acht Jahre für ihn knechten. Dann wurde er König von Theben. Theben gab es nicht nur in der Sage, es war eine der führenden Mächte im antiken Griechenland. Die Kadmos-Sage ist der Gründungsmythos des (Stadt-)Staates Theben. Wir haben uns an einen anderen Gründungsmythos für den modernen Staat gewöhnt, nämlich an Hobbes Erzählung vom Gesellschaftsvertrag. Im Naturzustand herrsche der Krieg aller gegen alle, erzählt Hobbes, weil der Mensch schlecht sei. Der Mensch ist, meint Hobbes, des Menschen Wolf. Um diesen unerfreulichen und unsicheren Zustand zu beenden, schließen die Menschen einen Gesellschaftsvertrag und gründen den Staat, den großen Leviathan mit einem absoluten Herrscher an der Spitze. Seltsamerweise wählte Hobbes das Seeungeheuer der jüdisch-christlichen Mythologie als Sinnbild für den Staat und nicht Behemoth, das Landungeheuer. Das hat Franz Neumann viel später als Symbol für den deutschen Faschismus gewählt. Der Leviathan und der Gesellschaftsvertrag, mit dem der Staat gegründet worden sein soll, sind ebenso Mythos wie die Sage von der Gründung Thebens durch Kadmos. Allerdings ist Hobbes Erzählung vom Gesellschaftsvertrag kein Gleichnis, sondern Unterstellung. Als Gleichnis, als Parabel, die allen griechischen Sagen zugrunde liegt, ist die Geschichte um die Staatsgründung durch Kadmos gleichsam realistischer. Sie hat mehr Substanz als die Unterstellung eines Gesellschaftsvertrages. Am Anfang findet sich noch eine Parallele: Das Schlachtfest der Spartoi untereinander ist durchaus vergleichbar mit Hobbes Naturzustand und dem Krieg aller gegen alle. Die Vernunft gebietet es bei Hobbes, diesen Zustand zu beenden und einen Gesellschaftsvertrag abzuschließen. In Thebens Gründungsmythos endet der Kampf einfach und bietet so Spielraum für Interpretationen. Die übrig gebliebenen Spartoi sind möglicherweise einfach erschöpft; oder sie erkennen, dass sie sich nicht besiegen können. Denkbar ist auch: Sie bemerken, dass sie dem noch frischen Kadmos, dem lachenden Dritten, im Endkampf unterlegen sein müssen. Der Unterschied zu Hobbes ist: Die Gewalt wird nicht aufgegeben. Die Spartoi bleiben Krieger und stellen deshalb die Adelsgeschlechter. Wichtiger noch: die Verfügung über die Gewaltmittel definiert den Staat. Die Spartoi gründen den Staat, woher das übrige Staatsvolk kommt und wie es am Aufbau des siebentorigen Theben beteiligt ist, bleibt unklar und ist völlig unerheblich. Brecht hatte Recht. Schließlich sind es auch nicht diejenigen, welche die Steine 13 schleppten, die sich vertraglich verpflichteten, einen Staat zu gründen, denn im Zweifel werden sie mit Gewalt gezwungen. Sie sind gegenüber den Spartoi ungleich. Der Staatsvertrag ist ein Vertrag der Eliten. Diese sind möglicherweise untereinander gleich. Hobbes erzählt die Geschichte eines Unterwerfungsvertrages, alle unterwerfen sich einem – dem absoluten Monarchen. Kadmos wird erster König von Theben, nachdem er seine Schuld bei Ares beglichen hatte. Aber ob Kadmos Primus inter pares oder absoluter Monarch wird, lässt der griechische Mythos offen – wahrscheinlicher ist ersteres. Der griechische Mythos der Staatsgründung ist offener, lässt mehr Varianten, Spielarten und Variationen zu, d.h. letztlich Variationen der Staatsgründung und des Staates. Hobbes rechtfertigt die absolute Monarchie – der Kadmos-Mythos erklärt den Staat und die Herrschaft, weil er die Gewaltverhältnisse im Staat belässt. 14 A. Der Markt und die Besonderung des Staates I. Die Differentia specifica des bürgerlichen Staates 1. Hegel und die Besonderung des Staates Die Trennung der Sphäre der Ökonomie von der der Politik ist ein Charakteristikum des modernen Staates. Es war Hegel, der diese Trennung als Erster betonte, indem er die bürgerliche Gesellschaft vom Staat schied, den Marx im Anschluss den bürgerlichen Staat nannte. Die Trennung von Ökonomie und Politik meint, wenn man sie als Charakteristikum des bürgerlichen Staates bestimmt, nicht einfach, dass Menschen in diesen beiden Sphären unterschiedlich handeln und unterschiedliche Ziele verfolgen. Gemeint ist vielmehr, dass die politische Macht von der ökonomischen Macht getrennt ist, der ökonomisch Mächtige nicht gleichsam natürlich oder automatisch auch die politische Macht übernimmt oder umgekehrt, dass mit der politischen Macht formal auch ökonomische Macht verbunden ist. Diese formal funktionale und auch personelle Trennung der Sphären unterscheidet die bürgerliche Gesellschaft von vorangegangenen Gesellschaftsformen, etwa vom Feudalismus des Mittelalters, aber auch von den antiken Gesellschaften Europas. Im Mittelalter war der Fürst gewissermaßen von Amts wegen der Inhaber der ökonomischen Macht, weil er Eigentümer der Ländereien war, welche die Hintersassen bewirtschaften. Für diese war der Fürst gleichzeitig politischer Herrscher, Richter und oberster Militärführer. Nur die Ausübung der religiösen Funktionen, die noch im Gottkaisertum des alten Ägypten zusammenfielen mit den politischen Funktionen, was einige römische Kaiser wieder zu beleben versuchten, blieb im Mittelalter Angelegenheit der Kirche, die aber gleichzeitig ökonomische Macht über ausgedehnte Ländereien und – folglich auch politische Macht besaß, die von den Erzbischöfen als Mitgliedern des Kurfürstenkollegiums, das auch den Kaiser wählte, wahrgenommen wurde. Im antiken Rom bildeten die Patrizier die ökonomisch herrschende Schicht, die gleichzeitig im Senat die wichtigste politische Funktion der römischen Republik übernahm. 15 Mit dem Aufkommen einer ausgedehnten Warenwirtschaft und der „Fiskalisierung der Herrschaftspraxis“1 verschoben sich die Gewichte, so dass die zunächst noch vorhandene ökonomische Stellung der politischen Machthaber zunehmend an Bedeutung verlor und schließlich eine Besonderung2 staatlicher Institutionen von ökonomischen Funktionen3 erfolgte.4 Das Neuartige der Trennung war vor allem die Trennung der Ökonomie von der Politik, der sozialen oder wirtschaftlichen Macht von der politischen Macht, wobei diese Trennung auch im Liberalismus niemals absolut war; der Staat hat immer versucht über Rahmenbedingungen, Infrastruktur usw. lenkend in die Wirtschaft einzugreifen, was nicht zuletzt die Genealogie der Öffentlichkeitsbeteiligung als rechtlicher Annex zur staatlichen Infrastrukturentwicklung deutlich gemacht hat.5 Das Verhältnis von Staat und Wirtschaft hat sich zwischenzeitlich gewandelt. Auf Seiten der Wirtschaft haben Konzentrations- und Zentralisationsprozesse stattgefunden, die auch zu einer Konzentration sozialer Macht führten. Weiter haben reale, fiskalische wie vermittelte – der politische Erfolg hängt von der wirtschaftlichen Prosperität ab – Abhängigkeiten des Staates von der Wirtschaft zu Verschiebungen im Machtverhältnis zwischen Staat und Wirtschaft geführt: ökonomische Macht kann – vergleichsweise direkt – in politische Macht transferiert werden. Umgekehrt haben die Interventionen des Staates in die Wirtschaft – auch unter neoliberalen Vorzeichen – qualitativ eine andere Bedeutung erlangt: Die Wirtschaft ist auf Garantieleistungen des Staates angewiesen und muss Beschränkungen bzw. eine weitgehende rechtliche Regulation hinnehmen, 1 2 3 4 5 16 Gerstenberger, Die subjektlose Gewalt, S. 512. Diesen Begriff verwendet Marx zur Kritik der normativen Absicherung der Trennung von Staat und Gesellschaft bei Hegel (Kritik des Hegelschen Staatsrechts, MEW Bd. 1, S. 282). Die Besonderung des Staates soll nicht verstanden werden als funktionale Differenzierung unterschiedlicher gesellschaftlicher Systeme. Die Funktionalität entzieht sich in dieser Diktion dem Zwang zur Rechtfertigung und geht in einer „entideologisierten“ Geschichtsphilosophie oder Evolutionstheorie auf. Die Erklärung der Trennung der Sphären und die Verfestigung dieser Trennung über Raum und Zeit hinweg bedarf vielmehr genauer Analysen der Kräfteverhältnisse in den unterschiedlichen Gesellschaften, die letztlich auf polit-ökonomische Analysen ebenso angewiesen sind wie auf Analysen der Spaltung inter und intra den Klassen einer Gesellschaft. Dabei ist u.a. umstritten, ob der Kapitalismus Voraussetzung der Besonderung des Staates war, oder umgekehrt, die Besonderung des Staates Voraussetzung der Entwicklung einer kapitalistischen Ökonomie, was an dieser Stelle aber nicht verfolgt werden muss. Vgl. ausführlicher unter E. II. Fisahn, Demokratie und Öffentlichkeitsbeteiligung, passim. so dass politische Macht auch in ökonomische Macht transferiert werden kann. Das hebt allerdings die Besonderung staatlicher Institutionen gegenüber der Ökonomie nicht grundsätzlich auf. Hegel formuliert, explizit, dass die Trennung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat ein Phänomen der „modernen Welt“, also der neuzeitlichen, kapitalistischen Gesellschaft, ist. Er schreibt: „Die bürgerliche Gesellschaft ist die Differenz, welche zwischen die Familie und den Staat tritt, wenn auch die Ausbildung derselben später als die des Staates erfolgt; denn als die Differenz setzt sie den Staat voraus, den sie als Selbständiges vor sich haben muss, um zu bestehen. Die Schöpfung der bürgerlichen Gesellschaft gehört übrigens der modernen Welt an, welche allen Bestimmungen der Idee erst ihr Recht widerfahren lässt.“6 Die bürgerliche Gesellschaft ist für Hegel die Sphäre der Ökonomie oder das „System der Bedürfnisse“. Hier entzweit sich die familiäre Einheit und besondere, partikulare Interessen treffen aufeinander. Denn in der Sphäre der Ökonomie verfolge jeder seine selbstsüchtigen Zwecke, wobei die besonderen Bedürfnisse über die „zufälligen“, allgemeinen Bedürfnisse nach „Essen, Trinken, Kleidung usw.“ 7 hinausgehen, weil sich „die Mittel für die partikularisierten Bedürfnisse und überhaupt die Weisen ihrer Befriedigung, welche wieder relative Zwecke und abstrakte Bedürfnisse werden“8 teilen und vervielfältigen und die Bedürfnisse sich so verfeinerten. Das ist gleichsam Fortschritt der Zivilisation. Aber Hegel sieht schon, dass ein Bedürfnis „nicht sowohl von denen, welche es auf unmittelbare Weise haben, als vielmehr durch solche hervorgebracht (wird), welche durch sein Entstehen einen Gewinn suchen.“9 Hegel tritt hier als ein sehr früher Kritiker des kapitalistischen Konsumismus auf. Die partikularen Bedürfnisse müssen miteinander in Beziehung gesetzt werden. Das geschieht für Hegel nicht durch den Markt, sondern durch die Arbeit: „Die Vermittlung, den partikularisierten Bedürfnissen angemessene, ebenso partikularisierte Mittel zu bereiten und zu erwerben, ist die Arbeit, welche das von der Natur unmittelbar gelieferte Material für diese vielfachen Zwecke durch die mannigfaltigsten Prozesse spezifiziert. … Das unmittelbare Material, das nicht verarbeitet zu werden braucht, ist nur gering: selbst die Luft hat man sich zu erwerben, indem man sie warm zu machen hat; nur etwa das Wasser kann man so trinken, wie man es vorfindet. Menschenschweiß und Menschenarbeit erwirbt 6 7 8 9 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 182. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 189. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 191. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 191. 17 dem Menschen die Mittel des Bedürfnisses.“10 Und in einem weiteren Punkt ist Hegel ungeheuer modern. Er sieht, dass die neue Form der Produktion, also die kapitalistische Ökonomie zu einer ungleichen Verteilung des Reichtums und der Armut führt.11 Genauer: Wo der Luxus ins Unendliche steigt, „da ist auch die Not und Verworfenheit auf der anderen Seite ebensogroß.“12 Dennoch plädiert Hegel gegen „die Forderung der Gleichheit“, weil Unterschiede natürlicherweise bestünden und bestehen sollen.13 Hegel denkt klassisch liberal und argumentiert in Übereinstimmung mit Adam Smith. Der allgemeine Wohlstand stellt sich über die egoistische Verfolgung des eigenen Vorteils her. Hegel schreibt: „In dieser Abhängigkeit und Gegenseitigkeit der Arbeit und der Befriedigung der Bedürfnisse schlägt die subjektive Selbstsucht in den Beitrag zur Befriedigung der Bedürfnisse aller anderen um, – in die Vermittlung des Besonderen durch das Allgemeine als dialektische Bewegung, so dass, indem jeder für sich erwirbt, produziert und genießt, er eben damit für den Genuss der Übrigen produziert und erwirbt.“14 Oder kürzer: „Meinen Zweck befördernd, befördere ich das Allgemeine, und dieses befördert wiederum meinen Zweck.“15 Die bürgerliche Gesellschaft erscheint so als die Gesellschaft des privaten Egoisten und die wirtschaftliche Betätigung selbstverständlich als der zentrale Bestandteil, das Spezifikum dieser bürgerlichen Gesellschaft. Weil in der bürgerlichen Gesellschaft die individuellen Bedürfnisse und besonderen Interessen herrschen, braucht es den Staat um das „wahrhaft Allgemeine“ herzustellen. Hegel denkt die bürgerliche Gesellschaft als Negation der Familie, deren Negation wiederum der Staat ist, d.h. bürgerliche Gesellschaft und Staat fallen auseinander. Hegel meint, die Negation der familiären Solidarität in der bürgerlichen Gesellschaft wird durch die Einheit im Staat wieder aufgehoben. Der Staat ist für Hegel „der Gang Gottes in die Welt, … sein Grund ist die Gewalt der sich als Wille verwirklichenden Vernunft.“ Er ist „die Wirklichkeit der sittlichen Idee“16, die die Gegensätze der bürgerlichen Gesellschaft aufhebt und die Einheit der Gesellschaft 10 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 196. 11 Thomas Piketty ist ein ungeheurer Coup gelungen, diese „alte Kamelle“ als neues Phänomen des Kapitals im 21. Jahrhundert auszugeben. Vgl. Rilling, R., Thomas Piketty und das Märchen vom Gleichheitskapitalismus, in: Blätter, passim. 12 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 195. 13 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 200. 14 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 199. 15 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 184. 16 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 257 f. 18 herstellt. Die Einheit ist gleichsam der zentrale Gesichtspunkt, über den Hegel erstens den Staat selbst und zweitens die konstitutionelle Monarchie rechtfertigt. Er formuliert damit ein Problem der Staatstheorien, das bis in die Gegenwart geläufig ist. Wie kann bei Differenz und Gegensätzlichkeit der Interessen in der Gesellschaft die staatliche Einheit hergestellt werden? Hegel schreibt: „Das Prinzip der modernen Staaten hat diese ungeheure Stärke und Tiefe, das Prinzip der Subjektivität sich zum selbstständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden zu lassen und zugleich es in die substanzielle Einheit zurückzufahren und so in ihm selbst diese zu erhalten.“17 Die substanzielle Einheit ist durch den einheitlichen Willen des Monarchen, die „letzte Willensentscheidung, – die fürstliche Gewalt, in der die unterschiedenen Gewalten zur individuellen Einheit zusammengefasst sind“ herzustellen.18 Die bürgerliche Gesellschaft solle durch Stände bei der Gesetzgebung vertreten sein. Diese Vertretung nennt er den allgemeinen Stand, weil er nicht die besonderen, sondern allgemeinen Interessen vertreten und in die Gesetzgebung (des Fürsten) einbringen solle – wörtlich: „Der allgemeine, näher dem Dienst der Regierung sich widmende Stand hat unmittelbar in seiner Bestimmung, das Allgemeine zum Zwecke seiner wesentlichen Tätigkeit zu haben; in dem ständischen Elemente der gesetzgebenden Gewalt kommt der Privatstand zu einer politischen Bedeutung und Wirksamkeit. … Nur so knüpft sich in dieser Rücksicht wahrhaft das im Staate wirkliche Besondere an das Allgemeine an.“19 Marx’ Kritik schließt genau hier an und bestreitet, dass es Hegel gelungen sei, das Besondere, die bürgerlichen Einzelinteressen, mit dem politischen Staat zu versöhnen; dieser bleibe vielmehr gegenüber der Gesellschaft ein besonderer, von dieser getrennter Herrschaftsapparat. Durch die Beteiligung der Stände, schreibt Marx, „schließt Hegel den Paragrafen, knüpft sich in dieser Rücksicht das im Staate wirkliche Besondere an das Allgemeine an.’ Aber Hegel verwechselt hier den Staat als das Ganze des Daseins eines Volkes mit dem politischen Staat. Jenes Besondere (die gesellschaftlichen Interessen A.F.) ist nicht das ‘Besondere im’, sondern vielmehr ‘außer dem Staate’, nämlich dem politischen Staate. … Hegel will entwickeln, dass die Stände der bürgerlichen Gesellschaft die politischen Stände sind, und um dies zu beweisen, unterstellt er, dass die Stände der bürgerlichen Gesellschaft die ‘Besonderung des politischen Staates’, d.i., dass die bürgerliche Gesellschaft die politische Gesellschaft ist. Der Ausdruck: ‘Das Besondere im 17 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 260. 18 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 273. 19 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 303. 19 Staate’ kann hier nur Sinn haben als: ‘Die Besonderung des Staates’. Hegel wählt aus einem bösen Gewissen den unbestimmten Ausdruck. Er selbst hat nicht nur das Gegenteil entwickelt, er bestätigt es noch selbst in diesem Paragrafen, indem er die bürgerliche Gesellschaft als ‘Privatstand’ bezeichnet.“20 Dieses lange und schwer verständliche Zitat ist hier in voller Schönheit wiedergegeben worden, weil die von mir kursiv gesetzte Redewendung ‘Die Besonderung des Staates’, in der an Marx anknüpfenden Staatsdiskussion aufgenommen wurde und als Chiffre für das erläuterte Spezifikum der kapitalistischen Gesellschaft, die Trennung von Staat und Gesellschaft, verwendet wird. Es wird so auf die politische Herrschaft durch ein von der Gesellschaft separiertes Organ aufmerksam gemacht. Noch etwas steckt im Ansatz in der Redewendung von der „Besonderung des Staates“: nämlich der Hinweis auf die besonderen Interessen des Staates nicht nur gegenüber den sozial Ohnmächtigen, sondern auch gegenüber dem herrschenden Allgemeinen also gegenüber den Interessen der ökonomisch Mächtigen, der herrschenden Klasse in der späteren Diktion von Marx. 2. Warum trennt sich die politische von der ökonomischen Macht? – die Fragestellungen Den Gründen und Folgen der Besonderung des Staates in der kapitalistischen Gesellschaft geht Marx nicht nach, seine Bemerkungen zum Staat bleiben fragmentarisch und sind z.T. auch widersprüchlich. Es war Eugen Paschukanis, der eine, wenn nicht die zentrale Frage einer materialistischen Staatstheorie gestellt hat. Paschukanis fragt: „Warum bleibt die Klassenherrschaft nicht das, was sie ist, d.h. faktische Unterwerfung eines Teiles der Bevölkerung unter die andere? Warum nimmt sie die Form einer offiziellen staatlichen Herrschaft an, oder – was dasselbe ist – warum wird der Apparat des staatlichen Zwanges nicht als privater Apparat der herrschenden Klasse geschaffen, warum spaltet er sich von der letzteren ab und nimmt die Form eines unpersönlichen, von der Gesellschaft losgelösten Apparats der öffentlichen Macht an?“21 Man muss nicht besonders betonen, dass die richtige Frage zu stellen, meist schon die halbe Miete ist und schwieriger, als die Antwort zu geben. Eine weitere Frage drängt sich im Anschluss an diese mehr oder weniger auf: Die Frage nach dem Staat als von der Gesellschaft getrennte Institution führt 20 Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW Bd. 1, S. 282. 21 Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, S. 145. 20 zur Frage nach der Staatsform oder präziser nach der Frage: Warum hat sich der kapitalistische „Staat nicht in der Form der absoluten Monarchie reproduziert?“22 Diese Frage stellt Nicos Poulantzas in seiner Staatstheorie. Impliziert wird damit gefragt, ob es einen – notwendigen – Zusammenhang zwischen Demokratie und bürgerlicher Gesellschaft oder – anders ausgedrückt – zwischen Parlamentarismus und Kapitalismus gibt. Weitere Fragen schließen sich an: Warum hat sich der moderne Staat als Nationalstaat organisiert? Und warum kommt es zur Herausbildung eines Rechts- und Verwaltungsapparates, der historisch einmalige Dimensionen erreicht, d.h. warum werden Recht und Verwaltung zum zentralen Organisations- und Steuerungsinstrument des Staates? Im folgenden Teil des ersten Kapitels (A.) werden Paschukanis Überlegungen zur Trennung von Politik und Ökonomie kritisch gewürdigt. Im zweiten Kapitel (B) wird die Frage nach der Trennung von Staat und Ökonomie strukturanalytisch diskutiert und die Homologie zwischen kapitalistischer Ökonomie und dem Recht sowie dem Staat der bürgerlichen Gesellschaft herausgearbeitet. Zentral wird dabei nicht auf den Markt, sondern auf die Verwertung von Wert in marktförmiger Konkurrenz sowie auf die arbeitsteilige industrielle Produktion als Differentia specifica der kapitalistischen Ökonomie abgestellt. So ergeben sich unterschiedliche Aspekte der Funktionen von Recht und Staat: Sie reichen von der Vermittlung gesellschaftlicher Beziehungen über die Organisation von Herrschaft unter gleichen Konkurrenten über die Ambivalenz von Freiheit und Disziplin bis zu den unterschiedlichen Nuancen „des Allgemeinen“ im parlamentarischen Diskurs. Im dritten Kapitel (C.) wird der Frage nachgegangen „Wo kommen die Kapitalisten ursprünglich her?“, d.h. es wird die Genese der bürgerlichen Gesellschaft mit der spezifischen Trennung von Politik und Ökonomie und der Homologie von Ökonomie und Staat in historischer Perspektive nachgespürt. Zentrale Ergebnisse sind dabei, dass die spezifische Situation in Europa, die in der Konkurrenz vieler Territorialherrscher bestand, dazu führen konnte, dass sich dieses spezifische Gesellschaftsform herausbildete: Denn gleichzeitig bestanden mit dem römischen Recht und dem Verwaltungsmodell der katholischen Kirche Anknüpfungspunkte für die Organisation staatlicher Herrschaft in einer Konkurrenzwirtschaft – das wird im vierten Kapitel (D.) gezeigt. Schließlich wird im letzten Kapitel (E.) der Frage nachgegangen, ob es einen strukturellen Zusammenhang von Kapitalismus und Demokratie oder zumindest parlamentarischer Republik gibt. Hier befindet man sich methodologisch wieder in einer Strukturanalyse, die zunächst den Anziehungskräften, der 22 Poulantzas, Staatstheorie, S. 80. 21 Affinität von Demokratie und Kapitalismus nachgeht. Anschließend werden die abstoßenden Effekte, Repugnanzen, untersucht, so dass sich ein ambivalentes Bild des Zusammenhangs ergibt, der zur Folgerung führt, dass die parlamentarische Republik historisch er- und umkämpft wurde, während Demokratie in einem emphatischen Sinne erst zu erkämpfen ist. II. Markt und das Recht 1. Der Markt braucht Regeln und Organe zur Durchsetzung a) Markt und Gewalt Schauen wir – im groben Überblick 23 – auf Paschukanis Antwort zu seiner selbst gestellten Frage. Der Markt, argumentiert er, hat zur Voraussetzung, dass gleiche Warenbesitzer aufeinandertreffen und ihre Waren auf vertraglicher Basis tauschen können, d.h. mit Zustimmung beider Teile. Dem Warentausch auf dem Markt ist die Abwesenheit von Zwang zwischen den Warenbesitzern immanent. Ansonsten handelt es sich nicht um Handel, sondern um Raub, Erpressung oder was auch immer. Paschukanis schreibt: „Der Zwang als der auf Gewalt gestützte Befehl eines Menschen an einen anderen widerspricht den Grundvoraussetzungen des Verkehrs zwischen Warenbesitzern. Darum kann in einer Gesellschaft von Warenbesitzern und innerhalb der Schranken des Tauschaktes die Funktion des Zwanges nicht als gesellschaftliche Funktion auftreten, da sie nicht abstrakt und unpersönlich ist. Die Macht eines Menschen über den anderen wird als Macht des Rechts in die Wirklichkeit umgesetzt, d.h. als die Macht einer objektiven unparteiischen Norm.“24 Die Gewalt verschwindet also aus der direkten Beziehung der Warenbesitzer und wird auf einen Dritten, den Staat, übertragen. Nicht die Marktteilnehmer üben Gewalt aus, damit geschlossene Verträge eingehalten werden, sondern diese Funktion wird einem „neutralen Dritten“ übertragen. Dieser darf aber nicht willkürlich handeln, darf nicht – vorrangig – eigene Interessen verfolgen, sondern muss für die Warenbesitzer berechenbar sein. Deshalb handelt der Staat aufgrund von allgemein abstrakten, aber bestimmten Gesetzen, dem formal rationalen Recht. 23 Ausführlich: Harms, Warenform und Rechtsform, passim, insbesondere S. 50 ff. 24 Paschukanis, a.a.O., S. 149 f. 22 Solches Recht formuliert Regeln, die für alle gleichgelagerten Fälle gelten, d.h. keine Sonderregeln und Privilegien enthalten. Gleichzeitig sind die Normen ihrem Inhalt nach bestimmt, d.h. sie formulieren verstehbare und hinreichend präzise Verhaltensanforderungen, die es ermöglichen, sich entsprechend den Regeln zu verhalten. Das heißt: Der Tausch von ungefähren Äquivalenten braucht formal rationales Recht und einen neutralen Dritten, den Staat als Richter, der sie interpretiert, bei Streitfragen entscheidet und den Staat als Polizei, der die Entscheidungen durchsetzt und das Recht garantiert. b) Instrument oder Form Paschukanis befindet sich mit dieser Interpretation ganz offensichtlich im Widerspruch zur leninistischen These, die den Staat als Instrument der herrschenden Klasse interpretiert. Aber auch im kommunistischen Manifest finden sich entsprechende Verkürzungen. Dort heißt es: „Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuss, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisieklasse verwaltet.“ 25 Oder Marx bezeichnet den Staat als eine „Maschine der Klassenherrschaft.“26 All diese Metaphern fallen hinter die Erkenntnis der Besonderung des Staates von der bürgerlichen Gesellschaft zurück. Ökonomische und politische Macht scheinen nicht getrennt. Instrumente und Maschinen werden bedient oder beherrscht und setzen regelmäßig eingegebene Impulse direkt um. Sie besitzen – sieht man vielleicht von Computern ab – kein eigenes Wesen, sind nicht selbständig. Die zitierten Schriften sind aber beide als politische Schriften mehr oder weniger zum Zwecke der Agitation entstanden und analysieren den grundsätzlichen Charakter des Staates nicht tiefgehend. Paschukanis geht es nicht um den Inhalt des Rechts, insbesondere nicht um den Nachweis des „Klassenstandpunktes“ einzelner juristischer Normen oder Gesetze, sondern um die Rechtsform, also die Frage, unter welchen Bedingungen die Organisation gesellschaftlicher Beziehungen die Form einer Rechtsnorm annimmt. Er formuliert als Ergebnis, die etwas steil anmutende These: „Man muss also im Auge behalten, dass Moral, Recht und Staat Formen der bürgerlichen Gesellschaft sind“27. Paschukanis nimmt deshalb an, dass nicht nur der Staat, sondern auch das Recht in einer klassenlosen Gesellschaft absterben werden und formuliert: „Den Übergang zum entwickelten Kommunismus stellt sich Marx 25 Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEaW I, S. 418. 26 Marx, Bürgerkrieg in Frankreich, MEaW IV, S. 71 f. 27 Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, S. 171. 23 folglich nicht als einen Übergang zu neuen Rechtsformen vor, sondern als ein Absterben der juristischen Form als solcher, als eine Befreiung von diesem Erbe der bürgerlichen Epoche“28. Das ist offenbar begründungsbedürftig, weil es doch schwer vorstellbar ist, dass eine Gesellschaft völlig ohne Regeln – und sei es nur die, welche Seite im Straßenverkehr zu benutzen ist – auskommen kann. Paschukanis unterscheidet zwischen rechtlichen und technischen Regeln: „Der Eisenbahnfahrplan regelt den Zugverkehr in einem ganz anderen Sinne als, sagen wir, das Gesetz über die Haftbarkeit der Eisenbahn die Beziehungen derselben zu den Absendern von Frachtgut regelt. Die erste Art der Regelung ist vorwiegend technisch, die zweite vorwiegend rechtlich“29. Abstrakt lassen sich die beiden Regeln dadurch unterscheiden, dass letztere Interessenkonflikte „löst“, erstere dagegen nicht, denn: „Das Verhalten der Menschen kann durch die komplizierten Regeln bestimmt werden, aber das juristische Moment in dieser Regelung fängt dort an, wo die Differenzierung und Gegensätzlichkeit der Interessen anfängt“30. Damit ist der Einstieg in die Analyse der Rechtsform gefunden. c) Rechtsform und Waren produzierende Gesellschaft Die Lösung von Interessenkonflikten durch Recht erscheint, argumentiert Paschukanis weiter, auf der Bildfläche der Geschichte mit der Entwicklung des Warenverkehrs, des Warenaustausches auf Märkten. Ausgangspunkt der Überlegungen zur Rechtsform ist also die Zirkulationssphäre oder der Markt, auf dem sich die Warenbesitzer als Freie und Gleiche begegnen müssen, um Verträge zu schließen, denn von einem marktförmigen Warenaustausch lässt sich – wie erwähnt – nicht sprechen, wenn eine der Parteien von der anderen zum Vertragsabschluss gezwungen wird. Die Rechtsform ist die Form, in der eine Waren produzierende Gesellschaft, eine Marktgesellschaft, ihre individuellen Beziehungen regelt. Das Recht schafft die Voraussetzungen des Warenaustausches und sichert diesen gleichzeitig ab, z.B. gegen Wucher, Verzug oder Schlechtleistung, garantiert also einen reibungslosen Äquivalententausch. Die Rechtsform sei deshalb ein gesellschaftliches Verhältnis in dem Sinne, in dem das Kapital ein solches für Marx sei. Mit dem „Verhältnis der Warenbesitzer zueinander“ meint Paschukanis jenes „gesellschaftliche Verhältnis 28 Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, S. 46 f. 29 Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, S. 67. 30 Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, S. 70. 24 sui generis“ gefunden zu haben, „dessen unausbleiblicher Reflex die Rechtsform ist“31. Er grenzt sich damit von verschiedenen Rechtsauffassungen ab, die sich ebenfalls auf Marx beriefen. Das Recht ist für ihn eben nicht einfach der Wille der herrschenden Klasse, es ist Norm und nicht Befehl, weil es auch die Mitglieder der herrschenden Klasse in ein bestimmtes Verhältnis zueinander zu setzen scheint. Tatsächlich stabilisiert es diese Verhältnisse nur und schafft sie nicht, denn es kann als Recht nur Geltung beanspruchen und faktisch funktionieren, wenn die Marktbeziehungen im Großen und Ganzen anerkannt sind, d.h. Recht im Durchschnitt „befolgt“ wird. „In der materiellen Wirklichkeit hat das Verhältnis das Primat über die Norm. Wenn kein Schuldner das Geschuldete zurückzahlte, so müsste die entsprechende Regel als real nicht existierend betrachtet werden“32 . Paschukanis argumentiert im Rahmen von bis in die Gegenwart geführten rechtstheoretischen Diskussionen, erstens um die Geltungsgründe des Rechts – Normativität33 wird hier gegen Faktizität34 in Stellung gebracht und der Widerspruch nur scheinbar aufgehoben durch die rhetorische Vereinigung in Faktizität und Geltung 35. Ebenso aktuell blieb die Frage nach der Funktion des Rechts für die gesellschaftlichen Beziehungen. Luhmann etwa meint, Recht habe die „Funktion der Stabilisierung normativer Erwartungen durch Regulierung ihrer zeitlichen, sachlichen und sozialen Generalisierung“36, was aus einer steuerungspessimistischen Perspektive konsequent ist. Paschukanis interpretiert Marx hier gleichsam systemtheoretisch – natürlich ohne das entsprechende Begriffsbrimborium: Das ökonomische System ist gekoppelt mit einem anschlussfähigen Recht, das die vorhandenen Erwartungshaltungen der Marktteilnehmer keineswegs neu ordnet, sondern stabilisiert. d) Recht und Subjekt Paschukanis schreibt: „Die Entwicklung des Rechts als System wurde nicht durch die Erfordernisse des Herrschaftsverhältnisses erzeugt, sondern durch die Erfordernisse des Handelsverkehrs mit gerade solchen Völkerschaften, die noch nicht 31 32 33 34 35 36 Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, S. 72. Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, S. 77. Kelsen, Reine Rechtslehre, passim. Geiger, Vorstudien zu einer Rechtssoziologie. Habermas, Faktizität und Geltung. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S.131. 25 durch eine einheitliche Machtsphäre erfasst werden“37. Der Handelsverkehr findet aber nicht zwischen den Waren statt, denn diese tragen sich bekanntlich nicht selbst zu Markte. Es bedarf vielmehr vertragsschließender Parteien, die erst als solche konstituiert werden müssen. Mit der Rechtsform, so die These, ist die Konstituierung des Rechtssubjekts verbunden, das wiederum Voraussetzung für marktförmiges handeln ist. Eine den Äquivalententausch regulierende Norm setzt Tausch und vor allem rechtsgeschäftsfähige Subjekte voraus, die erst durch das Recht in die Welt gesetzt werden, eben als Rechtssubjekte. „Die Rechtsnorm erhält ihre Differentia specifica, die sie aus der allgemeinen Masse der sittlichen ästhetischen, utilitären usw. Regeln hervorhebt, gerade dadurch, dass sie eine mit Rechten ausgestattete und dabei aktiv Ansprüche erhebende Person voraussetzt“38. So entsteht das „Subjekt als Träger und Adressat aller möglichen Forderungen“, das verbunden mit anderen solchen Rechtssubjekten das „grundlegende juristische Gewebe“ bildet, das dem „ökonomischen Gewebe, d.h. den Produktionsverhältnissen der auf Arbeitsteilung und Austausch beruhenden Gesellschaft entspricht“39. Das heißt natürlich nicht, dass es vorher keine menschlichen Individuen gab, die sich auch als solche verstanden haben. Paschukanis bezeichnet dieses als „zoologisches Individuum“, das sich unter Bedingungen einer „Verdichtung der gesellschaftlichen Zusammenhänge“ in ein „abstraktes und unpersönliches Rechtssubjekt“ verwandelt40. Die Qualität des Rechtssubjekts grenzt Paschukanis vom feudalen Privileg ab. Das Recht der Warengesellschaft ist die abstrakt, allgemeine Norm, die für alle formal gleichen Warenbesitzern in allen erfassten Fällen gilt. Das Privileg ist gleichsam das negativ der allgemein, abstrakten Norm, es formuliert Ansprüche und Rechte immer nur individuell konkret. „Da im Mittelalter der abstrakte Begriff des juristischen Subjekts fehlte, verschmolz auch die Vorstellung von der objektiven, an einen unbestimmten, weiten Kreis von Personen gerichteten Norm mit der Festsetzung konkreter Vorrechte und Freiheiten“41. Die gesellschaftlichen Verhältnisse des Feudalismus organisierten sich nicht über das Recht, sondern über Tradition, Brauchtum und Sitte, über die 37 38 39 40 41 26 Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, S. 88. Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, S. 96. Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, S. 94. Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, S. 113. Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, S. 120. auch beispielsweise die konkrete Strafzumessung bei Delikten gegen den Körper oder Diebstahl zugemessen wurden.42 e) Rechtsform und Staat Von der Entwicklung der Rechtsform aus dem Warentausch ist es zur Ableitung des Staates nur noch ein kleiner Schritt. „Auf dem Markt ist, wie wir bereits schon gesehen haben, ein jeder Erwerber und Veräußerer Rechtssubjekt par excellence … Der Zwang als der auf Gewalt gestützte Befehl eines Menschen an einen anderen widerspricht den Grundvoraussetzungen des Verkehrs zwischen Warenbesitzern. Darum kann in einer Gesellschaft von Warenbesitzern und innerhalb der Schranken des Tauschaktes die Funktion des Zwanges nicht als gesellschaftliche Funktion auftreten, da sie nicht abstrakt und unpersönlich ist. Die Unterwerfung unter einen Menschen als solchen, als konkretes Individuum, bedeutet für die warenproduzierende Gesellschaft Unterwerfung unter eine Willkür, denn sie fällt für diese mit der Unterwerfung des einen Warenbesitzers unter den anderen zusammen … Die Macht eines Menschen über den anderen wird als Macht des Rechts in die Wirklichkeit umgesetzt, d.h. als die Macht einer objektiven unparteiischen Norm“43, die wiederum von einer von der Gesellschaft separierten öffentlichen Instanz, dem Staat garantiert, d.h. letztlich mit Gewalt durchgesetzt wird. 2. Probleme der Erklärung des Staates aus dem Markt a) Vorkapitalistische Märkte und Recht Die kapitalistische Gesellschaft sei „vor allem eine Gesellschaft der Warenbesitzer“44 , weshalb die Rechtsform das adäquate Medium ihrer Organisation und Stabilisierung sei. Paschukanis erklärt, dass „die Rechtsform in ihrer entfalteten Gestalt eben bürgerlich-kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnissen entspricht“45. Sobald der gesellschaftliche Austausch, die Verbindung zwischen den Produktionseinheiten nicht mehr in Warenform stattfinde und 42 Zu Formen moderner „Subjektivierungsregime“ vgl. Buckel, Subjektivierung und Kohäsion, S. 217 ff. 43 Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, S. 149 f. 44 Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, S. 109. 45 Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, S. 107. 27 der Äquivalententausch durch die Bedürfnisbefriedigung ersetzt wird, bedeute dies das „allmähliche Absterben der Rechtsform überhaupt“46. Das Absterben der Rechtsform ist die Perspektive, die Paschukanis für die Sowjetgesellschaft sieht. Mit dieser These argumentierte er gegen Stalins Vorgabe, ein sozialistisches Rechtssystem zu schaffen, was ihn am Ende das Leben kostete. Die Analyse bleibt auch außerhalb dieses Kontextes relevant für politische, rechtliche Strategien oder deren Bewertung innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft.47 Prüfen wir also, ob Paschukanis Prämissen stimmen. Die bekannteste Kritik hat wohl zuerst Karl Korsch formuliert, der Paschukanis eine „für einen ‘Marxisten’ äußerst merkwürdige Überschätzung der ‘Zirkulation’“ vorwirft48. Diese Kritik ist vielfältig wiederholt worden. Ausgangspunkt einer materialistischen Analyse des Rechts müsse vielmehr die Produktionssphäre sein49. Dies soll an dieser Stelle aber nicht nur wegen des offensichtlichen Dogmatismus eines solchen Einwandes nur kurz erwähnt werden. Sinnvollerweise kann man eine Produktionsweise nicht in verschiedene Sphären aufteilen, die zusammenhangslos existieren, wobei dann der ein oder anderen ein Vorrang eingeräumt wird50. Der Warenaustausch als Ausgangspunkt der „Formanalyse“ des Rechts bleibt aber dennoch problematisch. Auch wenn man mit Polanyi davon ausgeht, dass Märkte keineswegs selbst entstehen, d.h. naturwüchsig sind, weil der Mensch gleichsam ein zoon allázon, ein tauschendes Wesen ist51, so ist der marktförmige Warenaustausch historisch kein Spezifikum des Kapitalismus. Umgekehrt entwickelt sich auch die Rechtsform nicht erst mit der bürgerlichen Gesellschaft, sondern hat ihren ersten kulturellen Höhepunkt – jedenfalls in Europa – im römischen Recht, insbesondere im Corpus Iuris Civilis (529 n.u.Z.) des oströmischen Kaiser Justinians. Die antike römische Gesellschaft hatte ebenso ein entwickeltes Recht wie eine entwickelte Warenwirtschaft und verbunden damit ein entwickeltes Münzwesen. Die Garantie des Münzwertes oder allgemeiner, des Zahlungsmittels ist zwingende Voraussetzung dafür, dass dieses als allgemeines Äquivalent von den Marktteilnehmern akzeptiert wird. Wichtiger 46 Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, S. 135. 47 Dazu Buckel, Subjektivierung und Kohäsion, S. 261 ff; Kannankulam, Autoritärer Etatismus und Neoliberalismus, S. 107 ff. 48 Korsch, Rezension zu Eugen Paschukanis: Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, in: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung 1930, S.8. 49 Vgl. zusammenfassend: Buckel, Subjektivierung und Kohäsion, S. 101 ff. 50 Kannankulam, Autoritärer Etatismus und Neoliberalismus, S. 49 f. 51 Polanyi, The Great Transformation, S. 75. 28 noch als die rechtsförmige Garantie der Verträge erscheint für den entwickelten Markt die Garantie des Geldwertes, der eine öffentliche, vom Marktteilnehmer geschiedene Institution, i.d.R. einen Staat voraussetzt52 . Nebenbei bemerkt: Die Garantie des Geldes als allgemeines Äquivalent ist mindestens ein Element, das der Argumentation Paschukanis hinzugefügt werden muss, dann aber die Gewichtung verschiebt. Zurück zum römischen Recht: Die Existenz eines entwickelten Rechtssystems und einer entwickelten antiken Warenwirtschaft deuten darauf hin, dass die Rechtsform historisch nicht die Differentia specifica der bürgerlichen Gesellschaft ist, sondern sich – wie Paschukanis zunächst auch feststellt – mit dem Warenverkehr insbesondere unter Fremden entwickelt. Nun ließe sich dagegen einwenden, es sei ein Fehlschluss zu glauben, mit Paschukanis die historische Genese des Rechts und des Staates begründet zu haben. „Historische Prozesse und theoretische Rekonstruktion sind grundsätzlich nicht in eins zu setzen“53. Paschukanis Analyse könne im Sinne von Lipietz als „Funktionalismus ex post“ verstanden werden; rückblickend ließen sich, so wird argumentiert, systematische Zusammenhänge identifizieren und rekonstruieren54. Aber die Argumentation wird schwierig, wenn die historischen Fakten zu einem anderen Ergebnis führen. In der Funktionsanalyse ex post könnte dann ein Fehler aufgetreten sein. b) Recht ohne Markt Ohne hier schon intensiv in die Rechtsgeschichte einsteigen zu wollen, lässt sich doch festhalten, dass im frühen Mittelalter mit dem überörtlichen Warenaustausch auch das gesetzte Recht an Bedeutung einbüßte, als einheitliches Reichsrecht verschwand, zersplitterte und durch lokale, uneinheitliche Entscheidungen ersetzt wurde55. Die ersten „neuen“ deutschen Rechtsbücher des Hochmittealters wie etwa der Sachsenspiegel (1235) kodifizierten überlieferte Rechtspraxis wobei es zunächst nicht um den Warenaustausch, sondern um Landrecht, das Grundstücksangelegenheiten, Erbschaftssachen, den Ehestand, die Güterverteilung und Nachbarschaftsangelegenheiten ging und das Lehnsrecht 52 Mommsen, Geschichte des römischen Münzwesens, S. 308 ff. 53 Kannankulam, Autoritärer Etatismus und Neoliberalismus, S. 37 54 Lipietz, Vom Althusserismus zur „Theorie der Regulation“, in: Demirović/Krebs/ Sablowski (Hg.): Hegemonie und Staat, Kapitalistische Regulation als Projekt und Prozess, S. 46. 55 Eisenhardt, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 42 ff. 29 geregelt wurde. Gleichzeitig entwickelten sich auch strafrechtliche Regeln oder anders: sie wurden von der individuellen Vergeltung und Verfolgung umgestellt auf einen staatlichen Anspruch. Das heißt dann aber doch wohl, dass der Warentausch erstens nicht am Anfang der Rechtsentwicklung stand und weiteres Recht aus ihm abgeleitet wurde. Zweitens sind auch diese Rechtsregeln vorkapitalistisch – es sind wesentlich Regeln zum Eigentum, aber eben zum vorkapitalistischen Eigentum. Erst um das Jahr 1400 begannen in Deutschland die ersten Rezeptionen des römischen Rechts, wobei die Städte, typischerweise die Handelsplätze, führend waren56. Die Rezeption des römischen Rechts, vor allem des Corpus Iuris Civilis, beeinflusste noch zentral die Entstehung des deutschen BGB, das 1900 verabschiedet wurde. c) Die Besonderung des Staates wird nicht erklärt Dieser kurze Blick auf die historische Entwicklung macht das Problem in Paschukanis Argumentation deutlich. Er charakterisiert den Kapitalismus über die Warenwirtschaft. Genauer: er argumentiert, die Rechtsform entspreche der Warenwirtschaft und folgert dann, deshalb sei sie das typische Organisationsmedium der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, und nur dieser Gesellschaft. Das kann man anders sehen: „Warenproduktion und Warenzirkulation sind aber Phänomene, die den verschiedensten Produktionsweisen angehören, wenn auch in verschiedenem Umfang und Tragweite. Man weiß also noch nichts von der Differentia specifica dieser Produktionsweisen und kann sie daher nicht beurteilen, wenn man nur die ihnen gemeinschaftlichen, abstrakten Kategorien der Warenzirkulation kennt“57. Der Markt, lässt sich folgern, ist zwar ein wichtiges Element der kapitalistischen Produktionsweise, „aber er ist mit historisch unterschiedlichen Produktionsweisen durchaus kompatibel“58 . Die Selbstverwertung des Wertes als typisches Merkmal der kapitalistischen Ökonomie setzt den Markt voraus, aber umgekehrt ist nicht jeder marktförmige Warenaustausch als kapitalistische Ökonomie zu charakterisieren. Der Warentausch erreicht im Vergleich zu historisch vorangehenden Epochen in der bürgerlichen Gesellschaft allerdings einen anderen, größeren Umfang, was schon deshalb gilt, weil die Arbeitskraft zur Ware wird und die Arbeitskraftver56 Ebel/Thielmann, Rechtsgeschichte, S.210. 57 Marx, Das Kapital I, MEW Bd. 23, S. 128. 58 Bischoff/Lieber, Vom unproduktiven Kapitalismus zur sozialistischen Marktwirtschaft, in: Sozialismus 7-8/2011, S. 43. 30 käufer – im Unterschied zu Sklaven oder Leibeigenen – ihre Haut als Rechtssubjekte zu Markte tragen müssen. Und sicher hat die Quantität des Rechts in der bürgerlichen Gesellschaft ein historisch bisher ungekanntes Ausmaß erreicht. Möglicherweise ist ein Umschlag von der Quantität in eine andere Qualität des Rechts zu erkennen; das Vertragsrecht beherrscht die bürgerliche Gesellschaft. Das ist unten zu diskutieren. Aber Kaufverträge und rechtliche Regulierungen dieser Verträge gibt es vor der bürgerlichen Gesellschaft. So kann das Marktgeschehen möglicherweise einen spezifischen Bedarf an rechtlicher Regulierung erklären, nicht aber die Trennung von Politik und Ökonomie – auch das wird noch genauer zu diskutieren sein. Am Ende muss festgestellt werden dass Paschukanis seine selbst gestellte Frage nicht beantwortet. Er gibt eine Antwort auf folgende Frage: „Warum organisieren sich Waren produzierende Gesellschaften oder Marktgesellschaften über den Staat und mittels des Rechts?“ Er gibt aber keine Antwort auf die Frage, warum in der kapitalistischen Ökonomie sich der Staat von der Gesellschaft besondert, die politische von der ökonomischen Macht formal und regelmäßig personal getrennt wird. Die Überwachung der Marktregeln könnte eben auch ein „Ausschuss, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisieklasse verwaltet“,59 übernehmen. Das war in hochmittelalterlichen Stadtstaaten durchaus der Fall: die Patrizier, die führenden Kaufleute der Stadt, stellten auch den Senat und bildeten die Bürgerschaft. Aber die zitierte Formulierung im kommunistischen Manifest trifft eben nicht für den entwickelten bürgerlichen Staat zu. Weder hat der Vorsitzende der Deutschen Bank, der von Siemens oder von Mercedes, qua Funktion einen Sitz im Deutschen Bundestag, noch sitzen diese Personen tatsächlich in der Regierung 60 – das meint es konkret, wenn eine funktional formale und eine personale Trennung von staatlicher und ökonomischer Macht konstatiert wird. Diese Trennung wird nicht ausreichend damit erklärt, dass Marktregeln von einem neutralen Dritten überwacht werden müssen. Das könnte allenfalls erklären, warum die Rechtsprechung von der Gesetzgebung besondert wird, warum legislative und juridische Funktionen sich trennen, nicht aber, warum die Regierung und Gesetzgebung von der ökonomisch-sozialen Macht getrennt wird. Man muss sich also, um Paschukanis Frage zu beantworten, möglicherweise auf die Suche nach den Differentia specifica der bürgerliche Ökonomie machen, die 59 Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEaW I, S. 418. 60 Figuren wie Berlusconi sind zunächst eine Ausnahme, wobei sich darüber diskutieren lässt, ob es nicht einen Trend zur Aufhebung der klassischen Trennung gibt. 31 möglicherweise auch die Besonderung und das Besondere des bürgerlichen Staates im Vergleich mit anderen Formen der politischen Organisation erklären können. 3. Ergebnisse In der bürgerlichen Gesellschaft trennen sich die politische von der ökonomischen/sozialen Macht. Die politischen Eliten setzen sich nicht „automatisch“ aus den ökonomischen Eliten zusammen. Marx nennt dies in Anknüpfung an Hegel „Besonderung des Staates“ von der Gesellschaft. Diese Besonderung ist eine Differentia specifica der bürgerlichen Gesellschaft oder des Kapitalismus. Daraus ergibt sich die Frage: Warum üben die ökonomischen Eliten der bürgerlichen Gesellschaft die politische Macht und Gewalt nicht selbst aus? Paschukanis Antwort auf die Frage lautete: Kapitalismus ist Warenwirtschaft. Der Austausch der Waren über den Markt braucht Regeln. Diese können nicht von den Geschäftspartnern, sondern müssen von einem „neutralen Dritten“ überwacht werden. Die Funktion übernimmt der Staat. Aber: Der Markt und das Recht sind älter als der Kapitalismus. Die Warenwirtschaft kann die Existenz von rechtlichen Regeln als Marktregeln erklären und die Schaffung von Organen zu ihrer Überwachung, also Organen des Staates. Aus der Existenz von Warenproduktion folgt aber nicht die Besonderung der politischen von der ökonomischen/sozialen Macht. Die Rechtsform ist kein Spezifikum des Kapitalismus, ebenso wenig wie der Staat oder die Staatsform. 32 B. Differentia specifica der bürgerlichen Gesellschaft und das Recht In der deutschen Ideologie der Gegenwart wird das herrschende ökonomische und gesellschaftliche System als Marktwirtschaft bezeichnet, um den Begriff Kapitalismus nicht zu verwenden, der – zu Recht – eine pejorative Konnotation hat. Wenn die Ideologie kenntlich gemacht wird, spricht man von „sozialer Marktwirtschaft“. Spräche man vom „sozialen Kapitalismus“ wäre die contradictio in adjecto offenkundig. Mit dem Markt ist aber, wie gesehen, das Spezifische dieser Wirtschaftsweise gar nicht erfasst. Den Austausch von Gütern oder Waren über einen Markt gab es auch in historisch vergangenen Gesellschaften, die eben nicht kapitalistisch waren und möglicherweise wird es diese Form des Austausches auch in zukünftigen postkapitalistischen Gesellschaften geben. Wenn man vom Spezifikum der kapitalistischen Wirtschaft und Gesellschaft spricht, muss man sich darüber bewusst sein, dass es weder die eine kapitalistische Ökonomie gibt und auch nicht die eine politische Organisationsform innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft. Neben dem freien Lohnarbeiter und der Vertragsfreiheit findet man auch im entwickelten Kapitalismus immer wieder Formen der Sklaverei oder Zwangsarbeit – und dies nicht nur im Bereich der sexuellen Prostitution, sondern durchaus auch in der Produktion. Und man findet faktische Machtverhältnisse, welche die Ideologie von der Vertragsfreiheit als solche kenntlich machen. In der kapitalistischen Ökonomie, so die Selbstbeschreibung wie auch die Beschreibung in der kritischen Theorie, herrscht die Vereinbarung und nicht die Gewalt, existieren Vertrags- und nicht Gewaltverhältnisse. Aber schon Marx sieht durchaus, dass die kapitalistische Produktionsweise keine gleichsam „reine“ Form besitzt, wenn er ein einer Stelle schreibt: „In der wirklichen Geschichte spielen bekanntlich Eroberung, Unterjochung, Raubmord, kurz Gewalt die große Rolle. In der sanften politischen Ökonomie herrschte von jeher die Idylle. Recht und ‘Arbeit’ waren von jeher die einzigen Bereicherungsmittel, natürlich mit jedesmaliger Ausnahme von ‘diesem Jahr’.“1 Und er schreibt, sich 1 Marx, Das Kapital Bd. I, S. 741 f. 33 gegen eine ökonomistische Betrachtungsweise der Gesellschaft richtend: „Dies hindert nicht, dass dieselbe ökonomische Basis – dieselbe den Hauptbedingungen nach – durch zahllose verschiedne empirische Umstände, Naturbedingungen, Racenverhältnisse, von außen wirkende geschichtliche Einflüsse usw., unendliche Variationen und Abstufungen in der Erscheinung zeigen kann, die nur durch Analyse dieser empirisch gegebenen Umstände zu begreifen sind.“2 Man bewegt sich also zwischen konstituierenden, gleichartigen Merkmalen kapitalistischer Gesellschaften, die dennoch durch weitere Bedingungen oder in ihrer Struktur selbst Unterschiede aufweisen können. Gegenwärtig wird diese doch recht offenkundige Situation und diese alte Erkenntnis als neuester Schrei und geniale Erkenntnis der Soziologie verkauft, wenn von den „Varieties of Capitalism“3 oder von der „Pfadabhängigkeit“4 politischer und ökonomischer Entwicklungen gesprochen wird. Das sind Banalitäten, aber die Betonung der Differenz kann – intendiert oder nicht – dazu führen, das Gleichartige, die Gemeinsamkeit und damit das Spezifische, das möglicherweise nur als Weberscher „Idealtypus“ existiert, aus dem Blick zu verlieren oder zu verdrängen. Wenn man also den spezifischen Bedingungen der kapitalistischen Gesellschaft nachspürt, geht es um diese idealtypischen Strukturen, die es überhaupt erst erlauben, kapitalistische von beispielsweise feudalen Gesellschaften zu unterscheiden. Dies aber nicht zu tun, indem man nur noch die Differenzen betrachtet, jedes Phänomen und jede Gesellschaft als einzigartig beschreibt, hieße wissenschaftlich abzudanken. Macht man sich auf die Suche nach Kandidaten, die das Spezifische der gegenwärtigen Wirtschaftsweise beschreiben, stößt man schnell auf die Tatsache, dass es sich um eine Konkurrenzwirtschaft handelt, was durchaus von der herrschenden Sicht auf die Wirtschaftsweise geteilt wird. Feststellen lässt sich als Besonderheit der bürgerlichen Gesellschaft auch: Die kapitalistische Wirtschaftsweise ist um die Verwertung von Wert zentriert. Vermögen wird nicht darum erworben, um es zu genießen oder zu nutzen, es wird Kapital erst dann, wenn es dazu eingesetzt wird, um sich zu vermehren, zu vergrößern. Aus Geld muss mehr Geld werden. Zu diskutieren ist weiter, inwieweit erstens die Produktion von Mehrwert und zweitens die spezifische Form der Produktion, nämlich die industrielle Produktion, für die bürgerliche Gesellschaft charakteristisch sind. 2 3 4 34 Marx, Das Kapital III, MEW 25, S. 799 f. Hall/Soskice, Varieties of Capitalism: The Institutional Foundations of Comparative Advantage, passim. Arthur, Increasing returns and path dependence in the economy, passim. I. Verwertung von Wert 1. Der Begriff Kapital a) Schatz und Kapital – Historisches Das Gewinnstreben erscheint uns heute geradezu als natürlich, als anthropologische Konstante des Menschen. Geld muss sich verzinsen, es muss „arbeiten“. Diese Vorstellung ist uns so in Fleisch und Blut übergegangen, dass Zeitgenossen ein erstauntes Gesicht machten, wenn ihnen verkündet wird, dass auch ein anderes Wirtschaften denkbar ist und bis in die Neuzeit sogar der Normalfall war. Die Umformung eines Schatzes in Kapital ist gleichsam der Betriebsunfall der Geschichte, der einmal in Gang gesetzt, sich erweitert und reproduziert. Die Verwertung von Wert, das Gewinnstreben, ist den Menschen keineswegs in die Wiege gelegt. Sie ist mit dem modernen Kapitalismus entstanden und also Ergebnis der bürgerlichen Sozialisation und keineswegs anthropologisch vorausgesetzt. Dazu ist es lehrreich, Hegels Beobachtungen zum Unterschied der Lebens- und Anschauungsweisen von bürgerlichen Industriellen auf der einen und Bauern und Adel auf der anderen Seite zu lesen. Hegel schreibt: „In unserer Zeit wird die Ökonomie auch auf reflektierende Weise wie eine Fabrik betrieben und nimmt dann einen ihrer Natürlichkeit widerstrebenden Charakter des zweiten Standes an. Indessen wird dieser erste Stand immer mehr die Weise des patriarchalischen Lebens und die substantielle Gesinnung desselben behalten. Der Mensch nimmt hier mit unmittelbarer Empfindung das Gegebene und Empfangene auf, ist Gott dafür dankbar und lebt im gläubigen Zutrauen, dass diese Güte fortdauern werde. Was er bekommt, reicht ihm hin: er braucht es auf, denn es kommt ihm wieder. Dies ist die einfache, nicht auf Erwerbung des Reichtums gerichtete Gesinnung; man kann sie auch die altadelige nennen, die, was da ist, verzehrt.“5 Bauern und Adel, das konnte Hegel gleichsam noch empirisch beobachten, war der kapitalistische Erwerbstrieb nicht zu eigen– er ist eben eine Erscheinung der Moderne, des Kapitalismus – wenn Hegel auch für seine Zeit sicher zu sehr verallgemeinert. Leo Kofler beschreibt in seiner Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft die Umwandlung von Vermögen oder Geld in Kapital folgendermaßen: „Die neue Wesenheit des Unternehmertums lässt sich am besten aus seiner veränderten Einstellung zum Profit verstehen. Während die Handelsbourgeoisie der Renaissance den Profit teils verjubelt, teils in feudalen Gütern anlegt und nur zum 5 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 203. 35 geringen Teil zur Erweiterung der Handelsgeschäfte verwendet, benützt die neu entstehende Manufakturbourgeoisie den Profit knauserig zur produktiven Anlage im Massengüter produzierenden Betrieb, d.h. sie akkumuliert ihn auf echt kapitalistische Weise.“6 Echt kapitalistisch ist für Kofler die Anlage von Geld in produzierenden Betrieben, um so das Geld zu vermehren. Kofler beschreibt die andere, eben nicht kapitalistische Einstellung: Das Vermögen wird verprasst und zur Schau gestellt. Eine Einstellung, die er noch der Handelsbourgeoisie im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit zuschreibt. Braudel exemplifiziert den Unterschied zwischen Schatz und Kapital, wenn er schreibt: „Zwar stellt Geld auf dem Land nur selten ein echtes Kapital dar. Es wird zum Grunderwerb benutzt und damit in den Sieg des sozialen Aufstiegs gestellt bzw. häufiger noch gehortet: Man denke an die Münzanhänger der mitteleuropäischen Bäuerinnen, die Kelche und Hostienschüsseln der ungarischen Dorfgoldschmiede oder die goldenen Kreuze der französischen Bäuerinnen am Vorabend der Französischen Revolution.“ 7 Der Landerwerb stand auch im antiken Rom an erster Stelle, wenn es darum ging, was mit erworbenem Reichtum anzufangen ist. Mit den Ländereien stieg nicht nur das soziale Ansehen der Person, sondern ebenso ihre politische Bedeutung. Ländereien warfen zwar auch Gewinn ab, weil dort regelmäßig etwa Landwirtschaft oder Bergbau betrieben wurde. Einem Römer wäre es jedoch nie eingefallen, den Gewinn aus diesen Tätigkeiten in Relation zum Aufwand also zum eingesetzten Kapital zu setzen, mit dem der Landbesitz erworben wurde. Das ist eine moderne Denkweise, es kennzeichnet die kapitalistische Form des Wirtschaftens. Sombart begreift den Unterschied zwischen mittelalterlich-feudaler und bürgerlich-kapitalistischer Wirtschaftsweise als Unterschied zweier Prinzipien. Im Mittelalter habe das Bedarfsdeckungsprinzip gegolten, währen im Kapitalismus das Erwerbsprinzip gilt. Für das Mittelalter ist „der Ausgangspunkt aller wirtschaftlichen Tätigkeit der Bedarf des Menschen, das heißt sein naturaler Bedarf an Gütern. Wie viel Güter er konsumiert, so viel müssen produziert werden; wie viel er ausgibt, so viel muss er einnehmen. Erst sind die Ausgaben gegeben, danach bestimmen sich die Einnahmen. Ich nenne diese Art der Wirtschaftsführung eine Ausgabenwirtschaft. Alle vorkapitalistische und vorbürgerliche Wirtschaft ist Ausgabenwirtschaft in diesem Sinne.“8 Umgekehrt, das liegt nahe, ist die kapita6 7 8 36 Kofler, Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft Bd. 1, S. 295. Braudel, Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts – Der Handel, S. 54. Sombart, Der moderne Kapitalismus, S. 31 ff. listische Ökonomie als Einnahmenwirtschaft zu charakterisieren. Das Prinzip der kapitalistischen Ökonomie beschreibt Sombart so: „Das in einer Unternehmung angelegte Kapital zu ‘verwerten’, das heißt mit einem Aufschlag (Gewinn, Profit) zu reproduzieren, ist also der Zweck der kapitalistischen Wirtschaft.“9 Wieso, lässt sich also unsere Frage präzisieren, wird der Schatz am Ende des Mittelalters zu Kapital, warum ändert sich das Grundprinzip der Ökonomie? Man könnte noch ergänzen: Warum bleibt es dabei? Warum verwandelt sich das Kapital nicht wieder zurück in Geld oder anders herum, warum ist der Eigentümer von Vermögenswerten nicht damit zufrieden, einen Schatz zu besitzen, belässt es bei seinem Reichtum, was drängt ihn, diesen weiter zu vermehren? Das wird Thema des nächsten Kapitels, „Wo kommen die Kapitalisten ursprünglich her?“, werden. b) Webers Begriff des Kapitalismus Zunächst versuchen wir aber, die zitierte historische Abgrenzung der kapitalistischen von anderen Wirtschaftsweisen zu ergänzen um zwei eher analytische Herangehensweisen. Max Weber versuchte seine Soziologie auf exakte Definitionen aufzubauen. Das kann nicht immer gelingen, aber Weber hat versucht, das charakteristische Moment des Kapitalismus auf den Begriff zu bringen. Kapitalistisch definiert Weber als eine „an Kapitalrechnung orientierte Wirtschaft.“10 Allerdings nennt er auch vormoderne Formen der Kapitalakkumulation „kapitalistisch“, also etwa Bankgeschäfte, Handel u.a., die er aber von der Ökonomie der bürgerlichen Gesellschaft dadurch unterscheidet, dass er vom „modernen Kapitalismus“ spricht. Der moderne Kapitalismus zeichnet sich für Weber durch eine Rationalisierung des Wirtschaftens oder besser eine Rationalisierung der Lebensführung aus, die in den Dienst des Erwerbs, des wirtschaftlichen Gewinns gestellt wird. Diese Rationalität kommt in der an der Kapitalrechnung orientierten Wirtschaft zum Ausdruck. Dabei definiert Weber die Kapitalrechnung wie folgt: „Dem rationalen wirtschaftlichen Erwerben ist zugehörig eine besondere Form der Geldrechnung: die Kapitalrechnung. Kapitalrechnung ist die Schätzung und Kontrolle von Erwerbschancen und -erfolgen durch Vergleichung des Geldschätzungsbetrages einerseits der sämtlichen Erwerbsgüter (in Natur oder Geld) bei Beginn und andererseits der (noch vorhandenen und neu beschafften) Erwerbsgüter bei Abschluss des einzelnen Erwerbsunternehmens oder, im Fall 9 Sombart, Der moderne Kapitalismus, S. 324. 10 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 62. 37 eines kontinuierlichen Erwerbsbetriebes: einer Rechnungsperiode, durch Anfangs- bzw. Abschluss- Bilanz. Kapital heißt die zum Zweck der Bilanzierung bei Kapitalrechnung festgestellte Geldschätzungssumme der für die Zwecke des Unternehmens verfügbaren Erwerbsmittel“11 Weber differenziert hier zunächst zwischen Geld und Kapital. Letzteres sind nur die Mittel, die für den weiteren Erwerb, also für die Vermehrung durch Formen des Wirtschaftens eingesetzt werden. Noch einmal Weber wörtlich: „Kapitalgüter (im Gegensatz zu Besitzobjekten oder Vermögensteilen) sollen alle solchen Güter heißen, über welche und solange über sie unter Orientierung an einer Kapitalrechnung verfügt wird.“12 Die Orientierung an der Kapitalrechnung meint für Weber, dass der Gewinn im Verhältnis zum eingesetzten Kapital, also der prozentuale Gewinn oder die Verzinsung des Kapitals kalkuliert und berechnet wird. Entscheidungen über den Einsatz des Kapitals, also Investitionen, werden dann danach getroffen, wo im Verhältnis zum Risiko die beste Verzinsung zu erwarten ist. Das klingt in unseren Ohren gewöhnlich. Auch Weber betont aber das historisch Neue und Besondere dieser Form des Wirtschaftens. Er schreibt: „‘Kapitalismus’ hat es auf dem Boden aller dieser Religiositäten gegeben. Eben solchen, wie es [ihn] in der okzidentalen Antike und im abendländischen Mittelalter auch gab. Aber keine Entwicklung, auch keine Ansätze einer solchen, zum modernen Kapitalismus und vor allem: keinen ‘kapitalistischen Geist’ in dem Sinn, wie er dem asketischen Protestantismus eignete. Es hieße den Tatsachen in das Gesicht schlagen, wollte man dem indischen oder chinesischen oder islamischen Kaufmann, Krämer, Handwerker, Kuli einen geringeren ‘Erwerbstrieb’ zuschreiben als etwa dem protestantischen. So ziemlich das gerade Gegenteil ist wahr: gerade die rationale ethische Bändigung der ‘Gewinnsucht’ ist das dem Puritanismus Spezifische.“13 Die Erklärung oder Rückführung des modernen Kapitalismus auf die protestantische Ethik, Webers berühmter Ansatz, ist weiter unten zu diskutieren. Hier ist zunächst festzuhalten, dass Weber die kapitalistische Ökonomie als Form des rationalen Wirtschaftens deshalb versteht, weil sie die kalkulierte Gewinnrechnung zur Grundlage des wirtschaftlichen Handelns macht. In Webers Kategorien handelt es sich um eine Form der formalen Rationalität, die er von der materialen Rationalität dadurch abgrenzt, dass letztere sich auf die Zielsetzung bezieht, also versucht wird, rational Ziele zu definieren. Mit 11 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 48. 12 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 50. 13 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 378. 38 Blick auf das Recht wäre das etwa die Gerechtigkeit, die materialen Ziele einer Ökonomie können sehr unterschiedlich sein, etwa eine ausreichende Versorgung der Bevölkerung, eine gleichmäßige Verteilung der Einkommen oder eine hohe Zufriedenheit der Menschen. Darauf kommt es für die formale Rationalität nicht an. Das Ziel ist bei formaler Rationalität vorgegeben; es ist eben die möglichst hohe Verzinsung des eingesetzten Kapitals. Die Mittel werden einer rationalen Kalkulation unterzogen. Risiko und Gewinnerwartung werden gegeneinander abgewogen, um so das Kapital möglichst effizient einzusetzen. Das ist, so Weber, die spezifische neue Denkweise des puritanischen Protestanten, mit dem der kapitalistische Geist in die Welt einzieht, sich dann aber verselbständigt – auch darauf ist zurückzukommen. c) Das Kapital Dem Weberschen kapitalistischen Geist geht um die effiziente Vermehrung des Kapitals, d.h. um die Verwertung von Wert, wie man in einer eher an Marx angelehnten Diktion sagen würde. Marx bestimmt den Begriff des Kapitals in Abgrenzung von Geld oder Schatz als sich selbst verwertender Wert: „Der Lebensprozess des Kapitals besteht nur in seiner Bewegung als sich selbst verwertender Wert.“14 Das bedeutet, dass das Geld nicht gehortet, vergraben oder unter das Kopfkissen gelegt wird, sondern es wird zu Kapital, wenn es angelegt wird, um sich zu vermehren. Wenn der „ursprünglich vorgeschossne Wert“ sich in Austauschprozessen nicht nur erhält, sondern vergrößert, d.h. „einen Mehrwert“ zusetzt, meint Marx: Der Wert „verwertet sich. Und diese Bewegung verwandelt ihn in Kapital.“15 Wird das Geld dagegen nicht wieder angelegt, fungiert es nicht als Kapital, sondern es wird zu einem Schatz. Marx schreibt: „Der Mehrwert erstarrt also zum Schatz und bildet in dieser Form latentes Geldkapital. Latent, weil es, solange es in der Geldform verharrt, nicht als Kapital wirken kann. So erscheint hier die Schatzbildung als ein innerhalb des kapitalistischen Akkumulationsprozesses einbegriffnes, ihn begleitendes, aber zugleich wesentlich von ihm unterschiednes Moment. Denn durch die Bildung von latentem Geldkapital wird der Reproduktionsprozess selbst nicht erweitert. Umgekehrt. Latentes Geldkapital wird hier gebildet, weil der 14 Marx, Das Kapital, MEW Bd. 23, S. 329. 15 Marx, Das Kapital, MEW Bd. 23, S. 165. 39 kapitalistische Produzent die Stufenleiter seiner Produktion nicht unmittelbar erweitern kann.“16 Und ganz genau so wie Weber – historisch ja eher umgekehrt: Weber argumentiert wie Marx – konstatiert Marx, dass die neue Wirtschaftsweise, vom Nutzen, dem Gebrauchswert der Dinge abstrahiert und vorrangig auf den Tauschwert abstellt. Bei Weber hieß dies formale Rationalität. Bei Marx wird der Tausch von Gütern zum Selbstzweck, weil die Verwertung des Kapitals gleichsam als Zweck vorgegeben ist. „Die Zirkulation des Geldes als Kapital ist dagegen Selbstzweck, denn die Verwertung des Werts existiert nur innerhalb dieser stets erneuerten Bewegung. Die Bewegung des Kapitals ist daher maßlos.“17 Und an anderer Stelle formuliert er explizit die unhinterfragte Zwecksetzung der Ökonomie in der bürgerlichen Gesellschaft, wenn er schreibt: „Sein Zweck ist Verwertung seines Kapitals, Produktion von Waren, die mehr Arbeit enthalten, als er zahlt, also einen Wertteil enthalten, der ihm nichts kostet und dennoch durch den Warenverkauf realisiert wird. Produktion von Mehrwert oder Plusmacherei ist das absolute Gesetz dieser Produktionsweise.“18 Marx diskutiert diese Umkehrung des eigentlichen Grundes des Wirtschaftens, dessen Sinn zunächst in der Herstellung von Gebrauchsgütern gelegen hat, als Form der Verdinglichung oder des Warenfetisch. Hier ist hervorzuheben, dass Marx eine Wandlung konstatiert, die Umstellung des Wirtschaftens auf die Verwertung von Wert, die er als etwas Neues, d.h. als Charakteristikum der bürgerlichen Gesellschaft vorstellt. Er schreibt: „Bei dem städtischen Handwerk, obgleich es wesentlich auf Austausch beruht und Schöpfung von Tauschwerten, ist der unmittelbare, der Hauptzweck dieser Produktion Subsistenz als Handwerker, als Handwerksmeister, also Gebrauchswert; nicht Bereicherung, nicht Tauschwert als Tauschwert. Die Produktion ist daher überall einer vorausgesetzten Konsumtion, die Zufuhr der Nachfrage untergeordnet und erweitert sich nur langsam.“19 Anders in der bürgerlichen Gesellschaft, wenn das Geld zu Kapital sich umformte, verselbständigt es sich, beginnt zu arbeiten und die weitere Verwertung zu fordern: „Indem der Kapitalist Geld in Waren verwandelt, die als Stoffbildner eines neuen Produkts oder als Faktoren des Arbeitsprozesses dienen, indem er ihrer toten Gegenständlichkeit lebendige Arbeitskraft einverleibt, verwandelt er 16 17 18 19 40 Marx, Das Kapital, MEW Bd. 24, S. 83. Marx, Das Kapital, MEW Bd. 23, S. 167. Marx, Das Kapital, MEW Bd. 23, S. 647. Marx, Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehen, MEW Bd. 42, S. 419. Wert, vergangne, vergegenständlichte, tote Arbeit in Kapital, sich selbst verwertenden Wert, ein beseeltes Ungeheuer, das zu ‘arbeiten’ beginnt, als hätt’ es Lieb’ im Leibe.“20 Die alte, feudale Form des Wirtschaftens und Produzierens idealisiert Marx keineswegs, Zwänge und Unfreiheit waren der feudalen Wirtschaftsweise ebenso eingeschrieben wie der bürgerlichen Gesellschaft. Die Akkumulation von Kapital als Selbstzweck mutet dennoch merkwürdig und kritikwürdig an: „So erscheint die alte Anschauung, wo der Mensch, in welcher bornierten nationalen, religiösen, politischen Bestimmung auch immer als Zweck der Produktion erscheint, sehr erhaben zu sein gegen die moderne Welt, wo die Produktion als Zweck des Menschen und der Reichtum als Zweck der Produktion erscheint.“21 Wenn es in dem Zitat heißt: „So erscheint“, lässt sich folgern, dass die Erhabenheit der alten Anschauung in gewisser Weise Maßstab für die bürgerliche Gesellschaft ist, zur Kritik des geschäftigen Treibens als Selbstzweck befähigt, gleichzeitig ist die Erhabenheit aber nur schöner Schein, weil die Unfreiheiten der feudalen Gesellschaft mit ihrer lokalen Borniertheit und infernalischen Religiosität eben auf anderem Gebiet zu finden waren. 2. Recht und Verwertung von Wert a) Vermittlung von Qualität und Quantität Wenn in der bürgerlichen Gesellschaft die Verwertung von Wert zu einem Drehund Angelpunkt des Wirtschaftens wird, entsteht logisch und folgerichtig ein Problem der Vermittlung. Die Verwertung von Wert rechnet mit Quantitäten, eben mathematisch kalkulierbaren Größen, die in einem Gegenstand bzw. einer Ware gespeichert sind. „Alle Vorgänge der Wirtschaft verlieren dadurch ihre qualitative Färbung und werden zu reinen in Geld ausdrückbaren und ausgedrückten Quantitäten.“22 Die stoffliche Reproduktion der Gesellschaft verläuft aber neben diesen quantitativen Berechnungen. Um Hunger zu stillen, kommt es nicht auf den Wert der Mahlzeit an, sondern auf ihre Qualität und allenfalls die stoffliche, aber nicht wertmäßige Quantität. Anders ausgedrückt, und das ist eine Binsenweisheit der klassischen Ökonomie: Die Produktion von Tauschwerten oder Waren braucht eine Vermittlung mit dem Konsumenten oder Käufer dieser Tauschgegenstände. Klassisch ausgedrückt: Das Angebot muss eine Nachfra20 Marx, Das Kapital, MEW Bd. 23, S. 209. 21 Marx, Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehen, MEW Bd. 42, S. 395. 22 Sombart, Der moderne Kapitalismus, S. 321. 41 ge finden. Den Käufern geht es aber – von Ausnahmen wie der Investition in Wertanlagen abgesehen – nicht um den Tauschwert der Ware, sondern um ihren Gebrauchswert, also den Nutzen, den der Gegenstand für den Käufer haben kann. Den Unterschied zwischen Gebrauchs- und Tauschwert kann man so erklären: „Der Gebrauchswert verwirklicht sich nur im Gebrauch oder der Konsumtion. Gebrauchswerte bilden den stofflichen Inhalt des Reichtums, welches immer seine gesellschaftliche Form sei. In der von uns zu betrachtenden Gesellschaftsform bilden sie zugleich die stofflichen Träger des – Tauschwerts. Der Tauschwert erscheint zunächst als das quantitative Verhältnis, die Proportion, worin sich Gebrauchswerte einer Art gegen Gebrauchswerte anderer Art austauschen, ein Verhältnis, das beständig mit Zeit und Ort wechselt. … Als Gebrauchswerte sind die Waren vor allem verschiedner Qualität, als Tauschwerte können sie nur verschiedner Quantität sein, enthalten also kein Atom Gebrauchswert.“23 Der Tauschwert ist etwas höchst Abstraktes. Er ist dem Gegenstand, der Ware, nicht anzusehen, ebenso wenig wie deren Wert, als dessen Ausdrucksweise oder Erscheinungsform der Tauschwert erscheint. Der Tauschwert einer Ware, in Geld abgeschätzt, ist ihr Preis.24 So kann der Preis der Ware weit über dem ‘Wert’ der in dem Gegenstand akkumulierten Arbeit liegen, aber eben genauso gut weit darunter oder der Gegenstand kann völlig „wertlos“ werden, also keinen Tauschwert haben, d.h. keinen Preis erzielen. Der Gebrauchswert eines Gegenstandes liegt dagegen offen zu Tage, man weiß regelmäßig, ob und wozu ein Gegenstand zu nutzen ist.25 Die Vermittlung zwischen Tausch- und Gebrauchswert übernimmt in der bürgerlichen Gesellschaft bekanntlich der Markt. Der Produzent einer Ware sucht auf einem Markt – wie real oder virtuell dieser auch sein möge – einen Käufer, der bereit ist, den Tauschwert zu realisieren, weil die Ware für ihn einen Gebrauchswert hat. Auch aus der Sicht des Produzenten reicht es deshalb nicht aus, einen Tauschwert zu produzieren, d.h. Arbeit einem sinnfreien Gegenstand zu zusetzen. Auch aus seiner Perspektive kommt es darauf an, dass sich der Tauschwert mit einem Gebrauchswert verbindet, der ein tatsächliches oder auch künstliches Bedürfnis befriedigt. Die Vermittlung über den Markt bedeutet also, dass nicht nur die Quantität, die Menge Wert, die in einem Gegenstand akkumuliert ist, Relevanz hat, sondern auch die Qualität, d.h. die real nützlichen Eigenschaften des Gegenstandes. Der Austauschprozess auf dem Markt – da ist Paschukanis 23 Marx, Das Kapital, MEW Bd. 23, S. 50 f. 24 Marx, Lohnarbeit und Kapital, MEW Bd. 6, S. 399. 25 Zugegeben: neuere Formen der Dekadenz lassen an dieser aussage Zweifel aufkommen. 42 zu folgen – bedarf der Absicherung, die das Recht übernimmt. Allerdings produziert die Warenform nicht die Rechtsform, sondern die Form des Rechts, eine bestimmte Form des Rechts, die auf den Warentausch zugeschnitten ist. Beim Tauschwert wird vom Besonderen des Gegenstandes, seinem konkreten Nutzen, abstrahiert und nur das Allgemeine, das allen Waren zu eigenist, berücksichtigt, nämlich der potenzielle Tauschwert. Die Ware und der Gegenstand selbst wird so etwas Abstraktes, seiner besonderen Eigenschaften Entledigtes, das in dieser Allgemeinheit aufeinander bezogen werden muss. Trotz oder gerade wegen dieser Abstraktion wird erwartet, dass annähernd Äquivalente, also annähernd gleiche Werte ausgetauscht werden, dass also der Betrug nicht die Regel ist. Und zweitens wird erwartet, dass die Ware mit Blick auf den Gebrauchswert die versprochenen Eigenschaften hat, also entsprechende Qualitäten besitzt, weil diese eben den Tauschwert erst hervorbringen. Nicht erwartet wird dagegen, dass die Ware für den Käufer tatsächlich einen Gebrauchswert hat. Deutsche Juristen nennen das „unbeachtlichen Motivirrtum“, wenn man eine Ware kauft, über deren Nutzen man sich irrt oder die für den individuellen Käufer nutzlos ist. Die Vermittlung von Gebrauchs- und Tauschwert übernimmt der Markt und diesen Vermittlungsprozess muss das Recht absichern. Die Abstraktion des Tauschwertes wirkt auf die Form des Rechts. Es schafft nicht die Rechtsform, die auch in früheren Gesellschaften, auch ohne Warentausch auftaucht, sondern die Form des allgemeinen abstrakten Rechtssatzes, der eben von dem Gebrauchswert des Gegenstandes abstrahiert und Übereignung, Schlechtleistungen, Mangel und Mangelfolgeschäden sowie die übrigen Kategorien des bürgerlichen Rechts ohne Ansehung des konkreten Nutzen eines Gegenstandes festlegt. Die Form des Rechts folgt der Form der Tauschwertproduktion;26 das Recht wird abstrakt generelle Norm. Im Zivilrecht wird zwar ein Gebrauchswert unterstellt, aber vom individuellen Gebrauchswert abstrahiert, so dass das Recht sich nicht auf den besonderen Gegenstand, den Gebrauchswert bezieht, sondern auf dessen abstrakte Form, die alle Waren annehmen, den Tauschwert. Eben wegen dieser abstrakten und allgemeinen Form der Ware können auch die rechtlichen Vorschriften als abstrakt, allgemeine Rechtsregeln formuliert werden. Auch dies wird in seiner Konsequenz im Kontext der Konkurrenzwirtschaft genauer zu diskutieren sein. Und klar ist: Es handelt sich nicht um ein Spezifikum der bürgerlichen Gesellschaft, sondern um ein Phänomen aller Waren produzierenden Gesellschaften. 26 Aber die Rechtsform an sich, also die Aufstellung von Regeln und Normen, der Nichtbefolgung im Zweifel sanktioniert wird, ist kein Spezifikum der bürgerlichen Gesellschaft. 43 Die Übergänge allerdings sind fließend, wie die oben zitierte Stelle zur Relation von Gebrauchs- und Tauschwert in der handwerklichen Produktion des Mittelalters zeigt. Die mittelalterlichen Handwerker, bemerkte Marx, produzieren durchaus Waren, also Tauschwerte, die aber gleichsam noch vom Gebrauchswert dominiert werden, weil die Produktion der Subsistenz des Handwerkers und die Zufuhr der Nachfrage untergeordnet bleiben. Sombart versteht dies als qualitatives Denken des Mittelalters, dem er den Vorrang quantitativer Kategorien oder Denkweisen in der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber stellt. „In der Sphäre der Wirtschaft“ konstatiert Sombart einen „gering entwickelten Sinn für das Rechnungsmäßige, für das exakte Abmessung von Größen, für die richtige Handhabung von Ziffern. Diesem Mangel an kalkulatorischem Sinn entspricht auf der anderen Seite die rein qualitative Beziehung der Wirtschaftssubjekte zu der Güterwelt. Man stellt (um in heutiger Terminologie zu sprechen) noch keine Tauschwerte her (die rein quantitativ bestimmt sind), sondern ausschließlich Gebrauchsgüter, also qualitativ unterschiedliche Dinge.“27 Sobald die Güter auf dem Markt verkauft werden, ob nun Produkte der bäuerlicher Wirtschaft oder des Handwerks, wird der Tauschwert relevant, aber das Ethos des mittelalterlichen Menschen stellte die Qualität in den Vordergrund, fragte nicht, wie viel Stück, sondern wie gut er produzieren könne – auch wenn das Produkt anschließend als Ware auf dem Markt verkauft wird. Der Vorrang des quantitativen, rechenhaften Denkens vor der Qualität, des Tauschwertes vor dem Gebrauchswert, hat zur Folge, dass eine Vermittlung zwischen Quantität und Qualität stattfinden muss, die der Markt übernimmt. Die Vermittlung ist dann aber nicht nur eine Form der Vermittlung von Waren, sondern wird ebenso zu einer Form der Vermittlung von Personen, d.h. die menschlichen Beziehungen werden umgestellt von der direkten Form der Beziehung, in der die Qualität der Person im Vordergrund steht, seinen „Wert“ ausmacht, zu einer abstrakten, vermittelten Beziehung, in der nicht die Qualität der Person, sondern abstrakte Rechtssubjekte sich gegenübertreten. Im Rechtssubjekt wird von seiner Qualität abstrahiert, das Rechtssubjekt bezieht seine Würde aus seinem Dasein als Rechtssubjekt, die individuelle Qualität tritt dahinter zurück. Das formal allgemeine Gesetz ist die Form des Rechts, die dieser Abstraktion entspricht. Das Mittelalter dachte in Qualitäten und verlieh individuelle Privilegien.28 Das 27 Sombart, Der moderne Kapitalismus, S. 36. 28 Einige Handwerker, z.B. Bäcker, erhielten das Privileg, den fürstlichen Hof zu beliefern, durften sich damit Hofbäcker nennen und waren den strengen Regeln der Zunftordnung nicht vollständig unterworfen. 44 Recht war eines der Privilegierungen bestimmter Personen. Der bürgerliche Rechtsstaat formuliert allgemeine Gesetze, vor dem alle gleich sind. Damit anerkennt er die Gleichheit der Person, die damit auch – unabhängig von ihrer sozialen Situation, ihrer ethnischer Herkunft usw. Würde beanspruchen kann, die ihr durch das gleiche Recht formal zuerkannt wird. Aber eben nur formal – die Differenz der Person geht gleichzeitig im allgemeinen Gesetz unter. Die formale Gleichheit kann reale Ungleichheit zur folge haben. Insbesondere der feministische Rechtsdiskurs hat auf dieses Problem aufmerksam gemacht und die Anerkennung der Differenz im Recht gefordert, womit aber der bürgerliche Rechtshorizont der formalen Gleichheit überschritten wird. Anzuerkennen ist in einem postbürgerlichen Diskurs, dass Personen eben nicht gleich sind, nicht die gleichen Fähigkeiten, und Bedürfnisse haben, in ihrer realen Lebenssituation nicht gleich sind. Ein weit verbreitetes Missverständnis emanzipatorischer Bewegungen besteht darin, die Gleichheit zu betonen und zu unterstellen. Tatsächlich geht es darum, Differenz anzuerkennen, aber Gleichwertigkeit in der Differenz einzufordern. Das ist wohl gemeint mit der Ansicht von Marx, dass der enge bürgerliche Rechtshorizont dann überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben kann: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.“29 Die menschlichen Beziehungen werden über das Recht vermittelt, werden zu Beziehungen von Rechtssubjekten, so dass vorrechtliche Solidarität verdrängt wird. b) Einhegung destruktiver Wirkungen Die von Qualitäten absehende Verwertung von Wert als Antriebsgrund der bürgerlichen Wirtschaftsweise bedarf weiterer Vermittlungen, die eine spezifische Funktion des Rechts und des Staates in der bürgerlichen Gesellschaft begründen. Wenn der Zweck, nämlich die Vermehrung des eingesetzten Kapitals gesetzt ist, dann können andere, qualitative Aspekte nicht in die Zielbestimmung einfließen und allenfalls als Kostenfaktor in der kapitalistischen Kalkulation der Mittel und Risiken berücksichtigt werden. Ist die Verwertung von Wert der Antriebsgrund kapitalistischen Wirtschaftens folgt die Zielbestimmung rein quantitativen Aspekten und erzeugt so ein Denken in quantitativen Kategorien. Wert oder Geld wird in nicht in Qualitäten gedacht, es wird gerechnet. „Non olet“, bemerkte schon Vespasian – Geld stinkt nicht. 29 Marx, Kritik des Gothaer Programmentwurfs, MEaW IV, S. 389. 45 Das quantitative Denken, die Rechenhaftigkeit oder Berechenbarkeit von Zweck und Mittel bezeichnete Weber als formale Rationalität, eben als rationalste Methode, um die Mittel zu bestimmen, mit denen das gegebene Ziel zu erreichen ist. Die Wahl der Mittel wird dem quantitativen Denken einverleibt, d.h. die Wahl und der Einsatz der Mittel, mit denen die größtmögliche Verzinsung von Kapital erreicht werden soll, folgen quantitativen Berechnungen, qualitative Aspekte werden regelmäßig nicht ins Kalkül gezogen. Die betriebswirtschaftliche KostenNutzen-Rechnung denkt in Quantitäten und nicht in Qualitäten. Das heißt nicht, dass die Qualität der herzustellenden Ware nicht in die Kalkulation einfließt, da von dieser wiederum abhängt, ob und wie sich der Wert der Ware realisieren lässt, indem die Ware verkauft wird, was unwahrscheinlich wird, wenn die Ware wegen mangelnder Qualität keinen oder einen geringen Gebrauchswert hat. Aber andere Qualitäten bleiben unberücksichtigt, weil und solange sie keine quantitative Dimension, d.h. in Geld umrechenbare Größe, annehmen. Dazu gehören der gesellschaftliche Schaden oder Nutzen eines Produkts ebenso wie die destruktiven Auswirkungen auf die Arbeitskraft oder die natürliche Umwelt. Der von Hegel konstatierte Widerspruch von besonderen Interessen in der bürgerlichen Gesellschaft und den allgemeinen Interessen ebendieser begegnet uns hier und wird konkrete Bedingung für die spezifische Funktion von Recht und Staat in der bürgerlichen Gesellschaft, die aber – anders als bei Hegel – ganz profan bleiben sollte, nicht etwa als „Gang Gottes in die Welt“. Schauen wir zunächst auf den potenziellen Widerspruch von individuellem Gebrauchswert und gesellschaftlichem Nutzen. Die Produktion etwa von Kinderpornografie – zugegeben ein geschmackloses Beispiel – entspricht offenbar individuellen „Bedürfnissen“, eben von Päderasten, hat für diese also einen Gebrauchswert, während für die „Allgemeinheit“ der bürgerlichen Gesellschaft solche Waren verwerflich sind und – zu Recht – als für die Gesellschaft und selbstverständlich für die Kinder schädlich bewertet werden. Interessanter wird es dann bei der Frage, ob individueller Nutzen und gesellschaftlicher Nutzen bei der Produktion von Luxuskarossen oder SUVs auseinanderfallen. Die Verwertung von Wert über den Markt lässt solche qualitativen, allgemeinen Aspekte unberücksichtigt. Ähnlich lässt sich der Widerspruch für die Vernutzung von Arbeitskraft oder natürlichen Ressourcen feststellen. Für den individuellen Kapitalisten wäre es im Sinne seiner Zielsetzung, der optimalen Verzinsung des eingesetzten Kapitals, vorteilhaft, wenn er Ressourcen der natürlichen Umwelt kostenlos nutzen kann, auch wenn dies dort zu Schäden führt, also Ökosysteme zerstört werden, Boden oder Wasser nicht mehr nutzbar sind. Natürlich kommt es einem Unternehmen 46 entgegen, wenn es Wasser sauber aus einem Fluss entnehmen, in der Produktion nutzen und ungereinigt wieder in den Fluss einleiten kann. Die Schonung der natürlichen Ressource erscheint nur als Kostenfaktor, die Qualität des Wassers bleibt in der formalen Rationalität der kapitalistischen Logik unberücksichtigt. Übrigens lässt sich hier keineswegs von einem Klassenwiderspruch reden, was nämlich voraussetzen würde, dass die herrschende Klasse ein Interesse an der Verschmutzung oder Vernutzung der natürlichen Ressourcen hat und die beherrschten Klassen ein entgegenstehendes Interesse haben. Der Widerspruch besteht zwischen dem besonderen Interesse des individuellen Kapitalisten in seiner Funktion als Kapitalist auf der einen Seite. Dieser kann z.B. als Papierfabrikant darauf angewiesen sein, Abwasser in einen Fluss einzuleiten, diesen also zu verschmutzen. Als individueller Kapitalist hat er ein Interesse daran, das Wasser zu verschmutzen. Auf der anderen Seite steht das allgemeine Interesse an sauberem Wasser bzw. allgemeiner: einer sauberen Umwelt, das klassenübergreifend formuliert werden kann, d.h. individuelle Kapitalisten jenseits ihrer Funktion einschließen kann. Der Kapitalist als Bürger, einschließlich unseres Papierfabrikanten, schwimmt möglicherweise gern im Fluss, hat also ein Interesse an sauberem Wasser und selbstverständlich sind sie auf eine qualitativ hochwertige Trinkwasserversorgung angewiesen. Herumgesprochen hat sich, dass das individuelle kapitalistische Interesse an der unbeschränkten Nutzung der eingekauften Arbeitskraft mit den allgemeinen Interessen der Kapitalistenklasse an der Reproduktion des Gesamtarbeitskörpers und den vorgeblich allgemeinen Interessen an der Rekrutierung tauglicher, gesunder Soldaten sowie den individuellen Interessen der Arbeiter, ein menschliches Dasein außerhalb der Arbeit zu führen, das sich zugleich als allgemeines Interesse der Gesellschaft beschreiben lässt, zumindest kollidieren kann. Die Verwertung von Wert als Funktionsprinzip des Kapitals führt so insgesamt zu Problemen der Vermittlung von Besonderem und Allgemeinem. Diese Aufgabe übernimmt einerseits der Markt, was allerdings zu neuen Problemen der Vermittlung führt. Vor allem aber übernehmen das Recht und der Staat diese Aufgabe der Vermittlung, die sich unter den Bedingungen vorangegangener Wirtschaftsweisen mehr oder weniger „naturwüchsig“ vollzog. Der feudale Grundbesitzer lernt schnell, dass die übermäßige Nutzung der natürlichen Ressourcen auf Dauer nachteilig ist und der antike Sklavenhalter weiß, dass er seine Sklaven ebenso pfleglich behandeln muss, wie jede andere Sache auch, will er sie weiter gebrauchen. Der freie Lohnarbeiter der bürgerlichen Gesellschaft kann aus der Sicht des individuellen – zynischen – Kapitalisten „zu Tode“ vernutzt werden, weil eben nur seine Arbeitskraft gekauft ist, nicht der Lohnarbeiter als 47 Person. Bei Sklaven und Leibeigenen stellt sich das Problem für den „Herrn“ anders, auch weil er sein Kapital nicht bei Strafe des Untergangs möglichst optimal verwerten muss. Damit sind zwei weitere Differentia specifica der bürgerlichen Wirtschaftsweise angesprochen, die nun zu diskutieren sind. Zunächst ist festzuhalten: Das Recht übernimmt in der bürgerlichen Gesellschaft eine neue Funktion, nämlich die der Vermittlung von individuellen, besonderen und kollektiven, allgemeinen Interessen, weil gesellschaftliche Beziehungen, die sich in Qualitäten äußern, in einer durch die Verwertung von Wert angetriebenen Wirtschaftsweise auseinanderfallen, sich aufspalten in vielfältige und konträre individuelle Interessen. Aspekte der Qualität und der Allgemeinheit sind in die Relation oder Nichtrelation von außen beizubringen. Diese Funktion übernimmt teilweise das Recht, was eine neue Funktion ist, die den spezifischen Bedingungen der bürgerlichen Wirtschaftsweise entspricht. c) Recht statt Solidarität Wo die Verwertung von Wert von der Antriebskraft des Wirtschaftens in die gesellschaftlichen Beziehungen ausstrahlt, verdrängt sie die Solidarität. Die Rechenhaftigkeit als Prinzip der Ökonomie kolonialisiert alle menschlichen Regungen und Beziehungen und verdrängt so die qualitativen Aspekte in den menschlichen Beziehungen und gesellschaftlichen Verhältnissen. An die Stelle realer und gelebter Freundschaft tritt am Ende die Zahl virtueller Freunde in den sog. sozialen Netzwerken des world wide web. Marx und Engels formulierten schon 1848: „Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.“30 Die Nüchternheit der ökonomischen Kalkulation ziehen sie im Jahre 1848 noch den verknöcherten Strukturen des Feudalismus, den Versprechungen der christlichen Kirchen, die mit Unterwerfung erkauft werden, und der Irrationalität der religiös-feudalen Weltanschauung vor. An die Stelle des Gehorsam predigenden Glaubens und Aberglaubens setzt die neue kapitalistische Gesellschaft die Rationalität einer kalkulierenden Ökonomie. Aber diese neue Rationalität ist ambivalent. Der Aufklärung ist eine spezifische Dialektik zu eigen, weil mit der Beseitigung der vormodernen Irrationalität 30 Marx/Engels, Manifest der kommunistischen Partei, MEW Bd. 4, S. 465. 48 durch die kühle Berechnung der ökonomischen Kalkulation die Zerstörung menschlicher Bindungen verbunden ist. Die instrumentelle Vernunft unterscheidet keine Qualitäten und unterwirft alle gesellschaftlichen Verhältnisse der berechnenden Kalkulation von Quantitäten, die sich letztlich ökonomisch ausdrücken. So verdampfen nicht nur Vorurteile, Irrationalität, Aberglaube und Unterwürfigkeit, sondern auch Solidarität und menschliche Qualität jenseits kalkulierbarer Größen. Die Verwertung von Wert als Movens kapitalistischer Ökonomie abstrahiert vom Gebrauchswert, so entwickelt sich ein Blick auf die Welt, der Qualitäten nicht mehr unterscheiden kann. Der instrumentellen Vernunft ist, wie Horkheimer und Adorno herausgearbeitet haben, die Qualität oder das Ziel einerlei. Sie verliert den Maßstab, Qualitäten und unterschiedliche Ziele bewerten zu können und spezialisiert sich stattdessen auf die Berechnung der effizientesten Mittel. Die Ökonomie ist wiederum das Vorbild. Das Ziel ist gegeben, nämlich die Gewinnmaximierung, die Mittel zu diesem Zweck müssen gefunden werden. Am Ende werden alle menschlichen Beziehungen der Berechnung unterworfen. Solidarität, wechselseitiger Respekt und die Anerkennung des Wertes der Person an sich weichen der Berechnung von Nützlichkeiten in menschlichen Beziehungen. Luhmann bringt diese Rechenhaftigkeit auf den Punkt, wenn er Liebe durch ihre Funktion, Komplexität zu reduzieren, definiert. Für die instrumentelle Vernunft wird das Subjekt zum Objekt, das bei der Verfolgung eigener Ziele und Bedürfnisse einkalkuliert werden kann. Im Kapitalismus geht die organische Solidarität verloren und muss substituiert werden, nämlich durch das Recht. Wo das Gegenüber nur als Objekt der Kalkulation erscheint und relevant wird, verliert es seine Würde. Es geht der natürliche Respekt verloren, weil das Gegenüber zum Objekt wird, zum Objekt der Ausbeutung, sexueller Neigungen oder von Gewalt(-fantasien). Das Recht muss folglich in fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften zunehmend die Rolle der organischen Solidarität übernehmen und Würde als oberstes Rechtsprinzip reklamieren, das es gegenüber der instrumentellen Vernunft zu wahren gilt und in den unterschiedlichen Rechtsnormen durchdekliniert werden muss. Das gilt nicht nur für Marktbeziehungen, sondern für alle menschlichen Beziehungen, weil die Solidarität oder Würde keineswegs nur durch zivilrechtliche, auch nicht nur durch strafrechtliche Normen substituiert wird, sondern auch etwa durch rechtliche Genehmigungserfordernisse oder familienrechtliche Regeln. Die Regeln zur Arzneimittelzulassung verhindern, dass Kranke zum Versuchsobjekt der Pharmaindustrie werden. Das Recht ersetzt – mehr schlecht als recht – die Qualität der menschlichen Beziehungen, die unter der Herrschaft des Verwertungsprinzips verloren gehen. Das heißt aber, dass die Rechtsmaterien und die 49 Anzahl der Vorschriften selbst wachsen müssen, einen Umfang erreichen, der in vorkapitalistischen Gesellschaften unbekannt war. Die Substitution von Solidarität ist kein Spezifikum der bürgerlichen Gesellschaft, aber die Dimension, in der diese notwendig wird, ist eine ihrer Besonderheiten. II. Marktförmige Konkurrenz und Produktion auf höherer Stufenleiter 1. Konkurrenz und „freie“ Marktwirtschaft a) Die herrschende Volkswirtschaftslehre Die Wirtschaftsweise der bürgerlichen Gesellschaft, der Kapitalismus wird – wie in Orwells oder Huxleys schöner neuen Welt, deren Dystopie von der Wirklichkeit längst eingeholt wurde – im offiziösen Diskurs Marktwirtschaft genannt. Offenbar existieren im Kapitalismus Märkte, auf denen Güter, Waren und Geld ausgetauscht werden. In der Begriffsbestimmung der „Bundeszentrale für politische Bildung“ wird Marktwirtschaft definiert als eine „Wirtschaftsordnung, in der Privateigentum an den Produktionsmitteln sowie die Abstimmung aller wirtschaftlichen Handlungen bei dezentraler Wirtschaftsplanung über den Markt typisch ist. Eine Marktwirtschaft besteht aus einer Vielzahl von Märkten, innerhalb derer Anbieter und Nachfrager sich gegenseitig beeinflussen.“31 Damit kratzt man aber offenbar nur an der Oberfläche der kapitalistischen Ökonomie und eine Unterscheidung einer kapitalistischen Marktordnung von mittelalterlichen Märkten ist mit dieser Definition nicht im Ansatz möglich. Der „Konrad Adenauer Stiftung“ kommt es auf eine andere Abgrenzung an, nämlich zu dem, was von der Stiftung als Sozialismus oder Planwirtschaft verstanden wird. Auf der Website des KAS heißt es: „In der Marktwirtschaft erfüllt der Wettbewerb eine Reihe wichtiger Aufgaben. Man spricht von Wettbewerbsfunktionen. Anders als in Planwirtschaften (Sozialismus) wird der Wirtschaftsprozess nicht hauptsächlich durch den Staat gesteuert, sondern unmittelbar durch die privaten Wirtschaftsteilnehmer (marktwirtschaftliche Selbststeuerung auf Grundlage wirtschaftlicher Freiheitsrechte).“32 Die Abgrenzung gelingt aber nur durch Einführung eines weiteren Elements in die Ökonomie des Marktes, 31 Bundeszentrale für politische Bildung, Marktwirtschaft freie Verkehrswirtschaft. 32 Konrad Adenauer Stiftung: http://www.kas.de/wf/de/71.10941/ (Zugriff: 28.7.2014). 50 nämlich den Wettbewerb. Oder umgekehrt: Markt und Wettbewerb gehören für die Autoren der KAS untrennbar zusammen. Die „Bundeszentrale“ definiert Wettbewerb als „die Konkurrenz der Teilnehmer auf einem Markt, vor allem der Wettkampf der Verkäufer von Erzeugnissen und Leistungen um die Gunst der Käufer. Der Wettbewerb ist das wichtigste Gestaltungselement der Marktwirtschaft. Er sorgt dafür, dass die volkswirtschaftlichen Produktionsfaktoren den bestmöglichen Verwendungen zugeführt werden und somit für die bestmögliche Güterversorgung in der Volkswirtschaft (Steuerungsfunktion). Der Wettbewerb ist weiterhin Motor für technischen Fortschritt, für neue qualitativ hochwertige Produkte und für das Bestreben der Unternehmen nach möglichst kostengünstiger Produktion (Antriebsfunktion). Der Wettbewerb bewirkt auch eine leistungsgerechte Verteilung der Gewinne, indem er dafür sorgt, dass nur solche Unternehmen dauerhaft am Markt bestehen können, die wettbewerbsfähig produzieren.“33 Es geht an dieser Stelle nicht darum, die ideologischen Momente dieser Definition herauszuarbeiten und zu kritisieren. Hier kommt es darauf an, dass nach dem herrschenden Verständnis Marktwirtschaft und Konkurrenz zusammen gedacht werden. Markt und Konkurrenzwirtschaft können zusammen auftreten, müssen es aber nicht. Weber entkoppelt die Kapitalrechnung durchaus vom Markt, genauer von den Bedingungen eines an Konkurrenz orientierten Marktes. Er schreibt: „Das Höchstmaß von Rationalität als rechnerisches Orientierungsmittel des Wirtschaftens erlangt die Geldrechnung in der Form der Kapitalrechnung, und dann unter der materialen Voraussetzung weitestgehender Marktfreiheit im Sinn der Abwesenheit sowohl oktroyierter und ökonomisch irrationaler wie voluntaristischer und ökonomisch rationaler (d.h. an Marktchancen orientierter) Monopole. Der mit diesem Zustand verknüpfte Konkurrenzkampf um Abnahme der Produkte erzeugt, insbesondre als Absatzorganisation und Reklame (im weitesten Sinn), eine Fülle von Aufwendungen, welche ohne jene Konkurrenz (also bei Planwirtschaft oder rationalen Vollmonopolen) fortfallen. Strenge Kapitalrechnung ist ferner sozial an ‘Betriebsdisziplin’ und Appropriation der sachlichen Beschaffungsmittel, also: an den Bestand eines Herrschaftsverhältnisses, gebunden.“34 „Kapitalrechnung“ kann folglich auch ohne Konkurrenz bestehen, erreicht aber für Weber unter der Bedingung von Konkurrenz das Höchstmaß an Rationalität. Weber erweitert seine Definition des Kapitalismus so unter Hand von der Kapitalrechnung um einen „freien“ Markt, auf dem 33 Bundeszentrale für politische Bildung, Wettbewerb. 34 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 58. 51 Konkurrenzkampf herrscht. Damit folgt er dem klassisch liberalen Verständnis der Nationalökonomie und preist den Konkurrenzkampf am Markt zusammen mit der Kapitalrechnung und einem betrieblichen Herrschaftsverhältnis als das „Höchstmaß an Rationalität“. An dieser Stelle könnte man die Irrationalitäten des Konkurrenzkampfes in der Marktökonomie hervorheben, wie etwa die Verschwendung von natürlichen Ressourcen, das Brachliegen von Arbeitskraft oder die Krisenhaftigkeit dieser Form des Wirtschaftens, ganz abgesehen von der Form der Krise, die mit dem Kapitalismus zur Überflusskrise wird, d.h. es entsteht ein Mangel, weil der Überschuss nicht mehr marktgängig ist. Elend und Überschuss treten nicht nur gleichzeitig auf, sie bedingen einander. Das soll hier aber nicht intensiver diskutiert werden. b) Markt ohne Konkurrenz – Historisches Weber und die herrschende Volkswirtschaftslehre stimmen darin überein, dass die Ökonomie der bürgerlichen Gesellschaft nicht ohne die Konkurrenz auf dem Markt zu bestimmen ist. Das scheint uns heute nahezu selbstverständlich, ist aber ein neues Phänomen der bürgerlichen Gesellschaft. Märkte in antiken oder feudalen Gesellschaften dienten zwar dem Austausch von Waren, der aber keineswegs den Wettbewerb oder die Konkurrenz der Produzenten zur Voraussetzung hatte. Der mittelalterliche Markt unterlag auf der Seite der handwerklichen Produkte den strengen Regeln der Zünfte, die nicht nur bestimmten konnten, wie viele Handwerksmeister es geben und wie viele Gesellen ein Meister haben durfte, sondern – damit auch – wie viele Waren er produzieren, zu welchen Preisen verkauft werden und welche Qualität die Produkte haben mussten. Zünfte regelten die Rohstoffverteilung genauso wie die Witwenversorgung. Wenn man unter diesen Bedingungen von Wettbewerb sprechen kann, dann doch in einem sehr beschränkten Sinn, der jedenfalls mit den Vorstellungen von Konkurrenz in der kapitalistischen Ökonomie wenig gemein hat. Marx beschreibt das so: „Unter den Zunftbedingungen z.B. kann bloßes Geld, das nicht selbst zünftig ist, meisterschaftlich ist, nicht die Webstühle kaufen, um auf ihnen arbeiten zu lassen; vorgeschrieben, wie viele einer bearbeiten darf etc. Kurz, das Instrument selbst ist noch so verwachsen mit der lebendigen Arbeit selbst, als deren Domäne es erscheint, dass es nicht wahrhaft zirkuliert.“35 Die Regeln sind darauf gerichtet, eine ausreichende Versorgung der Bevölkerung der Stadt und ein Auskommen der Handwerker zu garantieren. Deshalb versuchte das 35 Marx, Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehen, MEW Bd. 42, S. 412. 52 Zunftwesen „die Verwandlung des Handwerksmeisters in den Kapitalisten ... gewaltsam zu verhindern, „ indem es die „Arbeiteranzahl, die ein einzelner Meister beschäftigen durfte, auf ein sehr geringes Maximum beschränkte. Der Geld- oder Warenbesitzer verwandelt sich erst wirklich in einen Kapitalisten, wo die für die Produktion vorgeschossne Minimalsumme weit über dem mittelaltrigen Maximum steht.“36 Anders gesagt: die zünftischen Handwerksmeister produzieren Waren, die zum Teil auf den städtischen Märkten verkauft wurden, zum anderen Teil direkte Bestellungen waren. Aber die Produktion war noch am Gebrauchswert, d.h. am angenommenen Bedarf orientiert. Erst der Kapitalist produziert Waren für einen anonymen Markt und versucht dabei, seine Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen. Die Produktion für einen Markt ist also keineswegs mit der Konkurrenz der Produzenten verbunden, wie ein Blick auf die zünftischen Handwerker des Hochmittelalters zeigt. Diese produzierten für den Verkauf, aber keineswegs in – nach heutigem Verständnis – Konkurrenz. Sombart schreibt: „Vor allen Dingen: empirische Technik und langsame Bevölkerungsvermehrung sorgte in Verbindung mit der stets vorhandenen kaufkräftigen Nachfrage nach gewerblichen Erzeugnissen für große Stabilität des Absatzes und schlossen die Konkurrenz der Handwerker untereinander bis zu einem hohen Grade aus.“ Unabhängiger von den Regeln ihrer Gilden konnte das Kaufmannskapital agieren, so dass man bei Waren, die importiert werden mussten, am ehesten von einem Wettbewerb sprechen kann. Auch dabei ist zu bedenken, dass die Konkurrenz unter den Kaufleuten eher zufällig und von Zeit zu Zeit auftreten musste, nämlich wenn es ein Überangebot an Waren gab. Das aber unterscheidet die kapitalistische Ökonomie ebenfalls von vorhergehenden Produktionsweisen: ihre Krisen sind Überflusskrisen, die Menge der produzierten Waren trifft nicht auf eine ausreichende Anzahl von Käufern, so dass sich das Geld nicht verwerten lässt. Dagegen waren Krisen vordem vor allem Mangel- oder Hungerkrisen, d.h. es gab keine ausreichende Menge an Lebensmitteln. Unter solchen Bedingungen ist auch die Konkurrenz des mittelalterlichen Kaufmannskapitals eine andere als in der kapitalistischen Marktgesellschaft.37 36 Marx, Das Kapital, MEW Bd. 23, S. 326 f. 37 Dabei kommt es offensichtlich nicht darauf an, wie man Prozesse der Konzentration und Monopolisierung des Kapitals einschätzt, also ob man etwa einen Übergang vom liberalen zum Monopolkapitalismus feststellt. Tatsächliche Monopole sind ausgesprochen selten, zumindest sobald man auf den Weltmarkt abstellt. Um was es geht ist allenfalls ein gewisses Unterlaufen der Konkurrenz durch monopolistische Extraprofite, was aber die Konkurrenzsituation an sich nicht aufhebt. 53 So war der politische Konflikte des Vormärz in Deutschland, schreibt Marx, „der Kampf der alten feudal-bürokratischen mit der modernen bürgerlichen Gesellschaft, der Kampf zwischen der Gesellschaft der freien Konkurrenz und der Gesellschaft des Zunftwesens, zwischen der Gesellschaft des Grundbesitzes mit der Gesellschaft der Industrie...“38 Die „moderne, bürgerliche Gesellschaft“ ist die der „freien Konkurrenz“ und unterscheidet sich gerade darin von der feudalen Gesellschaft des Zunftwesens. Ähnliches lässt sich auch für Ökonomie der antiken europäischen Staaten oder diejenige der außereuropäischen Reiche feststellen. Sie beruhten neben der Selbstversorgung auf Auspressung der unterworfenen Gebiete und Menschen zur Versorgung des Zentrums. Konkurrenz spielte dabei keine Rolle und wurde so auch nicht für die freien Handwerke zum bestimmenden Moment des Wirtschaftens. c) Konkurrenz als Zwangsgesetz Marx und Engels beschreiben die marktförmige Konkurrenzwirtschaft nicht nur als zentrales Moment der kapitalistischen Ökonomie. Sie diskutieren auch, warum sich das Prinzip dieser Ökonomie, also die Verwertung von Wert, mittels des Konkurrenzmechanismus fortsetzt, unablässig und unabhängig vom guten Willen der handelnden Akteure perpetuiert wird – damit aber letztlich das Handeln der Akteure wiederum strukturiert. Marx formuliert: „Die Konkurrenz herrscht jedem individuellen Kapitalisten die immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise als äußere Zwangsgesetze auf.“39 Wieso lässt sich die marktförmige Konkurrenz nun als Zwangsgesetz verstehen? Die Frage scheint uns heute einerseits merkwürdig, denn wer im Wettbewerb bestehen will, das lernt man früh, muss mit den anderen mithalten können oder besser sein. Umgekehrt wird gleichzeitig der Anschein erweckt, als könnten Unternehmen mit etwas gutem Willen aus der marktförmigen Konkurrenz aussteigen und etwa Unternehmensethiken implementieren, auf Wachstum und Vergrößerung verzichten. Man nimmt in größter Naivität an, der Unternehmer könnte seinen Betrieb als „Gemeinwohlökonomie“ betreiben, wenn er nur wollte.40 Aber die Gewinnmaximierung, das Verwerten von Wert ist kein ethisches Prinzip, das willkürlich austauschbar wäre. In einer Konkurrenzwirtschaft muss 38 Marx, Verteidigungsrede vor den Kölner Geschwornen, Zum Prozeß gegen den Rheinischen Kreisausschuß der Demokraten, MEW Bd. 6, S. 252. 39 Marx, Das Kapital I, S. 622. 40 Felber, Die Gemeinwohl-Ökonomie, passim. 54 es den Akteuren gelingen, „ihr“41 Kapital zu verwerten oder sie verlieren es, d.h. das Unternehmen geht pleite und verschwindet vom Markt. Im Großen und Ganzen hängt das Geschäftsgebaren „nicht vom guten oder bösen Willen des einzelnen Kapitalisten ab. Die freie Konkurrenz macht das immanente Gesetz der kapitalistischen Produktionsweise dem einzelnen Kapitalisten gegenüber als äußerliches Zwangsgesetz geltend.“42 Um in der Konkurrenzwirtschaft bestehen zu können, muss der Kapitalist den in den Waren steckenden Tauschwert realisieren, d.h. die Ware verkaufen können. Das gelingt aber bekanntlich nur, wenn man diese Waren zu einem vergleichbaren Preis anbieten kann wie der Konkurrent. Der Tauschwert bemisst sich eben nach der durchschnittlich erforderlichen Arbeitszeit für eine Ware, nicht nach der individuell tatsächlich aufgewendeten Arbeitszeit. Das heißt: Wer länger an einem Produkt arbeitet als sein Konkurrent, kann es trotzdem nur zu dem gleichen Preis verkaufen wie der produktivere Konkurrent. Der Produktivitätsunterschied kann bis zu einem gewissen Grad durch Selbstausbeutung kompensiert werden. Diese hat aber ihre Grenzen, d.h. das weniger produktive Unternehmen kann seine Produkte nicht oder nur unter Wert verkaufen, was es über kurz oder lang in den Ruin treiben wird. Es verschwindet vom Markt. Um das zu vermeiden, kann der Kapitalist nicht einfach das einmal erreichte Produktivitätsniveau halten, er muss vielmehr seine Produktivität beständig steigern, sie mindestens den Konkurrenten anpassen. Bei Marx liest man: „Während die Konkurrenz ihn daher beständig verfolgt mit ihrem Gesetz der Produktionskosten, und jede Waffe, die er gegen seine Rivalen schmiedet, als Waffe gegen ihn selbst zurückkehrt, sucht der Kapitalist beständig die Konkurrenz zu übertölpeln, indem er rastlos neue, zwar kostspieligere, aber wohlfeiler produzierende Maschinen und Teilungen der Arbeit an die Stelle der alten einführt und nicht abwartet, bis die Konkurrenz die neuen veraltet hat. ... Stellen wir uns nun diese fieberhafte Agitation auf dem ganzen Weltmarkt zugleich vor, und es begreift sich, wie das Wachstum, die Akkumulation und Konzentration des Kapitals eine ununterbrochene, sich selbst überstürzende und auf stets riesenhafterer Stufenleiter ausgeführte Teilung der Arbeit, Anwendung neuer und Vervollkommnung alter Maschinerie im Gefolge hat.“43 Um produktivere Herstellungsmethoden durch neue Maschinen oder andere Teilung der Arbeit anzuwenden, muss das Unternehmen im Zweifel mehr Kapital 41 Manager verwerten regelmäßig nur fremdes Kapital, aber zum eigene Nutzen. 42 Marx, Das Kapital I, S. 282. 43 Marx, Lohnarbeit und Kapital, MEW Bd. 6, S. 419 f. 55 aufwenden, das seinerseits nun wieder verzinst werden muss. Die Produktion wird ausgedehnt, erreicht eine höhere Stufenleiter: „Dies ist Gesetz für die kapitalistische Produktion, gegeben durch die beständigen Revolutionen in den Produktionsmethoden selbst, die damit beständig verknüpfte Entwertung von vorhandnem Kapital, den allgemeinen Konkurrenzkampf und die Notwendigkeit, die Produktion zu verbessern und ihre Stufenleiter auszudehnen, bloß als Erhaltungsmittel und bei Strafe des Untergangs. Der Markt muss daher beständig ausgedehnt werden, so dass seine Zusammenhänge und die sie regelnden Bedingungen immer mehr die Gestalt eines von den Produzenten unabhängigen Naturgesetzes annehmen, immer unkontrollierbarer werden.“44 Wenn mit der Verwertung des Wertes die Wertmasse steigt, Kapital akkumuliert wird, gibt es zwei Möglichkeiten, den Mehrwert zu verwenden; er kann konsumiert werden, oder er wird neues Kapital, das dem Verwertungsprozess zugeführt wird. Zu Beginn der neuen, kapitalistischen Ära wurde seitens des zukünftigen Kapitalisten, also etwa des mittelalterlichen Kaufmanns Askese erzwungen; statt den frisch erworbenen Gewinn zu konsumieren, im Luxus zu verprassen, musste Kapital angespart werden. Die Akkumulation des Kapitals wurde zur „ersten Bürgerpflicht“, die den Bürgerlichen vom dem Luxus frönenden Adel unterschied.45 Aber mit fortschreitendem Prozess der Kapitalbildung und Entwicklung der kapitalistischen Ökonomie veränderte sich die Situation. Die Verwertung von Wert wird zum Selbstzweck und der Konsumverzicht nicht als solcher empfunden. Weber schreibt dazu: „Der Puritaner wollte Berufsmensch sein, – wir müssen es sein. Denn indem die Askese aus den Mönchszellen heraus in das Berufsleben übertragen wurde und die innerweltliche Sittlichkeit zu beherrschen begann, half sie an ihrem Teile mit daran, jenen mächtigen Kosmos der modernen, an die technischen und ökonomischen Voraussetzungen mechanisch-maschineller Produktion gebundenen, Wirtschaftsordnung erbauen, der heute den Lebensstil aller einzelnen, die in dies Triebwerk hineingeboren werden – nicht nur der direkt ökonomisch Erwerbstätigen –, mit überwältigendem Zwang bestimmt und vielleicht bestimmen wird, bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist.“46 Kurz: die Irrationalität der kapitalistischen Lebensweise, die für Weber die höchste Stufe der ökonomischen Rationalität darstellte, wird internalisiert, zum Habitus des modernen Menschen. 44 Marx, Das Kapital, MEW Bd. 25, S. 254 f. 45 Marx, Das Kapital, MEW Bd. 23, S. 614. 46 Weber, Religionssoziologie I, S. 203. 56 Gleichzeitig wird aber die Menge des akkumulierten Kapitals, des zur Verfügung stehenden Geldes so groß, dass der Kapitalist seinen Wohlstand zeigen kann und will, womit er den „feinen Unterschied“ markiert, der „die Unteren“ zum Nacheifern veranlasst.47 So entwickele sich „in der Hochbrust des Kapitalindividuums ein faustischer Konflikt zwischen Akkumulations- und Genusstrieb.“48 Der Kapitalist teilt „mit dem Schatzbildner den absoluten Bereicherungstrieb. Was aber bei diesem als individuelle Manie erscheint, ist beim Kapitalisten Wirkung des gesellschaftlichen Mechanismus, worin er nur ein Triebrad ist.“49 Der gesellschaftliche Mechanismus strukturiert die Persönlichkeit und wird so zum Charakter des Kapitalindividuums, das dem Bereicherungstrieb folgt. Die Produktion auf immer höherer Stufenleiter drängt schließlich über lokale, regionale und nationale Märkte und Grenzen hinaus und schafft einen kapitalistischen Weltmarkt, indem der Konkurrenzmechanismus zum allgemeinen Gesetz geworden ist. Engels schreibt: „Die große Industrie endlich und die Herstellung des Weltmarkts haben den Kampf universell gemacht und gleichzeitig ihm eine unerhörte Heftigkeit gegeben. Zwischen einzelnen Kapitalisten wie zwischen ganzen Industrien und ganzen Ländern entscheidet die Gunst der natürlichen oder geschaffenen Produktionsbedingungen über die Existenz. Der Unterliegende wird schonungslos beseitigt. Es ist der Darwinsche Kampf ums Einzeldasein, aus der Natur mit potenzierter Wut übertragen in die Gesellschaft. Der Naturstandpunkt des Tiers erscheint als Gipfelpunkt der menschlichen Entwicklung.“50 Diese Bewertung der Rationalität der kapitalistischen Produktionsweise ist konträr zu derjenigen Webers. Engels betont die Irrationalität, geradezu die Primitivität eines global gewordenen Konkurrenzkampfes. Dabei hatte die Aussage, dass der Unterlegene schonungslos beseitigt werde, geradezu prophetische Züge. Hier geht es aber nicht in erster Linie um die Rekonstruktion der Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise, das würde eine intensive Auseinandersetzung mit Krisen und Armutsphänomenen implizieren. Der oben entwickelten Fragestellung folgend ist hier nur zu untersuchen, welche Folgen und Konsequenzen diese Produktionsbedingungen für den Begriff und die Entwicklung von Recht und Staat haben. 47 48 49 50 Bourdieu, Die feinen Unterschiede, passim. Marx, Das Kapital, MEW Bd. 23, S. 620. Marx, Das Kapital, MEW Bd. 23, S. 618. Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, MEW Bd. 20, S. 254 f. 57 2. Vermittlung in der Konkurrenz: Recht und Staat a) Konkurrenz und die Trennung von Politik und Ökonomie Hat man festgestellt, dass nicht der Markt, sondern die marktvermittelte Konkurrenz ein Spezifikum der bürgerlichen Gesellschaft ist, lässt sich Paschukanis’ Argumentation wieder aufgreifen und gleichzeitig modifizieren. Der Austausch von Waren über einen Markt führt zunächst dazu, dass besondere Regeln und Normen – wo diese perpetuiert und fixiert sowie institutionell überwacht werden, sind es eben Rechtsnormen – für den Warentausch generiert werden. Dieses Handelsrecht ist aber keineswegs der Ausgangspunkt aller Rechtsentwicklung, sondern lässt sich nur als eine Antwort auf neue oder intensivere Formen der gesellschaftlichen Interaktion begreifen. In mehr oder weniger autarken auf Selbstversorgung eingerichteten ökonomischen Einheiten, also einzelnen Bauernhöfen über mittelalterliche Dörfer bis hin zu Grafschaften, war der Austausch mit der „Außenwelt“, d.h. nicht nur der Warenaustausch, durchaus beschränkt und erheischte keine eigenständigen Rechtsregeln. Gleichzeitig gab es durchaus schon Heiratsregeln und -rituale, folgte die Erbfolge mehr oder weniger klaren Regeln, genauso wie beispielsweise die Nutzung des Dorfangers oder das „Recht“, Wasser aus dem kollektiven System auf die eigenen Äcker zu leiten – auch wenn diese als Gewohnheitsrecht möglicherweise nicht schriftlich fixiert und institutionell durchgesetzt wurden. Das „Handelsrecht“, also die Marktregeln, treten neben bestehende strafrechtliche oder erb- und sonstige eigentumsrechtliche Normen. Exkurs: Das römische Reich hatte ein vergleichsweise ausgefeiltes Rechtssystem, das für die zivilrechtlichen Kodifikationen der Neuzeit eine zentrale Rolle spielte, insbesondere für die Verabschiedung des BGB im Jahre 1900 intensiv rezipiert wurde. Blutrache war in der römischen Antike unbekannt51, die Rechtsausübung also zentralisiert, was von einem vergleichsweise fortgeschrittenen Rechts- und Staatssystem zeugt. Die frühen „germanischen“ Gesetzesbücher, wie das gotische Edictum Theoderice, wohl das älteste bekannte Gesetzeswerk aus der Mitte des 5. Jahrhunderts, der westgotische Codex Euricianus, der in Spanien teilweise bis in die jüngste Vergangenheit Geltung beanspruchte bis zur Lex Ribuaria, der Rechtssammlung der rheinischen Franken, die zu Beginn des 9. Jahrhundert abgeschlossen war, stützten sich – das bezeugen schon die Namen – auf römisches Recht oder Regeln, welche die Beziehungen zwischen „Barbaren“ 51 Linke, Von der Verwandtschaft zum Staat, Die Entstehung politischer Organisationsformen in der frührömischen Geschichte, S. 84. 58 und Römern zum Gegenstand hatten. Nach den Rechtsaufzeichnungen der Frankenkönige am Anfang des 9. Jahrhunderts endet die Phase der Übernahme und Verarbeitung des „römischen“ Rechts und die schriftliche Aufzeichnung des Rechts kommt ganz zum Erliegen. Sie beginnt erst wieder im 12. Jahrhundert mit den Stadtrechtsbüchern, und den Rechtsspiegeln, in denen das neue hochmittelalterliche, regionale Recht aufgezeichnet wird – z.B. im Sachsenspiegel, wie man ahnt, das Recht in Sachsen. Diese neuen Kodifikationen sind insofern interessant, als sie anzeigen, welche Regelungen und Rechtsgebiete erfasst und folglich für die Zeitgenossen und deren Beziehungen relevant waren. Eine der ersten kodifizierten hochmittelalterlichen Rechtssätze gab der Kölner Erzbischof im Jahre 1144 der Stadt Medebach nach Konflikten mit dem Vogt der Region. Darin findet sich ein Verweis auf das Soester Stadtrecht, das also schon vorher bestanden haben muss, dessen Entstehungszeitpunkt aber nicht genau bekannt ist. Das Soester Stadtrecht hat für einen ständigen Markt eine eigene Gerichtsbarkeit und entsprechende Rechtsregeln geschaffen.52 Diese Regeln waren auf einer Kuhhaut aufgezeichnet, so trägt dieses Stadtrecht den schönen Namen Soester „alte Kuhhaut“. Dieses „Gesetzbuch“ enthielt Normen über das Gerichtswesen, es folgten Strafvorschriften und zivilrechtliche Normen, einschließlich Erbschaft, Prozessregeln und spezifische Marktregeln.53 Ein bekannteres Gesetzeswerk ist der Sachsenspiegel, der in der Zeit von 1220 bis 1235 entstanden ist. Er ist „natürlich“ umfangreicher als das Soester Stadtrecht und kodifizierte wie andere der „neuen“ deutschen Rechtsbücher des Hochmittelalters überlieferte Rechtspraxis. Inhaltlich hatte der Sachsenspiegel Landrecht, Grundstücksangelegenheiten, Erbschaftssachen, den Ehestand, die Güterverteilung, Nachbarschaftsangelegenheiten, Handelsrecht sowie das Lehnsrecht zum Gegenstand. Das Erb- und Eherecht ist neben Strafvorschriften wesentliche Regelungsmaterie dieser Rechtsbücher, wobei Anlass der Kodifikation dieser vorher als Gewohnheitsrecht bestehenden Regeln der Warenaustausch mit Fremden gewesen sein dürfte. Der Erlass von speziellen Marktregeln ist aber keineswegs mit der Trennung von politischer und ökonomischer Macht verbunden. Die feudale Ordnung wurde durch diese Rechtsbücher keineswegs aufgehoben. In den spätmittelalterlichen Städten, in denen das Kaufmannskapital florierte und mehr oder weniger große 52 Dusil, Die Soester Stadtrechtsfamilie. Mittelalterliche Quellen und neuzeitliche Historiographie, S. 78 f. 53 Dusil, Die Soester Stadtrechtsfamilie. Mittelalterliche Quellen und neuzeitliche Historiographie, S. 100 ff. 59 Märkte mit teilweise überregionaler Bedeutung oder sogar Messeplätze entstanden, übernahmen die reichen Familien auch die politische Macht. Sie stellten in den deutschen Städten die Bürgerschaft und den Senat oder Magistrat. Das heißt aber, dass zwar rechtliche Regeln geschaffen wurden, die für und gegen die Initiatoren galten und von diesen auch „gemeinschaftlich“ überwacht wurden. Ähnliches gilt dann auf einer Ebene tiefer für die Zunftregeln, die ebenfalls von den Mitgliedern der Zunft gesetzt und überwacht wurden. Abstrakter formuliert: Das Prinzip der autonomen Regelsetzung, der Selbstgesetzgebung, bei dem die Adressaten der Vorschrift an ihrer Entstehung gleichberechtigt beteiligt sind, verlangt gerade nicht die Trennung der Adressaten von den Urhebern allgemein verbindlicher Regeln. Warentausch und -produktion, die Etablierung von Märkten führt noch nicht dazu, dass die Trennung von Politik und Ökonomie stattfindet. Die Situation wird problematischer unter den Bedingungen marktförmiger Konkurrenz, was – wie erörtert – nicht zwingend zusammengedacht werden muss: Warenproduktion und -austausch über den Markt kann auch ohne Konkurrenz stattfinden. Unter den Bedingungen marktförmiger Konkurrenz muss es den Warenproduzenten und -besitzern darum gehen, einen stärkeren Einfluss ihrer Konkurrenten auf die Rechtsetzung jedenfalls insoweit zu verhindern, als durch dieses Recht ein Konkurrent Vorteile erlangen kann. Paschukanis hat an einer Stelle durchaus die Konkurrenzsituation in seine Überlegungen einbezogen, wenn er schreibt: „Das in der bürgerlich-kapitalistischen Welt herrschende Prinzip der freien Konkurrenz gestattet, wie bereits gesagt, keine Möglichkeit einer Verbindung der politischen Macht mit dem einzelnen Unternehmen.“54 Dadurch sei es notwendig geworden, dass sich die öffentliche Gewalt von den privaten Interessen trennt und diesen als neutral gegenübertritt. Regelmäßig argumentiert er aber nicht mit der Konkurrenz, sondern der Warenproduktion und dem Markt als Differentia specifica des Kapitalismus, welche zur Besonderung des Staates führe, abstrahiert also von den Konkurrenzbedingungen. Marktförmige Konkurrenz schafft allerdings ein Bedürfnis nach Vorkehrungen gegen den Einfluss der Interessen besonderer Kapitale auf allgemein verbindliche Entscheidungen. Das allgemeine muss sich von den besonderen Interessen der bürgerlichen Gesellschaft trennen. Das hatte Hegel vor Paschukanis gesehen und als Ergebnis konträrer, besonderer Interessen in der bürgerlichen Gesellschaft beschrieben. Recht wird zum Instrument, den Konkurrenzkampf auf dem Markt zu befrieden, d.h. als gewaltfreie Veranstaltung zu organisieren, weshalb sich die 54 Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, S. 147. 60 rechtsetzenden und dieses durchsetzenden Organe von den besonderen Interessen in der bürgerlichen Gesellschaft separieren. Kurz: Die politische Macht trennt sich unter Konkurrenzbedingungen funktional von der ökonomischen Macht. Politik und Ökonomie bilden unterschiedliche Sphären. b) Unterschiedliche Interessen und Gesellschaftsformation Dagegen lässt sich argumentieren, dass Interessengegensätze nicht erst mit marktförmiger Konkurrenz entstehen, dass diese vielmehr in unterschiedlichen Gesellschaftsformationen, also keineswegs erst mit der bürgerlichen Gesellschaft auftreten und mit dieser wieder verschwinden. Es ist banal: Das Ende der marktförmigen Konkurrenz läutet keineswegs den Beginn umfassender Harmonie ein. Deshalb erscheint Paschukanis Vorstellung, dass mit der Warenproduktion auch das Recht abstirbt eher abwegig. Die Rechtsform hat ihren Ursprung nicht – ausschließlich – im Markt. Zu fragen ist dann, ob nicht auch vorkapitalistische Interessenkonflikte die Trennung von ökonomischer und politischer Macht nahe gelegt haben. Die spezifische Bedeutung der Konkurrenz auf dem Markt und zwischen den entstehenden europäischen Nationalstaaten ist im nächsten Kapitel zu untersuchen. Hier ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die feudale Gesellschaft andere, spezifische Formen der „Lösung“ von Interessenkonflikten entwickelt hat – nämlich im Wesentlichen gewaltsame. Konflikte zwischen Grundherren oder Fürsten wurden – das ist bekannt – durch Gewalt in Form von Fehden oder Krieg ausgetragen. Gewalt war aber auch das probate Mittel, um den antagonistischen Konflikt zwischen Vasallen und Bauern einerseits, den Grundherren anderseits zu lösen bzw. zu unterdrücken. Daneben trat als zentraler Integrationsmechanismus die Religion, aber eben nicht Recht. Konflikte zwischen den „Untertanen“ schließlich konnten durch Entscheidung des Grundherren oder seiner Gerichtsbarkeit beendet werden. Ökonomische und politische Macht fielen zusammen und Konflikte zwischen den Herrschenden konnten letztendlich nicht auf die Gewalt eines neutralen Dritten zurückgreifen. In der bürgerlichen Gesellschaft müssen die Konflikte zwischen den ökonomisch Mächtigen wie zwischen diesen und den Arbeitern regelmäßig auf nicht gewaltsame Art gelöst werden, weil die Konkurrenzsituation permanent wird. Die marktförmige Konkurrenz verallgemeinert die Interessenkonflikte. Die Quantität der Konflikte zwischen besonderen Interessen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft schlägt um in eine andere Qualität der Beziehungen, die es nun ausschließt, die Besorgung allgemeiner Angelegenheiten einem oder mehreren Angehörigen der ökonomisch mächtigen Klasse zu übertragen. Die 61 marktförmige Konkurrenz schafft eine andere, neue Beziehung zwischen den Menschen. Die Interaktion zwischen Fremden wird permanent, weil die kapitalistische Ökonomie über Grenzen hinaustreibt, die Produktion ausweitet und neue Märkte erschließen muss. Die Interaktion wird so vom wöchentlichen Ereignis des Marktgeschehens zur alltäglichen Form der Begegnung zwischen Menschen, die in dieser Begegnung ihrer menschlichen Subjektivität weitgehend entledigt werden und in ihrer Funktion als Warenbesitzer aufeinandertreffen, wobei Arbeitskraft und Geld eben nur eine besondere Form einer Ware darstellen. Gleichzeitig wird die Konkurrenz über den Markt hinaus verallgemeinert. Sie verlässt das Feld des ökonomischen Wettbewerbs von Produzenten gleicher Waren und wird zum allgemeinen Prinzip gesellschaftlicher Interaktion, d.h. sie strukturiert die Persönlichkeit der Menschen, wird Teil des Habitus und so wiederum in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen allgemein. Die leere Hülle des subjektlosen Warenbesitzers wird angefüllt mit dem schlechten Odem des potenziellen Konkurrenten und verlässt das Marktgeschehen, wird zum allgegenwärtigen Wettbewerb. In der Folge ändert sich – wiederum über die Quantität – die Qualität des Rechts. Indem die Konkurrenz alle Lebensbereiche strukturiert und dominiert, schafft sie die Notwendigkeit, dass das Recht umfassend wird, d.h. in alle Lebensbereiche vordringt und diese reguliert. Der allgegenwärtige Wettbewerb unterminiert die menschlichen Bindungen, wirkt destruierend auf den Menschen als gesellschaftliches Wesen, so dass das Recht einspringen muss, um einen dünnen Mantel der Zivilisation um die kalkulierende Gier des bürgerlichen Individuums zu legen. Mit der bürgerlichen Gesellschaft setzt ein Schub der Verrechtlichung ein, der bis in die Gegenwart andauert und eine Dichte rechtlicher Normen geschaffen hat, die in vormodernen Gesellschaften völlig undenkbar war.55 Grob lassen sich vier Verrechtlichungsschübe unterscheiden, erstens der mit der Entwicklung zum bürgerlichen Staat verbundene, mit dem die Zeit des Absolutismus überwunden wird. Zweitens hatte die Entwicklung zum Rechtsstaat, der mit der Weimarer Republik weitgehend entfaltet war, zur Folge, dass die Beziehungen Bürger – Staat 55 Die Diskussion um die Verrechtlichung (Vgl. Voigt, Verrechtlichung, passim) hatte immer auch eine sozialromantische Seite, die an die Perspektive zivilgesellschaftlicher, assoziativer und nicht formalisierter Konfliktregelung und gesellschaftlicher Organisation anknüpft. Diese Konnotation der Debatte ist hier nicht gemeint, anzuknüpfen ist ausschließlich an die empirische Feststellung eines immens angestiegenen Umfangs an Rechtsmaterien und rechtlicher Regulierung. Die Bezeichnung Normenflut wird deshalb synonym verwendet. 62 verrechtlicht wurden. Drittens war die Herausbildung eines sozialstaatlichen Regimes mit einer deutlichen Verrechtlichung verbunden, die schließlich viertens um die Regulation der Mensch-Natur-Beziehung erweitert wurde. Jürgen Habermas spricht von einer „Kolonialisierung der Lebenswelt“56 und plädiert für einen Schutz kommunikativer Handlungszusammenhänge vor den Imperativen des Rechts. Er übersieht, dass die bürgerliche Gesellschaft die kommunikativen Handlungsfelder, die Nischen herrschaftsfreier Diskurse oder humaner Interaktion längst aufgelöst hat und in die Funktionslogik der marktförmigen Konkurrenz eingegliedert hat. Das Recht folgt gleichsam auf dem Fuß, es läuft hinterher und versucht, die gröbsten Formen destruktiver Nebeneffekte der alle Lebensbereiche strukturierenden Konkurrenz einzufangen oder auszugleichen. Verrechtlichung heißt nicht nur, dass die Menge an Rechtsvorschriften zunimmt, die reine Quantität sich ändert, auch die Qualität ändert sich: Das Recht wird vom Chronisten bestehender Verhältnisse ‘ das die in der Gesellschaft vorhandenen Regeln gleichsam sammelt und als Gewohnheitsrecht perpetuiert, zum Steuerungsinstrument, mit dem gesellschaftliche Zustände in neuer Weise reguliert und verändert werden sollen und werden.57 Das Mittelalter verstand Recht nicht als Instrument, um gesellschaftliche Beziehungen in bestimmter Weise zu regeln und möglicherweise zu verändern, also als Steuerungsinstrument, sondern eher als Teil einer gegebenen göttlichen Ordnung, die im Recht nur festgehalten wird, ihren Ausdruck findet. Thomas von Aquin etwa fordert normativ die Übereinstimmung des gesetzten menschlichen Rechts mit dem Naturrecht und dem göttlichen Recht, der Lex aeterna, unter die er Regeln fasst, die wir heute als Naturgesetze bezeichnen würden, während das Naturrecht bestehende Herrschaftsverhältnisse als natürliche proklamierte, so dass sich diese Herrschaftsordnung jeder Veränderung entzog und jeder Umsturz ausgeschlossen war. Das Recht formulierte vorhandene Verhaltensweisen, Gebräuche und Sitten und wollte diese nicht etwa neu strukturieren. Das moderne Recht versucht zu ändern, auch wo es nur bewahren will, nämlich die alten Formen der menschlichen Beziehung, wo diese in der Hitze der Konkurrenz verdampfen. Diese unterschiedliche Vorstellung vom Recht stieß in den Auseinandersetzungen um das Bürgerliche Gesetzbuch im sog. Kodifikationsstreit im Jahre 1814 aufeinander. Während die Fraktion um Savigny gegen eine Kodifizierung 56 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. II, S. 471. 57 Die intendierte Steuerung und die tatsächlichen Effekte können natürlich auseinanderfallen. Zur Frage, wie Recht steuert und wie nicht vgl.: Fisahn, Natur, Mensch Recht, passim. 63 mit dem Argument stritt, der Gesetzgeber dürfe keine neuen Normen setzen, er verfehle damit seine Aufgabe, weil das lebendige Volksrecht ausreichende Rechtsgrundlagen für den bürgerlichen Verkehr enthalte58, votierten die Modernisten um Thibaut für eine Kodifikation des Bürgerlichen Rechts auf der Grundlage des römischen Rechts59, womit dieses als Steuerungsinstrument verstanden wurde, das neben den Marktbeziehungen auch Erb- und Familienverhältnisse regelt. Das alte Recht griff bestehende Regeln auf, perpetuierte sie. Das neue Recht der bürgerlichen Gesellschaft wird zum Steuerungsinstrument, weil die Konkurrenzbeziehungen alle Poren dieser Gesellschaft durchdringen und die Verwertung von Wert als Antriebsmechanismus des Wirtschaftens in dieser Gesellschaft destruktive Nebenfolgen hat, die im allgemeinen Interesse aufgefangen werden müssen. Das Recht wandelt sich vom Instrument der Perpetuierung und Fixierung von in der Gesellschaft bestehenden Regeln zu einem Instrument der Regulierung, das die Regeln erst er-findet und als neu einführt und setzt. Indem das traditionale Recht bestehende Regeln perpetuierte, sicherte es die bestehende feudalen, traditionellen Verhältnissen, und zwar in einem doppelten Sinne. Erstens existierte die Regel in der Gesellschaft weiter und entfaltet Wirksamkeit, indem Konflikte, Kompetenzen usw. dieser Regel entsprechend entschieden oder abgegrenzt werden. Wirksamkeit entfaltet die Regel auf diese Weise auch als Lehrprogramm, das über kurz oder lang normative Erwartungshaltungen prägt und letztlich Handlungen strukturiert, was wiederum die Regeln und die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse perpetuiert. Zweitens werden die Verhältnisse auch legitimiert, indem die Regel als Recht formuliert wird, indem also die Regel ausgesprochen wird, die den bestehenden Strukturen zu Grunde liegt, weil sie so als Recht und damit als gerechtfertigt, weil legal erscheinen. In der bürgerlichen Gesellschaft entfallen diese Wirkungen des Rechts nicht, aber die bürgerliche Gesellschaft kann sich nicht mit der Perpetuierung bestehender Regeln begnügen. Beständig muss der bürgerliche Staat steuernd in die Ökonomie eingreifen, um die Voraussetzungen der marktvermittelten Konkurrenzwirtschaft aufrechtzuerhalten und den destruktiven Folgen dieser Wirtschaftsweise gegenzusteuern. So wird denn beispielsweise mittels des Kartellrechts versucht, marktförmige Konkurrenz zu schützen. Das Europarecht ist zentral um die sogenannten Grundfreiheiten gruppiert, die den freien Waren- und Kapitalverkehr erst herstellen. Nun könnte man sagen: „gegen den Nationalstaat herstellen sol58 Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, passim. 59 Thibaut, Über die Notwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts in Deutschland, passim. 64 len.“ Aber der Nationalstaat war es, der diese Bedingungen der kapitalistischen Wirtschaftsweise seinerseits erst gegen regionale Mächte durchsetzen musste. Entgegen der liberalen oder neoliberalen Annahme, das zeigt dieser Wandel des Rechts vom Instrument der Perpetuierung zu einem der Regulierung, entstehen die Bedingungen marktförmiger Konkurrenz keineswegs „naturwüchsig“. Das ist unten im Abschnitt über den Nationalstaats noch einmal genauer zu diskutieren. Die Bedingungen der kapitalistischen Ökonomie werden vom Staat durch rechtliche Regulierungen produziert und reproduziert, so dass am Ende die Regulierung die Funktionen der systemischen Perpetuierung übernimmt. Auch deshalb ändern sich traditionale, feudale Gesellschaften viel langsamer als die moderne, kapitalistische Gesellschaft. c) Formale Gleichheit – das allgemeine Gesetz Die Konkurrenzbeziehungen, die sich von der kapitalistischen Ökonomie in alle Bereiche des bürgerlichen Lebens erstrecken, produzieren zwar nicht die Rechtsform, also die Existenz von Rechtsnormen überhaupt, aber sie erheischen eine spezifische Form des Rechts, nämlich die Form des abstrakt generellen Rechtssatzes. Diese spezifische bürgerliche Form des Rechts wurde oben schon als Form einer Ökonomie diskutiert, die von Qualitäten abstrahiert und nur in Quantitäten rechnet. Das generelle Gesetz wird auch deshalb zur Form des Rechts in der bürgerlichen Gesellschaft, weil es in seiner Abstraktion von besonderen Inhalten und Qualitäten gleichsam neutral zwischen konkurrierenden Subjekten mit konkurrierenden Ansprüchen, die nun als Rechtsansprüche formuliert werden, vermitteln kann. Mit der generellen Norm, d.h. der für alle gleich geltenden Norm, wird von den Besonderheiten des Subjekts, also beispielsweise seiner sozialen Stellung abstrahiert. Es ist einerlei, ob Adel, Bürger, Bauer oder Proletarier als Vertragspartner auftreten, mit Blick etwa auf die Anforderungen an eine mangelfreie Ware werden für alle die gleichen Maßstäbe formuliert. Auch das Objekt, d.h. die Ware, der Tauschgegenstand, wird abstrakt erfasst, in seiner Quantität unabhängig von seinem spezifischen Gebrauchswert. Es ist gleichgültig, ob ich ein Grundstück an der Küste, in der Großstadt oder in den Bergen verkaufen will, das Zivilrecht formuliert die gleichen Voraussetzungen für die Übereignung unabhängig auch davon, welchen Zweck ich als Erwerber mit dem Grundstück verfolge. Das schafft gleiche Ausgangsbedingungen für Konkurrenten auf dem Markt. Weder die Qualität des Subjekts noch der spezifische Gebrauch der Ware unterscheiden die Konkurrenten unter rechtlichen Aspekten – die „Marktchancen“ sind gleich. Vor dem Gesetz kann ein Adeliger 65 keinen Vorteil aus seinem Titel ziehen, wenn er als Warenbesitzer auf dem Markt mit anderen Warenbesitzern konkurriert, weil die bürgerliche Rechtsnorm abstrakt generell formuliert ist. Das unterscheidet das Recht der bürgerlichen Gesellschaft vom Recht anderer Gesellschaftsformationen. Im Feudalismus war Recht Privilegium, das individuell verliehen wurde. Es galten besondere Regeln für jede Zunft, also unterschiedliche Regeln für die Produktion und Distribution unterschiedlicher Waren. Die kapitalistische Konkurrenzwirtschaft wäre keine solche, wenn solche Sonderrechte weiter bestünden. Konkurrenz ist zunächst ökonomisch zu verstehen als Wettbewerb um das beste Angebot, um die beste Ware. Die persönlichen Eigenschaften des einen Vertragspartners fließen in diesen Wettbewerb nur insofern ein, als Informationen ungenügend sind oder der andere Vertragspartner nach kapitalistischer Logik irrational handelt. Die feudalen Formen und Fesseln des Rechts werden durch das abstrakt generelle Gesetz durchbrochen. Engels schreibt: „Wo aber die ökonomischen Verhältnisse Freiheit und Gleichberechtigung forderten, setzte ihnen die politische Ordnung Zunftfesseln und Sonderprivilegien auf jedem Schritt entgegen. Lokalvorrechte, Differentialzölle, Ausnahmegesetze aller Art trafen im Handel nicht nur den Fremden oder Kolonialbewohner, sondern oft genug auch ganze Kategorien der eignen Staatsangehörigen; zünftige Privilegien lagerten sich überall und immer von neuem der Entwicklung der Manufaktur quer über den Weg. Nirgendwo war die Bahn frei und die Chancen für die bürgerlichen Wettläufer gleich – und doch war dies die erste und immer dringlichere Forderung.“60 Franz Neumann hat die Bedeutung des allgemeinen Gesetzes für den Konkurrenzkapitalismus scharf wie kein anderer erkannt und hervorgehoben.61 Vor der Folie von Webers Theorem der formalen Rationalisierung rekonstruiert er in „Die Herrschaft des Gesetzes“ theoriegeschichtlich von Hobbes bis Hegel, wie sich die Idee des „allgemeinen Gesetzes“ besser der „Rule of Law“ mit der bürgerlichen Gesellschaft durchsetzt, um schließlich praktisch zu werden. „Der Konkurrenzkapitalismus ist“ schreibt Neumann, „charakterisiert durch das Vorhandensein einer großen Anzahl von Wirtschaftssubjekten annähernd gleicher Stärke, die auf dem freien Markt miteinander konkurrieren“ und als gleichberechtigte Warenbesitzer ihre Waren möglichst nach dem Äquivalenzprinzip miteinander austauschen. In dieser Situation hat das Recht die Aufgabe, die Einhaltung des Äquivalenzprinzips zu garantieren. Es schafft für die Wirtschaftssubjekte eine berechenbare 60 Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, MEW Bd. 20, S. 98 61 Ausführlich: Fisahn, Eine Kritische Theorie des Rechts, passim. 66 Situation, die sie in ihre wirtschaftliche Kalkulation einbeziehen können. Kurz: das abstrakt allgemeine Gesetz schafft gleiche Regeln für den Marktprozess, der den konkurrierenden Marktteilnehmern Rechtssicherheit verschafft. „Der Staat hat in diesem System die Erfüllung der Verträge zu überwachen. Die Erwartung, dass die Vertragsverpflichtungen durchgeführt werden, muss stets berechenbar sein. Die Einlösung dieser Erwartung setzt in der Konkurrenzgesellschaft allgemeine Gesetze voraus, sie setzt voraus, dass die Rechtsnormen exakt bestimmt sind, dass sie also so formal und rational sind wie nur irgend möglich.“62 Eine Funktion des abstrakt generellen Gesetzes besteht für Neumann also darin, „den Austauschprozess kalkulierbar zu machen“63 d.h. einen kalkulierbaren Rahmen für die kapitalistische Ökonomie zu schaffen. Die Entfaltung der kapitalistischen Ökonomie, die die Freiheit des Warenmarktes, Freiheit des Arbeitsmarktes und Vertragsfreiheit zur Bedingung habe, setze die „Schaffung einer solchen Rechtsordnung, die die Erfüllung von Verträgen sichert“ durch den Staat voraus, und die „Erwartung, dass Verträge erfüllt werden, muss stets berechenbar sein.“ Solche Berechenbarkeit wird bei annähernd gleichen Wettbewerbern durch das allgemeine Gesetz geschaffen, das Rückwirkung genauso ausschließt wie individuelle Eingriffe oder Eingriffe ohne gesetzliche Grundlage. „Die freie Konkurrenz bedarf des allgemeinen Gesetzes, weil es die höchste Form der formalen Rationalität ist, zugleich muss sie auch die absolute Unterwerfung des Richters unter das Gesetz und die Gewaltenteilung verlangen.“64 Neumann versteht unter dem allgemein generellen Gesetz „eine abstrakte Regel, die keine individuellen Fälle oder individuell genannte Personen enthält, die vielmehr prospektiv erlassen ist und daher auf alle Fälle und alle Personen nur abstrakt angewandt werden kann.“65 Auf der anderen Seite ist das allgemeine Gesetz nach Neumann von Generalklauseln oder Rechtsgrundsätzen durch seine bestimmte Allgemeinheit zu unterscheiden. Generalklauseln seien, so Neumann, keine allgemeinen Gesetze, da sie keinen eindeutigen Inhalt hätten, denn eine Einigung über sittliche Grundlagen, auf die sie verweisen, sei in der gegenwärtigen Gesellschaft nicht herzustellen. So sei ein Rechtssystem, das auf Generalklauseln aufbaue, 62 Neumann, Die Herrschaft des Gesetzes, S. 301. 63 Neumann, Die Herrschaft des Gesetzes, S. 148. 64 Neumann, Der Funktionswandel des Gesetzes im Recht der bürgerlichen Gesellschaft, in: ders., Demokratischer und autoritärer Staat, S. 48. 65 Neumann, Die Herrschaft des Gesetzes, S. 46. 67 „nur eine Hülle, mit der individuelle Maßnahmen verschleiert werden.“66 Die Allgemeinheit des Gesetzes impliziere schließlich ein Rückwirkungsverbot, da rückwirkende Gesetze, indem sie bereits vorliegende Tatbestände regeln, ebenfalls individuelle Züge aufwiesen.67 Wenn nur das allgemeine Gesetz herrschen soll, führt das „automatisch zu einer spezifischen Theorie von der Stellung des Richters zum Gesetz“, er hat dann „nichts als Erkenntnisaufgaben.“68 Neumann erweitert den Blick über die Form der Norm als abstraktes Konditionalprogramm und zeigt, dass mit dieser Form bestimmte materielle Konsequenzen wie das Rückwirkungsverbot und – am Beispiel der Funktion des Richters – institutionelle Konsequenzen verbunden sind. Das abstrakt generelle Gesetz setzt die formale Gleichheit, also die Gleichheit vor dem Gesetz im Unterschied zur materialen oder sozialen Gleichheit, also der Gleichheit in den Lebensverhältnissen, voraus und die formalen Standards des Rechtsstaates, der die Staatsgewalten funktional trennt, liegen in der Konsequenz dieser Form des Rechts. Abstrakt generelle Regelungen müssen individualisiert werden, um im konkreten Fall zu steuern, d.h. die rechtliche Regelung muss administriert werden. So besteht zwischen dem Akt der Rechtsetzung und dem individuellen Vollzug eine Differenz. Rechtsetzung und Ausführung fallen auseinander, d.h. sie sind zwei unterschiedliche Akte der Rechtsarbeit, die unterschiedliche Arbeitsschritte verlangen, was es wahrscheinlich macht, dass diese getrennt werden, so dass sich Legislative und Exekutive funktional trennen. Die Exekutive setzt die abstrakt generelle Norm in einen konkret, individuellen Befehl um, den berühmten deutschen Verwaltungsakt. Da abstrakt generelle Normen sprachlich unpräzise sein müssen, lässt auch das scheinbar bestimmte Konditionalprogramm der Exekutive mehr oder weniger große Entscheidungsspielräume.69 Schon um eine einheitliche Auslegung und Anwendung des Rechtsprogramms sicherzustellen, d.h. um durch die Rechtsarbeit an der Norm annähernd gleiche Ergebnisse zu produzieren, bedarf es einer Kontrollinstanz, welche die Rechtsprechung übernommen hat. Diese ist ihrerseits 66 Neumann, Der Funktionswandel des Gesetzes im Recht der bürgerlichen Gesellschaft, in: ders., Demokratischer und autoritärer Staat, S. 38. 67 Neumann, Die Herrschaft des Gesetzes, S. 257 f; Neumann, Der Funktionswandel des Gesetzes im Recht der bürgerlichen Gesellschaft, in: ders., Demokratischer und autoritärer Staat, S. 38, 44. 68 Neumann, Der Funktionswandel des Gesetzes im Recht der bürgerlichen Gesellschaft, in: ders., Demokratischer und autoritärer Staat, S. 44 f. 69 Vgl. Fisahn, Grenzen des Konditionalsprogramms und rechtliche Steuerung, in: Université Paul Verlaine – Metz: Numéro 1, S. 71 ff. 68 in verschiedene Ebenen gegliedert, um den Konflikt zwischen der Menge der Verfahren und dem Ziel, Vereinheitlichung der Ergebnisse, lösen zu können. Nur bei annähernd gleichen Ergebnissen kann das Recht die moderne Funktion in der bürgerlichen Gesellschaft übernehmen, also Steuerungsmedium werden und das Handeln des Staates und anderer Akteure berechenbar machen. Im abstrakt generellen Rechtssatz ist also die funktionale Trennung der Gewalten angelegt. Franz Neumann hat weiter die ethische Dimension der abstrakt generellen Regelung hervorgehoben, weil sie zu berechenbaren Akteuren führt. Die gleiche Anwendung auf gleich gelagerte Fälle und die abstrakte Formulierung der Norm macht das Handeln des Staates berechenbar und schließt damit die willkürliche Anwendung von Staatsmacht und Gewalt aus. Neumann entwickelt die These, dass im positiven Recht, solange es durch seine allgemeine Form bestimmt ist, unabhängig vom Inhalt der Regelung ein Minimum an materialer Freiheit und Gleichheit garantiert wird. Ausdrücklich erweitert Neumann damit die für den Konkurrenzkapitalismus als funktionsnotwendig herausgestellte Berechenbarkeit und Kalkulierbarkeit des positiven, allgemeinen Gesetzes um eine ethische Dimension. Indem das allgemeine Gesetz, das die Gleichheit der Bürger impliziere, Voraussetzung für Eingriffe in Freiheit und Eigentum sei, garantiere es, argumentiert Neumann, zusammen mit der Unabhängigkeit der Richter „ein Minimum an persönlicher und politischer Freiheit.“ 70 Die ethische Funktion des Rechts ergibt sich für Neumann aus der Prämisse der Gleichheit vor dem Gesetz. Zwar ist so nur formale Gleichheit und deshalb nur ein Minimum an Freiheit und Sicherheit garantiert, dieses aber allen Mitgliedern der Gesellschaft. Das heißt, die Berechenbarkeit, die sich aus der Allgemeinheit des Gesetzes ergibt, hat ihre Bedeutung nicht nur für die Marktteilnehmer, für den Bourgeois, sondern auch für den politischen Bürger, den Citoyen. Die Reaktionen der staatlichen Macht sind erstens kalkulierbar und zweitens ist die staatliche Macht begrenzt. Die staatliche Repression gegenüber den subalternen Klassen ist durch das allgemeine Gesetz begrenzt und berechenbar. Damit ist Freiheit nicht im Sinne grundrechtlich gesicherter Rechte gewährleistet, aber eben ein Minimum an Freiheit, weil sich auch die subalternen Klassen in einem berechenbaren und geschützten Raum bewegen können. Neumann diskutiert die ethische Dimension des allgemeinen Gesetzes vor der Folie der NS-Diktatur, in der eben auch dieses Minimum zerstört worden ist. 70 Neumann, Der Funktionswandel des Gesetzes im Recht der bürgerlichen Gesellschaft, in: ders., Demokratischer und autoritärer Staat, S. 50. 69 Die ethische Dimension des Rechts würde man gegenwärtig eher als materielle Seite des Rechtsstaates diskutieren. Während das allgemein abstrakte, aber bestimmte Gesetz die formale Seite des Rechtsstaates ausmacht, wird dessen materiale Seite durch die Grundrechte gefüllt. Mittels der Grundrechte werden die staatlichen Maßnahmen nicht nur berechenbar und kalkulierbar, sondern sie garantieren auch einen Freiraum für ökonomische Unternehmungen. Allerdings dürfte dies nur zu einem kleineren Teil die Bedeutung der Grundrechte ausmachen. Diese richten sich in ihrer wichtigen Funktion gegen staatliche Eingriffe in die Freiheitssphäre der Privatperson, die erstens nicht nur auf das Eigentum zu reduzieren ist. Zweitens – und das erscheint in unserem Zusammenhang wichtiger – setzt das Grundrecht als Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe die Trennung von Politik und Ökonomie oder von Staat und bürgerlicher Gesellschaft voraus. Wenn die ökonomisch dominante Klasse die politische Herrschaft nicht selbst ausübt, sondern einer besonderten Institution, nämlich dem Staat überlässt, kann sich dieser in relativer Autonomie von den sozialen Machtstrukturen entwickeln und im Zweifel auch gegen die sozial dominante Klasse richten. Grundrechte garantieren eine autonome Sphäre zunächst des Bourgeois gegen den Staat, eine Sphäre, in der er ungestört seiner Religion und seinen Geschäften nachgehen kann. Mit dem Recht auf Eigentum, insbesondere wenn es konservativ als Institutsgarantie verstanden wird, wird gleichzeitig die privatkapitalistische Struktur der Ökonomie gewährleistet. Weil aber der bürgerliche Rechtsstaat sich über die Allgemeinheit des Rechts definiert, bleibt der Schutz der Grundrechte nicht auf die Bourgeoisie beschränkt, sondern wird zu einem allgemeinen Recht, das als auch kollektive Sphäre der subalternen Klassen schützen kann, indem die Grundrechte demokratische oder politische Rechte gewährleisten. Die materielle Dimension des Rechtsstaates, d.h. die Grundrechte, ist deshalb ausführlich im abschließenden Kapitel zur Demokratie zu diskutieren. An dieser Stelle ist zwingend darauf hinzuweisen, dass dort auch der subjektive Faktor zu diskutieren ist, ohne den die Struktur – selbstverständlich – nicht zu verstehen ist. Sie ist Ergebnis historischer Prozesse und Kämpfe, die zu Institutionen und Recht geronnen sind. In ihrer ökonomischen Dimension verstärken die Grundrechte gleichsam das allgemeine Gesetz, indem sie den staatlichen Maßnahmen, die als Eingriff in die Freiheitssphäre gedeutet werden, Schranken ziehen, womit sie berechenbarer werden. In der Form allgemeinen Gesetzes angelegt ist zunächst die funktionale Trennung der Gewalten, die ihrerseits ebenfalls eine ethische Dimension hat, weil die Gewalt im doppelten Sinne begrenzt wird, indem Kompetenzen abgegrenzt und Kontrollsysteme in die Ausübung von Gewalt eingezogen werden. Die funk70 tionale Trennung der Gewalten muss nicht zwangsläufig zu einer Arbeitsteilung zwischen unterschiedlichen Abteilungen des Staatsapparates führen, legt diese aber nahe. Arbeitsteilung ist aber ein weiteres Moment, das die Trennung von Politik und Ökonomie erklären kann, also eine Antwort auf unsere Eingangsfrage geben kann, aber im Kontext der industriellen Arbeitsteilung zu diskutieren ist. Die Einhegung der staatlichen Gewaltanwendung ist ihrerseits – wenn nicht Voraussetzung, dann mindestens – förderlich für eine Konkurrenzwirtschaft, in der die Konkurrenten die Gewalt zumindest kalkulieren müssen und in welcher die Gewalt die Konkurrenten gleichmäßig treffen oder verschonen muss. So lässt sich eine Homologie von Konkurrenzwirtschaft und abstrakt generellem Gesetz konstatieren oder umfassender eine Homologie zwischen Wirtschaftsweise und bürokratischem Staat. Homologie meint die Übereinstimmung, das Abgestimmt-Sein, in diesem Fall von Ökonomie einerseits und Recht und Staat auf der anderen Seite. Das allgemeine Gesetz ist eine wichtige Voraussetzung dieser Abstimmung. Es sichert zunächst die Gleichheit der Marktteilnehmer, d.h. der Konkurrenten, die vor dem Gesetz formal gleich sind. Unter den Bedingungen der „Ausführung“ des Gesetzes durch eine bürokratische Verwaltung werden staatliche Maßnahmen, Handlungen, Eingriffe für die Marktsubjekte wie für den Citoyen zumindest kalkulierbar. Die marktvermittelte Produktion und Distribution in einer Konkurrenzwirtschaft braucht berechenbare Zukunftserwartungen, die in der bürgerlichen Gesellschaft über die Form des Rechts und einen bürokratisch arbeitenden Staat garantiert werden. Das wird in der offiziellen Sprache als Investitionssicherheit diskutiert, die das Kapital braucht und deren Fehlen es abhält, in korrupten, instabilen oder rechtlich unkalkulierbaren Staaten zu investieren. Dabei braucht es diese Sicherheit oder Berechenbarkeit nicht nur für den Warenaustausch, sondern auch für die Produktion: Es muss sicher sein, dass beispielsweise das Wasser eines Flusses genutzt werden kann71, die Baugenehmigung Bestand hat und die Arbeiter nicht jederzeit willkürlich verhaftet werden. Max Weber hat diese Homologie auf der Ebene der Rationalität konstatiert. Sowohl die kapitalistische Ökonomie, wie das bürgerliche Recht und der Staat folgen, so Weber, 71 Bei Juristen berühmt ist der Müller-Arnold-Fall. Friedrich II änderte ein Urteil und ließ die Richter verhaften, die es für Recht befunden hatten, dass der Gutsherr dem Müller erst eine Mühle am Wasserlauf verpachtet hatte, um dann das Wasser umzuleiten. Friedrich II gab dem Müller recht. Er hat offenbar verstanden, dass die kapitalistische Wirtschaft auf Konstanz und Berechenbarkeit angewiesen und mit adeligen Privilegien und Standesvorurteilen nicht vereinbar ist. 71 einer formal-rationalen Logik, in der die Relation von Zweck und Mittel bei gegebenem Zweck rational kalkuliert werden, der Zweck aber nicht hinterfragt wird. Vorgegebener Zweck in der Ökonomie ist die Akkumulation von Kapital, die Gewinnerzielung, während die Bürokratie ohne Ansehen der Person die Gesetze durchführen soll, ohne die Ergebnisse ihres Handelns, materialen d.h. ethisch normativen Überprüfungen zu unterziehen. Die moderne bürokratische Verwaltung handelt nach einer spezifischen Rationalität, die sich als Vollzug von Regeln ohne persönliches Interesse und ohne Absicht der Reichtumsvermehrung beschreiben lässt. Gleichzeitig wird unterstellt, dass die gesetzlichen Regeln und hierarchischen Anweisungen ein richtiges Ergebnis produzieren, das dann nicht moralisch bewertet werden soll, sondern vollzogen wird.72 Das ist ein Unterschied zur römischen oder chinesischen Verwaltung. Dort galt mehr oder weniger offiziell: „Bereichert euch durch das Amt!“ In der modernen Bürokratie ist der ökonomische Gewinn i.d.R. kein eigenes Ziel des Amtsträgers, sondern Randbedingung seiner Existenz und deshalb gesellschaftliches Gesamtziel. Diese rationale Organisation, die rationale Wahl der effektivsten Mittel bei vorgegebenen und unhinterfragten Zielen, hat Horkheimer instrumentelle Vernunft genannt.73 Diese instrumentelle Vernunft beherrscht mehr noch als die Bürokratie die Logik der Selbstverwertung von Wert, in der es eben nicht oder nur als Mittel zum Zweck um den produzierten Gebrauchswert geht, sondern um den Tauschwert, in der die Vermehrung des Reichtums unhinterfragtes Ziel und keineswegs Mittel der Ökonomie ist. Das gute Leben ist allenfalls erwünschte Nebenfolge, soweit es denn eintritt. Ökonomie und Bürokratie funktionieren am Ende nach eigenen Gesetzlichkeiten, d.h. der vorgegebene Zweck, der formal rational verfolgt wird, ist jeweils ein anderer, was die Trennung von Ökonomie und Politik zumindest begünstigen. 72 So lässt sich z.B. feststellen, dass einige Polizisten durchaus moralische Schwierigkeiten haben, eine Nazi-Demo zu schützen – aber sie machen es trotzdem, weil der bürokratische Apparat so funktioniert. 73 Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft (Frankfurt 1967), passim. 72 III. Arbeitsteilung und Lohnarbeit 1. Große Fabrik und freie Lohnarbeit Um den spezifischen Charakter der kapitalistischen Ökonomie zu erfassen, ist ein weiterer Aspekt zu betrachten, der so offensichtlich erscheint, dass er prima facie keiner Erwähnung bedarf. Im Unterschied zu den Gesellschaften der europäischen Antike und zur europäischen Feudalgesellschaft gründet in der bürgerlichen Gesellschaft die Ökonomie auf der Existenz freier Lohnarbeiter und der industriellen Produktion, die durch extreme Arbeitsteilung zu charakterisieren ist. a) Arbeitsteilung und Fabrik Schon Hegel erfasst in seiner Rechtsphilosophie die Dimension einer gesteigerten Arbeitsteilung und der Maschinisierung der Arbeit als spezifische Formen der Arbeit in der bürgerlichen Gesellschaft. Hegel schreibt: „Das Allgemeine und Objektive in der Arbeit liegt aber in der Abstraktion, welche die Spezifizierung der Mittel und Bedürfnisse bewirkt, damit ebenso die Produktion spezifiziert und die Teilung der Arbeiten hervorbringt. Das Arbeiten des Einzelnen wird durch die Teilung einfacher und hierdurch die Geschicklichkeit in seiner abstrakten Arbeit sowie die Menge seiner Produktionen größer. Zugleich vervollständigt diese Abstraktion der Geschicklichkeit und des Mittels die Abhängigkeit und die Wechselbeziehung der Menschen für die Befriedigung der übrigen Bedürfnisse zur gänzlichen Notwendigkeit. Die Abstraktion des Produzierens macht das Arbeiten ferner immer mehr mechanisch und damit am Ende fähig, dass der Mensch davon wegtreten und an seine Stelle die Maschine eintreten lassen kann.“ 74 Weber weißt darauf hin, dass auch die Antike und das Mittelalter Geschäfte gekannt habe, die auf Gewinn ausgerichtet waren, aber es fehlte eine Sparte an ökonomischen Aktivitäten, die „dem modernen Kapitalismus gerade eigentümliche: die Organisation der gewerblichen Arbeit in Hausindustrie, Manufaktur, Fabrik.“ 75 Marx und Engels hatten vorher festgestellt, dass die Produktion in der bürgerlichen Gesellschaft „die kapitalistische Form der großen Industrie“ 76 annimmt. Die „große Industrie“ entwickelt sich aus der Manufaktur und ersetzt die dortige 74 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 198. 75 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 369. 76 Marx, Das Kapital, MEW Bd. 23, S. 508. 73 arbeitsteilige, aber handwerkliche Fabrikation durch eine Erweiterung der Arbeitsteilung, welche der Arbeit schließlich den handwerklichen Charakter nimmt und die mechanisierte Produktion einführt, die von den Arbeitern bedient und beaufsichtigt wird. Der Arbeiter wird zum Anhängsel der Maschine und verliert die Kontrolle über die Produktion und das Produkt. Gleichzeitig erfordert die Arbeitsteilung eine Disziplinierung der Arbeit, damit die Prozesse aufeinander abgestimmt bleiben, was Marx und Engels in einer frühen Schrift so beschreiben: „Die moderne Industrie hat die kleine Werkstube des patriarchalischen Meisters in die große Fabrik des industriellen Kapitalisten verwandelt. Arbeitermassen, in der Fabrik zusammengedrängt, werden soldatisch organisiert. Sie werden als gemeine Industriesoldaten unter die Aufsicht einer vollständigen Hierarchie von Unteroffizieren und Offizieren gestellt. Sie sind nicht nur Knechte der Bourgeoisklasse, des Bourgeoisstaates, sie sind täglich und stündlich geknechtet von der Maschine, von dem Aufseher und vor allem von den einzelnen fabrizierenden Bourgeois selbst. Diese Despotie ist um so kleinlicher, gehässiger, erbitternder, je offener sie den Erwerb als ihren Zweck proklamiert.“ 77 Und an anderer Stelle grenzt Marx die industrielle Produktion vom feudalen Handwerk so ab: „Die Alten, die nie über eigentlich städtischen Kunstfleiß hinauskamen, konnten daher nie zur großen Industrie kommen. Ihre erste Voraussetzung ist die Hereinziehung des Landes in seiner ganzen Breite in die Produktion nicht von Gebrauchswerten, sondern von Tauschwerten. Glasfabriken, Papiermühlen, Eisenwerke etc. können nicht zünftig betrieben werden. Sie verlangen Produktion in Masse; Absatz an einem allgemeinen Markt; Geldvermögen auf Seiten des Unternehmers – nicht als ob er die Bedingungen schaffe, weder die subjektiven noch die objektiven; aber unter den alten Eigentumsverhältnissen und Produktionsverhältnissen können diese Bedingungen nicht zusammengebracht werden. – Die Auflösung der Leibeigentumsverhältnisse, wie das Aufkommen der Manufaktur, verwandeln dann nach und nach alle Arbeitszweige in vom Kapital betriebne.“ 78 Voraussetzung für die industrielle Massenproduktion ist weiter, das wird hier schon angeführt, die Beendigung der Leibeigenschaft, also die Freisetzung der Arbeitskräfte. 77 Marx/Engels, Manifest der kommunistischen Partei, MEW Bd. 4, S. 469. 78 Marx, Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehen, MEW Bd. 42, S. 418 f. 74 b) Revolutionierung der Produktionsmittel Eine weitere Voraussetzung ist selbstverständlich die Revolutionierung der Produktionsmittel, die Arbeitsteilung in der Fabrik und mit ihr die Massenproduktion erst ermöglichen. Ohne Dampfmaschine und Elektrizität keine industrielle Fertigung und ohne Eisenbahn keine Distribution der Massenproduktion. Die Revolutionierung des Transportwesens ist als Element der industriellen Revolution mitzudenken, sie macht die industrielle Produktion erst sinnvoll. So erfasst die Entwicklung der Produktionsmittel auch den Transport und die Kommunikation, die sich in der bürgerlichen Gesellschaft extrem beschleunigt haben und weiter beschleunigen. Um die Dimension der Entwicklung zu verdeutlichen, sei aus den Reisetagebüchern des antiken Römers, Teophanes, zitiert, der eine Dienstreise von Nikiu in Ägypten nach Antiochia (heute Antakya) unternahm, was ungefähr 1500 km sind. Er legte die Strecke mit einem Tagesdurchschnitt von ca. 40 Kilometern zurück, während er in der Wüste Sinai nur 24 Km schaffte, lag seine Spitzenleistung bei 100 Km pro Tag. Dabei standen dem Reisenden die kaiserlichen cursus publicus, also Stationen zum Pferdewechseln, Unterkünfte usw. zur Verfügung79. Ein Vergleich mit heutigen Geschwindigkeiten erübrigt sich, wobei allerdings zu bedenken ist, dass auch die Kommunikation die Überwindung von Strecken evtl. durch Boten voraussetzte, die zwar etwas schneller unterwegs waren, aber weit entfernt von der weltumspannenden Kommunikation in Sekundenbruchteilen. Marx vermerkt zu dieser Seite der industriellen Revolution: „Das Hauptmittel zur Verkürzung der Zirkulationszeit sind verbesserte Kommunikationen. Und hierin haben die letzten fünfzig Jahre eine Revolution gebracht, die sich nur mit der industriellen Revolution der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts vergleichen lässt. Auf dem Lande ist die makadamisierte Straße80 durch die Eisenbahn, auf der See das langsame und unregelmäßige Segelschiff durch die rasche und regelmäßige Dampferlinie in den Hintergrund gedrängt worden, und der ganze Erdball wird umspannt von Telegrafendrähten. Der Suezkanal hat Ostasien und Australien dem Dampferverkehr erst eigentlich erschlossen. Die Zirkulationszeit einer Warensendung nach Ostasien, 1847 noch mindestens zwölf Monate, ist jetzt auf ungefähr ebenso viel Wochen reduzierbar geworden.“81 79 Heather, Der Untergang des römischen Weltreichs; S. 132 f) 80 Mac Adam war der Erfinder eines Straßenbelags aus Schotter vor Einführung von Teer, Bitumen und schließlich Asphalt – danach sind die makademisierten Straßen benannt. 81 Marx, Das Kapital, MEW Bd. 25, S. 81. 75 Die Maschinerie ändert mit ihrer Quantität auch ihren Charakter, sie wird vom Werkzeug, das durch den Handwerker beherrscht wurde, zu einem Organismus, das den Arbeiter beherrscht, der die Elemente des Produktionsprozesses nicht mehr kennt, geschweige denn kontrollieren kann. Das ist bei der manufakturellen Arbeitsteilung noch anders: Die Arbeitsschritte, die vorher von einem Handwerker erbracht wurden, werden dort aufgeteilt, aber ein jeder wäre in der Lage, das Produkt allein herzustellen. In der modernen industriellen Produktion wäre das völlig unmöglich. Die moderne, maschinelle Produktion erfordert die vollständige Eingliederung des Arbeiters in den Produktionsprozess. Marx widmet der „Maschinerie und großen Industrie“ das 13. Kapitel im ersten Band des Kapitals. Seine These ist, dass die Umwälzung der Produktionsweise „in der Manufaktur die Arbeitskraft zum Ausgangspunkt (nimmt), in der großen Industrie das Arbeitsmittel.“ Deshalb will er untersuchen, „wodurch das Arbeitsmittel aus einem Werkzeug in eine Maschine verwandelt wird oder wodurch sich die Maschine vom Handwerksinstrument unterscheidet.“82 Der entscheidende Punkt, so das Ergebnis der Untersuchung, ist, dass die Einführung einer „jeder Kraftpotenz fähigen und doch zugleich ganz kontrollierbaren Bewegungsmaschine“83, also der Dampfmaschine, später der Motoren, die maschinelle Arbeit von der körperlichen Anstrengung der Arbeiter oder von Pferden usw. löste. Diese neue Kraft führte aufgrund neuer natur- und ingenieurwissenschaftlicher Kenntnisse zur Schaffung neuer Produktionsmitteln, so dass schließlich Maschinen nicht nur unmittelbare Konsumgüter, sondern neue Maschinen herstellten und von den Arbeitern, welche die Maschinen bedienen, in ihrem Gesamtzusammenhang nicht mehr beherrscht werden. Marx resümiert: „Als Maschinerie erhält das Arbeitsmittel eine materielle Existenzweise, welche Ersetzung der Menschenkraft durch Naturkräfte und erfahrungsmäßiger Routine durch bewusste Anwendung der Naturwissenschaft bedingt. In der Manufaktur ist die Gliederung des gesellschaftlichen Arbeitsprozesses rein subjektiv, Kombination von Teilarbeitern; im Maschinensystem besitzt die große Industrie einen ganz objektiven Produktionsorganismus, den der Arbeiter als fertige materielle Produktionsbedingung vorfindet. … Der kooperative Charakter des Arbeitsprozesses wird jetzt also durch die Natur des Arbeitsmittels selbst diktierte technische Notwendigkeit.“84 Die Massenproduktion setzt aufgrund ihrer maschinellen Basis Kooperation in der Arbeitsteilung und damit – das wird für unsere Betrach82 Marx, Das Kapital. MEW Bd. 23, S. 391. 83 Marx, Das Kapital. MEW Bd. 23, S. 405. 84 Marx, Das Kapital. MEW Bd. 23, S. 407. 76 tung relevant – neue Formen der Kooperation und damit der Disziplin. Diese neue Form der Arbeitsteilung funktioniert nicht unter zünftischen Bedingungen. c) Freie Lohnarbeit So ist zu berücksichtigen, dass in der industriellen Produktion das Verhältnis von „Herr und Knecht“, von Arbeiter und Kapitalisten ein anderes ist als etwa das zwischen Grundherrn und Leibeigenen. Denn: „Die kapitalistische Form setzt dagegen von vornherein den freien Lohnarbeiter voraus, der seine Arbeitskraft dem Kapital verkauft.“85 Wenn der „freie Lohnarbeiter“ seine Arbeitskraft verkauft, wird diese folgerichtig zu Ware. Der Lohnarbeiter zum Arbeitskraftbesitzer und damit zum Verkäufer einer Ware. Das unterscheidet ihn vom Sklaven oder Leibeigenen. Auch das ist ein Spezifikum der kapitalistischen Produktionsweise, das bei der Betrachtung von Recht und Staat zu berücksichtigen ist. Marx schreibt: „Die Arbeit war nicht immer eine Ware. Die Arbeit war nicht immer Lohnarbeit, d.h. freie Arbeit. Der Sklave verkauft seine Arbeit nicht an den Sklavenbesitzer, sowenig wie der Ochse seine Leistungen an den Bauern verkauft. Der Sklave mitsamt seiner Arbeit ist ein für allemal an seinen Eigentümer verkauft. Er ist eine Ware, die von der Hand des einen Eigentümers in die des andern übergehen kann. Er selbst ist eine Ware, aber die Arbeit ist nicht seine Ware. Der Leibeigene verkauft nur einen Teil seiner Arbeit. Nicht er erhält einen Lohn vom Eigentümer des Grund und Bodens: der Eigentümer des Grund und Bodens erhält vielmehr von ihm einen Tribut. Der Leibeigene gehört zum Grund und Boden und wirft dem Herrn des Grund und Bodens Früchte ab. Der freie Arbeiter dagegen verkauft sich selbst, und zwar stückweis. ... Der Arbeiter verlässt den Kapitalisten, dem er sich vermietet, sooft er will, und der Kapitalist entlässt ihn, sooft er es für gut findet, sobald er keinen Nutzen oder nicht den beabsichtigten Nutzen mehr aus ihm zieht.“86 Die Freiheit des Lohnarbeiters ist eine doppelte und eine formale. Sie hat zwei Dimensionen, weil er erstens frei ist gegenüber dem Kapitalisten, er ist anders als der Leibeigene nicht an die Scholle gebunden; zweitens ist er aber auch frei von Produktionsmitteln. „Die Trennung der freien Arbeit von den objektiven Bedingungen ihrer Verwirklichung – von dem Arbeitsmittel und dem Arbeitsmaterial“87 ist eine weitere Voraussetzung der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft. 85 Marx, Das Kapital. MEW Bd. 23, S. 354. 86 Marx, Lohnarbeit und Kapital, MEW Bd. 6, S. 401. 87 Marx, Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehen, MEW Bd. 42, S. 383. 77 Diese Freiheit ist bekanntlich ausgesprochen ambivalent und deshalb formal. Der freie Lohnarbeiter kann seine Existenz nur durch den Verkauf seiner Arbeitskraft sichern, die allerdings missglücken kann oder zu Bedingungen erfolgen muss, die den Arbeiter ins Elend stürzen. Simmel schreibt über diese ambivalente Freiheit: „Sieht man auf die Härte und Erzwungenheit der Arbeit, so scheint es, als wären die Lohnarbeiter nur umgekleidete Sklaven. Wir werden nachher sehen, wie die Tatsache, dass sie die Sklaven des objektiven Produktionsprozesses sind, als Übergang zu ihrer Befreiung gedeutet werden kann; die subjektive Seite davon aber ist, dass das Dienstverhältnis zu dem einzelnen Unternehmer früheren Arbeitsformen gegenüber ein unvergleichlich viel lockreres ist. Gewiss ist der Arbeiter an die Arbeit gefesselt wie der Bauer an die Scholle, allein die Häufigkeit, mit der die Geldwirtschaft die Unternehmer austauscht, und die vielfache Möglichkeit der Wahl und des Wechsels derselben, die die Form des Geldlohnes dem Arbeiter gewährt, geben diesem doch eine ganz neue Freiheit innerhalb seiner Gebundenheit. Der Sklave konnte selbst dann den Herrn nicht wechseln, wenn er bereit war, sehr viel schlechtere Lebensbedingungen auf sich zu nehmen, was der Lohnarbeiter in jedem Augenblick kann; indem so der Druck der unwiderruflichen Abhängigkeit von dem individuell bestimmten Herrn in Wegfall kommt, ist, bei aller sachlichen Bindung, doch der Weg zu einer personalen Freiheit beschritten. Diese beginnende Freiheit anzuerkennen, darf uns ihre häufige Einflusslosigkeit auf die materielle Lage des Arbeiters nicht verhindern.“88 2. Rechtssubjekt und ideelles Allgemeines a) Lohnarbeit und die Konstituierung des Rechtssubjekts Mit der Entwicklung der freien Lohnarbeit wird der unmittelbare Produzent zu einem Warenverkäufer, der seine spezielle Ware, seine Arbeitskraft, auf dem Markt verkaufen muss und will. In dieser Situation unterscheidet sich der Arbeiter nicht von allen anderen Warenbesitzern des Marktes. Er muss einen Käufer der Ware Arbeitskraft finden, mit dem er einen Vertrag abschließt, mit dem zunächst die Arbeitskraft gegen Lohn ausgetauscht wird und die genauen Konditionen des Verkaufes und Einsatzes der Arbeitskraft geregelt werden, nämlich im Arbeitsvertrag. Aber mit dem Warencharakter der Arbeitskraft wird die vertragliche Beziehung zwischen den Menschen allgemein. Sie tritt aus der der Sphäre der Dinge hinaus und beherrscht die Sphäre der menschlichen Beziehungen. 88 Simmel, Philosophie des Geldes, Simmel-Phil., S. 317. 78 Das Herr-Knecht-Verhältnis der Vergangenheit, das durch direkte persönliche Abhängigkeit, die im Zweifel mit Gewalt durchgesetzt wurde, zu charakterisieren ist, wird zu einem Vertragsverhältnis, aus dem jede Vertragspartei formal aussteigen kann und das sie „nach freiem Willen“ eingehen kann oder auch nicht. Die Vertragsfreiheit wird zum ehernen Gesetz der bürgerlichen Gesellschaft und des bürgerlichen Rechts.89 Die Ehe wird in der bürgerlichen Gesellschaft von einem von Gott geschmiedeten Bund zu einem profanen Vertrag auf gegenseitige Unterstützung, der nur noch in Erinnerung an seine sakrale Vergangenheit der besonderen Form bedarf, also vor dem Standesamt zu schließen ist. In der bürgerlichen Gesellschaft werden nicht nur Verträge über eine Elle Leinwand, Stühle oder Panzer geschlossen, sondern eben auch Arbeitsverträge, Dienstverhältnisse, Leasingverträge oder gemischttypische Verträge, die Personen verpflichten und berechtigen. Der Vertrag wird allgemein, er tritt an die Stelle direkter Beziehungen. Die bürgerliche Gesellschaft regelt alles vertraglich; am Ende – oder besser: am Anfang – auch sich selbst. Die Vertragstheorien von Hobbes über Rousseau bis Kant oder vielleicht bis John Rawls konstruieren den Staat über einen Gesellschaftsvertrag, mit dem der Staat begründet wird oder sich zumindest begründen lässt.90 Der Gesellschaftsvertrag ist gleichsam der Vertrag über die Verfassung einer Gesellschaft. Diese als Vertrag aller Mitglieder der Gesellschaft zu denken, ist schon deshalb abwegig, weil nicht erklärt werden kann, was mit den Dissidenten, den Nein-Sagern eigentlich geschehen soll. Darauf kommt es hier aber nicht an. Verfassung und Staat als Vertrag zu denken und zu konstruieren konnte nur in der bürgerlichen Gesellschaft geschehen, in welcher der Vertrag zum Zentrum der gesellschaftlichen Beziehungen aufgestiegen ist. Damit wird der Verträge schließende Mensch zum Paradigma der bürgerlichen Gesellschaft und konstituiert sich so als Rechtssubjekt. Nun hatten wir gesehen, dass Warentausch und Markt schon vor der bürgerlich, kapitalistischen Gesellschaft existierten, wo im Zweifel mittels Vertragsschluss die Waren ihren Besitzer wechselten. Neu ist aber, dass alle Mitglieder der bürgerli89 Bis in die Gegenwart gibt es orthodoxe Zivilrechtler, welche die Vertragsfreiheit oder die daraus abgeleitete „unternehmerische Freiheit“ in den Rang eines speziellen Grundrechtes heben wollen, an dem sich die Rechtsprechung zu messen habe. Die Freihandelsabkommen zwischen der EU einerseits und den USA und Kanada auf der anderen Seite versuchen, diese missglückte Konstruktion durch sog. Investitionsschutzklauseln nun in höherrangiges Recht zu verwandeln. 90 Kant etwa geht eher von einer gedanklichen Hilfskonstruktion aus, argumentiert explizit gegen die Annahme, dass tatsächlich Verträge geschlossen worden seien, was man aber auch schon Hobbes nicht wirklich unterstellen kann. 79 chen Gesellschaft91 – irgendwann auch die Frauen – zu Rechtssubjekten werden, d.h. als Rechtssubjekte anerkannt werden und als Rechtssubjekt agieren müssen. Ihre „Willenserklärungen“, die zum Vertragsschluss führen, wirken für und gegen das neu konstituierte Subjekt. Das unterscheidet die bürgerliche Gesellschaft von Sklavenhalter- oder feudalen Gesellschaften. Sklaven, Hintersassen, Leibeigene usw. sind allenfalls eingeschränkt geschäftsfähig, d.h. als Rechtssubjekt in der Lage, Verträge zu schließen. Das hatte auch Paschukanis gesehen, aber dem Markt zugeschrieben: „Die Rechtsnorm erhält ihre Differentia specifica, die sie aus der allgemeinen Masse der sittlichen ästhetischen, utilitären usw. Regeln hervorhebt, gerade dadurch, dass sie eine mit Rechten ausgestattete und dabei aktiv Ansprüche erhebende Person voraussetzt“92 . So entsteht das „Subjekt als Träger und Adressat aller möglichen Forderungen“, das verbunden mit anderen solchen Rechtssubjekten das „grundlegende juristische Gewebe“ bildet, das dem „ökonomischen Gewebe, d.h. den Produktionsverhältnissen der auf Arbeitsteilung und Austausch beruhenden Gesellschaft entspricht“93. Das heißt natürlich nicht, dass es vorher keine menschlichen Individuen, keine Subjekte gab, die sich auch als solche verstanden haben. Paschukanis bezeichnet diese als „zoologisches Individuum“, das sich unter Bedingungen einer „Verdichtung der gesellschaftlichen Zusammenhänge“ in ein „abstraktes und unpersönliches Rechtssubjekt“ verwandelt94. Die Qualität des Rechtssubjekts lässt sich vom feudalen Privileg abgrenzen. Das Recht der bürgerlichen Gesellschaft ist die abstrakt generelle Norm, die für alle formal gleichen Rechtssubjekte in allen erfassten Fällen gleich gilt. Das Privileg ist gleichsam das Negativ der allgemein, abstrakten Norm, es formuliert Ansprüche und Rechte immer nur individuell konkret. Das zoologische Individuum konstituiert sich durch den Vertrag als Rechtssubjekt – besser: durch das Recht (und die Pflicht), Verträge zu schließen, wird der Mensch als Rechtssubjekt vorausgesetzt. b) Arbeitsvertrag und die Ausdifferenzierung von Recht und Staat „Na und?“, könnte man fragen, was folgt daraus für den Staat oder für das Recht? Zunächst nicht viel. Zu diskutieren wäre prima facie, wie die Aufhebung des zoo91 92 93 94 80 Über das Problem der Geschäftsunfähigkeit ist hier nicht wirklich zu diskutieren. Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, S. 96. Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, S. 94. Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, S. 113. logischen Individuums im Rechtssubjekt zu werten ist, welche Dimensionen diese Aufhebung hat. Die doppelt freie Lohnarbeit bekommt hier noch eine andere Dimension: der Lohnarbeiter ist befreit von den Verpflichtungen gegenüber dem Grundherrn oder dem Sklavenhalter, das ist gleichsam die emanzipatorische Seite des Rechtssubjekts. Gleichzeitig wird er frei von gesellschaftlichen Bindungen, die menschlichen Beziehungen werden auf eine vertragliche Basis gestellt, und verlieren – in der Konkurrenzgesellschaft – ihren ursprünglichen, menschlichen Charakter. Widersprüche harren der Aufhebung, die nicht rückwärts geschehen kann, also nicht in der Beseitigung des Rechtssubjekts, aber durch seine Einbettung in eine menschliche Gesellschaft, deren Vermittlung nicht über Verträge geschieht. Einstweilen lässt sich aber feststellen, dass die Konstituierung des Menschen als Verträge schließendes Wesen dazu führen muss, dass die Komplexität der rechtlichen Beziehungen zunehmen und das Recht sich folglich ausdifferenzieren muss. Die Arbeitskraft ist einerseits „ganz normale“ Ware und dennoch bedarf sie spezifischer Regelungen. Schon im BGB wird der Werk- und Dienstvertrag vom sonstigen Kaufvertrag unterschieden. Im Laufe der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft wird das Arbeitsrecht aus dem Bürgerlichen Recht ausgegliedert und bildet eine besondere Rechtsmaterie, die mit dem Warenaustausch nur noch formal verbunden bleibt. Wenn die Arbeitskraft zur Ware wird, verflüchtigen sich die sozialen Beziehungen desjenigen, der die Arbeitskraft nutzt zu den Besitzern der Arbeitskraft, was wiederum rechtlich kompensiert werden muss. Während der Sklavenbesitzer im Zweifel ein Interesse hat, dass sein Eigentum, der Sklave, ihm erhalten bleibt, besteht dieses Interesse im Verhältnis des individuellen Kapitalisten zum Lohnarbeiter nicht, jedenfalls nicht aus ihrer ökonomischen Beziehung, allenfalls aus außerökonomischen z.B. ethischen Postulaten. Damit die Arbeitskraft sich reproduzieren kann, bedarf es allgemeiner Schutzvorschriften und ein bestimmtes Maß an sozialer Absicherung. Hier ist also der Wandel der Arbeit zur Lohnarbeit zusammen zu denken mit dem oben diskutierten Prinzip der kapitalistischen Gesellschaft, der Verwertung von Wert, das destruktive Folgen betriebswirtschaftlich nicht einkalkuliert. Die Lohnarbeit auf der Grundlage eines Vertragsverhältnisses schafft so die Notwendigkeit arbeitsrechtlicher und sozialrechtlicher Regulierungen, induziert einen Schub von Verrechtlichung oder der Ausdifferenzierung des Rechts, dessen Komplexität im Zuge eines weitreichenden Regulierungsbedarfes wächst. Die zunehmende Komplexität und der in der bürgerlichen Gesellschaft steigende Bedarf an regulierenden Rechtsnormen legt es nahe, nicht nur die Produktion arbeitsteilig zu organisieren, sondern ebenso die politischen und 81 sozialen Herrschaftsfunktionen. Das quantitative und qualitative Wachsen der Zahl an Rechtsnormen haben wir schon oben als Kennzeichen der bürgerlichen Gesellschaft apostrophiert und als Folge der Verwertungslogik des Kapitals und der kapitalistischen Konkurrenzordnung als Charakteristikum nicht nur der bürgerlichen Ökonomie, sondern der bürgerlichen Gesellschaft insgesamt diskutiert. Gesehen hatten wir auch, dass aus diesen Bedingungen der kapitalistischen Akkumulation die Aufgaben des Staates wachsen, der Staat die infrastrukturellen Voraussetzungen der Produktion zur Verfügung stellen muss, womit notwendigerweise der Staatsapparat insgesamt wächst. Und damit die rechtliche Steuerung dieses Apparates. Stellt man diese Verrechtlichungstendenzen in den Kontext mit dem aus der freien Lohnarbeit resultierenden Antrieb, die Arbeits- und Sozialbeziehungen rechtlich auszugestalten, lassen sich weitere Schlussfolgerungen entwickeln. Die Quantität und Komplexität der Rechtsnormen führt dazu, dass sich der politische Apparat absondert von ökonomischen Funktionen und sich selbst differenziert, d.h. intern die Arbeitsteilung vorantreibt. Die Arbeitsteilung wird gleichsam in den politischen Apparat, den Staat verlängert, so wird z.B. die Organisation der Gewaltapparate geschieden von der juridischen Arbeit. Es bildet sich ein besonderer Stab von Juristen, die aus der Rechtsarbeit, also der Formulierung von Gesetzestexten wie aus deren Interpretation und Auslegung im Einzelfall einen eigenständigen Zweig des politischen Apparats machen. Engels beschreibt die Bildung des Juristenstandes in einem Gesamtwurf der Rechtsgeschichte mit folgenden Worten: „Auf einer gewissen, sehr ursprünglichen Entwicklungsstufe der Gesellschaft stellt sich das Bedürfnis ein, die täglich wiederkehrenden Akte der Produktion, der Verteilung und des Austausches der Produkte unter eine gemeinsame Regel zu fassen, dafür zu sorgen, dass der einzelne sich den gemeinsamen Bedingungen der Produktion und des Austausches unterwirft. Diese Regel, zuerst Sitte, wird bald Gesetz. Mit dem Gesetz entstehen notwendig Organe, die mit seiner Aufrechterhaltung betraut sind – die öffentliche Gewalt, der Staat. Mit der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung bildet sich das Gesetz fort zu einer mehr oder weniger umfangreichen Gesetzgebung. Je verwickelter diese Gesetzgebung wird, desto weiter entfernt sich ihre Ausdrucksweise von der, in welcher die gewöhnlichen ökonomischen Lebensbedingungen der Gesellschaft ausgedrückt werden. Sie erscheint als ein selbständiges Element, das nicht aus den ökonomischen Verhältnissen, sondern aus eignen, inneren Gründen, meinetwegen aus dem ‘Willensbegriff’ die Berechtigung seiner Existenz und die Begründung seiner Fortentwicklung hernimmt. Die Menschen vergessen die Abstammung ihres Rechts aus ihren ökonomischen Lebensbedingungen, wie sie ihre eigne Abstammung aus dem Tierreich vergessen haben. Mit der Fortbildung der Gesetzgebung zu einem verwickelten, umfangreichen Ganzen tritt die 82 Notwendigkeit einer neuen gesellschaftlichen Arbeitsteilung hervor; es bildet sich ein Stand berufsmäßiger Rechtsgelehrter, und mit diesen entsteht die Rechtswissenschaft. Diese vergleicht in ihrer weitern Entwicklung die Rechtssysteme verschiedner Völker und verschiedner Zeiten miteinander, nicht als Abdrücke der jedesmaligen ökonomischen Verhältnisse, sondern als Systeme, die ihre Begründung in sich selbst finden. Die Vergleichung setzt Gemeinsames voraus: dieses findet sich, indem die Juristen das mehr oder weniger Gemeinschaftliche aller dieser Rechtssysteme als Naturrecht zusammenstellen. Der Maßstab aber, an dem gemessen wird, was Naturrecht ist und was nicht, ist eben der abstrakteste Ausdruck des Rechts selbst: die Gerechtigkeit. Von jetzt an ist also die Entwicklung des Rechts für die Juristen und die, die ihnen aufs Wort glauben, nur noch das Bestreben, die menschlichen Zustände, soweit sie juristisch ausgedrückt werden, dem Ideal der Gerechtigkeit, der ewigen Gerechtigkeit immer wieder näher zu bringen. Und diese Gerechtigkeit ist immer nur der ideologisierte, verhimmelte Ausdruck der bestehenden ökonomischen Verhältnisse, bald nach ihrer konservativen, bald nach ihrer revolutionären Seite hin. Die Gerechtigkeit der Griechen und Römer fand die Sklaverei gerecht: die Gerechtigkeit der Bourgeoisie von 1789 forderte die Aufhebung des Feudalismus, weil er ungerecht sei.“95 Engels diskutiert hier zwar auch das Recht der bürgerlichen Gesellschaft, beginnt aber seinen Diskurs sehr früh mit der Arbeitsteilung und Rechtsbildung in antiken, europäischen Gesellschaften. So ist zunächst festzustellen, dass die Herausbildung eines spezifisch juridischen Apparats innerhalb des politischen Apparats kein Phänomen der bürgerlichen Gesellschaft ist. Cicero machte als homo novus – aus der Perspektive der alten römischen Senatorenfamilien als Emporkömmling – zunächst Karriere als Anwalt. Diese Tätigkeit eröffnete ihm den Weg zu anderen politischen Ämtern, was die Patrizier, die ein Monopol auf die politische Macht beanspruchten, als Bedrohung empfanden. Schon dieses individuelle Beispiel zeigt, dass die Arbeitsteilung innerhalb des staatlichen Apparats eben keineswegs so weit ausgebildet war wie in der bürgerlichen Gesellschaft. Aber selbstverständlich ist Arbeitsteilung keine Errungenschaft der bürgerlichen Gesellschaft und mit der Arbeitsteilung können sich ein Überschussprodukt, Eigentum, Staat und innerhalb desselben je nach zivilisatorischer Entwicklung spezifische Funktionen herausbilden. Die Arbeitsteilung der bürgerlichen Gesellschaft erreicht allerdings mit der industriellen Produktion eine neue Qualität, die es nicht nur ermöglicht, die Produktion beständig auszudehnen und dass der Dienstleistungssektor beständig wächst, was die Arbeitsteilung auf die gesellschaftliche Ebene verlängert. Auch die Arbeit innerhalb des politischen, staatlichen Apparats erreicht eine neue 95 Engels, Zur Wohnungsfrage, MEaW IV, S. 266 f. 83 Qualität, die es erlaubt, der sich aus dem allgemeinen Gesetz ergebenden Tendenz der Trennung der Gewalten nachzugeben und die verschiedenen Funktionen der Rechtsarbeit, d.h. legislative, administrative und judikative Funktionen tatsächlich zu trennen. Die spezifische Form des Rechts in der bürgerlichen Gesellschaft, das allgemeine Gesetz, folgt den Anforderungen an den Interessenausgleich in einer Ökonomie, in der gleiche Warenbesitzer miteinander konkurrieren. Zur Erinnerung: Weil das Gesetz allgemein abstrakte Regeln formuliert, muss es konkretisiert werden, bedarf also eines spezifischen – bürokratischen – Stabes, der mit dem Vollzug beschäftigt ist, der schließlich kontrolliert werden muss, damit die vom Gesetzgeber intendierte Steuerungsfunktion – jedenfalls annähernd – verwirklicht wird und nicht der administrative Apparat die Macht usurpiert. Im Kontext der Diskussion um die freie Lohnarbeit stellt sich die Frage, ob die Ware Arbeitskraft – aus rechtlicher, nicht aus ökonomischer Perspektive – in die gleiche Kategorie wie die anderen Waren fällt. Wird also der Arbeiter als Warenbesitzer mit den anderen Warenbesitzern formal gleich gestellt, d.h. durch das Recht gleich behandelt? Gilt also das allgemeine, abstrakte Gesetz gleichermaßen für den Arbeiter wie für den Fischhändler? Dabei schauen wir zunächst nur auf den Aspekt der Gleichheit vor dem Gesetz, die rechtliche Freiheit des Lohnarbeiters und ihre Folgen für das Recht sind später zu diskutieren. Franz Neumann hatte die Bedeutung des allgemeinen Gesetzes für eine Konkurrenzökonomie prominent herausgearbeitet. Mit Blick auf die Gleichheit der Besitzer der Ware Arbeitskraft stellt Neumann allerdings fest, dass die Gleichheit der Warenbesitzer auch im Konkurrenzkapitalismus nur auf dem Warenmarkt bestehe, nicht auf dem Arbeitsmarkt. Für das Verhältnis Unternehmer – Arbeiter gelte, dass der Unternehmer dem Arbeiter in ungleich stärkerer Stellung, d.h. als Monopolist auf dem Arbeitsmarkt gegenübertrete.96 Die Verrechtlichung des Arbeitsverhältnisses, die sich aus der Existenz des freien Lohnarbeiters ergeben muss, produziert – im Vergleich zu anderen Warenbesitzern – ein besonderes Recht, nämlich Arbeits- und Sozialrecht. Dieses ist allerdings mit Blick auf die Gruppe der Käufer und Verkäufer der Ware Arbeitskraft formal gleich. Will sagen: Die Käufer, also die Kapitalisten, werden genauso gleich behandelt wie die Verkäufer, also die Lohnarbeiter. Bei theoretisch wechselnden Rollen wäre es eben umgekehrt. Das Gedankenspiel des Rollentausches erhellt Neumanns Überlegung. Das Abstellen auf die monopolistische Stellung des Unternehmers verrückt den Blick von der formalen, der Gleichheit vor dem Gesetz, zur faktischen Gleichheit, d.h. der sozial-ökonomischen Gleichheit. Niemand hat aber je behauptet, im Kapitalis96 Neumann, Die Herrschaft des Gesetzes, S. 222 f. 84 mus gebe es materiale Gleichheit. Die bürgerliche Gesellschaft verspricht „nur“ Rechtsgleichheit – aber immerhin: sie verspricht Rechtsgleichheit, was sie vom Privilegienrecht vergangener Epochen unterscheidet. In der bürgerlichen Gesellschaft organisieren sich der bürokratische Apparat und der politische Apparat mittels rechtlicher Normen. Recht grenzt Kompetenzen ab, räumt Befugnisse ein und setzt diesen Befugnissen gleichzeitig gegenüber anderen Institutionen wie gegenüber der Gesellschaft Grenzen. Die politischen, d.h. in der bürgerlichen Gesellschaft staatlichen Institutionen müssen sich durch Recht organisieren, weil die persönliche Bindung, d.h. eine Form charismatischer Herrschaft mit Blick auf den Umfang und die Komplexität des Apparates nicht mehr funktionieren kann. Der arbeitteilige Staat muss durch Recht organisiert werden. c) Arbeitsteilung und Konkurrenz Betrachten wir die Arbeitsteilung aus der umgekehrten Perspektive, der Perspektive der Kapitalisten, die – wie gezeigt wurde – dem Zwang der Konkurrenzordnung unterworfen sind. Die Konkurrenzordnung zwingt den Kapitalisten dazu, seine Produktion beständig mindestens auf dem neuesten Stand gemessen an den Produktionsmitteln der Konkurrenten zu halten. Im Neusprech: „Der Arbeitgeber muss Innovationen aufgreifen und am besten vorantreiben, um mindestens genauso billig produzieren zu können wie seine Mitbewerber.“ Er darf also für die Herstellung eines Produktes nicht mehr als die gesellschaftlich erforderliche Arbeitszeit benötigen, da er sonst seinen Konkurrenten unterlegen ist und auf Dauer vom Markt gefegt wird. Neue Entwicklungen der Produktivkräfte verpasst der Kapitalist nur bei Strafe des eigenen Untergangs. Unter den Bedingungen der kapitalistischen Zwangsordnung heißt das aber, dass zumindest der aktive Kapitalist, d.h. die tatsächlich tätigen Unternehmensleiter, ihre Arbeitskraft und Zeit auf die unternehmerische Aktivität konzentrieren müssen. Das heißt nichts anderes, als dass die Arbeitsteilung der unmittelbaren Produzenten, d.h. zwischen den Arbeitern in der Produktion, in der bürgerlichen Gesellschaft allgemein wird und sich auch die Herrschaftsfunktionen entsprechend differenzieren. Auf diese Differenzierungsprozesse hat insbesondere die systemtheoretisch inspirierte Soziologie von Durkheim über Parsons bis Luhmann aufmerksam gemacht. Dabei geht Durkheim noch davon aus, dass die fortschreitende Arbeitsteilung eine andere Form der Solidarität, d.h. der Legitimation von Recht und anderen allgemein verbindlichen Entscheidungen des Staates erfordert, als sie etwa in archaischen Gesellschaften nötig war. An die Stelle der geteilten 85 und tradierten Rechtsbräuche tritt gesetztes Recht, was oben als neue Steuerungsfunktion des Rechts in der bürgerlichen Gesellschaft diskutiert wurde. Dieses gesetzte Recht, meint Durkheim, braucht eine andere, neue Form der Legitimation. Für Luhmann erübrigt sich dagegen das Problem der Legitimation mit der Ausdifferenzierung von gesellschaftlichen Subsystemen. Dabei wechselt seine Position. Zunächst nimmt er an, dass Legitimität durch das „systemischen Kleinarbeiten des Protestes“97 geschaffen wird. Später wird die Frage nach der Legitimität für Luhmann zu einer „alteuropäischen“, die sich in autopoietischen Systemen, die nur um ihren spezifischen Kommunikationscode kreisen, gar nicht stellen kann, was aber keineswegs kritisch, sondern affirmativ zu verstehen ist. Bei Luhmann geht schließlich der Zusammenhang zwischen Arbeitsteilung und Differenzierung der Funktionen verloren, so dass Gesellschaft ausschließlich als Phänomen der Kommunikation diskutiert wird. Die kommunikationstheoretische Wende in den Geisteswissenschaften lässt unberücksichtigt, dass sich auch Wittgensteins Leiter nicht durch Kommunikation herstellen lässt, sondern am Ende genauso durch Arbeit produziert werden muss wie dieses Buch und selbst das Internet, das bei aller flüchtigen Kommunikation ohne einen materiellen Kern von Elektroden, Kabeln und Anzeigegeräten nicht auskommt. Die Frage der Legitimation ist unten im Kapitel zur Demokratie noch einmal zu stellen. Nun ist die Arbeitsteilung kein Phänomen der bürgerlichen Gesellschaft, sondern steht im Zweifel am Anfang der zivilisatorischen Entwicklung der Menschheit. In der bürgerlichen Gesellschaft wird die Arbeitsteilung aber extrem gesteigert, womit die Produktivität und die Produktivkraftentwicklung bisher unbekannte Ausmaße erreicht haben. Im Unterschied zu vorkapitalistischen Gesellschaften wird die Arbeitsteilung angetrieben durch den Mechanismus der Konkurrenz bei der Verwertung von Wert, was nicht nur bei den unmittelbaren Produzenten Spezialisierungs- und Differenzierungsprozesse vorantreibt, sondern auch innerhalb der herrschenden Klasse. Das heißt aber nichts anderes, als dass sich die politischen und ökonomischen Funktionen differenzieren. Im Rahmen der arbeitsteiligen Herrschaft spezialisiert sich der eine Teil der Herrschenden auf politische, der andere auf ökonomische Funktionen. Voilà: Die Ökonomie besondert sich von der Politik. Das geschieht nicht, weil man arbeitsteilig arbeiten will, weil man sich spezialisieren will, sondern weil die Zwangsordnung der Konkurrenz dies gebietet. 97 Luhmann, Legitimation durch Verfahren, passim. 86 Die Situation des römischen Patriziers oder des mittelalterlichen Feudalherrn unterschied sich gründlich von derjenigen fungierender Kapitalisten. Die antiken Römer der herrschenden Klasse fühlten sich ebenso wie die mittelalterlichen Fürsten in erster Linie als Landbesitzer und Grundherren. Die ökonomische Tätigkeit beschränkte sich auf die Anleitung und Beaufsichtigung der Landbestellung. Arbeit, insbesondere körperliche, handwerkliche Arbeit wurde Sklaven oder eben den unteren Klassen überlassen und galt in der Herrenschicht als geradezu unangemessene Beschäftigung. Arbeit war unter der Würde des Patriziers. Umgekehrt bestand durchaus ein Anreiz, sich politischen Angelegenheiten zu widmen, weil hier neben der Ehre auch ökonomische Vorteile winkten.98 Kurz: Die Selbstdefinition und die ökonomische Basis der herrschenden Klassen erlaubte es im römischen Reich nicht nur, sondern machte es sinnvoll, sich an den res publica zu beteiligen, sich politisch zu engagieren. So konnte die kleine ökonomische Oberschicht99 auch die politisch herrschende Klasse stellen. Die Landesherren des Mittelalters waren Herren des Landes und seiner Bevölkerung im umfassenden Sinn, so dass sich – insbesondere solange und wo die Gebiete ökonomisch mehr oder weniger autark waren, sich selbst versorgen konnten – die Frage einer Trennung von politischen und ökonomischen Funktionen gar nicht erst stellte. Der moderne, fungierende Kapitalist kann es sich dagegen in der Regel nicht leisten, Arbeit zu verachten. Heute lügen die fungierenden Kapitalisten öffentlich, sie hätten eine 80-Stunden-Woche, verraten damit aber eine – verglichen mit den antiken Römern – umgekehrte Wertehierarchie in Bezug auf Arbeit. Wer viel arbeitet, erwirbt Verdienste, gilt gesellschaftlich als etwas – die unteren Klassen eifern der Lebenseinstellung der oberen nach100, ohne dass sich das allerdings im realen Verdienst niederschlägt. Da bleibt keine Muße für die res publica, abgesehen davon, dass die spezifischen Kompetenzen anders ausgebildet sind – eben arbeitsteilig. 98 So wurden etwa die Steuern zwar von der Zentrale in Rom festgelegt, aber in den Provinzen, die sich mangels effektiver zentraler Steuerung faktisch weitgehend selbst verwaltetet, „vollzogen“. Das schaffte Möglichkeiten zur Be- und Entreicherung. 99 Schätzungen gehen davon aus, dass im späten Rom weniger als 5 % der Bevölkerung mehr als 80 % des Grundfläche besaßen: Heather, Der Untergang des römischen Weltreichs, S. 170. 100 Vgl. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, passim. 87 d) Freiheit des Rechtssubjekts Die Gründung der Produktion auf freier Lohnarbeit hat eine weitere Dimension: Das konstituierte Rechtssubjekt wird nicht nur als formal gleich unterstellt oder anerkannt, sondern auch als frei. Der doppelt freie Lohnarbeiter gilt auch in seiner neuen Gestalt des Rechtssubjekts als formal frei. Die Freiheit von der Leibeigenschaft macht den Lohnarbeiter zum Verträge schließenden Wesen, das formal frei wählen kann, wem es seine Arbeitskraft verkauft und wem nicht. Die Vertragsfreiheit des Warenbesitzers ist ein zentrales Paradigma des bürgerlichen Rechtsverständnisses. Marx spottet in einem bekannten Zitat über diese Marktideologie von Freiheit und Gleichheit, wenn er schreibt: „Die Sphäre der Zirkulation oder des Warenaustausches, innerhalb deren Schranken Kauf und Verkauf der Arbeitskraft sich bewegt, war in der Tat ein wahres Eden der angebornen Menschenrechte. Was allein hier herrscht, ist Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham. Freiheit! Denn Käufer und Verkäufer einer Ware, z.B. der Arbeitskraft, sind nur durch ihren freien Willen bestimmt. Sie kontrahieren als freie, rechtlich ebenbürtige Personen. Der Kontrakt ist das Endresultat, worin sich ihre Willen einen gemeinsamen Rechtsausdruck geben. Gleichheit! Denn sie beziehen sich nur als Warenbesitzer aufeinander und tauschen Äquivalent für Äquivalent. Eigentum! Denn jeder verfügt nur über das Seine. Bentham! Denn jedem von den beiden ist es nur um sich zu tun. Die einzige Macht, die sie zusammen und in ein Verhältnis bringt, ist die ihres Eigennutzes, ihres Sondervorteils, ihrer Privatinteressen. Und eben weil so jeder nur für sich und keiner für den andren kehrt, vollbringen alle, infolge einer prästabilierten Harmonie der Dinge oder unter den Auspizien einer allpfiffigen Vorsehung, nur das Werk ihres wechselseitigen Vorteils, des Gemeinnutzens, des Gesamtinteresses.“101 Die menschenrechtliche Dimension von Freiheit und Gleichheit des Verträge schließenden Wesens sind im abschließenden Kapitel zu diskutieren. Hier kommt es auf das Verhältnis des freien Lohnarbeiters zu seinem neuen Herren, dem Kapitalisten an. Die Formulierung wurde mit Bedacht falsch gewählt. Das freie Rechtssubjekt, der Verträge schließende Verkäufer seiner Arbeitskraft, hat formal keinen Herren, ist formal frei – allerdings faktisch oftmals gezwungen, seine Arbeitskraft zu verkaufen, um existieren zu können. Wenn aber die Arbeit – außerhalb des Fabrik- oder Beschäftigungsverhältnisses – als formal frei konstruiert und anerkannt wird, kann nicht der Käufer der Ware Arbeitskraft, also der Kapitalist, kraft seiner Funktion als Käufer dieser Ware, die politische Herrschaft über den Verkäufer, also den freien Lohnarbeiter, überneh101 Marx, Das Kapital I, MEW Bd. 23, S. 189 f. 88 men. Kurz: eine Ökonomie, die auf freier Lohnarbeit basiert, schließt es aus, dass der Lohnarbeiter vom Unternehmer auch politisch in dem Sinne beherrscht wird, dass die Funktion des Kapitalisten institutionell mit der politischen Herrschaft verbunden ist. Dann bestünde zwischen Kapitalist und Arbeiter eine Herrschaftsbeziehung, die sich nicht auf den Vertrag gründete, der Arbeiter wäre kein freier Lohnarbeiter mehr, d.h. man hätte eine andere als die kapitalistische Ökonomie. Konsequenz: die politische Herrschaft muss funktional von der ökonomischen Herrschaft getrennt werden. Der Unternehmer ist nicht wegen seiner Funktion als Unternehmer auch „automatisch“ Herr des Lohnarbeiters jenseits der Fabrik. Nun ließe sich einwenden, dass es aber sehr wohl denkbar ist, dass die ökonomisch herrschende Klasse auch die politischen Funktionen übernimmt, die Lohnarbeiter nicht Staatsbürger sind, sondern nur frei in der Wahl des Kapitalisten, für den sie arbeiten. Die vorige Argumentation nimmt gleichsam das mittelalterliche Herrschaftsverhältnis als Paradigma, in dem der Grundherr nicht nur über die Arbeitskraft seiner Hintersassen verfügen konnte, sondern außerhalb der Arbeit deren Herr war, der teilweise für sich in Anspruch nahm, über die Heiratswünsche „seiner“ Leute zu bestimmen – die Hintersassen konnten nur mit Zustimmung des Grundherrn heiraten. In diesem Sinne schließt die Existenz des freien Lohnarbeiters die politische Herrschaft des Kapitalisten aus. Blickt man aber auf die antike römische Republik oder die mittelalterlichen Städte, dann ergibt sich prima facie ein anderes Bild: Die Patrizier bildeten die ökonomische Oberschicht und stellten qua Abstammung das politische Führungspersonal. Der Senat im alten Rom wie in den mittelalterlichen Hansestädten setzte sich aus Patriziern zusammen. Die Patrizier in Rom gründeten ihre ökonomische Stellung auf Landbesitz und Sklavenarbeit, dennoch waren die Plebejer auch „freie Römer“, die anderen – für Patrizier verpönten – Erwerbsquellen nachgingen, also z.B. als Kaufleute oder Handwerker tätig waren. Als freie Bürger hatten sie in den frühen Phasen der römischen Republik dennoch keinen Zugang zu politischen Ämtern. Die politische Mitwirkung erkämpften sich die Plebejer in den sog. Ständekämpfen und konnten danach Volkstribun und Konsuln wählen und zu solchen gewählt werden. Ähnlich verhielt es sich in den mittelalterlichen Städten. Die Zünfte erkämpften gegen die Vorherrschaft der Gilden, aus denen sich die Patrizier rekrutierten, das Recht auf politische Mitwirkung in den Stadtregierungen. Festhalten kann man hier, dass der Status als „freier Bürger“, der mit dem Status „freier Lohnarbeiter“ zwangsläufig verbunden sein muss, zumindest in Richtung politischer Beteiligung dieser Bürger drängt. Es finden Kämpfe um politische Partizipation statt, so dass es schwierig ist, die politische Herrschaft institutionell an ökonomische Bedingungen zu 89 knüpfen. Hier gibt es offenkundig eine Reihe von Problemen, die aber später zu diskutieren sind. Zunächst lässt sich also festhalten, dass die freie Lohnarbeit nicht logisch zwingend mit einer politischen Beteiligung eben dieser neuen Klasse verbunden sein muss, die Besonderung des Staates, also die Trennung von Politik und Ökonomie, nicht zwingend aus der Stellung der unmittelbaren Produzenten als freie Lohnarbeiter folgt. Dennoch überschreitet die Freiheit von der Scholle oder von persönlicher Abhängigkeit, d.h. die Konstituierung des Verträge schließenden Rechtssubjekts, die Sphäre der persönlichen Abhängigkeit und drängt in Richtung allgemeiner politischer Freiheit, also der Partizipation an allgemein verbindlichen Entscheidungen, so dass sich eine institutionelle Verknüpfung von ökonomischer Stellung und politischen Funktionen nicht mehr legitimieren lässt. Die freie Lohnarbeit drängt zu politischer Beteiligung und damit zur Trennung von Politik und Ökonomie. e) Disziplinierung der Arbeit Die Freiheit des Lohnarbeiters ist nur die Freiheit des Verträge schließenden Wesens, also formale Freiheit. Die ökonomischen Zwänge, einen Kontrakt zum Verkauf der Arbeitskraft einzugehen, bestimmen die Seite der Unfreiheit des Lohnarbeiters. Für die Staatsdiskussion interessanter ist die Tatsache, dass der Arbeiter die Disziplin der Fabrik erst lernen muss. Die ersten Arbeiter in den Manufakturen Europas rekrutierten sich aus der Landbevölkerung, die von den Grundeigentümern vertrieben worden waren. Schafweiden ersetzten, wie Thomas Morus beschreibt, den arbeitsintensiveren Ackerbau. Die überzählige Bevölkerung wurde vertrieben. Sie waren im doppelten Sinne frei, nämlich von ihren Produktionsmitteln wie von der Herrschaft der Grundeigentümer – darum waren sie noch keineswegs gewillt, sich der Disziplin der Manufaktur oder Fabrik zu unterwerfen, also jeden Morgen pünktlich zu Arbeit zu erscheinen und zwar auch dann, wenn man gerade Lohn erhalten hat, den man erst verzehren kann. Die Chronisten berichten von vagabundierenden Tagelöhnern, die im Zweifel bettelten, um sich zu ernähren. Gegen diese Form der Freiheit ergriffen die englischen Könige brutale Maßnahmen und eine Reihe von Gesetzen wurden erlassen, um die freien Vagabunden der notwendigen Disziplin in der Fabrik unterzuordnen. Das wird unten im Kontext von Herrschaft und Demokratie noch weiter zu diskutieren sein. Insbesondere im „Kapital“ hat Marx ausführlich über die Gesetzgebung gegen vagabundierende Tagelöhner berichtet. Hier 90 sei nur eine kurze Stelle aus der „Deutschen Ideologie“ von Marx und Engels zitiert, die das staatliche Vorgehen erhellt: „Diese Vagabunden, die so zahlreich waren, dass u. a. Heinrich VIII. von England ihrer 72000 hängen ließ, wurden nur mit den größten Schwierigkeiten und durch die äußerste Not und erst nach langem Widerstreben dahin gebracht, dass sie arbeiteten. Das rasche Aufblühen der Manufakturen, namentlich in England, absorbierte sie allmählich.“102 Sie wurden absorbiert, nachdem sie durch bittere Erfahrung gelernt hatten, sich der arbeitsteiligen Disziplin der Fabrik einzuordnen. Disziplin wird gelernt, genauso wie das arbeitsteilige, zuverlässige und kontinuierliche Arbeiten. Es wurde den Menschen, die in den Herrschaftsbereich kapitalistischer Ökonomien eingegliedert wurden, mit Feuer und Schwert oder Henker und Arbeitshaus – sich von Europa auf den Rest der Welt ausbreitend – beigebracht. Durch wen? Natürlich durch staatliche Institutionen – an vorderster Front die Armee, gefolgt von Schule und Gefängnis. Michel Foucault hat sein Leben dem Nachweis gewidmet, dass der Kapitalismus durch die staatlichen Institutionen von der Disziplinierung, die am Körper ansetzt, zur Selbstdisziplinierung voranschreitet. Das System der Herrschaft wird gleichsam verfeinert. Von der Vernichtung der Rechtsbrecher oder Abweichenden schreitet man voran zu seiner Disziplinierung und schließlich zur internalisierten Selbstdisziplin. Foucault zeigt in seinen Werken, dass der Rechtsbruch bis in die frühe Neuzeit öffentlich ausgestellt wurde. Strafe war körperlich. Kontrolle und Macht über Körper wurde demonstriert. Der Delinquent wurde gefoltert, geköpft und anschließend noch gevierteilt. Macht und Ohnmacht wurden demonstriert. Mit der Neuzeit wird an die Stelle drakonischer Strafen ein System der Normalisierung und Kontrolle gesetzt. Paradigmatisch ist das von Bentham erdachte Panoptikum, das Foucault so beschreibt: „Sein Prinzip ist bekannt. An der Peripherie ein ringförmiges Gebäude; in der Mitte ein Turm, der von breiten Fenstern durchbrochen ist, welche sich nach der Innenseite des Ringes öffnen. Das Ringgebäude ist in Zellen unterteilt, von denen jede durch die gesamte Tiefe des Gebäudes reicht; sie haben jeweils zwei Fenster, eines nach innen, eines nach außen, so dass die Zelle auf beiden Seiten von Licht durchdrungen wird. Es genügt, einen Aufseher im Turm aufzustellen (...) Jeder Käfig ist ein kleines Theater, in dem jeder Akteur allein ist, vollkommen individualisiert und ständig sichtbar.“103 Im Ergebnis fühlt sich der Strafgefangene immer beobachtet und agiert nicht nur dann, wenn 102 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, MEW Bd. 3, S. 56. 103 Foucault, Überwachen und Strafen, S. 256 f. 91 er wirklich beobachtet wird, normkonform, sondern immer. So internalisiert er normales Verhalten, es wird in seinen Körper eingeschrieben. Die Körper werden normalisiert. Erreicht wird so Selbstkontrolle, Selbstdisziplinierung, eben die Normalisierung der Körper. Vom Strafsystem überträgt Foucault dieses System der Normalisierung auf andere staatliche Institutionen, die Schule und das Krankenhaus. Warum lehrt die Schule nicht nur Schreiben und Rechnen, fragt er, sondern zwingt die Schüler auch, sich zu waschen? In der Schule geht es auch explizit um Erziehung und nicht nur um Ausbildung. Die Normalisierung greift schließlich durch entsprechende Diskurse über auf die Normalität im Sinne einer Definition des geistig Gesunden oder umgekehrt des Wahnsinns. Schließlich spielt, so Foucault, die Disziplinierung der Sexualität eine zentrale Rolle bei der Normalisierung der Körper. Er setzt damit einen anderen Akzent als Freud, der gezeigt hatte, dass die Disziplinierung der Sexualität oder der Triebaufschub zur Sublimierung und damit zu kulturellen Leistungen führen kann. Die Disziplinierung der Arbeiter ist auch für Foucault eine wichtige Station in der Entwicklung der kapitalistischen Ökonomie. Er schreibt: „Eine Geschichte der sozialen Kontrolle des Körpers könnte zeigen, dass der Körper des einzelnen bis ins 18. Jahrhundert hinein vor allem die Fläche ist, auf der Martern und Strafen ansetzen können; der Körper ist dazu da gemartert und gepeinigt zu werden. Für die im 19. Jahrhundert entstehenden Kontrollinstanzen erhält der Körper eine völlig andere Bedeutung; er muss nun nicht mehr gemartert, sondern soll geformt, umgeformt, verbessert werden. … Die erste Funktion bestand darin, die Zeit zu extrahieren und dafür zu sorgen, dass die Zeit der Menschen, ihre Lebenszeit, sich in Arbeitszeit verwandelt. Die zweite Funktion besteht darin, des Menschen zur Arbeitskraft zu machen.“104 Im Kontext von Demokratie und Herrschaft sind diese Gedanken noch einmal aufzunehmen. Zunächst ist festzuhalten, die Freiheit des Lohnarbeiters ist auch außerhalb des ökonomischen Zwanges eine doch sehr relative. Weiter: Die Arbeitskraftbesitzer werden nur im Produktionsprozess durch die Herrschaft des Kapitals diszipliniert und normalisiert – sonst wären es keine freien Lohnarbeiter mehr. Die Macht des Kapitalisten endet am Werkstor. Der Staat übernimmt die Erziehung und Formung der Arbeitskraftbesitzer. Dafür braucht es wieder staatliche Institutionen, und zwar – im Vergleich zu vorhergehenden Gesellschaften – neuartige Institutionen. Diese staatlichen Institutionen nehmen nun sehr unterschiedliche Funktionen wahr, müssen also arbeitsteilig agieren. Wichtiger aber noch: sie sind offenbar außerhalb des ökonomischen Bereichs angesiedelt. 104 Foucault, Die Wahrheit und die juristischen Formen, S. 117. 92 Es wird ein staatlicher Apparat erschaffen, der jenseits der eigentlichen Herrschaft angesiedelt ist. Erziehungs- und Ausbildungsanstalten, ein Krankenhauswesen und öffentliche Medien entstehen. In diesen Institutionen gibt es eine Menge von Beschäftigten, welche in vorkapitalistischen Herrschaftsorganisationen nicht zu finden waren. Der Staat ist mit Polizei und Armee keineswegs nur Repressions- und Herrschaftsapparat. Der kapitalistische Staat erweitert sich, wie Althusser und Gramsci richtig festgestellt haben, um weitere Institutionen. Gramsci und Althusser haben auf die ideologische Funktion dieser Staatsapparate abgestellt. Foucault sowie Marx und Engels hatten schon gesehen, dass es auch darum geht, den Arbeitskörper für seine Funktion zu formen. Der Kapitalist braucht nicht selber zu herrschen, aber er kann es auch nicht, sonst müsste er die beschriebenen Aufgaben selbst wahrnehmen, was sich betriebswirtschaftlich nicht rechnet. Die Disziplinierung des freien Lohnarbeiters muss allgemein organisiert werden – das übernimmt der Staat. f) Ideelles Allgemeines und bürokratischer Stab Die Verwertung von Wert unter Bedingungen der Marktkonkurrenz charakterisiert eine Wirtschaftsweise, die ihre eigenen Voraussetzungen nicht produzieren kann. Die Akkumulation des Kapitals auf höherer Stufenleiter hat verschiedene Voraussetzungen. Hier seien nur zwei diskutiert: der Lohnarbeiter muss entsprechend qualifiziert werden und es muss eine Infrastruktur an Verkehrs- und Kommunikationswegen geschaffen werden, die es ermöglicht, Menschen, Waren und Dienstleistungen zu befördern. Der Kapitalismus lässt sich wegen der Konkurrenzsituation und der großen Industrie nicht auf die Produktion für örtliche und regionale Bedürfnisse beschränken, also bedarf es neuer Transportund Kommunikationswege. Diese werden nicht von den einzelnen Kapitalisten geschaffen, weil das ihre Situation im Wettbewerb verschlechtert oder zumindest verschlechtern könnte. Nun könnten beide genannten Voraussetzungen von demjenigen Kapitalisten, der sie benötigt oder zuerst benötigt, geschaffen werden. Also das Unternehmen kann entsprechende Straßen bauen, Arbeiter ausbilden und anderes. Da der Kapitalist es aber mit freien Lohnarbeitern zu tun hat, läuft er Gefahr, dass die Früchte seiner Bildungsmaßnahmen von anderen Kapitalisten, möglicherweise Konkurrenten abgeschöpft werden. Solange er sich nicht darauf verlassen kann, dass auch die anderen ausbilden, verursacht die Ausbildung Kosten für den individuellen Kapitalisten, die zu einem Wettbewerbsnachteil gegenüber seinen Konkurrenten führen können. Also wird er als individueller Kapitalist eher da93 rauf verzichten, in die Bildung der Lohnarbeiter zu investieren, die er individuell und als Klasse unter Bedingungen einer komplexen Produktion dennoch braucht. Ähnlich lässt sich für den Ausbau der Infrastruktur argumentieren. Der Produzent einer bestimmten Ware, sagen wir Schuhen, braucht zwar Eisenbahn- und Straßenverbindungen, um die in Massenproduktion gefertigten Schuhe verkaufen zu können. Die Beteiligung am Ausbau dieser Infrastruktur bedeutet für ihn aber einen Kostenfaktor, der zu einem Nachteil im Wettbewerb werden kann. Die Lösung ist bekannt: Der Staat übernimmt diese Aufgaben, er schafft die allgemeinen Voraussetzungen der kapitalistischen Produktionsweise, übernimmt also Aufgaben der Allgemeinheit, vertritt gleichsam das allgemeine kapitalistische Interesse. Da Bildung und Ausbildung ebenso wie eine gute Infrastruktur auch im Interesse der Lohnarbeiter sind, bilden sie auch das allgemeine gesellschaftliche Interesse. Anders formuliert: es muss neben der Ökonomie sich ein Bereich der Politik etablieren, der die allgemeinen Voraussetzungen der kapitalistischen Wirtschaftsweise schafft und die destruktiven Folgen dieser Ökonomie einhegt. Nun ließe sich einwenden, dass bestimmte Teile der Bildung, in Deutschland etwa die Berufsausbildung, durchaus privat angeboten werden. In den USA sind auch einige Universitäten private Einrichtungen. Ein Blick auf die Infrastruktur zeigt, dass diese teilweise durchaus von privaten Unternehmen geschaffen wurden. Man denke etwa an die deutschen Eisenbahngesellschaften, die erst von Bismarck verstaatlicht wurden oder den Sagen umwobenen US-amerikanischen Eisenbahnbau, der in Wahrheit nicht nur mit dem Völkermord an den Indianern, sondern auch mit der bestialischen Ausbeutung der Arbeiter verbunden war. Im neoliberalen Kapitalismus geht es dem Kapital darum, die öffentlich betriebenen Unternehmen, also Eisenbahn, Post, Telefon, Müllabfuhr, aber auch Wasserversorgung oder den Betrieb von Straßen zu privatisieren. Widerspricht das nicht der These von den allgemeinen Funktionen, die der Staat in einer kapitalistischen Ökonomie übernehmen muss? Die Phänomene sind einzeln zu diskutieren und die Antworten sind höchst unterschiedlich. Greifen wir zunächst das Problem privater Bildung auf: Das duale System der Berufsausbildung in Deutschland ist erstens nicht ausschließlich privat – die Berufsschulen sind staatlich. Zweitens ist dieses System in Europa so ziemlich einmalig und dem Umstand geschuldet, dass die Unternehmen ihren zukünftigen Lohnarbeitern für das Unternehmen spezifische Kenntnisse vermitteln wollten oder wollen. Die Allgemeinbildung wird dem Staat überlassen. In den USA ist der private Bildungsbereich weitgehend der Elite vorbehalten, die für die besseren Zukunftschancen ihrer Kinder zahlen kann – dann natürlich lohnt sich ein privates Angebot. Dieses Argument ist auch für die neoliberale 94 Privatisierungsorgie relevant. Es geht darum, in einem Zustand der Überakkumulation mit Verwertungsproblemen neue Geschäftsfelder zu erschließen. Die Gewinne werden im Rahmen der Privatisierung oft seitens des Staates garantiert – etwa bei der Müllabfuhr oder der Wasserversorgung. Außerdem übernimmt der Staat – wie es im Juristendeutsch heißt – eine Gewährleitungsfunktion, d.h. er gewährleistet die Versorgung mit den entsprechenden Leistungen oder verpflichtet den privaten Anbieter zur Leistungserbringung dort, wo es sich eigentlich nicht lohnt, weil die Profitrate zu gering ist. Die Verstaatlichung der Eisenbahn durch Bismarck zeigt umgekehrt, dass die Versorgung durch Private zu unsicher war und selbstverständlich musste die Streckenführung immer staatlich genehmigt und geplant werden. Es bleibt dabei: Die kapitalistische Ökonomie braucht den Staat als Institution, um ihre eigenen Voraussetzungen zu schaffen. Es ließe sich weiter fragen: Ist das etwas Besonderes im Kapitalismus oder hat der Staat auch in anderen Gesellschaftsformationen die Funktion, die Voraussetzungen der Ökonomie herzustellen? Die Antwort lautet: Auch in vorhergehenden Gesellschaftsformationen übernimmt der Staat allgemeine Aufgaben, die aber allenfalls am Rande die Voraussetzungen der Ökonomie betreffen und mehr fokussiert sind auf die Ausübung der Gewalt durch Heer und Polizei, Steuereintreibung und teilweise Versorgung der Bevölkerung mit öffentlichen Gütern. Erst im Kapitalismus, vielleicht noch im merkantilistischen Übergang zu diesem, wird der Staat – gegen alle liberale Ideologie – zum Interventionsstaat, der die Voraussetzungen des Wirtschaftens herstellt und sichert. Damit muss sich der Umfang des bürokratischen Apparates um ein Vielfaches erweitern. Der „bürokratische Verwaltungsstab“, wie Weber das nannte, wird zum zentralen Charakteristikum des Staates. Für das Mittelalter streiten die Mediävisten darüber, ob man überhaupt von einem Staat sprechen kann, eben weil es so wenige staatliche Funktionen und Aufgaben gab, diese wurden gleichsam privat vom Grundherrn wahrgenommen. Der König war auf die Folgebereitschaft seiner „Untertanen“ angewiesen und sein Stab, d.h. sein Hof, war so klein, dass er mit „seinem ganzen Staat“ durch die Lande reisen konnte und auch musste, weil nur so die Kommunikation in der Fläche gelang. Im antiken Rom sah das etwas anders aus. Der Staat war zentral organisiert und hatte auch Funktionen neben der überdimensionalen Armee. Einige Beispiele, die nicht abschließend sind, lassen sich benennen. Rom ist berühmt für seinen Straßenbau, der aber nicht vorrangig dem Transport für Waren diente, sondern der schnelleren Bewegung des Militärs. Die Nutzung als Handelswege folgte und führte durchaus auch zu einem weiteren Ausbau des unbefestigten Straßennetzes. Aber der Transport war an die Geschwindigkeit von Pferden und 95 anderen Lasttieren gebunden, so dass man in anderen Dimensionen denken muss. Bekannt ist das römische Aquädukt, das der Wasserversorgung der Bevölkerung diente und damit noch am ehesten als Herstellung der Voraussetzungen für die Produktion gewertet werden kann, wenn auch in einem mittelbaren Sinn, wie die Krankenversorgung heute. Die wesentliche „bürokratische“ Leistung Roms war die Eintreibung der Steuern in dem Riesenreich. Diese wurden wiederum wesentlich für das Heer eingesetzt, teilweise wurde etwas für die Armenspeisung in Rom abgezweigt, mit der man sich politische Zustimmung sichern konnte. Schon die römischen Bauwerke, die sich bis heute bewundern lassen, wurden in der Regel privat finanziert. Es gab einige Schulen, die aber nicht staatlich organisiert wurden, sondern privat finanziert wurden. Wohlhabende Römer ließen ihre Jungs von Privatlehrern, meist freigelassenen, griechischen Sklaven, unterrichten. Mädchen erhielten in der Regel keinen Unterricht. Selbstverständlich gab es keine flächendeckende Schulversorgung. Sie beschränkte sich auf die größeren Städte. So konnten nie mehr als 20-30% der Männer und 10% der Gesamtbevölkerung überhaupt lesen und schreiben. Die Langsamkeit von Transport und Kommunikation „hatte zur Folge, dass der Staat nicht fähig war, systematisch ins Alltagsgeschäft der ihn konstituierenden Gemeinden einzugreifen“, schreibt Heather und fährt fort: „Das macht verständlich, warum der Umfang der Geschäfte, die eine römische Regierung zu erledigen hatte, nur einen Bruchteil der Arbeit des modernen Staates ausmachte. … Es mangelte ihr einfach an bürokratischen Kapazitäten, umfangreiche soziale Programme, etwa ein Gesundheitswesen oder eine Sozialversicherung, ins Visier zu nehmen. Initiatives Regierungshandeln beschränkte sich notwendigerweise auf einen sehr engen Bereich: auf die Aufrechterhaltung einer schlagkräftigen Armee und das Steuerwesen. Und selbst in Fragen der Besteuerung beschränkte sich die Aufgabe der Reichsbürokratie darauf, Pauschalsummen an die Städte des Reiches zu verteilen und den Geldtransfer zu überwachen“105. So findet sich unsere Annahme bestätigt: der bürokratische Stab und der bürokratische Staat entwickeln sich erst im Kapitalismus, weil die Voraussetzungen der Produktion nicht individuell, privat hergestellt werden können und deshalb dem das Allgemeine repräsentierenden Staat übertragen werden. Gleichzeitig muss der moderne Staat sich um die Beschränkung der destruktiven Folgen der an Profit orientierten Wirtschaft etwa durch Sozialsysteme oder Umweltschutz kümmern. Umgekehrt versetzt die moderne Produktion und Kommunikation den Staat erstmals auch in die Lage, umfangreiche Aufgaben zu übernehmen, 105 Heather, Der Untergang des römischen Weltreichs, S. 135. 96 sich in den kleinsten Winkel des Landes auszudehnen, beständig auch in den Wohnstuben seiner Einwohner präsent zu sein, sei es durch staatliche Medien, staatlich garantierte Kommunikationswege oder in Form staatlicher Überwachung. Die Revolutionierung der Produktions- und Kommunikationsmittel erlaubt erstmalig in der Geschichte die Bildung eines bürokratischen Stabes, der die Voraussetzungen der kapitalistischen Ökonomie sichern kann. Die industrielle Revolution ermöglicht es den Gesellschaften, ein Mehrprodukt von solchem Umfang zu erzeugen, dass ein bürokratischer Stab bisher ungekannter Größe unterhalten werden kann. Gleichzeitig werden durch die Revolutionierung der Kommunikationsmittel, die nicht erst mit dem Internet, sondern mit Telegrafen und Eisenbahn begannen, Herrschaft und Bürokratie ungeheuer effektiv und können in alle Poren der Gesellschaft eindringen. Um diese umfangreichen Aufgaben zu übernehmen, muss der Staat sich in einem dreifachen Sinne erweitern. Er erweitert sich erstens mit Blick auf die Aufgaben, wird zum interventionistischen Staat, der erstmals Verantwortung für die wirtschaftliche Gesamtentwicklung übernimmt. Foucault beschreibt die Entwicklung von der Souveränität des Ancien Regime zur staatlichen Gesamtverantwortung für die Ökonomie mit folgenden Worten: „Mit einem Wort, die neue Gouvernementalität, die im 17. Jahrhundert geglaubt hatte, völlig in einem erschöpfenden und einheitlichen Projekt der Polizei aufgehen zu können, befindet sich nun in einer solchen Lage, dass sie sich einerseits auf einen natürlichen Bereich beziehen muss, nämlich den der Wirtschaft.106 Sie wird Bevölkerung verwalten müssen. Sie wird auch ein Rechtssystem der Achtung von Freiheiten aufbauen müssen. Sie wird schließlich ein Mittel der direkten Intervention, das aber negativ ist, entwickeln müssen, nämlich die Polizei. Eine ökonomische Praxis, die Verwaltung der Bevölkerung, ein öffentliches Recht, das sich auf die Achtung der Freiheit und der Freiheiten gründet, eine Polizei mit einschränkender Funktion … – vier Bestandteile, die zu dem großen diplomatisch-militärischen Dispositiv hinzukommen, das seinerseits im 18. Jahrhundert kaum verändert worden war“107. Zweitens erweitern sich mit den neuen Aufgaben auch die staatlichen Institutionen. Staat ist nicht mehr nur Gewaltapparat und Steuerbehörde. Es entsteht ein großer Bildungsapparat von den Grundschulen bis zu den Hochschulen, der überdies noch verwaltet und organisiert werden muss. Der Staat erweitert sich auf die Systeme der sozialen Sicherung, die in den Staaten selbstverständlich 106 Foucault meint die vom Liberalismus unterstellte Naturgesetzmäßigkeit wirtschaftlicher Entwicklungen. 107 Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität, S. 508. 97 unterschiedliche Dimensionen erreichen – in Nordeuropa bekanntlich größere als in den USA, die in allen Fällen wieder bürokratisch organisiert werden müssen. Der Staat schafft Medienapparate, z.T. als staatliche Institution – die Liste ließe sich fortsetzen. Im Ergebnis erweitert der Staat drittens notwendigerweise seine personellen und materiellen Ressourcen. Der bürokratische Apparat erreicht Dimensionen, die mit denen in Gesellschaftsformationen, die der kapitalistischen historisch vorangingen, nicht vergleichbar sind. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Das gilt nicht etwa nur für den Nachkriegskapitalismus oder den fordistischen Kapitalismus – der bürgerliche Staat zeigt von Anbeginn diese Entwicklung, die zugegeben in verschiedenen Zeiten unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Er zeigt sie notwendig, weil die Bewegungsdynamik des Kapitalismus einen von den Einzelkapitalen unterschiedenen Apparat benötigt, der die Voraussetzungen dieser Ökonomie aufrechterhält und erst schafft. Voilà: Die Politik trennt sich von der Ökonomie. Hier lässt sich ein weiterer Aspekt anfügen. Oben wurde gezeigt, dass die Konkurrenzgesellschaft und -ökonomie Rechtsregeln in Form des allgemeinen Gesetzes hervorgebracht hat, d.h. das allgemeine Gesetz ist die adäquate Form des Rechts einer Konkurrenzgesellschaft. Weiter wurde gezeigt, dass das allgemeine, abstrakte Gesetz wegen seiner Form eine funktionale Gewaltenteilung erforderlich macht und damit eine tatsächliche Gewaltenteilung nahelegt. Wenn sich nun der Staatsapparat in der gezeigten Weise erweitert, wird diese Tendenz zur tatsächlichen Gewaltenteilung manifest. Die verschiedenen Funktionen, das sind Setzung des allgemeinen Gesetzes, Vollzug des allgemeinen Rechtssatzes im Einzelfall wie die richterliche Kontrolle eines dem Gesetz entsprechenden Vollzuges, werden im Staat auf unterschiedliche Organe verteilt, schon weil sie wegen des Umfangs der staatlichen Geschäfte, also der Komplexität staatlicher Aufgaben und Interventionen nicht mehr ohne Arbeitsteilung wahrgenommen werden können. Die tatsächliche Teilung der Funktionen hat unterschiedliche Dimensionen: Neben der Berechenbarkeit der öffentlichen Gewalt für die konkurrierenden Unternehmen kann Gewaltenteilung auch zu einer mehr oder weniger effizienten Machtbeschränkung der staatlichen Gewalt führen. Voraussetzung ist allerdings eine offene Kultur und die Vermeidung einer informellen Unterordnung, die keineswegs selten ist. 98 g) Eigengesetzlichkeit der staatlichen Abteilungen Der Staat erscheint so als das ideelle Allgemeine der kapitalistischen Gesellschaft, was ihm schon wegen dieser Funktion eine Legitimation verschafft, die sich in Formulierungen äußert wie: Der Staat vertritt das Allgemeinwohl oder arbeitet in dessen Interesse. Aber dieses Allgemeine ist das Allgemeine der kapitalistischen Gesellschaft, ist in der gezeigten Weise strukturell mit den ökonomischen Bedingungen dieser Gesellschaft verwoben. Der Staat erhält in der kapitalistischen Gesellschaft eine besondere Existenzweise, nämlich als von der Ökonomie getrennte Veranstaltung, und fügt sich so in die Totalität dieser Gesellschaft. Im Anti-Dühring formuliert Engels das etwas anders: „Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentliche kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist. Je mehr Produktivkräfte er in sein Eigentum übernimmt, desto mehr wird er wirklicher Gesamtkapitalist, desto mehr Staatsbürger beutet er aus.“108 Damit lag er aus verschiedenen Gründen ziemlich daneben. Diese Formulierungen haben zur allgemeinen Verwirrung der materialistischen Staatsdiskussion beigetragen. Versteht man „ideeller Gesamtkapitalist“ in dem Sinne, dass der Staat das Allgemeine der kapitalistischen Gesellschaft, gleichsam die Systeminteressen formuliert, also in dem Sinne, wie es oben formuliert wurde, passt der Ausdruck. Weil Engels aber den ideellen Gesamtkapitalisten zum wirklichen werden lässt, ergeben sich Probleme. Der wirkliche Gesamtkapitalist ist eben nicht mehr eine von der Ökonomie besonderte Instanz. Die Trennung würde in die Richtung aufgehoben, dass sich der Staat ökonomische Funktionen aneignet, was empirisch nicht eingetreten ist. Dreißig Jahre neoliberale Politik haben gezeigt, dass der Staat in gewissen Perioden, mehr in anderen weniger ökonomische Funktionen ausüben kann, wobei dies – meist, aber nicht nur – geschieht, um die Voraussetzungen der Ökonomie zu sichern. Er bleibt Staat der bürgerlichen Gesellschaft, also von der Ökonomie besondertes Herrschaftsorgan. Wichtiger aber ist, den Staat nicht als Maschine, sondern als Struktur zu begreifen. Marx und Engels bemühen das Maschinenbild in verschiedenen Zusammenhängen, was es nicht richtiger macht und hinter die eigene Erkenntnis von der Besonderung des Staates zurückfällt. Eine Maschine funktioniert nach allgemeinem Verständnis nach dem Willen und Befehlen ihres Herrn, ist Werkzeug oder Instrument in der Hand desjenigen, der sie bedient. Es gibt genau kalkulierbare Reaktionen, wenn jener oder dieser Hebel umgelegt oder 108 Engels, Anti-Dühring, MEaW V, S. 305. 99 jener Knopf gedrückt wird. Dann wäre unsere gesamte Diskussion überflüssig. Versteht man Maschine in diesem einfachen Sinne, würde die Staatsmaschine von einer Gruppe Kapitalisten bedient und in deren Sinne funktionieren. Man kann Maschine allerdings auch in dem oben von Marx diskutierten Sinne verstehen. Sie ist dann ein eigenständiger Mechanismus, in dessen organisatorischen Zusammenhang sich der Arbeiter, der sie bedient, einzuordnen hat. Sie ist eben Maschine und nicht Werkzeug; Computer mit eigener Logik, nicht Hammer. Dann würde das Bild eher treffen, nur leider wird es meist nicht so verstanden. Wenn sich der Staat in der bürgerlichen Gesellschaft in dem genannten dreifachen Sinn erweitert, folgt daraus, dass er verschiedene Machtzentren, Entscheidungsebenen mit entsprechenden Eigeninteressen ausbildet. Insofern ist der Staat nur in sehr abstrakter Weise als Einheit zu denken. Das Problem der Einheit ist zunächst eines der Staatsrechtslehre, die sich bis heute nicht von monarchistischen Ursprüngen trennen konnte. Der monarchistische Staat wird durch den König repräsentiert, weshalb seine Willensbildung als Einheit gedacht werden kann. Der Wille des Königs ist der Wille des Staates oder „L’état c’est moi“. Fällt diese Identität weg, weil der König auf dem Schafott gelandet ist, wird nicht ein abstraktes Dispositiv der Macht frei. Rödel, Frankenberg, Dubiel schreiben: „Die Stelle der Macht wird buchstäblich leer“109. Das ist natürlich Unsinn, weil der König die Macht immer nur repräsentierte und nicht der einzige Machtfaktor war, auch nicht im absolutistischen Staat. Aber der Wille des Königs stand für den Willen des Staates. Die Einheit der natürlichen Person repräsentierte die Einheit des Staates als juristischer Person. Mit dieser Argumentation – nur stilistisch etwas verschwurbelter – wurde in der deutschen Staatstheorie bis zum Ende des Kaiserreichs der einheitliche Wille der juristischen Person Staat begründet. Als der König abgedankt hatte, gab die Staatsrechtslehre die Einheit des Staates nicht etwa auf, sie wurde zum Problem. Wie konnte sie nun begründet werden, am besten ohne demokratische Mehrheitsentscheidungen zu akzeptieren? Bis in die Gegenwart wird das Problem der staatlichen Einheit dadurch gelöst, dass ein einheitliches Staatsvolk als Voraussetzung des Staates konstruiert wird mit ganz wichtigen Konsequenzen wie: „In der EU kann es keine Demokratie geben, weil es kein einheitliches Staatsvolk gibt.“ Oder: „Ausländer können keine Wahlberechtigung erhalten, weil sie nicht zum Staatsvolk gehören.“ Als Einheit lässt sich der Staat nur in Abgrenzung nach außen denken. Entscheidungen wie etwa juridische Gesetze verlieren mit der Staatsgrenze ihren Geltungsanspruch, d.h. sie gelten nur innerhalb der Einheit Staat. 109 Rödel u.a., Die demokratische Frage, S. 89. 100 Die verschiedenen Abteilungen des erweiterten Staatsapparates haben unterschiedliche Aufgaben, nehmen verschiedene Funktionen war, die sich gewissermaßen verselbständigen zur Eigengesetzlichkeit der jeweiligen Abteilung werden. Die Zielstellungen der Abteilung werden von den dort arbeitenden Personen, den handelnden Akteuren internalisiert, fließen ein in die Alltagsroutinen und den Habitus und reproduzieren so die Struktur der Abteilung, die wiederum die Handlungen strukturiert110. Die Funktionsimperative der staatlichen Abteilung werden so zur ersten Eigengesetzlichkeit dieser Abteilung, die sie nicht nur verfolgt, sondern auch gegen andere Abteilungen verteidigt, zu erweitern versucht und als „ihren Bereich“ reklamiert. Umweltbehörden beispielsweise vollziehen nicht nur einfach die Umweltgesetze, sondern verfolgen im Rahmen ihrer Möglichkeiten aktiv Umweltpolitik, haben sich gleichsam den Umweltschutz auf die Fahne geschrieben. Ausländerbehörden arbeiten dagegen über das gesetzlich notwendige Maß hinaus als Zuwanderungsverhinderungsbehörde, und zwar jeweils unabhängig von der persönlichen Einstellung der Mitarbeiter, die diesen Behörden zugewiesen wurden. Es ist ja keineswegs so, dass in Umweltbehörden nur begeisterte Umweltschützer eingestellt würden usw., wenngleich diese Vorauswahl auch eine Rolle spielt. Eine Eigengesetzlichkeit ergibt sich also aus den Funktionen der jeweiligen Abteilungen des Staates. Die andere äußert sich als Kampf um die Ressourcen des Staates, der unabhängig davon geführt wird, ob die Ressource gebraucht wird oder nicht. Vorhandene Mittel werden ausgegeben, damit sie nicht verfallen und anderes mehr. Dabei geht es nicht um Verschwendung, sondern um Machterweiterung der Abteilung insgesamt oder der führenden Personen. Eigengesetzlichkeit hat also eine doppelte Bedeutung. Sie beinhaltet einerseits das Streben, die eigenen Ressourcen zu erweitern und bezieht sich andererseits auf die Funktionen der Staatsabteilung. Entwickeln die Abteilungen des Staates aber Eigengesetzlichkeiten, anders formuliert, entwickeln sie eigene Interessen, dann kann die staatliche Willensbildung als Voraussetzung einer Entscheidung nur Ergebnis eines Kräfteparallelogramms dieser unterschiedlichen Interessen der Abteilungen des Staates sein. Der Staat ist durchzogen von unterschiedlichen Interessen seiner Abteilungen, die ein Kräfteparallelogramm bilden. 110 Vgl. ausführlich: Fisahn, Herrschaft im Wandel, S 31 ff. 101 h) Staat und Kräfteverhältnis Staatliche Entscheidungsprozesse lassen sich nicht im isolierten, abgeschotteten Raum vorstellen. Sie finden statt in einem gesellschaftlichem Umfeld, das mit staatlichen Entscheidungsträgern, die selbst außerhalb ihrer Funktion auch Umfeld sind, kommuniziert und kommunizieren kann.111 Innerhalb der Gesellschaft wiederum existieren bekanntlich wiederum verschiedene Interessen, Werte und Lebensweisen, die versuchen Einfluss auf die Frage der Politik zu nehmen: „Wie wollen wir leben?“ Das heißt, in der Gesellschaft lassen sich ebenfalls unterschiedliche Kräfte identifizieren. Sie ist zu denken als ein Kräfteparallelogramm, das im Staat abgebildet und repräsentiert wird, weil die handelnden Akteure des Staates gleichzeitig Mitglieder der Gesellschaft sind und unterschiedliche Kanäle zur Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft zur Verfügung stehen. So wie die Gesellschaft insgesamt, sind auch Teile, Subsysteme oder Gruppen innerhalb der Gesellschaft nicht als homogener Block, sondern als Kräfteparallelogramm zu denken. Ebenso wenig wie die Gewerkschaften sind die Unternehmen oder das Kapital einheitlich, sondern innerhalb der Gruppen werden unterschiedliche Interessen formuliert, aus denen „eine“ Politik oder Strategie des Verbandes ebenso wie beim Staat kondensiert wird. Auch hier fehlt die unterstellte Einheit, sie wird mühselig in einem Prozess des Kräfteausgleichs produziert. Interessen sind dabei nicht als a priori Gegebenes, direkt aus der sozialen Situation oder dem gesellschaftlichen Status entspringendes zu denken. Die materiellen Bedingungen fließen in die Aggregation von Faktoren, die sich schließlich als Interesse artikulieren, ein. Zu den Faktoren gehören ebenso internalisierte Wertvorstellungen oder Orientierungsmuster, die in der Auseinandersetzung mit der Gesellschaft mit der Persönlichkeitsbildung, durch Sozialisation, entstehen. Was sich als Interesse artikuliert, ist ein organisiertes, auf Politik und Staat bezogenes. Der Staat organisiert Interessen erst, auch diejenigen des Kapitals. Dabei kommt es nicht darauf an, ob es sich um den bekannten Nationalstaat oder um ein Staatsprojekt wie die EU, also quasi staatliche Institutionen handelt. Das Kapital ist also ebenso wie der Staat keine Einheit. In der Diskussion der gesellschaftlichen Linken, werden sowohl „das Kapital“ wie „der Staat“ oftmals 111 Anders als Luhmann meint, bilden die Abteilungen des Staates eben keine autopoietischen Subsysteme, die untereinander nicht kommunizieren können. Die Vorstellung ist schon deshalb abwegig, weil die handelnden Akteure, die Luhmann vorsichtshalber wegdefiniert, gleichzeitig System und Umwelt sind, weshalb sich auch keine Grenze für die kleinste Einheit eines Systems finden lässt, so dass am Ende Nichts mit Niemand oder Alles mit Allem zusammenhängt. So macht sich Theorie überflüssig. 102 als Einheit postuliert, wobei „dem Kapital“ die Priorität eingeräumt wird. „Die Europäische Union ist ein ‘Projekt des europäischen Kapitals’“112 , heißt es dann beispielsweise. Damit versucht die Autorin etwas ungelenk, den Charakter oder „das Wesen“ der EU zu erfassen. Hat man „das Wesen“ einmal erfasst, muss man sich um die Feinheiten nicht mehr kümmern. Dahinter stehen meist etwas schlichtere Vorstellungen von Formen bürgerlicher Herrschaft, gleichsam mechanistische Interpretationen, die „den Staat“ als Objekt, als Mittel oder als Instrument verstehen, auf dem die bürgerliche Klasse virtuos zum Schaden der Beherrschten, wie immer die auch definiert werden, spielt. Nachdenklich könnten solche Instrumentalisten bei folgendem Ereignis werden. Mitten in der Ukraine-Krise, nachdem die Krim sich von der Ukraine gelöst und für einen Anschluss an Russland votiert hat, zu einem Zeitpunkt, als die EU vehement protestiert und zusammen mit den USA Sanktionen gegen Russland beschlossen hat, strahlte WDR 5 einen Kommentar aus, der so begann: „Vize-Außenminister Joe Kaeser: Wie Siemens die deutsche Russland-Politik durchkreuzt – Demonstrativ und im Beisein von Kameras traf sich SiemensChef Joe Kaeser gestern mit dem russischen Präsidenten Putin. Mehr als eine Geschmacklosigkeit. Denn mitten in einer der größten Krisen zwischen Russland und dem Westen konterkariert Kaeser mit seinem Auftritt die RusslandPolitik der Bundesregierung und versucht Siemens, eine eigene Außenpolitik zu machen.“113 Wie, fragt man sich, kommt die Dissonanz114 in die Tonfolge, wenn doch eigentlich Herr Kaeser derjenige ist, der das Instrument spielt. Sophistisch könnte der Instrumentalist antworten: „Die EU ist eben kein Staat.“ In ihr vertreten die nationalen Regierungen die Interessen ihres nationalen Monopolkapitals und das deutsche Monopolkapital hat bessere Beziehungen zu Russland als „Das französische Kapital“ oder „Die polnische Bourgeoisie“. „Das deutsche Kapital“ hat sich eben nicht durchgesetzt. Das hieße aber: Man liegt schon daneben, wenn man vom „europäischen Kapital“ – wieder so ein Wesen – spricht. Nimmt man aber an, dass es unterschiedliche Interessen beispielsweise zwischen französischem und deutschem Kapital gibt, dann ist nicht einzusehen, warum nicht auch verschiedene Unternehmen in Deutschland unterschiedliche Interessen haben sollten. Klar sagt der instrumentalistische Monopoltheoretiker: 112 Höger, Der Europaparteitag der LINKEN – weitere Schritte der Sozialdemokratisierung. 113 Drüscher, Wie Siemens die deutsche Russland-Politik durchkreuzt. 114 Natürlich wurde schnell versucht, abzuwiegeln und zu beschwichtigen, die Wogen zu glätten, aber Drüscher hat die Differenz gut herausgepickt. 103 Es gibt verschiedene Kapitalfraktionen. Die Konsequenz ist aber: Die Einheit fehlt, es gibt nicht „Das deutsche Kapital“. Das ist geradezu eine Banalität – aber dennoch taucht der Begriff immer wieder auf. „Das Kapital“ ist ein hervorragendes Buch, in dem Kapital als „vermitteltes gesellschaftliches Verhältnis zwischen Personen“115 beschrieben wird. Es hat keine Nationalität und kann nach dieser Definition keine haben. Selbst in einem übertragenen Sinne, so wie instrumentalistische Monopoltheoretiker von einem „nationalen Kapital“ sprechen, der die Eigentümer oder Funktionäre des Kapitals meint, ist die Unterscheidung zunehmend sinnlos geworden. Weder sind die Funktionäre des Kapitals eindeutig national zuzuordnen, wie ein Blick auf den Vorstand des deutschen Vorzeigeunternehmens, der „Deutschen Bank“, zeigt, noch sind es die Eigner der Unternehmen, die Aktienbesitzer, deren Interessen nationale Regierungen „vertreten“ sollen.116 Eher sind die kleinen und mittleren Unternehmen als einer Nation zugehörig zu beschreiben – deren Projekt ist die EU in den diskutierten „Weltanschauungen“ aber gerade nicht. Die zweite wichtigere Konsequenz der Annahme von unterschiedlichen „Kapitalfraktionen“ ist: Das Instrument, also der Staat, wird zu einem Kräfteparallelogramm, in dem unterschiedliche Interessen aufeinanderstoßen, aus denen eine Politik zu destillieren ist oder auch ein allgemeines Interesse gebildet werden muss, was bedeutet, dass die durchaus divergierenden Interessen verschiedener Player der ökonomischen Macht, d.h. die unterschiedlichen Interessen innerhalb der herrschenden Klassen harmonisiert oder vereinheitlicht werden müssen. Frank Deppe schreibt: „Die fraktionellen Interessen organisierten sich in politischen Parteien, die um Mehrheiten bei den Wahlen und im Parlament – als Voraussetzung für die Übernahme der Regierungsmacht und des bestimmenden Einflusses bei der Legislative – kämpfen. Auf diese Weise wird das ‘allgemeine Interesse’ auf dem politischen ‘Markt’ gleichsam herausgefiltert. Die Besonderung des Staates aus der bürgerlichen Gesellschaft und die relative Autonomie der Politik (und deren institutionelle Absicherung), die von Marxisten oft unterschätzt wurde (und wird), beruhen letztlich auf diesen Mechanismen der Bildung des ‘allgemeinen Interesses’ bzw. des ‘Durchschnittsinteresses’ der herrschenden Klasse im Staat.“117 Logisch folgt dann aber die Frage, warum denn wohl nur Kapitalinteressen in diesem politischen Kräfteparallelogramm wirken und sich nicht auch andere 115 Marx, Das Kapital, MEW Bd. 23, S. 793. 116 Deppe, Probleme der politisch-strategischen Positionierung der Linken in der Eurokrise, in: Das Argument, 2013, S. 174. 117 Deppe, Der Staat, S. 42. 104 politische Interessen zu einer Kraft formieren können, die auf das Parallelogramm einwirkt. Stellt man die Frage, ist sie auch schon beantwortet. Natürlich wirken auch andere Kräfte wie Kirchen und Gewerkschaften oder soziale Bewegungen und beeinflussen das Kräfteverhältnis in der Politik – erst recht in parlamentarischen Systemen.118 Damit werden auch imperialismustheoretische Annahmen, jedenfalls die älteren leninscher oder luxemburgischer Provenienz, problematisch, in denen der Staat als Agent monopolistischer Interessen an Expansion auftritt und diese (vor allem) gegenüber der nichtkapitalistischen Welt mit Gewalt, d.h. durch militärische Mittel durchsetzt.119 Das heißt nun nicht, dass Staaten keine Interessen verfolgen, diese auch militärisch durchsetzen oder gar, dass die Gewalt als Mittel der Politik verschwunden ist. Dazu bedarf es keines Beweises. Nicos Poulantzas hat die Einbettung des Staates in unterschiedliche Kräfteparallelogramme so zugespitzt: Der Staat sei zu begreifen „als die materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen, das sich im Staat immer in spezifischer Form ausdrückt.“120 Wolfgang Abendroth hat folgerichtig die Verfassung eines Staates, d.h. die Gebrauchsanweisung für den Staat, das grundlegende Gesetz, das die Spielregeln der Konflikte bestimmt, als Klassenkompromiss begriffen. Muss der Staat in einem Feld unterschiedlicher Kräfte das Allgemeine oder auch nur das scheinbar Allgemeine destillieren, muss er eine eigenständige Bedeutung, d.h. zu einer eigenständigen Macht werden, die z.T. das Allgemeine repräsentiert, z.T. soziale Herrschaft politisch organisiert und z.T. eigene besondere (Herrschafts-)Interessen entwickelt, unabhängig oder sogar gegen die Gesellschaft. Hier findet man den Nukleus einer dreifachen 118 Mit den Prämissen erledigen sich logisch auch die Schlussfolgerungen Högers, die eine Sozialdemokratisierung linker Politik bejammert, denn das Wahlprogramm der Linken enthalte „Passagen, die auf Reformen der EU setzten“. Die sind natürlich abzulehnen, weil es sich ausschließlich um ein Projekt „des europäischen Kapitals“ handelt. Hat man aber die Grobschlächtigkeit dieser Analyse überwunden, kann man nur folgern, dass in einem Kräfteparallelogramm das Programm eines „radikalen Reformismus“ (Hirsch und Deppe) auch die EU einbeziehen muss. 119 Luxemburg schreibt: „Bei der hohen Entwicklung und der immer heftigeren Konkurrenz der kapitalistischen Länder um die Erwerbung nichtkapitalistischer Gebiete nimmt der Imperialismus an Energie und an Gewalttätigkeit zu, sowohl in seinem aggressiven Vorgehen gegen die nichtkapitalistische Welt wie in der Verschärfung der Gegensätze zwischen den konkurrierenden kapitalistischen Ländern. Je gewalttätiger, energischer und gründlicher der Imperialismus aber den Untergang nichtkapitalistischer Kulturen besorgt, umso rascher entzieht er der Kapitalakkumulation den Boden unter den Füßen.“ (Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, Gesammelte Werke, Bd. VI, S. 361). 120 Poulantzas, Staatstheorie, S. 159 – (kursiv Verf.). 105 Bestimmung der Charakteristika des Staates, die über die „Maschine der Klassenherrschaft“ weit hinausgeht. Dabei lässt sich die Repräsentation des Allgemeinen wiederum aufgliedern in die Repräsentation der allgemeinen Interessen der herrschenden Klasse und die Repräsentation der Interessen der gesamten Gesellschaft – also verstanden als wirkliche Allgemeinheit. Voilà: Der Staat besondert sich von der Gesellschaft. Staaten verfolgen selbstverständlich auch ökonomische Interessen oder besser wirtschaftspolitische Ziele, die sich aber keineswegs unmittelbar als materialisierte Vorgaben aus Konzernetagen verstehen lassen. Die Besonderung des Staates von der Ökonomie121 ist gerade das Spezifikum der politischen Organisation der bürgerlichen Gesellschaft und diese ihrerseits das Ergebnis der spezifischen historischen Bedingungen, die unten zu diskutieren sind. So bewegt sich das Verhältnis von Ökonomie und Politik in der bürgerlichen Gesellschaft im Spannungsfeld von Autonomie und Dependenz beider Seiten, die aufeinander angewiesen sind, gleichzeitig aber eigene Interessen und Konzepte entwickeln. Anders gesagt: Die staatlichen Apparate verfolgen – selbstverständlich – eigene Interessen, folgen eigenen Gesetzmäßigkeiten, die sich von den ökonomischen unterscheiden. Sie haben immer ein Interesse an der Ausdehnung und Sicherung der eigenen Macht, damit letztlich auch an der Stabilität des Systems. Das Ziel, die eigene Macht auszudehnen, führt regelmäßig zu eigenständigen geopolitischen Interessen, die sich von den Interessen des ökonomischen Systems unterscheiden können. Wo es um die Systemstabilisierung geht, decken sich die Interessen des Staates in der Tiefe mit denen privilegierter Klassen, die zum Teil als sich selbst für privilegiert haltend erzeugt werden. Zu den Grundfesten der überschneidenden Interessen gehört in der bürgerlichen Gesellschaft die aus ihrer Struktur entspringende Notwendigkeit zu ökonomischem Wachstum, das nicht nur die materielle Basis des politischen Systems produziert, sondern – neben anderen Faktoren – auch dessen Legitimität sichert. In dieses Geflecht von Eigengesetzlichkeiten, Autonomie und Dependenzen sind nun die Gegenkräfte einzubeziehen, die sich aus der Organisation der Zivilgesellschaft ergeben, die nicht nur soziale, sondern ebenso kulturelle und ökologische Interessen in das Feld einbringen. Die Tatsache, dass Politik nicht ökonomisch determiniert ist, sagt selbstverständlich noch nichts über die Kräfteverhältnisse, die im und auf den politischen Apparat wirken – nur muss man sich den Mühen der Ebene unterziehen und diese in der jeweiligen historischen Situation genau analysieren, wofür Marx mit den Analysen zum „Bürgerkrieg 121 Vgl. ausführlich Fisahn, Herrschaft im Wandel, passim. 106 in Frankreich“ ein bis heute eindrucksvolles Beispiel gegeben hat.122 Politische Projekte werden dann erfolgreich oder überhaupt wahrnehmbar, wenn es gelingt, die verschiedenen Interessen in diesem Geflecht zu bündeln und hegemonial werden zu lassen, d.h. einen breiten Konsens zu erzeugen. Hier kommt gleichsam der subjektive Faktor ins Spiel. IV. Eigentum und Staat 1. Eigentum und Mehrwert Die bürgerliche Gesellschaft, so scheint es auf den ersten Blick, ist zentral um das Privateigentum gruppiert. Das Privateigentum scheint der Dreh- und Angelpunkt des Kapitalismus, also ein Spezifikum der bürgerlichen Gesellschaft zu sein. Das Privateigentum an Produktionsmitteln steht im Mittelpunkt der Kritik von Marx und Engels. Dieses gelte es in einer kommunistischen Gesellschaft zu überwinden. Und das Eigentum gilt den Staatstheorien seit Hobbes als zentraler Grund, um vom Naturzustand in den bürgerlichen Zustand einzutreten, also den Staat zum Schutz des Eigentums zu begründen. Hobbes rechtfertigt den Staat, den Leviathan, als Vorkehrung gegen das „Recht des Stärkeren“ im Naturzustand; d.h. der Schwächere vertraut sich und sein Eigentum dem Schutz des Staates an. Der Staat beruht, schreibt Hobbes, auf einem „Vertrag eines jeden mit einem jeden, wie wenn ein jeder zu einem jeden sagte: ‘Ich übergebe mein Recht, mich selbst zu beherrschen, diesem Menschen oder dieser Gesellschaft unter der Bedingung, dass du ebenfalls dein Recht über dich ihm oder ihr abtrittst’. Auf diese Weise werden alle einzelnen eine Person und heißen Staat oder Gemeinwesen. So entsteht der große Leviathan oder, wenn man lieber will, der sterbliche Gott, dem wir unter dem ewigen Gott allein Frieden und Schutz zu verdanken haben.“123 Und dieser Frieden und Schutz meint den Schutz vor gewaltsamen Eingriffen in Freiheit und Eigentum. John Locke nimmt den Gedanken auf und macht aus der objektiven Aufgabe des Staates, Freiheit und Eigentum zu schützen, nun ein individuelles Recht auch gegen den Staat. Das Eigentum rückt bei Locke ins Zentrum der Rechte im bürgerlicher Zustand, wenn er schreibt: „Das große Ziel, mit welchem die Menschen in eine Gesellschaft eintreten, ist der Genuss ihres 122 Aktuell bietet ein anschauliches Beispiel für eine Analyse der Kräftekonstellationen: Karuscheit, Deutschland 1914 – Vom Klassenkompromiss zum Krieg. 123 Hobbes, Leviathan, S. 155. 107 Eigentums in Frieden und Sicherheit, und das große Werkzeug und Mittel dazu sind die Gesetze, die in dieser Gesellschaft festgelegt sind.“124 Bei Locke wird es explizit formuliert: Die Aufgabe des Staates ist der Schutz des Privateigentums. So konnten Marx und Engels diesen Gedanken in kritischer Absicht aufnehmen und den Schutz des Eigentums ebenfalls als Zweck des bürgerlichen Staates proklamieren. Sie schreiben: „Durch die Emanzipation des Privateigentums vom Gemeinwesen ist der Staat zu einer besonderen Existenz neben und außer der bürgerlichen Gesellschaft geworden; er ist aber weiter Nichts als die Form der Organisation, welche sich die Bourgeois sowohl nach Außen als nach innen hin zur gegenseitigen Garantie ihres Eigentums und ihrer Interessen notwendig geben.“125 Nun ist das Eigentum aber recht offensichtlich kein Spezifikum der bürgerlichen Gesellschaft und insofern das Zitat aus der „deutschen Ideologie“ zumindest unpräzise und missverständlich. Eigentum gab es schon in sehr frühen Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. In seiner Untersuchung zum „Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“ versucht Engels unter Verarbeitung früher ethnologischer Forschungen, den Ursprüngen des Eigentums auf den Grund zu gehen. Seine Überlegungen lassen sich etwa so zusammenfassen: In den frühen Stadien der Menschheitsgeschichte habe es kaum Überschuss in der Produktion gegeben. Was gemeinschaftlich produziert wurde, wurde auch gemeinschaftlich konsumiert. Soweit man einen Überschuss produzierte, wurde er in Tauschritualen eingesetzt, bei denen es nicht um Handel oder Vermehrung des Reichtums ging, bei dem die Akteure eher bemüht waren als wohlhabend zu gelten, indem sie viel zum Gabentausch beisteuerten; Eigentum war überflüssig. Die folgende Entwicklung skizziert Engels so: Mit der Einführung der Viehzucht, Metallverarbeitung, der regelmäßigen Bewirtschaftung des Bodens, des Feldbaus, die zu einer Teilung der Arbeit führten, konnte ein Überschuss erzielt werden. Damit seien Formen des Privateigentums entstanden, zunächst in der Familie, da „nach der damaligen Arbeitsteilung in der Familie ... dem Mann die Beschaffung der Nahrung und der hiezu nötigen Arbeitsmittel, also auch das Eigentum an diesen letzteren zu(fiel); er nahm sie mit. Im Fall der Scheidung, wie die Frau ihren Hausrat behielt. Nach dem Brauch der damaligen Gesellschaft also war der Mann auch Eigentümer der neuen Nahrungsquelle, des Viehs, und später des neuen Arbeitsmittels, der Sklaven.“126 Eigentum entstand folglich auf einer sehr 124 Locke, Über die Regierung, XI 134. 125 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, MEW Bd. 3, S. 62. 126 Engels, Der Ursprung der Familie, MEW Bd. 21, S. 59. 108 frühen Entwicklungsstufe der Menschheit und ist keineswegs ein Spezifikum der bürgerlichen Gesellschaft. Die Folgerungen, die eine Rechts- und Staatstheorie daraus ziehen kann, werden im Anschluss diskutiert. Hier ist nun festzuhalten: Eigentum ist keine Differentia specifica der bürgerlichen Gesellschaft. Nämliches gilt für den Mehrwert. Engels hat nach dem Tode von Marx dessen wissenschaftliche Leistung in der Entdeckung des Mehrwertes als der Quelle allen Reichtums gesehen. So schreibt er: „Es handelte sich aber darum, die kapitalistische Produktionsweise einerseits in ihrem geschichtlichen Zusammenhang ... darzustellen, andrerseits aber auch ihren inneren Charakter bloßzulegen, der noch immer verborgen war. Dies geschah durch die Enthüllung des Mehrwertes. Es wurde bewiesen, dass die Aneignung unbezahlter Arbeit die Grundform der kapitalistischen Produktionsweise und der durch sie vollzogenen Ausbeutung des Arbeiters ist.“127 Mehrwert entsteht – kurz gesagt – dadurch, dass die Arbeit dem Produkt mehr Wert zusetzt, als für ihre, der Arbeit, Reproduktion, also für den Unterhalt des Arbeiters und seiner Familie notwendig ist. Diesen Mehrwert eignet sich der Kapitalist an und verwandelt ihn in seinen Profit. In der industriellen Produktion ist dieser Vorgang verborgen, weil der Arbeiter einen Lohn erhält und der Kapitalist seinen Gewinn allem Anschein nach durch den Verkauf der Ware macht. Aber der Schein trügt, der Gewinn entsteht, weil durch die Verarbeitung der Rohstoffe mehr Wert geschaffen wird, als die Produktion kostet. Da die Dinge, Maschinen, Fabrikgebäude, Rohstoffe usw., ihren Wert im Produktionsprozess nicht verändern können, ist es offenbar die Arbeit, so folgert Marx, die dem Produkt mehr Wert zusetzt, als sie selbst kostet, die also einen Mehrwert produziert. In der feudalen Gesellschaft ist der Zusammenhang offensichtlicher als in der bürgerlichen Gesellschaft. Die Vasallen arbeiteten einen Teil der Woche auf eigene Rechnung und z.T. auf eigenem Grund, mehrere Tage mussten sie aber Frondienste, die sog. „Hand- und Spanndienste“ ableisten, d.h. die Güter und Angelegenheiten des Grund- und Lehnsherrn besorgen. Die Verteilung zwischen kulturell überformter Reproduktion des Leibeigenen und Produktion für den Grundherrn liegt hier anders als bei der Mehrwertproduktion in der kapitalistischen Gesellschaft offen zutage. Die Arbeit auf dem eigenen Acker dient der Reproduktion, der Versorgung des Leibeigenen oder Bauern und seiner Familie, während die Tage, die dieser für den Grundherrn arbeitet, dem Teil des Mehrwertes entsprechen, den sich in der kapitalistischen Gesellschaft der Unternehmer als 127 Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, MEaW V, S. 454. 109 Profit aneignen darf. In beiden Gesellschaften werden die entsprechenden Aneignungs- und Eigentumsrechte geschützt. Und in beiden Gesellschaftsordnungen wird um die Verteilung der Arbeit für „eigene“ und für „fremde“ Rechnung gerungen. Die Feudalherren erhöhten gelegentlich die Zeit der Frondienste so stark, dass ein Überleben der hörigen Bauern problematisch wurde. Kurz: Die fremde Aneignung eines Mehrproduktes ist keineswegs Differentia specifica der kapitalistischen Gesellschaft. In anderen Gesellschaftsformationen erfolgt diese Aneignung nur direkter und offensichtlicher. 2. Eigentum, Gewalt und Staat a) Spezieller Gewaltapparat und Besonderung des Staates Wie oben zitiert, hatten Marx und Engels in „Die Deutsche Ideologie“ noch die Auffassung vertreten, der bürgerliche Staat besondere sich als öffentliche Gewalt von der Gesellschaft nach der Ablösung des Privateigentums vom Gemeinwesen.128 Das hieße, unsere oben gestellte Frage ist beantwortet. Mit dem Privateigentum trennen sich Staat und Gesellschaft, Politik und Ökonomie. Ein Blick in die Geschichte zeigte jedoch, dass die Dinge so einfach nicht liegen. Die Antike und auch das Mittelalter kannten Privateigentum, was aber nicht dazu geführt hatte, dass sich die Politik von der Ökonomie getrennt hatte. Politische und ökonomische Funktionen waren institutionell verwoben. Wie schon erörtert entwickelt sich die Position weiter und Engels arbeitet in „Ursprung der Familie des Privateigentums und des Staates“ heraus, dass mit der Möglichkeit, einen Überschuss zu erarbeiten, sich die ursprünglichen Gemeinschaften verändern, weil insbesondere die Männer Eigentum beanspruchen, dieses für sich reklamieren und eine patrimonale statt der ursprünglichen matrimonalen Erbfolge durchsetzen. Mit dem Patriarchat, so seine These, entsteht der Staat nicht als von der Ökonomie getrennte Gewalt, sondern als besonderer Gewaltapparat, der aber politisch von den auch ökonomisch starken Gruppen beherrscht wird. Im „Griechenland der Heldenzeit“ findet Engels den Übergang von der Gentilverfassung zur staatlichen Verfassung. Die Voraussetzungen für den Übergang in den Staat seien die Aneignung des Grund und Bodens durch Einzelne, also das Privateigentum an Grund und Boden, eine verhältnismäßig entwickelte Warenproduktion und ein entsprechender Handel gewesen, was sich noch unter der 128 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, MEW Bd. 3, S. 62. 110 Gentilverfassung oder „soweit die geschriebene Geschichte zurückreicht“ entwickelt habe. Engels sieht folgende gesellschaftliche Entwicklung, die schließlich zur Ablösung der Gentilverfassung geführt habe: „Der aufgekommene Privatbesitz an Herden und Luxusgerät führte zum Austausch zwischen einzelnen, zur Verwandlung der Produkte in Waren. Und hier liegt der Keim der ganzen folgenden Umwälzung. … Mit der Warenproduktion kam die Bebauung des Bodens durch einzelne für eigne Rechnung, damit bald das Grundeigentum einzelner. Es kam ferner das Geld, die allgemeine Ware, gegen die alle andern austauschbar waren; … Die Teilung der Arbeit zwischen den verschiednen Produktionszweigen: Ackerbau, Handwerk, im Handwerk wieder zahllose Unterarten, Handel, Schifffahrt usw., hatte sich mit den Fortschritten der Industrie und des Verkehrs immer vollständiger entwickelt; die Bevölkerung teilte sich nun nach ihrer Beschäftigung in ziemlich feste Gruppen, deren jede eine Reihe neuer, gemeinsamer Interessen hatte, für die in der Gens oder Phratrie kein Platz war, die also zu ihrer Besorgung neue Ämter nötig machten.“129 Die Gentilverfassung sei in Folge dieser Entwicklung durch eine staatliche Verfassung abgelöst worden. „Die alte, auf Geschlechtsverbänden beruhende Gesellschaft wird gesprengt ...; an ihre Stelle tritt eine neue Gesellschaft, zusammengefasst im Staat, dessen Untereinheiten nicht mehr Geschlechtsverbände, sondern Ortsverbände sind, eine Gesellschaft, in der die Familienordnung ganz von der Eigentumsordnung beherrscht wird und in der sich nun jene Klassengegensätze und Klassenkämpfe frei entfalten, aus denen der Inhalt aller bisherigen geschriebnen Geschichte besteht.“130 Dabei charakterisiert Engels diesen Staat als Organisation einer von der Gesellschaft besonderten Gewalt. Engels schreibt: „Wir sahen, dass ein wesentliches Kennzeichen des Staats in einer von der Masse des Volks unterschiednen öffentlichen Gewalt besteht.“131 Diese Formulierung unterscheidet sich deutlich von der oben zitierten aus der Deutschen Ideologie. Die Herausbildung eines speziellen Gewaltapparates, der in letzter Instanz auch hinter dem Recht steht und von dem Gewaltpotenzial der Bevölkerung getrennt ist, die Arbeitsteilung zwischen Militär, Polizei einerseits und unbewaffneter Bevölkerung andererseits markiert für Engels den Übergang von der demokratischen Gentilverfassung zum Staat. Er schreibt: „Wie der Staat sich entwickelt hat, indem die Organe der Gentilverfassung teils umgestaltet, teils durch Einschiebung neuer Organe verdrängt und endlich vollständig durch wirkliche Staatsbehörden ersetzt wurden, während an die Stelle des in seinen Gentes, 129 Engels, Der Ursprung der Familie, MEW Bd. 21, S. 110 f, vgl. MEaW VI, S. 129 f. 130 Engels, Der Ursprung der Familie, MEW Bd. 21, S. 28. 131 Engels, Der Ursprung der Familie, MEW Bd. 21, S. 115. 111 Phratrien und Stämmen sich selbst schützenden wirklichen ‘Volks in Waffen’ eine diesen Staatsbehörden dienstbare, also auch gegen das Volk verwendbare, bewaffnete ‘öffentliche Gewalt’ trat – davon können wir wenigstens das erste Stück nirgends besser verfolgen als im alten Athen.“132 Der Staat entsteht zunächst als besondere Gewalt, als zentralisierter Gewaltapparat, aber die für die bürgerliche Gesellschaft charakteristische Trennung von politischen und ökonomischen Funktionen ist keineswegs mit dieser Staatenbildung verbunden. b) Gewalt-Monopol und Eigentum Was Engels wohl unterschätzt, ist die Tatsache, dass das Eigentum auch durch die Gewalt entsteht: Die Konzentration von Gewaltmitteln oder schlicht überlegene Gewaltmittel erlauben es erstens einigen Männern, Eigentum zu beanspruchen, und zweitens von anderen Tribute oder Steuern einzutreiben, um im Gegenzug politische und militärische Funktionen wahrzunehmen. Es sind – auch – die Krieger, die bewaffneten Männer, die für sich in Anspruch nehmen, von der unmittelbaren Produktion befreit dennoch den Überschuss verwerten oder ihn gar den unmittelbaren Produzenten wegnehmen zu dürfen. Und es sind kriegerische Auseinandersetzungen, die den Überlegenen veranlassen und in die Lage versetzen, Eigentum an Boden, Hab und Gut oder gar der ganzen Person, den Unterlegenen, der versklavt wurde, sich anzueignen. So erklärt sich die „Arbeitsteilung“ des Mittelalters, die aus den Strukturen der nordeuropäischen Stämme hervorgegangen ist. Der Landesherr bot Schutz vor Feinden durch seine militärische Ausbildung und Ausrüstung als Ritter gegen Arbeitsleistungen seiner Vasallen. Die Zentralisation der Gewalt ist nicht nur Folge der Ablösung des Privateigentums vom Gemeinwesen, sondern stand bei dieser Ablösung Pate. Marx hat im „Kapital“ die Rolle der Gewalt im Rahmen der ursprünglichen Akkumulation, d.h. der Kapitalbildung, die der bürgerlichen Gesellschaft vorausging, ausführlich beschrieben und die Gewalt nicht als Folge der Bildung von Eigentum, sondern als dessen Voraussetzung bezeichnet. Zynisch bemerkt er: „Diese ursprüngliche Akkumulation spielt in der politischen Ökonomie ungefähr dieselbe Rolle wie der Sündenfall in der Theologie. ... (Denn:) In der wirklichen Geschichte spielen bekanntlich Eroberung, Unterjochung, Raubmord, kurz Gewalt die große Rolle. In der sanften politischen Ökonomie herrschte von jeher die Idylle. Recht und ‘Arbeit’ waren von jeher die einzigen Bereicherungsmittel, 132 Engels, Der Ursprung der Familie, MEW Bd. 21, S. 107. 112 natürlich mit jedesmaliger Ausnahme von ‘diesem Jahr’. In der Tat sind die Methoden der ursprünglichen Akkumulation alles andre, nur nicht idyllisch.“133 Die Philosophie der Aufklärung, die bürgerliche Staatstheorie oder Staatsrechtslehre versteht den Staat denn auch explizit als Gewaltmonopol zum Schutze von Freiheit und vor allem Eigentum des Einzelnen. Wenn Hobbes im „Leviathan“ (1651) den Naturzustand als Krieg aller gegen alle denkt, ist das keineswegs nur ein Gedankenexperiment, sondern eine Erfahrung aus den vorangegangenen „Kriegen der drei Königreiche“ (1639-1651), die sich ebenso wie der parallel laufende „Dreißigjährige Krieg“ (1618-1648) aus Religionsstreitigkeiten entwickelt hatten. Der Leviathan plädiert für eine Konzentration aller Gewaltmittel beim Staat, begründet also die Idee des staatlichen Gewaltmonopols. Das Gewaltmonopol ist keineswegs eine Erfindung Hobbes, dieser fasst vielmehr Entwicklungen zusammen, die schon früher eingesetzt hatten. Damit ist der Staat als akkumulierter Gewaltapparat aber keineswegs ein Spezifikum der bürgerlichen Gesellschaft. Man findet ihn vielmehr auch in vorkapitalistischen Gesellschaften. Die Herrscher im antiken Rom konnten sich genauso auf das Militär als besonderes Gewaltmittel stützen wie die Pharaonen im alten Ägypten oder die chinesischen Kaiser vor der europäischen Invasion. Im Mittelalter fehlt diese zentralisierte Gewalt zumindest phasenweise oder sie bleibt regional und angefochten, so dass man sich darüber streitet, ob man für das Mittelalter von einem Staat sprechen kann. Dann folgt: Der Staat lässt sich durch den zentralisierten Gewaltapparat als – zumindest ein – wesentliches Element charakterisieren. Das gilt dann auch für den bürgerlichen Staat, dessen spezifische Form mit der Trennung von Politik und Ökonomie aber nicht erfasst ist. Max Weber definiert den Staat über das Gewaltmonopol in folgender Weise: „Staat soll ein politischer Anstaltsbetrieb heißen, wenn und insoweit sein Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwangs für die Durchführung der Ordnung in Anspruch nimmt.“134 Diese berühmte Definition enthält zwei wichtige Zusätze zum Gewaltmonopol: Erstens muss es nicht vollständig durchgesetzt sein, sondern nur – man muss hinzufügen: halbwegs erfolgreich – in Anspruch genommen werden. Zweitens muss es sich nach Weber um einen legitimen Anspruch handeln, was etwa die Mafia vom italienischen Staat unterscheidet. Die Frage der Legitimation ist noch zu diskutieren. Weber hat aber richtig darauf aufmerksam gemacht, dass sich staatliche Herrschaft nicht nur auf Gewalt stützen kann. Die Gewalt muss im Hintergrund bleiben und die 133 Marx, Das Kapital Bd. I, S. 751 f. 134 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 29. 113 Durchsetzung von Entscheidungen in der Regel gewaltlos erfolgen, ansonsten wäre der Gewaltapparat überfordert. Die Gründe, warum staatliche Anordnungen „freiwillig“ befolgt werden, können recht unterschiedlich sein. Weber subsumiert sie unter die Legitimität, die er drei Arten von Herrschaft zuordnet: der charismatischen, traditionalen und bürokratischen. Das ist offensichtlich zu eng gefasst. Warum Recht befolgt wird, habe ich an anderer Stelle diskutiert135, so dass diese Diskussion hier nicht wiederholt werden muss. c) Ambivalenzen des Gewaltmonopols Lässt sich der Staat vorläufig über das Gewaltmonopol definieren und soll dieses Monopol dem Zweck dienen, das – in Engels Untersuchung neu entstandene – Privateigentum zu schützen oder wird der Staat in den Vertragstheorien der Aufklärung von Hobbes bis Kant mit dem Schutz des Eigentums begründet und gerechtfertigt, dann ist Engels Schlussfolgerung auf den ersten Blick plausibel: Die neuen Eigentümer bilden eine neue Klasse, die die politische und ökonomische Macht ausübt. Um ihre (politische) Herrschaft und ihre ökonomischen Privilegien abzusichern, monopolisieren sie den Gewaltapparat bzw. schaffen mit dem Staat einen besonderen Gewaltapparat. Kurz: Der Staat entsteht mit der Klassenspaltung und dient der Absicherung der Herrschaft der ökonomisch privilegierten Klasse, ist also das „Instrument“, mit dem die eine Klasse die Herrschaft über die andere ausübt – und das unabhängig von der Frage, ob auch politische und ökonomische Funktionen sich trennen. Die Argumentation muss differenziert werden, wenn man annimmt, dass die privilegierte Position erst mit der Gewalt entstanden ist. Dann ist die Institutionalisierung des Gewaltapparats zwar möglicherweise das probate Mittel, um die errungenen politischen und ökonomischen Privilegien abzusichern, aber die Gewalt ist mal wieder der Geburtshelfer der neuen Ordnung. Eigentum und Gewalt sind gewissermaßen gleichursprünglich zu denken. Benjamin formuliert das leicht mystisch: „Alle Gewalt ist als Mittel entweder rechtsetzend oder rechterhaltend.“136 Solange die ökonomisch privilegierten Klassen selbst den Gewaltapparat stellen, wie die Ritter des Mittelalters, können sie auch sicher sein, dass ihre ökonomischen und politischen Interessen – in letzter Instanz gewaltsam – durchgesetzt werden, dass die Interessen von Politik und Ökonomie mit denen des Gewaltapparates übereinstimmen. Dieses Zusammenfallen der Funktionen ist 135 Fisahn, Natur, Mensch, Recht – Theorie der Rechtsbefolgung, passim. 136 Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, S. 351. 114 aber für staatliche Strukturen eher unüblich. Auch Engels stellt darauf ab, dass sich die öffentliche Gewalt von der Gesellschaft absondert, also nicht als gemeinsame Gewalt des Volkes, d.h. der bewaffneten Männer, erscheint, sondern als von diesen getrennter, besonderer Apparat, der sich auch nicht durch die Bewaffnung der herrschenden Klasse charakterisieren lässt. Historisch ist diese Diagnose für die griechischen Stadtstaaten ebenso wie für die antike römische Republik zu differenzieren. Soziale Konflikte resultierten in beiden, in der griechischen Polis wie in der römischen Republik, u.a. aus der Tatsache, dass die freien Bauern zum Kriegsdienst verpflichtet wurden und während des Feldzuges ihre Felder eben nicht bestellen konnten, was über kurz oder lang zur Verschuldung und dazu führte, dass sie ihr Land an die wohlhabenderen Großgrundbesitzer verkaufen mussten. Die griechischen und römischen freien Bürger bildeten also als militärische Streitmacht einen Teil des Gewaltapparats in den antiken Staaten. Aber ebenso wie bei der modernen Wehrpflicht wurden die Soldaten – jedenfalls im alten Rom – in spezifische Strukturen eingegliedert, einer strengen Hierarchie und Disziplin unterworfen, die auch die „Bürgerarmee“ zu einem besonderen Apparat macht. Überdies lässt sich schon im antiken Rom in den Liktoren eine der heutigen Polizei vergleichbare Funktion ausmachen, die sich spätestens zu dem Zeitpunkt, wo das Amt dauerhaft und teilweise erblich wird, als besonderer Apparat kennzeichnen lassen. Dem Magistrat standen verschiedene Beamte zur Ausführung der Amtsgeschäfte zur Seite. Magistratus bezeichnete „sowohl das ordentlich, vom Volk durch Wahl verliehene Amt als den Träger des Amtes“137. Die Gehilfen des Magistrats wurden im Oberbegriff als Apparitores bezeichnet. Sie „stellten den Stab der Magistrate“ und lassen sich als „Staatsdiener“ charakterisieren. Dieser Status wurde dadurch unterstrichen, dass die Apparitores einen monatlichen Lohn erhielten (aes apparitorium oder merces). Die Liktoren waren speziell mit der gewaltsamen Durchsetzung von Entscheidungen und dem Personenschutz der Magistrate betraut. Ihr Symbol waren die berühmten Rutenbündel (fasces) als Zeichen der hoheitlichen Gewalt. Sie lassen sich am ehesten mit einer modernen Polizei vergleichen138. Es gab also polizeiliche Strukturen, einen besonderen „Apparat“139, die damit betraut waren, öffentliche Gewalt in Friedenszeiten auszuüben. 137 Pauly, Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, S. 400. 138 Zischke, Liktoren – Polizei im alten Rom? in: Grutzpalk, J., u.a., Beiträge zu einer vergleichenden Soziologie der Polizei, S. 67 f. 139 Der Begriff lässt sich hier vor allem mit dem lateinischen Ausdruck für die allgemeinen Staatsdiener rechtfertigen. 115 Fallen aber Gewaltapparat und politisch-ökonomische Macht auseinander, bedarf es aus Sicht der politischen Macht Vorkehrungen dagegen, dass sich der Gewaltapparat verselbstständigt und die politische Macht übernimmt. Die Militärdiktaturen des 20. Jahrhunderts zeugen von der Aktualität dieses Problems. Die Beispiele reichen von der Diktatur Francos in Spanien über Pinochet in Chile, gleichsam als pars pro toto für die Militärdiktaturen in Südamerika, die Obristen in Griechenland bis zu den Militärputschen in der Türkei, Pakistan oder noch 2013 in Ägypten. Das Militär als zentraler Gewaltapparat opponierte – aus unterschiedlichen Gründen und Richtungen – gegen die jeweilige Regierung und übernahm auch die politische Macht. Und dieses Problem ist keineswegs eines der Moderne. Die internen Kämpfe im antiken Rom wurden regelmäßig mit Hilfe des Militärs ausgetragen – der bekannteste dürfte der Bürgerkrieg zwischen Cäsar und Pompeius gewesen sein. Um politische Macht zu erringen oder zu behaupten, mussten die Anführer möglichst große Teile der Armee hinter sich versammeln. Wenn der spezialisierte Gewaltapparat sich auch gegenüber den politischen und ökonomischen Eliten verselbständigen kann, bedarf es Mittel und Vorkehrungen auch aus Sicht der politischen Herrschaft, um diesen zu domestizieren. Eines der Mittel ist offenkundig der militärische Drill, der die Einordnung in die militärische oder polizeiliche Formation und ihre Hierarchie erzwingt. Dann ist nicht mehr der Apparat an sich das Problem, die einzelnen Teile oder gar Mitglieder des Apparates wie bei der Nelkenrevolution in Portugal, die zwar von Offizieren, aber nicht der Heeresleitung gestartet wurde. Die politische Herrschaft muss sich „nur noch“ der Loyalität der militärischen Führung sicher sein. Der türkische Premier Erdogan konnte die Islamisierung des Landes oder die Abkehr von der strengen kemalistisch-laizistischen Staatsräson nur durchsetzen, weil er die kemalistischen Generäle, die vordem durchaus zum Eingriff in die Politik durch Putsch neigten, durch ihm ergebene Generäle ersetzte. Mit dem Preußenschlag gegen das sozialdemokratisch regierte Preußen und der „Reichsexekution“ gegen Sachsen und Thüringen, in denen eine Volksfrontregierung gewählt worden war, wurde den Ländern die Polizeimacht durch Androhung von Militäreinsatz durch die reaktionäre Weimarer Reichsregierung entzogen und die Machtbasis der Zentralregierung ausgebaut, was am Ende den Nazis zugute kam. Die römischen Magistrate sicherten sich die Loyalität der Liktoren durch persönliche Bindungen. Die Liktoren begleiteten die Magistrate auch jenseits offizieller Anlässe. Andere Methoden, den Gewaltapparat zu domestizieren oder seine Loyalität zu sichern, sind die charismatisch oder klientelistisch erzeugte Gefolgschaft oder das Recht, d.h. die Bindung der Institutionen und handelnden Akteure durch 116 das Recht und die Kontrolle durch rechtsprechende Organe. Voll entfaltet hat sich diese letztere Form der Domestizierung zentralisierter Gewalt erst mit dem Rechtsstaat der bürgerlichen Gesellschaft. Formen der Kontrolle der Gewaltausübung wurden aber schon im hohen Mittelalter erkämpft, etwa mit der Magna Charta (1215), die den Untertanen vor der Gewaltanwendung Strafverfahren zusicherte. Die Beschränkung des zentralisierten Gewaltapparats erscheint so als das Ergebnis von Kämpfen innerhalb der herrschenden Klassen und zwischen den Klassen. Das gibt einen Hinweis auf die Ambivalenz des Gewaltmonopols. Das Gewaltmonopol steht einerseits für eine ungeheure Konzentration der Gewalt und ein Gewaltpotenzial, das in seinen Ausmaßen erschreckend ist und in staatlichen Terror münden kann; es steht andererseits für die Beschränkung der Gewalt in doppelter Weise, nämlich erstens als Beschränkung privater Gewalt mit der Aufhebung des Rechts des Stärkeren und zweitens in Form der rechtlichen Beschränkung und Kontrolle des staatlichen Gewaltapparates und damit der gesellschaftlichen Gewalt insgesamt. Nicht erst Nazi-Deutschland hat aller Welt unmissverständlich vor Augen geführt, in welcher Form ein Gewaltmonopol – sei es nun des Staates oder „der Bewegung“ – zur Unterdrückung, Terrorisierung, ja Vernichtung ganzer Bevölkerungsgruppen missbraucht oder pervertiert werden kann, wobei das Potenzial immer schon im Monopol angelegt ist. Staatliche Gewalt wurde und wird immer auch genutzt, um Privilegien zu verteidigen, Opposition mehr oder weniger intensiv zu unterdrücken und Widerstand gegen Herrschaft in welcher Form auch immer auszuschalten. Ist der staatliche, monopolisierte Gewaltapparat aber rechtlich und demokratisch domestiziert, d.h. mehr oder weniger kontrolliert und an demokratische Entscheidungen rückgebunden, kann er eine Reduzierung gesellschaftlicher Gewalt insgesamt bedeuten, weil Konflikte zwischen Privaten nicht mehr mittels Gewalt gelöst werden. Der Mainzer Landfriede aus dem Jahre 1235 war eine der ersten überregionalen Regelungen, die die Fehde einschränkten, indem gleichsam verfahrensrechtliche Voraussetzungen geschaffen wurden. Die bewaffnete Selbsthilfe wurde nur noch gestattet, wenn vorher vergeblich ein Gericht angerufen worden war und bestimmte Formen wie der Fehdebrief eingehalten wurden. Außerdem wurde der „private“ Einsatz von Gewalt gegen gewisse Personen wie Geistliche, Schwangere, Schwerkranke, Pilger, Kaufleute und Fuhrleute mit dem mitgeführten Eigentum ausgeschlossen. Erst Maximilian I hat auf dem Wormser Reichstag von 1495 die Fehde durch den „ewigen Landfrieden“ endgültig verboten, indem er insbesondere die Reichsstände dazu bewegte, auf den Einsatz von Gewalt zur Beilegung von Streitigkeiten zu verzichten. Im Gegenzug wurde zur 117 Entscheidung von Streitigkeiten das Reichskammergericht geschaffen, vor dem nun Konflikte friedlich ausgetragen werden konnten. Ähnliche Entwicklungen gab es auch in Großbritannien – sie kennzeichnen den Übergang in die Neuzeit. Damit erfüllt das Gewaltmonopol auf ambivalente Weise auch eine Schutzfunktion gegenüber den Schwächeren, d.h. in der Regel dem weniger privilegierten Teil der Bevölkerung. Die Eindämmung des Faustrechts, von Fehde, Duell usw. und die „Lösung“ von (privaten) Konflikten auf gewaltfreie, oft rechtliche Weise erscheint so auch als – ambivalenter – zivilisatorischer Fortschritt, nämlich dann, wenn die Gewaltapparate rechtlich und demokratisch domestiziert werden können – vielleicht ist in der bürgerlichen Gesellschaft der Konjunktiv irrealis angebracht: könnten. Kurz: Die Herausbildung eines besonderen öffentlichen Gewaltapparates lässt sich nicht nur als Übergang von einem herrschaftsfreien Zustand zu einem der Klassenherrschaft verstehen. Die Gewalt kann von der herrschenden Klasse – wie zeitweise in den mittelalterlichen Gesellschaften – auch direkt und selbst ausgeübt werden. Im Vergleich dazu bedeutet zumindest ein domestiziertes Gewaltmonopol die Beschränkung gesellschaftlicher Gewalt insgesamt. Dialektisch zu denken, scheint hier hilfreich: Die individuelle Gewalt wird im Gewaltmonopol des Staates aufgehoben, gleichzeitig aber bewahrt und auf fatale Weise auf eine höhere Stufe gehoben. Aber die Entwicklung ist nicht als abgeschlossen zu denken. Die Perspektive ist nicht die Beseitigung des Gewaltmonopols, sondern seine erneute Aufhebung durch demokratische Rückbindung allgemein verbindlicher Entscheidungen, die auch den Einsatz der Gewalt betreffen, an die Gesellschaft, d.h. die Adressaten dieser Entscheidungen. Anders wohl Benjamin, der meint: „Auf der Entsetzung des Rechts samt den Gewalten, auf die es angewiesen ist wie sie auf jenes, zuletzt also der Staatsgewalt, begründet sich ein neues geschichtliches Zeitalter.“140 Benjamin charakterisiert dies als „Erlösung“, die aber im Diesseits wohl nicht zu haben ist. d) Mehrprodukt, Differenzierung und Recht Wir haben gesehen, dass die Staatstheorie der Aufklärung, von Hobbes bis Hegel, und im Anschluss auch Marx und Engels die zentrale Funktion des Staates im Schutz des Eigentums sahen. Mit der Entstehung des Eigentums, so lassen sich Engels Analysen in „Ursprung der Familie“ zusammenfassen, werden die alten Stammesstrukturen aufgelöst und der Staat übernimmt mit der zentralisierten Gewalt den Schutz des Eigentums und der Aneignungsrechte. Diese ergeben sich 140 Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, S. 361. 118 ja keineswegs natürlich: warum nicht dem Bauern, sondern dem Eigentümer des Grundstückes die Früchte oder ein Teil dieser gehören sollen, ergibt sich keineswegs aus einer „natürlichen Ordnung“, sondern ist Ergebnis von sozialen Auseinandersetzungen um Aneignungsrechte, die im Zweifel legalisiert, also rechtlich fixiert und mit Gewalt durchgesetzt werden müssen. An anderer Stelle erklärt Engels die Herausbildung von Rechtsregeln eher aus der Arbeitsteilung und dem Warentausch. Die Stelle sei noch einmal zitiert: „Auf einer gewissen, sehr ursprünglichen Entwicklungsstufe der Gesellschaft stellt sich das Bedürfnis ein, die täglich wiederkehrenden Akte der Produktion, der Verteilung und des Austausches der Produkte unter eine gemeinsame Regel zu fassen, dafür zu sorgen, dass der einzelne sich den gemeinsamen Bedingungen der Produktion und des Austausches unterwirft. Diese Regel, zuerst Sitte, wird bald Gesetz.“141 Auch hier geht es um Aneignungsrechte, die deshalb entstehen, weil Arbeit geteilt wird und ein Mehrprodukt entsteht, das es einem Teil der Gesellschaft, des Stammes, der Gruppe ermöglicht, ohne Arbeit zu überleben, indem sie sich Teile dieser Mehrproduktion aneignen. Engels bemerkt auch, dass diese Regeln erst Sitte, dann Recht werden. Regeln der Sitte fanden Bachofen und Morgan, deren Studien Engels aufgreift, später Wilhelm Reich oder Pierre Bourdieu in seinen Studien über die Kabylen zunächst in verschiedenen Heiratsregeln ursprünglicher Stämme. Diese Heiratsregeln formulierten im Großen und Ganzen ein Inzestverbot, das in den klassischen griechischen Mythen mit der Ödipussage als Parabel erzählt wird. Diese Heiratsregeln sind sicher noch kein Recht. Insbesondere Bourdieu weist darauf hin, dass die Angehörigen der Stämme, die Regeln zwar kennen, sich in der Praxis nach ihnen richten, deshalb aber keineswegs in der Lage wären, diese auch zu formulieren, also sprachlich präzise wiederzugeben. Bourdieu schreibt: „’Ein australischer Eingeborener’, erklärte Sapir, ‘weiß ganz genau, mit welchem Verwandtschaftsterminus er diesen oder jenen bezeichnen und auf welcher Grundlage er mit ihm eine Beziehung eingehen darf. Es fällt ihm allerdings schwer, das allgemeine Gesetz zu formulieren, das seine Verhaltensweisen regiert.“142 Und an anderer Stelle: „In Gesellschaften, in denen, wie in Kabylien, kein juristischer Apparat existiert, der das Monopol an physischer oder selbst symbolischer Gewalt innehat und in denen die Versammlungen des Clans, des Stammes oder Dorfes als Schiedsinstanzen fungieren, … sind die Regeln des Gewohnheitsrechts nur 141 Engels, Zur Wohnungsfrage, MEaW IV, S. 266. 142 Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, S. 205. 119 in dem Maße praktisch wirksam, wie sie … die kollektiven Dispositionen des Habitus verdoppeln und verstärken.“143 So lassen sich Heiratsregeln der Sitte subsumieren, welche die Grundlage für Rechtsregeln bildet. Sie wird nämlich dann zu Recht, wenn sie schriftlich fixiert (oder anderswie überliefert) und so institutionell überwacht wird und Verstöße sanktioniert werden. Ein Bedürfnis danach entsteht insbesondere dann, wenn der Kontakt mit „Fremden“ intensiver wird, etwa über Austauschbeziehungen und die Regeln nicht mehr unhinterfragt gelten, was auch dann eintritt, wenn die Gesellschaft sich vergrößert, differenziert und ihre Lebensgewohnheiten sich ändern, weil neue Produktionsmethoden eingeführt wurden. Ähnlich verhält es sich mit den Regeln der Eigentumsordnung. Sie erscheinen keineswegs schon mit der Entstehung des Eigentums als Rechtsregel. Eigentum kann erst entstehen, wenn eine Gesellschaft, Gruppe, ein Stamm in der Lage ist, einen relevanten Überschuss an Gütern zu produzieren, also mehr zu erzeugen als von den Mitgliedern der Gruppe konsumiert werden kann. In diesem Moment können sich Teile der Gruppe von der Arbeit „befreien“. Sie sichern sich ihr „Recht“ am Surplusprodukt aber zunächst nicht durch Eigentumsregeln, sondern im Austausch gegen andere Leistungen, wie Sicherheit oder Seelenheil, durch Gewalt oder persönliches Charisma – was natürlich auch kombiniert werden kann. Heather beschriebt diesen Entwicklungsprozess für die Germanen: „Den Völkern der frühen Eisenzeit fehlten die Techniken, die Fruchtbarkeit der Äcker zu erhalten, sie konnten diese nur einige Jahre lang bebauen und mussten dann weiterziehen. … In der frühen Römerzeit entwickelten die Westgermanen völlig neue Techniken (im Ackerbau). … Zum ersten Mal im nördlichen Teil Europas war damit den Menschen ein Zusammenleben in mehr oder weniger ständig bewohnten Haufendörfern möglich geworden. … Die wirtschaftliche Expansion war von einer sozialen Revolution begleitet. Nicht immer hatte es im germanischen Europa beherrschende gesellschaftliche Eliten gegeben, oder zumindest lassen die Gräberfelder, unsere wichtigste Informationsquelle, nichts davon erkennen. … Eindeutig ist also: Der neue Reichtum, zu dem die germanische Wirtschaftsrevolution führte, wurde keineswegs gleichmäßig verteilt, sondern gelangte vor allem in die Hände bestimmter Cliquen. … Ist die Menge an Reichtum aber groß genug, werden jene, die über ihn verfügen, vollkommen neue Herrschaftsstrukturen einführen.“144 Die Entwicklung der Produktivkräfte erlaubte eine Überschussproduktion, die wiederum zur Folge hatte, dass einige Männer des Stammes diesen Überschuss für sich reklamierten und diesen Anspruch – im Zweifel mit Gewalt – durchsetzen 143 Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, S. 214. 144 Heather, Der Untergang des römischen Weltreichs, S. 112 ff. 120 konnten. Die herrschenden Cliquen verabschiedeten sich aus der unmittelbaren Produktion und konnten mehr oder weniger freiwillige „Unterhaltsleistungen“ in Anspruch nehmen Sie sicherten sich diesen Anspruch durch Gewalt in einem doppelten Sinne: sie übernahmen – arbeitsteilig – im Gegenzug zur Versorgung die „militärischen“ Aufgaben, wozu die Verteidigung vor und die Durchführung von Raubzügen in fremde Gebiete zur „Ergänzung“ der eigenen Versorgung gehörte. Dadurch verschaffte sich diese Gruppe eine Überlegenheit im Bereich des Kriegshandwerks, die auch nach „innen“ eingesetzt werden konnte, wo die Bauern und Handwerker ihre Tribute nicht freiwillig zahlten. Ob sich ein solches Herrschaftsverhältnis als Staat bezeichnen lässt, ist zweifelhaft. Auch ist Recht in einem solchen Stadium der Entwicklung nicht erforderlich, weil sich die Herrschaft auf die eigene Gewalt stützen kann oder genügend „fremde“ Gewalt mobilisieren kann. Interessant wird es erst, wenn die Herrschaft mitsamt dem erworbenen Eigentum und der Aneignungsrechte sich verstetigen und schließlich vererbt werden soll und/oder solche Ansprüche nicht mehr durch zur Verfügung stehende Gewaltmittel durchgesetzt werden können. Die Verfestigung von Eigentums- und Herrschaftspositionen braucht Rechtsregeln, Eigentums- und Erbschaftsregel, aber eben auch „staatsrechtliche“ Regeln. Mit Weber könnte man sagen: Das Recht muss dann einspringen, wenn das Charisma aus der Herrschaft verschwindet, wenn sie also traditionell wird. Und es wird interessant, sobald die Raubzüge durch Handel ersetzt werden. Paschukanis hatte damit durchaus den richtigen Punkt im Blick, nur hat er ihn historisch viel zu weit nach hinten verlagert. Der Handel mit „Fremden“ braucht Handelsregeln, d.h. Regeln, die den annähernden Äquivalententausch garantieren, Schutz vor Diebstahl und anderes. So finden sich in den ersten Gesetzbüchern, die im Mittelalter zusammengestellt wurden, in denen mündlich überliefertes, also bestehendes Recht verschriftlich wurde, an erster stelle Eigentums- und Erbrechtsregeln sowie handelsrechtliche Regeln. Auf die mittelalterlichen Rechtsspiegel und die Soester Kuhhaut wurde schon hingewiesen. Nun lässt sich fragen, wie solche Regeln garantiert wurden, wenn die herrschenden Cliquen die Gewalt nicht mehr persönlich ausüben konnten. Hier wird die besondere Qualität des Rechts sichtbar. Das Recht schafft der Herrschaft aus sich heraus eine eigenständige Legitimation. Erst in der jüngeren Vergangenheit ist man zu einer emotionslosen, rationalistischen Betrachtungsweise des Rechts übergegangen. Hans Kelsen war einer der großen Wegbereiter des Rechtspositivismus, der Recht von der Moral trennte. Recht sind danach fixierte Regeln, die von Menschen geschaffen wurden, um menschliches Handeln zu steuern oder zu 121 bestätigen. Bei der Bestätigung wird der oben diskutierte Ursprung des Rechts in der Sitte sichtbar, d.h. in Regeln, welche die Menschen im Zusammenleben für richtig halten. Das Recht bestätigt den Rechtschaffenen in seiner Sicht auf die Welt und seinem Handeln in der Welt. Nicht zufällig finden sich in „richtig“ und „rechtschaffen“ Anklänge und Abwandlungen des Wortes Recht. Weitere Beispiele ließen sich anführen. Recht konnotiert Gerechtigkeit und Richtigkeit und zieht daraus – jenseits aller Gewalt – den Anspruch auf Legitimität. Weil es im Gesetz normiert ist, wird es für gerecht und legitim gehalten – auch wenn im Recht himmelschreiendes Unrecht aufgeschrieben sein kann. Die Fixierung der Regel als Recht verschafft ihr eine eigenständige Legitimität. Recht fungiert dabei als ein Element, das die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse als „natürlich“, unabänderlich, immer schon Gegebene oder aus der Natur des Menschen sich ergebende erscheinen lässt. Das Recht leistet seinen Beitrag zur „Naturalisierung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, die dem kapitalistischen Privateigentum einen stärkeren Schutz bietet als ‘alle Staatsanwälte, Polizisten und Soldaten zusammengenommen’, weil es die Klassengegensätze in der Vorstellungswelt der Subjekte neutralisiert.“145 Aber das Recht musste bis ins hohe Mittelalter oft genug auf die eigenen Gewaltpotenziale dessen zurückgreifen, der sich im Recht wähnte oder im Recht war, selbst wenn ein Richterspruch gegen Widerstand durchgesetzt werden musste. Das gilt vor allem mit Blick auf die „Rechtsstreitigkeiten“ der Herrschenden, die zur Fehde griffen, um ihre Ansprüche durchzusetzen. Die Legitimität bezieht das Recht auch aus dem Faktischen. Es gelang mit der Stabilisierung von Herrschaftsansprüchen, das Gesetz gegenüber den Untertanen durchzusetzen, d.h., es wurde faktisch, prägte die bestehenden Strukturen und sozialisierte die Menschen in diesen Strukturen, die von ihnen reproduziert wurden. Im Ergebnis ist die direkte Rückkopplung der Rechtsentstehung an das Eigentum zu kurz gegriffen. Rechtsregeln schaffen Orientierung, Verbindlichkeit und Legitimation in einer Situation, in der sich die Gesellschaft aufgrund der Entwicklung neuer Produktionsmethoden, also der Produktivkräfte, differenziert, Arbeit geteilt wird, sich aus der neuen Arbeitsteilung Herrschaft ergibt, die abgesichert werden will, in der die Grenzen enger verwandtschaftlicher Bande überschritten werden und Gemeinschaften in Austausch miteinander treten, der sich nicht nur auf Waren und Güter bezieht. Die Rechtsentstehung lässt sich so eher als Ergebnis einer Surplusproduktion verstehen, d.h. als Ergebnis neuer Produktionsmethoden, die es ermöglichten, dass erstens i.d.S. überschüssige Produkte produziert 145 Stein, Die juristische Weltanschauung, S. 90. 122 wurden, als sie nicht sofort konsumiert wurden. Wenn solche Werte nicht mehr nur in den Händen derer zu finden sind, die über Gewaltmittel verfügen, um sie selbst zu verteidigen, wenn zweitens die Kommunikations- und Verkehrskreise sich ausdehnen, also soziale Kontrolle nicht mehr funktioniert, weil man es mit Fremden oder gar Abwesenden zu tun hat, dann entsteht ein gesellschaftliches Bedürfnis, bestehende soziale Regeln, die Sitte zu kodifizieren und für allgemein verbindlich zu erklären; möglicherweise auch: ihre Durchsetzung einem spezialisiertem Apparat zu übertragen, also mehr oder weniger staatlichen Institutionen. Der Markt kann zu diesem Zeitpunkt eine durchaus untergeordnete Rolle spielen und vor allem: Die Setzung allgemein verbindlicher Regeln, also die Rechtsetzung und deren Kontrolle und im Zweifel gewaltsame Durchsetzung muss keineswegs mit einer Trennung von politischer und ökonomischer Macht verbunden sein. Aber die bürgerliche Gesellschaft, das haben die Staatstheorien der Aufklärung richtig erkannt, braucht eine spezifische Rechtfertigung des Eigentums. Das gilt, weil Herrschaftsfunktionen und ökonomische Funktionen getrennt sind. So rechtfertigen die Staatsdenker der Aufklärung den Staat mit dem Eigentum, was sie damit umgekehrt ebenfalls rechtfertigen. Wichtiger ist: Sie legen damit den Staat auf einen Zweck fest, nämlich den Eigentumsschutz – was ja nicht zwingend ist, wenn sich die Funktionen trennen. Umgekehrt ist diese Zweckbestimmung nicht notwendig, wenn die ökonomisch herrschende Klasse institutionell gesichert auch die politischen Funktionen besetzt. Es sind dann ihre Interessen, die sie selbst verteidigen und somit den Staat zum Wächter der Aneignungsrechte und Eigentumsverteilung machen. Trennen sich aber die Funktionen, muss der politische Apparat auf den Schutz des Eigentums verpflichtet werden. So kreist die Staatstheorie bis heute um den Schutz des Eigentums: Der Bürger, bzw. der Bourgeois, gründet den Staat mittels Vertrag, um in der Vereinigung den Schutz seines Eigentums sicher zu wissen. Marx und Engels drehen die Argumentation um und entwickeln so aus dem Rechtfertigungsparadigma eine vernichtende Kritik nicht nur des Eigentums, sondern auch des Staates. Dabei sitzen sie gelegentlich selbst dem Irrtum der Rechtfertigungsideologie auf, die den Staat über das Eigentum rechtfertigt. Mit der Analyse der ökonomischen Zusammenhänge der bürgerlichen Gesellschaft hat Marx allerdings das Werkzeug geschaffen, um die spezifischen Bedingungen von Recht und Staat in der bürgerlichen Gesellschaft zu analysieren. 123 3. Patriarchat, Eigentum, Arbeitsteilung und Gewalt Betont wurde explizit, dass es die Männer sind, denen es gelingt, sich durch Gewalt – d.h. zunächst durch überlegene persönliche Gewalt, die erst später zu einem, wiederum von Männern getragenen und beherrschten, besonderen Gewaltapparat wird – ein Mehrprodukt der Gesellschaft anzueignen, diese zunächst faktische Aneignung zu perpetuieren, das heißt zu einem „Rechtsanspruch“ zu machen, um sich so aus der produktiven Arbeit weitgehend verabschieden zu können. Wenn der besondere Gewaltapparat als Charakteristikum auch des vormodernen Staates, d.h. von Herrschaftsorganisationen, die der bürgerlichen Gesellschaft vorangehen, zu begreifen ist, wirft dessen Entstehung aus männlicher Gewalt ein Licht auf das Geschlechterverhältnis. Der Gewaltapparat und mit ihm die staatlichen Strukturen sind männlich dominiert. Dann folgt, dass die Entwicklung einer Arbeitsteilung, bei der die physische Gewalt von einigen Männern ausgeübt und beherrscht wird, Ursprung patriarchaler Strukturen ist, die bis in die Gegenwart perpetuiert werden. In dieser Arbeitsteilung wird von einem Teil der Männer die Gewalt dominiert, sie sind die Krieger, später „Polizei“ und Militär. Die übrigen Teile der Gesellschaft müssen ein Mehrprodukt erzeugen, welches die faktischen Herrscher, das heißt die Inhaber der Gewalt oder des Gewaltapparats, unterhält, d.h. ernährt, kleidet, Unterkunft verschafft und anderes. a) Eigentum, Kapitalismus und Patriarchat Engels setzt das Eigentum als den „Ursprung der Familie“, d.h. als Ursprung patriarchaler Strukturen und des Staates. Engels fasst seine Ergebnisse so zusammen: „Das war der Ursprung der Monogamie, soweit wir ihn beim zivilisiertesten und am höchsten entwickelten Volk des Altertums verfolgen können. Sie war keineswegs eine Frucht der individuellen Geschlechtsliebe, mit der sie absolut nichts zu schaffen hatte, da die Ehen nach wie vor Konvenienzehen blieben. Sie war die erste Familienform, die nicht auf natürliche, sondern auf ökonomische Bedingungen gegründet war, nämlich auf den Sieg des Privateigentums über das ursprüngliche naturwüchsige Gemeineigentum. Herrschaft des Mannes in der Familie und Erzeugung von Kindern, die nur die seinigen sein konnten und die zu Erben seines Reichtums bestimmt waren – das allein waren die von den Griechen unumwunden ausgesprochenen ausschließlichen Zwecke der Einzelehe.“146 Und an anderer Stelle: „Die alte, auf Geschlechtsverbänden beruhende Gesellschaft wird gesprengt im Zusammenstoß der neu entwickelten gesellschaftlichen Klassen; an ihre Stelle tritt eine neue Gesellschaft, zusammengefasst im Staat, dessen Un146 Engels, Der Ursprung der Familie, MEW Bd. 21, S. 67 f. 124 tereinheiten nicht mehr Geschlechtsverbände, sondern Ortsverbände sind, eine Gesellschaft, in der die Familienordnung ganz von der Eigentumsordnung beherrscht wird und in der sich nun jene Klassengegensätze und Klassenkämpfe frei entfalten, aus denen der Inhalt aller bisherigen geschriebnen Geschichte besteht.“147 Das Eigentum entsteht für Engels vor der Gewalt, nicht aus der Gewalt. Wilhelm Reich führt im Anschluss daran den „Einbruch der sexuellen Zwangsmoral“ auf die Entwicklung des Eigentums zurück. Er schreibt: „die Zwangsmonogamie entstand aus der Konzentration von Reichtümern in einer Hand, aus dem Bedürfnis, wie Engels schreibt, ‘diese Reichtümern den Kindern dieses Mannes und keines anderen zu vererben’. So begründet sich die Forderung der Zwangsmonogamie für die Frau.“ Und weiter zu den gesellschaftlichen Verhältnissen vor dem Eigentum: „Die Interessen der Individuen waren nicht nur hauptsächlich genital gerichtet und – befriedigt; auch die materiellen Bedürfnisse waren gering. Das Besitzinteresse und die Habgier steigerten sich in dem Maße, wie die genitalen Interessen unterdrückt werden mussten. In einer bestimmten Phase der menschlichen Geschichte brachten bestimmte Lebensbedingungen (zuerst Zusammenschluss der Urhorden, später der übergroße Druck des Heiratsgutes) die Sexualeinschränkung und dann die Sexualverdrängung in Gang, wodurch seelische Interessen für eine bestimmte Art wirtschaftliche Evolution, die privatwirtschaftliche, frei wurden. Diese Interessen waren Habgier und Akkumulationsbedürfnis. Sie entstanden auf Kosten der genitalen Interessen.“148 Für Reich produziert sich der Kapitalismus aus der patriarchalen Zwangsmoral. Diese setzt gleichsam durch Sublimierung sexueller Triebe den „kapitalistischen Geist“ frei. Damit verkürzt Reich sicher die bei Freud angelegten Möglichkeiten und Formen der Sublimierung, d.h. der Umwandlung unterdrückter Sexualtriebe in kulturelle Leistungen.149 Zentral bleibt die Annahme, dass zunächst patrimonale, dann patriarchale Strukturen mit dem Eigentum und dessen Schutz mittels 147 Engels, Der Ursprung der Familie, MEW Bd. 21, S. 28. 148 Reich, Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral, S. 127/129. 149 Elias und Foucault haben die Auffassung entwickelt, dass die Sexualität in einem Prozess der Zivilisation gezügelt, so Elias, in Diskursen der Macht, so Foucault, diszipliniert worden sei, erst das bürgerliche Individuum ist zur vollständigen Triebunterdrückung, so Marcuse, fähig und gezwungen, der Eros tritt zugunsten des Leistungsprinzips ab. Ausgangspunkt ist ein unkontrolliertes oder – positiv gewendet – freies Ausleben der sexuellen Bedürfnisse etwa im Mittelalter. Dem widersprach Hans Peter Dürr mit der These, Sexualmoral sei auch bei Urvölkern nachweisbar und charakterisiere gleichsam das Menschsein. Sie wird so zur anthropologischen Konstante, womit Dürr in einen Essentialismus verfällt, der wenig überzeugt. (Elias, Der Prozess der Zivilisation Bd. I; Foucault, Sexualität und Wahrheit Bd. 2; Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft; Dürr, Nacktheit und Scham). 125 Gewalt entstanden und Formen matriarchaler Herrschaft oder zumindest matrimonaler Gesellschaftsstrukturen ablösten. Die Existenz matrimonaler Gesellschaftsstrukturen wird postmodern mit der Theorie einer Fortschrittsgeschichte überhaupt angezweifelt. Das muss nicht diskutiert werden. Eindeutig ist: Patriarchale Strukturen sind der bürgerlichen Gesellschaft vorgelagert, d.h. sie entstehen nicht erst mit der bürgerlichen Gesellschaft und dem bürgerlichen Staat. Harvey schreibt: „Rassismus und Patriarchat sind schon sehr alt, und zweifellos wurde der Kapitalismus entscheidend davon geprägt. Daher stellt sich die Frage, warum ich beide (neben vielen anderen Phänomenen wie Nationalismus, Religion) nicht als fundamentale Elemente in diese Studie über die Widersprüche des Kapitals aufgenommen habe. Die kurze Antwort lautet, dass ich sie ausschließe, weil sie innerhalb des Kapitalismus zwar allgegenwärtig sind, aber nicht spezifisch für jede Form der Zirkulation und Akkumulation, die Kapitalismus ausmacht.“150 Insbesondere Frigga Haug argumentiert gegen diese Trennung von Kapitalismus und Patriarchat. Sie begreift das Geschlechterverhältnis als Produktionsverhältnis oder genauer als immanenten Teil des Produktionsverhältnisses. Zuzustimmen ist ihr in der Annahme, dass sich das Geschlechterverhältnis mit Veränderungen der Produktivkräfte und der Beziehungen zwischen unmittelbaren Produzenten zu den materialen Produktionsmitteln und den Eigentümer der Produktionsmittel ändert. Das Geschlechterverhältnis wird mit den sich beständig transformierenden Produktionsverhältnissen überformt und ist selbstverständlich als integrierter Bestandteil dieses Prozesses zu denken oder anders gesagt: Es handelt sich um eine Relation und keine Funktion, eine wechselseitige Beziehung und selbstverständlich nicht um eine Determinierung des einen durch das andere. Die Begriffe werden aber unscharf, wenn man das Geschlechterverhältnis als Produktionsverhältnis begreift. Haug verwirft die Unterscheidung von Produktion und Reproduktion und schreibt: „Die Unterscheidung kann also nicht die zwischen Produktion und Reproduktion sein, sondern die zwischen Leben und Lebensmitteln, und entsprechend sollte man statt von ‘Reproduktion’ vielleicht von lebenserhaltenden und -entwickelnden Tätigkeiten sprechen.“ Dann stellt sich die Frage, warum die kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu einer Herrschaftsbeziehung zwischen beiden führen. Diese Frage stellt sich auch Haug: „Es bleibt dabei die Frage, wie die beiden Bereiche von Leben und Lebensmitteln zueinander geordnet sind, wie sich die Geschlechter darin bewegen, woher Herrschaft in diesen Bereichen kommt. Hier können wir wohl davon ausgehen, dass sich die Entwicklung der Produktivkräfte, Fortschritt, Anhäufung 150 Harvey, Siebzehn Widersprüche und das Ende des Kapitalismus, S. 24 f. 126 von Reichtum auf den Lebensmittelproduktionsbereich beziehen, der darum der relevantere scheint, und der sich also den der Produktion des Lebens als Voraussetzung und Resultat unterworfen hat.“151 Indem sie der Lebensmittelproduktion eine höhere Relevanz als der Produktion von Leben zuschreibt, hat sie die Herrschaftsbeziehung der Geschlechter auf eine beinahe zufällig erscheinende Bewertung der beiden Bereiche verschoben. Dabei wird diese Bewertung weder in ihrer Genese noch in ihrer Perpetuierung erkennbar erklärt. Höchst fraglich ist schon, die Herrschaftsstrukturen von solchen Fragen der Bewertung, also Zuschreibung einer höheren Relevanz, abhängig zu machen, weil diese Bewertung zu erklären ist, wenn man nicht puren Zufall unterstellt, was zu dem Problem führt, warum die Bewertung aufgrund dieses Zufall so hartnäckig weiterlebt. b) Indifferenz und Überformung Die große Industrie hatte Marx dadurch charakterisiert, dass menschliche Körperkraft weitgehend überflüssig wird, das heißt durch die Maschine ersetzt werden kann, welche diese Kraft auch noch beliebig steigern kann. Daraus ergibt sich, dass es für das Kapital einerlei wird, wessen Arbeitskraft verwertet wird. Die bürgerliche Gesellschaft ist von Beginn dadurch gekennzeichnet, dass auch die Frauen in die Produktion einbezogen werden – natürlich nicht die Frauen des Bourgeois. Die Nutzung weiblicher Arbeitskraft ist in unterschiedlichen Perioden mehr oder weniger intensiv. Die kapitalistische Ökonomie begünstigt je weiter sie sich von der Gewaltökonomie entfernt, geradezu die Gleichstellung der Geschlechter, also den Abbau des hierarchischen Geschlechterverhältnisses. Fortschritte ließen sich empirisch leicht belegen, wenn man den gesellschaftlichen Status von Frauen in zeitgenössischen, entwickelten kapitalistischen Gesellschaften mit anderen, vorhergehenden vergleicht. c) Strukturelle Indifferenz des Kapitalismus Ellen Meiksins Wood geht so von einer „strukturellen Indifferenz“ des Kapitalismus gegenüber dem Geschlechterverhältnis aus. Sie erklärt die hierarchischen Beziehungen der Geschlechter, die sie selbstverständlich ebenfalls konstatiert, nicht aus den spezifischen Bedingungen der kapitalistischen Gesellschaft. Sie führt die Hierarchie auf außerökonomische Beziehungen zurück, die sich im 151 Haug, Zur Theorie der Geschlechterverhältnisse, http://www.linksnet.de/de/artikel/ 18052 (Zugriff 12.11.2015). 127 Kapitalismus perpetuieren, aber vorher entstanden sind. Für sie ist die Disposition zur männlichen Dominanz „dem Verhältnis zwischen vorkapitalistischem bäuerlichem Haushalt und der Welt der Feudalherren und des Staates offenbar immanent. Und abermals ist dieses Verhältnis gleichzeitig und untrennbar ebenso ökonomisch wie auch politisch. Da der bäuerliche Haushalt einer typisch ‘außerökonomischen’ Ausbeutungsmacht sowohl rechtlicher, politischer wie militärischer Natur gegenüber steht, ist diese zwangsläufig an eine gesellschaftliche Funktion gebunden, die so gut wie immer und überall männliches Monopol gewesen ist: bewaffnete Gewalt. Die gesellschaftliche Organisation im Allgemeinen und die Beschaffenheit der herrschenden Klasse im Besonderen räumt, mit anderen Worten, der männlichen Dominanz eine Vormachtstellung ein. Die Macht und das Prestige, das der männlichen Rolle in der Gesellschaft allgemein und in der dominanten Ideologie der herrschenden Klasse im Besonderen zugeordnet wird, haben charakteristischerweise dazu geführt, dass die männliche Autorität in der bäuerlichen Gemeinschaft und innerhalb des Haushalts mittels politischer und Brauchtumsfunktionen verstärkt durchgesetzt wurde. Ist der Haushaltsvorstand ein Vertreter des Feudalherrn und Staates im Haus, so ist er gleichzeitig nach außen in der Konfrontation mit der männlich dominierten außerökonomischen Macht von Feudalherr und Staat, der politische Vertreter des Haushalts. Dementsprechend verstärkt der außerökonomische politische Zwangscharakter der vorkapitalistischen Ausbeutung jedwede Disposition männlicher Dominanz im bäuerlichen Haushalt.“152 Und sie folgert, dass im Kapitalismus die für den Feudalismus charakteristischen Faktoren, welche für die männliche Vorherrschaft prädestinierend sind, fehlen. „Wo der Feudalismus über ein durch den Mann vermitteltes Verhältnis zwischen Feudalherr oder Staat und Haushalt operierte, strebt das Kapital nach direkten und unvermittelten Verhältnissen zwischen Individuen, männlich oder weiblich, die vom Standpunkt des Kapitals die Identität abstrakter Arbeit annehmen. Männer, die daran interessiert sind, alte Muster männlicher Dominanz aufrechtzuerhalten, sind gezwungen, diese gegen die zersetzenden Auswirkungen des Kapitalismus zu verteidigen, zum Beispiel dagegen, dass eine wachsende Anzahl von Frauen die Haushalte verließ, um in das Heer der Lohnarbeitskräfte einzutreten.“153 Dennoch konstatiert sie spezifische dem Kapitalismus immanente Funktionslogiken, die das Geschlechterverhältnis in der bürgerlichen Gesellschaft strukturieren, nämlich erstens eine im Bereich der „Ideologie“ angesiedelte Möglichkeit, eine Unterklasse zu konstituieren, wobei das Geschlecht ein Anknüpfungspunkt neben anderen wie Rasse sein kann. Gleichzeitig werde so 152 Wood, Demokratie contra Kapitalismus, S. 280 f. 153 Wood, Demokratie contra Kapitalismus, S. 282. 128 das ökonomische Herrschaftsverhältnis verschleiert. Sie führt aus: „Der Kapitalismus entwickelter kapitalistischer Länder des Westens funktionalisiert die Geschlechterunterdrückung typischerweise auf zwei Wegen. Den ersten hat sie mit anderen außerökonomischen Identitäten wie ethnische Herkunft oder selbst mit dem Alter gemeinsam, und ist gewissermaßen austauschbar sowohl als Mittel zur Konstituierung von Unterklassen als auch zur ideologischen Tarnung.“ Störend an dieser Aussage ist, dass „der Kapitalismus“ zum Subjekt wird, welches das Verhältnis intentional produziert. Im Hintergrund sieht man die „herrschende Klassen“ planvoll agieren und bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse produzieren. Schauen wir auf den zweiten Weg, auf dem das Geschlechterverhältnis „funktionalisiert“ wird: „Der zweite ist rein geschlechtsspezifisch und dient dazu, die soziale Reproduktion zu organisieren, von der man (vielleicht fälschlicherweise) glaubt, es sei der billigste Weg. Durch die vorherrschende Organisation der Geschlechterverhältnisse können die Reproduktionskosten der Arbeitskraft für das Kapital niedrig gehalten werden.“154 Auch hier scheint wieder eine Macht im Hintergrund das Geschlechterverhältnis zu „organisieren“. In der Fußnote zu diesem Argument äußert Wood selbst Zweifel an der Stichhaltigkeit dieses Arguments. Es stellt sich die Frage, warum es für „das Kapital“ ökonomisch günstiger sein soll, auf die Verwertung der weiblichen Arbeitskraft zu verzichten, statt die Kindererziehung allgemeinen Einrichtungen zu übertragen also kollektiv zu organisieren. Offenbar würde doch so ein größerer Teil der (weiblichen) Arbeitskraft für die Verwertung in der Produktion zur Verfügung stehen. Aber Wood ist zu folgen, wo sie die Hierarchie im Geschlechterverhältnis nicht als Besonderheit der bürgerlichen Gesellschaft versteht und aus einem Gewaltverhältnis ableitet, das der bürgerlichen Gesellschaft vorangeht und in dieser eher aufgelöst wird. Zu erklären ist, warum es perpetuiert wird und in welcher spezifischen Weise es sich in der bürgerlichen Gesellschaft manifestiert. Wenn patriarchale Strukturen keine Differentia specifica bürgerlicher Gesellschaften sind, so werden sie in diesen doch in spezifischer Weise überformt und im Staat abgebildet. Die Reproduktion patriarchaler Strukturen lässt sich zunächst als Verlängerung oder Übernahme in Jahrhunderten eingeübter Verhaltensmuster, Orientierungsschemata, Werte- und Normorientierungen, kurz als vorbewusste Ordnung begreifen, die von Generation zu Generation weitergegeben wird. Die Hierarchisierung des Geschlechterverhältnisses, die mit der gewaltförmigen Aneignung des Mehrprodukts einer Gesellschaft durch die Krieger, aber 154 Wood, Demokratie contra Kapitalismus, S. 272. 129 auch durch die Priester eingesetzt hat, wurde im historischen Prozess weitergereicht, in den jeweiligen spezifischen gesellschaftlichen Situationen überformt, aber in der Grundstruktur, d.h. der hierarchischen Arbeitsteilung, perpetuiert und reproduziert. Das hierarchische Geschlechterverhältnis wurde gleichsam zum Normalfall, zur natürlichen Ordnung in den gesellschaftlichen Beziehungen und erscheint als alternativlos. Die Hierarchie der Geschlechter wird in die Körper eingeschrieben und so über die Generationen perpetuiert. Das ist gleichsam die Dimension des Überbaus oder vielleicht besser des psychischen Unterbaus. Gleichzeitig bleibt die Basis in Form der besonderen Gewaltapparate erhalten und eine männliche Domäne, was sich erst in jüngster Zeit vielleicht ändert, nicht zuletzt deshalb, weil sich die Technik der Gewaltausübung geändert hat, d.h. die rein physische Überlegenheit nicht mehr im Vordergrund steht. Die Verfügung über die Gewaltmittel ist aber zwingend mit einer gesellschaftlichen Hierarchisierung verbunden, auch wenn Gewalt sicher nicht das einzige Moment der Hierarchie ist. Die gewaltbasierte Hierarchie zwischen den Geschlechtern ist nicht nur ein allgemein gesellschaftliches Phänomen, sondern strukturiert auch direkt das Geschlechterverhältnis, die familiären Beziehungen. Das Züchtigungsrecht des Ehemannes gegenüber seiner Ehefrau wurde in Deutschland erst im Jahre 1928 abgeschafft. Und erst im Jahr 2000 wurde im deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch ein Recht auf gewaltfreie Erziehung verankert, womit das stillschweigende Züchtigungsrecht gegenüber den Kindern abgeschafft wurde. Auch hier perpetuierte das Recht ein Gewaltverhältnis – ein anderes zwar, aber im Kontext stehendes. Die „Vergewaltigung in der Ehe“ wurde erst 1997 strafbar, während vorher explizit nur der erzwungene „außereheliche Beischlaf“ unter Strafe stand. In der Ehe, das lässt sich schließen, wurde galt ein Gewaltverhältnis nicht als strafwürdig, wenn es nicht gar unterstellt wurde. Die Verteilung der Gewaltmittel, ihre „arbeitsteilige“ Zuweisung an die Geschlechter reproduziert so bis in die Gegenwart patriarchale Strukturen auch in der bürgerlichen Gesellschaft und damit im Staat der bürgerlichen Gesellschaft, der eben unter anderem durch die Inanspruchnahme eines Monopols der physischen Gewalt zu charakterisieren ist. Beispiel für die Fortschreibung hierarchischer Strukturen durch das Recht gibt es viele: Dazu gehört im Bürgerlichen Gesetzbuch bis in die jüngste Vergangenheit das Namenrecht, die Bestimmung des Haushaltsvorstandes, das Einwilligungserfordernis, wenn Ehefrauen eine Arbeit aufnehmen wollten, und anderes. Die Reproduktion gesellschaftlicher Strukturen geschieht aber nie durch einfaches Fortschreiben oder das (rechtliche) Konservieren des Bestehenden. Die Reproduktion ist gleichzeitig immer auch Produktion, die dem Vorhandenen Neues hinzufügt – wie subkutan auch immer. Bekannt ist, dass sich mit 130 der bürgerlichen Gesellschaft die Familienstruktur geändert hat. Die typische Familie der bürgerlichen Gesellschaft ist die Kleinfamilie. Die kapitalistische Produktionsweise setzt nicht nur einen von rechtlichen Bindungen freien Lohnarbeiter, sondern auch den mobilen, von „heimatlichen“ Bindungen befreiten, einen entwurzelten Arbeiter voraus. Das „Humankapital“ sucht eben genau so wie das ökonomische Kapital den günstigsten Standort seiner Verwertung und wenn der Standortvorteil nur darin besteht, überleben zu können. Erwartet wird eine hohe Mobilität, die nur mit der Kleinfamilie zu bewältigen ist, solange der Mann die Rolle „des alleinigen Ernährers“ einnimmt, kann die Familie den Wohnort mit dem Arbeitsort des Mannes wechseln. Die Kleinfamilie ist die adäquate Form für die spezifische „Freiheit“ des Lohnarbeiters. Die Kleinfamilie mit monogamen Beziehungen verstärkt – in bestimmten Perioden und bestimmten Schichten – die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die immer auch Elemente der Hierarchie enthält. Der Frau wird die Reproduktionsarbeit zugewiesen, was ihre ökonomische „Selbstständigkeit“ beschränkt, wenn nicht aufhebt oder umgekehrt: Abhängigkeit produziert. Es ist ein weiteres Phänomen der Überformung zu diskutieren, durch das die Reproduktion des hierarchischen Geschlechterverhältnisses auch durch die bürgerliche Ökonomie – wenn auch in spezifisch neuer Form – perpetuiert wird – der „Gender Pay Gap“. Clara Zetkin hatte einen vergleichsweise klaren Blick auf die spezifische Überformung des Geschlechterverhältnisses in der bürgerlichen Gesellschaft. Vor dem internationalen Arbeiterkongress führte sie 1889 aus: „Was aber dem Kapitalisten die weibliche Arbeitskraft ganz besonders wertvoll machte, das war nicht nur der geringe Preis, sondern auch die größere Unterwürfigkeit der Frau. Der Kapitalist spekulierte auf diese beiden Momente: die Arbeiterin so schlecht wie möglich zu entlohnen und den Lohn der Männer durch diese Konkurrenz so stark wie möglich herabzudrücken. In gleicher Weise machte er sich die Kinderarbeit zunutze, um die Löhne der Frauen herabzudrücken; und die Arbeit der Maschinen, um die menschliche Arbeitskraft überhaupt herabzudrücken. Das kapitalistische System allein ist die Ursache, dass die Frauenarbeit die ihrer natürlichen Tendenz gerade entgegengesetzten Resultate hat; dass sie zu einer längeren Dauer des Arbeitstages führt, anstatt eine wesentliche Verkürzung zu bewirken.“155 In der bürgerlichen Gesellschaft gibt es, lässt sich Zetkin interpretieren, spezifische Interessen an der Perpetuierung des hierarchischen Geschlechterverhältnisses, die über die von Wood erwähnten individuellen Interessen des Mannes in der Geschlechterbeziehung hinausgehen. Die tradierte Hierarchie wird genutzt, 155 Zetkin, Für die Befreiung der Frau, S. 9. 131 um die weibliche Arbeitskraft einerseits als industrielle Reserve mobilisieren zu können und zweitens um – damit einhergehend – über schlechtere Bezahlung ein allgemeines Lohndumping betreiben zu können. Als Rechtfertigung dienten zunächst tradierte Rollenbilder, in denen dem Mann die Rolle des Ernährers zugeschrieben wird, während die Frau nur zusätzlich verdient. Dabei kann jedes andere hierarchische oder diskriminierende Verhältnis, also etwa ethnische Ausgrenzungen in gleicher Weise zu Lohndrückerei funktionalisiert werden. Aber die kapitalistische Ökonomie produziert diese Form der Diskriminierung und Hierarchisierung nicht, sondern nutzt sie gleichsam für ihre Zwecke. Mit der zunehmenden Einbeziehung der weiblichen Arbeitskraft in den Produktionsprozess wird das Lohndumping noch verstärkt. Der nichtintendierte Effekt des Kampfes um gleichen Zugang zum Arbeitsmarkt durch die Frauenbewegung besteht auch darin, dass mit dem Wegfall der Ernährerrolle die Löhne der Männer niedriger ausfallen. Für Nancy Fraser ist es eine perfide List der Geschichte, dass der Kampf um Gleichberechtigung in Form des gleichen Zugangs zum Arbeitsmarkt dem Neoliberalismus in die Hände spielte, der die zusätzlichen auf dem Markt befindlichen Arbeitskräfte nutzen konnte, um den Wert der Ware Arbeitskraft generell zu senken.156 Der „Gender Pay Gap“ besteht ebenso fort wie die ungleiche Besetzung von Spitzenpositionen, was im Zweifel zusammenhängt. Tradierte Rollenverständnisse führen nicht zuletzt zu einer schlechteren Verfügbarkeit der weiblichen Arbeitskraft, die sich i. d. R. um Familie, Kinder usw. kümmert – wird das Kind krank, meldet sich im Zweifel die Mutter von der Arbeit ab. Das lässt es im Ergebnis aus der Sicht des Kapitals rational erscheinen, Spitzenpositionen nicht mit Frauen zu besetzen oder die weibliche Arbeitskraft wegen geringerer Verfügbarkeit schlechter zu bezahlen. Dann ist es umgekehrt rational, dass die schlechter bezahlten Frauen die Familienarbeit leisten, womit die Rollenverteilung perpetuiert wird, weil es den Eindruck der geringeren Verfügbarkeit auf Seiten des Kapitals verstärkt. Ein weiterer nicht intendierter Effekt lässt sich feststellen: Mit der staatlichen Durchsetzung allgemeiner Interessen an der Erhaltung der Arbeitskraft, d.h. ihrer Reproduktion wurde die weibliche Arbeitskraft in ihrer ökonomischen Verfügbarkeit eingeschränkt, nämlich in Form von Mutterschutzgesetz, Erziehungsurlaub und anderem. Die Arbeiter- und Frauenbewegung haben für diese Schutzrechte für die Frauen gekämpft, produzierten aber gleichzeitig einen nicht intendierten Effekt, eine perfide List der Geschichte: Es sind – wegen 156 Fraser, Feminismus, Kapitalismus und die List der Geschichte, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 8/2009, S. 43 ff. 132 des Pay Gap – die Frauen, die Erziehungsurlaub nehmen, was sich empirisch im „Karriereknick“ niederschlägt. Weil so die Verfügbarkeit über die weibliche Arbeitskraft seitens des Kapitals objektiv eingeschränkt wurde, ist es für dieses rational, Männer bei Stellenbesetzungen usw. vorzuziehen. Die potentielle Gleichheit der Geschlechter in der kapitalistischen Ökonomie wird so ausgerechnet durch die Schutzmaßnahmen zu Gunsten der Frauen konterkariert und ist ein weiteres Element, über das die Reproduktion des hierarchischen Geschlechterverhältnisses in der Arbeitswelt stattfindet. V. Ergebnisse157 Der Staat ist strukturell abgestimmt auf die spezifischen Bedingungen der kapitalistischen Ökonomie und deshalb ein besonderes Fundstück der europäischen Geschichte. Es ist zumindest missverständlich, den Staat der bürgerlichen Gesellschaft wegen seiner Homologie zur kapitalistischen Wirtschaft als „strukturell kapitalistischen Staat“ zu bezeichnen, weil diese Homologie nichts darüber aussagt, in welcher Form die politischen Strukturen aufzuheben sind, inwieweit sie also im geschichtlichen Prozess als emanzipatorische zu bewahren sind. Der Staat ist durchzogen von Kräfteverhältnisse. Er ist aber nicht nur Kräfteverhältnis, weil die gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen in den Institutionen und Strukturen des Staates gebrochen werden, die in ihren Eigengesetzlichkeiten strukturell konservativ sind, also tendenziell darauf angelegt sind, sich und die gesellschaftliche Struktur zu bewahren. Ein zentrales Element der kapitalistischen Wirtschaftsweise ist die Verwertung von Wert. Der Erwerb von Vermögen dient nicht dem Genuss oder dem alltäglichen Verbrauch zu Reproduktionszwecken, sondern dem ausschließlichen Einsatz zu Zwecken der Akkumulation. Aus Geld muss mehr Geld werden – eine Vorstellung, die uns heute als natürlich erscheint, aber keineswegs in die Wiege gelegt wurde. Der Bauernschaft und dem Adel war der kapitalistische Erwerbsbetrieb niemals zu eigen und auch die frühe Handelsbourgeoisie der Renaissance „verjubelte“ den Profit und verwendete ihn nur zu geringen Teilen zur Erweiterung der Handelsgeschäfte. Erst die neu entstehende Manufakturbourgeoisie legte den Profit in neueren Anlagen der Massenproduktion an. Mit Max Weber lässt sich feststellen, dass die moderne Form des Kapitalismus die 157 Dank an meinen Mitarbeiter, Ridvan Ciftci, für diese Zusammenfassung, die hoffentlich Unklares noch einmal klären kann. 133 kalkulierende Gewinnrechnung, also die Zinsrechnung, zur Grundlage des wirtschaftlichen Handelns macht. Diese Rechnung dient dem Zweck, eine möglichst hohe Verzinsung des eingesetzten Kapitals zu erreichen. Folglich geht es dem Weberschen kapitalistischen Geist um die effiziente Vermehrung des Kapitals. Hier ist eine Gemeinsamkeit oder Übereinstimmung mit den Analysen von Marx und Engels zu konstatieren. Marx bestimmte den Begriff des Kapitals in Abgrenzung von Geld dadurch, dass Kapital nicht wie Geld gehortet oder vergraben, sondern angelegt wird, mit dem Ziel der Vermehrung. Die „Plusmacherei“ ist das absolute Gesetz der kapitalistischen Produktionsweise. Im Vergleich zur vorkapitalistischen Produktionsweise ist hier eine Wandlung zu erkennen, die sich darin ausdrückt, dass die Wirtschaft sich auf die Verwertung von Wert umstellt. Die frühere Produktionsweise stellte auf den Gebrauchswert und den Selbstzweck ab; nicht auf Bereicherung. Ist die Verwertung von Wert Dreh- und Angelpunkt des Wirtschaftens in der bürgerlichen Gesellschaft, kommt es zum Problem der Vermittlung, denn die Verwertung von Wert rechnet nur mit Quantitäten. Die gesellschaftliche Reproduktion verläuft aber auf einer ganz anderen Ebene. Den Käufern geht es regelmäßig nicht um den Tauschwert einer Sache, sondern um ihren Gebrauchswert, also um den Nutzen der Sache (Qualität). Die Vermittlung zwischen Tausch- und Gebrauchswert übernimmt bekanntlich der Markt. Dieser Austauschprozess bedarf der Absicherung, die das Recht übernimmt – allerdings ist dies keineswegs nur in der bürgerlichen Gesellschaft der Fall. Die bürgerliche Gesellschaft erzeugt nicht die Rechtsform, sondern eine bestimmte Form des Rechts. Es ist festzustellen, dass die Abstraktion des Tauschwerts die Form des Rechts bestimmt, d.h. die Form des allgemeinen, abstrakten Rechtssatzes erzeugt. Die fehlende Berücksichtigung von anderen Qualitäten, die nicht in quantitativer Dimension fassbar sind, wie der gesellschaftliche Schaden eines Produkts oder die destruktive Auswirkung auf die Arbeitskraft und die Umwelt, müssen ebenfalls geregelt werden. Dieser Widerspruch zwischen besonderem Interesse des Kapitalisten und allgemeinem Interesse der Bevölkerung ist die konkrete Bedingung für die spezifische Funktion von Recht und Staat in der bürgerlichen Gesellschaft. Besonders für das Recht bedeutet dies, dass es die Funktion der Vermittlung von individuellem, besonderem, kollektivem und allgemeinem Interesse übernimmt, mit dem Ziel, die Aufspaltung vielfältiger und konträrer Interessen zu regeln. Die Wirtschaftsweise der bürgerlichen Gesellschaft wird im offiziellen Diskurs als Marktwirtschaft bezeichnet. Ihr ist das Element des Wettbewerbs, nicht nur des Marktes, inhärent, welches als Wettkampf der Verkäufer auf einem freien Markt um die Gunst der Käufer definiert wird. Märkte existierten in vorherigen Gesell134 schaften und fanden ohne Konkurrenz statt. Marktwirtschaft und Konkurrenz werden folglich in der herrschenden Volkswirtschaftslehre zusammengedacht. Auch Marx und Engels erkennen die Konkurrenzwirtschaft als zentrales Moment der kapitalistischen Ökonomie. Die Konkurrenzwirtschaft zwingt den Kapitalisten zur Realisierung des in den Waren steckenden Tauschwerts. Dies geschieht durch Verkauf auf dem Markt. Jedoch gelingt ihm das nur, wenn er die Waren zu einem vergleichbaren Preis anbieten kann wie seine Marktkonkurrenten. Die Konkurrenz wird zum Zwangsgesetz, dem sich alle Marktteilnehmer zu unterwerfen haben. Sie ist marktvermittelt und in dieser Form Spezifikum der bürgerlichen Gesellschaft. Den Warenproduzenten muss es unter den Bedingungen der Konkurrenz darum gehen, einen Einfluss ihrer Konkurrenten auf die Rechtsetzung insoweit zu verhindern, als durch dieses Recht die Konkurrenz Vorteile erlangen könnte. Das macht es plausibel, dass sich die öffentliche Gewalt als Allgemeines von den besonderen Interessen der bürgerlichen Gesellschaft trennt. Das Recht wird zum Instrument, den Konkurrenzkampf auf dem Markt zu befrieden. Dabei versucht es, die gröbsten destruktiven Nebeneffekte der alle Lebensbereiche erfassenden Konkurrenz einzufangen und ausgleichen. Es formuliert vorhandene Verhaltensweisen, Gebräuche und Sitten und versucht zu bewahren, wo die alten Formen der menschlichen Beziehungen sich im Konkurrenzkampf auflösen. Mit Franz Neumann lässt sich die Funktion des abstrakt generellen Gesetzes in der Kalkulierbarkeit des Warenaustauschprozesses auf dem Markt beschreiben. Zugleich ist festzustellen, dass das abstrakt generelle Gesetz individualisiert werden muss, um im konkreten Fall auch steuern zu können. Diese bedarf aber einer Administration, denn zwischen dem Akt der Rechtsetzung und dem individuellen Vollzug besteht eine Differenz. Daraus ist zu schließen, dass im abstrakt generellen Gesetz die funktionale Trennung der Gewalten angelegt ist. Die Revolutionierung der Produktion durch den technischen Fortschritt ermöglichte die Massenproduktion, die wiederum aufgrund ihrer maschinellen Basis Kooperation in der Arbeitsteilung erforderte. Die kapitalistische Produktionsweise setzt den freien Lohnarbeiter voraus, der seine Arbeitskraft als Ware dem Kapitalisten verkauft. Das vorherige Verhältnis von Herr und Knecht ist somit aufgehoben. Dabei stellen wir fest, dass die Freiheit des Lohnarbeiters eine doppelte ist: Erstens ist der Lohnarbeiter frei gegenüber dem Kapitalisten und anders als Leibeigene nicht an die Scholle gebunden; Zweitens ist er auch frei von den Produktionsmitteln – letzteres ist eine wichtige Voraussetzung der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft. Mit der Entwicklung der freien Lohnarbeit wird der unmittelbare Produzent zu einem Warenverkäufer, der seine spezielle Ware, seine Arbeitskraft, auf 135 dem Markt verkaufen muss und will. Der Lohnarbeiter muss einen Käufer der Ware Arbeitskraft finden und mit ihm einen Vertrag abschließen. Inhalt dieses Vertrages wird zunächst der Austausch von Arbeitskraft gegen Lohn und es werden die genauen Konditionen des Verkaufes und Einsatzes der Arbeitskraft geregelt. Das ehemals „Herr-Knecht-Verhältnis“ wird zum Vertragsverhältnis, aus dem jede Vertragspartei nach seinem „freien Willen“ ein- und aussteigen kann. Die Vertragsfreiheit wird folglich zum „ehernen Gesetz“ der bürgerlichen Gesellschaft und des bürgerlichen Rechts. Die Entstehung der Ware Arbeitskraft führt zur Verflüchtigung der sozialen Beziehung desjenigen, der die Arbeitskraft nutzt, zu denjenigen, die die Arbeitskraft verkaufen. Dies muss wiederum kompensiert werden. Die Lohnarbeit auf der Grundlage des Vertragsverhältnisses schafft so die Notwendigkeit von arbeits- und sozialrechtlichen Regulierungen. Ein quantitativer und qualitativer Anstieg von Rechtsnormen ist die Folge der Verwertungslogik des Kapitals und der kapitalistischen Konkurrenzordnung. Dieser Anstieg führt konsequenterweise dazu, dass sich der politische Apparat absondert von der ökonomischen Funktion und sich selbst differenziert. Gleichsam ist auch hier eine Teilung zu erkennen: Die Organisation des Gewaltapparats scheidet die juristische Arbeit von sich. Es bildet sich folglich ein Stab von Juristen, die aus der Arbeit mit dem Recht – Formulierung und Auslegung des Gesetzes – einen eigenständigen Zweig der staatlichen Institutionen machen. Schließlich differenzieren sich im Rahmen der arbeitsteiligen Herrschaft die politischen und ökonomischen Funktionen voneinander. Der eine Teil der Herrschenden spezialisiert sich auf das Politische, der andere Teil auf die ökonomischen Funktionen. An diesem Punkt stellen wir die Besonderung der Ökonomie von der Politik fest. Dies geschieht nicht aufgrund des Willens nach arbeitsteiliger Arbeit, sondern weil die Konkurrenzordnung als Zwangsgesetz dies gebietet. Ein weiterer Grund für die Besonderung der Ökonomie vom Staat liegt in der Konstruktion des freien Lohnarbeiters. Wenn die Arbeit als formal frei konstruiert und anerkannt wird, kann der Kapitalist als Käufer der Ware Arbeitskraft nicht auch die politische Herrschaft über den Verkäufer innehaben. Eine institutionelle Verbundenheit des Kapitalisten mit der politischen Herrschaft ist ausgeschlossen. Die Konsequenz ist wiederum die funktionale Trennung von politischer und ökonomischer Herrschaft. Der Staat als Ort der politischen Herrschaft übernimmt die Aufgabe, Institutionen der (Selbst-)Disziplinierung zu etablieren. Dies erfolgt durch neue staatliche Apparate, die Erziehungsarbeiten leisten. Schulen, Krankenhäuser, Ausbildungsstätten, Polizei und das Militär sind Beispiele für erweiterte Aufgaben des modernen Staates. 136 Weiter hat die Akkumulation des Kapitals auf höherer Stufe verschiedene Voraussetzungen. Die Lohnarbeiter müssen qualifiziert werden und es muss eine Infrastruktur an Verkehrs- und Kommunikationswegen geschaffen werden. Diese Aufgaben übernehmen die Kapitalisten aufgrund der Verschlechterung ihrer Wettbewerbssituation nicht. Die Lösung ist bekannt: Der Staat übernimmt diese Aufgaben und schafft die allgemeinen Voraussetzungen der kapitalistischen Produktionsweise. Er übernimmt die Aufgabe der Allgemeinheit und vertritt gleichsam das allgemeine kapitalistische Interesse. In früheren Gesellschaften beschränkten sich die Aufgaben des Staates auf repressive Funktionen, die Polizei und das Heer. Erst im Kapitalismus wird der Staat mit seinen erweiterten Aufgaben zum Interventionsstaat, der die Voraussetzungen des Wirtschaftens herstellt und sichert. Dabei ist die Erweiterung des Staates im dreifachen Sinne zu beobachten: Erstens erweitert er sich mit seinem Charakterwechsel vom rein repressiven zum interventionistischen Staat. Zweitens erweitert er sich durch das Hinzukommen neuer staatlicher Institutionen, in dem er nicht mehr Gewaltapparat, sondern Verwaltungs- und Erziehungsapparat zugleich wird. Drittens erweitert der Staat seine personellen und materiellen Ressourcen durch den Aufbau einer Bürokratie. Dies führt dazu, dass staatliche Entscheidungsprozesse nunmehr im gesellschaftlichen Umfeld stattfinden. Die staatlichen Entscheidungsträger sind in der Gesellschaft verankert und tragen Ideen und Forderungen in den Apparat. Folglich ist der Staat als ein Kräfteparallelogramm zu verstehen. Nicos Poulantzas begreift den Staat „als die materielle Verdichtung von Kräfteverhältnissen zwischen Klassen und Klassenfraktionen, das sich im Staat immer in spezifischer Form ausdrückt.“ Muss der Staat aber in einem Feld unterschiedlicher Kräfte das Allgemeine oder nur das scheinbar Allgemeine destillieren, so ist eine gewisse Autonomie erforderlich, um das Allgemeine zu repräsentieren. Dabei lässt sich das Allgemeine wiederum aufgliedern in die Repräsentation der allgemeinen Interessen der herrschenden Klasse und die Repräsentation der Interessen der gesamten Gesellschaft. Die logische Konsequenz ist die Besonderung des Staates von der Gesellschaft. Den bürgerlichen Staatstheorien ist seit Hobbes eigen, dass das Eigentum als zentraler Grund für die Entstehung des Staates genannt wird. Die Aufgabe des Staates ist somit der Schutz des Privateigentums. Jedoch stellen wir fest: Eigentum gab es schon in sehr frühen Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens und ist folglich kein Spezifikum der bürgerlichen Gesellschaft. Nämliches gilt für den Mehrwert. Dessen Abschöpfung existierte bereits in der feudalen Gesellschaft, wo der Zusammenhang offensichtlicher ist. Der Staat entsteht zunächst als besondere Gewalt – als zentralisierter Gewaltapparat. Diese Konzentration 137 von Gewaltmitteln erlaubt es, einigen Menschen, Männern, sich Eigentum zu verschaffen. Eigentum – so beschreibt Marx die ursprüngliche Akkumulation – hat Gewalt nicht als Folge, sondern als Voraussetzung. Eigentum und Gewalt sind gleichursprünglich zu denken. Eigentum und Aneignungsrechte, deren Ursprünge in sozialen Auseinandersetzungen liegen, werden durch das Recht auf Vererbungen verfestigt. Es werden also Rechtsregeln benötigt. Das Recht – mit Weber ausgedrückt – übernimmt die Garantie des Eigentums oder umfassender der gesellschaftlichen Position dann, wenn das Charisma aus der Herrschaft verschwindet, d.h. traditional wird. Dabei schafft das Recht aus sich heraus eine eigenständige Legitimation für die Herrschaft. Seine eigenständige Legitimität bezieht es aus dem Faktischen. Es gelang mit der und zur Stabilisierung von Herrschaftsansprüchen, Gesetze einzuführen und durchzusetzen, welche die bestehenden Strukturen stabilisieren und perpetuieren, weil die Menschen in diesen sozialisiert werden und die Strukturen und das Recht re-produzieren. 138 C. „Wo kommen die Kapitalisten ursprünglich her?“ I. Homologie und Geschichte – Zwischen Zufall und Notwendigkeit „Wo kommen die Kapitalisten ursprünglich her?“1 Das fragt Marx im 24. Kapitel des „Kapital“ über die ursprüngliche Akkumulation. Bevor unterschiedliche Antworten diskutiert werden, ist die Fragestellung zu präzisieren und in gewisser Weise auch zu begründen: Es geht hier schließlich an erster Stelle um den Staat und nur gleichsam nebenbei um Geschichte und Ökonomie. Die voranstehenden Überlegungen sollten deutlich gemacht haben, dass eine anspruchsvolle Verbindung zwischen kapitalistischer Wirtschaftsform und modernem Staat besteht. Anders gesagt: die Entwicklung einer kapitalistischen Wirtschaftsweise ist an spezifische politische Vorbedingungen geknüpft und kann sich nur unter den diskutierten politisch-juristischen Verhältnissen entwickeln. Umgekehrt ist die Entwicklung des modernen Staates von ökonomischen Vorleistungen abhängig; beispielsweise ist der Ausbau der Bürokratie nur bei einem entsprechenden wirtschaftlichen Surplus, einem effektiven Steuersystem und entsprechender Umverteilung vom privaten in den öffentlichen Sektor möglich. Im Ergebnis ergibt sich keine einfache Kausalität, sondern ein Geflecht von objektiven und subjektiven Faktoren, die gleichzeitig und gleichursprünglich die neue Produktionsweise und die neue Form der politischen Organisation, nämlich mittels professioneller Regierung und Verwaltung, hervorbrachten. Es entsteht eine Homologie zwischen kapitalistischer Produktionsweise und dem Kern des bürgerlichen Staates, die hier noch einmal zu resümieren ist. Auf einer ersten Stufe lässt sich ein Gleichklang zwischen bürokratischem Staat und kapitalistischer Produktion feststellen, wobei die Analyse an Paschukanis anknüpfen kann. Nicht nur der Warenaustausch, die gesamte kapitalistische Produktion und Distribution funktionieren nur reibungslos, wenn über formal rationales Recht und einen bürokratisch arbeitenden Staat berechenbare 1 Marx, Das Kapital, Bd. 1, S. 783 139 Bedingungen garantiert sind. Das formal rationale Recht und die Anwendung durch eine Verwaltung, die den Regeln ohne persönliche Interessen folgt und die Ergebnisse ihres Handelns nach vorgegebenen und nicht nach eigenen Maßstäben bewertet, schafft genau diese Berechenbarkeit als Voraussetzung einer kapitalistischen Ökonomie. Insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Konkurrenzwirtschaft würden staatliche Interventionen zugunsten des einen Konkurrenten das Prinzip dieser Wirtschaft aufheben. Der Staat muss jenseits der Konkurrenten stehen, was nicht nur die Zirkulation, sondern auch die Produktion betrifft. Im Fall des europäischen Binnenmarktes lässt sich dieses Prinzip als Gebot der Diskriminierungsfreiheit besichtigen, die gegen nationale Interventionen zugunsten des „heimischen“ Kapitals durchgesetzt wurde. Auf einer zweiten Stufe lässt sich ein Gleichklang im Prinzip der Arbeitsteilung, genauer der hohen Spezialisierung, ausmachen. Damit ist nicht die einfache Beobachtung gemeint, dass Produktion wie Verwaltung hohe Spezialisierung erfordern. Zunächst ist festzustellen, dass Arbeitsteilung und ein Mehrprodukt zentrale Voraussetzungen für die Freistellung von Personen für „politische“, „administrative“ oder – historisch zuerst – religiöse Aufgaben sind. Nur wenn mittels Arbeitsteilung ein Mehrprodukt erwirtschaftet wird, können sich Menschen jeder Produktionsweise aus der Produktion zurückziehen und „hauptberuflich“ beispielsweise religiöse Kulte zelebrieren. Die Arbeitsteilung ist umgekehrt auch Voraussetzung für die Entstehung einer Bürokratie. Diese wiederum treibt die Arbeitsteilung voran, bringt über die Hierarchisierung aus sich heraus Spezialisierungen und eine effiziente Organisationsweise hervor. Diese Organisationstechniken waren umgekehrt eine Voraussetzung für die Umstellung auf eine kapitalistische, d.h. arbeitsteilige und technisierte Methode der Produktion. Die arbeitsteilige Produktion ihrerseits verlangt unter Bedingungen der Konkurrenzwirtschaft einen hohen Grad an Spezialisierung und regelmäßig volle Konzentration auf eine Aufgabe, also die Trennung von politischen und ökonomischen Funktionen. Schließlich lässt sich auf einer dritten Stufe der Abstraktion eine Homologie der instrumentellen Vernunft feststellen, die Selbstverwertung erst etablieren kann. Die Ökonomie muss ihren Gesetzmäßigkeiten folgend eine effiziente Kapitalverwertung verfolgen, die Effizienz der Produktion und Distribution steigern, um im Konkurrenzkampf zu überstehen und eine möglichst hohe Verzinsung des Kapitals zu erreichen. Max Weber hatte das formale Rationalität genannt, die sich nicht nur in der Ökonomie durchgesetzt hat, sondern auch Recht und Verwaltung bestimmt, so dass eine Homologie der Rationalität als formal-rationale oder instrumentelle existiert. Und Weber fragt explizit: Wie setzt sich diese 140 Homologie, dieser Gleichklang, in der Arbeitsweise der bürgerlichen Gesellschaft durch? Wie entsteht ein „kapitalistischer Geist“, der alle Bereiche der bürgerlichen Gesellschaft, d.h. auch Ökonomie und Politik, Staat und Recht, durchdringt? Hat man die Homologie von Staat und Ökonomie zur Kenntnis genommen, sind drei Klippen bei der Erklärung zu umschiffen. Erstens ist eine funktionalistische Deutung eben keine Erklärung, weil von der Existenz bestimmter Phänomene auf deren Notwendigkeit geschlossen wird, obwohl sie ebenso gut zufällig sein könnte. Zweitens kann die Entwicklung – umgekehrt – aber nicht nur zufällig sein. Sie fand in Europa mehr oder weniger gleichzeitig statt, wenn sich die Staaten und die Ökonomie(n) auch unterschiedlich und zeitweise unterschiedlich schnell entwickelt haben. Trotz dieser Differenzen lässt sich ein gemeinsamer Kern staatlicher und ökonomischer Strukturen ausmachen, der es überhaupt erlaubt, von einer kapitalistischen Ökonomie und vom Staat in der bürgerlichen Gesellschaft zu sprechen und nicht von einer spanischen, deutschen oder englischen Ökonomie mit dem entsprechenden Staat oder Nationalstaat. Auch Gerstenberger betont diese Übereinstimmung in der Differenz: „Die politische Form ‘bürgerlicher Staat’ war eine besondere Ausprägung des Strukturtypus moderner Nationalstaat. Diese besondere Form erklärt sich – so die zentrale These dieser Arbeit – aus ihrer spezifischen Vorgeschichte. Weil es diese Vorgeschichte nur in Europa – und in abgeleiteten Formen in europäischen Siedlungskolonien – gab, entwickelte sich auch nur hier die politische Form ‘bürgerlicher Staat’.“2 Das bedeutet nicht, dass die Unterschiede der Institutionen und auch der Staatsformen im klassischen, juristischen Sinne, also die Unterschiede zwischen Parlamentarismus, Monarchie, Diktatur oder deren Mischformen, verkannt oder nivelliert werden. Aber die Differenzen der Entwicklung, die „Varieties of Capitalism“ ruhen auf ähnlichen Strukturen, die es erst erlauben, von Kapitalismen zu sprechen. Marx formulierte – zur Erinnerung – die Relation von strukturellem Kern und zufälligen Erscheinungen in folgender Weise: „Es ist jedes Mal das unmittelbare Verhältnis der Eigentümer der Produktionsmittel zu den unmittelbaren Produzenten – ein Verhältnis, dessen jedesmalige Form stets naturgemäß einer bestimmten Entwicklungsstufe der Art und Weise der Arbeit und daher ihrer gesellschaftlichen Produktivkraft entspricht –, worin wir das innerste Geheimnis, die verborgene Grundlage der ganzen gesellschaftlichen Konstruktion und daher auch der politischen Form des Souveränitäts- und Abhängigkeitsverhältnisses, kurz, der jedesmaligen spezifischen Staatsform finden. Dies hindert nicht, dass dieselbe ökonomische Basis – dieselbe den Hauptbedingungen nach – durch zahllose verschiedne empirische Umstände, Naturbedingungen, Racenverhältnisse, 2 Gerstenberger, Die subjektlose Gewalt, S. 8. 141 von außen wirkende geschichtliche Einflüsse usw., unendliche Variationen und Abstufungen in der Erscheinung zeigen kann, die nur durch Analyse dieser empirisch gegebenen Umstände zu begreifen sind.“3 Und Engels schreibt zu den Variationen im Zivilrecht: „Wird der Staat und das Staatsrecht durch die ökonomischen Verhältnisse bestimmt, so selbstverständlich auch das Privatrecht, das ja wesentlich nur die bestehenden, unter den gegebnen Umständen normalen ökonomischen Beziehungen zwischen den einzelnen sanktioniert. Die Form, in der dies geschieht, kann aber sehr verschieden sein. Man kann, wie in England im Einklang mit der ganzen nationalen Entwicklung geschah, die Formen des alten feudalen Rechts großenteils beibehalten und ihnen einen bürgerlichen Inhalt geben, ja, dem feudalen Namen direkt einen bürgerlichen Sinn unterschieben; man kann aber auch, wie im kontinentalen Westeuropa, das erste Weltrecht einer Waren produzierenden Gesellschaft, das römische, mit seiner unübertrefflich scharfen Ausarbeitung aller wesentlichen Rechtsbeziehungen einfacher Warenbesitzer (Käufer und Verkäufer, Gläubiger und Schuldner, Vertrag, Obligation usw.) zugrunde legen. … Wenn also die bürgerlichen Rechtsbestimmungen nur die ökonomischen Lebensbedingungen der Gesellschaft in Rechtsform ausdrücken, so kann dies je nach Umständen gut oder schlecht geschehen.“4 Von diesen Überlegungen ausgehend lässt sich Paschukanis Frage in folgender Weise reformulieren: Welche Institutionen und Strukturen begünstigen im Abendland den Übergang in die kapitalistische Konkurrenzwirtschaft und von der Schatzbildung zur Kapitalbildung? Die Verwertung von Wert oder die Akkumulation von Kapital als Antrieb des Wirtschaftens in einer kapitalistischen Ökonomie verselbstständigt sich irgendwann, wird zum Habitus, zum alter Ego des Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft, der von der Konkurrenz getrieben wird, wo er aus dieser Rolle herausfällt. Das erklärt aber nicht, warum am Beginn der bürgerlichen Gesellschaft der Landbesitz durch den Geldbesitz als erstrebenswert abgelöst wurde, warum statt Schatzbildung Kapitalakkumulation betrieben wurde. Im Anschluss daran ist zu fragen: Gibt es Verbindungen oder Homologien zur Entwicklung der politischen Herrschaft, die erklären können, dass sich in den europäischen Ländern trotz aller Besonderheiten ein von der Ökonomie besonderter, eben ein kapitalistischer Staat etabliert? Wenn die oben explizierten Annahmen einer Homologie von kapitalistischer Ökonomie und bürgerlichem Staat stimmen, sind die politischen Institutionen und Strukturen genauso Bedingung der kapitalistischen Ökonomie wie sie sich umgekehrt mit 3 4 142 Marx, Das Kapital III, MEW 25, S. 799 f. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie. MEW Bd. 21, S. 301. diesen entwickeln und verändern. Schließlich sind drittens eindimensionale Erklärungen in der Regel unzureichend; diese gilt es also kritisch zu würdigen und gleichzeitig zu vermeiden. II. Klassisch: Ursprüngliche Akkumulation, protestantische und katholische Ethik 1. Bauernlegen und Akkumulation von Kapital Marx beschreibt mit der ursprünglichen Akkumulation die Voraussetzung für die Entstehung einer Produktionsweise, die auf freier Lohnarbeit und Akkumulation von Kapital basiert. Dabei begreift er den Prozess nicht eindimensional, sondern beschreibt ihn als das Ergebnis eines Auflösungsprozesses der alten feudalen Ordnung, der neue Formen der gesellschaftlichen Koordination hervorbringt. Dazu gehört die Umstellung von der Naturalwirtschaft und Selbstversorgung zur Geldwirtschaft, die Befreiung von den Zunftbindungen bzw. das Entstehen einer Produktion neben den zünftisch organisierten im sog. Verlagswesen und später der Manufaktur. Schließlich mussten für die neue Art des Wirtschaftens Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Marx schreibt: „Nicht so, dass das Kapital die objektiven Bedingungen der Arbeit schafft. Sondern seine Urbildung geschieht einfach dadurch, dass der als Geldvermögen existierende Wert durch den historischen Prozess der Auflösung der alten Produktionsweise befähigt wird, einerseits zu kaufen die objektiven Bedingungen der Arbeit, anderseits die lebendige Arbeit selbst gegen Geld von den freigewordnen Arbeitern einzutauschen. Alle diese Momente sind vorhanden; ihre Scheidung selbst ist ein historischer Prozess, ein Auflösungsprozess, und es ist dieser, der das Geld befähigt, sich in Kapital zu verwandeln.“5 Den Schwerpunkt legt Marx auf die Freisetzung der Bauern und deren Umformung zu Lohnarbeitern durch Disziplinierung des Staates. „Die Expropriation des ländlichen Produzenten, des Bauern, von Grund und Boden bildet die Grundlage des ganzen Prozesses.“6 Es stellt sich die Frage, warum die Bauern „frei“ gesetzt wurden, warum sie von Grundbesitzern vertrieben wurden, die doch von deren Arbeitskraft, d.h. den Dienstverpflichtungen der hörigen Bauern lebten? Die Entwicklungen seien in den verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich, weshalb er vor allem den 5 6 Marx, Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehen, MEW Bd. 42, S. 414. Marx, Das Kapital I, MEW 23, S. 744. 143 Prozess in England beschreibt: Mit dem Aufblühen der Wollindustrie in Flandern stieg der Preis für Wolle, was die Grundeigentümer in England veranlasste, die Landbevölkerung, die für sie gearbeitet hatte, die Felder bestellt hatte, vom Lande zu vertreiben, um dort die einträglichere Schafzucht zu betreiben. Die Bauern wurden von den Äckern vertrieben, um auf dem freien Land Schafe zu züchten, mit deren Wolle gute Preise erzielt werden konnten. Die nun landlosen Bauern strömten u.a. in die Städte und standen als neue, billige Arbeitskräfte, als doppelt freie Lohnarbeiter, zur Verfügung. Das hört sich zunächst nach einem Zirkelschluss an. Die Bauern, d.h. die zukünftigen Arbeiter der Manufaktur, wurden vertrieben, weil man Wolle gut an die Manufaktur verkaufen konnte, deren Entstehung erst noch begründet werden sollte. Erklären lässt sich das mit der Ungleichzeitigkeit der Entwicklung. In Italien und Flandern gab es die ersten Formen der Tuchherstellung, die in England erst später bedeutend wurde. Das bedeutet aber, dass Marx historisch vergleichsweise spät ansetzt, nämlich im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts, dem schon eine Entwicklung der Landwirtschaft und bäuerlicher Produktion im Verlagswesen, also auf Rechnung und Verantwortung eines Verlegers, im 13. und 14. Jahrhundert vorausgegangen war, was später noch zu diskutieren ist. Auch nach neueren Erkenntnissen lässt sich im 14. Jahrhundert eine Entvölkerung des Landes, eine Landflucht feststellen, deren Ursachen kontrovers diskutiert werden, im Ergebnis aber die Marxsche Analyse bestätigen. Sie reichen von der Annahme einer „kleinen Eiszeit“, die zu deutlichen Ernteausfällen oder einer lang andauernden Reduktion der agrarischen Erträge führte, über die Pest bis zu Problemen bei den Investitionen: Die Grundherren verweigerten – angesichts sich auflösender Bindungen an die Scholle – neue Investitionen, die von den Fronbauern umgekehrt nicht aufgebracht werden konnten. Am Ende lässt sich ein Produktionsrückgang konstatieren, der seinerseits zur Landflucht führte oder diese zumindest verschärfte. Marx beschreibt die Entwicklung so: „Wenn z.B. die großen englischen Grundeigentümer ihre retainers entließen, die mit ihnen das surplus produce des Landes aufzehrten; ferner ihre Pächter die kleinen Häusler verjagten etc., so war damit erstens eine Masse lebendiger Arbeitskräfte auf den Arbeitsmarkt geworfen, eine Masse, die in doppeltem Sinn frei war, frei von den alten Klientel- oder Hörigkeitsverhältnissen und Dienstverhältnissen und zweitens frei von allem Hab und Gut und jeder objektiven, sachlichen Daseinsform, frei von allem Eigentum; auf den Verkauf ihres Arbeitsvermögens oder auf Bettel, Vagabundage und Raub als die einzige Erwerbsquelle angewiesen. Dass sie das letztere zuerst versuchten, von diesem Wege aber durch Galgen, Pranger, Peitsche auf den schmalen Weg zum Arbeitsmarkt getrieben wurden – wo also die Regierungen, f.i. Henry VII, VIII etc. als Bedingungen des historischen Auflösungsprozesses und als 144 Hersteller der Bedingungen für die Existenz des Kapitals erscheinen – ist geschichtlich konstatiert. Andrerseits die Lebensmittel etc., die die Grundeigentümer früher mit den retainers aufassen, standen nun zur Disposition des Geldes, das sie kaufen wollte, um through their instrumentality Arbeit zu kaufen. Das Geld hatte diese Lebensmittel weder geschaffen noch aufgehäuft; sie waren da, wurden konsumiert und reproduziert, eh sie durch seine Vermittlung konsumiert und reproduziert wurden. Was sich geändert hatte, war nichts, als [dass] diese Lebensmittel jetzt auf den Austauschmarkt geworfen waren – getrennt waren von ihrem unmittelbaren Zusammenhang mit den Mäulern der retainers etc. und aus Gebrauchswerten in Tauschwerte verwandelt waren.“ 7 Es wird deutlich, dass die Freisetzung der Bauern unmittelbar weitere Bedingungen der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion verändert hat und ihrerseits nicht voraussetzungslos war. Die vom Land vertriebenen Menschen waren frei von Dienstverpflichtungen und deshalb keineswegs gewillt, diese neue Freiheit durch kontinuierliche Lohnarbeit einzuschränken. Marx beschreibt auch an anderen Stellen, dass erst brutale Mittel der Disziplinierung den Lohnarbeiter erzeugten, der für die arbeitsteilige Produktion zu gebrauchen war. Weiter konnte die Freisetzung der Landbevölkerung nur „funktionieren“ unter der Voraussetzung einer halbwegs entwickelten Geld- und Warenwirtschaft und musste diese verstärken. So setzte die „Expropriation und Verjagung eines Teils des Landvolks“ nicht nur ihre Lebensmittel und ihr Arbeitsmaterial für das industrielle Kapital frei, sie schuf auch einen Markt.8 Schon die aufblühende Produktion im 13. Jahrhundert hatte eine bäuerliche Produktion über den Eigenbedarf hinaus für den Markt entstehen lassen, mit der eine Umstellung auf die Geldwirtschaft verbunden war. Auch wenn diese Form der bäuerlichen Produktion meist innerhalb eines Verlagssystems noch bescheiden war, lassen sich Anfänge einer Umstellung auf Waren- und Geldwirtschaft feststellen. Für das 16. Jahrhundert wird dann eine Periode ausgemacht, in der die Preise aufgrund gestiegener Geldmengen stark stiegen. Das war zum einen auf die Goldzufuhr aus Amerika zurückzuführen, zum andern spielte die faktische Aufhebung des Zinsverbotes und ein Anwachsen des Wechselwesens für die Geldschöpfung eine wesentliche Rolle.9 An anderem Ort stellen Marx und Engels die Verflechtungen von Eigentumsordnung, politischer Ordnung und Entwicklung der Produktivkräfte in folgender Weise dar: „Mit der zunftfreien 7 8 9 Marx, Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehen, MEW Bd. 42, S. 414 f. Marx, Das Kapital, MEW Bd. 23, S. 775. Romano/Tenenti, Weltgeschichte, Mittelalter und frühe Neuzeit, S. 321. 145 Manufaktur veränderten sich sogleich auch die Eigentumsverhältnisse. Der erste Fortschritt über das naturwüchsig-ständische Kapital hinaus war durch das Aufkommen der Kaufleute gegeben, deren Kapital von vornherein mobil, Kapital im modernen Sinne war, soweit davon unter den damaligen Verhältnissen die Rede sein kann. Der zweite Fortschritt kam mit der Manufaktur, die wieder eine Masse des naturwüchsigen Kapitals mobilisierte und überhaupt die Masse des mobilen Kapitals gegenüber der des naturwüchsigen vermehrte.“10 Marx geht offenbar davon aus, dass es eine direkte Linie vom Handelskapital, das sich mit dem Verlagssystem eine eigene Produktion sichert, über die Manufaktur bis zur industriellen Produktion gibt. Der Handelskaufmann, so seine Darstellung, lässt zunächst in bäuerlicher Produktion Waren für sein Handelsgeschäft herstellen. Mit zunehmender Nachfrage und zunehmenden Kapital einerseits und der Existenz freier Lohnarbeiter andererseits wird die Produktion konzentriert und arbeitsteilig, d.h. wird in der Manufaktur organisiert. Marx schreibt: „Die Art, wie sich das Geld in Kapital verwandelt, zeigt sich oft historisch ganz einfach handgreiflich so, dass z.B. der Kaufmann mehre Weber und Spinner, die bisher Weben und Spinnen als ländliches Nebengewerb trieben, für sich arbeiten lässt und ihr Nebengewerb zum Haupterwerb für sie macht; dann aber ihrer sicher ist und sie in seine Botmäßigkeit als Lohnarbeiter gebracht hat. Sie dann von ihren Heimatstätten fortzuziehn und zu vereinen in ein Arbeitshaus, ist ein weitrer Schritt. Bei diesem einfachen Prozess ist klar, dass er weder Rohmaterial noch Instrument, noch Lebensmittel für den Weber und Spinner vorbereitet hat. Alles, was er getan hat, ist, sie nach und nach auf eine Art Arbeit zu beschränken, wo sie abhängig vom Verkauf, vom Käufer werden, dem Kaufmann und schließlich nur noch für und durch ihn produzieren.“11 Es ist für Marx der Kaufmann, der sein Kaufsmannskapital in der Produktion anlegt und so schließlich über die Manufaktur zum industriellen Kapitalisten wird. Für unwahrscheinlicher – wenn auch nicht ausgeschlossen – hält er es, dass Handwerker – aus ihrem Zunftbetrieb oder als ehemalige Produktionsleiter für den Kaufmann – zum manufakturellen Bourgeois oder industriellen Kapitalisten wurden. So heißt es im Kapital: „Zweifelsohne verwandelten sich manche kleine Zunftmeister oder noch mehr selbständige kleine Handwerker oder auch Lohnarbeiter in kleine Kapitalisten und dann durch allmählich ausgedehntere Exploitation von Lohnarbeit und entsprechender Akkumulation in Kapitalisten 10 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, MEW Bd. 3, S. 55. 11 Marx, Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehen, MEW Bd. 42, S. 417. 146 sans phrase“.12 Und an anderer Stelle: „Es steht dem nicht im Weg, dass bei der Auflösung der Zünfte einzelne Zunftmeister sich in industrielle Kapitalisten verwandeln; indes ist der Kasus rar und so der Natur der Sache nach. Im ganzen geht das Zunftwesen unter, der Meister und der Gesell, wo der Kapitalist und der Arbeiter aufkommt.“13 Auch die Pächter von Grundstücken, die sich zunächst in einer ähnlichen Rolle wie die Bauern befanden, gelangten – so Marx – mit dem Preisanstieg des 14. Jahrhunderts zu Reichtum, weil die Pachtrenten nicht angepasst wurden. So konnten sie sich darauf verlegen, mehr Lohnarbeit auszubeuten. Ellen Eiksins Wood sucht die spezifischen Bedingungen für die Entwicklung des Kapitalismus nur in England und dort in den Beziehungen zwischen adeligen Landbesitzern und deren Pächtern, d.h. in den spezifischen Eigentumsverhältnissen.14 Die Grundherren seien – anders als auf dem Kontinent – früh entmilitarisiert worden und hätten so an „außerökonomischer Macht“ verloren, nämlich die Verfügungsbefugnis über Gewaltmittel, die beim Staat zentralisiert wurden. Ihnen hätten wegen der hohen Konzentration des Landbesitzes in England nicht Bauern, sondern Pächter gegenübergestanden. Wood folgert: „Die relativ schwache außerökonomische Macht der Grundherren“ hat dazu geführt, „dass diese weniger von ihrer Fähigkeit abhängig waren, durch direkte Zwangsmaßnahmen höhere Abgaben aus ihren Pächtern herauszupressen als vom Erfolg ihrer Pächter in der konkurrenzförmigen Produktion. Agrarische Grundherren hatten in diesem Arrangement einen starken Anreiz, ihre Pächter anzuspornen, … Wege zu finden, durch die Steigerung der Arbeitsproduktivität Kosten zu sparen. In dieser Hinsicht unterschieden sie sich grundlegend von den Rentiers-Aristokraten, deren Reichtum die ganze Geschichte hindurch auf Auspressung von Überschüssen aus Bauern durch einfachen Zwang abhing. … Die Folge dieses Systems von Eigentumsverhältnissen war, dass viele agrarische Produzenten … in ihrem Zugang zu Land selbst, den Produktionsmitteln, vom Markt abhängig wurden.“15 Wood setzt hier in der Beschreibung der ursprünglichen Akkumulation, die eben durch die Vertreibung der Bauern gekennzeichnet ist, viel später an als Marx. Wichtiger ist aber, dass sie voraussetzt, was sie erklären will, nämlich die marktförmige Konkurrenz, die zwischen den Pächtern schon besteht. Marx billigt den Pächtern auch eine Rolle im Verlauf der ursprünglichen Akkumulation zu, aber eher eine Nebenrolle, wenn er schreibt: „Die Kapitalbildung geht daher nicht 12 Marx, Das Kapital, MEW Bd. 23, S. 777. 13 Marx, Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehen, MEW Bd. 42, S. 413. 14 Ähnlich: Brenner, Agrarian Class Structure and Economic Development in Pre-Industrial Europe S. 65 ff. 15 Wood, Der Ursprung des Kapitalismus, S. 118 f. 147 aus vom Grundeigentum (hier höchstens vom Pächter, soweit er Handelsmann mit Agrikulturprodukten ist); auch nicht von der Zunft; (obgleich an letztrem Punkt eine Möglichkeit), sondern vom Kaufmanns- und Wuchervermögen. Dies findet aber erst die Bedingungen vor, freie Arbeit zu kaufen, sobald diese durch historischen Prozess losgelöst von ihren objektiven Existenzbedingungen.“16 Entscheidend ist für Marx, dass mit der Landvertreibung die Leibeigenschaft und Zunftregeln fallen, so dass das Kaufmanns- und Wucherkapital (also Bankkapital) neue Anlagemöglichkeiten findet, nämlich in Manufakturen als Vorläufer des industriellen Kapitals. So formuliert er: „Unter den Zunftbedingungen z.B. kann bloßes Geld, das nicht selbst zünftig ist, meisterschaftlich ist, nicht die Webstühle kaufen, um auf ihnen arbeiten zu lassen; vorgeschrieben, wie viele einer bearbeiten darf etc. Kurz, das Instrument selbst ist noch so verwachsen mit der lebendigen Arbeit selbst, als deren Domäne es erscheint, dass es nicht wahrhaft zirkuliert. Was das Geldvermögen befähigt, Kapital zu werden, ist das Vorfinden einerseits der freien Arbeiter; zweitens das Vorfinden der Lebensmittel und Materialien etc., die sonst d’une manière ou d’une autre Eigentum der nun objektlos gewordenen Massen waren, als ebenfalls frei und verkäuflich.“17 Die Bedingungen, die Marx aufzählt, sind sicher unerlässlich dafür, dass sich Geld in Kapital verwandelt, dass sich neue Produktionsweisen etablieren können. Wirklich geklärt ist damit die Frage „Wo kommen die Kapitalisten ursprünglich her?“ aber nicht. Warum war der neue Handelskaufmann, die neue Bourgeoisie, woher immer sie sich rekrutierte, im Unterschied zur alten plötzlich daran interessiert, ihr Geld zu verwerten, statt es in Luxus oder Grundeigentum anzulegen? Wieso gaben die englischen Grundbesitzer ihre alte, überkommene Form der Produktion und Reproduktion auf, vertrieben die Bauern von ihren Ländereien? Was scherten den englischen Adel die Wollmanufakturen in Flandern? Die Fragen beantwortet Marx nicht. Deshalb kann Weber in die Lücke stoßen und den Protestantismus als Ursprung des „kapitalistischen Geistes“ ausmachen. 16 Marx, Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehen, MEW Bd. 42, S. 412. 17 Marx, Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehen, MEW Bd. 42, S. 412. 148 2. Kapitalistischer Geist und protestantische Ethik a) Protestantismus und Rationalisierung Eine der bekanntesten Antworten auf die Entstehungsbedingungen des Kapitalismus hat Max Weber gegeben. Er stellt sich explizit die Frage: Warum entwickelte sich der moderne Kapitalismus zuerst im europäischen Abendland, was waren die Voraussetzungen und Bedingungen des Okzidents, die kapitalistisches Wirtschaften möglich machten? Zur Beantwortung dieser Frage verweist Weber auf die Religion, nämlich die protestantische Abkehr von der katholischen Kirche. Mit der protestantischen Ethik, so seine zentrale These, entstand der Geist des Kapitalismus. Weber hat seine These der Weltbildrationalisierung in pointierter Abgrenzung zum ökonomischen Determinismus – Weber meint, zum Marxismus – entwickelt. Er behauptet, dass die spezifische religiöse Rationalisierung des Protestantismus und daraus folgend die Entwicklung einer rationalen Verwaltung und eines formal-rationalen Rechtssystems Voraussetzungen kapitalistischer Ökonomie gewesen seien. Der „kapitalistische Geist“ sei vor der kapitalistischen Wirtschaft existent, womit Weber das „Kausalverhältnis jedenfalls umgekehrt als es vom ‘materialistischen’ Standpunkt aus zu postulieren wäre“18, konstruieren will. Calvin (1509–1564) und insgesamt die reformierten Kirchen, wie z.B. die Hugenotten, argumentiert Weber, predigten Askese, Disziplin und Fleiß, also die Sekundärtugenden des Kapitalismus. Und man hoffte, die von Gott Auserwählten an ihrem irdischen Erfolg und Reichtum zu erkennen. Das veranlasste die neue Kirche, ihr ganzes Leben auf eine formale Rationalität, die rationale Kalkulation bei vorgegebenem Ziel, im Ergebnis den Reichtumserwerb, umzustellen. Hier wird die zweite große Erzählung Webers sichtbar. Der Protestantismus ist eine Form der Rationalisierung von Weltanschauungen. Rationalisierung kennzeichnet dabei einen Fortschritt, einen Aufstieg von einer niedrigen zu einer höheren Stufe der Rationalität, nämlich zur formalen Rationalität. Und der Protestantismus verwirklicht nur eine Form dieser Rationalisierung, nämlich diejenige, die der kapitalistischen Logik, dem kapitalistischen Geist entspricht. Die formale Rationalität hält, so Weber, Einzug in alle Lebensbereiche – neben der Ökonomie auch in Recht und Staat. Er konstatiert explizit eine Homologie der Rationalität von kapitalistischer Ökonomie und bürokratischem Staat, wenn er schreibt: „Auch geschichtlich steht aber der ‘Fortschritt’ zum bürokratischen, nach rationalem Recht und rational erdachten Reglements judizierenden und 18 Weber, Religionssoziologie I, S. 39. 149 verwaltenden Staat in engstem Zusammenhang mit der modernen kapitalistischen Entwicklung. Der moderne kapitalistische Betrieb ruht innerlich vor allem auf der Kalkulation. Er braucht für seine Existenz eine Justiz und Verwaltung, deren Funktionieren wenigstens im Prinzip ebenso an festen generellen Normen rational kalkuliert werden kann, wie man die voraussichtliche Leistung einer Maschine kalkuliert.“19 Die berechnende Kalkulation oder Berechenbarkeit ist für Weber die Form der kapitalistischen Rationalität, die ubiquitär wird. Weber befindet sich in der Tradition des deutschen Idealismus und versteht die Geschichte als Fortschrittsgeschichte, genauer als Rationalisierungsgeschichte. Die Menschheit schreite von einem material irrationalen Weltverständnis zur Form formaler Rationalität voran. Was ist das Kennzeichen formaler Rationalität im Unterschied zu anderen Formen der Rationalität? Den Unterschied erläutert Weber für die Ökonomie so: „Als formale Rationalität des Wirtschaftens soll hier das Maß der ihm technisch möglichen und von ihm wirklich angewendeten Rechnung bezeichnet werden. Als materiale Rationalität soll dagegen bezeichnet werden der Grad, in welchem die jeweilige Versorgung von gegebenen Menschengruppen … mit Gütern durch die Art eines wirtschaftlich orientierten sozialen Handelns sich gestaltet unter dem Gesichtspunkt bestimmter (wie immer gearteter) wertender Postulate.“20 Und wenige Zeilen später: „Formal ‘rational’ soll ein Wirtschaften je nach dem Maß heißen, in welchem die jeder rationalen Wirtschaft wesentliche ‘Vorsorge’ sich in zahlenmäßigen, ‘rechenhaften’ Überlegungen ausdrücken kann und ausdrückt. … Dieser Begriff ist also … eindeutig wenigstens in dem Sinn, dass die Geldform das Maximum dieser formalen Rechenhaftigkeit darstellt. … Dagegen ist der Begriff der materialen Rationalität durchaus vieldeutig. Er besagt lediglich das Gemeinsame: dass eben die Betrachtung sich mit der rein formalen (relativ) eindeutig feststellbaren Tatsache: dass zweckrational, mit technisch tunlichst adäquaten Mitteln, gerechnet wird, nicht begnügt, sondern ethische, politische, utilitarische, hedonische, ständische, egalitäre oder irgendwelche anderen Forderungen stellt und daran die Ergebnisse des – sei es auch formal noch so ‘rationalen’, d.h. rechenhaften – Wirtschaftens wertrational oder material zweckrational bemisst. Der möglichen, in diesem Sinn rationalen, Wertmaßstäbe sind prinzipiell schrankenlos viele.“21 Die formale Rationalität hat die Zweck-Mittel-Relation oder ökonomisch die Kosten-Nutzen-Rechnung im Blick. Benthams Utilitarismus22 wird zum Inbe19 20 21 22 150 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 826. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 44. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 45. In der zitierten Textpassage versteht Weber utilitarische Motive als eine besondere Form der ethischen Motive. Das ist dann richtig, wenn man davon ausgeht, dass im griff der Rationalisierung zum Charakteristikum des geschichtlichen Fortschritts. Für die ökonomische Kalkulation der kapitalistischen Logik ist das Ziel gegeben, nämlich die Verwertung des Wertes. Zu kalkulieren und auszuwählen sind die Mittel, mit denen man dieses Ziel am besten erreichen kann. Die Auswahl der Mittel folgt einer – in Webers Worten – formalen Rechenhaftigkeit, weil die Chancen und Risiken und der zu erwartende Gewinn kalkuliert werden. Das Ziel der Operation wird nicht diskutiert, sondern ist vorgegeben. Weber nennt es „Vorsorge“, für die aber die Geldform das Maximum der formalen Rationalität darstellt. Die Verankerung formal-rationaler Handlungsorientierungen in der Lebensführung der Menschen führt Weber auf eine spezifisch okzidentale Rationalisierung der Religion zurück. Die Entwicklung der Religionen begreift Weber als Rationalisierungsprozess, d.h. als religionsgeschichtlichen Prozess der Entzauberung der Welt.23 Dazu hat er weitreichende religionsvergleichende Studien vorgelegt, mit denen er seine schon früh in der Schrift zur „Protestantischen Ethik“ entwickelte Thesen absicherte. An ihren Anfang stellt Weber die Rationalisierung der magischen Weltbilder, die sich durch eine Entwicklung zum Monismus kennzeichnen lassen. Evolutionstheoretisch durchaus zufällig sei die Herausbildung eines universalistischen Monotheismus in der vorderasiatisch-iranischen und christlichen religiösen Welt, der aber entscheidend andere Bedingungen für die religiös-ethische Lebensführung geschaffen habe. Mystik und „kontemplative Weltflucht“ seien dem alten Buddhismus und in gewissem Maße fast allen asiatischen und vorderasiatischen Formen der Erlösung eigentümlich. Dem stellt Weber die aktive Askese gegenüber, diese sieht er als fortgeschrittene Form der Rationalisierung der Lebensführung in der protestantischen Ethik konsequent verwirklicht. Die religiöse Entzauberung der Welt habe in ihr ihren Abschluss gefunden. Die methodische Lebensführung des Protestantismus überwand den Traditionalismus des mittelalterlichen Katholizismus und zeigt Wahlverwandtschaften zum „Geist des Kapitalismus“. Die religiöse Grundlage der innerweltlichen Askese findet Weber vor allem im Calvinismus, der sich durch die Lehre von der Gnadenwahl charakterisieren lässt, der die Prädestinationslehre predigt. Nicht mehr menschliches Verdienst oder Verschulden würden danach über das Schicksal entscheiden, sondern alUtilitarismus Nutzen und Kosten unbestimmt und individuell gewählt werden können, um anschließend in ein Verhältnis gesetzt zu werden, was – jedenfalls – bei ökonomischen Operationen mit der formalen Rationalität gleichzusetzen ist. 23 Weber, Religionssoziologie I, S. 94; Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 308. 151 lein „Gottes absolut freie Entschlüsse, die von Ewigkeit her feststehen“24 und durch menschliche Einwirkung nicht wandelbar seien. Aus dieser Lehre von der Gnadenwahl folge nicht logisch die Ausbildung einer methodischen Lebensführung, logisch konsequent wäre mindestens ebenso ein religiöser Fatalismus. Weber sucht darum nach den empirischen Ursachen, die zur Entwicklung einer innerweltlichen Askese, zu einer neuen Berufsethik führten. Da sich die „Erwählten“ äußerlich nicht von den „Verworfenen“ unterschieden, argumentiert er, hätten die Gläubigen nach Wegen der Erkennbarkeit ihres Gnadenstandes gesucht, die im Bewährungsgedanken gefunden worden seien. Weber schreibt: „Um jene Selbstgewissheit zu erlangen, (wurde) als hervorragendes Mittel rastlose Berufsarbeit eingeschärft. Sie und sie allein verscheuche den Zweifel und gebe die Sicherheit des Gnadenstandes.“25 Nicht einzelne gute Werke seien nun geeignet, zur Erlösung zu führen, sondern ein „System der Werkheiligkeit“ sei zum Indiz des Gnadenstandes geworden. Verlangt wurde eine systematische Selbstkontrolle, eine Rationalisierung der Lebensführung. Die Ethik des Protestantismus habe die rastlose Berufsarbeit ins Zentrum ihrer Gebote gestellt. Arbeit sei zum Selbstzweck des Lebens geworden. Gleichzeitig habe sich die Askese gegen das unbefangene Genießen sowohl des Daseins als auch von Besitz und Luxus gewandt. Damit durchkreuzte der Protestantismus aber nicht das kapitalistische Gewinnstreben, sondern schuf – in Webers Interpretation – die Voraussetzung für die Akkumulation von Kapital. Die erzielten Gewinne durften nicht in Luxus ausgegeben werden, sondern mussten reinvestiert werden. Das typische Verhalten des Adels, seinen Reichtum zur Schau zu stellen, in Prunk und Protz zu leben, musste – jedenfalls zu Beginn der kapitalistischen Entwicklung – durchbrochen werden. Es bedurfte einer neuen Herangehensweise an die Ökonomie, die Vermögen zunächst ansammelte, um sie später gewinnbringend einzusetzen. Diese neue Herangehensweise, meint Weber, wurde durch die protestantische Ethik möglich, weil den Menschen gleichzeitig Askese angedient wurde und sich der vermutliche Gnadenstand am Reichtum bemessen sollte. Dann ist es nur folgerichtig, wenn man dazu übergeht, Kapital zu akkumulieren, statt Schätze zu bilden und sein Vermögen im Genuss auszugeben. Der Protestantismus habe also einen „Geist des Kapitalismus“ erzeugt, der die kulturellen Voraussetzungen einer kapitalistischen Ökonomie gebildet habe, indem er sich als Wirtschaftsgesinnung, als „Anschauungsweise, die von Men- 24 Weber, Religionssoziologie I, S. 93. 25 Weber, Religionssoziologie I, S. 105f. 152 schengruppen getragen wurde“26, ausgebreitet habe. Dieser „Geist“, so Webers Annahme, schwebt nun weiter und verbreitet sich von der Religion über die Ökonomie in alle Poren der bürgerlichen Gesellschaft. b) Formal-rationales Recht und bürokratischer Staat Nicht nur die Ökonomie, sondern auch der Staat und das Recht werden durch den Rationalisierungsprozess verändert und umgestellt auf die „fortschrittliche“ oder „fortgeschrittene“ formal-rationale Logik. Diese manifestiert sich im formal-rationalen Recht und in einem bürokratischen Staat. Weber unterscheidet idealtypisch drei reine Typen legitimer Herrschaft, nämliche erstens die „legale Herrschaft mit bürokratischem Verwaltungsstab“, zweitens die „traditionale Herrschaft“ und drittens die „charismatische Herrschaft“. Die legale Herrschaft wird durch zwei wesentliche Elemente charakterisiert, nämlich durch einen bürokratischen Verwaltungsstab und durch die Existenz beliebig gesatzten Rechts in Form genereller Normen. Den Verwaltungsstab stellt Weber als „kontinuierlichen regelgebundenen Betrieb von Amtsgeschäften“27 innerhalb einer klar gegliederten Kompetenzhierarchie vor. Der Verwaltungsstab setze sich aus nach Fachqualifikation ausgewählten Beamten zusammen, wobei eine strikte Trennung von privater und öffentlicher Sphäre, Privatbesitz und öffentlichen Sachmitteln der Verwaltung vorherrsche und die Subsistenz der Beamten durch Gehälter gesichert sei. „Wie der sogenannte Fortschritt zum Kapitalismus seit dem Mittelalter ein eindeutiger Maßstab der Modernisierung der Wirtschaft, so ist der Fortschritt zum bürokratischen auf Anstellung, Gehalt, Pension, Avancement, fachmässiger Schulung und Arbeitsteilung, festen Kompetenzen, Aktenmäßigkeit, hierarchischer Unter- und Überordnung ruhenden Beamtentum der ebenso eindeutige Maßstab der Modernisierung des Staates.“28 Die bürokratische Verwaltung bezeichnet Weber als ein relativ spätes Entwicklungsprodukt, das sich gegen verschiedene Hemmnisse durchsetzen musste, was aber schließlich aufgrund ihrer technischen Überlegenheit gelungen sei. Die bürokratische Verwaltung agiert deshalb formal-rational, weil sie als Ausführung oder Durchführung des Gesetzes gedacht wird und in dieser Weise funktionieren und arbeiten soll. Die Herausbildung der bürokratischen Verwaltung ist deshalb aufs Engste mit derjenigen des formal-rationalen Rechts verknüpft, das Grund26 Weber, Religionssoziologie I, S. 37. 27 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 125. 28 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 825. 153 lage der Arbeit der Bürokratie ist. Das formal-rationale Recht ist für Weber das allgemeine Gesetz, das durch Subsumtion auf konkrete Fälle angewendet wird. Das heißt: die Form des modernen Rechts als abstrakt29, generelle30 und gleichzeitig bestimmte31 Norm ist für Weber das Ergebnis einer Entwicklung zu einer höheren, nämlich formalen Rationalität. Die Rationalität liegt in der gleichen Anwendung auf alle Fälle, womit Entscheidungen für die Adressaten berechenbar werden. Die Handlungen der Bürokratie sind rechenhaft vorhersehbar, weil sie sich aus dem Gesetz ergeben. Oder anders formuliert: Das Gesetz gibt die Ziele vor, die von den Rechtsarbeitern, d.h. Verwaltung und Gerichten, nicht hinterfragt werden, als gegeben hingenommen werden. Die Aufgabe besteht darin, die Ziele möglichst effektiv umzusetzen. Auch hier lässt sich die formale Rationalität als Berechnung von Zweck und Mittel begreifen. Die formale Rationalität des Rechts gewährleistet die für kapitalistische Betriebe adäquate Kalkulierbarkeit, die für eine wiederum formal-rationale Kapitalrechnung notwendig sei. Die gleiche Funktion erfülle die Organisation der Herrschaft in Form der auf legaler Grundlage arbeitenden bürokratischen Verwaltung, die so für den kapitalistischen Betrieb kalkulierbar sei. Auch der durch eine bürokratische Verwaltung geprägte Staat ist für Weber ein wichtiges Element der nur im Okzident entstandenen modernen Gesellschaft. Entscheidend für unsere Diskussion ist zunächst, dass der Protestantismus Ausgangspunkt für einen umfassenden Prozess der Rationalisierung oder präziser der formalen Rationalisierung wird, der nicht nur die Ökonomie erfasst, sondern eben auch Recht und Staat. Habermas zeigt, dass Rationalisierung bei Weber unter einem umfassenden Gesichtspunkt der „praktischen Rationalität“ zu betrachten ist32 , weil die protestantische Ethik als „wertrationale Verankerung zweckrationaler Handlungsorientierungen“33 zu begreifen sei. Geht man von dieser These zur Bedeutung der protestantischen Ethik aus, wird es auch für die 29 Abstrakt ist die Norm, weil sie nicht konkrete Fälle, sondern in abstrakten Begriffen eine unbestimmte Zahl von Sachverhalten, die auch nicht zwingend bekannt sein müssen, erfasst. 30 Generell oder allgemein ist die Norm, weil sie für die Rechtsunterworfenen in gleicher Weise gilt, sie sind vor dem Gesetze gleich. 31 Bestimmt soll die Norm sein, um Berechenbarkeit herzustellen. Rechtsfolgen müssen erwartbar sein, d.h. trotz der abstrakten Formulierung muss klar sein, welche Fälle erfasst sind und welche nicht, d.h. die Unschärfen, die mit der Abstraktion zwingend verbunden sind, dürfen nicht zu groß sein. 32 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns I, S. 245. 33 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns I, S. 276 f, 314. 154 Staatstheorie notwendig, diese These und die historischen Prozesse zu diskutieren, die – dieses Ergebnis wird weitgehend geteilt – zu einer „Entzauberung der Welt“, d.h. der Durchsetzung formaler Rationalität nicht nur in der Ökonomie, sondern auch in Staat und Recht, geführt haben. 3. Der Geist des Kapitalismus und der Katholizismus Explizit gegen Weber argumentiert Werner Sombart, der wenige Jahre nach Weber dem „Geist des Kapitalismus“ nachspürte. Sombart vertritt zunächst einen anderen Ansatz als Weber. Letzterer versuchte, Marx und Engels materialistische Position anzugreifen, indem er nachweisen wollte, dass es nicht die Entwicklung der Produktivkräfte ist, welche die Geschichte vorantreibt, sondern „der Geist“, zwar nicht mehr der idealistische hegelsche Weltgeist, aber doch der protestantische Geist des Kapitalismus. Sombart argumentiert gegen einen etwas naiven Materialismus, der die Geschichte als Geschichte der Ökonomie und nicht als Geschichte von Kämpfen begreift, wobei letztere weit zu verstehen sind, nämlich als Kämpfe mit der Natur, als geistige und soziale Auseinandersetzungen, aber ebenso als physischer Kampf, also Krieg. Auf dieser Grundlage macht er sich auf die Suche nach den Bedingungen und Ursachen des kapitalistischen Geistes. Gleichzeitig argumentiert er gegen Weber, erstens gegen eine monokausale Erklärung der Entwicklung über die protestantische Ethik, und zweitens betont er, dass auch die theoretischen Systeme, u.a. die Religionen nur zu verstehen sind im Zusammenhang der Totalität der gesellschaftlichen Bedingungen.34 Das heißt, er zählt sowohl die Gold- und Silberfunde in der neuen Welt, die technische Entwicklung oder die Entwicklung des Heeres zu den Bedingungen der Entstehung 34 Hier schleichen sich dann gelegentlich – zeitbedingte – Mythen ein, wie die von dem Charakter eines bestimmten Volkes als Disposition, einen kapitalistischen Geist zu entwickeln. Insbesondere wird das Judentum als Volk und nicht als Religionsgemeinschaft aufgefasst, dem dann bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden – allerdings auf einer vergleichsweise rationalen Ebene. Die Juden hätten den kriegerischen Charakter verloren und seien ein Volk der Händler. Weil sie früh das Zinsverbot aufgehoben hätten, hätten sie besonders früh das Geld zu ihrem Betätigungsfeld gemacht und nicht nur der Geldwirtschaft den Weg geebnet, sondern auch einem dekadenten Kapitalismus, der vom Zins lebt und den unternehmerischen Geist aufgegeben habe. Diese Essentialisierung ist es wohl, die Sombart später anfällig machte, sich dem NSRegime anzubiedern, was aber nicht auf Gegenliebe stieß. Sein Buch „Deutscher Sozialismus“ (1934) wurde als nicht vereinbar mit der Nazi-Ideologie eingestuft, obwohl sich Sombart dort explizit zu dieser bekannte. 155 des „kapitalistischen Geistes“. An dieser Stelle soll nur die Auseinandersetzung um die Bedeutung der Religion, d.h. der Widerspruch zu Weber interessieren. Andere Überlegungen Sombarts fließen weiter unten in die Argumentation ein. Zunächst argumentiert Sombart, dass es unzureichend sei, nur die Religion zu betrachten, wenn man dem „Geist des Kapitalismus“ nachspüre. Zu den „sittlichen Mächten“, die hier einflussreich gewesen seien, gehöre mindestens ebenso die Philosophie: „Dass ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen den Wirtschaftsideen des italienischen Frühkapitalismus und den Ansichten der Alten bestand,“35 hält er für ausgemacht, wobei mit „den Alten“ die antike Philosophie gemeint ist. Anders gesagt: er misst der Philosophie der Renaissance, die sich bekanntlich vor dem Protestantismus entwickelte, eine ebenso große Bedeutung wie der Religion zu. Insbesondere Alberti habe mit seinen Büchern „Della Famiglia“36 an antike Lehren angeknüpft und damit den Weg zur Rationalisierung der Lebensführung und Ökonomie bereitet. Er habe die Ökonomie umgestellt von der Ausgaben- zur Einnahmewirtschaft. Erstere sei charakteristisch für die feudale Lebensführung. „Die Wirtschaft des Seigneurs war, wie wir sahen, eine Ausgabenwirtschaft gewesen: soundso viel brauchte er zum standesgemäßen Unterhalt oder auch verschwendete oder vergeudete er: folglich musste er soundsoviel einnehmen. Diese Ausgabenwirtschaft wird nun in eine Einnahmewirtschaft verkehrt.“37 Der Grundsatz dieser Einnahmewirtschaft erscheint uns heute als selbstverständliche Maxime der schwäbischen Hausfrau. Alberti formuliert sie als zentralen Lehrsatz. „Behaltet dieses im Gedächtnis, meine Söhne: niemals lasst Eure Ausgaben größer als Eure Einnahmen sein.“38 Dies wird dann erweitert zur Sparsamkeit, d.h. zur Maxime, dass die Einnahmen größer sein mögen als die Ausgaben. Die antike Lebensphilosophie sei den Florentinern insbesondere deshalb willkommen gewesen, meint Sombart, „weil sie auch für das Gewinnstreben die vortrefflichsten Rechtfertigungsgründe beizubringen wusste.“39 Die Schriften des Xenophons, insbesondere sein „Oeconomicus“, waren so angelegt, resümiert er, dass der italienische Kaufmann der Renaissance ihnen „unmittelbar in seinem eigenen Geschäftsleben nacheifern konnte.“40 Praktisch setzten sich Dinge durch, 35 36 37 38 39 40 156 Sombart, Der Bourgeois, S. 283. Deutsch: Alberti, Vom Hauswesen. Sombart, Der Bourgeois, S. 138 f. Alberti, Vom Hauswesen, S. 242. Sombart, Der Bourgeois, S. 287. Sombart, Der Bourgeois, S. 289. welche eine exakte Buchführung erheblich vereinfachten. An erster Stelle ist die Einführung der arabischen Zahlen zu nennen, die ab dem 13. Jahrhundert von Italien ausgehend die römischen Ziffern ersetzen. 1202 veröffentlichte der Mathematiker Leonardo Fibonacci, der auch Leonardo Pisano genannt wurde, die Liber abaci, das erste bekannte europäische Werk über die arabischen Zahlen. Er konnte sich damit durchsetzen, weil Kaiser Friedrich II darauf aufmerksam wurde. Die Rationalisierung aller gesellschaftlichen Bereiche, die sich mit der Philosophie der Renaissance entwickelte, ist sicher als Merkposten für die Entwicklung einer kapitalistischen Lebensführung festzuhalten. Sie wird uns bei Leo Kofler noch einmal begegnen. Interessanter allerdings sind Sombarts Überlegungen zur Bedeutung von Katholizismus und Protestantismus. Mit der unklaren Ausnahme Irland und Spanien habe der Katholizismus, meint Sombart gegen Weber, die kapitalistische Entwicklung beschleunigt und keineswegs behindert, was insbesondere für das erste kapitalistische Land, nämlich Italien, gelte. „Damit der Kapitalismus sich entfalten konnte, mussten dem naturalen, dem triebhaften Menschen erst alle Knochen im Leibe gebrochen werden, musste erst ein spezifisch rational gestalteter Seelenmechanismus an die Stelle des urwüchsigen, originalen Lebens gesetzt werden, musste erst gleichsam eine Umkehrung aller Lebensbewertung und Lebensbedeutung eintreten.“41 Ihren Anteil an dieser Umkehrung hatte nach Sombart die katholische Kirche, insbesondere soweit es um die Unterdrückung der natürlichen, d.h. auch erotischen Triebe ging. Genauer untersucht Sombart die thomistischen Lehren. Schon bei Thomas von Aquin sei die Rationalisierung des Lebens als wesentliches Grundmerkmal der Ethik erkennbar: „In die natürliche, kreatürliche, triebhafte Welt wird eine aus Freiheit geborene, sittliche vernünftige Welt gleichsam eingebaut“,42 die auf dem rationalen Naturrecht gründe. Dieser thomistische Rationalismus lieferte die Grundidee für die Rationalisierung des Lebens und insbesondere der Ökonomie, welche den „kapitalistischen Geist“ charakterisiere. Sombart interpretiert Thomas von Aquin weiter so, dass dieser den Reichtum nicht prinzipiell verworfen habe, sondern nur den Luxus in Form der Verschwendung und die Untätigkeit, den Müßiggang. „Eine Preisaufgabe des Inhalts: ‘wie erziehe ich den triebhaften und genusssüchtigen Seigneur einerseits, den stumpfsinnigen und schlappen Handwerker andererseits zum kapitalistischen 41 Sombart, Der Bourgeois, S. 308. 42 Sombart, Der Bourgeois, S. 307. 157 Unternehmer?’ hätte keine bessere Lösung zutage fördern können, als sie schon in der Ethik der Thomisten enthalten war.“43 Neben Thomas stellt Sombart auf Antoninus von Florenz, Bernhard von Siena und Kardinal Caietanus ab, die Thomas zeitlich folgten. Sie hätten die katholische Lehre, insbesondere die thomistische Lehre, so gedeutet, dass sie mit der „wirtschaftlichen Revolution, die sich vor ihren Augen vollzog“, kompatibel war. Das statische Weltbild des Thomas wurde durchbrochen und akzeptiert, dass sich jemand aus eigenen Kräften hoch arbeitet in eine andere gesellschaftliche Position. Armut sei als Lebensideal verworfen und darauf abgestellt worden, wie der Reichtum verwendet wird. Sombart resümiert seine Interpretation: „Als Grundton klingt aus allen Äußerungen der italienischen Spätscholastiker über ökonomische Dinge eine herzliche und verständnisvolle Anteilnahme heraus an dem ‘Aufschwunge’, den das Wirtschaftsleben zu ihrer Zeit und in ihrem Lande nahm; wir müssen also in unserer Ausdrucksweise sagen: sie sympathisierten durchaus mit dem Kapitalismus.“44 Dem widerspreche nicht, dass am Zinsverbot festgehalten wurde. Gefeiert wurde der tätige Unternehmer, der etwas wagt, eben etwas unternimmt und dadurch Gewinn und Reichtum erzielt, was für den Geldverleiher nicht zutreffe. Sombart bestimmt den „Geist des Kapitalismus“ durch zwei Elemente, den Unternehmergeist und den Bürgergeist. Der Unternehmergeist ist weit gefasst und so ordnet Sombart diesem Piraterie und Eroberung genauso zu wie Handel und Produktion. Im „kapitalistischen Geist“ wird dieser Unternehmergeist mit bürgerlichen Tugenden kombiniert, zu denen er vor allem die Solidität als Ausdruck der Geschäftsmoral und die Rechenhaftigkeit zählt. Mit Letzterer wird zwar die rationale Betriebsführung erfasst, aber nicht die Verwertung von Wert. Sombart unterscheidet nicht zwischen dem Gewinnstreben zum Zwecke der Schatzbildung und der Reichtumsvermehrung gleichsam als Selbstzweck. Er unterscheidet mit den Spätscholastikern45 zwischen produktivem, fruchtbarem Kapital und unfruchtbarem Zins. Ersteres hätten die Scholastiker, die den Kapitalbegriff zu voller Schärfe entwickelt hätten, willkommen geheißen, Letzteres verboten.46 So sei es verfehlt, meint Sombart, den Protestantismus als Basis des kapitalistischen Geistes zu begreifen. Der Protestantismus sei der Entwicklung des 43 44 45 46 158 Sombart, Der Bourgeois, S. 313. Sombart, Der Bourgeois, S. 319. Und später dem nationalsozialistischen Unsinn. Sombart, Der Bourgeois, S. 320. Auch hier wird die Anfälligkeit für die Nazi-Ideologie sinnfällig. Kapitalismus keineswegs günstig gewesen. Luther habe eher eine feudale handwerklich-bäuerliche Gesellschaftsordnung zur Grundlage seiner Ethik gemacht. Calvin und die Puritaner dagegen hätten sich der Welt verschlossen, eine neue Innerlichkeit und Jenseitigkeit gepredigt, die mit einem diesseitigen Unternehmertum schwerlich vereinbar sei, denn: „Jede Vertiefung des religiösen Gefühls muss eine Indifferenz gegenüber allen wirtschaftlichen Dingen erzeugen.“47 Die Rationalisierung der Lebensführung, auf die Weber mit Blick auf die Lehre vom Gnadenstand verweist, sei keineswegs ein Spezifikum des Protestantismus. Einzig die Enthaltsamkeit, die Askese, sei ein spezifischer Aspekt der puritanischen, calvinistischen Lehre, der die kapitalistische Entwicklung möglicherweise befördert habe. „In der Entwicklung der Sparsamkeit (parsimonia) zur Knickrigkeit (parvificentia) liegt vielleicht das größte Verdienst, das sich die puritanische und quäkerische Ethik um den Kapitalismus, soweit in ihm Bürgergeist lebt, erworben haben.“48 Nun ließe sich mit Weber gegen dieses Argument einwenden, dass es genau jene Knickrigkeit ist, die in den Anfängen des Kapitalismus eine ursprüngliche Akkumulation von Kapital ermöglichte und damit die unentrinnbare Spirale der Verwertung auf immer höherer Stufenleiter erst in Gang gesetzt hat. Erst wenn die Askese den Luxus ablöst, kann die Vermehrung des Kapitals zum Selbstzweck werden; erst dann wird der Reichtum angehäuft, um daraus noch mehr Reichtum zu erzeugen und nicht, um ihn zu benutzen. Das bleibt wichtig, bis die Konkurrenz so etabliert ist, dass der Kapitalist aus der Verwertungsspirale nicht mehr aussteigen kann, der kapitalistische Geist sich gleichsam verselbstständigt und in diesem Zustand die Demonstration von Luxus wieder erlaubt oder gar notwendig macht, damit über eine gesteigerte Nachfrage die Realisierung des Profits noch gelingen kann. III. Rationalisierung und Protestantismus 1. Zwischen Humanismus und Protestantismus – Handelskaufmann und manufakturelle Bourgeoisie Genau an dieser Stelle setzt die Argumentation von Leo Kofler ein, der für das Kaufmannskapital der Renaissance konstatiert, dass es der alten adligen Lebens47 Sombart, Der Bourgeois, S. 323. 48 Sombart, Der Bourgeois, S. 333. 159 weise nacheifert, weshalb der Weg in eine kapitalistische Ökonomie versperrt blieb. Erst als der Handwerker begann, wie ein Kapitalist zu denken, änderte sich das. Der Handwerksmeister musste, um Kapitalist zu werden, zunächst Askese üben, knickrig werden, um Kapital akkumulieren zu können. Die protestantische Ethik ist aber nicht Ursache, meint Kofler, sondern die ideologische Rechtfertigung für dieses Verhalten einer neuen Schicht, die in das Zentrum einer neuen Entwicklung rückte. Auf den ersten Blick erscheint es allerdings so, als ginge die Reformation dem Kapitalismus um – weltgeschichtlich betrachtet – wenige Jahre voraus und als habe sich der Kapitalismus zunächst in den reformierten Ländern durchgesetzt, während die katholischen und orthodoxen Gebiete abgehängt wurden. Einzuwenden ist zunächst, dass monokausale Erklärungen immer Misstrauen wecken sollten. So sind inzwischen eine Reihe von Elementen diskutiert und erforscht, die der protestantischen Ethik an die Seite gestellt werden müssen, wenn man der Frage nachgeht, warum sich der Kapitalismus und die bürgerliche Gesellschaft ausgerechnet in Europa durchgesetzt haben. So sollte ein Ensemble von ökonomischen, sozialen, kulturellen usw. Faktoren in den Blick geraten, welche das historische Fundstück Kapitalismus hervorgebracht haben könnten. Es ist noch einmal die Frage zu stellen, ob Webers Erklärung des Kapitalismus aus der protestantischen Ethik, die einen allgemeinen Rationalisierungsschub zur Folge hatte, überzeugend ist. Weniger bekannt als Webers Studien sind kritische Auseinandersetzungen mit und Prüfungen seiner Thesen geblieben. Insbesondere Leo Kofler hat sich intensiv mit der Bedeutung der protestantischen Ethik in der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft auseinandergesetzt. Er hebt dabei die Bedeutung der italienischen Städte oder Stadtstaaten für die Entstehung von Handel und Bankkapital hervor. Hier sei ein kapitalistisches Bewusstsein, Geschäftsgebaren oder Akkumulation von Kapital deutlich vor der Reformation aufgetreten. Kofler beginnt deshalb seine Untersuchungen nicht mit der Reformation, sondern dem Renaissance-Humanismus als erste ideengeschichtliche Ausdrucksform einer neuen bürgerlichen Epoche.49 Ausgangspunkt war Italien, wo Giovanni Boccaccio in „Il Decamerone“ (1353) mit erotischen Geschichten die Pest und mit ihr die Mystik und so den grausamen Rachegott der katholischen Kirche vertrieb. Francesco Petrarca feierte mit seinem „Canzoniere“ (1470) die individuelle, erotische Liebe und Erasmus von Rotterdam nahm mit seinem 49 Zur Entwicklung des bürgerlichen Humanismus bei der Kofler, der die Tendenz zum Anti-Humanismus oder bürgerlichen Nihilismus aufzeigt (Jünke, Leo Koflers Philosophie der Praxis, S. 88 ff). 160 „Lob der Torheit“ (1509) das Irrationale auf die Schippe. Der Humanismus der Renaissance war individualistisch und rationalistisch. Diese neue Geisteshaltung des Bürgertums ist für Kofler das Ergebnis veränderter Lebensumstände und veränderter wirtschaftlicher Bedingungen. Der Renaissance Humanismus Italiens ist für Kofler nicht der Grund oder Ursprung dieser Veränderung, sondern seine Folge. Mit der Rationalisierung der Geschäftspraktiken der Handelskaufleute war die irrationale Mystik der katholischen Kirche nicht vereinbar. So entwikkelte sich die Kritik am kirchlichen Dogma als humanistischer Rationalismus mit unterschiedlichen, ironischen, literarischen, aber auch staatstheoretischen Facetten, für die Namen wie Machiavelli und Bodin stehen. Die demokratische Alternative entwickelte Thomas Morus in „Utopia“ (1516). Die ökonomischen Veränderungen, die Grundlage der neuen kulturellen Entfaltung und Produktion waren, lassen sich so beschreiben: „Seit dem 14. Jahrhundert wird der Geschäftssinn raffinierter, präziser und beinahe eine Wissenschaft. Wohl hatte es schon vorher bedeutende Unternehmerfiguren gegeben, aber erst jetzt setzen sich – wohl als Folge des schwierigen und verlangsamten Handelsablaufs – bestimmte neue Leitgedanken in der Geschäftswelt durch: das Zeitempfinden löst sich vom Jenseits und trat in eine weltliche Dimension, es erwachten der Sinn für Präzision und Vorausschau und ein neues Gefühl für Sicherheit. So setzte mitten in der herrschenden ‘Krise’ und vielleicht in ursächlichem Zusammenhang mit ihr die theoretische Ausarbeitung neuer Begriffe ein, welche die kaufmännische Mentalität umformen und die Geschäftstechniken rationalisieren sollten.“50 Im Ergebnis entstand ein Kaufmann neuen Stils. Früh hatten die meisten italienischen Städte den Kampf gegen die Bevormundung durch Kaiser und Bischöfe erfolgreich beendet und begründeten eine neue Form von oligarchischer Selbstregierung. Gleichzeitig hatte sich das Bild des Kaufmanns als Repräsentant der neuen Bourgeoisie gewandelt. Der Kaufmann begann mit der geordneten Buchführung und rationaler Rechnungslegung, d.h. er begann, die Verzinsung des eingesetzten Kapitals zu berechnen. Kofler schreibt: „Die steigende Sicherheit des Verkehrs, die Rationalisierung des Nachrichtendienstes und die Anpassung des Rechts an die Bedürfnisse des bürgerlichen Handels haben zur Folge, dass der Kaufmann nicht mehr wie früher als halber Abenteurer selbst durch die Länder zieht, sondern jetzt zu Hause bleibt und von seinem Kontor aus die Geschäfte bis in die fernsten Länder leitet. Damit entsteht aber auch schon eine neue Form rationeller Übersicht im Geschäftsbereich, nämlich die Buchhaltung. Hat sich der Kaufmann früher mit den Produkten begnügt, wo und wie er sie zufällig 50 Romano/Tenenti, Weltgeschichte, Mittelalter und frühe Neuzeit, S. 41 f. 161 fand, so beginnt er nun, sich für sie selbst zu interessieren, bestimmte Aufträge zu verteilen, wobei er durch Kredite und Rohstoffvorschüsse die Handwerker in größere Abhängigkeit von sich zu bringen versucht.“51 Die städtischen Handelskaufleute des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit entwickelten aber, folgt man Kofler, noch nicht den „Trieb“, Kapital auf immer höherer Stufenleiter zu akkumulieren und zu verwerten, sondern versuchten, die Distinktionsmerkmale des Adels zu übernehmen, um so möglicherweise in die Klasse der Adeligen aufzusteigen. Das heißt, sie neigten durchaus dazu, in Luxus zu investieren, ihren Reichtum zur Schau zu stellen. Kofler schreibt: „Die Überschüsse aus seinem Gewinn legt er gern in kostspieligen Häusern, in prächtigen Gewändern oder Grundbesitz an. Dadurch gerät er in die Nähe des Adels, besonders durch seinen Grundbesitz, aber auch durch seinen Hang zu einer genießerischen Lebensweise. Diese luxuriöse Lebensweise erfasst vor allem seine Familie oder einige ihrer Mitglieder, weniger ihn selbst. Die an dieser Klasse zu beobachtende eigenartige Zwiespältigkeit und Mischung von städtischem Rationalismus und einer noch in mancher Hinsicht irrationalistischen Lebensauffassung ergibt jenen unrevolutionären, ja vielfach ausgesprochen konservativen Rationalismus, der für das Renaissancebürgertum und damit auch für den Renaissance-Humanismus so charakteristisch ist.“52 Kofler versteht den Calvinismus als Ergebnis und Ausdruck einer neu entstandenen manufakturellen Bourgeoisie, während der Humanismus der Renaissance Ausdruck der italienischen Handelsbourgeoisie war. Die deutsche Reformation ist für ihn dagegen Ausdruck zurück gebliebener Zustände und einer nachholenden Entwicklung des Handels in Deutschland. Den Unterschied zwischen dem Renaissance-Humanismus der Handelsbourgeoisie und dem Calvinismus, da ist Kofler ganz bei Max Weber, bestehe in der asketischen Haltung der neuen Manufaktur-Unternehmer. Aber: Die nicht vorhandene asketische Lebenseinstellung der großen Kaufleute verhinderte in Italien sowohl, dass der Protestantismus sich durchsetzen konnte, wie das Entstehen bedeutender Manufakturen. Es habe durchaus Ansätze manufaktureller Produktion gegeben, die aber nicht weiter entwickelt wurden. Die Gesamtkonstellation stimmte nicht. Kofler schreibt: „Dass auf der Grundlage des Handelskapitalismus der Renaissance kein puritanischer Geist entstanden war, hängt einfach damit zusammen, dass wir es hier mit einer 51 Kofler, Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Bd. 1, S. 82. 52 Kofler, Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Bd. 1, S. 107. 162 völlig entgegen gesetzten, und zwar gerade unasketischen Art der kapitalistischen Akkumulation und Lebensweise zu tun haben.“53 Dem Lebensstil der Handelsbourgeoisie der Renaissance entsprach es, den Luxus des Adels zu imitieren. Das ist eben nicht die Askese, die am Beginn der ursprünglichen Akkumulation stehen muss und die sich zum „kapitalistischen Geist“ verselbständigt. Kofler geht deshalb auch davon aus, dass die manufakturelle Bourgeoisie nicht aus dem Handelskapital entsteht, sondern aus den ehemaligen Handwerksmeistern erwächst. Erstere hätten keinen Grund gehabt, ihren Habitus umzustellen, einen asketischen Lebensstil anzunehmen und diesen entsprechend ideologisch, eben durch die calvinistische Religion, zu bestätigen. Letztere hingegen mussten einen anderen Lebensstil wählen oder beibehalten, um Kapital zu akkumulieren. Die Askese wird zur Voraussetzung, um die Geschäfte, den Betrieb zu erweitern. Die calvinistische Religion liefert die passende ideologische Begründung. Deshalb kann sie sich – anders etwa als die protestantischen Sekten wie beispielsweise die Wiedertäufer – „durchsetzen“, also Anhänger gewinnen und gesellschaftlich überleben. Kofler schreibt: „Tatsächlich ist der Calvinismus wesentlich nur die ideologische Begleiterscheinung der Geburt einer neuen Epoche, Ausdruck des Übergangs von der Renaissance zur entwickelten Manufaktur.“54 Dabei folgt Kofler keinem simplen Schema von Basis und Überbau, dass die calvinistische Reformation als Reflex der Entwicklung zur Manufaktur und einer neuen manufakturellen Bourgeoisie versteht. Die Entwicklung der neuen Produktionsweise, der Aufstieg handwerklicher Schichten in die wohlhabende Bourgeoisie und die neue Form der Religion begreift er vielmehr als Teil einer gesellschaftlichen Totalität, die deshalb „erfolgreich“ sein kann, weil sie in sich „stimmig“ ist. Er konstatiert, „dass aus den seit jeher religiös gebundenen handwerklichen Schichten eine Schicht aufstieg, aus der sich allmählich die Manufakturbourgeoisie und mit ihr der Träger des calvinistischen Geistes herausbildete. Dass überdies noch objektive, aus der gesellschaftlichen Totalbeziehung herkommende Momente mitwirken mussten, um diese religiösen Tendenzen wirksam zu erhalten“, scheint ihm offenkundig und so ordnet er das Phänomen Calvinismus anderen geistesgeschichtliche Strömungen wie dem Vordringen eines technisch, materialistischen Weltbildes ein. „Im Calvinismus ist es der neue, kräftige, manufakturelle Individualismus, der aus der vorherbestimmenden, 53 Kofler, Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft Bd. 1, S. 285. An dieser Stelle argumentiert er explizit gegen Weber. 54 Kofler, Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft Bd. 1, S. 297. 163 gleichzeitig willensbildenden wie den Willen anfeuernden Gottgewolltheit des wirtschaftlichen Erfolges den Grund der Überlegenheit des bürgerlichen Individualismus über den feudaladligen, aber auch bereits über den bloß humanistischästhetisch durchgebildeten Menschen ableitet.“55 Aber die protestantische Ethik produziert nicht – und schon gar nicht allein – den Geist des Kapitalismus. So erklärt Kofler den Unterschied zwischen der Entwicklung in den „protestantischen Ländern“, dem katholischen Italien und dem lutherschen Deutschland durch den Unterschied in der Entwicklung der manufakturellen Produktion: „Da Italien vorwiegend handelskapitalistisch blieb, ohne rechtzeitig eine genügend starke Manufaktur zu entwickeln … und Deutschland den Handelskapitalismus nicht voll entwickelte und deshalb den Anschluss an die manufakturelle Entwicklung in nur unzulänglichem Maße fand, konnte auch in diesen Ländern der Calvinismus nicht zu jener Wirkung kommen wie in Frankreich, Holland und England.“56 Der Unterschied zwischen dem lutherschen und dem calvinistischen Protestantismus ist zu betonen. „Das eigentliche Ideal Luthers ist agrarisch und handwerklich orientiert. Die Beibehaltung des kanonischen Zinsverbotes, um das man sich in Italien einfach nicht mehr bekümmert hatte, ist ein direkter Schlag gegen die bürgerliche Ökonomie.“57 Luther war in Deutschland erfolgreich, weil sich „nicht einmal“ eine nennenswerte Handelsbourgeoisie durchgesetzt hatte, d.h. der Adel und „das Land“ weiter dominant waren. So sei festzustellen, dass „die erzieherischen und propagandistischen Anstrengungen des deutschen Humanismus nicht in einer ausgereiften Renaissancekultur, sondern in der Reformation geendet haben. Mit dieser lutherischen Reformation hat der Calvinismus nichts zu tun, wie wir noch zeigen werden. Denn wie jene der Renaissance eigentlich nachhinkt, lässt dieser sie bereits hinter sich. Deshalb kann Mehring in der ‘Lessing-Legende’ sagen: ‘Calvinismus und Luthertum waren verschiedene religiöse Widerspiegelungen verschiedener ökonomischer Zustände des Bürgertums. In jenem siegten seine ökonomisch schon entwickelten, in diesem blieben erst seine halbentwickelten Elemente stecken.’“58 Kofler setzt die Akzente scharf und kommt zu dem Ergebnis, dass die Manufaktur und mit ihr der kapitalistische Geist aus dem Handwerk entstanden ist. Er geht davon aus, dass sich das Verlagssystem schon sehr früh entwickelte; in 55 56 57 58 164 Kofler, Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft Bd. 1, S. 272. Kofler, Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft Bd. 1, S. 278. Kofler, Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft Bd. 1, S. 269. Kofler, Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft Bd. 1, S. 261. Italien schon im 14., in Flandern sogar schon im 13. Jahrhundert, wobei die Tuchproduktion dominierte. Die Werkstätten des Verlagssystems verändern im Laufe der Zeit durch neue Techniken und Rationalisierungen ihre innere Struktur, was sich durch zunehmende interne Arbeitsteilung charakterisieren lasse. Aus der handwerklichen Herstellung im Auftrag, die z.T. auch als Hausarbeit stattgefunden hatte – wie etwa das Spinnen von Tuch – sei die arbeitsteiligere Manufaktur geworden. Kofler schreibt: „Die eigentliche Leitung des Betriebes hat nicht der Kaufmann, der nur Vorschüsse und Kredite gibt, sondern der Meister inne. Der Meister ist es, der gegen die Zunftvorschriften die Arbeiterzahl vermehrt, vom handwerklichen Vorarbeiter und Aufseher zum unternehmenden Leiter aufsteigt und durchaus nicht immer zum Proletarier herabsinkt. Im entwickelten Verlagsbetrieb sind so bereits alle wesentlichen Momente der manufakturellen Produktionsweise vorhanden, und bis zur Verselbständigung des Betriebes gegenüber dem auftraggebenden Kaufmann ist es nur noch ein Schritt.“59 Deshalb argumentiert er: „Wichtig ist, dass trotz anfänglicher Abhängigkeit der Besitzer der Betriebe von den auftraggebenden Händlern sich die Meister immer mehr emanzipieren und auf eigene Füße stellen, wodurch ein Teil von ihnen zu selbstständigen Unternehmern wird.“60 Dann ist die Schlussfolgerung, die sich für das Verhältnis von puritanischer Askese und manufaktureller Bourgeoisie ergibt, zwingend: „Eines besonderen Beweises dafür, dass es das Ideal der Besitzer eines Verlagsbetriebes gewesen sein muss, durch Sparsamkeit und Fleiß selbständiger Unternehmer zu werden, bedarf es gewiss nicht. Der knauserige puritanische Manufakturier des 16. Jahrhunderts ist sicher nicht über Nacht entstanden, und schon gar nicht ist seine Existenz durch eine bloße puritanische Häutung des reichen genießerischen Händlertums zu erklären, denn es bleibt schleierhaft, aus welchen Gründen dieses Händlertum sich der puritanischen Ideologie unterworfen haben mag.“61 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass für Kofler der Calvinismus das Ergebnis und der Ausdruck einer neu entstandenen manufakturellen Bourgeoisie ist, während der Humanismus der Renaissance Ausdruck der italienischen Handelsbourgeoisie war. Die deutsche Reformation ist für ihn dagegen Ausdruck zurückgebliebener Zustände und einer nachholenden Entwicklung des Handels. 59 Kofler, Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft Bd. 1, S. 289. 60 Kofler, Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft Bd. 1, S. 291. 61 Kofler, Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft Bd. 1, S. 292. 165 2. Vom Verlagswesen zur Manufaktur Ein Knackpunkt der Argumentation betrifft die Frage, ob die Manufaktur aus dem Kaufmannskapital hervorgegangen ist oder von den Handwerkern getragen wurde. Koflers Auseinandersetzung mit Weber basiert nicht allein auf dieser Annahme, aber dennoch spielt sie in seiner Begründungskette eine zentrale Rolle. Wenn nämlich die Manufaktur aus dem Kaufmannskapital hervorgegangen ist, der Kaufmann sich vom Händler zum Produzenten weiterentwickelt hat, lässt sich nicht begründen, warum er von der Nachahmung des adeligen Lebensstils zur Askese übergangen ist, außer man nimmt mit Weber an, dass der Einstellungswechsel durch die Religion, also den calvinistischen Protestantismus hervorgerufen wurde. Das aber hatte Kofler zu widerlegen versucht. Zwischen Handelskapital und Manufaktur tritt historisch, da besteht weitgehend Einigkeit, die bäuerliche Hausproduktion und das Verlagssystem. Der Kaufmann wartet in diesem Stadium der Entwicklung nicht einfach ab, welche Waren angeboten werden, was produziert wurde und sich deshalb auf „dem Markt“ befindet, berechnet also allenfalls, wie groß seine Chancen sind, dieses Produkt gewinnbringend anderswo abzusetzen. Der Kaufmann beginnt vielmehr, Bestellungen aufzugeben. Das heißt, er sorgt selbst dafür, dass ein Angebot an Waren existiert, mit dem er Handel treiben kann. Die Produktion gibt es nun nicht innerhalb der Stadt bei den „überregulierten“ – wie man heute sagen würde – Zünften in Auftrag, sondern auf dem Land, bei den Bauern, die froh um jede zusätzliche und vor allem beständige Erwerbsquelle sind. Das Verlagssystem hatte sich schon sehr früh – erste Formen werden schon im 10. Jahrhundert ausgemacht – entwickelt. Bis zum Ende des 13. Jahrhundert organisierte der städtische Unternehmer die bäuerliche Produktion, d.h. er stellte die Rohstoffe und Arbeitsmittel und sorgte anschließend für den Absatz des Produktes. Umstritten ist der Wandel des Verlagssystems zur Manufaktur oder seine Verbindung mit der Manufaktur ab dem 14. Jahrhundert. Das Verlagssystem des 16. Jahrhunderts unterschied sich von dem alten System, „vor allem durch das viel größere Ausmaß, in dem jetzt ein einzelner Verleger eine enorme Anzahl von Personen beschäftigte und auf diese Weise – auf mehr oder minder lange Sicht – große Mengen von Kapital anhäufte.“62 Außerdem hatte sich die Produktion diversifiziert. War sie bis zum Ende des 14. Jahrhunderts mehr oder weniger auf die Textilproduktion beschränkt, treten nun andere Produktionszweige bis hin zu Metallwaren hinzu. Ob sich die Manufaktur direkt aus der bäuerlichen Pro62 Romano/Tenenti, Weltgeschichte, Mittelalter und frühe Neuzeit, S. 315. 166 duktion im Verlagssystem entwickelte oder neben ihr entstand, ist unerheblich. Voraussetzung war, dass entsprechend großes Kapital zur Verfügung stand, dessen Einsatz rational kalkuliert wird, so dass die Produktion durch Arbeitsteilung und die Konzentration von Arbeitskräften gesteigert werden konnte. Im Unterschied zu Kofler meint Braudel, dass das Kaufmannskapital auch später dominierend blieb und die großen Kaufleute das Verlagssystem und später die manufakturelle Produktion organisiert haben. Die Kaufleute entwickelten sich von selbst Reisenden, von Abenteurern zu Managern des Handelns und gründeten zum Zwecke der Erweiterung das Verlagssystem. „Der Träger der neuen revolutionären Entwicklung aber war naturgemäß nicht der zünftige Handwerker, sondern der Großkaufmann, d.h. das Handels- und Wucherkapital.“63 Das Handelskapital habe, meint Braudel, die Hausarbeit auf dem Lande organisiert: „So wird die Hausindustrie dank der zugleich anregenden und lenkenden, beherrschenden Organisationsarbeit des Kaufmanns mit den Netzen der Zunft- oder Familienwerkstätten verbunden.“64 Weil der Kaufmann, also das Handelskapital, das Verlagssystem organisiert, nimmt die Bedeutung der Zunft und der Handwerker insgesamt ab. „In diesem Verlagssystem sinkt der Zunftmeister nicht selten zum Lohnarbeiter herab, wird er doch vom Kaufmann, der ihm den oft aus dem Ausland importierten Rohstoff liefert und sich anschließend um den Verkauf, den Verkauf des Barchent, der Woll- und Seidenstoffe kümmert, abhängig. Vor diesem Schicksal ist kein Bereich des handwerklich organisierten Gewerbes sicher und so verfällt das Zunftwesen, obwohl sich nach außen im Grunde nichts ändert. Durch seine Dienstleistungen versteht der Kaufmann, sich alle Tätigkeitsbereiche seiner Wahl unterzuordnen, im Eisenverarbeitungsprozess ebenso wie im Textilbereich oder beim Schiffsbau.“65 Hier scheint Braudel allerdings die Gesetzmäßigkeiten des entwickelten Kapitalismus auf die frühe Neuzeit zu übertragen. Die kleinen Selbstständigen werden der Produktion des großen Kapitals untergeordnet. Für seine These führt er beispielhaft die Entwicklung der Bergleute an: „Dieser Vorgang lässt sich ungewöhnlich deutlich am Beispiel der mitteleuropäischen Bergleute verfolgen. Nachdem sie lange als unabhängige Handwerker in kleinen Gruppen zusammengearbeitet haben, müssen sie sich im 15. und 16. Jahrhundert der Kontrolle der Kaufleute unterwerfen, die als einzige die für die Ausrüstung der Bergwerke 63 Großmann, Die gesellschaftlichen Grundlagen der mechanischen Philosophie und die Manufaktur, in: Zeitschrift für Sozialforschung 1935, S. 175. 64 Braudel: Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts – Der Handel, S. 347. 65 Braudel, Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts – Der Handel, S. 346. 167 erforderlichen hohen Kapitalinvestitionen leisten können. Damit jedoch sinken sie selbst zu Lohnarbeitern ab.“66 Aber Braudel schließt aus diesen Beobachtungen nicht, dass das Kaufmannskapital Träger der Entwicklung zum Kapitalismus gewesen ist. Das Verlagssystem bleibt gleichsam auf dem Niveau einer Hilfseinrichtung für den Handel, für die eigentlichen Geschäfte des Kaufmanns. „Von wenigen Ausnahmen abgesehen, engagiert sich der Kapitalist, d.h. zu dieser Zeit der mit vielerlei Geschäften aller Art befasste ‘Großkaufmann’, nicht voll in der Produktion. Er bezieht zwar häufig eine Bodenrente, ist aber ebenso wenig ein wirklich mit der Scholle verbundener Grundbesitzer wie ein ganz in seinem Werkstattbetrieb aufgehender Handwerksmeister oder ein Transportunternehmer. … Er bleibt doch immer, was er wirklich ist: ein Mann des Marktes, der Börse, der Handelsnetze. … So stößt der Kapitalismus in diese ihm fremde Sektoren nur selten um ihrer selbst willen vor und kümmert sich nur dann um die Produktion, wenn die Umstände es erfordern oder der geschäftliche Profit es geraten erscheinen lässt. Erst als die Mechanisierung im Zuge der industriellen Revolution die Produktionsbedingungen grundlegend verändert und die Industrie zum gewinnträchtigen Sektor aufsteigt, dringt der Kapitalismus in die verschiedenen Produktionsbereiche ein.“67 Marx hatte – wiederum im Unterschied zu Kofler – angenommen, dass es das Handels- und Bankkapital war, das sich über das Verlagswesen zur Manufaktur und schließlich industriellen Produktion entwickelte. Hier stand Kapital in ausreichendem Maße zur Verfügung. Die Zünfte hätten sich dagegen nicht oder nur in seltenen Fällen zur Manufaktur weiterentwickelt, sondern sie seien einfach verdrängt worden. Neuere Forschungen scheinen Kofler zu bestätigen. In der „Krise“ des 14. Jahrhunderts, konstatieren Romano und Tenenti, lässt sich ein erster Strukturwandel feststellen. Die Bauern übernahmen selbst die Organisation der Produktion, d.h. sie besorgten Rohstoffe und Arbeitsmaterialien und leiteten die Produktion, die „noch“ im Verlagssystem vertrieben wurde. „Bis zum Anfang des 14. Jahrhunderts organisiert der städtische Unternehmer alles, er lieh Saatgut und Lebensmittel, ließ die Fasern spinnen und weben und beutete dabei auf wucherische Art die bäuerliche Arbeit aus. … Jetzt aber kaufte der Bauer selbst den Rohstoff (Baumwolle, Wolle oder was auch immer) direkt beim Händler und sorgte selbständig für die Verarbeitung und den Absatz. Auf diese Art wurden oft Zunftbindungen durchbrochen.“68 Zu Beginn des 16. Jahrhunderts seien es die mit dem Verlagswesen „reich gewordenen Bauern“, „diese Emporkömmlinge, 66 Braudel, Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts – Der Handel, S. 46 f. 67 Braudel, Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts – Der Handel, S. 405 f. 68 Romano/Tenenti, Weltgeschichte, Mittelalter und frühe Neuzeit, S. 33 f. 168 auf die wir vorhin angespielt haben, diese Städter und Kaufleute (gewesen, die), bei der Verwaltung ihres Grundbesitzes denselben rationalen Kriterien folgten, die sie im städtischen Leben anwandten“ und so einerseits die Menschen vom Land vertrieben, weil sie die Landwirtschaft „rationalisierten“, womit gleichzeitig Arbeitskräfte für ein „‘gigantisches’ Wachstum des Gewerbes“ im 16. Jahrhundert zur Verfügung standen.69 Hans-Georg Conert schließlich argumentiert wieder anders und macht deutlich, dass Koflers Argumentation möglicherweise zu eng ist. Conert datiert die Entstehung von Fern- und Großhandelskapital, das schon nach Gesichtspunkten der Selbstverwertung arbeitete, ins 13. Jahrhundert, also weit vor die Reformation. Das stimmt mit Koflers Beschreibung der Entwicklung und Blüte der Kaufleute am Ende des Mittelalters überein. Conert folgert aber weiter: Dem Fernhändler ging es nicht um die Ansammlung von Gebrauchswerten, sondern um die Vermögensvermehrung. Die Vergrößerung der Ländereien war der neuen wohlhabenden Schicht der Händler und Bankiers mehr oder weniger verschlossen. Ihr Wohlstand beruhte nicht auf der landwirtschaftlichen Produktion. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite entwickelte der Handel deutlich andere Interessen und Anschauungsweisen als die handwerklichen Zünfte. Anders als die Zünfte, deren Motive in der Subsistenzsicherung gelegen haben, entwickelte der Handel ein Interesse an der Gewinnmaximierung, die eine exakte Rechnungslegung und Kalkulation voraussetzt. Conert schreibt: „Das Überwiegen von Profitorientierung, Tauschwertaspekt der Waren und Geldausdruck derselben in der Sphäre des Handels (gegenüber Subsistenzmotiv, Gebrauchswertsicht der Erzeugnisse und Orientierung an eher ‘natürlichen’ qualitativen Momenten der Wirtschaftstätigkeit im Handwerk) erklärt, dass exakte Wirtschaftsrechnung (die Quantifizierung der Wirtschaftsfaktoren voraussetzt) zum Zwecke nicht nur überschlägiger, sondern präziser Feststellung von Wirtschaftsaufwand und -ertrag ihren Ausgang im Handel hat und hier auch ihre Vervollkommnung (z.B. doppelte Buchführung) erfährt.“ 70 Erste Formen der kapitalistischen Rechnungslegung und der ökonomischen Rationalität lassen sich nach Conert also schon in der Periode des mittelalterlichen Handelskapitals finden, das sein Geschäft am Prinzip der Gewinnerzielung ausrichtet. Von diesem „kapitalistischen Geist“ innerhalb einer feudalen Ordnung zieht er Linien bis in die kapitalistische Gesellschaft. Die Kalkulation des Handelskapitals wird verallgemeinert und auch die Produktion wird als 69 Romano/Tenenti, Weltgeschichte, Mittelalter und frühe Neuzeit, S. 310 ff. 70 Conert, Vom Handelskapital zur Globalisierung, S. 26. 169 Verwertungsprozess organisiert. Conert schreibt: „Weder vom Fern- (und zugleich Groß-)handel noch vom Handwerk führt ein direkter Weg zur kapitalistischen Produktionsweise. Während im Erstgenannten aber Motive, Qualifikationen, Institutionen und Techniken entwickelt werden, an die später der Kapitalismus anschließen kann und die er fortentwickeln wird, markiert die Ablösung des Zunfthandwerks durch frühkapitalistisches Gewerbe (in der zweiten und hier unterschiedenen Phase71) einen Bruch. So gut wie alle Merkmale dieses Handwerks stehen im völligen Gegensatz zu kapitalistischen Normen, Institutionen und Funktionsregeln.“ 72 Bei Marx heißt es kurz und bündig: „Im ganzen geht das Zunftwesen unter, der Meister und der Gesell, wo der Kapitalist und der Arbeiter aufkommt.“ 73 IV. Konkurrenz der Staaten und die neue Effizienz des Wirtschaftens 1. Konkurrenz und Nähe a) Revolutionierung von Produktion und Kommunikation Rekapituliert man die dargestellte Diskussion, zeigt sich, dass Kofler seine Argumentation zu eng führt. Seine These ist, dass die ökonomisch-technischen Veränderungen eine neue Schicht einer manufakturellen Bourgeoisie entstehen ließ, die für ihren Aufstieg eine rationale Wirtschaftsführung mit innerweltlicher Askese verbinden musste, um Kapital akkumulieren und investieren zu können. Der von Calvin gepredigte Protestantismus entsprach, so Kofler, den Bedürfnissen dieser neuen Schicht von Handwerkern, die sich zur manufakturellen Bourgeoisie verwandelten. Das Problem dieser Argumentation ist zunächst, dass ältere und jüngere Erkenntnisse die Annahme, die manufakturelle Bourgeoisie sei aus Handwerkern entstanden, nicht bestätigen und dem Handelskapital zumindest eine stärkere Rolle bei der Entstehung von Manufaktur und schließlich industrieller Produktion zubilligen. Die Argumentation scheint deshalb zu eng geführt, weil sie den Protestantismus mehr oder weniger als Widerspiegelung veränderter ökonomischer Verhältnisse begreift, d.h. es wird eine direkte Entsprechung oder 71 Damit bezeichnet er die Periode vom 16. bis ins 18. Jahrhundert. 72 Conert, Vom Handelskapital zur Globalisierung, S. 24. 73 Marx, Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehen, MEW Bd. 42, S. 413. 170 Abbildung der ökonomischen „Basis“ im ideologischen „Überbau“, d.h. im Himmel der Religionen konstruiert. Mit dieser Argumentationsfigur sind zwei Probleme verbunden: Erstens wird die Beziehung zwischen gesellschaftlicher Schicht, ökonomischer Situation und religiösem Paradigma zu unmittelbar gesehen. D.h. die religiöse Lehre wird zum direkten Reflex der sehr spezifischen ökonomischen Bedingungen, ohne dass weitere Faktoren, insbesondere die Selbstständigkeit, das meint die relative Autonomie der ideologischen Verarbeitung der realen Lebensumstände, zu denen immer mehr zählt als die ökonomische Situation, ausreichend berücksichtigt werden. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Kofler argumentiert nicht ökonomistisch; im Gegenteil: Er widmet den geistigen Strömungen der jeweiligen Zeit ausführlich Raum und ordnet sie in die Totalität der gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Zeit ein, was schon gezeigt wurde. Das macht die Auseinandersetzung mit ihm so spannend. In der Auseinandersetzung mit Weber wird die Argumentation, um den materialistischen Ansatz zu verteidigen, allerdings zu eng. Versteht man die Dialektik zwischen den verschiedenen Momenten richtig, muss die Bedeutung der protestantischen Ethik für die Entwicklung des „kapitalistischen Geistes“ nicht negiert werden. Allerdings lässt sich diese spezifische Ausprägung der Religion dann nur als ein Faktor unter vielen begreifen. Insbesondere, wenn man die Entwicklung zum Kapitalismus als Form einer – wie auch immer formal beschränkten – Rationalisierung versteht, ist Koflers Verdienst nicht hoch genug einzuschätzen, diese Dimension weit vor der protestantischen Ethik angesiedelt zu haben, indem er zeigte, dass ein erster bedeutender Schub der Rationalisierung mit der Entwicklung des Handelskapitals einsetzte. Diese Rationalisierung blieb keine „ökonomische“, sie umfasste neue Techniken der Organisationen und Produktionen ebenso wie verschiedene Facetten der humanistischen Philosophie, die mit Machiavelli, Bodin, Erasmus oder Morus ein rationalistisches Verständnis des Staates oder der politischen Ordnung entwickelten, womit sie die religiös aufgeladenen und legitimierten Anschauungsweisen des Mittelalters weit hinter sich ließen. Diese Entwicklung hatte wiederum Einfluss auf das Recht und die Verwaltung, war also zumindest auch Wegbereiter der formalen Rationalisierung, die Weber der protestantischen Ethik und nur dieser zuschreibt. Aber diese Form der Rationalisierung gewinnt mit dem 16. Jahrhundert offenbar eine neue Dynamik, führte zu weiterreichenden Veränderungen der Produktions- und Verkehrsweisen, die erklärungsbedürftig ist. Bei dieser Erklärung kann und muss die Religion eine Rolle spielen, aber es erscheint unangemessen, sie als 171 einzigen oder auch nur als zentralen Faktor für die Entwicklung des Kapitalismus und damit auch des Rechts und des bürgerlichen Staates zu begreifen. Marx hat in seiner Analyse der ursprünglichen Akkumulation, in der er die Vertreibung der Bauern beschreibt, einen Prozess angesprochen, der noch einmal zu diskutieren ist. Marx schreibt: „Obgleich der englische Boden daher nach der normännischen Eroberung in riesenhafte Baronien verteilt ward, wovon eine einzige oft 900 alte angelsächsische Lordschaften einschloss, war er besät von kleinen Bauernwirtschaften, nur hier und da durchbrochen von größeren herrschaftlichen Gütern. Solche Verhältnisse, bei gleichzeitiger Blüte des Städtewesens, wie sie das 15. Jahrhundert auszeichnet, erlaubten jenen Volksreichtum, den der Kanzler Fortescue so beredt in seinen ‘Laudibus Legum Angliae’ schildert, aber sie schlossen den Kapitalreichtum aus. Das Vorspiel der Umwälzung, welche die Grundlage der kapitalistischen Produktionsweise schuf, ereignet sich im letzten Drittel des 15. und den ersten Dezennien des 16. Jahrhunderts. Eine Masse vogelfreier Proletarier ward auf den Arbeitsmarkt geschleudert durch die Auflösung der feudalen Gefolgschaften, die, wie Sir James Steuart richtig bemerkt, ‘überall nutzlos Haus und Hof füllten’. Obgleich die königliche Macht, selbst ein Produkt der bürgerlichen Entwicklung, in ihrem Streben nach absoluter Souveränität die Auflösung dieser Gefolgschaften gewaltsam beschleunigte, war sie keineswegs deren einzige Ursache. Vielmehr im trotzigsten Gegensatz zu Königtum und Parlament schuf der große Feudalherr ein ungleich größeres Proletariat durch gewaltsame Verjagung der Bauernschaft von dem Grund und Boden, worauf sie denselben feudalen Rechtstitel besaß wie er selbst, und durch Usurpation ihres Gemeindelandes. Den unmittelbaren Anstoß dazu gab in England namentlich das Aufblühn der flandrischen Wollmanufaktur und das entsprechende Steigen der Wollpreise. Den alten Feudaladel hatten die großen Feudalkriege verschlungen, der neue war ein Kind seiner Zeit, für welche Geld die Macht aller Mächte. Verwandlung von Ackerland in Schafweide ward also sein Losungswort.“ 74 Marx setzt das Aufblühen der Wollmanufaktur in Flandern an den Anfang des Prozesses, der über die Vertreibung der Landbevölkerung zur Herausbildung des freien Lohnarbeiters als Voraussetzung für Manufaktur und Industrie führte. Die Blüte der Wollmanufaktur in Flandern, die sich in England als Steigen der Wollpreise auswirkte und in Marx Interpretation eine Umstellung auch der englischen Wirtschaft zur Folge hatte, weil der alte Feudaladel durch einen neuen ersetzt worden war, für den das Geld die Macht aller Mächte darstellte. Mit der Wolle lassen sich höhere Gewinne erzielen als mit sonstigen landwirtschaftlichen 74 Marx, Das Kapital I, MEW 23, S. 745 f. 172 Produkten, also werden die Bauern vertrieben und das Land in Schafweiden umgewandelt. Wenn für die Feudalherren im England des 15. Jahrhunderts die Baumwollpreise in Flandern Anlass sind, ihre überkommene Wirtschaftsweise zu ändern, hat dies offensichtlich einige Voraussetzungen: erstens eine gewisse Form von Überschussproduktion, d.h., es wird mehr produziert als für den eigenen Bedarf und die Versorgung des Grundherrn notwendig ist, dass also die Subsistenzwirtschaft überwunden ist; zweitens Kommunikations- und Verkehrswege, die es sinnvoll erscheinen lassen, die eigene Produktion an den Bedürfnissen oder der Nachfrage in Flandern zu orientieren, was weiter bedeutet, dass dort für einen Warenmarkt produziert wird, der nicht regional abgeschottet ist, schließlich die Existenz einer funktionierenden Geldwirtschaft. Geldwirtschaft, das wird man ohne weiteres folgern können, ist eine Voraussetzung des Kapitalismus. Weber schreibt: Das kapitalistische „System setzt natürlich vollentwickelte Geldwirtschaft, ferner aber, rein verwaltungstechnisch, einen streng rationalen und präzis funktionierenden und das heißt: ‘bürokratischen’ Verwaltungsmechanismus voraus.“ 75 Sombart stimmt an diesem Punkte mit Weber überein: „Sowohl als notwendige Voraussetzung als auch als unmittelbares Fördermittel für die Entwicklung des kapitalistischen Geistes von großer Bedeutung ist die Vermehrung des Geldvorrates.“ 76 Die Geld- und Warentauschwirtschaft war während des Mittelalters nicht vollständig verschwunden, aber gegenüber einer autarken Subsistenzwirtschaft in den Hintergrund getreten. Kontakte zwischen Dörfern und Flecken, zwischen den Bauern, die unterschiedlichen Feudalherren dienten, waren in einigen Gebieten Europas eher selten, einen Austausch von Waren und Informationen gab es nur unregelmäßig. Die Bauern und Dörfer sorgten selbst dafür, ihre Bedürfnisse befriedigen zu können. Die innere Zusammengehörigkeit der Mitglieder einer Bauerngemeinde findet ihren „Ausdruck in dem Aufsichgestelltsein der ganzen Gemeinde und dem Aufeinanderangewiesensein der einzelnen Bauernfamilien. Denn nach außen findet so gut wie kein Verkehr statt. Die ursprünglichen Dorfanlagen kennen keine Wege zwischen den einzelnen Dörfern. Das gesamte Dasein ist eingeschlossen in den engen Kreis der Dorfflur. Da jede einzelne Familie auf ihrer Scholle selbstständig sein will, so folgt aus dieser Sachlage von selbst als das die Produktion regelnde Prinzip: die Deckung des eigenen naturalen Bedarfs.“ 77 75 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 209. 76 Sombart, Der Bourgeois, S. 399. 77 Sombart, Der moderne Kapitalismus, S. 49. 173 Im frühen Mittelalter herrschte das Land, die Ökonomie war agrarisch, Städte existierten nur wenige, nennenswert waren nur die alten römischen Siedlungen wie Köln oder Trier, von denen Köln die größte war. Andere Städte waren verschwunden oder hatten sich gewandelt. Die autarke Eigenwirtschaft und mit ihr verbunden die Bedarfswirtschaft ist keineswegs nur eine Erscheinung des Landes, der Landwirtschaft. Auch die Städte waren durch Ackerbau geprägt, er fand gleichsam innerhalb der Stadtmauern oder -grenzen statt. Kleine Fortschritte in der Produktion führen auf dieser Stufe der Entwicklung offenkundig zu weitreichenden Veränderungen. Gelingt es, die Versorgung mit Lebensmitteln mit weniger Arbeitskräften zu gewährleisten, also ein Surplus zu produzieren, so dass etwa ein Landwirt zwei Handwerker ernähren kann, lässt sich die Arbeitskraft dieser nutzen, um „Luxus“-Gegenstände zu produzieren, Kleidung zu verfeinern oder selbst Fachmann in diesem Gebiet zu werden, so dass auch die handwerkliche Produktion effizienter wird. Schon das 11. und 12. Jahrhundert brachte eine Reihe von Verbesserungen in der landwirtschaftlichen Produktion. So setzt sich das Kummet, ein gepolstertes Geschirr für Zugtiere anstelle von Lederriemen durch, was den Ertrag der Felder vergrößerte und die Beanspruchung der Tiere verkleinerte. Die Dreifelderwirtschaft wurde gleichsam wiederentdeckt, was den Anbau von Getreide verbesserte, so dass die Zucht und Haltung von Pferden einfacher wurde, die wiederum Ochsen als Zugtiere ablösten, weil sie effektiver waren. Die älteste Wassermühle in Deutschland stammt schon aus dem 9. Jahrhundert. Ab 1180 sind Windmühlen in Europa nachgewiesen. Sie machten insbesondere die Getreideverarbeitung standortunabhängiger. Diese wurden im 13. Jahrhundert so weiter entwickelt, dass sie sich in die Richtung des Windes drehten, so dass man die Windkraft besser ausnutzen konnte. Im 12. Jahrhundert wurden Spinnrad und Trittwebstuhl entwickelt und eingeführt, was die Tuchproduktion, welche die gewerbliche Produktion bis in die frühe Neuzeit bestimmte, erheblich effektiver macht. Insbesondere der „Bedarf“ der Grundherrn, neue Ansprüche an „Luxus“ oder die Notwendigkeit militärisch „aufzurüsten“, führte nicht nur zu einer effizienteren Wirtschafsweise, sondern auch dazu, dass der Austausch intensiver werden musste, Verkehr zwischen den einzelnen Höfen und Dörfern stattfand: „Erst auf den Grundherrschaften mit ihren oft weit auseinander gelegenen Besitzungen entstand die Notwendigkeit eines interlokalen Gütertransports, und damit nebenbei bemerkt, … die Notwendigkeit, ein Wegenetz zwischen den einzelnen Ortschaften zu entwickeln. Die erforderlich werdenden Transportleistungen werden nun, wie gesagt, einzelnen Bauern als Fron auferlegt, die dadurch den 174 Anstoß erhielten, sich zu berufsmäßigen Schiffern oder Kärrnern auszubilden, denen wir dann in der nächsten Wirtschaftsepoche, im Rahmen der tauschwirtschaftlichen Organisationen begegnen.“ 78 Die Grundherren verlegten sich darauf, von den Bauern statt des Naturalzinses einen Geldzins zu verlangen. Erst allmählich entwickelten sich Städte, die stärker durch Handwerk und Handel gekennzeichnet wurden. Die Überschussproduktion setzte Arbeitskräfte frei, die im Handwerk und Handel reüssieren konnten. Im 12. Jahrhundert bildeten sich in Deutschland zunächst Gilden, als Berufsorganisation der Kaufleute oder der Pfeffersäcke. Die Gilden dienten zunächst der gegenseitigen Hilfe und Unterstützung, insbesondere versuchten sie, die Sicherheit des Warentransports zu gewährleisten. Sie dienten wie die Zünfte auch der gegenseitigen Unterstützung in Unglücks- und Notfällen sowie der gemeinschaftlichen Pflege von Religiosität. Mit der Zeit entwickelten sich die Gilden zu Handelsmonopolen in den jeweiligen Städten. Die Gründung der ersten deutschen Ostseestadt, Lübeck, im Jahre 1143 gilt als Voraussetzung für das Entstehen einer weiteren – wohl bekannteren – Vereinigung, nämlich der Hanse, die zunächst von den Kaufleuten der Ost- und Nordsee gegründet wurde, um die Seefahrt sicherer zu machen und sich gegenseitig bei den Geschäften zu unterstützen. Im Jahre 1160 erhielt Lübeck das Soester Stadtrecht, was heute als der Beginn der Kaufmannshanse angesehen wird. Im 15. Jahrhundert wurde die Hanse dann zu einem Städtebund, der auch Städte umfasste, die mit der Seefahrt wenig zu tun hatten, wie Soest oder Göttingen. Wenig später als die Gilden bildeten sich Zünfte als Berufs- oder Standesorganisation der Handwerker. Für das Handwerk galt die gleiche Maxime des Wirtschaftens wie für den Landwirt, also das Bedarfsdeckungsprinzp, auch wenn der Handwerker nicht autark produziert, sondern für andere oder für einen Markt. „Bis ins Einzelne lässt sich die Analogie verfolgen, die zwischen einer bäuerlichen Hüfnergemeinschaft und einer in einer Zunft geeinten Korporation von Handwerkern obwaltet. Beide wollen in genossenschaftlichem Einvernehmen die wirtschaftliche Tätigkeit der einzelnen Teilnehmer ordnen, beide gehen von einer gegebenen Größe der zu vollbringenden Arbeit und des zu befriedigenden Bedarfs aus, das heißt, sie sind von der Idee geleitet, dass ein bestimmtes Ausmaß von Leistung und Einkommen jedem Genossen zukomme: sind orientiert unter dem Gesichtspunkt der ‘Nahrung’. Beide verteilen die Gesamtleistung unter die einzelnen und lassen einen Teil übrig, der von der Genossenschaft als solcher zu vollbringen ist: der Gemeindeweide auf der Allmende im Dorf entspricht die 78 Sombart, Der moderne Kapitalismus, S. 89. 175 Kollektivnutzung der von der Zunft (oder Stadt) errichteten Anstalten. Beide regeln bis ins Einzelne das wirtschaftliche Verhalten jedes Genossen usw. der immer wiederkehrende Grundgedanke jedes echten Handwerkers oder Handwerkerfreundes ist: das Handwerk solle seinen Mann ‘ernähren’.“ 79 Als die Kaufleute begannen, bei den Bauern die Produktion in Auftrag zu geben, als Verleger tätig zu werden, stellten sich deren Verkehrs- und Austauschformen um, nämlich auf Geldwirtschaft und auf die Rechnung in Geldwerten. Braudel schreibt: „Dennoch aber zerstört das Geld die alten Werte und das seit Alters eingespielte Gleichgewicht. Der ländliche Arbeitnehmer hat … doch die Gewohnheit angenommen, in Geldbegriffen zu rechnen. Damit aber vollzieht sich auf lange Sicht ein Wandel der Denkungsweise und Arbeitsverhältnisse.“80 So änderte sich die Technik der Produktion mit Auswirkungen auf den Verkehr und den Warentausch. Es entsteht eine Tausch- und Geldwirtschaft, die der Menschheit entgegen der geläufigen Anschauung des bürgerlichen Subjekts keineswegs in die Wiege gelegt war. Selbstverständlich war die Tauschwirtschaft in der Antike weit entwickelt und sie ist nie ganz verschwunden, so kann man nicht von einer Entstehung der Tauschwirtschaft nach der Jahrtausendwende sprechen, sondern von einer Wiederbelebung. Die italienischen Städte, deren Wohlstand zu großem Teil auf dem Handel basierte, waren Vorreiter bei der Umstellung auf die Geldwirtschaft und hatten diese spätestens im 14. Jahrhundert voll entwickelt. Das Handelskapital denkt anders als der Handwerker oder Bauer notwendig in Quantitäten, macht den Tauschwert und erst an zweiter Stelle den Gebrauchswert der Produkte zur Grundlage seiner Überlegungen, die in eine rationale Buchführung münden. Die möglichen Verdienste und Handelschancen werden kalkuliert und berechnet, die Wirtschaft wird rechenhaft und in diesem beschränkten Sinne rational. Die rationale Wirtschaft ist ihrerseits verbunden mit einer Rationalisierung der Weltanschauung in der Renaissance, Prozesse, die sich gegenseitig verstärken. Humanismus und die Rationalität des Handelskapitals bildeten schließlich die Grundlage für einen bedeutenden Fortschritt in der Anwendung handwerklicher Technik und von den Künsten, die das Mittelalter verächtlich „mechanische“ genannt hatte, auf die Wissenschaft überschwappte. Ab einer gewissen Stufe der Entwicklung, „übte die Technik einen wachsenden Druck auf das wissenschaftliche Denken aus: Dieses musste nunmehr der Technik zu Hilfe kommen. Und 79 Sombart, Der moderne Kapitalismus, S. 190. 80 Braudel, Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts – Der Handel, S. 54. 176 die Unterstützung der Technik durch die Wissenschaft erfolgte wenig später.“81 Der technische Fortschritt veränderte auch die Bedeutung der ökonomischen Sektoren. Der Handelskaufmann blieb bedeutend, gleichzeitig konnte man den Aufstieg des Handwerks erkennen, das sich ausdehnte, die Regeln der Zunft überwand oder außerhalb der Städte ohne diese Regel neu geschaffen wurde. Es entstanden die ersten Manufakturen, in denen zunächst Handwerker in der überkommenen Form zusammenarbeiteten, die aber wegen der Konzentration der Arbeit eine Arbeitsteilung nahe legten, die sich mit der Zeit auch innerhalb der Manufaktur entwickelte, ohne das Ausmaß der industriellen Arbeitsteilung, die maschinelle Produktion zur Grundlage hat, zu erreichen. Marx erläutert die Bedeutung veränderter Technik, d.h. veränderter Produktionsmittel und Verkehrsmittel am Beispiel der Tuchweberei: „Die mit der steigenden Bevölkerung steigende Nachfrage nach Kleidungsstoffen, die beginnende Akkumulation und Mobilisation des naturwüchsigen Kapitals durch die beschleunigte Zirkulation, das hierdurch hervorgerufene und durch die allmähliche Ausdehnung des Verkehrs überhaupt begünstigte Luxusbedürfnis gaben der Weberei quantitativ und qualitativ einen Anstoß, der sie aus der bisherigen Produktionsform herausriss. Neben den zum Selbstgebrauch webenden Bauern, die fortbestehen blieben und noch fortbestehen, kam eine neue Klasse von Webern in den Städten auf, deren Gewebe für den ganzen heimischen Markt und meist auch für auswärtige Märkte bestimmt waren. Die Weberei, eine in den meisten Fällen wenig Geschicklichkeit erfordernde und bald in unendlich viele Zweige zerfallende Arbeit, widerstrebte ihrer ganzen Beschaffenheit nach den Fesseln der Zunft. Die Weberei wurde daher auch meist in Dörfern und Marktflecken ohne zünftige Organisation betrieben, die allmählich zu Städten, und zwar bald zu den blühendsten Städten jedes Landes wurden.“82 Es geht an dieser Stelle nicht um die Reihenfolge, also um die Frage: Schafft die veränderte, d.h. gesteigerte Produktion sich eine Nachfrage und ändert die Verkehrswege? Oder ist einer der in der vorhergehenden Frage als Wirkung dargestellten Faktoren an den Anfang der Kette zu setzen? Die Faktoren müssen sich offensichtlich gleichzeitig entwickeln. Die einsetzenden Verbesserungen und Erweiterungen der „mechanischen“ Künste ermöglichen eine Steigerung der Produktion und gleichzeitig bessere Verkehrs- und Kommunikationswege. Eingeführt wurden Leuchtturm und Kompass und das Mittelruder bei Schiffen, das insbesondere der Kogge zu ihrem Ruhm verhalf. Ab 1450 gab es in deutschen Landen den Postbetrieb von Thurn und Taxis. Weiter ermöglichte das „Lumpen81 Romano/Tenenti, Weltgeschichte, Mittelalter und frühe Neuzeit, S. 188. 82 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, MEW Bd. 3, S. 55. 177 papier“ und die Papiermühle sowie Druckerschwärze und Buchdruckkunst eine neue Form der Kommunikation. So entwickeln sich gleichzeitig neue Formen der Produktion und des Warenverkehrs, die einhergehen mit einer Ausdehnung der Geldwirtschaft; es entstehen neue Formen der Kommunikation und des Verkehrs. Das griff die bestehende politische Ordnung – nicht nur in Form des Zunftwesens – an, auch die Macht des Grundbesitzes, d.h. des Feudaladels schwand mit der Entwicklung der Geld- und Warenwirtschaft. Umgekehrt war die Änderung der politischen Ordnung Grundlage dieser neuen Entwicklung, was Marx am Beispiel des freien Lohnarbeiters eindrucksvoll vorgeführt hat. Nicht zu unterschätzen ist in diesem Prozess des ausgehenden Mittelalters die Bedeutung der Edelmetallproduktion gleichsam als Voraussetzung für die Geldwirtschaft. „Seit dem Ende des zehnten Jahrhunderts beginnen die Entschließungen gerade der für das Mittelalter wichtigsten Silberminen (Gold spielte in jener Zeit wirtschaftlich keine Rolle): in Schlesien, im Harz (Goslar, Clausthal), in Sachsen (Freiberg), in Kärnten, im Salzburgischen, in Böhmen, im Elsass usw.“83. Schließlich ist zu erwähnen, dass die Erfindung des Schießpulvers das Militärwesen revolutionierte. Dem Mönch Berthold Schwarz, der sich alchemistischen Studien widmete, wird die Erfindung des Schwarzpulvers oder zumindest die Entdeckung seiner „treibenden Kraft“ zugeschrieben, soweit man auf europäische „Erfindungen“ abstellt. In China war Schwarzpulver möglicherweise früher bekannt. Wann Schwarz seine Entdeckung gemacht hat, ist nicht ganz geklärt. Rolf Schneider etwa formuliert vorsichtig: Berthold Schwarz „lebte um das Jahr 1330.“84 Klar ist, dass das Schießpulver die Kriegsführung revolutionierte, weil es für Feuerwaffen unterschiedlicher Art, von Pistolen bis zur Kanone, eingesetzt werden konnte. Wann die ersten Kanonen eingesetzt wurden, ist ebenso ungewiss wie das genaue Datum der Entdeckung des Schwarzpulvers in Europa.85 Sinnvoll einsetzbar wurden Gewehre mit der Erfindung des Luntenschlosses86, das sich 83 Sombart, Der moderne Kapitalismus, S. 109. 84 Schneider, Das Mittelalter, S. 116. 85 Es finden sich Quellen, da wird in ein und demselben Text der erste Gebrauch einer Kanone vor der Erfindung des Schießpulvers datiert. Schwierig wird die Frage, wenn man die außereuropäische Geschichte und die Möglichkeit des Imports von Waffen etwa über Konstantinopel mit in Betracht zieht. 86 Mit dem Luntenschloss konnte der Soldat sich auf das Zielen konzentrieren und war nicht mehr damit beschäftigt, die Lunte anzuzünden, was bei der Kanone unschädlich ist, nicht aber beim Gewehr. 178 erst in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts durchsetzte. 87 Einig ist man sich darin, dass sich mit den Feuerwaffen die „Kriegskunst“ radikal änderte. Die Ritter mit schweren eisernen Rüstungen hatten ausgespielt, weil die Rüstung von den Kugeln durchschlagen werden konnte. Festungen wurden von Kanonenkugeln zerstört und boten keinen sicheren Rückzugsort mehr, der nur mühsam durch Belagerung eingenommen werden konnte. Die Distanzwaffen des Mittelalters Bogen und Armbrust verloren ebenso ihre Bedeutung wie der Nahkampf und die entsprechenden Waffen Schwert, Spieß, Streitaxt oder Haken. Die Revolution der Waffentechnik führte zu einer anderen Art der Kriegsführung. Die kampferprobten Ritter, die im Zweikampf bestehen konnten und sozusagen auf eigene Rechnung und im eigenen Interesse als Gefolgsleute in den Krieg zogen, hatten ausgedient. Das neue Heer war mit Feuerwaffen ausgerüstet, die vom Kriegsherrn beschafft und zur Verfügung gestellt wurden. Das wird in den weiteren, insbesondere den ökonomischen Auswirkungen noch zu diskutieren sein. Aber eine Konsequenz dieser Veränderung für die politische Herrschaft wird an dieser Stelle schon sichtbar. Die charismatische Führung eines Ritterheeres wird obsolet, an ihre Stelle muss eine stabile Organisationsstruktur mit militärischer Disziplin gesetzt werden, also ein staatlicher Apparat. Schon das Verlagssystem führt dazu, dass nicht Produkte „im Auftrag“, also auf individuelle Nachfrage produziert werden, sondern auf Vorrat, d.h. für einen – für damalige Verhältnisse – anonymen Markt. Mit der Manufaktur entfernt sich der unmittelbare Produzent vom Ergebnis seines Produktes, dessen endgültige Form er nicht mehr herstellt und folglich kontrolliert. Der mehr oder weniger anonyme Markt ist aber Voraussetzung der neuen Konkurrenz, die – das ist die These – die weitere Entwicklung Europas zentral bestimmen wird. Während der Produktion weiß der Produzent nicht, ob er sein Produkt überhaupt verkaufen kann, ob er es zu seinem Wert, also zu den Kosten einschließlich des Profits verkaufen kann, welche die Produktion erforderten. Er weiß nicht, ob ein Konkurrent seinen Preis unterbietet und er folglich unter seinen Kosten verkaufen muss, also ist er zur Rationalisierung der Produktion gezwungen. Rationalisierung in dem weiteren Sinne, dass Rücklagen zu bilden sind, die Produktionsapparate erneuert und auf dem neusten Produktivitätsstandard gehalten werden müssen. Das waren die Sorgen des Zunftmeisters nicht, der für einen individuellen Auftraggeber oder für einen regulierten und aufgeteilten Markt produzierte. Der Zunftmeister tritt nun aber in Konkurrenz zum manufakturellen Produzenten und muss seinerseits 87 Nach anderen Angaben musste Preußen die Feuerwaffen noch im 18. Jahrhundert importieren, was die Kriegsführung offenbar deutlich erschwert. 179 seine Produktionsmethoden anpassen oder untergehen. Diese Perspektive bestätigt die oben entwickelte Annahme: Es erscheint im Ergebnis irrelevant, ob die arbeitsteilige Produktion für einen anonymen Markt mit dem kaufmännischen Verlagswesen startet oder mit der Wandlung des Zunftmeisters zum Manufakturisten. Die strukturellen Veränderungen, die mit einer Produktion für einen anonymen Markt verbunden sind, waren relevant. b) Konkurrenz kleiner Staaten – die spezifischen Bedingungen in Europa Die technischen Veränderungen der Produktions-, der Kommunikations- und Verkehrsmittel sowie die Revolutionierung der Militärtechnologie sind Vorbedingung und Voraussetzung für die Entwicklung in Richtung einer kapitalistischen Gesellschaft. Die Verfügbarkeit von Spinnrad und Tretwebstuhl führten dazu, dass der bäuerlichen Selbstversorgung wie der zünftischen Textilproduktion neue Formen der Tuchherstellung zunächst an die Seite traten, bis die alten Formen, weil weniger effizient, verdrängt wurden. Produziert wurde schon im Verlagssystem und erst recht in der Manufaktur für einen – verglichen mit der Produktion auf Bestellung – anonymen Markt. So wurden Rohstoffe wie Wolle und Baumwolle importiert. Die Baumwolle war nach dem Jahre 1000 in Spanien und Sizilien heimisch geworden, blieb aber bis ins 16. Jahrhundert ein Edelartikel, der zu großen Teilen über Land, die Seidenstraße, aus Asien importiert wurde. Erst die Nutzung des Seeweges nach Asien und später die Hanfpflanze und die Baumwolle in den „westindischen“ Kolonien ließen sie zu einem Massenprodukt werden. Umgekehrt wurden die fertigen Produkte exportiert, womit Konsum und Produktion andernorts verändert wurden. Weil auch das Verkehrssystem sich entwickelt hatte, Waren also – verglichen mit den Bedingungen des frühen Mittelalters – leicht transportiert werden konnten, war es für die englischen Grundbesitzer sinnvoll, ihre Bauern zu vertreiben, um in die Schafzucht einzusteigen mit dem Zweck der Wollproduktion. Marx bemerkt an der zitierten Stelle auch, dass der alte Feudaladel verschwunden war und sich ein neuer Typus durchgesetzt hatte, der als „Kind seiner Zeit, für welche Geld die Macht aller Mächte“ war, dem Gewinn nachjagte. Erklärt ist dieser Wandel nicht und die Entwicklung der Produktivkräfte einschließlich der Verkehrsmittel kann den Wandel nicht allein erklären. Das macht ein Vergleich mit dem antiken Rom während seiner Blütephase deutlich. Man kann sich im Detail sicher darüber streiten, inwieweit die technischen Voraussetzungen, die im 16. Jahrhundert (wieder) entstanden waren, in dieser oder anderer Form im antiken Rom schon existierten. Offenkundig ist aber, dass die Differenz nicht 180 besonders hoch gewesen ist, die alten Römer möglicherweise technisch weiter entwickelt waren. Anders gesagt: Im antiken Rom standen mindestens die Möglichkeiten für Produktion und Verkehr zur Verfügung, die um das 16. Jahrhundert den Wandel zu einer kapitalistischen Ökonomie einleiteten. Die römischen Patrizier verhielten sich aber eher wie der von Marx erwähnte „alte Feudaladel“, sie „investierten“ ihre Überschüsse in Grundbesitz oder unterschiedliche Formen des Luxus und der „Großzügigkeit“. Der „kapitalistische Geist“ war ihnen ebenso fremd wie dem alten Feudaladel; die Verwertung von Wert war keine Maxime der Ökonomie. Das wirft die Frage auf, wodurch sich das späte Mittelalter und die frühe Neuzeit mit Blick auf die spezifischen Bedingungen der Entwicklung des „kapitalistischen Geistes“ unterschieden. Orthodoxe Geister könnten argumentieren, dass das antike Rom eine Sklavenhaltergesellschaft war, während sich in der frühen Neuzeit die Feudalgesellschaft auflöste, indem unter anderem „freie Lohnarbeiter“ ihre Arbeitskraft zum Kauf anboten. Oberflächlich lässt sich argumentieren, dass es einerseits in Rom freie Arbeiter gab, d.h. freie römische Bürger, die ihren Lebensunterhalt durch Arbeit, in der Regel als Handwerker verdienten oder verdienen mussten. Umgekehrt gab es im Mittelalter neben den hörigen Bauern auch Sklaven. Das Wort Sklave ist eine Abwandlung von Slawe, weil es eben insbesondere diese waren, die nach Kriegszügen versklavt wurden. Prag und Verdun waren bekannte Sklavenmärkte des Mittelalters. Auch die Neuzeit kannte und kennt bis in die Gegenwart Sklavenarbeit. Allerdings ist ihre Bedeutung für die gesamte Ökonomie jeweils unterschiedlich zu bewerten. Mit dem Hinweis auf die dominante Ökonomie oder auf die Gesellschaftsformationen lässt sich nicht die Frage beantworten, warum die Händler und/oder Handwerker des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit begannen, die Verzinsung ihres Kapitals zum zentralen Gesichtspunkt ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit zu machen und nicht die Händler und Handwerker im antiken Rom. Der Unterschied, der die weitere ökonomische Entwicklung maßgeblich bestimmt haben dürfte, womit entsprechende Formen der „Rationalisierung“ von Recht und Staat verbunden waren, hat in der territorialen Konkurrenz gelegen. Im Europa des 14. bis 15. Jahrhunderts bestand zwar formal noch eine „Zentralgewalt“ mit der Kaiserwürde und dem Römischen Reich Deutscher Nation. 88 Trotz dieser eher virtuellen Einheit verfiel Europa jedoch in eine Fülle inzwischen eigenständiger und halbwegs stabiler Territorien oder Herrschaftsgebiete 88 Noch Napoleon hat erwogen, ob er sich zum Zweck der Legitimation zum römischen Kaiser krönen lassen sollte. 181 mit je eigenen Herrschern. Diese Territorien gerieten mit der Entwicklung der Produktivkräfte und der Verkehrssysteme zunehmend oder in neuer Form in eine Konkurrenzsituation untereinander. Das war ein zentraler Unterschied zu anderen Hochkulturen, vom antiken Römischen Reich über das alte Ägypten oder Persien bis nach China. All diese Kulturen waren auf ein Zentrum ausgerichtet, das die Provinzen beherrschte, das heißt militärisch unterworfen hatte und deshalb dominierte, politisch verwaltete und wirtschaftlich mehr oder weniger ausbeutete. In einem Unter- und Überordnungsverhältnis entsteht kein Wettbewerb, keine Konkurrenzsituationen zwischen dem Zentrum und der Peripherie. Gallien etwa hat mit Rom nicht konkurriert, auch nicht auf ökonomischem Gebiet. Das wirtschaftliche Surplus der Provinzen floss aus diesen zu großen Teilen nach Rom, wo es nicht zuletzt zur politischen Stabilität beitrug, indem es den überdimensionierten Militärapparat legitimierte. Mit den Überschüssen ließen sich „Brot und Spiele“ organisieren und für alle bereitstellen. Teilweise wurden die Überschüsse der Provinzen von den lokalen Statthaltern angeeignet. Das gesellschaftliche Leben war insgesamt auf das Zentrum ausgerichtet. Das ist zu Beginn der Neuzeit anders. Die Territorien sind zwar keineswegs gleich mächtig, aber zwischen den verschiedenen Fürsten gibt es Absprachen und Bündnisse, mit denen im Ergebnis – oft genug vergeblich – versucht wurde, die Stabilität der Gesamtsituation zu wahren. Die Konkurrenz ist zunächst eine territoriale, die allerdings verschiedene Dimensionen hat. Innerhalb der Gebiete, die sich später als Nationalstaaten konstituieren, gibt es die Konkurrenz zwischen dem Feudaladel, den kleineren Fürsten auf der einen Seite und der „Zentrale“, dem König, Kurfürsten, Freiherrn, wie auch immer der Titel war, auf der anderen Seite. Diese Konkurrenz wird im Laufe der Entwicklung zu Gunsten der Zentrale aufgelöst. Am Ende des 15. Jahrhunderts haben sich in den großen europäischen Territorien Spanien, Frankreich, England starke Monarchien durchgesetzt; die Staaten konstituieren sich als Einheit, die nach außen Souveränität beanspruchen, welche nach innen vom Monarchen für sich reklamiert wurde. Jean Bodin lieferte das ideologische Gerüst zur Rechtfertigung der Souveränität der Monarchie, die für Bodin nur als absolute denkbar ist, und er begreift die territoriale politische Organisation, d.h. die territoriale Herrschaftsform als Staat. Diesen definiert er eben über seine Souveränität nach außen und die absolute Gewalt nach innen. Bodin schreibt: „Von einem Staat können wir sprechen, wenn eine souveräne Gewalt vorhanden ist, die alle Einzelteile, also alle Familien und Kollegien, zu einem Körper vereinigt.“89 Hier wird die nationale Einheit vorgedacht und 89 Bodin, Über den Staat, S. 13. 182 über den Begriff des Staates gerechtfertigt, der seinerseits „souveräne Gewalt“ bedeute. Souveränität beinhaltet für Bodin, „die absolute und dauernde Gewalt eines Staates, die im Lateinischen majestas heißt. Souveränität bedeutet höchste Befehlsgewalt.“90 Und an anderer Stelle: „Die Staatsgewalt ist dann absolut und souverän, wenn sie nur dem göttlichen Gebot und dem Naturrecht unterworfen ist.“91 Bodin rechtfertigt die Entwicklung zur absoluten Monarchie über die Vorstellung eines einheitlichen, souveränen Staates, was beinhaltet, dass dezentrale Machtfaktoren, welche die Einheit sprengen, an Bedeutung verlieren oder besser: „eliminiert“ werden müssen. 2. Territoriale Konkurrenz und die Auflösung des Feudalsystems a) Zentralisierung und der Prozess der Zivilisation – Elias Norbert Elias hat diese Tendenz zur Zentralisierung insbesondere der Gewaltmittel innerhalb des Staates als Prozess der Zivilisation beschrieben. Er beschreibt die (europäische) Geschichte als Weg von der weitgehenden Desintegration zur Herausbildung immer größerer Herrschafts- und Verwaltungseinheiten: „Die Bildung von besonders stabilen und spezialisierten Zentralorganen für größere Gebiete ist eine der hervorstechendsten Erscheinungen der abendländischen Geschichte.“92 Die Zentralisierung und Monopolbildung in größer werdenden territorialen Einheiten ist für ihn kein Zufall oder abhängig von historischen, geografischen, klimatischen oder rechtlichen Zufälligkeiten. Elias schreibt: „Der gesellschaftliche Prozess, die Tatsache, dass eine Gesellschaft mit relativ vielen gleichgroßen Macht- und Besitzeinheiten bei starkem Konkurrenzdruck zur Vergrößerung einiger Weniger und schließlich zu einer Monopolbildung tendiert, ist von solchen (historischen, geografischen usw.) Zufällen weitgehend unabhängig.“93 Der gesellschaftliche Prozess der Zentralisierung ergibt sich – den Untersuchungen Elias folgend – aus strukturellen Bedingungen.94 Um die strukturellen Mechanismen zu verstehen, welche die Staatenbildung, d.h. die territoriale Integration und die Bildung von Steuer- und Gewaltmonopolen vorantrieben, sei es unzureichend, Gesellschaft als Ansammlung von Individuen zu begreifen und 90 91 92 93 94 Bodin, Über den Staat, S. 19. Bodin, Über den Staat, S. 23. Elias, Über den Prozess der Zivilisation Bd. 2, S. 226. Elias, Über den Prozess der Zivilisation Bd. 2, S. 134 f. Elias, Über den Prozess der Zivilisation Bd. 2, S. 134 f. 183 nach ethnischen, sprachlichen oder ähnlichen Gemeinsamkeiten als Grundlage und Voraussetzung der Integration zu suchen, wie es der juridische Diskurs in schöner Naivität immer noch versucht. In der Staatenbildung findet sich nicht ein vorher existierendes, möglicherweise noch homogenes Volk zusammen. Für Elias sind Interdependenzen und Verflechtungen dafür verantwortlich, dass Gesellschaften geformt werden, d.h. sich auf den Weg der institutionellen Integration begeben. „In den Beziehungen einzelner Menschen sowohl, wie in denen verschiedener Funktionsschichten zeigt sich eine spezifische Zwiespältigkeit oder gar eine Vielspältigkeit der Interessen um so stärker, je weiter und reicher gegliedert das Netz der Interdependenzen wird, in das eine einzelne, soziale Existenz oder eine ganze Funktionsklasse verflochten ist. Hier sind alle Menschen, alle Gruppen, Stände oder Klassen, in irgendeiner Form aufeinander angewiesen; sie sind potenzielle Freunde, Verbündete oder Aktionspartner; und sie sind zugleich potenzielle Interessengegner, Konkurrenten und Feinde.“95 Es entstehen „bestimmte Verflechtungsmechanismen“ zwischen Menschen und Menschengruppen, die, so Elias These, „zu einer Integration immer größerer Verbände hindrängen.“96 Zu diesen Verflechtungsmechanismen zählen – da besteht eine Übereinstimmung mit den hier angestellten Überlegungen – eine Arbeitsteilung, die Verbesserung und Beschleunigung der Verkehrs- und Kommunikationsmittel, Vereinfachungen im und durch das Geldwesen, Bevölkerungswachstum und -wanderung sowie die Veränderung der Produktivkräfte. Umgekehrt folgt: „Die Stärke der zentrifugalen Kräfte … entspricht dem Grad der lokalen, ökonomischen Autarkie.“97 Die Integrationsschübe der abendländischen Gesellschaft erklärt Elias mit folgendem Modell: „Zwei große Phasen also lassen sich in dem Ablauf eines Monopolmechanismus unterscheiden …: Erstens die Phase der freien Konkurrenz oder der Ausscheidungskämpfe mit der Tendenz zur Akkumulation von Chancen in immer weniger und schließlich in einer Hand, die Phase der Bildung des Monopols; zweitens die Phase, in der die Verfügungsgewalt über die zentralisierten und monopolisierten Chancen dazu tendiert, aus den Händen eines Einzelnen in die einer immer größeren Anzahl überzugehen und schließlich zu einer Funktion des interdependenten Menschengeflechts als eines Ganzen zu werden, also die Phase, in der aus dem relativ ‘privaten’ ein ‘öffentliches’ Monopol wird.“98 95 96 97 98 184 Elias, Über den Prozess der Zivilisation Bd. 2, S. 231. Elias, Über den Prozess der Zivilisation Bd. 2, S. 435. Elias, Über den Prozess der Zivilisation Bd. 2, S. 35. Elias, Über den Prozess der Zivilisation Bd. 2, S. 157. Relevant ist in unserem Zusammenhang nur die erste Phase. Grundlage der Integrationsmechanismen sind danach Ausscheidungskämpfe ungefähr gleich starker Konkurrenten, die im Wettbewerb expandieren müssen oder untergehen und auf diese Weise zu einer – mehr oder weniger gewaltsamen – Integration durch Einverleibung schwächerer Konkurrenten führen; das heißt im Prozess der Staatenbildung auch die Aneignung fremder Territorien. Elias resümiert seine Ergebnisse so: „Im Zustand der äußersten feudalen Desintegration des Abendlandes beginnen, das ist gezeigt worden, bestimmte Verflechtungsmechanismen zu spielen, die zu einer Integration immer größerer Verbände hindrängen. Aus den Konkurrenz- und Ausscheidungskämpfen kleinerer Herrschaftseinheiten, der Territorialherrschaften … gehen langsam einige wenige und schließlich eine der kämpfenden Einheiten als Sieger hervor. Der Sieger bildet das Integrationszentrum einer größeren Herrschaftseinheit; er bildet die Monopolzentrale einer Staatsorganisation, in deren Rahmen sich viele der ehemals frei konkurrierenden Gebiete und Menschengruppen allmählich zu einem mehr oder weniger einheitlichen, einem besser oder schlechter ausgewogenen Menschengewebe höherer Größenordnung zusammenwachsen.“99 Und selbstverständlich endet der Konkurrenzkampf oder Wettbewerb nicht mit der Bildung von Staaten, sondern setzt sich zwischen den Staaten fort: „So treiben sich auch rivalisierende Staaten unter dem Spannungsdruck des ganzen Gewebes, das sie bilden, im Wirbel der Konkurrenzschraube gegenseitig weiter und weiter voran.“100 Das bedeutet in unserem Zusammenhang: Sie konkurrieren als Staaten auf verschiedenen Gebieten, an erster Stelle natürlich auf militärischem Gebiet, das aber für die ökonomische Entwicklung bedeutend ist. Der Wettbewerb der Staaten ist nicht zuletzt aber auch ein ökonomischer Wettbewerb, der die „gemütlichen“ Zustände der feudalen Ökonomie, die nicht darauf angelegt war auf immer höherer Stufenleiter zu produzieren, zerstören musste. Der Wettbewerb zwischen den Wirtschaftssubjekten, Kaufleuten und Handwerkern änderte ihre Einstellung zur Form des eigenen Wirtschaftens: Mit der Konkurrenz gedeiht die Idee, dass es in der Wirtschaft um die Verwertung von Wert geht. Das heißt, die Lebenseinstellung, das Verhalten und letztlich der Habitus der ökonomischen Akteure ändert sich. Elias diskutiert diese Auswirkungen auf den Habitus mit folgenden Worten: „Hier ist gezeigt worden, wie der Zwang von Konkurrenzsituationen eine Reihe von Feudalherrn gegeneinander treibt, wie der Kreis der Konkurrierenden sich langsam verengert, wie es zur Monopolstellung eines von 99 Elias, Über den Prozess der Zivilisation Bd. 2, S. 435. 100 Elias, Über den Prozess der Zivilisation Bd. 2, S. 437. 185 ihnen und schließlich – im Zusammenhang mit anderen Verflechtungsmechanismen – zur Bildung eines absolutistischen Staates kommt. Diese ganze Umorganisierung der menschlichen Beziehungen hat ganz gewiss ihre unmittelbare Bedeutung für jene Veränderungen des menschlichen Habitus, deren vorläufiges Ergebnis unsere Form des ‘zivilisierten’ Verhaltens und Empfindens ist.“101 Das „zivilisierte Verhalten“ an dieser Stelle kann sicher nicht mit der Rationalisierung im Sinne von Weber gleichgesetzt werden. Die Zivilisierung ist für Elias nicht ökonomische Rationalisierung, sondern Verfeinerung der Sitten, Triebkontrolle und Ähnliches. Aber für Elias ist klar, dass die neuen gesellschaftlichen Verkehrsformen Auswirkungen auf das Verhalten der Mitglieder dieser Gesellschaft haben. Und es lässt sich anfügen: Die Auswirkungen auf das Verständnis des eigenen Wirtschaftens waren bedeutender als die Auswirkungen auf gesellschaftliche Umgangsformen, die Elias interessieren. b) Militär und kapitalistischer Geist – Sombart Hatte Elias gezeigt, dass die Konkurrenzsituation in Europa mit der Konzentration von Macht die Umorganisation der feudalen, mittelalterlichen Gesellschaft vorantreibt, so knüpft Werner Sombart theoretisch hier an und zeigt, dass der Machtkampf zwischen Territorien und Staaten – das liegt nahe – Aufrüstung zur Folge hatte oder – anders ausgedrückt – eine Verbesserung der Militärtechnik, die wiederum größere wirtschaftliche Ressourcen in Anspruch nahm, also Wirkungen für zunächst das staatliche, dann auch das private Wirtschaften hatte. Sombart vertritt die These, dass der Krieg unmittelbar „am Aufbau des kapitalistischen Wirtschaftssystems beteiligt ist, weil er die modernen Heere geschaffen hat und die modernen Heere wichtige Bedingungen kapitalistischer Wirtschaft erfüllen sollten. Die Bedingungen, die hier in Betracht kommen, sind: die Vermögensbildung, der kapitalistische Geist und vor allem ein großer Markt.“102 An anderer Stelle fasst er die These so zusammen: „Ich sage an einer Stelle einmal: ‘im Anfang war die Armee’, und ich will damit ausdrücken, dass ich in den modernen Heeren das erste und wichtigste Werkzeug erblicke, das sich der neue Geist formt, um sein Werk zu vollbringen. Mit Hilfe der Armee wird der Staat geschaffen …“103, und, lässt sich Sombarts Gedanken ergänzen, die kapitalistische Ökonomie. 101 Elias, Über den Prozess der Zivilisation Bd. 2, S. 315. 102 Sombart, Studien zur Entwicklungsgeschichte des modernen Kapitalismus 2. Bd. Krieg und Kapitalismus, S. 14. 103 Sombart, Der moderne Kapitalismus, S. 331. 186 Das Ritterheer des Mittelalters, bei dem Gefolgsleute freiwillig mit einem anderen Fürsten in die Schlacht zogen, wobei sie ihre Rüstung, Pferd, Versorgung selber stellen mussten, wird in der frühen Neuzeit ersetzt durch zunächst Söldnertruppen, später durch stehende Heere. Das moderne Heer ist ein stehendes Heer, was „die Bereitstellung von Geldmitteln zur Beschaffung und Ausrüstung“ zur Voraussetzung hat und zur Folge, dass das Heer dem Befehl des Fürsten untergeordnet wird.104 Daraus entsteht eine gewisse Disziplin und es wird die Einordnung in einen kollektiven Prozess trainiert, der für die manufakturelle und erst recht für die kapitalistische Produktion erforderlich ist. Sombart schreibt anschaulich: „Wenn tausend Ritter im Kampfe standen, so bildeten sie keine einheitliche Masse, sondern tausend Einzelkrieger fochten nebeneinander: tausend moderne Kavalleristen sind zu einem Stoße gleichsam vereinigt, wenn sie eine Attacke reiten. … Diese Gemeinsamkeit des Geistes wird durch das Kommando hergestellt, das von den Führern ausgeht. Die Funktionen der (geistigen) Leitung und der (körperlichen) Aktion sind also getrennt und werden von verschiedenen Personen ausgeübt, während sie früher in ein und derselben Person zusammengefügt waren. Es hat sich jener Differenzierungsprozess vollzogen, der für die gesamte moderne Kulturentwicklung so außerordentlich charakteristisch ist.“105 Die Einordnung in kollektive Prozesse, die Unterordnung ist die eine Seite einer gleichsam arbeitsteiligen Differenzierung, einer Form der Trennung von Kopf- und Handarbeit, die für die kapitalistische Produktionsweise so charakteristisch ist. Der kapitalistische und der militärische Geist haben so für Sombart Gemeinsamkeiten, denn die „Ideale beider sind dieselben: die Überwindung des kreatürlichen Menschen, seine Einordnung in ein überragendes Ganzes.“106 Dabei muss man nicht schlicht annehmen, dass die Söldner später Fabrikarbeiter wurden, „dass dieselben Leute, die auf dem Exerzierplatz eingeübt waren, nun in der Fabrik die neue Kunst des sich Unterordnens verwertet hätten: schon das Beispiel, das die Armee gab, wirkte, und der Geist, der in ihr herrschte, pflanzte sich doch wohl auch in der übrigen Bevölkerung fort.“107 Webers kapitalistischer Geist begegnet uns hier in neuer Form und in der Tat zieht auch Sombart den 104 Sombart, Studien zur Entwicklungsgeschichte Krieg und Kapitalismus, S. 24. 105 Sombart, Studien zur Entwicklungsgeschichte Krieg und Kapitalismus, S. 28. 106 Sombart, Studien zur Entwicklungsgeschichte Krieg und Kapitalismus, S. 29. 107 Sombart, Studien zur Entwicklungsgeschichte Krieg und Kapitalismus, S. 30. des modernen Kapitalismus 2. Bd. des modernen Kapitalismus 2. Bd. des modernen Kapitalismus 2. Bd. des modernen Kapitalismus 2. Bd. 187 Vergleich: „Puritanische, militärische und kapitalistische Tugenden sind, wie man sieht, größtenteils dieselben.“108 Die Perspektive hat allerdings gewechselt. Der „kapitalistische Geist“ verbreitet sich nicht aus der Religion in Ökonomie, Recht und Staat. Eher lässt sich sagen, dass habituelle Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise, nämlich die arbeitsteilige Eingliederung in den Produktionsprozess durch die Einführung stehender Heere in den Gesellschaftskörper eingeschrieben wurde, d.h. trainiert und im Zweifel mit Gewalt durchgesetzt wurde. Foucault macht eine ähnliche Beobachtung, wenn er den Prozess auch zeitlich später verortet und stellt die Herausbildung der Disziplin in einen allgemeineren Rahmen: „Ihre Organisation, ihre Einsetzung, all die Institutionen, in deren Innerem sie im 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts ihre Blütezeit erlebt hatte: die Schulen, die Werkstätten, die Armeen, das alles verschmolz mit der Entwicklung der großen administrativen Monarchien und lässt sich nur in diesem Zusammenhang verstehen.“109 Es ist für Foucault nicht nur die Armee, welche die neue kapitalistische Disziplin erzeugt, sondern verschiedene gesellschaftliche Institutionen, wobei er die „erzieherische“ Wirkung der Werkstätten derjenigen der Armee gleichwertig an die Seite stellt. Wir hatten schon gesehen, dass Marx insbesondere die Disziplinierung der freien Lohnarbeiter durch staatliche Gewalt, d.h. durch Arbeitshäuser, Verbot des Vagabundierens und Zuchthaus als Voraussetzung kapitalistischer Produktion betrachtet hat. Zeitlich davor ist die Bedeutung der Klöster als Vorbild für ein diszipliniertes Leben nicht zu unterschätzen. Ein geregelter Tagesablauf nach der Maxime „ora et labora“ (bete und arbeite) bestimmte den Alltag des Klosters (oder sollte es zumindest) – auch das ist die Disziplin, die vom Lohnarbeiter mit der Industrialisierung erwartet wird. Und das Kloster war der Exerzierplatz für den geregelten Tagesablauf, die Einteilung des Tages nach der Zeit, denn das Kloster oder das Christentum insgesamt verlangte Gebete zu festgelegten Zeiten, nämlich zu den Gebetsstunden. Im Ergebnis lässt sich diese neue Form der Disziplin als Voraussetzung der kapitalistischen Produktionsweise, letztlich als der neue Geist, als „kapitalistischer Geist“ verstehen. Der Ansatz ist umfassender als Webers Herleitung des „kapitalistischen Geistes“ aus der protestantischen Ethik, d.h. der Disziplinierung ist als ein Faktor für die Entwicklung der spezifischen kapitalistischen Ökonomie eine hohe Bedeutung beizumessen. 108 Sombart, Studien zur Entwicklungsgeschichte des modernen Kapitalismus 2. Bd. Krieg und Kapitalismus, S. 29. 109 Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, S. 161. 188 Stehende Heere waren keineswegs eine Erfindung der Neuzeit, sondern waren auch etwa in der Antike bekannt. Die Argumentation über die Entwicklung eines „kapitalistischen Geistes“ mittels des militärischen Drills kann nicht abschließend sein. So hat auch Sombart noch eine zweite Argumentationslinie entwickelt, bei der die Auswirkungen der „Rüstungsspirale“ im Vordergrund stehen. Sombart zeigt anhand empirischen Materials, an Zahlen über Truppenstärken und damit verbundenen Kosten, dass die modernen Heere gegenüber den mittelalterlichen im Umfang extrem zugenommen hatten, womit natürlich auch eine gewaltige Steigerung der Kosten für ihre Ausrüstung und Verpflegung verbunden war.110 Das ist der quantitative Aspekt; hinzu kommt ein qualitativer. Die modernen Waffen, z.B. Kanonen, erlaubten es nicht mehr, dass sich die Soldaten gleichsam selbst bewaffneten und verpflegten. Das Heer (und erst recht die Marine) wurde zu einer staatlich ausgerüsteten und unterhaltenen Einrichtung. Dazu musste Geld aufgebracht werden, was durch Steuern und Anleihen geschah. Es eröffnete bürgerlichen Kreisen die Möglichkeit, reich zu werden.111 Sombart resümiert: „Mit anderen Worten: ein beträchtlicher Teil des bürgerlichen Reichtums, der in dieser oder jener Form den Kapitalismus schuf, entsteht im 16., 17. und 18. Jahrhundert durch Steuerpacht (namentlich in Frankreich) und Zins- und Agiogewinne an öffentlichen Anleihen (namentlich in Holland und England).“112 Das habe die Kommerzialisierung der Wirtschaft gefördert, die Börsen seien aus dem Handel mit öffentlichen Anleihen entstanden. Also: „Der Krieg hat die Börse geschaffen.“113 Wichtiger sind aber wohl die Auswirkungen auf den Güterbedarf, d.h. die Versorgung und Ausrüstung der Armee, die eine entsprechende, d.h. enorme Steigerung der Produktivität verlangte. Die Ausrüstung der Armee mit Waffen, Uniformen usw. musste zur Effizienzsteigerung der Produktion führen, d.h. zum Verlagssystem, Manufaktur und Großbetrieb. „Wir dürfen annehmen, dass die Kaufleute, die den alten handwerksmäßigen Waffenschmieden ihre Erzeugnisse abgenommen hatten, um sie auf Märkten und Messen feilzuhalten, die Organisatoren der kapitalistischen Waffenindustrie namentlich dort wurden, wo 110 Sombart, Der moderne Kapitalismus, S. 342 ff. 111 Sombart, Studien zur Entwicklungsgeschichte des modernen Kapitalismus 2. Bd. Krieg und Kapitalismus, S. 37 ff. 112 Sombart, Studien zur Entwicklungsgeschichte des modernen Kapitalismus 2. Bd. Krieg und Kapitalismus, S. 62. 113 Sombart, Studien zur Entwicklungsgeschichte des modernen Kapitalismus 2. Bd. Krieg und Kapitalismus, S. 65. 189 sie uns als Hausindustrie entgegen tritt.“114 Insbesondere die Produktion von Feuerwaffen tendiert zu einer Vergrößerung der Betriebe, um eine Vereinheitlichung zu ermöglichen, d.h. Waffen gleichen Kalibers herzustellen. Kurz: die Ausstattung und Verpflegung der Truppe schafft neue Märkte, deren Bedarf nur erfüllt werden konnte durch eine Revolutionierung der Produktion. Diese wird effizienter organisiert, vereinheitlicht und in größeren Einheiten, Manufakturen und schließlich Fabriken, zusammengefasst. Auch hier stellt sich die oben aufgeworfene Frage: Warum führen die neuen Bedingungen der Kriegsführung in eine kapitalistische Ökonomie, wenn doch auch beispielsweise das römische Heer ganz offensichtlich enorme Kosten verursacht hat? Der Unterschied besteht in der Konkurrenzsituation im Europa des ausgehenden Mittelalters. Das römische Imperium konnte sein Heer durch die Auspressung der Provinzen finanzieren, weil der Reichtum in der Zentrale akkumuliert wurde und dazu beitrug, das Heer zu finanzieren. Dagegen machen in der frühen Neuzeit die vielen, vergleichsweise kleinen Territorien gegeneinander mobil und sie müssen aus den „eigenen“ Reserven die Aufrüstung, den militärischen Wandel finanzieren. So entsteht ein ständiger Hunger nach Geld, der dazu führt, dass Geldgeschäfte gedeihen, Bankiers aufsteigen und an Bedeutung gewinnen. Das christliche Zinsverbot wurde zunächst gelockert und fiel dann. Die Wucherer und Händler ziehen zwar nicht in die Tempel, aber die Banken werden zu den Tempeln der Neuzeit. Der Name der Augsburger Familie Fugger steht in Deutschland wie kein Zweiter für diesen Wandel. Die Fugger waren ursprünglich eine – übrigens katholische –Weberfamilie, die nach Augsburg zog und schon bald die Weberei im Verlagssystem organisierte, bis Jakob Fugger (1459–1525) den so erworbenen Reichtum systematisch zu einem „international“ operierenden Konzern ausweitete115, der es der Fugger Bank erlaubte, den Aufstieg Maximilians I zu finanzieren sowie die Wahl dessen Enkels, des spanischen Königs Karl zum römisch-deutschen König maßgeblich zu beeinflussen.116 Die Fugger wurden im 16. Jahrhundert in den Adel aufgenommen und schwankten zwischen dem alten Geist, der den Reichtum zum luxuriösen Leben nutzt und dem neuen kapitali- 114 Sombart, Studien zur Entwicklungsgeschichte des modernen Kapitalismus 2. Bd. Krieg und Kapitalismus, S. 93. 115 Diese spezifische Geschichte bestätigt Koflers Annahme, dass die Bourgeoisie aus den Handwerkern hervorgegangen ist. 116 Vgl. Ogger, Kauf dir einen Kaiser, passim. 190 stischen Geist, für den die Akkumulation von Kapital, d.h. die Verzinsung von Geld im Mittelpunkt steht. Ihr Aufstieg begann deutlich vor der Reformation.117 Der wachsende Bedarf an Ressourcen (zunächst für die Armee) führte zu einem Hunger nach Edelmetallen. In Europa wurde Bergbau – vor allem die Silberminen –, der während des Mittelalters mehr oder weniger stillgelegt worden war, wieder aufgenommen, was wiederum die Geldwirtschaft weiter beförderte. Einen neuen Schub erhielt diese Entwicklung durch die Eroberung Südamerikas durch die Spanier. Marx schrieb dazu: „Die Entdeckung der Gold- und Silberländer in Amerika, die Ausrottung, Versklavung und Vergrabung der eingeborenen Bevölkerung in die Bergwerke, die beginnende Eroberung und Ausplünderung von Ostindien, die Verwandlung von Afrika in ein Geheg zur Handelsjagd auf Schwarzhäute, bezeichnen die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära. Diese idyllischen Prozesse sind Hauptmomente der ursprünglichen Akkumulation.“118 Aber gerade die „spanischen“ Reserven an Gold und Silber, die den südamerikanischen Indianern unter Inkaufnahme des Genozids geraubt wurden, brachten Spanien nur kurzzeitig Vorteile, beflügelten die Wirtschaft nur für kurze Zeit. Den langfristigen Vorteil hatten die Konkurrenten, insbesondere England, das ohne diese Ressourcen auskommen und folglich seine eigene Ökonomie in Konkurrenz zu Spanien entwickeln und fördern musste. Der Import von Edelmetallen aus Amerika nach Spanien führte zur kurzen Blüte der spanischen Tuchindustrie, weil ausreichend Kapital für eine Ausweitung der Nachfrage vorhanden war. Aber die „Industrie“ war – wegen der mit dem Reichtum gestiegenen Löhne – nicht konkurrenzfähig. In der Konkurrenz mit Spanien baute England nicht nur seine Tuchindustrie, sondern auch seine Industrie und Flotte auf, die schließlich die spanische Armada versenkte. c) Von der persönlichen zur „versachlichten sozialen Beziehung“ Heide Gerstenberger führt die Beobachtungen von Elias und Sombart gewissermaßen zusammen und erklärt die Überwindung der feudalen Ordnung in Form der schrittweisen Etablierung absolutistischer Regime mit einer Dynamik der „Konkurrenz um Herrschaftsbesitz“ in feudalen Gesellschaften. Das Zusammenfallen von ökonomischer Macht und politischer Stellung, insbesondere „militärischer“ Stellung, bildete nach ihrer Auffassung im Feudalismus Konkurrenzverhältnisse heraus, die zunächst nicht markt-, sondern gewaltförmig verliefen. 117 Calvin lebte von 1509 bis 1564. 118 Marx, Das Kapital Bd. I, S. 790. 191 Markt und Recht blieben so dem „Strukturzusammenhang des Gewaltbesitzes unterworfen.“ Im Laufe der Zeit habe sich der Konkurrenzkampf um den Gewaltbesitz verteuert, nämlich durch die Entwicklung der Kriegstechnik einerseits und die Erforderlichkeit des Einsatzes von „juristisch geschultem Fachpersonal“ in nicht-kriegerischen Auseinandersetzungen der Herren sowie in der Aneignung der Definitionshoheit über das Recht und zur ideologischen Fundierung der Herrschaft andererseits. Sie zeigt, wie das Konkurrenzverhältnis keineswegs nur Konsequenzen für das Militär hat, sondern auf die Gesamtorganisation der Gesellschaft übergreift, wie sich die feudale Herrschaftsorganisation mittels persönlicher Bindung über „versachtlichte soziale Beziehungen“ im Ancien Regime zur bürgerlichen Herrschaft durch die „subjektlose Gewalt“ des Staates umbildet. Gerstenberger schreibt: „Die Strukturdynamik feudaler Gesellschaften erklärt sich in aller erster Linie aus der Konkurrenz um Gewaltbesitz und aus den Rückwirkungen, die ihre Resultate auf die Voraussetzungen für soziale Auseinandersetzungen um die Reichweite und die Formen der Aneignung von ‘Mehr’produkt hatten. Die Konkurrenz um Gewaltbesitz verteuerte im Laufe der Zeit die Kosten der Herrschaftspraxis, und zwar auf zweifache Weise: Es stiegen sowohl die Kosten für die Mittel als auch für das Personal der Herrschaft. Diese Kosten ließen sich in Geld ausdrücken: wie etwa die Beträge, die für die – immer schwerer werdende – Rüstung von Rittern und später – seit dem 15. Jahrhundert – für den Erwerb von Kanonen und für die Verbesserung von Befestigungen auszugeben waren. … Die Verteuerung von Herrschaft durch gestiegene Personalkosten ergab sich zum einen aus der militärischen Konkurrenz, so etwa dem Erfordernis, Söldner anzuheuern, was sowohl in der Auflösung von Vasallenverpflichtungen als auch im Strukturwandel des Kriegshandwerks begründet war. Gleichzeitig setzte Herrschaftspraxis aber auch in zunehmendem Maße juristisches Fachwissen voraus. Dieses Erfordernis war dreifach begründet: zum einen waren juristisch geschulten Fachleuten für nicht-bewaffnete (also vor allem gerichtliche) Auseinandersetzungen unter Herren sowie für die Abwicklung all jener fiskalischen Vereinbarungen nützlich, die eine Begleiterscheinung der Konzentration von Herrschaftskompetenzen ausmachten, zum zweiten nutzten Herren die Formalisierung ihrer Herrschaftspraxis, um sich – mithilfe ihres Personals – die Definitionshoheit über lokalen Brauch von Herrschaft anzueignen …, und zum dritten handelte es sich um gelungene Aufstiegsstrategien. Fachleute für nicht-bewaffnete Herrschaftspraxis (wenn Not am Mann war, griffen freilich auch diese Herrschaftsdiener zu den Waffen) wurden für die Reproduktion des Status vornehmer Geschlechter nicht nur zunehmend unentbehrlich, sie machten sich auch selbst dazu. Verallgemeinerte soziale Praxis von Spezialisten – heutzutage würden wir sie als Professionalisierungsstrategie bezeichnen – forcierten die Versachlichung feudaler Herrschaft. Sie begründete auch Ansprüche auf Versorgung und Belohnung.“119 119 Gerstenberger, Die subjektlose Gewalt, S. 508. 192 Den Aspekt der Professionalisierung der „Staatsdiener“ und der damit verbundenen Ausweitung rechtlicher Beziehungen werden wir weiter unten genauer diskutieren. Beide Elemente, die Verteuerung der Herrschaft durch die neue Kriegstechnik wie durch die Professionalisierung der Bediensteten, also der Einzug von Juristen in die Staatsämter, führten zum sozialen Aufstieg neuer Schichten, die nach formaler Anerkennung strebten. Die Abwehrstrategie der unterlegenen Herren, derjenigen, die im Kostenwettlauf nicht mehr mithalten konnten, habe in einer Verallgemeinerung der Herrschaft bestanden, was als Übergang zur Herrschaftsform des Ancien Régime, ausgemacht wird. Gerstenberger schreibt: „Die Herrschaftsstruktur des Ancien Régime entstand mit der Integration aristokratischer Herrschaft in verallgemeinerte Gewalt: mit der Konstituierung eines Adelsstandes. Durch diesen Prozess wurde vorheriger Herrschaftsbesitz der Aristokratie (bzw. eines lokal bereits als Stand konstituierten Adels) begrenzt und gleichzeitig durch verallgemeinerte Herrschaft garantiert. Adelsmacht wurde zum Privileg in Bezug auf verallgemeinerte fürstliche Gewalt. Auf diese Weise veränderte die grundherrschaftliche Aneignung ihren Charakter. Indem sie in verallgemeinerte – mehr oder minder kodifizierte – Rechtstrukturen eingebunden – bzw. auch: formell ausgeklammert – wurde, entwickelte sie sich zu einer Herrschaft, die im Zusammenhang verallgemeinerter fürstlicher Gewalt existierte. … Gleichzeitig veränderte sich auch der Charakter verallgemeinerter Gewalt. Obwohl weiterhin Königen zu eigen, fundierte verallgemeinerte Gewalt nun in den Privilegien des Adels. Hatte die Praxis verallgemeinerter Herrschaft vordem die Herstellung und Aufrechterhaltung persönlicher Beziehungen verlangt, so fortan zusätzlich (!) die Berücksichtigung verallgemeinerte Bedingungen für die Reproduktion von Adelsherrschaft. Je nach der konkreten Struktur der Gewaltverteilung hatte diese Veränderung zur Folge, dass sich die frühere Pflicht der Vasallen, dem König mit Rat und Hilfe beizustehen, entweder in die Forderung nach Repräsentation oder aber in diejenigen nach Einzelverhandlung mit den Eignern von Privilegien verwandelte.“120 Die unterlegenen Herren, der Adel, konstituierten sich als Stand und setzten damit den Schlusspunkt, so Gerstenberger, unter die Epoche des Feudalismus. Sie mussten fortan nicht mehr selbst in den Krieg ziehen und der zentralisierten Gewalt ihre persönlichen Dienste anbieten und zur Verfügung stellen, stattdessen waren sie – wie die anderen Stände auch – verpflichtet, Abgaben, also Steuern, zu zahlen. An die Stelle der persönlichen Bindung und Verbindung, des persönlichen Herrschaftsverhältnisses entwickelten sich – über Geld und Recht – vermittelte Herrschaftsbeziehungen, die Gerstenberger als „versachlichte Herrschaftsbeziehung“ bezeichnet. „Basierte feudale Herrschaft auf unmittelbaren Gewaltverhältnissen, so stand Herrschaft vom Strukturtypus ‘Ancien Régime’ 120 Gerstenberger, Die subjektlose Gewalt, S. 511. 193 im Zusammenhang versachlichter sozialer Beziehungen: verallgemeinertes Recht und Markt wurden Strukturvoraussetzungen für Herrschaftspraxis.“121 Der persönliche Herrschaftsbesitz des Adels sei gleichzeitig begrenzt und durch die Konstituierung eines Adelsstandes mit rechtlich garantierten Privilegien zu einer Herrschaft mit verallgemeinerter Gewalt integriert worden. Die Herrschaft des Ancien Régime sei aber personale Herrschaft geblieben. Erst durch die bürgerliche Revolution habe die „Enteignung des personalen Herrschaftsbesitzes einschließlich ständischer Privilegien“ stattgefunden, sei der „Aneignungscharakter von Herrschaft“ beseitigt, Herrschaft auf Politik reduziert und damit Politik strikt von der Ökonomie getrennt worden.122 Die Versachlichung sozialer Beziehungen setzt Geldwirtschaft sowie rechtliche Strukturen voraus. Gerstenberger hebt hervor, dass diese auf veränderten ökonomischen Beziehungen beruhen mussten, nämlich auf einer Ausdehnung von Märkten. Dabei insistiert sie, dass diese keineswegs „autonom“ entstanden seien, sondern als Ergebnis der Konkurrenz um Herrschaftsbesitz. Dieses Ergebnis werden wir im Folgenden aufnehmen und genauer betrachten. Vorher sei Gerstenberger dazu abschließend zitiert: „Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte haben einerseits deutlich werden lassen, dass die Fiskalisierung der Praxis personaler Herrschaft im Zeitalter des Feudalismus auf allen Ebenen weiter fortgeschritten war als früher angenommen, andererseits haben sie ergeben, dass die Relevanz marktförmiger Strukturen in der Epochen des Ancien Régime früher eher überschätzt wurde. … Die Ausbreitung von Marktstrukturen wurde nicht etwa durch eine autonome ‘wirtschaftliche’ Entwicklungsdynamik, sondern durch Auseinandersetzungen um die Reichweite und die Formen von personaler Herrschaft vorangetrieben. Fiskalisierung der Herrschaftspraxis war die wichtigste Voraussetzung für die Entwicklung des Handels, was nicht heißt, dass nicht auch umgekehrt Warenangebote Fiskalisierungswünsche gefördert hätten.“123 3. Ökonomische und territoriale Konkurrenz Die militärische Konkurrenz um Territorialbesitz, das folgt aus den angestellten Überlegungen und schließt an die Ergebnisse von Gerstenberger an, schlägt um in eine ökonomische Konkurrenz zwischen den Staaten und schließlich 121 Gerstenberger, Die subjektlose Gewalt, S. 510. 122 Gerstenberger, Die subjektlose Gewalt, S. 525. 123 Gerstenberger, Die subjektlose Gewalt, S. 512. 194 zwischen einzelnen Branchen, „Industrien“ oder auch „Unternehmen“. Um seine neuen Bedarfe zu decken, die nicht nur aus der Organisation der Armee entsprangen, sondern auch aus der politischen Zentralisierung mit Hofstaat und Verwaltung, musste die politische Herrschaft die Ökonomie weiter entwickeln, ihre Effizienz steigern. „Der handwerksmäßige Betrieb genügte nicht mehr für den wachsenden Bedarf; in den leitenden Industrien der fortgeschrittensten Länder wurde er ersetzt durch die Manufaktur.“124 Das ist immer zu denken vor dem Hintergrund der Konkurrenz mit anderen Staaten, die einen entsprechenden Druck zur Effektivierung erzeugte. Marx beschreibt im Kapital die „ursprüngliche Akkumulation“ als gewaltförmige Entstehung des Kapitalismus durch die Vertreibung der Bauern von den Ländereien, die Kolonialisierung einschließlich des Sklavenhandels usw. Die politische Herrschaft, der sich neu bildende Staat ist an dieser Form der Entwicklung selbstverständlich beteiligt. Marx schreibt: „Die verschiednen Momente der ursprünglichen Akkumulation verteilen sich nun, mehr oder minder in zeitlicher Reihenfolge, namentlich auf Spanien, Portugal, Holland, Frankreich und England. In England werden sie Ende des 17. Jahrhunderts systematisch zusammengefasst im Kolonialsystem, Staatsschuldensystem, modernen Steuersystem und Protektionssystem. Diese Methoden beruhn zum Teil auf brutalster Gewalt, z.B. das Kolonialsystem. Alle aber benutzen die Staatsmacht, die konzentrierte und organisierte Gewalt der Gesellschaft, um den Verwandlungsprozess der feudalen in die kapitalistische Produktionsweise treibhausmäßig zu fördern und die Übergänge abzukürzen. Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht. Sie selbst ist eine ökonomische Potenz.“125 Der Markt und der ökonomische Konkurrenzmechanismus folgen der territorialen Konkurrenz und werden von den Territorialherren systematisch oder eben „treibhausmäßig“ gefördert, wenn es sein musste mit Gewalt. Dem stehen Vorstellungen gegenüber, die einen gleichsam „natürlichen“ Übergang zur marktförmigen Konkurrenz annehmen, d.h. die Form des Wirtschaftens als anthropologische Konstante oder als natürliche Form der Ökonomie begreifen. Ellen Meiksin Wood hat darauf aufmerksam gemacht, dass es eine Fehlvorstellung ist, wenn man annimmt, dass sich die marktförmige Konkurrenz gleichsam natürlich entwickelt, wenn die feudalen Schranken, also insbesondere die Zunftordnung und die Bindung an die Scholle beseitigt werden. Die kapitalistische Logik ist keineswegs als anthropologische Konstante zu denken, die nur 124 Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, MEW Bd. 20, S. 97. 125 Marx, Das Kapital Bd. I, MEW 23, S. 779. 195 institutionell freigesetzt werden muss. Sie nennt diese „herrschende“ Erzählung das „Kommerzialisierungsmodell“126, dessen Argumentation sie folgendermaßen wiedergibt: „mit oder ohne eine natürliche Neigung ‘miteinander zu handeln und Dinge untereinander zu tauschen’ (so Adam Smiths berühmte Formulierung), haben auf rationale Weise eigennützige Individuen sich seit dem Anbeginn der Geschichte an Tauschakten beteiligt.“127 Die Natur des Menschen, zu tauschen und sich zu bereichern, sei in dieser Konzeption durch den Feudalismus in gewisser Weise unterbrochen worden, und habe sich, als dessen Fesseln gesprengt wurden, voll entfalten können und so die konkurrenzgesteuerte Marktwirtschaft oder die kapitalistische Ökonomie hervorgebracht. So sei argumentiert worden, „dass der Kapitalismus das Ergebnis eines stufenweise verlaufenden Prozesses sei, indem jede Stufe, als das Zentrum der kommerziellen Schwerkraft sich von einer europäischen Region auf eine andere verlagerten – von den italienischen Stadtstaaten zu den Niederlanden oder den Städten der Hanse und von der spanischen kolonialen Expansion zu anderen Imperialismen, was im englischen Empire seinen Höhepunkt erreichte –, auf den Errungenschaften des vorhergehenden aufbaute und nicht nur die Reichweite des europäischen Handels ausweitete, sondern auch dessen Instrumente verfeinerte, wie etwa die Techniken der doppelten Buchführung in Italien oder verschiedene finanzielle Innovationen und Verbesserungen bei Produktionstechnologien, insbesondere in den Niederlanden, mit dem Höhepunkt der englischen industriellen Revolution.“128 Dieses „Kommerzialisierungsmodell“ hält Wood für grundsätzlich verfehlt, weil es voraussetze, dass die feudale Ökonomie den natürlichen Trieb des Menschen zu tauschen, zu handeln und sich zu bereichern, mit ihren Regularien behindert und unterbrochen habe. Diese Annahme sei aber irrig, wie Polanyi gezeigt habe. Karl Polanyi hatte die Naturalisierung der kapitalistischen Ökonomie als fundamentalen Irrtum des Liberalismus charakterisiert. Er schreibt: „Als die Gesetze, die die Marktwirtschaft beherrschen, langsam erkannt wurden, führte man sie direkt auf Gesetze der Natur zurück. Das Gesetz der abnehmenden Erträge war ein Gesetz der Pflanzenphysiologie. Das Bevölkerungsgesetz von Malthus widerspiegelte das Verhältnis zwischen der Fruchtbarkeit des Menschen und der des Bodens.“129 Polanyi zeigt vor allem, dass es keineswegs eine natürliche Neigung 126 127 128 129 196 Wood, Der Ursprung des Kapitalismus, S. 55. Wood, Der Ursprung des Kapitalismus, S. 21. Wood, Der Ursprung des Kapitalismus, S. 30. Polanyi, The Great Transformation, S. 175. des Menschen ist, sich durch den Tausch oder über den Markt zu bereichern. Der Markt und die Konkurrenz, so seine zentrale These, seien den Menschen im Übergang zum Kapitalismus mühsam aufgenötigt worden und deren Logik folgt keineswegs seinen natürlichen Neigungen. Er zeigt, dass Menschen „im Naturzustand“ zwar Tausch betrieben haben, aber keineswegs, um sich zu bereichern, sondern allenfalls um ihr Ansehen, ihren Status zu vergrößern, was nur funktioniert, wenn man eher mehr gibt als zurückerhält – kurz: Der Tausch folgte der umgekehrten Logik, wie sie in kapitalistischen Marktgesellschaften vorausgesetzt wird. Tausch war eher Gabe130 als Handel. Polanyi konstatiert: „Um noch klarer zu machen, was wir meinen: selbstverständlich könnte keine Gesellschaft längere Zeit ohne irgendeine Form von Volkswirtschaft existieren, aber vor unserer Zeit hat es noch niemals eine Wirtschaftsform gegeben, die, und sei es auch nur im Prinzip, vom Markt gelenkt worden wäre. Trotz der im 19. Jahrhundert hartnäckig verbreiteten akademischen Beschwörungsformeln haben Gewinn und Profit beim Güteraustausch in der menschlichen Wirtschaftstätigkeit vorher nie eine wichtige Rolle gespielt. Obwohl die Einrichtung des Marktes seit der späten Steinzeit ziemlich verbreitet war, spielte er im wirtschaftlichen Geschehen eine Nebenrolle. Wir haben guten Grund mit allem Nachdruck auf dieser Feststellung zu beharren. Kein geringerer Denker als Adam Smith behauptete, die Arbeitsteilung in der Gesellschaft beruhe auf der Existenz von Märkten, oder, wie er es formulierte, auf der Neigung des Menschen zum Tausch, zum Handeln und zum Umtausch einer Sache gegen eine andere. Diese Wendung sollte später zum Begriff des homo oeconomicus führen. Rückblickend kann man feststellen, dass kein Missverständnis der Vergangenheit sich als so prophetisch für die Zukunft erwiesen hat. Denn während bis zu dieser Zeit Adam Smith’ diese Tendenz im Leben keiner bekannten Gesellschaft in größerem Maße hervorgetreten war und bestenfalls eine untergeordnete Rolle im Wirtschaftsleben spielte, herrschte 100 Jahre später ein industrielles System über den Großteil der Erde, das praktisch und theoretisch implizierte, dass die Menschen in allen ihren wirtschaftlichen, wenn nicht gar in ihren politischen, intellektuellen und geistigen Aktivitäten von dieser einen besonderen Tendenz bestimmt wurden.“131 Das Gegenmodell ist für Polanyi die Einbettung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten in die Sozialbeziehungen: „Die neuere historische und anthropologische Forschung brachte die große Erkenntnis, dass die wirtschaftliche Tätigkeit des Menschen in der Regel in seine Sozialbeziehungen eingebettet ist. Sein Tun gilt nicht der Sicherung seines individuellen Interesses an materiellem Besitz, sondern der Sicherung seines gesellschaftlichen Ranges, seiner gesellschaftlichen 130 Vgl. Mauss, Die Gabe, S. 13 ff. 131 Polanyi, The Great Transformation, S. 71 f. 197 Ansprüche und seiner gesellschaftlichen Wertvorstellungen.“132 Und so folgert er, dass die markt- und konkurrenzförmige Organisation der Ökonomie von der politischen Herrschaft angestrebt, eingeführt und im Zweifel gewaltsam durchgesetzt wurde. Polanyi resümiert seine Ergebnisse folgendermaßen: „Die eigentliche Kritik an der Marktgesellschaft besteht nicht darin, dass sie auf ökonomischen Prinzipien beruhte – in gewissem Sinne muss jegliche Gesellschaft darauf beruhen –, sondern dass ihre Wirtschaft auf dem Eigeninteresse beruhte. Eine solche Organisation des Wirtschaftslebens ist völlig unnatürlich und im rein empirischen Sinne außergewöhnlich. Die Denker des 19. Jahrhunderts meinten, dass es dem Menschen bei seiner wirtschaftlichen Tätigkeit um den Profit ging, dass ihn seine materialistischen Neigungen dazu veranlassen würden, die geringere den größeren Anstrengungen vorzuziehen und für seine Arbeit Bezahlung zu erwarten; … wie wir nun wissen, war in Wirklichkeit das Verhalten des Menschen sowohl in seinem Naturzustand als auch im Verlauf seiner ganzen Geschichte genau das Gegenteil von dem, was in dieser Ansicht zum Ausdruck kommt. Das Wort von Frank H. Knight, ‘wonach kein spezifischer menschlicher Beweggrund ökonomischer Natur ist’, gilt nicht nur für das gesellschaftliche Leben im Allgemeinen, sondern für das Wirtschaftsleben selbst. Die Neigung zum Tauschhandel, auf die sich Adam Smith in seinem Bild vom Naturmenschen so vertrauensvoll stützte, ist keineswegs ein allgemeiner Wesenszug des Menschen in seiner wirtschaftlichen Aktivität, sondern ein äußerst seltener. Nicht nur dass die Erkenntnisse der modernen Anthropologie diese rationalistischen Konstruktionen Lügen strafen, sondern auch die Geschichte des Handels und der Märkte ist völlig anders verlaufen, als die harmonistischen Lehren der Soziologie des 19. Jahrhunderts angenommen hatten. Die Wirtschaftsgeschichte zeigt, dass das Entstehen nationaler Märkte keineswegs die Folge der langsamen und spontanen Emanzipation des ökonomischen Bereichs von staatlicher Kontrolle war, der Markt war, im Gegenteil, das Resultat einer bewussten und oft gewaltsamen Intervention von Seiten der Regierung, die der Gesellschaft die Marktorganisation aus nicht ökonomischen Gründen aufzwang.“133 Der Staat förderte systematisch die Entwicklung der „eigenen“ Ökonomie durch Maßnahmen, die als Ära des Merkantilismus in die Geschichte eingegangen sind. Theoretisch stand zunächst die Versorgung mit und die Kontrolle des Edelmetalls, also der Geldreserven, im Vordergrund merkantilistischer Theorie. Der Wohlstand eines Landes, so die Vorstellung, richtet sich nach der Größe der vorhandenen Bargeldreserven. Mit dem Übergang zum 17. Jahrhundert wurde die Theorie erweitert und stellte nun die positive Leistungsbilanz des Staates ins Zentrum staatlicher Politik, d.h. der Export sollte den Import überschreiten. Um dieses Ziel zu erreichen, wird eine Wirtschaftspolitik verfolgt, die wesentlich 132 Polanyi, The Great Transformation, S. 75. 133 Polanyi, The Great Transformation, S. 330 f. 198 durch folgende Elemente gekennzeichnet ist: Protektionismus einerseits und die staatliche Steuerung und Regulierung der Ökonomie bis hin zur Gründung neuer Manufakturen und Industrien andererseits. Der Protektionismus begleitete die kapitalistische Entwicklung bis in die Gegenwart, die keineswegs eine Geschichte des fortschreitenden Freihandels ist, und nahm dabei nur unterschiedliche Formen an. Frankreich war das erste und führende Land, das eine merkantilistische Wirtschaftspolitik verfolgte. So wurde schon 1539 der Import von Wollprodukten aus Spanien und Flandern verboten, während beinahe gleichzeitig der Export von Gold beschränkt wurde. Weitere Regulierungen der Ökonomie, die darauf abzielten, die Exporte zu erhöhen und Importe zu beschränken, charakterisieren die Politik Frankreichs im 16. Jahrhundert, die eng mit dem Namen des damaligen Finanzministers (1661–1683) Jean-Baptiste Colbert verbunden ist. Dessen Politik erstreckte sich auf die Bevölkerungs- oder Migrationspolitik. Ausländische Spezialisten wurden angeworben, während die Abwanderung von Fachkräften untersagt wurde. Um die Umbildung der Wirtschaft zu beschleunigen, wurden staatliche Manufakturbetriebe eingerichtet. So konstatiert Gömmel: „Die staatliche Unternehmertätigkeit als Mittel zur Ausweitung der Produktion darf nicht übersehen werden. In diesem Sinne betätigten sich die Landesherren als Unternehmer und gründeten Manufakturen – freilich gegen den Widerstand der Zünfte.“134 Die Arbeitskräfte in den Manufakturen rekrutierten sich zu einigen Zeiten direkt aus Straftätern, Bettlern, Vagabunden, Landstreichern. Die Arbeitskräfte kamen aus den Waisen-, Arbeits-, Zucht- und Irrenhäusern, wurden also durch staatliche Gewalt dazu gepresst, in der Manufaktur zu arbeiten. Marx beschreibt die Arbeitsbedingungen in einer englischen Zündhölzermanufaktur im Jahre 1833 an einer Stelle so: „Dante wird in dieser Manufaktur seine grausamsten Höllenphantasien übertroffen finden.“135 Große Bedeutung hatte von Anfang und behielt die Manufaktur im Bereich der Tuchherstellung und -verarbeitung.136 Unabhängig von der Frage, ob durch die Manufaktur die erhoffte Steigerung der Produktivität und Effizienz erzielt wurde, waren Verlagssystem und Manufaktur zentrale Bausteine zur Überwindung der zünftischen Ordnung. Die Manufaktur steht in jeder Beziehung außerhalb der Zunftregeln: Für sie gelten die Produk134 Gömmel, Die Entwicklung der Wirtschaft im Zeitalter des Merkantilismus 1620– 1800, S. 50. 135 Marx, Das Kapital Bd. I, MEW 23, S. 261. 136 Vierhaus, Deutschland im Zeitalter des Absolutismus, S. 36 ff. 199 tionsbeschränkungen und Regulierungen der Betriebsgröße selbstverständlich nicht. Es sind nicht nur ausgebildete Gesellen oder Lehrlinge, die in der Manufaktur schuften, sondern auch viele Angelernte und Kinder. Die Manufaktur übte nicht nur eine neue Disziplin der Arbeitsorganisation ein, sie war auch ein Schritt auf dem Weg zur industriellen Arbeitsteilung. Kurz: Die Manufaktur war ein Element, mit dem die Handwerksordnung überwunden wurde und neue Formen der Arbeitsteilung und Produktion entwickelt wurden, die schließlich in die „große Industrie“ münden konnten.137 Die Gründung der Manufakturen hatte oftmals einen direkten Bezug zu militärischen Notwendigkeiten. Sie dienten der Versorgung der Armee, womit das Ziel verfolgt wurde, die militärische Schlagkraft von auswärtigen Lieferungen unabhängig zu machen. In Preußen gründete Friedrich Wilhelm I., der „Soldatenkönig“, 1722 die „Königlich preußische Gewehrfabrik“, eine Manufaktur, welche die preußische Armee mit Waffen unterschiedlicher Art versorgte. Schon 1713 war das Königliche Lagerhaus in Berlin entstanden, das als dezentralisierte Manufaktur die preußische Armee mit Uniformen und anderen Textilien versorgte. Die Mannschaftsuniformen wurden dezentral, aus einheimischer Wollproduktion gefertigt, während die feinen Offiziersuniformen mit importierter spanischer Wolle zentral im Lagerhaus gefertigt wurden. Das Lagerhaus gilt als bedeutendes Beispiel für die Förderung der zivilen Wirtschaft im Dienste der Armee, was im Ergebnis die alte feudale Wirtschaftsweise überwand. Die militärische Eigenständigkeit eroberte das ökonomische Denken, so dass die wirtschaftliche Unabhängigkeit, Autarkie, zum Ziel merkantilistischer Politik wurde. Schließlich wurde die Politik des Staates zuständig und verantwortlich für alle Untertanen, die nun nicht mehr Gott gegebene Glieder der Gesellschaft an ihrem Gott gegebenen Platz waren, sondern Bürger und freie Lohnabhängige wurden, die dem neuen Staat Untertan waren, aber nicht mehr an Scholle und Hof und damit nicht mehr an Grundbesitzer, Fürsten und Fürstchen, gebunden waren. Politik wurde damit Bevölkerungspolitik oder Sozialpolitik, es entstand die „Polizey“ als politische Maxime, was wirtschaftpolitische Konsequenzen hatte. Die Versorgung der Bevölkerung musste halbwegs sichergestellt werden, was u.a. durch Marktregeln und wirtschaftspolitische Interventionen geschah. So berichtet Braudel: „Diese allgegenwärtige Obrigkeit greift bei jeder Ordnungswidrigkeit hart durch, erlässt Vorschriften und überwacht genauestens die Preise. Verlangt in Sizilien z.B. ein Anbieter nur einen ‘grano’ mehr als festgesetzt, muss 137 Adler, Geschichte des Sozialismus und Kommunismus von Plato bis zur Gegenwart, S. 202. 200 er mit Galeerenstrafe rechnen – so geschehen am 2. Juli 1611 in Palermo.“138 Auch zur Sicherung der Versorgung von Paris wurde den Kaufleuten Anfang des 17. Jahrhunderts der freie Handel untersagt. „Nach einer 1622 vom Chatelet erlassenen Polizeiverordnung dürfen sie im Umkreis von zehn Meilen keinen Weizen aufkaufen, bei Lebendvieh beträgt die Sperrzone (1635) sieben Meilen.“139 Foucault diskutiert diesen Wandel abstrakter als „Gouvernementalisierung der res publica“, die er dadurch charakterisiert, dass der Souverän mehr tut „als der Pastor im Verhältnis zu seinen Schäflein, als der Familienvater im Verhältnis zu seinen Kindern oder der Hirte im Verhältnis zu seiner Herde. Im Ganzen genommen verlangte man von ihm … einen Unterschied, eine Alterität im Verhältnis zum Pastorat. Und das ist die Regierung.“140 Der Staat wird allzuständig, was umgekehrt heißt, dass die Regierung für alles verantwortlich wird. Die „Polizey“ wird zur umfassenden Instanz, die für Sicherheit, Sozialfürsorge, Gesundheit, den Handel und selbst die Bildung zuständig wird. Foucault resümiert: „Die Polizei soll also im Grunde alle Formen der Koexistenz der Menschen untereinander steuern, und das soll ihr hauptsächlicher Gegenstand sein. Die Tatsache, dass sie zusammenleben, dass sie sich fortpflanzen, dass sie jeder für sich eine bestimmte Menge an Nahrung, Luft zum Atmen, zum Leben, zum Existieren brauchen; die Tatsache, dass sie arbeiten…, dass sie sich in einem Verkehrsraum befinden, um all diese Arten von Sozialität … soll die Polizei sich kümmern. Die Theoretiker des 18. Jahrhunderts werden es sagen: Die Polizei befasst sich im Grunde mit der Gesellschaft.“141 Polanyi bestätigt diese Überlegungen vor dem Hintergrund seiner oben vorgestellten Annahmen in folgender Weise: „In der Außenpolitik war die Etablierung der souveränen Macht ein Gebot der Stunde, und daher bemühte sich die merkantilistische Staatskunst um die Erfassung aller Mittel des gesamten nationalen Territoriums zum Zweck der außenpolitischen Machtentfaltung. Innenpolitisch war die Einigung der vom feudalen und städtischen Partikularismus zersplitterten Länder eine notwendige Begleiterscheinung dieser Bestrebung. Das wirtschaftliche Instrument der Einigung war das Kapital, d.h., aufgehäufte Privatgelder, die sich für die Entwicklung des Handels besonders gut eigneten. Die von der Wirtschaftspolitik der Zentralregierung zu Grunde liegenden Verwaltungsme- 138 139 140 141 Braudel, Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts – Der Handel, S. 21. Braudel, Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts – Der Handel, S. 31. Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, S. 344. Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, S. 469. 201 thoden wurden schließlich durch eine Ausdehnung des traditionellen städtischen Systems auf das größere Territorium des Staates geschaffen.“142 Es ergibt sich, dass die Änderungen in der Ökonomie, ob sie nun von der politischen Herrschaft ausgingen oder sich diese an ihnen beteiligte, ihrerseits Rückwirkungen auf die politische Organisation haben mussten. Weiter ist festzuhalten, dass die militärische Konkurrenz der Staaten in der frühen Neuzeit auch zu einer ökonomischen Konkurrenz der Staaten führte, die erstmals nach dem Mittelalter zu einer intentionalen und interventionistischen oder überhaupt zu einer staatlichen Wirtschaftspolitik führte. Die Staaten konkurrierten auch ökonomisch. Was ergibt sich daraus aber für die Konkurrenz der „Privaten“, der „Wirtschaft-Treibenden“, der Wirtschaftssubjekte in diesen neuen Staaten? Die Entwicklung der Produktivkräfte einschließlich der Kommunikationsund Verkehrswege ab dem 11. Jahrhundert, die Effektivierung der Produktion und die Rationalisierung des Denkens – das war unsere Ausgangsüberlegung – führte zu einer neuen „Nähe“ zwischen den Staaten und damit zu einer verschärften Konkurrenz, die in die von Elias diagnostizierte Zentralisierung mündete. Mit den verbesserten Verkehrsbedingungen gerieten auch die Wirtschaftssubjekte in eine neue Nähe und damit in eine Konkurrenzsituation, die im Mittelalter weitgehend ausgeschlossen war. Die Intensivierung der Tuchindustrie in Flandern – das hatten wir gesehen – führte zu einer Umstellung zunächst der landwirtschaftlichen, dann auch der manufakturellen und industriellen Produktion in England. Wird diese neue Konkurrenz nicht wieder aufgehoben, wenn die merkantilistische Politik einsetzt und auf Autarkie setzt? Zunächst ist ein Gegenargument aus der Grundkonzeption des Merkantilismus selbst zu entwickeln. Zwar sollten die Einfuhren reduziert, aber gleichzeitig die Ausfuhren gesteigert werden, was – natürlich – nur möglich ist, wenn Im- und Exporte auf den verschiedenen Seiten der Grenze nicht vollständig gestoppt werden. Die Konkurrenzsituation blieb auch in der merkantilistischen Phase in den Zeiten der sich neu konstituierenden absolutistischen Staaten eine – wenn auch nicht im heutigen Sinne – internationale. Noch der preußische Kurfürst Friedrich Wilhelm, der „große Kurfürst“ (1620–1688), war gezwungen, seinen Rüstungsbedarf aus dem Ausland zu decken. Schießpulver und Bronzekanonen importierte Preußen aus den Niederlanden, eiserne Kanonen dagegen aus Schweden. Die Gewehre wurden in Lüttich gefertigt, die Messer und Schwerter kamen aus Solingen, die Pistolen aus Suhl. 142 Polanyi, The Great Transformation, S. 99 f. 202 Wichtiger scheint aber, dass die politische Zentralisierung und die Herausbildung souveräner Nationalstaaten dazu führten, dass die Wirtschaft nun tatsächlich in dem Sinne national wurde, dass innerhalb der Staates erstens ein einheitliches Geldsystem geschaffen, Zölle und nichttarifäre Handelshemmnisse beseitigt wurden, d.h. einheitliche Standards und Regularien geschaffen wurden. Zweitens wurden die Verkehrs- und Kommunikationswege durch die merkantilistische Politik gezielt ausgebaut, teilweise aus militärischen Gründen, aber immer auch mit Vorteilen für den zivilen Verkehr. In Frankreich beispielsweise wurden 1664 von dem schon erwähnten Colbert die zwölf inneren Provinzen zu einer Zolleinheit, den cinq grosses fermes, zusammengeschlossen. Allerdings gelang es noch nicht, die Straßen- und Brückenzölle zu beseitigen. Colbert entzog dem Adel die Kompetenz für die Verkehrsinfrastruktur und entwickelte eine spezielle Verwaltung, aus der sich die „ponts et chaussées“ entwickelte. Der Straßen- und Kanalbau florierte. Gewichte und Maße wurden vereinheitlicht, was den Warenaustausch offensichtlich erheblich erleichterte. Und die Territorialherren nutzten den neuen einheitlichen Markt, um ihre unterschiedlichen Bedürfnisse oder Bedarfe möglichst günstig zu befriedigen und zu decken. Damit mussten die Produzenten in eine Konkurrenzsituation geraten. Der politische Herr organisierte den gemeinsamen Markt in seinem „außenpolitischen Interesse“, wie Polanyi es formuliert hat, und erzeugt dadurch gleichzeitig nach innen eine neuartige Konkurrenzsituation, in der sich der „Geist des Kapitalismus“ entfalten konnte und die den homo oeconomicus auf die Bühne der Geschichte holte, die aber gleichzeitig sein Gefängnis ist, aus dem er nicht entfliehen kann, ohne die konkurrenzförmige Organisation der Ökonomie aufzuheben. Kurz: Mit dem Merkantilismus wurde das geschaffen, was man heute in der Europäischen Union einen einheitlichen Binnenmarkt nennt, allerdings eben innerhalb der Grenzen der neuen Staaten. Mit diesen Maßnahmen erhielt die beginnende Konkurrenz zwischen den Werkstätten, Betrieben und Unternehmen, die sich mit den verbesserten Produktions- und Verkehrsbedingungen schon vorher selbstständig, aber langsam jenseits der feudalen Zunftordnung entwickelt hatte, eine neue Dynamik. Die Entwicklung des Kapitalismus wurde so „treibhausmäßig“ gefördert, auch wenn die agierenden Akteure keineswegs eine Vorstellung, einen Masterplan für die neue postfeudale Wirtschaftsordnung hatten. Ist aber erst einmal eine marktförmige Konkurrenzordnung etabliert, unterwirft sie sich alle Wirtschaftssubjekte. Die Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Ökonomie werden zu Zwangsgesetzen, denen sich die handelnden Subjekte nicht mehr entziehen können. Diese müssen nun anfangen, ihren Gewinn zu kalkulieren, kapitalistische Rechnungslegung zu betreiben, Kapital zu akkumulieren und ihre 203 Produktionsmethoden beständig zu erneuern, also Wachstum zu generieren, um insbesondere das vorgeschossene Kapital „angemessen“ zu verzinsen. Den Prozess muss man sich natürlich nicht als Bruch und plötzlichen Übergang vorstellen. Schon in unserer kurzen Betrachtung sind mehrere Jahrhunderte in den Blick geraten und Überreste der feudalen Lebensweise und Ökonomie hielten sich z.B. in Deutschland bis ins 20. Jahrhundert. 4. Ergebnisse: Konkurrenz der Staaten und die Entwicklung der Produktivkräfte Die Frage „Wo kommen die Kapitalisten ursprünglich her?“ musste im Ergebnis zu einer differenzierten Antwort führen. Der Kapitalismus erscheint als Fundstück der europäischen Geschichte, und nur der europäischen Geschichte, weil sich nur in Europa gesellschaftliche Konstellationen entwickelten, welche dieses sozio-ökonomische System hervorbringen konnte. Eine ökonomische Bestie, die – einmal frei gesetzt – alles Getier um sich herum verschlingt und sich gefräßig selbst reproduziert und dabei immer größer wird. Die Anfänge einer Auflösung der alten feudalen Gesellschaft fanden wir in den italienischen Städten der Renaissance. Hier entwickelte sich als erstes eine Handelsbourgeoisie mit einem Handelskaufmann, der nicht mehr selbst als Abenteurer mit den Waren die Märkte bereiste, sondern den Handel organisierte und damit rationalisierte. Diese Entwicklung war eingebettet in einen allgemeinen Rationalisierungsprozess, der mit der Renaissance verbunden war und die Technik ebenso umfasste wie die Religion, Philosophie und Staatstheorie im engeren Sinne und bis in die schönen Künste wirkte. Die Entwicklung wird durch Namen wie Machiavelli und Morus in der Theorie, Boccaccio in der Literatur und die vielen bildenden Künstler und Architekten der florentinischen Renaissance, von Botticelli über Leonardo da Vinci, Michelangelo bis Raffael markiert. Sombart bezeichnete diese Entwicklung schon als Frühkapitalismus, was man – Kofler folgend – skeptisch sehen muss, weil die neu entstandene Schicht wohlhabender, städtischer Bürger noch versucht, den Lebensstil des Adels zu imitieren, d.h. sich gleichsam die Distinktionsmerkmale des Adels anzueignen. Es fehlte die kapitalistische Dynamik, in der die Verwertung von Wert zum Selbstzweck bzw. ökonomisch gefordert wird. Die umfassende Rationalisierung, die das Handelskapital – von Italien ausgehend – in Europa organisierte, stieß eine Entwicklung an, die auf der einen Seite zu einer höheren Produktivität führte. Diese ihrerseits ermöglichte es, die auf dem Lande dominierende, weitergehend 204 autarke Subsistenzwirtschaft zu überwinden, was wiederum der Verbreitung der Waren- und Geldwirtschaft Vorschub leistete. Die Rationalisierung erfasste andererseits die Organisationsform der mittelalterlichen Herrschaft, die staatlichen Strukturen des späten Mittelalters. Das Besondere der europäischen Situation ist die Dezentralisierung politischer Herrschaft, unabhängig von der Frage, ob formal eine zentralisierte Oberhoheit durch König oder Kaiser existierte. Die dezentrale politische Herrschaft gerät nun, das heißt mit verbesserten Kommunikations-, Verkehrs- und Wirtschaftsbeziehungen, in eine neue Konkurrenzsituation, die im Ergebnis zu einer politischen Zentralisierung, d.h. zu einer Stärkung der staatlichen Zentralregierung führt, weil und soweit diese in der Lage ist, sich in den verschärften Konkurrenzbedingungen um territoriale Herrschaft durchzusetzen, was voraussetzt, dass sie sowohl die militärischen, ökonomischen, infrastrukturellen und organisatorischen Bedingungen schaffen kann, die der Zentralregierung einen Vorteil gegenüber konkurrierenden Akteuren verschafft. Die Konkurrenz um Herrschaftsbesitz wurde auf den verschiedenen gesellschaftlichen Feldern ausgetragen; sie zwang die politischen Machthaber nicht nur, ihre militärische Potenz zu vergrößern. Der Versuch, Vorteile in der militärischen Konkurrenz zu gewinnen, setzt einen ökonomischen „Unterbau“ voraus, also die Möglichkeit, entsprechende Ressourcen zur Ausrüstung, Ernährung usw. der neuen stehenden Heere sicherzustellen. Die Konkurrenz wurde zu einer ökonomischen Konkurrenz zwischen den Staaten, die alles daran setzen mussten, entsprechende Ressourcen bereitzustellen. Dabei gerieten diejenigen ins Hintertreffen, die – wie Spanien – darauf verzichteten, die eigene Ökonomie zu entwickeln, und stattdessen (nur) auf die Ausplünderung fremder Länder – insbesondere Südamerika – setzten. Und es gerieten diejenigen ins Hintertreffen, denen es wie Deutschland und Italien nicht gelang, eine starke Zentralregierung durchzusetzen, die wiederum die ökonomischen Potenziale des Landes systematisch entwickelte. Gewinner waren vor allem Frankreich und England, deren Konflikt untereinander und zusätzlich mit Spanien sie dazu veranlasste, die kapitalistische Entwicklung treibhausmäßig zu fördern, d.h. über eine merkantilistische Politik die Voraussetzungen für die große Industrien mit freien Lohnarbeitern und einem ausreichenden Kapitalstock und letztlich für die kapitalistische Konkurrenzwirtschaft zu schaffen. Diese Entwicklungen wurden theoretisch begleitet, was sie ihrerseits verstärkt. In diesen Kontext gehört die Reformation, die an Spanien vorbeiging und in Deutschland besondere Formen annahm, andere als in Frankreich Holland oder England – hier gewinnt Webers protestantische Ethik eine eigenständige Bedeutung als religiöse Absicherung und Verstärkung ursprünglicher Akkumulation durch Askese. 205 Ebenso bedeutend ist natürlich der Wandel des Staatsverständnisses und der Staatstheorie. Es entwickelte sich die Lehre von der Staatssouveränität, für die Jean Bodin (1529–1596), Hugo Grotius (1583–1645) oder Samuel von Pufendorf (1632–1694) in die Geschichte eingegangen sind. Thomas Hobbes (1588–1679) lieferte mit seinem Leviathan die theoretische Begründung für die absolute Monarchie, die er mit seinem rationalistischen Ansatz und der im Ursprung demokratischen Vertragstheorie gleichzeitig überschritt. Insbesondere in England entwickelte sich mit dem philosophischen Sensualismus und ethischen Utilitarismus eine intellektuelle Variante der puritanischen-jenseitigen Rechtfertigung der Akkumulation von Kapital, die ergänzt wurde durch moderne ökonomische Theorien, wie etwa Richard Cantillons Theorie des Geldkreislaufes, auf den die ökonomischen Arbeiten von Mirabeau, Quesnay, Say, Malthus bis zu Ricardo und Adam Smith folgten. Die in den Anfängen der Neuzeit ausgetragene Konkurrenz um Herrschaftsbesitz führte nicht nur zu einer Zentralisierung, sondern auch zu geänderten staatlichen Strukturen in dem Sinne, dass der Grundstein für die Organisationen des bürgerlichen Staates nach der französischen Revolution, die noch einmal ein Sprung nach vorn, wenn nicht einen Bruch markiert, gelegt wurde. 206 D. Von der persönlichen Gefolgschaft zur institutionalen Herrschaft I. Exkurs: Staat oder was? Die österreichische Akademie der Wissenschaften veranstaltete im Jahre 2007 ein Symposium mit dem Titel „Staat und Staatlichkeit im europäischen Frühmittelalter, 500–1050“. Natürlich nahmen an dieser Tagung auch ausländische Wissenschaftler teil, deshalb wurde der Titel übersetzt und lautete dann „State in Early Medieval Europe, 500–1050“ und „L’état en Occident au Haut Moyen Âge, 500–1050“. Im Englischen und Französischen wird aus dem wichtig daherkommenden Titel „Staat und Staatlichkeit“ einfach „State“ und „L’état“ – die Staatlichkeit fehlt. Die Einladung zu der Tagung erklärt immerhin, warum die Mediävisten zwischen Staat und Staatlichkeit unterscheiden: „Viele deutsche Mittelalterforscher lehnen es ab, für das frühere Mittelalter überhaupt von einem ‘Staat’ zu sprechen und vergleichen die politischen Zustände und Ordnungen im frühen Mittelalter mit den vorstaatlichen Gesellschaften der Ethnologie, während die west- und südeuropäische Geschichtswissenschaft weiterhin zumeist zwanglos, oft aber vielleicht auch unreflektiert, von ‘state’, ‘état’, ‘stato’ oder ‘estado’ spricht. Um die Entscheidung zwischen ‘Staat’ oder ‘Nicht-Staat’ zu vermeiden, hat sich in der deutschen Mediävistik der differenzierbare Begriff ‘Staatlichkeit’ eingebürgert.“ Staatlichkeit wird zum Oberbegriff für Nicht-Staat und Staat. In der Tat ist zu fragen, ob sich der Staat erst in der Moderne entwickelt hat oder auch schon vorangegangene Organisationsformen von Herrschaft als Staat zu bezeichnen sind. Wenn man die moderne staatliche Herrschaft von vormodernen Herrschaftsformen abgrenzen will, also von den Herrschaftsformen der Antike oder des Feudalismus, stellt sich die Frage nach dem Gebrauch des Begriffes „Staat“: Lässt sich für die Antike und den Feudalismus sinnvollerweise von einem Staat sprechen oder ist der Staat ein Phänomen der Moderne oder präzise der bürgerlich kapitalistischen Gesellschaft? Wenn ja, wie sind politische Formen wie der römische Senat und die Konsuln oder der mittelalterliche Kaisertum begrifflich zu fassen? Ein Teil der Mediävistik im deutschen Sprachgebrauch verwendet für das Mittelalter den Begriff Staatlichkeit und nicht Staat, weil es sich gleichsam um vorstaatliche Formen der Herrschaftsorganisation handele. Das „Germanische Königreich“, wird zugespitzt vertreten, sei in gewisser Weise die komplette Antithese zum modernen Staat gewesen.1 Andererseits gibt es in anderen Sprachen der Gegenwart keinen der „Staatlichkeit“ entsprechenden Begriff. Wenn man den Begriff Staat im Französischen (Etat) oder Englischen (State) vermeiden will, bleibt nur der Rückgriff auf Herrschaft oder Königreich, die aber keine Differenz zum Staat beschreiben, also nicht etwas Anderes sind. Es lässt sich eine Begriffsstrategie wählen, die die Bezeichnung „Staat“ dem modernen, bürgerlich, kapitalistischen Staat vorbehält. Der Staat erscheint als spezifische Organisationsform bürgerlicher Herrschaft, während für andere Gesellschaftsformationen andere Begriffe zu wählen sind, etwa für das republikanische Rom die „Res Publica“ oder für das Mittelalter das „germanische Königreich“. Es ist dann sinnlos, über die Spezifika des bürgerlichen Staates in Abgrenzung zu anderen zu diskutieren. Der Staat würde zum Spezifikum der bürgerlichen Gesellschaft. Eine solche Verwendung der Begriffe widerspricht der Intuition, was sich zeigt, wenn man die unterschiedlichen Staaten der Moderne betrachtet. Parallel zur bürgerlich kapitalistischen Gesellschaft bestanden im 20. Jahrhundert die sich selbst als „Realer Sozialismus“ bezeichnenden Gesellschaftsformationen. Diese waren sicher staatlich organisiert, was es ausschließt, Staat nur als Organisationsform der Herrschaft in bürgerlich kapitalistischen Gesellschaften zu begreifen. Nicht sinnvoll scheint es, die „realsozialistischen“ Gesellschaften schlicht der bürgerlich kapitalistischen Gesellschaft zu subsumieren, womit „der Staat“ wiederum nur ein Phänomen der bürgerlichen Gesellschaft wäre. Auch aus einer kritischen Position scheint es unangebracht, die „realsozialistischen Gesellschaften“ etwa als Staatskapitalismus zu bezeichnen und damit als besondere Form kapitalistischer Gesellschaften zu begreifen, weil essenzielle Merkmale der kapitalistischen Ökonomie fehlen, insbesondere die durch Konkurrenz vermittelte Notwendigkeit der Verwertung von Wert und der Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter. Die auf der Konkurrenz basierende „Gesetzmäßigkeit“ bürgerlicher Ökonomie galt in den „realsozialistischen“ Staaten nicht. Trotzdem waren sie staatlich organisiert, auch wenn sich die „realsozialistischen Staaten“ von den Staaten der bürgerlichen Gesellschaft unterschieden, weil die Trennung von politischer und ökonomischer Herrschaft hier nicht mehr bestand. Kurz: Es scheint sinnvoll zu sein, den Staatsbegriff allgemein auf politische Organisati- 1 208 Strayer, On the Medieval Origins of the Modern State, S. 13. onsformen anzuwenden, nicht nur auf die Organisation der bürgerlich kapitalistischen Gesellschaft. Die Diskussion um die richtige Bezeichnung der gesellschaftlichen oder politischen Organisation vergangener Gesellschaften folgt unübersehbar Modetrends. Während ältere neuzeitliche Darstellungen unproblematisch ebenso vom griechischen und römischen wie vom mittelalterlichen Staat sprechen, bevorzugen postmoderne Autoren die Begriffe Polis und Reich für die historischen Organisationsformen der Herrschaft. So heißt der Titel des berühmten Werkes von Theodor Mommsen von 1874 ganz selbstverständlich „Römisches Staatsrecht“ und ebenso wird der Begriff des Staates für das antike Athen und Sparta verwendet.2 Klaus Roth analysiert in seiner Genealogie des Staates aus dem Jahre 2011 dagegen Polis und Reich als Vorläufer des Staates.3 Die gleiche Begriffswahl verwendet Rainer Rothermund, der den Begriff des Staates nur auf bürgerliche Organisationsformen anwendet und mit Blick auf historische Organisationsformen der Herrschaft ebenfalls von Polis und Reich spricht.4 Die griechische Polis will Roth nicht als Staat bezeichnen, „weil in ihr die entscheidenden Wesensmerkmale der Form Staat (Souveränität nach innen und außen, Trennung von Kirche und Staat sowie von Gesellschaft und Staat, Konzentration und Verselbstständigung der politischen Entscheidungsgewalt, stehendes Heer und Bürokratie) fehlten.“5 Roth liefert hier immerhin eine Auflistung der „Wesensmerkmale“, die offenbar kumulativ vorhanden sein müssen, um von einem Staat zu sprechen. Übernimmt man diese Begriffsbildung, entstehen auch für zeitgenössische Gebilde erhebliche Zweifel. Sind eigentlich die Mitgliedsstaaten der EU noch souverän oder durch die vertragliche Bindung in ihrer Souveränität eingeschränkt? Die „Eurokrise“ der Jahre 2011 ff. führte deutlich vor Augen, dass die gemeinsame Währung auch die Souveränität nach innen erheblich einschränkt. Griechenland und Italien wurden „Expertenregierungen“ gleichsam verordnet. Die Trennung von Kirche und Staat als „Wesensmerkmal“ schränkt zeitlich die Dimension, in der von Staaten gesprochen werden kann, erheblich ein. Aber wie steht es gegenwärtig mit dem Iran unter dem „Mullah-Regime“ – hat er seit den 1970er Jahren seinen Staatscharakter eingebüßt? Was ist mit dem jüdischen Staat Israel – war das niemals ein Staat, weil Staat und Religion 2 3 4 5 Weber, Aufstieg und Größe des antiken Stadtstaates, S. 45; Bayer, Griechische Geschichte, S. 90. Roth, Genealogie des Staates, passim. Rothermund, Staat und Politik, passim. Roth, Genealogie des Staates, S. 77 f. 209 nicht getrennt sind? Und wie sieht es mit dem Heer als Voraussetzung für den Staatscharakter aus? Keine Staaten wären, weil sie das Heer abgeschafft haben: Andorra, Costa Rica, Grenada, Haiti, Island, Liechtenstein, Mauritius, San Marino und Samoa und weitere Pazifikstaaten – ein kaum haltbares Ergebnis. Die Verselbstständigung der politischen Gewalt und damit die Trennung von Staat und Gesellschaft sind allerdings neuere Erscheinungen – aber gerade darum geht es, um die Besonderheiten moderner, bürgerlicher Staaten gegenüber anderen Staatsgebilden – dazu braucht man Vergleichbarkeit. Der Zeitgeist verkündet das Ende der großen Erzählungen und die große Erzählung vom Staat verschwindet aus der Geschichte. Diese wird zerschlagen in einzelne Episoden, die Geschichten von Polis, Reich und Staat, die alle nicht mehr vergleichbar sind und weder die Beobachtung von Entwicklung oder Verfall zulassen noch einen Vergleich der Institutionen und ein Lernen aus der Geschichte, was ja mindestens eine Vergleichbarkeit voraussetzt. Das postmoderne Zerstreuen des Staatsbegriffs in die Geschichte unterschiedlicher Organisationsformen erleichtert dann auch die Klassifizierung der Europäischen Union: man muss nicht erörtern, ob die EU Staatsqualität hat, sie ist eben etwas Drittes, Neues neben völkerrechtlichen Institutionen und Staaten – von der Epoche der Nationalstaaten führt die Geschichte dann in diejenige der Herrschaftsverbände, für die erst zu klären ist, inwieweit die alten Maßstäbe von Demokratie und der rule of law gelten können. Völlig verflüchtigt hat sich der Begriff des Staates schließlich in der Systemtheorie Luhmannscher Prägung, an seine Stelle treten unterschiedliche administrative und politische Systeme, die – man weiß nicht genau wie – miteinander kommunizieren – oder eben auch nicht. Normative Anforderungen werden dann völlig irrelevant – das politische System legitimiert sich gleichsam hegelianisch, weil es wirklich ist, ist es vernünftig. Die exklusive Verwendung des Staatsbegriffs auf den Staat der Moderne oder noch enger den Staat der bürgerlich kapitalistischen „westlichen“ Gesellschaften überzeugt schließlich auch deshalb nicht, weil dann – und die Schwierigkeit tauchte in diesem Text schon auf – andere Oberbegriffe für die politischen Institutionen vergangener Epochen und Gesellschaften gefunden werden müssen, um zu bestimmen, wovon überhaupt die Rede ist, also Begriffe wie politische Organisationsform oder Herrschaftsorganisation. Die Bezeichnung Herrschaftsorganisation oder -verband hat das zusätzliche Problem, dass ein Begriff für die Organisation einer Gesellschaft, die nicht auf Herrschaft angelegt ist, fehlen würde. Da empfiehlt es sich, beim Staat als Oberbegriff zu bleiben, um die spezifischen Formen und Ausprägungen zu untersuchen, in der sich die Staaten – nicht nur historisch, sondern auch die zeitgenössischen – in der Tat stark unterscheiden. 210 Durchaus eingebürgert ist für das antike Athen, Sparta und frühe Rom der Begriff der Stadtstaaten. Puristen halten diese Begriffsbildung aber ebenfalls für unglücklich und wollen lieben den Begriff Stadtrepublik an Stelle des Stadtstaates6 verwenden. „Der Staat“, die berühmte Schrift Platons, heißt im Original „Politeia“, was sich offenbar auch mit Politik übersetzen lässt und gleichzeitig die Polis, also den Stadtstaat ebenso im Wortstamm hat wie die frühmoderne Polizey, die nicht nur für die Sicherheit zuständig war wie die heutige Polizei, sondern umfassender für die Wohlfahrt des Staates. Aristoteles wird die Schrift „Athēnaion politeia“ zugeschrieben, was mit der „Staat der Athener“ übersetzt wurde, während seine „Politeia“ mit Politik und nicht – wie bei Platon – mit Staat übersetzt wurde. Ciceros berühmtes Werk „Über den Staat“ heißt im Lateinischen „De re publica“, also wörtlich übersetzt „Über die öffentlichen Angelegenheiten“, wobei der lateinische Ausdruck Pate stand für die Staatsform Republik. In einigen Übersetzungen heißt die Überschrift „Vom Gemeinwesen“. Im Text wird aus der „civitas“ der Staat, was aber nicht durchgehalten wird und werden kann, so dass sich gelegentlich auch die Bürgerschaft oder die Bürger und bürgerschaftlich in die Übersetzung von civitas einschleichen. Inhaltlich behandelt Cicero ebenso wie Aristoteles u.a. das, was heute als Staatsform bezeichnet würde. Bei Aristoteles heißt es in der Übersetzung der Nikomachischen Ethik von 1909: „Es gibt drei Arten der Staatsverfassung, und ebenso groß ist die Zahl der Abarten, d.h. der Entstellungen, die sie erfahren. Formen der Staatsverfassung sind Monarchie und Aristokratie; eine dritte ist die auf dem Zensus beruhende, die passend als die timokratische bezeichnet werden darf: die meisten sind gewohnt, sie einfach als den Freistaat zu benennen. Unter diesen Formen ist die Monarchie die am meisten geschätzte, die Timokratie die geringwertigste.“ 7 In einer (relativ) neueren Übersetzung tritt an die Stelle der Staatsverfassung die „Polisverfassung“ und der „Freistaat“ wird zur „Politie (Verfassungsstaat)“.8 Diese Übersetzung bemüht sich geradezu verkrampft, den Staatsbegriff zu vermeiden, was aber nicht so richtig gelingt, so dass der Übersetzer sich bemüßigt fühlt, den Verfassungs-Staat in Klammern anzufügen. 6 7 8 Reinhard, Geschichte des modernen Staates, S. 19. Aristoteles, Nikomachische Ethik (1909), S. 183. Die Übersetzung lautet vollständig: „Es gibt drei Arten von Polisverfassungen und eine gleiche Anzahl von Abarten, man kann auch sagen Zerstörungen (der Grundform). Die Grundformen sind: das Königtum, die Aristokratie und an dritter Stelle die auf der Einstufung nach dem Vermögen beruhende, für die der Name Timokratie angebracht erscheint, obwohl die meisten sie einfach als Politie (Verfassungsstaat) zu bezeichnen pflegen.“ (Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch VIII, 12, S. 230). 211 Auch wenn der Begriff polis und politeia mehrdeutig ist, scheint es doch ziemlich offensichtlich, dass in der antiken „Philosophie“ ein Begriff des Staates und der Staatsformen entwickelt wurde. Monarchie, Aristokratie und Demokratie lassen sich allgemeiner als Herrschaftsformen bezeichnen, aber sie beziehen sich auf die spezifisch politische, d.h. allgemeine Herrschaft, die Aristoteles dem Begriff Πολίτευμα (Politeuma) subsumiert, d.h. der Staatsverfassung – im Unterschied etwa zur begrenzten Herrschaft des Familienvaters. Cicero unterscheidet – wie Aristoteles – drei Formen des Staates, nämlich Monarchie, Aristokratie, Demokratie. Der Staat erfordere ein „vernünftiges Planen“, das „entweder einem zu übertragen ist oder einigen Auserwählten (delectis) oder der Menge oder alle müssen es übernehmen. Wenn deshalb die Vollmacht aller Dinge bei einem ist, nennen wir jenen einen König und den Zustand des Gemeinwesens (statum rei publicae – hier ist der Staat im statum schon angelegt A.F.) Königtum. Wenn sie aber bei Auserwählten ist, wird jener Staat, sagt man, nach Willen der Optimaten gelenkt. Das aber ist ein Volksstaat (civitas popularis9) – denn so heißt man ihn –, in dem alles beim Volke ist.“10 Zusammenfassend spricht Cicero mit Blick auf die drei Staatsformen von „genera rerum publicarum“11. Das heißt aber nichts anderes, als dass die Abstraktion, die wir mit dem Begriff Staat leisten, in den „re publica“ ebenfalls vorgenommen worden ist – kurz: die res publica erfasst ebenso wie πολίτευμα mit den Staatsverfassungen den Staat.12 Im späten Mittelalter nehmen Thomas von Aquin, Marsilius von Padua und William Ockham die aristotelische Unterscheidung der Staatsformen wieder auf. Thomas etwa schreibt: „Das ist nämlich die beste Staatsbestellung, dass sie ein gutes Miteinander aus Königtum hat, insoweit Einer an der Spitze steht, und aus der Bestherrschaft (aristocratia), insoweit viele der Tugend gemäß in Führerschaft 9 Die Civitas popularis bezeichnet die politische Vereinigung des Volkes. Auch mit Blick auf die Optimatenherrschaft spricht Cicero von Civitas, die also nicht Bürgerschaft im heutigen Sinne als zivilgesellschaftliches Phänomen, sondern als staatliches Phänomen. Civitas und Res publica haben also zumindest Begriffüberschneidungen. Da es hier nicht um altphilologische Feinheiten geht, ist es ausreichend, das so stehen zu lassen und festzuhalten, dass es im Lateinischen eine Vorstellung und einen Begriff des Staates gab. 10 Cicero, De re publica, 27 (42). 11 Cicero, De re publica, 28 (44). 12 Nun ließen sich Monarchie, Aristokratie und Demokratie noch als Regierungsformen im Unterschied zur Staatsform fassen – gewonnen ist damit aber auch nicht viel, denn die Regierung ist eben das typische Merkmal des Staates und nicht etwa des Vereins, des Unternehmens oder anderer gesellschaftlicher Gebilde. 212 stehen; und aus der Volksherrschaft (democratia), insoweit aus dem Volk die Fürsten erwählt werden können und die Wahl der Fürsten ans Volk gehört.“13 Eine Vorstellung von Staatsverfassung taucht spätestens hier wieder auf. Wenn man den Staatsbegriff auf vorbürgerliche Formen der Organisation von Herrschaft verwendet, sollte man sich im Klaren sein, dass man eine moderne Abstraktion auf frühere Erscheinungen anwendet. Es tritt bei der Textanalyse gleichsam das Problem des hermeneutischen Zirkels auf, man versteht den Text immer und notwendigerweise vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrungen, d.h. dem sozio-ökonomischen und kulturellen Hintergrund des Interpreten. „Daher ist Verstehen kein nur reproduktives, sondern stets ein produktives Verhalten“14. Daraus kann man aber nicht folgern, dass es unmöglich ist, alte Texte zu verstehen und deren Probleme mit gegenwärtigen zu vergleichen. Gefordert wird gleichsam nur eine Reflexion der unterschiedlichen Kontexte, unter denen Texte entstanden sind. Genau darum geht es aber: nämlich die Organisationsform moderner Gesellschaften, die wir Staat nennen, von früheren politischen Organisationsformen zu unterscheiden und abzugrenzen. Der Staatsbegriff bildet „stets eine Synthese, die wir zu bestimmten Erkenntniszwecken vornehmen“, wobei wir nicht an die unklaren Vorstellungen und „Synthesen, welche in den Köpfen der historischen Menschen vorgefunden werden“, anknüpfen müssen.15 Die Unterscheidung des modernen Staates von vorangegangenen Organisationsformen der Gesellschaft kann den Begriff „Staat“ verwenden, muss gleichzeitig die unterschiedlichen gesellschaftlichen Bedingungen in die Analyse der Texte einbeziehen und versuchen zu reflektieren. Auch wenn der Wortstamm ein anderer ist, die Bedeutung findet sich schon in der Antike, was es sinnvoll macht, nicht nur zwischen unterschiedlichen Staatsformen zu unterscheiden, sondern auch zu versuchen, die Differentia specifica des Staates in unterschiedlichen Gesellschaftsformationen zu begreifen. Die Klassiker hatten keine Schwierigkeiten, eine Linie vom antiken über den feudalen bis zum bürgerlichen Staat zu ziehen. So schreiben Marx und Engels: „Der Staat war der offizielle Repräsentant der ganzen Gesellschaft, ihre Zusammenfassung in einer sichtbaren Körperschaft, aber er war dies nur, insofern er der Staat derjenigen Klasse war, welche selbst für ihre Zeit die ganze Gesellschaft vertrat: im Altertum Staat der sklavenhaltenden Staatsbürger, im Mittelalter des Feudaladels, in unsrer Zeit der Bourgeoisie.“16 13 14 15 16 Thomas von Aquin, Summa Theologiae, S. 505. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 280. Weber, Die Objektivität sozialwissenschaftlicher Erkenntnis, S. 246. Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, MEW Bd. 20, S. 261. 213 Und auch im Kapital verwendet Marx den Begriff Staat als Begriff für die politische Organisationsform einer Gesellschaft, wenn er schreibt: Die Stuarts „hoben die Feudalverfassung des Bodens auf, d.h., sie schüttelten seine Leistungspflichten an den Staat ab, ‘entschädigten’ den Staat durch Steuern auf die Bauernschaft und übrige Volksmasse, vindizierten modernes Privateigentum an Gütern, worauf sie nur Feudaltitel besaßen …“17 Begrenzt man den Begriff des Staates auf die Organisationsform der bürgerlich kapitalistischen Gesellschaft, verliert das Diktum von Marx und Engels, wonach in einer kommunistischen Gesellschaft der Staat abstirbt alle Brisanz – es ist dann geradezu selbstverständlich, logische Schlussfolgerung. Postkapitalistische Gesellschaftsformationen müssten sich dann eine andere als eine staatliche Organisationsform zulegen – welche Bezeichnung die auch immer bekommen mag. Auch wenn die mittelalterliche Form der Organisation politischer Herrschaft sich grundlegend von der modernen, bürgerlichen Form unterscheidet, ist sie doch keine Stammesgesellschaft mehr. Auf die römische Kaiserwürde wird von den deutschen Königen großen Wert gelegt, auch wenn sie keine zusätzlichen realen Machtmittel, allerdings symbolische Autorität verschafft. Im Wissen um die Differenz und das Problem der Vergleichbarkeit lässt sich auch für mittelalterliche Gesellschaften sinnvoll vom Staat sprechen, der zu verstehen ist als Organisation politischer, öffentlicher Herrschaft oder Organisationsform zur Generierung des Anspruches nach allgemeinverbindlichen Entscheidungen. II. Vom konkreten Privilegienrecht zum allgemeinen Gesetz Die bisherigen Untersuchungen zur Frage „Wo kommen die Kapitalisten ursprünglich her“ sind unvollständig, wenn man nur die Ökonomie und den kapitalistischen Geist, der sich um Verwertung von Wert dreht, als Ergebnis herrschaftlicher Konkurrenzbeziehungen diskutiert. Nach den Überlegungen am Anfang muss diese Entwicklung in den Kontext der Entwicklung zum formalrationalen Recht oder abstrakt allgemeinen Gesetz und zur modernen bürokratischen Administration als Spezifikum des bürgerlichen Staates gestellt werden. Das historische Fundstück Europas, die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft oder der kapitalistischen Ökonomie lässt sich nur in der Zusammenschau dieser verschiedenen Elemente begreifen. Zunächst soll deshalb die Differenz 17 Marx, Das Kapital. MEW Bd. 23, S. 751. 214 zwischen mittelalterlichem und modernem Recht in ihrer Entwicklung, dann die Herausbildung professionalisierter Staatsdiener, die Heide Gerstenberger als wesentliches Element der Konzentration von Herrschaft und der Versachlichung der Herrschaftsbeziehungen ausgemacht hatte, erläutert werden. 1. Konkretes Privilegienrecht Leges barbarorum, das Recht der Barbaren, nannten die Römer die Rechtsüberlieferungen der fremdsprachigen Völker und Stämme, also der Barbaren, außerhalb ihres direkten Herrschaftsgebietes. Diese Rechte existierten keineswegs als gesetztes und niedergeschriebenes Recht, sondern als Überlieferungen von Streitentscheidungen, die mündlich weitergegeben wurden. Dieses tradierte Recht der germanischen Stämme existierte z.T. neben den römischen Rechtsquellen. So lässt sich keineswegs von einer einheitlichen Anwendung oder gar Durchsetzung dieses Rechts sprechen. Zu den germanischen Rechtsquellen, die als ursprünglich, d.h. weitgehend ohne römischen Einfluss eingeschätzt werden, zählen Rechtsbücher wie die Lex Salica, das wohl älteste volksrechtliche Gesetzbuch, in der das Recht der salischen Franken niedergeschrieben wurde. Es dürfte in merowingischer Zeit zwischen 507 und 511 entstanden sein. Andere Rechtsbücher sind die Leges Burgundionum, Lex Saxonum, die Lex Thuringorum, die Lex Alamannorum und die Lex Baiuvariorum. Um die Charakteristika dieser alten Gesetzbücher zu erfassen, soll hier nur die Lex Salica genauer betrachtet werden. Sie wurde wahrscheinlich auf Anordnung des Merowingerkönigs Chlodwig (466–511) niedergeschrieben. Vermutet wird, dass Chlodwig beabsichtigte, neu erworbene Gebiete, die er seinem Herrschaftsgebiet einzuverleiben suchte, über das fränkische Recht assimilieren oder integrieren wollte. Die Christianisierung war vermutlich ein weiterer Grund für den Versuch, das Recht zu vereinheitlichen, um so „heidnische“ Überlieferungen, d.h. die Traditionen der ursprünglichen Volksreligionen zu beseitigen. Das darf man sich allerdings nicht so vorstellen wie Rechtsreformen in der Gegenwart.18 Die Quellen der ‘Lex Salica’ sind in den alten (mündlich überlieferten) Stammesrechten, ursprünglich römischen Rechtsvorstellungen, kanonischen Vorschriften sowie neu eingeführten Rechtsvorschriften des Königs zu suchen, der es sich natürlich nicht nehmen ließ, seine Stellung auch rechtlich zu stärken. 18 Die allerdings teilweise auch heute in ihrer Wirkung falsch einge- oder überschätzt werden. Vgl. Fisahn, Natur, Mensch, Recht, passim. 215 Die Lex Salica beginnt mit den Worten: „Im Namen unseres Herrn Jesu Christi“. Will man die im Vergleich zum bürgerlichen Recht besondere Form des mittelalterlichen Rechts erfassen, lohnt es, aus den Übersetzungen der – natürlich – lateinisch abgefassten Lex Salica zu zitieren. Da heißt es: „Von Schweinediebstählen: Wenn jemand ein saugendes Ferkel aus einem Stall stiehlt, vor Gericht ‘Stallschwein’ genannt, und es ihm bewiesen wird, so soll er zu 111 Schillingen verurteilt werden. Wenn jemand ein Ferkel stiehlt, das ohne Mutter leben kann, vor Gericht ‘Jährling’ genannt, und es ihm bewiesen wird, so soll er zu I Schilling außer Wertersatz und Weigerungsbuße verurteilt werden. Wenn jemand ein zweijähriges Schwein stiehlt, vor Gericht ‘Herdenjährling’ genannt, so soll er zu XV Schillingen außer Wertersatz und Weigerungsbuße verurteilt werden.“19 Der Hinweis „Vor Gericht … genannt“ deutet darauf hin, dass es im „Prozess“ darauf ankam, die richtige Bezeichnung zu wählen. Es gab also eine Formalisierung des Verfahrens, das auch aus dem römischen Recht überliefert ist. Es mussten bestimmte Formeln oder Sätze aufgesagt werden, um im Verfahren wirksam „Anträge“ stellen zu können. Max Weber hat das formal irrationales Recht genannt, irrt aber, wenn er meint, die Form der Irrationalität sei heute vollständig beseitigt.20 Wichtig ist: Das salische Gesetz statuiert keine abstrakten Normen, also etwa den Diebstahl allgemein21, sondern es normiert einzelne Fälle des Diebstahls, etwa den Diebstahl von Schweinen, d.h. es handelt sich in der heutigen Unterscheidung um konkrete Normen. Die mittelalterlichen Gesetzbücher formulierten die Artikel nicht nur in dieser konkreten Form. Die Vorschriften galten auch nicht allgemein, sondern unterschieden zwischen Gruppen von Tätern. Straftätern drohte – wie beim Schweinediebstahl –, wenn sie freien Standes waren, eine Geldbuße. Unfreie, Leibeigene dagegen wurden meist mit Körperstrafen wie Hieben oder Rutenschlägen und in wenigen Fällen sogar mit dem Tod bestraft. Die Strafen waren nicht nur unterschiedlich im Hinblick auf die Täter, sondern unterschieden sich auch mit Blick auf die Geschädigten, so dass anhand der unterschiedlichen 19 Übersetzung Feldmann, Alles was Recht ist, http://www.blz.bayern.de/blz/web/ 120007/120007-so.html 20 Nur ein Beispiel: Der Robenzwang für Anwälte bekundet die Fortexistenz formaler Irrationalität, wird aber regional unterschiedlich streng gehandhabt. 21 Der abstrakte Straftatbestand des Diebstahls lautet im heutigen deutschen Strafgesetzbuch: § 242 „Wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, die Sache sich oder einem Dritten rechtswidrig zuzueignen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“ 216 Strafmaße der gesellschaftliche Stand und die Unterschiede der Stände sichtbar wurden. So wurde nach der Lex Salica die Tötung eines Galloromanen mit einer Geldstrafe in Höhe von 100 Schillingen bestraft, während auf die Tötung eines freien Franken 200 Schilling stand. Die höchste Geldstrafe in Höhe von 600 Franken wurde auf die Tötung eines Mitgliedes aus dem Gefolge des Königs angedroht. Weiter enthielt die Lex Salica Bestimmungen über das Erbrecht und die Gerichtsordnung. 22 Ähnlich unterscheidet die Lex Baiuvariorum, die in der Regierungszeit des bayerischen Herzogs Odilo (700–748) initiiert wurde, zwischen unterschiedlichen Tätergruppen, zwischen Freien, Freigelassenen und Knechten. Im „Gesetz der Bayern“ heißt es beispielsweise: „Wenn ein freier Mann am Sonntag knechtliche Arbeit verrichtet, wenn er Ochsen einspannt und mit dem Wagen ausfährt, soll er den rechtsgehenden Ochsen verlieren. Wenn er aber Heu mäht oder einbringt oder Korn schneidet und es einsammelt oder irgendwie knechtliche Arbeit am Sonntag vornimmt, so soll es ihm ein- oder zweimal verwiesen werden. Und wenn er sich nicht bessert, soll er mit 50 Rutenstreichen gezüchtigt werden. Und wenn er sich noch einmal untersteht, am Sonntag zu arbeiten, wird ihm ein Drittel seines Besitzes genommen. Und wenn er auch dann noch nicht aufhört, dann verliere er seine Freiheit, und es werde der zum Knecht, der am heiligen Tag nicht hat ein Freier sein wollen. Wenn aber ein Knecht (solches tut), der soll wegen solcher Missetat Stockschläge empfangen. Bessert er sich nicht, so verliere er seine rechte Hand.“23 Schließlich definierten diese Volksgesetze ihren Geltungsbereich nicht territorial, sondern – wie die Herrschaftsbeziehungen – personal. Das heißt, das fränkische Recht galt für Franken, auch wenn sie sich in Sachsen aufhielten und umgekehrt. Das ist Folge der fehlenden territorialen Abgrenzung und des Fehlens einer nach Territorium definierten Staatsgewalt. Zusammenfassend lässt sich bestätigen: „Das wesentlichste Merkmal des mittelalterlichen Rechts ist die 22 Auch die Gerichtsstrafe oder das Versäumnisurteil kannte das salische Gesetz schon, so heißt es dort: „Von der Ladung: Wenn jemand gemäß den königlichen Gesetzen vor Gericht geladen wird und nicht kommt, sofern ihn keine berechtigte Verhinderung abgehalten hat, so soll er zu XV Schillingen verurteilt werden. Jener aber, der einen anderen vorlädt und selbst nicht kommt, sofern ihn keine Verhinderung abgehalten hat, der soll dem, den er vorlud, XV Schillinge zahlen (Feldmann, Alles was Recht ist, http://www.blz.bayern.de/blz/web/120007/120007-so.html). 23 Übersetzung Zenz, http://www.helmut-zenz.de/lexbaiuv.html. 217 Rechtszersplitterung: Es entstanden Rechte für einzelne Gebiete, für bestimmte Klassen und für besondere Rechtsverhältnisse.“24 Die Lex Salica und die Lex Baiuvariorum wurden hier vergleichsweise ausführlich zitiert und besprochen, weil der Unterschied zum modernen bürgerlichen Recht deutlich wird. Letzteres gilt allgemein, abstrakt und ist auch so formuliert, während die mittelalterlichen, feudalen Rechtsordnungen, d.h. das Recht bis zum Sieg der bürgerlichen Gesellschaft Privilegienrecht war, d.h. für unterschiedliche Gruppen oder sogar einzelne Personen unterschiedliche Anordnungen enthielt. Privilegienrecht ist kein allgemeines Gesetz, es gilt nicht generell. Die Lex Salica formulierte konkret, unterschied also zwischen dem Diebstahl eines Schweines oder etwa einer Kuh. Das Strafmaß war dann ebenfalls konkret, d.h. auf Heller und Pfennig berechnet. Moderne Gesetze formulieren dagegen abstrakte Tatbestände und ein abstraktes Strafmaß. Die Abstraktion im Recht, d.h. die Formulierung abstrakter Normen, setzte sich früher durch als die Abschaffung des Privilegienrechts. Schließlich ist festzuhalten, dass es sich mehr oder weniger um Privatstrafrecht handelte. Dem Geschädigten wurde nicht nur Wertersatz zugesprochen, sondern die Restitution umschloss eine Sanktion, weil die Zahlungsverpflichtungen höher ausfielen als der Schaden – was natürlich nur für Sachschaden berechnet werden kann, nicht für Verletzungen von Menschen. Von einem Privatstrafrecht lässt sich auch insofern sprechen, als es keine Zentralgewalt gab, die einen Richterspruch zwingend durchsetzte. Ob das Urteil vollstreckt wurde, hing am Ende des Tages davon ab, welche Machtmittel der obsiegenden Partei zur Verfügung standen. Im Zweifel wurden Konflikte durch Fehden ausgetragen. Die Zersplitterung war auch hier kennzeichnend für den Zustand des Rechts. Es wurde schon gezeigt, dass es unterschiedliche Volksrechte für viele Stämme der „Germanen“ gab, also für Sachsen, Salier, Thüringer, Alemannen, Bayern usw. Vor allem wurde die Rechtsprechung mit den Herrschaftsbefugnissen vom Kaiser delegiert an die Landesherrn und auch die Kirche. Eine Vereinheitlichung durch Berufung oder Revision fand im Prinzip nicht statt. Von einer mit der modernen Situation vergleichbaren Berechenbarkeit richterlicher Entscheidungen, so eingeschränkt sie in Zweifelsfällen auch bis heute sein mag, konnte keine Rede sein. Es gab eine Rechtsform, ein vorkapitalistisches Recht, aber die Form des Rechts unterschied sich in deutlicher Weise von der Form des Rechts in der kapitalistischen Gesellschaft, von der allgemeinen, abstrakten Norm des bürger24 Thoma, Recht und (Jugend-)Strafe, http://lg-ethik.tsn.at/sites/lg-ethik.tsn.at/files/ upload/LV%20Betreute%20Studienanteile%20-%20Recht%20und%20%28Jugend%29Strafe.pdf. 218 lichen Rechts. Die Entwicklung vom besonderen, konkreten und zersplitterten Privilegienrecht zur Form des Rechts in der bürgerlichen Gesellschaft muss hier nicht im Detail nachgezeichnet werden, es reicht vielmehr, auf die zentralen Anstöße hinzuweisen. 2. Die allgemein abstrakte Norm – das Recht der bürgerlichen Gesellschaft Es wurde oben schon gesehen, dass die Entwicklung der Produktivkräfte und mit diesen der Transport- und Kommunikationsstrukturen im 11. Jahrhundert einsetzte und einen erheblichen Wandel der Gesellschaft zur Folge hatte. Dabei darf man von diesen Änderungen bis zum Aufkommen des Merkantilismus keine kontinuierliche Entwicklung annehmen, da die Agrarkrise und die Pest vom 14. bis zur Mitte des 15. Jahrhundert die gesellschaftliche Entwicklung wieder zurückgeworfen hatte. Insgesamt – so die Schätzungen – verlor Europa in diesem Jahrhundert ein Drittel seiner Bevölkerung, nachdem vorher ein starker Anstieg der Bevölkerungszahl registriert wurde. Vor allem ist es verfehlt, die Entwicklung als kontinuierliche Steigerung der Rationalität zu begreifen25, wie es etwa in Webers Darstellung der Rechtsentwicklung vom irrationalen zum formal-rationalen Recht durchscheint. Auf der konservativen Seite verliert diese Fortschrittsgeschichte mit der russischen Revolution an Plausibilität und wird fallen gelassen – es beginnt der bürgerlich-konservative Nihilismus oder Kulturpessimismus. Die emanzipatorische Seite schwört mit dem deutschen Faschismus dem Glauben an die Fortschrittsgeschichte ab und konstatiert entweder wie Horkheimer und Adorno einen kontinuierlichern Verfall des Denkens – von Odysseus bis zum Tiefpunkt des Faschismus – oder wie Franz Neumann einen Verfall der Rationalität, der mit dem Monopolkapitalismus einsetzt.26 Auch wenn im Folgenden zentral die Entwicklung der Form des Rechts diskutiert wird, muss gesehen werden, dass gleichzeitig mit der Differenzierung oder Rationalisierung des Rechts und der Rationalisierung der Herrschaftsmethoden neue Formen der Irrationalität einsetzten, etwa mit der Bewegung der Flagellanten, die sich öffentlich auspeitschten und meinten, damit die Pest abwenden zu können. Die Inquisition nahm Fahrt auf. Ihrer Intention nach war sie von 25 So aber zumindest der Subtext seit der Aufklärung bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts. 26 Vgl: Fisahn, Eine kritische Theorie des Rechts, passim. 219 Papst Innozenz als Rationalisierung des Gerichtsprozesses gedacht, es sollte die Wahrheit erforscht werden und Beweise für jeweilige Behauptungen beigebracht werden, statt der vorher üblichen Leumundszeugnisse27 und Gottesurteile. Das wichtigste Beweismittel wurde das Geständnis – wogegen zunächst auch nichts einzuwenden ist. Irrational wird es dann, wenn man dieses Geständnis durch Folter erpresst, die euphemistisch „peinliche Befragung“ genannt wurde und eine strenge Verfahrensordnung kannte. Wolfgang Schild schreibt: „Die Folter war eine Verlegenheitslösung, die einzige Möglichkeit, in dem neuen Verfahren einen zunächst leugnenden Beschuldigten schließlich doch noch verurteilen zu können, nachdem die alten formellen Beweismittel – Eid mit Eideshelfern und Gottesurteil – ihren Sinn (und ihre Glaubwürdigkeit) verloren hatten. Der Beschuldigte musste auf jeden Fall materiell überführt werden.“ Das konnte bei Hexenprozessen offenkundig nur durch ein Geständnis geschehen.28 Die neue Irrationalität war eine nicht-intendierte Folge des Rationalisierungsversuchs und in gewisser Weise auch der realen Rationalisierung. Im Ergebnis gestanden die Befragten fast alles, eben auch Hexe zu sein, mit dem Teufel kopuliert zu haben oder Ähnliches. Kirchenvertreter konnten ihr verkorkstes Verhältnis zur Sexualität, verbunden mit dem Hass auf und der Verachtung von Frauen nun sadistisch ausleben. Den Höhepunkt hatte die Hexenverfolgung und -verbrennung erst im 15./16. Jahrhundert. Der Dominikanermönch Heinrich Kramer veröffentlichte 1486 den Hexenhammer (lat. Malleus Maleficarum), ein Handbuch zur Hexenerkennung und -verfolgung, der bis ins 17. Jahrhundert nachgedruckt wurde. Als eine der letzten Hexen wurde die 15-jährige Veronika Zeritschin 1756 in Landshut verbrannt, nachdem sie vorher geköpft worden war. Mit den Kreuzzügen (Erster Zug 1095/99) begann die Judenverfolgung in Europa oder nahm Züge von Pogromen an und sie verschwand nicht mehr. Die Juden wurden nun mehr oder weniger stark gettoisiert und ihnen wurde die Ausübung vieler „ehrbarer“ Berufe untersagt, während sie vorher weitgehend gleichberechtigt gelebt hatten. Es setzten regelrechte Fluchtbewegungen ein, etwa aus Spanien, wo die Juden die Wahl hatten, sich taufen oder verbrennen zu lassen. Es profitierten die Einwanderungsländer wie Holland. Aber das 11./12. Jahrhundert hatte Entwicklungen gebracht, die fortwirken sollten. Die neuen Möglichkeiten der Produktion führten – das hatten wir schon 27 Zeugen beschworen, dass der Angeklagte ein guter Mensch sei, wer die meisten Freunde mitbringen konnte und eine entsprechende gesellschaftliche Stellung innehatte, bekam am Ende Recht. 28 Schild, Die Geschichte der Gerichtsbarkeit, S. 160. 220 gesehen – zu einem bedeutenden Anstieg des Waren- und Geldverkehrs. Im 12. Jahrhundert entwickelte sich die mittelalterliche Stadt. Die alten römischen Städte, vor allem Köln, Mainz, Trier oder Augsburg und Regenburg, hatten längst nicht mehr die Größe und Bedeutung wie zur römischen Zeit. Ab dem 1100 entstehen neue Städte, meist aus vorhandenen Handelsplätzen oder in der Umgebung einer Burg. Einige Städte, wie Lübeck, wurden planmäßig gegründet. Grundlage war die Entwicklung der Produktion, die erstens zu einem Bevölkerungswachstum führte. Zweitens brachte die ökonomische Prosperität für die Landherren mehr Einnahmen, so dass neue „Bedürfnisse“ entstanden, die Handel und Fernhandel erforderten, der von Kaufleuten in den Städten organisiert wurde. Auf dem Land lösten sich die Bindungen der Bauern an die Scholle, was es den Menschen erlaubte, in die Stadt zu ziehen. Gleichzeitig wurden die steuerlichen Verpflichtungen der Vasallen in Geld – und nicht mehr in Naturalien oder Arbeitsleistung – fällig und natürlich erforderte der Fernhandel eine ausgeprägte Geldwirtschaft. Die Landesherren erkannten durchaus, dass der neue Reichtum auch auf das neue Wissen und neue Techniken zurückzuführen war und förderten dies mehr oder systematisch. Die neuen Formen der Interaktion und der Arbeitsteilung brachten ein Bedürfnis nach neuen Formen der Regulation dieser sich differenzierenden Lebenswelten und neuen ökonomischen Beziehungen hervor. Insbesondere das Aufblühen der Städte und des Handels ließ neue Rechtsmaterien entstehen, die in den alten Volksrechten weitgehend irrelevant waren, nämlich das Handelsoder allgemeiner das Vertragsrecht. Zunächst entwickelt sich der Süden Europas anders als der Norden, insbesondere das heute deutsche Territorium. Unter diesen Bedingungen beginnt im Süden Europas die Rezeption des römischen Rechts, die sich nur langsam nach Norden ausdehnt und erst in der Blüte des Kapitalismus, beispielsweise mit dem deutschen BGB von 1900 einen gewissen Abschluss findet. In „deutschen“ Landen wird das Volks- und Gewohnheitsrecht zunächst gesammelt, aufgeschrieben, erweitert und systematisiert, wobei Einflüsse der Rezeption des römischen Rechts nicht fehlen, aber spärlich sind. Schon Anfang des 12. Jahrhunderts wird in Bologna die erste Universität oder Rechtsschule gegründet. Irnerius, eine der zentralen Figuren in dieser Geschichte und ein erfolgreicher Lehrer, begann dort römisches Recht zu unterrichten, d.h. vor allem das römische Privatrecht, das in Italien zwar nie vollständig „untergegangen“ war, aber allenfalls als Vulgarrecht weiter existiert hatte. Insbesondere die zentralen Bestandteile des römischen Zivilrechts, die Digesten oder Pandekten, waren verschollen. Sie wurden im 11. Jahrhundert wiederentdeckt und bildeten zusammen mit dem kanonischen Recht, also dem Kirchenrecht, das die römische Tradition bewahrt hatte, den Ausgangspunkt und die Grundlage zunächst 221 der Rechtsschule in Bologna, dann für die Rezeptionsgeschichte des römischen Rechts bis in die Neuzeit. Wenn sich Irnerius um das römische Zivilrecht verdient gemacht hatte, gilt das für das kanonische Recht für den Mönch Gratian, der auch in Bologna lebte und die vielen Regeln des kanonischen Rechts, also des Kirchenrechts, zusammenfasste und dabei systematisierte. Kanonisches Recht und das rezipierte römische Recht durchdrangen sich der Form und des Inhalts nach. Sie wurden bis in die jüngste Vergangenheit als die „beiden Rechte“ an juristischen Fakultäten gelehrt. Was früh in Bologna begann, hatte großen Einfluss auf die europäische Geschichte. Die große Zeit der Universitätsgründung war Anfang des 13. Jahrhunderts. Universitäten entstanden in Vincenca, Padua, Neapel und Siena, in Paris, Montpellier und Toulouse, in Salamanca und Lissabon, aber auch in Cambridge und Oxford. Die erste deutschsprachige Universität wurde (erst) 1348 in Prag eröffnet, gefolgt von Wien (1365) und Erfurt (1379). Ausgangspunkt der Rezeptionsgeschichte war der Corpus Iuris Civilis, eine vom römischen Kaiser Justinian 539 in Auftrag gegebene Gesetzessammlung. Er umfasst vier Teile, nämlich erstens den Codex Iustiniani, eine Zusammenstellung der zur Zeit Justinians geltenden Gesetze bzw. man spricht wohl besser von Rechtssätzen. Zusammengestellt wurden Urteile, Entscheidungen oder Dekrete des Römischen Reichs. Diese wurden zwar insofern systematisiert, als dass sie thematisch geordnet wurden, aber es bleiben doch eher Einzelfallentscheidungen, Präjudizien, die in eine logische Ordnung gebracht wurden, nicht um ein Gesetzeswerk im modernen Sinne. So beginnt etwa das Buch IV des Codex Iustiniani so: „DE REBUS CREDITIS ET IUREIURANDO . 4,1. Von den anvertrauten Sachen und von der Eidesleistung. 4,1,1. DER KAISER ANTONINUS AN HERCULIANUS. Eine Rechtssache, die durch Einigung der Parteien oder nach einem Antrag auf Eidesleistung des Gegners und erfolgter Zuerkennung und Leistung oder Erlass des Eides entschieden ist, kann auch mit dem Vorwurf des Meineides nicht wieder aufgenommen werden, es müsste denn ein Gesetz für diesen Fall eine Ausnahme anordnen. Geg. XV. k. Iul. (213) unter dem 4ten Consulate des Kaisers Antonin und dem des Balbin. 4,1,2. DER KAISER ALEXANDER AN FELIX . Die Missachtung der Heiligkeit des Eides wird durch die Götter genügend bestraft. Falls jedoch im Namen Meiner Majestät falsch geschworen wurde, soll nach den Verordnungen Meiner vergöttlichten Eltern keine Anklage auf Leib und Leben oder eine wegen Majestätsverbrechen erhoben werden. Geg. VI. k. April. (223) unter dem 2ten Consulate des Maxim und dem des Aelian.“ Wenn der Meineid auf den Kaiser nicht körperlich bestraft werden sollte, so sollte er doch bestraft werden, anders als einfache Meineide – „seine Majestät“ 222 nahm sich schon wichtig. Wichtiger wurden für die Rezeptionsgeschichte die Digesten oder Pandekten und die Institutiones. Beide beinhalten Sammlungen von Schriften römischer Rechtsgelehrter, wobei die Institutiones den Charakter eines Lehrbuchs für Anfänger haben. Am Beispiel des Diebstahls, den wir schon in der Lex Salica betrachtet hatten, soll die Herangehensweise der Digesten verdeutlicht werden. Dort heißt es in 47.2.0. „De furtis – Von den Diebstählen: Das Wort furtum, sagt Labeo, komme von futurus, d.h. schwarz, weil es heimlich und im Dunkeln geschieht und meistens bei Nacht, oder von fraus (Betrug), wie Sabinus sagt, oder von ferendo oder auferendo (wegtragen), oder aus dem Griechischen… § 3 der Diebstahl ist die betrügerische, in gewinnssüchtige Absicht geschehene Entwendung einer Sache und zwar entweder dieser selbst, oder ihres Gebrauchs oder ihres Besitzes, was nach den Naturgesetzen verboten ist, zu tun. Es gibt zwei Arten von Diebstahl, manifesten, offensichtlichen und den nicht manifesten.“ Hier wird eine Form der Systematisierung, Herleitens und des Definierens sichtbar, welche mit modernen Methoden der Jurisprudenz vergleichbar ist. Es wird versucht, den Diebstahl in abstrakten Begriffen zu erfassen, nicht konkret einzelne Fälle des Diebstahls aufzuzählen, diese lassen sich vielmehr dem abstrakten Begriff subsumieren. Dann werden besondere Erscheinungsformen des Diebstahls diskutiert. So wird im Folgenden die Unterscheidung zwischen offenbarem Diebstahl oder auf frischer Tat ertappten Dieben und dem später entdeckten Diebstahl eingeführt. In den „Institutiones“ wird ergänzt: Der auf frischer Tat ertappte Dieb soll dem Geschädigten das Vierfache, der nur durch Indizien überführte Dieb das Zweifache des Schadens als Sühne erstatten. Es ist leicht ersichtlich, dass die hier exemplarisch vorgeführte Methode der Deduktion und juristischen Argumentation, die selbstverständlich auf Präjudizien und Edikte oder Dekrete verweist, die vergleichsweise zufällig erscheinende Methode der Sammlung konkreter und besonderer Fälle, wie sie uns in den Volksgesetzen begegnete, revolutionieren musste. Die römischen Quellen beinhalteten viele Rechtsinstitute, insbesondere des Zivilrechts, die bis heute relevant sind. Im Unterschied zum Mittelalter kannte das römische Recht den Vertrag, vertragliche und sonstige Ansprüche, was auf die höhere Komplexität der gesellschaftlichen Verhältnisse hinweist. In der frühen mittelalterlichen Gesellschaft der Selbstversorger und der Bedarfsdeckung spielte Handel, Geld und damit der Vertrag und daraus entstehende Ansprüche offensichtlich eine untergeordnete Rolle. Im antiken Rom hatte sich dieses Recht herausgebildet, weil aufgrund der ökonomischen Entwicklung ein Bedarf an entsprechenden Regeln bestand. Mit der Entwicklung der mittelalterlichen Öko223 nomie, der Zunahme des Handels und der daraus folgenden Umstellung auf eine Geldwirtschaft, entstand der Bedarf an diesen rechtlichen Regeln aufs Neue. Aber die Entwicklung musste nicht bei Null beginnen, sondern hatte den enormen Vorteil, auf fast tausend Jahre Rechtsgeschichte und -entwicklung zurückgreifen zu können, nachdem die alten Quellen wiederentdeckt worden waren. Selbstverständlich ist aber auch, dass sich dieser neue Weg, die neue Methode, nicht in kurzer Zeit durchsetzen konnte. Die zitierten Ausführungen zum Diebstahl in den Pandekten zeigen, dass es sich weiter um Privatstrafrecht handelt. So werden im Folgenden unterschiedliche privatrechtliche Herausgabeansprüche diskutiert und es fehlen auch nicht Abhandlungen dazu, ob zwischen Sklaven und Freien zu differenzieren ist oder wie die spezifische Rechtssituation des „Kleiderwäschers“ aussieht – es gibt also durchaus Elemente oder vielleicht Reste von konkretem Fallrecht und besonderem Recht, dass den Rechtssubjekten einen unterschiedlichen Status zuschreibt. Die Entwicklung des im Weberschen Sinne formal-rationalen Rechts in der heutigen Form war also keineswegs abgeschlossen, mit dem römischen Recht wurde gleichsam nur die Basis geschaffen. An dieser Stelle ist noch einmal auf die formale Rationalität als – angeblicher – Abschluss einer Entwicklung der Rationalität zurückzukommen. Die formalrationale Norm, d.h. das abstrakt generelle Gesetz muss wegen seiner Abstraktion unbestimmter sein als die konkrete Beschreibung des Sachverhalts, wie sie uns in der Lex Sallica begegnet ist. Die abstrakte Norm ist im Ergebnis zwingend unberechenbarer als die konkrete Norm mit einer exakten Beschreibung eines Sachverhalts. Die Salfranken wussten, der Diebstahl eines Stallschweins kostet exakt 111 Schillinge. Allerdings wussten sie nicht so genau, was denn nun der Diebstahl ist – wie steht es z.B. mit der Gebrauchsanmaßung? Dennoch ist die Norm erheblich konkreter als das Verbot, sich „eine fremde bewegliche Sache“ anzueignen, wofür das deutsche Strafgesetzbuch heute einen Strafrahmen von bis zu fünf Jahren vorsieht. Der moderne Dieb weiß also nicht annähernd so genau wie der mittelalterliche, fränkische Dieb, was ihn erwartet. Wo also sieht Weber den Vorzug der formalen Rationalität in der Berechenbarkeit des Rechts? Zunächst kann man es von materialer Gerechtigkeit abgrenzen, bei der das Ergebnis im Vordergrund steht, weshalb das Recht für verschiedene Personen unterschiedlich gilt. Das kann zwar zu gerechteren Ergebnissen führen, was man aber von der mittelalterlichen Differenzierung zwischen Stämmen und Ständen nicht behaupten kann. Die gleiche allgemeine Anwendung und Geltung des Rechts kann man mit Weber gegenüber dem besonderen Privilegienrecht als Fortschritt der Rationalität werten. Die konkret gefasste Norm führt auf den ersten Blick zu einer größeren Berechenbarkeit. Zu bedenken ist aber, dass 224 die nicht normierten Fälle nun keineswegs unentschieden bleiben müssen oder etwa blieben. Die Entscheidungen jenseits der Norm können oder müssen dann aber willkürlich ausfallen. Anders herum: Die abstrakte Norm wird durch Rechtsprechung konkretisiert, Fälle als Beispiele in Kommentaren benannt, so dass man einen neuen Fall der Norm subsumieren und in die Kategorien von Präjudizien und Kommentaren einordnen kann, was die Berechenbarkeit im Ergebnis steigern dürfte. Relevanter dürfte aber eine andere Deutung sein, die an die systemtheoretische Problemstellung, das Problem der Bewältigung von Komplexität, anknüpft oder – hier sind die Ansätze kompatibel – die zunehmende Arbeitsteilung und folgende Differenzierung der Gesellschaft zum Ausgangspunkt nimmt. Das Recht, das über die Aufzählung von Einzelfällen versucht, gesellschaftliche Normen zu reproduzieren, muss scheitern, wenn die gesellschaftliche Wirklichkeit komplexer wird, die Lebenssituation der Menschen voneinander abweicht, gesellschaftliche Praktiken entstehen, die in ihrer Vielfalt einer einfachen Aufzählung nicht mehr zugänglich sind. Anders gesagt: Das Recht muss mit zunehmender Komplexität der gesellschaftlichen Verhältnisse abstrakter werden. In einer differenzierten, komplexen Gesellschaft ist nur ein Recht adäquat, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse auf einer gewissen Abstraktionshöhe erfasst. Die Rationalität des Rechts wächst damit nur im Vergleich zu unberechenbaren Einzelfallentscheidungen, nicht aber im Vergleich zur Regulierung einfacher gesellschaftlicher Verhältnisse. Genau diese Situation, nämlich eine zunehmende Differenzierung der Gesellschaft, tritt aber, wie wir gesehen haben, im 11. Jahrhundert in Europa auf. Die Produktion landwirtschaftlicher Überschüsse erlaubt eine zunehmende Arbeitsteilung, führt zu einer Ausweitung des Handels und der Geldwirtschaft, was wiederum neue Formen der Arbeitsteilung hervorbringt, was die Grundlage von Prozessen gesellschaftlicher Differenzierung ist. Und in dieser Situation werden die alten römischen Rechtsbücher wiederentdeckt, was den Weg in Richtung der oder den Fortschritt zur abstrakten Rechtsnorm erheblich erleichtert. Neben diesen sozio-ökonomischen Faktoren, die in Richtung abstraktes Recht drängen, ist die Veränderung der Herrschaft relevant, die weiter unten genauer zu betrachten ist. An dieser Stelle sei nur erwähnt, dass die Fürsten beginnen, ihre Herrschaft territorial zu definieren, nicht mehr gleichsam tribalistisch. Mit der Wiederentstehung und dem Wachstum der Städte wird der herumreisende Hofstadt „sesshaft“, d.h. die Fürsten wählen sich festere Residenzen. Das Herrschaftssystem stellt sich um, die Geldwirtschaft führt zur ständigen „Geldnot“ oder einer neuen Geldgier der Fürsten, die sie über eine herrschaftliche Durchdringung ihres Gebietes zu bewältigen suchen. So wird die Administra225 tion erweitert und „professionalisiert“, was es erfordert, die neuen „Beamten“ ebenso wie die Verpflichtungen der Bevölkerung durch Recht zu steuern. Das Verständnis des Rechts wandelt sich, vom Gegebenen, Vorgefundenen, schon immer Daseienden oder – banaler: Vom Gewohnheitsrecht wird es stärker zu gesetztem Recht und damit Ausdruck von Willen und Befehl des Herrschers. Wie auch schon im römischen und kanonischen Recht übernimmt das Recht die Aufgabe, Herrschaft zu organisieren, aber auch zu beschränken. Es ist auch selbstverständlich, dass man die Entwicklung des Rechts, d.h. die Entdeckung der alten Quellen nicht isoliert betrachten kann, also ohne die gegenseitige Beeinflussung mit den geistigen Strömungen der Zeit. Hervorzuheben ist an dieser Stelle nur die Rezeption der griechischen Philosophie, insbesondere des Aristoteles, durch Averroës oder Ibn Ruschd (1126–1198), einem spanischen Mauren. Dieser verfasste neben einer medizinischen Enzyklopädie zu fast jedem Werk des Aristoteles einen Kommentar, weshalb er in der Scholastik schlicht „der Kommentator“ genannt wurde. Mit Averroës begann die Rezeptionsgeschichte der antiken Philosophie und im 12. und 13. Jahrhundert wird geradezu eine „Übersetzungsbewegung“ ausgemacht, welche die Schriften des Aristoteles zunächst ins Lateinische, der Sprache der mittelalterlichen Eliten, übertrug. Aufgegriffen wurde Aristoteles zunächst von der Theologie, welche die theoretischen Diskussionen im Mittelalter bestimmte. Die Scholastik entwickelte ihre Methode des Argumentierens und Denkens in der Auseinandersetzung oder am Vorbild des Aristoteles. Obwohl Theologie, werden die Schriften des Thomas von Aquin (1225–1274) zumindest auch der Philosophie zugerechnet. Sie gilt als Höhepunkt der mittelalterlichen Philosophie und rechtfertigt die Ständegesellschaft als naturrechtlich gegeben. An oberster Stelle steht – natürlich – die lex aeterna, das göttliche Recht, es folgen Naturrecht und dann das weltliche Recht, das gesetztes Recht ist und dem Willen des Herrschenden entspringt. Über die Erkenntnis des göttlichen Rechts gebietet die Kirche, so ergibt sich eine klare Hierarchie und jeder gehört an seinen Platz. Aber Aquin argumentiert nicht mehr theologisch dogmatisch mit entsprechenden Bibelstellen, sondern sieht sich gezwungen, eine rationale Legitimationsstrategie einzuschlagen. Das weltliche, gesetzte Recht nimmt in der Hierarchie zwar den untersten Platz ein, aber bezeichnend ist, dass Thomas ihm diesen Platz einräumen muss und nicht davon ausgehen kann, dass es ausschließlich natürliche, immer schon gewesenes Recht gibt. Das gesetzte, menschlich geschaffene Recht bekommt seinen Platz in der göttlichen Ordnung des Thomas. Die neue Art des wissenschaftlichen, rationalen Denkens wirkt ihrerseits zurück auf die „mechanischen Künste“, also auf die Technologie. Diese wird nicht mehr als minderwertig belächelt und macht 226 große Fortschritte, die zu einer Verbesserung der Produktivkräfte und einer Steigerung der Produktion führen. So entstehen neue Märkte, neue Verbindungen und Kontrakte, die wiederum rechtlicher Sicherungen bedürfen. Formal rationales Recht hat das Mittelalter auch in Form des Kirchenrechts überdauert, d.h. des kanonischen Rechts. Mindestens Teile dieses Rechts weisen die Merkmale allgemein bestimmter Regeln, die Form des allgemeinen Gesetzes auf. Dabei ist das Recht keineswegs um das Marktgeschehen gruppiert, sondern es ist gleichzeitig Legitimation, Organisation und Begrenzung der Herrschaft. Beide Rechte, das römische ebenso wie das kanonische bestimmten die weitere Entwicklung des Rechts in Europa, formal wie inhaltlich, denn selbstverständlich setzte die Kirche alles daran, ihre Vorstellungen von Ehe, Sexualmoral usw. auch ins weltliche Recht einfließen zu lassen. Die Rezeption des römischen Rechts vollzog sich im Norden Europas deutlich langsamer als im Süden, den romanischen Ländern; aber auch hier drängte die Differenzierung der Gesellschaft in Richtung einer Systematisierung und höheren Abstraktion des Rechts. In den sich herausbildenden Landesherrschaften, die also anfingen, sich territorial zu definieren, entstanden die sog. Rechtsbücher, welche die Volksrechte ablösten, von denen insbesondere der Sachsenspiegel berühmt wurde. Der Sachsenspiegel war eine private Aufzeichnung, die das in größeren Rechtszonen Mitteldeutschlands geltende Gewohnheitsrecht niederschrieb und zu systematisieren suchte. Er wurde um 1225 von Ritter Eike von Repgow verfasst und gibt das sächsische Land- und Lehnsrecht wieder. Im süddeutschen Raum war der Schwabenspiegel das Pendant zum Sachsenspiegel. Er wurde Ende des 13. Jahrhunderts von einem Geistlichen in Augsburg verfasst und baut auf dem Sachsenspiegel auf, beruht aber stärker auf der Lex Baiuvariorum, fränkischen Kapitularien und enthält auch Anleihen aus dem römischen Recht. Die Rezeption des römischen Rechts und die Herausbildung abstrakt genereller Normen ist eine Geschichte, die sich in deutschen Landen über mehrere Jahrhunderte hinzog. Die Anfänge der Rezeption reichen zurück bis ins 12. Jahrhundert. Die Juristen-Schule in Bologna wurde ein voller Erfolg und bald schon hatten sich mehr als tausend Studenten dort „eingeschrieben“ und studierten die beiden Rechte. Ausgebildet zu Rechtskundigen des römischen Rechts kehrten diese Juristen auch zurück in die „deutschen“ Territorien und beeinflussten die Rechtspraxis. Sie bekleideten wichtige Funktionen und prägten die Entscheidungspraxis der Gerichte, weil sie von den Grundherren, denen die Rechtsprechung für ihre Vasallen formal weiter zustand, zu Rate gezogen und mit wichtigen Ämtern betraut wurden. Die Reichskammergerichtsordnung von 1495 brach dann das Rechtsprechungsmonopol der Adeligen, indem sie 227 bestimmte, dass die Gerichte zur Hälfte von Juristen und zur anderen Hälfte von den adeligen Grundherren besetzt werden sollten. So heißt es in § 1 der Reichskammergerichtsordnung: „Das Kammergericht ist zu besetzen mit einem Richter, der ein geistlicher oder weltlicher Fürst oder ein Graf oder ein Freiherr sein muss, und 16 Beisitzern, die wir alle hier mit Rat und Zustimmung der Versammlung jetzt wählen werden aus dem Reich Deutscher Nation, die alle ein redliches, ehrbares Wesen, Wissen und Erfahrung haben müssen, von denen der halbe Teil der Beisitzer Rechtsgelehrte sein müssen und der andere halbe Teil mindestens aus der Ritterschaft stammen soll. …“ Gleichzeitig übertrug der Kaiser die Rechtsprechung an das Reichskammergericht und löste es vom Amt des Königs oder Kaisers, der bis dato immer oberster Richter war. Das hatte zur Folge, dass das Gericht keinen festen Sitz hatte, sondern mit dem Kaiser umherzog oder gar nicht tagte, wenn er sich außer Landes aufhielt. Das Reichskammergericht hatte dagegen einen festen Sitz, der allerdings im Laufe der Geschichte wechselte. Die Justiz machte einen der ersten Schritte zur Unabhängigkeit. Der Staat differenziert sich aus und löst sich von der sozialen Macht. Grundlage für das Gericht war das „gemeine Recht“, das wesentlich durch das römische und kanonische Recht geprägt war. Das Zentrum, der Kaiser, gewinnt und verliert gleichzeitig an Macht, denn mit der Etablierung des Reichskammergerichts verlor der Kaiser die Funktion als oberster Richter. Im Gegenzug unterwarfen sich die Adeligen dem Gericht und verzichteten auf die Fehde, was zwar nicht den Kaiser, aber zunächst die Zentralgewalt stärkte. Es war ein Schritt in Richtung Gewaltmonopol, wenngleich das im nächsten Zug auf die deutschen Territorialstaaten überging. Die Durchsetzung des allgemeinen Gesetzes dauert bis in die jüngere Vergangenheit an und der Weg zur allgemein abstrakten Rechtsnorm war kein gradliniger. Es gab Gegenbewegungen und Rückschläge. Friedrich II (Regierungszeit 1740–1786) hatte schon in jungen Jahren, orientiert an Montesquieus Forderungen nach klaren Gesetzen für alle Völker, den Versuch unternommen, ein preußisches allgemeines Landrecht einzuführen. Dieser erste Versuch verlief im Sande, wurde aber von Friedrich II in der Mitte der 1770er Jahre wieder aufgenommen. Mit seinen Reformbestrebungen stieß er jedoch auf den Widerstand seines Großkanzlers, des Freiherrn von Fürst, sowie des preußischen „Juristenstandes“, dem an der Bewahrung des alten Rechts und seiner vorsichtigen Fortbildung gelegen war. Durch Kabinettsordre vom 14.4.1780 wurde eine Kommission damit beauftragt, ein Gesetzbuch zur Reform des Justizwesens zu entwerfen, wobei sich die Reformen auf die Gerichtsverfassung, das Prozessrecht und das materielle Recht erstrecken sollten. Das Ergebnis dieser Arbeit wurde 228 nach einigen rückwärtsgewandten Modifikationen, die von Friedrich Wilhelm II, der nach dem Tod von Friedrich II (1786) den Thron bestiegen hatte, durchgesetzt wurden, als Allgemeines Landrecht (ALR) am 1.6.1794 in Kraft gesetzt. 29 Mit dem Allgemeinen Landrecht beabsichtigte Friedrich II nicht zuletzt, die Macht der Juristen, insbesondere der Richter, zu beschränken, indem Auslegungsregeln und das Verbot, sich an Präjudizien zu orientieren, ins Gesetz geschrieben wurden. So hieß es in § 6 PrALR: „Auf Meinungen der Rechtslehrer oder ältere Aussprüche der Richter soll bey künftigen Entscheidungen keine Rücksicht genommen werden.“ Die Richter sollten in Fällen, die nach dem Wortlaut des Gesetzes nicht eindeutig zu lösen sind, keinesfalls selbst entscheiden, das Recht auslegen oder analog anwenden, vielmehr sollte der Richter „seine Zweifel der Gesetzcommißion anzeigen und auf deren Beurtheilung antragen“ (§ 47 PrALR). Das Allgemeine Landrecht war modern, nämlich erstens inhaltlich, weil es neben zivil- und strafrechtlichen auch öffentlich-rechtliche Vorschriften, beispielsweise wege-, gewerbe- oder wasserrechtliche Normen, enthielt und zweitens formal, weil es in vielen Bereichen allgemein abstrakte Normen formulierte. Zitiert sei wiederum der Diebstahl, um den Vergleich mit den oben zitierten Gesetzen zu erlauben. Da heißt es in § 1108 f: „Wer um seines Gewinns, Vortheils, oder Genusses willen, eine bewegliche Sache aus dem Besitze eines Andern ohne dessen Vorbewußt oder Einwilligung entwendet, der macht sich eines Diebstahls schuldig. In der Natur und Bestrafung des Diebstahls macht es keinen Unterschied: ob die Sache dem wahren Eigenthümer, oder einem bloßen Besitzer entwendet worden.“ Modern ist auch der Konflikt zwischen Legislative und Jurisdiktion, der – wie die zitierten Vorschriften zeigen – schon virulent war und zugunsten der Legislative gelöst werden sollte, wobei sich der Monarch besser legitimiert sah als der Juristenstand. Darüber kann man sicher streiten – im Falle des demokratischen Gesetzgebers allerdings sollte die Entscheidungsprärogative wegen der Legitimation durch das Volk eindeutig beim Gesetzgeber liegen. Das Landrecht ist aber insofern unmodern, verharrt in vorbürgerlicher Tradition, als es erstens inhaltlich weiter Privilegien zuerkennt und zuteilt. Auch dazu gab es in § 54 PrALR eine Auslegungsregel mit folgendem Wortlaut: „Privilegien und verliehene Freyheiten müssen, in zweifelhaften Fällen, so erklärt werden, wie sie am wenigsten zum Nachtheile des Dritten gereichen.“ Privilegien wider29 Vgl. Wesel, Geschichte des Rechts, S. 398 ff; Hattenhauer, Einführung in die Geschichte des Preußischen Allgemeinen Landrechts, in: Nachdruck des ALR, S. 11 ff. 229 sprechen der Gleichheit vor dem Gesetz oder der Allgemeinheit des Gesetzes als Form bürgerlichen Rechts. Es ist zweitens mit Blick auf die Interpretationsverbote prozedural oder formal vorbürgerlich, weil das allgemein abstrakte Recht ohne Auslegung wegen seiner Abstraktion nicht funktionieren kann. Die Interpretationsverbote, das Juristenverbot, knüpfen also vormodern an die Volksrechte an mit ihren besonderen, enumerativ und abschließend aufgezählten Fällen, wie wir sie am Beispiel des Diebstahls kennengelernt haben. Schließlich ging dem ALR ein Streit voraus, der auch für das Ende des Weges zum „Bürgerlichen Recht“ (in Deutschland) und auch zum Recht der bürgerlichen Gesellschaft charakteristisch ist, nämlich der Streit um die Frage, ob der Gesetzgeber ein neues Gesetzbuch schaffen soll oder inwieweit die Volksrechte, also das überkommene, tradierte Recht Bestand haben und weiterentwickelt werden sollen. In die deutsche Rechtsgeschichte ist dieser Streit als Kodifikationsstreit eingegangen. Protagonisten dieser Auseinandersetzung waren Savigny und Thibaut. Letzterer war Experte in der Pandektenwissenschaft und veröffentlichte 1814 eine Streitschrift unter dem Titel: „Über die Nothwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutschland“. Dabei ging es natürlich auch um die Zersplitterung des Rechts in der deutschen Kleinstaaterei. Es ging aber auch um eine vom römischen Recht inspirierte Neuentwicklung des Zivilrechts, eben eines „allgemeinen bürgerlichen Rechts“. Das hatte Savigny richtig erfasst, als er mit der Schrift „Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft“ antwortete und eben jene Berufung abstritt, weil das Gewohnheitsrecht organisch weiterentwickelt werden solle; und nicht „durch die Willkür eines Gesetzgebers“ erfunden werden solle, insbesondere Juristen dürften sich nicht berufen fühlen, neues, bürgerliches Recht zu schaffen. Savigny unterlag und wurde dennoch bekannter als sein Kontrahent, was vermutlich auf die konservative Grundeinstellung der Juristen zurückzuführen ist. Im 19. Jahrhundert wurden in Deutschland eine Reihe neuer, einheitlicher Gesetzbücher in Kraft gesetzt – man spricht geradezu von einer Kodifikationsbewegung. Zu den neuen Kodifikationen gehörten das Reichsstrafgesetzbuch von 1871, die sogenannten Reichsjustizgesetze von 1877, nämlich die Zivil- und die Strafprozessordnung, das Gerichtsverfassungsgesetz und die Konkursordnung sowie das Handelsgesetzbuch von 1897. Den Schluss- und Höhepunkt des Bemühens um eine Modernisierung des deutschen Rechts bildete sicher das Bürgerliche Gesetzbuch, das 1896 von Kaiser Wilhelm II unterzeichnet wurde und am 1. Januar 1900 in Kraft trat. Das Recht hatte nun auch in Deutschland – im Vergleich mit etwa Frankreich spät – die Form des allgemeinen Gesetzes angenommen, d.h. es hatte die Form der bürgerlichen Gesellschaft erreicht. 230 Die Rolle des Rechts im Übergang zum Absolutismus und dann zur bürgerlichen Gesellschaft kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Anderson betont dabei nicht nur die Beutung des römischen Rechts für das Marktgeschehen, für den Warentausch, Transport und die Kommunikation, sondern auch für die Etablierung des Grundeigentums. Die Zentralisierung der politischen Macht war – anders als in außereuropäischen Herrschaftsformen – nicht verbunden mit einer Enteignung des Adels, sondern umgekehrt mit einer – nun auch formalen – Aneignung des Landbesitzes, das zunächst ja nur als Lehen übertragen worden war, durch den Adel. Dabei waren die im römischen Recht ausgearbeiteten Formen und Differenzierungen des Eigentums, seiner Übertragung, Beleihung usw. nicht nur nützlich, sondern sie machten die Struktur des bürgerlichen Eigentums überhaupt erst denkbar. Anderson schreibt: „Die von den adligen Grundbesitzern durchgeführte Verwandlung des bedingten Privateigentums in die Form des absoluten Privateigentums war eine unerlässliche Vorbedingung für die Herausbildung des Kapitalismus und markierte für das europäische Agrarsystem den Beginn einer Entwicklung, die für jene Zeit nirgendwo sonst nachweisbar ist. … Die unter Zugrundelegung der überlieferten römischen Gesetzestexte entwickelte Rechtsordnung schuf in der Tat die allgemeinen juristischen Voraussetzungen für einen erfolgreichen Übergang zur kapitalistischen Produktionsweise in Stadt und Land. Nirgendwo anders als in Europa gab es ein geschriebenes Gesetz, das die Sicherheit des Eigentums garantierte, zur Einhaltung und Erfüllung von Verträgen verpflichtete oder den Ablauf wirtschaftlicher Transaktionen zwischen einzelnen Parteien verbindlich regelte.“30 So ist der Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft keineswegs nur als ökonomischer Vorgang zu begreifen, die spezifische Rolle des Rechts hatte einen ebenso großen Anteil wie die Entwicklung einer spezifischen Form der Herrschaftsorganisation, nämlich der bürokratischen Verwaltung, die nun nachzuzeichnen ist. III. Vom Personenverband zum Verwaltungsstab 1. Mittelalterliches „Regieren“ und der soziale Kampf innerhalb der herrschenden Klassen Wenn die deutsche Mediävistik diskutiert, ob man im Mittelalter von einem Staat sprechen kann, zeugt das von vergleichsweise losen politischen Beziehungen, die 30 Anderson, Die Entstehung des absolutistischen Staates, S. 553. 231 sich von den staatlichen Strukturen der Gegenwart deutlich unterscheiden. Recht war erstens kein Instrument politischer Steuerung, sondern Überlieferung, die gelegentlich verschriftlicht wurde. Recht war kein allgemeines Gesetz, das ohne Ansehen der Person galt und es war nicht abstraktes Recht, das Sachverhalte abstrakt formulierte, so dass verschiedene Fälle sich subsumieren lassen. Schließlich gab es kein zentrales System der Rechtsdurchsetzung, kein Gewaltmonopol, das die Durchsetzung von richterlichen Entscheidungen garantierte. Voraussetzung wäre eine institutionale Herrschaft, d.h. Herrschaftsbeziehungen über Institutionen, Apparate, Bürokratien und festgelegte Verfahren, also mit prozeduralen Regelungstechniken. Das charakterisiert die politischen Beziehungen der Gegenwart, aber nicht diejenigen des Mittelalters, wo persönliche Gefolgschaften, eine personale Bindung die politische Herrschaft und die staatliche Macht bestimmte. Das bedeutet nicht, dass es im Mittelalter keine Institutionen und Verfahren gab, über die Herrschaft organisiert wurde, insbesondere der Herrscher bestimmt wurde. Charakteristisch für die Organisation der politischen Herrschaft, für den Staat im Mittelalter war die persönliche Bindung oder Abhängigkeit. Die persönliche Bindung bestand zwischen dem König oder seit der Krönung von Karl dem Großen zum Kaiser zwischen diesem und dem Adel, der seinerseits als Grundherr Vasallen hatte, über die er herrschte. In einer einfachen Vorstellung entsteht so eine Hierarchie zwischen Kaiser, Kurfürsten, unterschiedlichen Grafen (Mark-, Land- oder Pfalzgrafen), Rittern und schließlich den Bauern oder dem Volk. Die Beziehungen waren aber deutlich komplizierter. Zunächst ließe sich daneben eine zweite Hierarchieebene einziehen, nämlich diejenige der Kirche. Dort steht der Papst deutlicher an der Spitze als der Kaiser; es folgen Kardinäle, die verschiedenen Bischöfe, Äbte, für die es schon schwieriger ist, klare Hierarchien auszuweisen, und schließlich die einfachen Priester. Das erste Problem besteht darin, dass die kirchlichen Würdenträger gleichzeitig auch weltliche Macht besaßen, was nicht nur bedeutete, dass Erzbischöfe an der Kaiserwahl teilhatten, sondern auch, dass die Kirchenfürsten über große Ländereien und entsprechende Machtmittel verfügten. Die persönliche Bindung bestand in wechselseitigen Verpflichtungen. In einem einfachen Schema überließ der Kaiser den Fürsten ein Lehen, d.h. Landbesitz zu ihrem Gebrauch. Die Fürsten konnten diese Nutzungsrechte an niedere Adelige weitergeben. Umgekehrt erhielten die jeweils höheren Ebenen Abgaben, also einen Teil der Erträge des Landes, und die Lehnsträger waren zur Gefolgschaft im Kriegsfall verpflichtet, mussten also vor allem selber als Ritter in den Krieg ziehen und entsprechendes Fußvolk mitbringen. Die scheinbar einfache und klare Beziehung und wechselseitige Verpflichtung zwischen König, Adel und Volk wird aber deshalb komplizierter, weil die Lehns232 träger, also der Adel, eigene Interessen entwickelte, die Grenzen nicht klar waren oder personale Bindungen, Treueverpflichtungen zu verschiedenen Personen eingegangen wurden, für die es dann zum Schwure kam, wenn diese in Konflikt miteinander gerieten. Es gab ein „verwickeltes Durcheinander. (So) hatten viele Vasallen mehrere Lehen von verschiedenen Herren und befanden sich mehrere Herren durch mehrere Lehen gleichzeitig auf verschiedenen Stufen des Systems.“31 Im oberen Bereich der mittelalterlichen Gesellschaft, schreibt Perry Anderson, „entstanden mit der zunehmenden Ausbreitung des Lehnswesen innerhalb der Nobilität Formen wechselseitiger Verpflichtungen und Bindungen wahrhaft einzigartigen Charakters, denn die Kombination von Vasallentum, Lehen und Privileg in einem einzigen Komplex schuf jene ambivalente Mischung aus vertraglicher ‘Reziprozität’ und bedingter ‘Subordination’, die die wahre Feudalaristokratie von jeder kriegerischen Ausbeuterklasse einer Gesellschaft, in der eine andere Produktionsweise herrschte, deutlich abhob. Die Belehnung war ein synallagmatischer (gegenseitig bindender) Vertrag: Der Treueeid und die Übergabe des Lehens band beide Parteien an die Erfüllung bestimmter Pflichten und an die Einhaltung bestimmter Absprachen. Ein Vertragsbruch (Felonie), dessen sich nicht nur der Vasall, sondern auch der Lehnsherr schuldig machen konnte, befreite beide Seiten von den Bedingungen des verletzten Kontrakts.“32 Der zentrale Konflikt betraf die Frage der eigenen Autonomie oder Freiheit. Er bezog sich auf die Beziehungen zwischen den verschiedenen Ebenen des Adels und auf die Beziehung zwischen (un)freien Bauern und dem jeweiligen adeligen Grundherrn. Diese Beziehungen waren keineswegs so starr und unbeweglich, wie den gesellschaftlichen Verhältnissen des Mittelalters nachgesagt wird. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung im 11./12. Jahrhundert gelang es den deutschen Bauern durchaus, Freiräume gegenüber ihren Landesherren zu erkämpfen. Diese Erfolge wurden wieder zurückgedreht und im 16. Jahrhundert nach den Bauernkriegen war die Unfreiheit der Bauern stärker als zuvor. Für die Bewertung der Entwicklung von Recht und Staat ist der andere Konflikt von Bedeutung, nämlich der Konflikt zwischen dem Lehnsherren und den Vasallen, zwischen der politischen „Zentrale“ des Reiches, dem König oder Kaiser, und den regionalen Fürsten. Das Lehen, d.h. der Grund und Boden, blieb formal „Eigentum“, d.h. in der Verfügungsbefugnis des Lehnsherrn, der es wieder entziehen und anderweitig vergeben konnte. Es ist offenkundig, dass diese Situation den Lehnsträgern nicht besonders gefallen konnte. Ihnen musste es darum gehen, das Lehen als das Ihrige zu sichern und vererben zu können, 31 Wesel, Geschichte des Rechts, S. 296. 32 Anderson, Die Entstehung des absolutistischen Staates, S. 530. 233 was ihnen im Laufe der Zeit bekanntlich gelang. Umgekehrt hatte der Kaiser ein Interesse, seine politische Macht nach außen und innen zu sichern, was nur gelingen konnte, wenn er sich die Gefolgschaft sicherte, indem er Kontroll- und Anordnungsbefugnisse nach innen durchsetzte. Aus der Perspektive der Fürsten ging es darum, möglichst große Autonomie zu gewinnen, d.h. möglichst viele herrschaftliche Funktionen zu gewinnen und die königlichen Regalien, d.h. die Nutzungs- und Hoheitsrechte, einzuschränken oder an ihnen teilzuhaben. Ein Beispiel für diesen Konflikt findet man in der Geschichte des Reichstages von Roncaglia im Jahre 1158. Dort versuchte Kaiser Friedrich I, Barbarossa, die alten Reichsregalien zu restituieren, d.h. als Hoheitsrechte des Kaisers wieder anerkennen zu lassen. Er stieß damit auf erbitterten Widerstand, insbesondere der italienischen Städte, was ihn schließlich zu einem Kompromiss zwang. Zu den Regalien, die Barbarossa zurückgewinnen wollte, zählten: „die öffentlichen Wege, die schiffbaren Flüsse und ihre Quellflüsse, die Hafengelder, die Uferzölle, die Abgaben, die gemeinhin Zölle genannt werden, die Münzen, die Erlöse aus Bußen und Strafen, verlassene Güter und solche, die Unwürdigen aufgrund der Gesetze genommen werden, wenn sie nicht eigens gewissen Personen überlassen werden, und die Güter derjenigen, die eine blutschänderische Ehe eingehen, der Verurteilten und der Geächteten, gemäß dem, was in neuen Verordnungen vorgesehen wird; die Leistungen der Frondienste und ähnlicher Dienste, der Wagen und Schiffe, und die außerordentliche Beisteuer zur glücklichsten Heerfahrt der königlichen Hoheit, die Befugnis, Beamte einzusetzen zur Ausübung der Gerichtsbarkeit, die Wechselstuben, und die Pfalzen in den gewohnten Städten, die Erträge der Fischereien und Salinen, und die Güter der Majestätsverbrecher, und die Hälfte eines auf kaiserlichem oder kirchlichem Grund gefundenen Schatzes; wenn mit Absicht, gehört er ihm ganz. Alle Gerichtsgewalt und alle Gebotsgewalt liegt beim Kaiser, und alle Richter müssen ihr Amt vom Kaiser empfangen und den Eid leisten welcher vom Gesetz vorgeschrieben ist. Pfalzen und Paläste kann der Kaiser haben an den Orten, an denen es ihm beliebt. Steuern wurden gegeben als Kopfsteuer, Steuern wurden gegeben als Grundsteuer.“ Es ging Barbarossa also um die zentralen staatlichen Aufgaben: um das Militär, die Kriegsbereitschaft, Gerichtsbarkeit, Steuern und die Zentralbank, die Münzhoheit im damaligen Sprachgebrauch. Barbarossa – und das heißt der Kaiser als Zentrale des Reiches – musste eine Niederlage hinnehmen, er konnte die genannten Kompetenzen nicht mehr als kaiserliche durchsetzen. Zunächst verstärkte sich diese Tendenz, d.h. die Macht des Königs oder Kaisers wurde reduziert zugunsten der regionalen Fürsten. Eine weitere Dimension der Konfliktlinien wurde in Roncaglia deutlich. Ein wesentlicher Versuch, die Zentralgewalt zu stärken, lag darin, Fehden und Gewalttaten zu beenden und – zunächst einen Gottesfrieden, der es wenigstens 234 am Sonntag verbot, Unfreie und Frauen zu töten, zu schänden und zu verletzen – einen allgemeinen Landfrieden zu verkünden. Heinrichs IV erließ schon 1103 einen Reichslandfrieden, der wohl einer der ältesten ist. Zu erwähnen ist der Mainzer Reichslandfriede Friedrichs II von 1235, der erstmals in deutscher Sprache verfasst wurde. Erfolgreich waren diese Versuche erst 1495 mit der Einrichtung des Reichskammergerichts durch Maximilian I. Einen der vergeblichen Versuche, mit dem Landfrieden etwas wie das Gewaltmonopol durchzusetzen, unternahm Barbarossa in Roncaglia. Die Bevölkerung zwischen achtzehn und siebzig Jahren sollte sich eidlich verpflichten, den Frieden zu wahren und diesen Eid alle fünf Jahre zu erneuern. Zur Lösung rechtlicher Streitigkeiten wurde der Rechtsweg vorgeschrieben. „Es folgen Sühnebestimmungen für den Fall des Friedensbruchs. Sie bestehen aus der Wiedergutmachung der angerichteten Schäden und nach Verursacher (Städte, Fürsten, Gemeindevorsteher, höhere und niedere Lehnsleute, sonstige) gestaffelten drastischen Geldstrafen zwischen hundert und sechs Pfund Gold, zahlbar an den kaiserlichen Staatsschatz. Es schließt sich die erneute Weisung an, begangenes Unrecht (genannt wird sowohl allgemein ‘inuria’ als auch speziell Raub, Totschlag/Mord (‘Homicidium’) und Verstümmelung auf dem Rechtsweg zu ahnden, gefolgt von Strafmaßnahmen für den Fall, dass Richter oder andere vom Kaiser eingesetzte Obrigkeiten es vernachlässigen, Recht zu schaffen oder eine Verletzung des verkündeten Friedens zu ahnden. Auch hier sind es Geldstrafen (von drei bis zehn Pfund Gold)“33, die als Sanktion festgesetzt worden. Im Heiligen Römischen Reich zeugt das „statutum in favorem principum“ (Statut zugunsten der Fürsten), das im Jahre 1231 von König Heinrich VII unterzeichnet und ein Jahr später von Kaiser Friedrich II bestätigt wurde, von den Auseinandersetzungen um die Macht innerhalb der herrschenden Klasse des Feudalsystems. Zugestanden wurde den Reichsfürsten in ihren Territorien eine Reihe wichtiger Regalien, wie das Münz-, Markt-, Zoll- und Befestigungsrecht sowie der Blutbann, das meint das Recht, gerichtlich die Todesstrafe zu verhängen. Daneben stärkte das Statut die Stellung der Fürsten gegenüber den Städten, denen die Ausdehnung ihres Besitzes und ihrer Gerichtsbarkeit auf ihre Umgebung und die Bildung von Städtebünden untersagt oder erschwert wurde. Es folgte im Jahre 1356 die „Goldene Bulle“. Diese regelte die Modalitäten der Wahl und der Krönung der römisch-deutschen Könige durch die Kurfürsten, denen damit wichtige politische Beteiligungsrechte zuerkannt wurden und die als eine der frühen Verfassungsurkunden gewertet wird. 33 Maczewski, Der Ronkalische Landfriede und das Stadtrecht im 12. Jahrhundert, S. 64. 235 Die genannten Verträge zeugen davon, dass es den Königen und Kaisern des Mittelalters nur mäßig gelungen war, die Zentralgewalt zu stärken, die Oberhoheit des Kaisers oder die Kompetenzen des Reiches im Feudalsystem zu wahren und effektiv durchzusetzen. Es fehlte eben eine Administration, eine „Verwaltung“, die Entscheidungen der „Zentrale“ durchsetzen und vollstrecken konnte. Dabei kann man nur im übertragenen Sinne von einer Zentrale sprechen. Die Kaiser des Heiligen Römischen Reiches residierten nicht in einer Hauptstadt und „regierten“ das Land von dort aus. Sie zogen vielmehr mit dem gesamten Hof durch das Land, residierten in verschiedenen Königspfalzen, die auf königlichem Landbesitz lagen und einem Wirtschaftshof angeschlossen waren. Dabei waren die Bediensteten des Fürsten (Kanzler, d.h. Schreiber, Marschälle oder Stallmeister, Mundschänke und vieles mehr) gleichzeitig die Bediensteten des Kaisers, d.h. es gab keine Trennung zwischen Öffentlichem und Privaten. Der Kaiser versorgte seine „Amtsträger“ aus den Revenuen seiner Ländereien. Allerdings konnte sich der König auf seinem Zug durch das Reich nicht allein auf diese königlichen Residenzen beschränken, sondern musste auch Bischofssitze, Klöster und Reichsstädte für Unterkunft und Verpflegung in Anspruch nehmen. Die finanzielle Belastung für die Beherbergung war angeblich sehr hoch, so war der königliche Besuch nicht nur eine Ehre, sondern auch eine fundamentale Belastung. Der kaiserliche Hof Ottos I († 973) benötigte angeblich täglich 1000 Schweine und Schafe, 10 Fuder Wein, 10 Fuder Bier, 1000 Malter Getreide, 8 Rinder, außerdem Hühner, Ferkel, Fische, Eier, Gemüse und vieles mehr. Aus diesen Zahlen wurde geschlossen, dass der königliche Hofstaat mindestens aus 1000 Personen bestanden hat.34 Die Zahlen sind offenkundig entweder maßlos übertrieben oder die Schätzung liegt meilenweit daneben, denn mehr als ein Schwein wird zwar in dem kleinen gallischen Dorf unter der Herrschaft des Majestix von jedem Einwohner verzehrt, aber wohl nicht im realen Leben. Anzunehmen ist, dass die Zahlen des Chronisten als das übliche Jammern über die hohe Abgabenlast seitens der wohlhabenden Schichten zu werten sind. Die Pfalzen lassen sich als kleine Hauptstädte charakterisieren, in denen der König und sein Stab den Regierungsgeschäften nachgehen konnten. Hier konnten die Herrscher Erlasse verkünden, Urkunden erstellen, Streitigkeiten unter ihren Gefolgsleuten schlichten, Hoftage und Königsgerichte abhalten oder Hochzeiten, hohe kirchliche Festtage und Kindergeburten feiern. Auch Königswahlen und -krönungen fanden vielfach an Pfalzorten statt. Diese Art des „Regierens“ war 34 Vogt-Lüerssen, Alltagsgeschichte des Mittelalters, http://www.kleio.org/de/geschichte/ alltag/kap_III12.html. 236 darauf angewiesen, dass der Herrscher vor Ort war und im Zweifel mit seiner Hausmacht seine Anordnungen durchsetzen konnte. Dabei ging es nicht um den Vollzug von Gesetzen, denn Gesetz war die Überlieferungen, das gegebene, schon immer vorhandene Recht, nicht durch politische Instanzen geschaffene, allgemeine Normen. Recht wurde natürlich durch die Rechtsprechung geschaffen, wobei die Rechtsprechung des Königs mit derjenigen der Grafen konkurrierte und die Kompetenzen keineswegs klar abzugrenzen waren. Klöster und direkte Vasallen des Königs beispielsweise konnten sich an diesen direkt wenden. Ansonsten war diese Art des Regierens auf die Treue der Lehnsträger angewiesen, also auf persönliche Verbindungen und Verpflichtungen des Adels, den Herrscher zu unterstützen. Wenn aber der Adel, d.h. die Lehnsträger, eigene Interessen entwickelten, war das Regieren und die Erhaltung der Macht für den jeweiligen Herrscher eine unsichere Angelegenheit. Also versuchten sie, dieser Verselbständigung entgegenzuwirken und „sichere“ treue „Amtsträger“, d.h. Vertreter ihrer Interessen und Politik zu installieren. Zur Unterstützung der Herrschaft existierte schon im Frühmittelalter die Institution des missus, des herrschaftlichen Boten. Karl der Große erließ im Jahr 802 die capitulare missorum generale, womit der Wirkungsbereich und die Vollmachten der Boten reguliert wurden. Die Missii waren Vertreter der Reichsregierung, was bedeutet, dass ihre Befugnisse entsprechend umfassend waren. Sie reichten von der Rechtsprechung über die Übersendung und Vollstreckung einzelner Dekrete und Edikte bis zur Eintreibung von Abgaben und Bußen. Rekrutiert wurden die Missii aus dem Adel und dem höheren Klerus, weil diese „finanziell“ unabhängig waren, d.h. ihre Arbeit war mit den verliehenen Lehen „abgegolten“. Karl war vergleichsweise weit in seiner Vorstellung einer effektiven Verwaltung. So verbot er persönliche Bindungen oder Beziehungen der Boten am Orte ihres Einsatzes. Zudem arbeiteten sie nach dem Vieraugenprinzip: neben einem weltlichen sollte ein kirchlicher Abgesandter die Anweisungen des Königs vollziehen und die Missii rotierten jährlich. Die Kombination dieser Elemente sollte verhindern, dass sich neue persönliche Abhängigkeiten, Loyalitäten oder eine Klientelwirtschaft etablierten. Die Institution verfiel aber schon gegen Ende des 9. Jahrhunderts. Schon der Nachfolger von Karl, Ludwig der Fromme, weichte die Regeln auf, so dass die Königsboten begannen, eigene Interessen mit denen des Reiches zu vermischen. Das Lehnssystem selbst und die Missii müssen als Versuch verstanden werden, die kaiserliche Macht abzusichern und Herrschaft zu organisieren. Die Sachsenkaiser ersannen eine Abwandlung in der Form der kaiserlichen Verwaltung durch die Einbeziehung der Kirche oder kirchlicher Würdenträger in die Administration 237 des Reiches, konkret indem Lehen an Kirchenmänner vergeben wurden. Die Kirche war schon hierarchisch organisiert und mit dem Zölibat hatte der Papst ein Instrument geschaffen, um eine Verselbstständigung der kirchlichen Würdenträger zumindest zu begrenzen – das wird noch zu diskutieren sein. Kirchenmänner schienen also als loyale Gefolgsleute und Amtsträger besonders geeignet zu sein. Aber der Versuch, die Verwaltung des Reiches mittels kirchlicher Amtsträger zu effektivieren und besondere, eigene Interessen auszuschließen, führte zum Konflikt zwischen Kaiser und Papst um das Recht, kirchliche Ämter zu besetzen. Das zeigt, dass die persönliche Bindung und Treue längst nicht ausgeschaltet war, sondern ein bestimmendes Element in den politischen Beziehungen darstellte. Der Konflikt endete mit dem Investiturstreit, an dessen Ende – nach dem berühmten Gang nach Canossa –die Macht der Kirche gestärkt wurde und die kirchlichen Würdenträger für die „Reichsverwaltung“ an Bedeutung verloren. Sie blieben bis zur Gründung der Universitäten immer noch die „Intellektuellen“ und oftmals Ratgeber der Fürsten. Außerdem beherrschten sie das Bildungswesen, waren in einer Person z.B. oft Priester und Dorfschullehrer. Aber der kirchliche Einfluss und die Verflechtung hatten nach dem Investiturstreit eine andere Qualität. Neben diesen Versuchen, die „Reichsverwaltung“ mittels der kirchlichen Würdenträger zu organisieren, setzten die Kaiser des Heiligen Römischen Reichs unfreie Verwalter, Staatsdiener ein, die Ministeriale genannt wurden. Die Bezeichnung bedeutet, dass die Person Inhaber eines Amtes oder Aufgabenbereiches war. Diese Ministerialen waren z.T. Sklaven der Herrscher, die im Feudalsystem keineswegs abgeschafft wurden. Eingesetzt wurden auch unfreie oder hörige Untertanen des Herrschers. Ihren Ursprung hat die Ministerialität in dem Bestreben der Machthaber zur intensiven Durchdringung, also Organisation und Kontrolle ihres eigenen Herrschaftsbereiches durch unfreie aber waffenfähige Dienstleute. Weil die Funktion oder Aufgabe der Ministerialen darin lag, den Herrschaftsbereich zu organisieren, lassen sich ihre Funktionen als „leitende“ Funktion charakterisieren. Dazu gehörte etwa die Führung der Finanzen oder Leitung verschiedenster Besitzungen, etwa eines landwirtschaftlichen Gutes, Hofes oder einer Burg, was zu der besonderen Bezeichnung Burgmann führte, dem es oblag, die Burg zu verwalten und zu bewachen, solange der Burgherr abwesend war. Ministeriale waren es auch, welche zunächst die Städte im Namen des Stadtherrn verwalten, also bevor die Städte unabhängig geworden sind. Weil sie auch das Münzwesen verwalteten und den Zoll einnahmen, konnten sie zu einem gewissen Reichtum gelangen. Das führte dazu, dass etwa die Verwalter einer Stadt, nachdem die Stadt unabhängig geworden war, d.h. Stadtrechte erworben hatte, zur Oberschicht gehörten und zusammen mit den reichen Kaufleuten das Patriziat 238 bildeten, das die Regierung der Stadt übernahm. Im Ergebnis gelang es vorerst auch nicht, durch unfreie Amtswalter die Abhängigkeit und Loyalität gegenüber dem Herrscher sicherzustellen, jedenfalls nicht, soweit diese „Amtsträger“ eigene Interessen entwickelten und diese verfolgen konnten. Dies musste so lange der Fall sein, so lange die Gegenleistung der Herren für die Dienste in der Zuteilung von Ausbeutungs- oder Aneignungsrechten bestand. Die Inhaber dieser Rechte mussten ein Interesse entwickeln, diese Rechte zu verstetigen und zu vererben. Die Reichsverwaltung und das Regieren im Mittelalter unterschied sich – das liegt auf der Hand – deutlich von der Regierungs- und Verwaltungspraxis in der bürgerlichen Gesellschaft, wie unterschiedlich diese Praktiken von Land zu Land im Detail auch sein mögen. Herrschaft war eben nicht, wie Weber es definierte, ein „politischer Anstaltsbetrieb“ dessen „Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwangs für die Durchführung der Ordnung in Anspruch nimmt.“35 Es fehlte sowohl am Anstaltsbetrieb wie am Verwaltungsstab wie an der erfolgreichen Inanspruchnahme eines Gewaltmonopols. Weber hat in Abgrenzung zur bürokratischen Herrschaft seine Beschreibung der „traditionalen Herrschaft“ recht offensichtlich an den Strukturen der mittelalterlichen Herrschaft ausgerichtet. Weber schreibt: „Traditional soll eine Herrschaft heißen, wenn ihre Legitimität sich stützt und geglaubt wird auf Grund der Heiligkeit altüberkommener (‘von jeher bestehender’) Ordnungen und Herrengewalten. Der Herr (oder: die mehreren Herren) sind kraft traditional überkommener Regel bestimmt. Gehorcht wird ihnen kraft der durch die Tradition ihnen zugewiesenen Eigenwürde. Der Herrschaftsverband ist, im einfachsten Fall, primär ein durch Erziehungsgemeinsamkeit bestimmter Pietätsverband. Der Herrschende ist nicht ‘Vorgesetzter’, sondern persönlicher Herr, sein Verwaltungsstab primär nicht ‘Beamte’, sondern persönlichen ‘Dienern’, die Beherrschten nicht ‘Mitglieder’ des Verbandes, sondern entweder: 1. ‘traditionale Genossen’ (§ 7 a) oder 2. ‘Untertanen’. Nicht sachliche Amtspflicht, sondern persönliche Dienertreue bestimmten die Beziehungen des Verwaltungsstabes zum Herrn. Gehorcht wird nicht Satzungen, sondern der durch Tradition oder durch den traditional bestimmten Herrscher dafür berufenen Person, deren Befehle legitim sind in zweierlei Art: a) teilweise kraft eindeutig den Inhalt der Anordnungen bestimmender Tradition und in deren geglaubtem Sinn und Ausmaß, welches durch Überschreitung der traditionalen Grenzen zu erschüttern für die eigene traditionale Stellung des Herrn gefährlich werden könnte, b) teilweise kraft der freien Willkür des Herrn, welcher die Tradition den betreffenden Spielraum zuweist. Diese 35 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 29. 239 traditionale Willkür beruht primär auf der prinzipiellen Schrankenlosigkeit von pietätspflichtmäßiger Obödienz.“36 Die traditionale Herrschaft definiert Weber in deutlicher Abgrenzung oder als Kontrast zur „legalen Herrschaft mittels bürokratischem Verwaltungsstab“, also der Herrschaftsform, die sich im Kapitalismus herausgebildet hat. Weber definiert letztere so: „Die Gesamtheit des Verwaltungsstabes besteht im reinsten Typus aus Einzelbeamten (Monokratie, im Gegensatz zur ‘Kollegialität’, von der später zu reden ist), welche 1. persönlich frei nur sachlichen Amtspflichten gehorchen, 2. in fester Amtshierarchie, 3. mit festen Amtskompetenzen, 4. kraft Kontrakts, also (prinzipiell) auf Grund freier Auslese nach 5. Fachqualifikation – im rationalsten Fall: durch Prüfung ermittelter, durch Diplom beglaubigter Fachqualifikation – angestellt (nicht: gewählt) sind, – 6. entgolten sind mit festen Gehältern in Geld, meist mit Pensionsberechtigung, unter Umständen allerdings (besonders in Privatbetrieben) kündbar auch von Seiten des Herrn, stets aber kündbar von Seiten des Beamten; dies Gehalt ist abgestuft primär nach dem hierarchischen Rang, daneben nach der Verantwortlichkeit der Stellung, im übrigen nach dem Prinzip der ‘Standesgemäßheit’ (Kap. IV), 7. ihr Amt als einzigen oder Haupt-Beruf behandeln, 8. eine Laufbahn: ‘Aufrücken’ je nach Amtsalter oder Leistungen oder beiden, abhängig vom Urteil der Vorgesetzten, vor sich sehen, 9. in völliger ‘Trennung von den Verwaltungsmitteln’ und ohne Appropriation der Amtsstelle arbeiten, 10. einer strengen einheitlichen Amtsdisziplin und Kontrolle unterliegen.“37 Damit beschreibt Weber die Verwaltung der modernen kapitalistischen Staaten, insbesondere natürlich die Verwaltung in Deutschland – oder die wie sie sein sollte und vorgibt zu sein. Die Differenz der modernen Herrschaft mittels bürokratischem Verwaltungsstab zur mittelalterlichen Herrschaft und politischen Struktur wird deutlich. So stellt sich die Frage, welche Entwicklungen zur Herausbildung der modernen Bürokratie geführt haben, die für das Funktionieren der kapitalistischen Ökonomie ebenso erforderlich ist wie das rationale Recht. Wesentlich für die weitere Diskussion ist, dass von einer persönlichen Bindung an den Herrscher auf eine Bindung an das Gesetz umgestellt wird, also Satzung, d.h. gesetztes Recht und nicht Tradition oder Treue die Tätigkeit der Administration regeln. Daraus folgen dann viele der von Weber aufgezählten weiteren Merkmale, wie die sachliche Amtsführung ohne Ansehen der Person oder die rechtlich festgelegte Hierarchie einschließlich der Weisungsrechte. Gesondert zu betrachten ist die 36 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 130. 37 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 126. 240 Vergütung der Tätigkeit durch ein festes Gehalt, das in Geld ausbezahlt wird, was einen deutlichen Unterschied zur mittelalterlichen Struktur aufweist, wo die Dienste durch Nutzungsrechte „bezahlt“ wurden, meist Land, das zu Lehen gegeben wurde oder worden war und vom Lehnsträger ausgebeutet werden konnte. Schließlich ist die Auswahl der modernen Beamten, die nach Befähigung, fachlicher Leistung und Eignung erfolgen soll, zu unterscheiden von einer Beauftragung nach Stand und mittels oder im Zusammenhang mit bestimmten Privilegien. 2. Besoldung und Bürokratisierung der Herrschaft a) Die katholische Kirche als Vorbild effektiver Administration Oben wurde schon diskutiert, dass Sombart nicht den Protestantismus, sondern den Katholizismus als Ursprung des „kapitalistischen Geistes“ ausgemacht hat. Mit dieser These ist er auf weit weniger Zustimmung gestoßen als Weber. Zustimmung findet aber die These, dass die Organisationsstruktur der katholischen Kirche vorbildlich für den modernen Staat und letztlich den Staat der bürgerlichen Gesellschaft gewesen ist. Das gilt für das Rechtssystem, die hierarchische Struktur der Kirche und für deren „Amtsführung“. Uwe Wesel bemerkt: „Die Kirche war im Investiturstreit und besonders durch das Verbot der Priesterehe eine mächtige eigenständige Organisation geworden, hierarchisch gegliedert, in der sich Elemente staatlicher Herrschaft entwickelt hatten, die bald den Landesfürsten als Vorbild dienten.“38 Ausführlicher notiert Wolfgang Reinhard: „Die römische Rechtskirche besaß aber nicht nur in der Theorie, sondern auch in der institutionellen Praxis einen Vorsprung vor werdenden Staaten. Päpstlicher Alleinherrschaftsanspruch (plenitudo potestatis), Zentralismus, Verwaltungsapparat und Steuerwesen ließen sie im Mittelalter zum Modell des modernen Staates werden. Auch weltliche Gewalten mussten ihr Führungspersonal zunächst aus der Kirche rekrutieren. Besonders folgenreich war, dass dabei (1) der kirchliche Amtsbegriff, der die Priester zu den ersten Beamten gemacht hat, europaweit rezipiert wurde. Als die meisten Monarchien außer England noch eher ‘Personalverbandsstaaten’ gewesen sind, war die Kirche (2) mit ihren Kirchenprovinzen, Bistümern, Archidiakonaten und Pfarreien bereits auf dem Weg zum Flächenstaat, auch wenn das vormoderne Privilegienwesen das Territorialprinzip zu Gunsten der Orden durchlöcherte, was erst vom Konzil von Trient korrigiert werden konnte. Weiter ist (3) das kirchliche Vorbild für die ständischen Körperschaften und deren Verfahren nicht zu übersehen. Schließlich ist (4) der Einfluss der Klöster auf die politische Kultur zu beachten. Früh 38 Wesel, Geschichte des Rechts, S. 314. 241 neuzeitliche Sozialdisziplinierung war nicht ausschließlich auf den Neustoizismus angewiesen, monastische Disciplina wohlgeordneter Gemeinschaften als Vorbild dienen konnte und von den Klöstern als den ersten Schulen Europas weitergegeben wurde.“39 Schauen wir auf einzelne Elemente dieser Entwicklung. Die christliche Religion wird noch im römischen Imperium zur Staatsreligion und ist die einzige Institution, die den Untergang des Römischen Reiches überlebt und einige seiner Institutionen übernehmen konnte. Dazu gehört vor allem das kanonische Recht, das allerdings – wie schon gesehen – auch im 11. Jahrhundert eine neue Blüte und Systematisierung erfuhr. Es bleibt aber für die Organisation der Kirche ein wichtiges Steuerungsinstrument, das verglichen mit den persönlichen Treueschwüren und Verbindungen der weltlichen die kirchliche Herrschaft effektiv organisierte. Nur mit dem aus Rom überkommenen Rechtssystem war gleichsam der Zentralismus und die hierarchische Steuerung möglich – wenn diese auch nicht so zu denken ist wie die Rechtsdurchsetzung im modernen bürgerlichen Staat. Insbesondere auf lokaler Ebene waren die Machtverflechtungen oft relevanter als die kirchliche Hierarchie. Die strenge Hierarchie der Kirche mit dem Papst als Zentrum war dem Christentum allerdings nicht in die Wiege gelegt, sondern ist Ergebnis von Kämpfen der östlichen und westlichen Kirche, um die Vormachtstellung und Ergebnis des erfolgreichen Versuchs, den Bischof von Rom als Oberhaupt der katholischen Kirche anzuerkennen. Dieser war bis ins vierte Jahrhundert keineswegs als Oberhaupt anerkannt, sondern anderen Bischöfen gleichgestellt. Dabei ist die Bezeichnung Bischof die Übersetzung von epískopos (ἐπίσκοπος), was Aufseher bedeutet, schon der Anfang einer Hierarchisierung, die sich bereits im zweiten Jahrhundert u.Z. etablierte. Die Bischöfe unterschieden sich zunächst nicht von den Ältesten (πρεσβύτερος – presbyteros) und Diakonen (διάκονος – diakonos, was Diener bedeutet), übernahmen zunächst eine informelle Führungsposition, die schon bald formalisiert oder institutionalisiert wurde. Der Bischof war zunächst der Leiter einer Gemeinde und hob sich insofern von Presbytern (der sprachliche Ursprung von Priester) und Diakonen ab. Unterschiedlich schnell übernahmen die Bischöfe die Leitung mehrerer Gemeinden. Unter diesen Bischöfen war der römische aber noch Gleicher unter Gleichen. Im Laufe der Entwicklung beanspruchten die Bischöfe, deren Gemeinden angeblich von einem Apostel gegründet worden waren, nämlich Rom, Konstantinopel, Alexandria, Antiochia und Jerusalem, Ober- oder Erzbischöfe der noch nicht gespaltenen christlichen Kirche zu sein. 39 Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 261. 242 Obwohl die Konzile der Spätantike im Osten des Römischen Reiches stattfanden, was für eine höhere Bedeutung des Ostens sprach, galt der Bischof von Rom schon frühzeitig als „Schiedsrichter“ in strittigen theologischen und juristischen Fragen. Im vierten Jahrhundert beanspruchte der Bischof von Rom eine Vorrangstellung gegenüber den anderen Bischöfen, konnte diese aber nur im Westen durchsetzen. Seitdem trug der römische Bischof die Bezeichnung „Pontifex Maximus“. Das Konzil von Chalkedon anerkannte Papst Leo I nicht als Oberhaupt der östlichen Kirche; dort blieb der Patriarch von Konstantinopel tonangebend. Der Titel „Papst“ wird erstmals für Marcellinus, der als 29. Bischof von Rom amtierte, benutzt. Auf einer Inschrift des Diakons Severus in der Calixtus-Katakombe findet sich das Wort „papa“ (Papst). Es war wohl der römische Bischof Siricius (384–399), der sich als Erster offiziell als „papa“ bezeichnete. Gregor I (590–604) führte dann den Begriff Papst als offizielle Amtsbezeichnung ein. Siricius führte gleichsam mit der Bezeichnung auch einen neuen Stil ein, indem er – überzeugt von seiner Vormachtstellung – eher Anordnungen oder Dekrete erließ und nicht versuchte zu überzeugen, „ins Gewissen“ zu sprechen. Unter anderem ordnete Gregor I an, dass Bischöfe nur noch von mehreren anderen Bischöfen und mit Zustimmung Roms geweiht werden dürfen und bekräftigte die Zölibatsvorschrift. Diese lässt sich unschwer als Grundlage einer Amtskirche interpretieren, die beanspruchte und der es mehr oder weniger gut gelang, sich die Loyalität ihrer Mitglieder zu bewahren, also der Bildung von Tendenzen zur Verselbstständigung entgegenzuwirken. Durch das Zölibat verschaffte sich die katholische Kirche einen entscheidenden Vorteil gegenüber der weltlichen Macht. Sie behielt die Verfügungsgewalt über Ämter und Territorien, d.h. auch über die Einnahmequellen. Die Synode von Elvira 310 fasste Beschlüsse, um die kirchliche Disziplin zu erneuern. Im ersten Schritt wurde den Priestern nicht die Heirat verboten, aber es wurde ihnen auferlegt, in der Ehe das Gebot der Keuschheit zu beachten.40 Dabei wird in der entsprechenden Vorschrift, in Kanon 33, sauber unterschieden zwischen Tatbestand und Rechtsfolge, das ist die Form des modernen Rechts, die sich die Kirche bewahrt hatte, die – wie gezeigt – für die Rechtsbildung stilbildend blieb. Die Vorschrift lautete: „Über die Bischöfe und Altardiener, dass sie sich nämlich ihrer Ehefrauen enthalten: Man stimmt in dem vollkommenen Verbot überein, das für Bischöfe, Priester, Diakone, d.h. für alle Kleriker, die im Altardienst stehen, gilt, dass sie sich ihrer Ehefrauen enthalten und keine Kinder zeugen; wer aber solches getan hat, soll aus dem Klerikerstand ausgeschlossen werden.“ 40 Heinemann, Eunuchen für das Himmelreich, S. 107. 243 Das Gebot der Enthaltsamkeit erschien unter gegebenen Bedingungen wohl als die effektivste Methode der Verhütung. Die Heirat blieb erlaubt, aber nicht der eheliche Verkehr und damit letztlich das Zeugen von Kindern. Dieses Gebot zur Keuschheit war offenkundig schwer überprüfbar – natürlich nur bis tatsächlich ein Kind gezeugt wurde. Die Regel wurde deshalb mehrfach bekräftigt und neu formuliert. Schließlich wurde sie jedoch zum Verbot der Eheschließung „weiterentwickelt“. Auf dem 2. Laterankonzil 1139 unter dem Vorsitz von Innozenz II wurde die Priesterehe ganz verboten, „damit die gottwohlgefällige Reinheit sich unter den kirchlichen Personen und Weihegraden ausbreite”.41 Die erste Fassung des Zölibats zeigt aber: Für die Organisation der Kirche zentral war nicht die Ehe-, sondern die Kinderlosigkeit. Die Ehelosigkeit kann nur als Maßnahme zur Durchsetzung oder zum Vollzug des Gebots der Kinderlosigkeit verstanden werden – unabhängig von jeder theologischen Begründungsideologie. Ähnlich wie die Lehnsmänner erhielten die Kirchenmänner, wenn ihnen ein Amt zugewiesen wurde, auch Pfründe, d.h. Territorien oder Kompetenzen, die sie nutzen oder besser ausbeuten konnten. Von den Bauern der Territorien wurde vor allem der Zehnte, die Kirchensteuer einkassiert. Diese Pfründe werden lebenslänglich vergeben, danach fielen sie zurück an die Kirche, eben weil es rechtlich ausgeschlossen war, dass der Kirchenmann Nachkommen hatte, denen er die Pfründe übertragen konnte. Der „Klerikerstand“ wird durch das Zölibat nur der Kirche verpflichtet, entwickelt wenige Tendenzen zur Verselbständigung, d.h. zur Verfolgung eigener Interessen. Es gibt keine Nachkommen, denen etwas hinterlassen werden könnte, nicht einmal Ehefrauen, für deren Unterhalt und Wohlergehen nach dem Ableben gesorgt werden müsste. Seit dem 5. Jahrhundert gibt es außerdem ein Veräußerungsverbot für Kirchengüter, das im Lauf der Geschichte immer weiter gefasst wurde. Papst Gregor IX (ca.1167–1241) verbot die Veräußerung, Schenkung, Beleihung, Pfändung, kurz: alle dinglichen Rechtsgeschäfte mit Kirchengütern ohne Zustimmung des Bischofs. Die jeweiligen Amtsträger konnten sich also nur aus dem Laufenden bereichern, nicht aber die Substanz angreifen, was der individuellen Bereicherung Grenzen setzte und dafür sorgte, dass die Kirchengüter an Nachfolger weitergegeben werden konnten. Das macht die kirchliche Organisation mit Webers bürokratischem Verwaltungsstab vergleichbar, der seine Geschäfte sine ira et studio führt. Und es unterscheidet ihn vom Lehnsempfänger des Mittelalters, der ein hohes eigenes Interesse entwickelte, das Lehen zu vererben, also zumindest eine eigentumsähnliche Position zu erlangen und zu perpetuieren. Anstelle der persönlichen 41 Heinemann, Eunuchen für das Himmelreich, S. 116. 244 Abhängigkeit und Privilegienwirtschaft entwickelte sich in der Kirche eine Form der rechtlich organisierten Hierarchie, die viel später Vorbild für die Organisation der staatlichen Administration wurde. So lässt sich der Aufbau der katholischen Kirche als Urform bürokratischer, hierarchischer Verwaltung charakterisieren. Den kirchlichen Fürsten waren und sind Machtansprüche selbstverständlich nicht fremd und die aufgestellten Regeln wurden keineswegs durchweg beachtet oder vollzogen. Wegen nicht beizulegender durchaus profaner Streitigkeiten spaltete sich die Kirche zunächst 1054 in die östliche orthodoxe und die westliche katholische. Diesem morgenländischen folgte das abendländische Schisma (1378–1417) mit Päpsten und Gegenpäpsten, die in Rom und in Avignon residierten. Das Keuschheitsgebot wurde – selbstverständlich – von den Spitzen bis in die „unteren“ Ränge der kirchlichen Hierarchie missachtet: Päpste zeugten Nachwuchs oder waren gar Abkömmlinge von Kirchenmännern – auch noch nach dem Zölibatsgesetz von 1139.42 Und auch in den Klöstern und Pfarreien war man offenbar von der verordneten Keuschheit weit entfernt. Trotz dieser offenkundigen Praxis neben den kirchlichen Dogmen und Normen muss die Organisationsstruktur der Kirche als effektiver bewertet werden als die weltliche Herrschaft. Es gab früh eine klar erkennbare Hierarchie innerhalb der Kirche, die religiös legitimiert wurde und – anders als die personalen Bindungen der weltlichen Herrschaft – als bürokratische Weisungsstruktur erscheint, die rechtlich abgesichert ist. Die Hierarchie und effektive Administration ist unter anderem davon abhängig, wer die entsprechenden Posten wie besetzen kann. Nach dem Zusammenbruch Westroms wurde die Macht des Papstes durch ein Bündnis mit den weltlichen Herrschern gestärkt. Die Päpste unterstützten die jeweiligen deutschen Könige und wurden im Gegenzug als Oberhaupt der – westlichen – Kirche anerkannt. Eine deutliche Stärkung erfuhr die Stellung des Papstes im Jahre 754, als der Frankenkönig Pippin III und Papst Stephan II einen Freundschaftsvertrag schlossen, mit dem die Rechte der Kirche anerkannt wurden und der König deren Schutz versprach. Das bedeute gleichzeitig, dass sich die Kirche dem Thron unterordnete. Schließlich „schenkte“ Pippin III dem Papst die Stadt Rom und weite Teile Italiens. Das war die Geburtsstunde des Kirchenstaates, der bis 1870 weiter bestand43 und sich anschließend auf die Vatikanstadt beschränkte. Die Kirche erwies sich dankbar, wovon Karl der Große 42 Eine Liste der Päpste mit Ehefrauen oder Konkubinen findet man hier: www.vkpf.de/ zoelibat/geschichte/118-paepste-die-das-zoelibat-nicht-lebten (gefunden 29.3.2015). 43 Für den Machtverlust, der mit der Auflösung verbunden war, entschädigte sich der Papst, indem er sich „Unfehlbarkeit“ bescheinigen ließ. 245 profitierte. Papst Leo III krönte ihn Weihnachten des Jahres 800 zum Kaiser, d.h. zum römischen Kaiser. Auch Karl ließ sich darauf nicht lumpen und sicherte die Einnahmen der Kirche. Gefordert hatte die Kirche den Zehnten, also 10 % des Gewinns, also vor allem der Ernte. Karl akzeptierte diese Forderung und führte den Zehnten gleichsam als Kirchensteuer ein. Die Kirche organisierte darauf ein „gewaltiges, die gesamte Kulturwelt umspannendes Steuersystem“44, während die römischen Kaiser deutscher Nation die „öffentlichen“ Kosten, ebenso wie die anderen Fürsten, immer noch aus ihrem „Privatbesitz“, d.h. aus den Einnahmen ihrer Gütern bestritten. Eine Trennung von privat und öffentlich ist hier eher künstlich und zeigt den verwaltungstechnischen Vorsprung der katholischen Kirche. In der Beziehung zwischen weltlicher und kirchlicher Macht hatte die erste noch einen Vorsprung, der letztlich auf die potenziellen Gewaltmittel zurückzuführen ist. Mit dem „Reichskirchensystem“, das sich im 10. Jahrhundert etabliert hatte, beanspruchte der Kaiser nicht nur das Recht, die Bischöfe einzusetzen, sondern auch Äbte und andere Geistliche. Die übernahmen mit dem kirchlichen Amt auch weltliche Aufgaben und Kompetenzen und waren folglich dem Kaiser zu Treue verpflichtet. Die Übertragung administrativer Rechte auf Kirchenmänner war ein Versuch, die „Reichsverwaltung“ zur Loyalität zu verpflichten, was schon diskutiert wurde. Von der Kirche wurde das als Laieninvestitur geschmäht, und als einer der schärfsten Kritiker dieser Praxis, der Mönch Hildebrand, zum Papst Gregor VII gewählt wurde, kam es zum Konflikt mit dem Kaiser. Den Armeen des Kaisers stellte Gregor einen religiösen Zauberspruch entgegen, den Kirchenbann. Nur war die Mitgliedschaft in der katholischen Kirche für damalige Herrscher insofern wichtig, als sich die Vasallen nur an ihren Treueschwur gebunden fühlten, solange der Herrscher Mitglied der christlichen Kirche war. Der Investiturstreit endete bekanntlich 1076/77 mit dem berühmten Gang nach Canossa von Heinrich IV. Mit dem Wormser Konkordat aus dem Jahre 1122 wurde ein Kompromiss erzielt, der die Richtung der zukünftigen Entwicklung anzeigte, nämlich die Trennung von kirchlichen und weltlichen Ämtern. Heinrich V. akzeptierte den Anspruch der Kirche auf das Recht der Investitur der kirchlichen Würdenträger. Im Gegenzug gestand Papst Calixt II dem Kaiser zu, dass die Wahl der deutschen Bischöfe und Äbte in Gegenwart kaiserlicher Abgeordneter stattfand. Die weltlichen Kompetenzen, die Regalien, wurden in einem gesonderten Akt vom Kaiser verliehen. Dem Wormser Konkordat ver44 Sombart, Der Bourgeois, S. 304. 246 gleichbare Vereinbarungen wurden bereits 1107 mit England (Konkordat von Westminster) und Frankreich, später dann 1208 mit Aragon geschlossen und nochmals später mit Schweden und Norwegen. Damit hatte die Kirche, genauer der Papst, Zugriff auf die kirchlichen Amtsträger. Die Hierarchie war perfekt, die Macht des Papstes gestärkt, die Kirche zentralistisch hierarchisch organisiert. Kurz: Über das kanonische Recht, Zölibat, hierarchische Organisation und das Steuersystem schaffte sich die katholische Kirche eine effektive Verwaltung, die sich die weltlichen Fürsten zum Vorbild nehmen konnten und mussten, als es darauf ankam, ihre Macht gegen Konkurrenten zu verteidigen und auszubauen. b) Staatsverwaltung Die Organisationsstruktur der weltlichen Herrschaft hinkte der kirchlichen hinterher. Im Vordergrund stand nicht die Amtseignung und Amtsführung, sondern die persönliche Treue und Verbundenheit, die im Zweifel vertraglich abgesichert wurde, also in Form von Leistung und Gegenleistung erbracht wurde. Die Vasallen leisteten Unterstützung bei kriegerischen Auseinandersetzungen, dafür wurden ihnen von den Lehnsherren Rechte eingeräumt und Territorien – mitsamt den ansässigen Bauern – zur Ausbeutung zur Verfügung gestellt. Aus der Sicht der Lehnsherren bestand das Problem darin, dass diese Form der Verbindung ausgesprochen unsicher war, und vor allem darin, dass sich die Fürsten verselbständigten, zu regionalen oder lokalen Machthabern wurden, mit denen sich der Lehnsherr im Zweifel nicht mehr anlegen konnte, ohne andere um Unterstützung – mit entsprechenden Gegenleistungen – zu bitten. Die Kaiser unternahmen – wie gesehen – verschiedene Anläufe, um ihre Herrschaft besser abzusichern, die aber über kurz oder lang scheiterten, weil sie auf neue Machtansprüche stießen. Im 13. Jahrhundert – nach dem sog. Interregnum – unternahm zunächst Rudolf von Habsburg (1218–1291), dann einige seiner Nachfolger den Versuch, das Reich zu stärken, indem sie „verloren“ gegangene Gebiete wieder zu Reichsgebieten erklärten. Sie betrieben eine Politik der Revindikation, die mehr oder weniger erfolgreich war. In einigen Fällen konnten nur kleinere Gebiete, Fischteiche oder Forste zurückübertragen werden, anderswo gelang es zunächst, größere Gebiete wieder als Reichsgebiet zu beanspruchen, wobei zwischen dem persönlichen und dem öffentlichen Besitz des Herrschers schwer zu unterscheiden war. Im Süden gelang die Revindikation offenbar besser als im Norden Deutschlands. Entscheidend für unsere Überlegungen ist, dass der König Landvögte einsetze, die zunächst damit beauftragt waren, Reichsgebiete ausfindig zu machen, zu vindizieren und schließlich zu verwalten. Zu den Verwaltungsaufgaben gehörten 247 etwa das Festsetzen und Einziehen von Steuern, aber teilweise auch die Rechtsprechung und der Vollzug des Rechts. Die Institution des Vogtes wird als Ursprung der deutschen Verwaltung verstanden. So schreibt Leuschner: „Überall da, wo die Revindikationspolitik erfolgreich war, musste selbstverständlich für Verwaltung gesorgt werden. Auch darin steht Rudolf, was das Deutsche Reich angeht, am Anfang einer sehr langsam vorangehenden Reichspolitik. Die ersten, vorsichtigen Anfänge eines vergleichsweise moderneren Beamtenwesens können wir darin sehen, dass Rudolf eine Fülle von Vögten und unmittelbar vom Reiche beauftragten Beamten (Offizialen) in den wiedergewonnenen Gebieten einsetzte.“45 Auch die Vögte verselbständigten sich im Laufe der Zeit gegenüber der Zentralregierung, wurden in den Adelsstand gehoben und zu den neuen Herren der von ihnen zunächst verwalteten Gebiete oder wurden vom „alten“ Adel verdrängt, bzw. dieser ließ sich die königlich verwalteten Gebiete bei entsprechender Gelegenheit übereignen. Die Bedeutung der Landvögte für die Entwicklung liegt nicht so sehr in der neuen Form des administrativen Dienstes, sondern darin, dass in der Kategorie des Territoriums gedacht wurde und nicht in Kategorien des Personenverbandes, denn „die fürstliche Herrschaft bildete selbst dort, wo das Kartenbild Flächenstaatlichkeit vortäuscht, keine Einheit. Das erwies sich schon im Alltag darin, dass mit verschiedenen Maßen und Gewichten gerechnet werden musste.“46 Herrschaft muss in dieser Zeit weniger als Beherrschung einer territorialen Einheit denn als Akkumulation von unterschiedlichen Rechten in nicht zwingend zusammenhängenden Gebieten gedacht werden. Der Landvogt vertrat königliche Herrschaft und bezog sich auf ein territorial gedachtes Amt. Reinhard beschreibt den Vorgang so: „Seit dem 13. Jahrhundert entstand fast überall das Amt als Inbegriff territorialer Regional- und Lokalverwaltung, wo ein besoldeter Amtmann (Vogt, Pfleger usf.) die Rechte des Herrn an Abgaben und Diensten wahrnahm sowie als Richter und Militärbefehlshaber für Frieden und Recht zu sorgen hatte. Die Aufgaben konnten auch auf mehrere Amtsträger (Keller, Landrichter) verteilt werden.“47 Reinhard geht an dieser Stelle offenbar schon davon aus, dass die Vögte besoldet wurden und ihre Revenuen nicht aus den jeweiligen Ämtern bezogen. Das stimmt nicht mit der – auch von ihm geteilten – Diagnose des bis ins Ancien Regime weit verbreiteten Ämterkaufs überein. Ämterkauf ist nur dann sinnvoll, wenn der Käufer sich an den Ämtern bereichern kann, d.h. aus den Ämtern Ein45 Leuschner, Deutschland im späten Mittelalter, S. 122. 46 Schubert, Fürstliche Herrschaft, S. 14. 47 Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 202. 248 nahmen beziehen kann und der Verkäufer, also der Staat, mit dem Verkaufserlös mehr erlangt, als wenn der besoldete Amtsträger die Gebühren usw. abführen müsste – was eine funktionierende Bürokratie voraussetzt. Wenn man als Grundproblem der mittelalterlichen Administration ausmacht, dass die Amtsträger über kurz oder lang dazu übergingen, sich an ihren Ämtern zu bereichen und sich diese als persönliche Rechte aneigneten, ist es für den Übergang zu einer bürokratischen Verwaltung von zentraler Bedeutung, wie dieses System durchbrochen wurde und die Einnahmen aus den Ämtern an den Fiskus, die staatliche Zentrale flossen, die ihre Amtsträger umgekehrt besoldete, also den Unterhalt aus den eigenen Einnahmen bestritt. Wieder haben das Militär und die Wandlung der Kriegsführung dafür – im Bereich der weltlichen Macht – den Ausschlag gegeben. Es wurde schon diskutiert, dass die technologische und ökonomische Entwicklung Auswirkungen auf das Kriegswesen hatte, neue Waffen, eine neue Art der Kriegsführung und eine neue Organisation des Heeres mit sich bringen musste. Bestanden die alten mittelalterlichen Heere aus Rittern, die ihre Ausrüstung selbst mitbringen und sich und ihr Gefolge selbst versorgen mussten, führte vor allem die Einführung von Distanzwaffen, Langbogen, Armbrust und schließlich Feuerwaffen zu einem Bedeutungsverlust der Ritter und einer Veränderung der Heeresstruktur. Es brauchte eine neue Art von Kriegsexperten, die im Umgang mit den Distanzwaffen geübt waren. Statt „freiwilliger“ Ritter, die zeitlich nur begrenzt eingezogen werden konnten, wurden erst Söldner, dann stehende Heere geschaffen, die versorgt und ausgerüstet werden wollten. Schon am Ende der 12. Jahrhunderts übertrugen die Plantagenèt, in geringerem Umfang auch die Kapetinger und die Staufer, die Kriegsführung teilweise an umherziehende Kriegsknechte, die gegen Bezahlung mordeten. Auch der Kölner Erzbischof Philipp von Heinsberg setzte 1179 sog. Rotten gegen Heinrich den Löwen ein. Die Söldnerarmee etablierte sich vor allem mit dem Hundertjährigen Krieg (1337–1453) zwischen England und Frankreich. Die Kriegsknechte wurden nun nicht mehr nach gewonnener Schlacht aus der Kriegsbeute entlohnt, sondern erhielten einen regelmäßigen Sold – jedenfalls wurde das so vertraglich vereinbart. Sinn war es, dass die Meute nicht plündernd durch befreundete Gebiete zog, was gleichwohl vorkam, weil die Staaten wegen finanzieller Engpässe mit dem Sold in Verzug gerieten. So stellten die Soldzahlungen nur einen Teil der Einnahmen der Söldner dar, welche diese durch Lösegelder und andere Beute aufbesserte. Die Söldner waren keine Adligen, die wegen der Lehnspflichten an den Kriegen ihres Fürsten teilnahmen, sondern professionelle Krieger, für die der Krieg Mittel des 249 Unterhalts war. Häufig bestanden die Söldnerarmeen aus angeworbenen Truppen eines Drittstaates, konnten aber genauso gut Landeskinder sein. Die Söldner waren dem Heerführer anders als das mittelalterliche Ritterheer nicht zur Treue verpflichtet, konnten also die Seite wechseln, wenn diese besser oder überhaupt bezahlte. Das galt insbesondere für die auswärtigen Söldner. Der Hundertjährige Krieg trug in England und Frankreich zur Nationenbildung bei und ließ mit dem Nationalbewusstsein eine neue Bindung an das Land und den Monarchen entstehen. Dafür ist die Geschichte der Johanna von Orleans symbolisch, die sich freiwillig zum Waffendienst meldete, weil ihr die „Jungfrau Maria“ im Traum erklärt hatte, dass sie auserkoren sei, Frankreich zum Sieg zu führen. Unabhängig von der langfristigen Bindung entsteht mit Söldnern eine neue Dienststruktur – der Söldner ist dem Heerführer so lange verpflichtet, so lange er bezahlt wird, und umgekehrt besteht keine Verpflichtung seitens des Monarchen dem Söldner gegenüber, wenn dieser aus dem „Dienst“ ausgeschieden ist. Der Söldner entpuppt sich so als erster freier Lohnarbeiter, soweit er nicht von seinem Landesfürsten an den kriegführenden vermietet wird, womit ersterer seine Einnahmen steigert. Die Verpflichtung des Söldners gegenüber seinem Kriegsherrn entspringt seiner Besoldung – übrigens ein Begriff, der den Söldner in sich trägt und bis heute als besonderer Begriff (in Deutschland) die Lohnzahlungen an Beamte bezeichnet – und wird kontinuierlich erneuert, solange der Söldner auf seinen Sold angewiesen ist, also seinen Lebensunterhalt aus dem Sold bestreiten muss. Eine Verselbstständigung des Söldners ist damit ausgeschlossen. Das Beispiel bleibt aber zunächst singulär. Die politische Administration greift weiter auf Einnahmequellen „aus dem Amt“ zurück, gleichwohl ändert sich die Staatsverwaltung sukzessive. Die neue Art der Kriegsführung wie auch des Handels war auf eine neue Art des Regierens angewiesen, auf eine deutlich vergrößerte Verwaltung als sie der umherziehende Hof des frühen Mittelalters benötigte. Die Armee musste organisiert werden, d.h. Söldner mussten nicht nur angeworben, sie mussten ausgerüstet und unterhalten werden. Der organisatorische und ökonomische Aufwand, der mit der neuen Art der Kriegsführung verbunden war, wurde oben schon angesprochen. Vor allem aber musste der Staat neue Finanzquellen erschließen und die Finanzen ordnungsgemäß verwalten. Das heißt, es entstand zunächst eine Finanzverwaltung bzw. ihre Bedeutung stieg gegenüber derjenigen des frühen Mittelalters stark an. Hatte der Herrscher im frühen Mittelalter die „öffentlichen“ Ausgaben aus eigenen Mitteln, d.h. aus den Quellen seiner Ländereien bestritten, wurden nun Zölle und Steuern relevant, die in Geld geleistet wurden. Aus der von der Landbevölkerung erhobenen „Bede“, die auf den Viehbestand erhoben wurde 250 und von der einmaligen „Bitte“ zur regelmäßigen Abgabe wurde, entwickelte sich die Steuer auf das Vermögen oder – als indirekte Steuer – auf den Konsum. „In Bayern hatte es im 14. Jahrhundert nur zehn allgemeine Landessteuern gegeben, im 15. Jahrhundert aber ‘schnellte ihre Zahl gewaltig in die Höhe’.“48 Um diese Abgaben zu berechnen und einzutreiben brauchte es Personal. Die Entwicklung des Handels tat ihr Übriges, um die mit Finanzen befasste Verwaltung wachsen zu lassen. Währungen mussten konvertiert oder vergleichbar werden, damit die Kaufleute ihre Geschäfte kalkulieren konnten. Das Bankwesen wurde – aus Italien kommend – zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor, auch bei der Kreditierung der Fürsten, die sich für ihre Kriegsunternehmen bei den Bankiers verschuldeten. Beispielhaft für die neue Rolle der Banken und ihre Bedeutung für die Staatenbildung ist die Geschichte der Familie Fugger. Fugger vergab umfangreiche Kredite an Silbergrubenbesitzer und vor allem an den prassenden Tiroler Herzog Sigismund von Tirol. Doch statt normaler Rückzahlung verlangt er im Gegenzug Schürfrechte und Anteile der Bergwerke in den Ländern, unter denen nach damaliger Kenntnis die reichsten Vorkommen des Edelmetalls lagen. Als der insolvente Sigismund seine Besitzungen den Habsburgern vermachen muss, lassen die Fugger Sigismund fallen und finanzieren die Wahl eines Habsburgers zum Kaiser.49 Herrscher wählten feste Sitze mit Repräsentationen anderer Staaten. Es entsteht ein neuer Typ von Verwaltung durch bezahlte Amtsträger. Mit der Wiederentdeckung der römischen Rechtsquellen, den Rechtsschulen in Bologna und den Universitätsgründungen professionalisierten sich die Staatsdiener. Lag Bildung und Erziehung vordem ausschließlich in der Hand der Kirche, so dass „qualifiziertes Personal“, also des Lesens und Schreibens mächtige Bedienstete, nur aus kirchlichen Zusammenhängen rekrutiert werden konnten, d.h. dass kirchliche Amtsträger im Zweifel auch die weltlichen Geschäfte versahen, werden mit den neuen Bildungsgängen die geistlichen „Beamten“ verdrängt, der „öffentliche Dienst“ verweltlicht. Und auch hier bilden sich neue Typen aus, wie der Sekretär. Gleichzeitig wird die administrative Tätigkeit professionalisiert und rationalisiert. Es sind nun Rechtsgelehrte, welche die Administration des Fürsten oder der Stadt führen, die zumindest in einer gewissen Systematik der Amtsführung ausgebildet wurden. Juristen waren es, die durch die Rezeption des römischen und kanonischen Rechts die königliche Macht von der privaten personalen Herrschaft in den Staat 48 Schubert, Fürstliche Herrschaft, S. 46. 49 Ogger, Kauf dir einen Kaiser, passim. 251 überführten, zur öffentlichen Angelegenheit erklärten, die öffentlich verhandelt wurde, und über Systeme der Legitimierung die Administration zu einer öffentlichen und bürokratischen gemacht haben. Bourdieu schreibt: „Tatsächlich verweist die Beschreibung des Offiziellen auf die Genese des Offiziellen, des Staates, der das Offizielle hervorgebracht hat. Kantorowicz arbeitet über die Juristen, die am Ursprung des Offiziellen standen. Ich vereinfache, denn man kann nicht sagen, dass es die Juristen und die Kanonisten waren, die den Staat hervorgebracht haben, aber sie trugen weitgehend dazu bei. Ich glaube, man kann keine Genealogie des abendländischen Staates entwickeln, ohne die mit dem römischen Recht groß gewordenen Juristen eine bestimmende Rolle dabei spielen zu lassen; sie waren es, die diese fictio juris, diese Rechtsfiktion hervorzubringen vermochten. Der Staat ist eine von den Juristen hervorgebrachte Rechtsfiktion, die sich als Juristen hervorgebracht haben, indem sie den Staat hervorbrachten.“50 Und an anderer Stelle: „Man hat oft gesagt, der Staat sei eine fictio juris. Das ist richtig, doch er ist eine Fiktion von Juristen, bei der man fictio im starken Sinne des Wortes verstehen muss, im Sinne von fingere [‘zurechtmachen’, ‘verfertigen’]: Er ist eine Fabrikation, eine Konstruktion, eine Konzeption, eine Erfindung. Ich will also heute den außerordentlichen Beitrag beschreiben, den die Juristen gemeinschaftlich bei der Arbeit an der Konstruktion des Staates geleistet haben, insbesondere dank jener Ressource, die das Kapital an Worten darstellt.“51 Dabei beschreibt Bourdieu die Herausbildung des modernen bürokratischen Staates als Differenzierungsprozess, der mit der Konzentration der Gewaltmittel verbunden und notwendig war, an dem die Juristen aber ein Interesse hatten, weil dieser Prozess ihre Stellung gegenüber derjenigen der Adeligen stärkte. Der König war in der guten Situation, das bürokratische gegen das aristokratische – Bourdieu spricht vom dynastischen – Element ausspielen zu können. Die Juristen konstruieren den Staat, machen das private zu einem öffentlichen Amt und schaffen mit den theoretischen Konstruktionen des Staates – von Machiavelli bis (vielleicht) Hegel – die Grundlage für den Anspruch auf das Monopol des symbolischen Kapitals. Aber von der Dimension und dem Amtsverständnis war dieser Apparat durchaus vorkapitalistisch. Diese neuen Amtsträger, Verwalter oder Staatsdiener erhielten zwar eine Bezahlung, aber erzielten ihre Einkünfte z.T. auch direkt aus dem Amt. Sie wurden nicht für ihre Dienste entlohnt, sondern erhielten gleichsam das Recht, aus dem Amt Revenuen zu gewinnen. Insofern bleib es bei dem alten mittelalterlichen System. Weil der Staat aber beständig in Geldnöten steckte, wurden die Ämter oft verkauft. Da unterschied sich die Kirche wiederum 50 Bourdieu, Über den Staat, S. 110. 51 Bourdieu, Über den Staat, S. 574. 252 von der weltlichen Macht. Die Simonie, also der Kauf geistlicher Ämter, war verboten – andere Ämter allerdings wurden auch verkauft. Ein Verbot, Ämter zu verkaufen, gab es im weltlichen Bereich für Richter, wurde aber oft durchbrochen. „Der ständig in Geldnöten steckende Staat bot die Ämter zum Verkauf an; die Privatleute, die mehr durch die Nebeneinnahmen als durch die offiziellen Gehälter angelockt waren, kauften sie, aber sie forderten auch das Recht, die von ihnen erworbenen Ämter weiter zu verkaufen. Dies mag einer der wichtigsten Gründe für die geringe Stabilität des damaligen Verwaltungssystems gewesen sein. Umso mehr, wenn das Amt nicht weiterverkauft, sondern an Söhne, Enkel, Vettern vererbt wurde.“52 Das Problem der mittelalterlichen Herrschaftsausübung war durch die neuen Ämter nicht beseitigt. Aber die feudale Pfründenwirtschaft wurde schließlich aufgrund der Eigendynamik der Entwicklung gebrochen, nämlich durch die Professionalisierung des Personals, und weil die Ämter sich nicht mehr alle selbst finanzieren konnten, also der Staat Ämter schuf, die sich nicht durch eigene Einnahmen vom Publikum, Steuern, Gebühren oder andere Abgaben selbst trugen. An dieser Stelle musste der Staat die „Besoldung und Versorgung“ der Staatsdiener, die so zu Beamten geworden waren, übernehmen. Reinhard beschreibt diese Entwicklung so: „Das ‘staatliche’ Angebot auf dem Ämtermarkt kam dadurch zustande, dass die werdende Staatsgewalt in der Entwicklung privater Geschäfte dieser Art eine Chance erkannte, in für sie besonders günstiger Weise Leibrenten als Bestandteil ihres Kredits zu platzieren. Ämterverkauf ist nämlich ein Rentenkredit mit Zinsüberwälzung. Weil der Verkauf eines Amtes nicht anderes ist als die antizipierte Kapitalisierung seines Ertrags, erhielt die Staatsgewalt mit dem Kaufpreis ein verlorenes Darlehen, dass nicht sie, sondern das Publikum durch Sporteln und Gebühren verzinsen musste. Da sich der Bedarf des Publikums an gebührenpflichtigen Dienstleistungen aber nicht beliebig steigern ließ, musste irgendwann zum Verkauf von Ämtern übergegangen werden, deren Verzinsung nur noch durch ein Gehalt aus der Staatskasse erfolgen konnte. Damit verkehrte sich der Vorteil für den Fiskus“ in eine Belastung.53 Aber gleichzeitig entstanden im Bereich der weltlichen Administration Dienstverhältnisse, die als weltliche Urform des heutigen Beamtentums angesehen werden können. In den Städten übernahmen die reichen Handelskaufleute nicht nur die ökonomische Führung, sie stellten auch das politische Personal, bildeten die Stadträte, 52 Romano/Tenenti, Weltgeschichte, Mittelalter und frühe Neuzeit, S. 303. 53 Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 192 f. 253 Magistrate oder den Senat. Die Patrizier der reichen frühneuzeitlichen Städte organisierten eine oligarchische Herrschaft. Ökonomische und politische Macht waren grundsätzlich nicht getrennt. Aber in einigen Regionen entwickelt die frühe Form bürgerlicher Herrschaft Ansätze der modernen Organisation der öffentlichen Verwaltung oder des politischen Systems. Denn erstens nutzen auch die Städte zunehmend professionell ausgebildete Beamte und zweitens vergrößerten sie ebenfalls sukzessive den administrativen Apparat, der im Vergleich zu heutigen Zahlen natürlich winzig erscheint. Aus der Stadt Basel wurden Ämter- und Gehaltslisten überliefert. Aufgrund dieser Angaben wird geschätzt, dass die Stadt Basel im Jahre 1430 um die 90 Personen beschäftigte. Eingeschlossen sind die politischen Ämter wie Bürgermeister oder Stadtrat, die Leitung der „Verwaltung“, die Schreiber oder die Kanzlei; und sie reichte bis zum Zöllner usw. Die Zahl dieser öffentlich Beschäftigten ist im Jahre 1520 auf geschätzte 200 bis 225 Personen angestiegen.54 Die Stadtverwaltung hat sich also nach der Anzahl der Personen mehr als verdoppelt. Kofler schreibt mit Blick auf die Niederlande: Die Handelsbourgeoisie „ist es, die die Technik der Regierung und Verwaltung des bürgerlichen Staates ausbildet, die sich um die Ausgestaltung und Aufzeichnung des Rechts im modernen Sinne Mühe gibt, den Kurierverkehr durchorganisiert, Straßen, Brücken und Kanäle bauen und Flüsse schiffbar machen lässt und die den Handel auf alle mögliche Art fördert. In diese Zeit fallen auch die Anfänge des modernen Beamtenapparats, selbst manche Fürsorgeeinrichtungen der Städte sind das Werk der Handelsbourgeoisie.“55 Zwischen der Entwicklung der Administration, in der sich der moderne Beamte „herausmendelte“, in den von Fürsten regierten Territorien und den Städten gibt es Differenzen und Parallelen, die für die oben geführte Diskussion zu den Strukturen des modernen Staates relevant sind. In den Städten sind es die Patrizier, die als Oligarchie die Macht übernehmen und in den Räten mehr oder weniger unter sich sind, d.h. die politische Führung und ökonomische Macht fallen zusammen. Dennoch entwickelt sich langsam eine „bürokratische“ Verwaltung als besondere Funktion und Abteilung des öffentlichen Apparates. Schließlich lässt sich feststellen, dass die politischen Funktionen, die zunächst ein Ehrenamt darstellten, das von denen ausgeübt wurde, die es sich zeitlich und finanziell leisten konnten, zu besoldeten Funktionen werden. In der Stadt Basel beispielsweise haben sich die Räte ihre Bezüge zwischen 1491 und 1534 kurzerhand mehr als 54 Rosen, Verwaltung und Ungeld in Basel, Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 1986, Beihefte 77, S. 43 ff. 55 Kofler, Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Bd. 1, S. 110. 254 verdreifacht56, was vermuten lässt, dass aus der Aufwandsentschädigung so etwas wurde wie eine Besoldung, wenn das Amt möglicherweise auch im Nebenberuf ausgeübt wurde. Der politische Apparat besondert sich von den ökonomischen Tätigkeiten, weil der Grad der Differenzierung der Gesellschaft und der Arbeitsteilung es nicht mehr zulässt, die politischen Geschäfte gleichsam nebenbei zu erledigen. Im Unterschied zur Entwicklung der freien Städte entwickelt sich in der Fläche die ökonomische Macht neben der politisch-administrativen Macht. Letztere bleibt im Wesentlichen in der Hand des Adels. Wo Angehörige des Dritten Standes wichtige administrative Ämter übernahmen – und sich entsprechend bereichern konnten oder vorher schon reich waren – wurden sie oftmals in den Adelsstand erhoben. Die – ebenfalls käuflichen – Offiziersstellen der preußischen Armee waren bis ins 19. Jahrhundert Adeligen vorbehalten. Ähnliches galt für den diplomatischen Dienst. Kurz: die Regierung, Administration und auch Armee war Sache des Adels, während die Ökonomie von der neuen aufstrebenden Schicht der Bourgeois beherrscht wurde. Die Trennung von Staat und Ökonomie ist – mit der Besonderheit der Entwicklung in den Städten – auch Ergebnis dieser historischen Entwicklung, gleichzeitig aber das adäquate Organisationsmodell für die bürgerliche Gesellschaft. Im 16. Jahrhundert entfalten sich die Elemente, die sich vorher langsam entwickelt hatten, nämlich das Recht, die Verwaltung, ökonomische Konkurrenz und neue Technologie, und zeigen die Richtung auf, in der sich die Gesellschaft schließlich zur bürgerlichen Gesellschaft entwickelt. „In diesem Sinne kann man sagen, dass der Merkantilismus tatsächlich eine erste Rationalitätsschwelle in dieser Kunst des Regierens ist. … Der Merkantilismus ist tatsächlich die erste Rationalisierung der Machtausübung als Praxis des Regierens; zum ersten Mal beginnt man, ein Wissen vom Staat zu bilden, das für die Regierungstaktiken verwendbar sein kann.“57 Das impliziert, dass die Entwicklung im 16. Jahrhundert nicht als abgeschlossen gelten kann, sondern eine Richtung eingeschlagen wurde, die sich mit den bürgerlichen Revolutionen „verwirklichte“. Erst mit den bürgerlichen Revolutionen wird das Privilegienrecht abgeschafft, der Staatsdienst für alle in formal gleicher Weise geöffnet, wird das Recht zum allgemeinen Gesetz, separiert sich die politische Macht funktional endgültig von der ökonomischen Macht. Schließlich 56 Die Vergütung stieg von 305,75 auf 1024,40 Gulden (Rosen, Verwaltung und Ungeld in Basel, Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 1986, Beihefte 77, S. 54). 57 Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, S. 154. 255 ist zu bemerken, dass eine effektive staatliche Bürokratie sich aus den bürokratischen „Urformen“ aber nur entwickeln konnte, als die Kommunikationswege sich deutlich verbesserten, also mit gepflasterten Straßen, Dampfschiffen, Telegrafie und Funk. Die Trennung der Ökonomie von der Politik, der adelige Staatsapparat und die bürgerliche Ökonomie müssen in ein gewisses Spannungsverhältnis treten. Die ökonomische Macht verlangt Mitsprache bei allgemein verbindlichen Entscheidungen, so drängt die neue Formation in Richtung einer Parlamentarisierung der Politik, weil der Bourgeois sich im Parlament vertreten lassen will. Das ist im nächsten Kapitel zu diskutieren. 3. Ergebnisse Nach der Diskussion, wie der „kapitalistische Geist“ in die Welt kam, wurde die Rolle der Entwicklung von Recht und Staat im Prozess der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft betrachtet. Dabei wurde gezeigt, dass der Prozess weit vor der Reformation einsetzte und gleichursprünglich auf Entwicklungen in Technik und Ökonomie sowie in Staat und Recht zurückzuführen ist. Anhand einer Normanalyse der frühen Volksgesetze im Vergleich zu modernen Normen, aber auch zu den Normen des römischen Codex Iustiniani ließ sich die Differenz zwischen konkretem, gruppenbezogenen Privilegienrecht und abstrakt allgemeiner Norm darstellen. Die Rezeption des römischen Rechts setzte schon im 11. Jahrhundert ein und veränderte auch die Struktur politischer Herrschaft, die professionalisiert und rationalisiert wurde. Sie dauerte bis ins 20. Jahrhundert an und ist gleichzeitig Ergebnis einer steigenden Arbeitsteilung, d.h. einer Differenzierung der Gesellschaft. Vorreiter für eine hierarchische, gleichsam moderne Bürokratie war die katholische Kirche. Der bürokratische Verwaltungsstab setzte sich im Bereich der weltlichen Herrschaft durch, als die Amtsführung mit einer regelmäßigen Besoldung durch den Herrscher abgegolten wurde. Ursachen für die größer werdende Verwaltung, ihre Bürokratisierung und Effektivierung lagen im Kriegswesen und in komplexer werdenden Aufgaben des Staates. Im Ergebnis ist es diese spezifisch europäische Kombination von territorialen Konkurrenzverhältnissen, der römischen „Vorgeschichte“ mit einem weit entwickelten Rechtssystem und der eigenständigen Bedeutung der katholischen Kirche, die früh eine hierarchische Struktur und ein Rechtsregime eingeführt hatte, die in Europa die Voraussetzung für die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft liefern konnten. 256 Nach dem Vorbild der Organisationsstruktur der katholischen Kirche wurde die weltliche Verwaltung rationalisiert. Der Durchbruch in der Stabilisierung weltlicher Herrschaft gelang durch die Umstellung personaler Bindungen auf eine Form rechtlich-administrativer Herrschaft. Es wurde gezeigt, dass die Konkurrenzordnung verbunden mit der Freisetzung und Warenförmigkeit der Arbeit im Sinne einer homologen Entwicklung eine nationalstaatliche Abgrenzung des Territoriums und die Umstellung von personaler (monarchischer) Herrschaft auf rechtlich-administrative Formen der Herrschaft mit sich brachte, in der letztlich die formale Trennung von Staat und Gesellschaft wurzelt. Diese Umstellung hatte unterschiedliche Voraussetzungen, wozu einerseits die Professionalisierung der Verwaltung durch ausgebildete Juristen, das Anwachsen des benötigten Personals und schließlich die Umstellung von Entlohnung durch Aneignungsrechte auf „Besoldung und Versorgung“ war. So zeigt sich, dass die Homologie von formal-rationalem Recht und bürokratischer Verwaltung einerseits und kapitalistischer Ökonomie andererseits nicht etwa nur als funktionsnotwendig verstanden werden und schon gar nicht aus einem Element „abgeleitet“ werden, auf eine „zentrale Ursache“ zurückgeführt werden kann. Die Elemente entwickeln sich zur Totalität bürgerlicher Gesellschaft vielmehr gleichursprünglich. Die Besonderung des Staates ist dann gleichzeitig historisches Ergebnis der Herausbildung des Kapitalismus und Bedingung der Fortexistenz kapitalistischer Ökonomie. IV. Trennung von Ökonomie und Politik – Übergang zur Demokratie 1. Anspruch auf Beteiligung Die Beantwortung der Frage „Wo kommen die Kapitalisten ursprünglich her?“ zeigte, dass die Trennung von politischer und ökonomischer Macht in der bürgerlichen Gesellschaft der spezifischen Entwicklung in Europa seit dem hohen Mittelalter geschuldet ist. Das Entstehen der bürgerlichen Gesellschaft ist auf das singuläre Zusammenfallen unterschiedlicher Faktoren zurückzuführen. Konkurrenz um territoriale Herrschaft in Europa konnte in ökonomische Konkurrenz transformiert werden und dieses System sich stabilisieren, weil die Herrschaft gleichzeitig eine effektive Verwaltung nach dem Vorbild der bürokratisch organisierten katholischen Kirche institutionalisierte und mit dem römischen Recht auf ein entwickeltes, rationalisiertes Rechtssystem zurückgreifen konnte. 257 Die territoriale Konkurrenz entwickelte sich in der Sphäre der Herrschaft, der Politik oder des Staates, der zwar ab einem gewissen Punkt die wirtschaftliche Entwicklung vorantrieb, sich aber als eigenständige Sphäre definierte und organisierte und vom Bereich des Privaten, d.h. den wirtschaftlichen Aktivitäten abgrenzte, sich so als „das Öffentliche“ konstituierte. Die Unterscheidung von öffentlich und privat war eine Unterscheidung, die das Mittelalter nicht kannte, weil „öffentliche“ Ausgaben aus dem „privaten“ Besitz des Herrschers bestritten wurden, der sich aber für „ökonomischen Dinge“ nicht interessierte, so dass von den Ausgaben her gedacht wurde, denen die Einnahmen folgen mussten. Die Ökonomie, insbesondere produktive Arbeit, lag jenseits des Interesses, war der „Ehre“ der Fürsten und Könige geradezu abträglich, wurde also dem „Dritten Stand“ überlassen. Die Trennung von Politik und Ökonomie wurzelt so letztlich in der spezifisch feudalen Arbeitsteilung. Die enorme Entwicklung der Produktivkräfte und der gesteigerte Reichtum der erfolgreichen Bankiers, Händler, Manufakturisten und schließlich Industriellen musste dazu führen, dass diese „ihre“ Interessen, d.h. das Interesse der Bourgeoisie in der Politik vertreten sehen wollten – ein Interesse, das ein einheitliches war, sobald und soweit der Staat, die politische Macht in Form der absoluten Monarchie, in die Geldbeutel der neuen Bourgeoisie greifen wollte. Der Schlachtruf „No Taxation without Representation“, welcher der US-amerikanische Unabhängigkeitserklärung (1776) voranging, bringt diesen Anspruch auf den Punkt. Die neue ökonomische Macht, die Bourgeoisie, verlangte die Berücksichtigung bürgerlicher Interessen bei politischen Entscheidungen, d.h. beanspruchte letztlich im Staat repräsentiert zu werden. Dabei war die Frage der Steuererhebung, bei der die Sphäre des Politischen unmittelbar erkennbar und sichtbar in die Sphäre der Ökonomie eindringt, Ausgangspunkt auch der großen französischen Revolution von 1789 und erheblich früher im englischen Bürgerkrieg (1642–1649) und sie war ein Auseinandersetzungspunkt in der „glorious revolution“, zu deren Ergebnissen zählt, dass dem Parlament mit der „Bill of Rights“ (1689) das Steuerbewilligungsrecht zuerkannt wurde. Gleichzeitig formulierten die „auf dem Markt“ konkurrierenden Subjekte ihre politischen Interessen, die mit Blick auf die Konkurrenzsituation unterschiedlich waren, so dass Wettbewerbsvorteile mittels politischer Eingriffe nicht zugelassen werden konnten und mit Argusaugen überwacht wurden. Alex Demirović schreibt: „Da die Marktteilnehmer bestrebt sein müssen, bei der Beschlussfassung von allgemein verbindlichen Gesetzen nicht durch einflussreiche Konkurrenten benachteiligt zu werden, liegt es nahe, dass sie sich um Beteiligungsrechte bemühen, dass sie auf die Gesetzgebung und staatliche Akteure Einfluss nehmen – und 258 sich dies schließlich auch wechselseitig zubilligen, weil sie andernfalls befürchten müssten, bei der Definition dessen, was als Gemeinwohl, als Allgemeinwille gilt, ausgeschlossen zu werden. Freiheit und Gleichheit im Tauschverhältnis nehmen deshalb auch die Form von Recht und Politik an.“58 Da die bürgerliche Klasse erstens in ihren Interessen durchaus gespalten ist, sich in verschiedenen Beziehungen als Konkurrent gegenübersteht, lässt sich ihre Repräsentation nicht in einer Person oder kleinen Gruppe, also monarchisch bzw. aristokratisch oder oligarchisch verwirklichen. Weil die Bourgeoisie – anders als etwa der Adel – nicht formal hierarchisch gegliedert ist und zahlenmäßig stark ist, mussten Formen gleicher und allgemeiner Repräsentation gefunden werden, so lag es nahe, eine parlamentarische Repräsentation zu organisieren, die an die Vorbilder der mittelalterlichen Ständevertretung anknüpfen konnte. Die parlamentarische Repräsentation ist die Organisationsform, die das Bürgertum in den großen Revolutionen für die Legislative in der bürgerlichen Gesellschaft durchgesetzt hat. Marx und Engels bezeichnen deshalb die „parlamentarische Republik“ als die Form, in der sich die bürgerliche Herrschaft durchsetzt. Aber die Republik begreifen sie als widersprüchlichen Organismus, weil er die Balance halten muss zwischen monarchischer – heute würde man sagen: autoritärer – Restauration und sozialer Republik, welche die Aneignungs- und Verfügungsbefugnisse des Kapitals infrage stellt. 2. Zwischen den Stühlen In der Schrift „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ hat Marx die französische Revolution des Jahres 1848 und die folgende Restauration bis zur Machtübernahme von Bonaparte III untersucht. Marx verbindet die politischen Ereignisse mit den Interessen der verschiedenen Klassen der französischen Gesellschaft, ohne dabei ökonomistisch zu argumentieren, d.h. ohne die Eigenständigkeit der politischen Sphäre und der politischen Formationen, Parteien und Gruppierungen, ohne die Eigenständigkeit des politischen Diskurses aus den Augen zu verlieren. Ihn interessiert insbesondere die Frage, welche Kräfte dazu beigetragen haben, dass die erfolgreiche, bürgerliche Revolution von 1848 verhältnismäßig schnell scheiterte und Napoleon vom Staatspräsidenten der zweiten Republik zum französischen Kaiser „aufsteigen“ konnte. In dieser Analyse arbeitet Marx das 58 Demirović, Zu welchem Zweck und auf welche Weise den Staat kritisieren, in: Wissel/ Wöhl, Staatstheorie vor neuen Herausforderungen, S. 35. 259 ambivalente Verhältnis der Bourgeoisie zur Republik mit allgemeinem Wahlrecht, zur Suprematie der Legislative oder des repräsentativen Organs ebenso heraus wie die eigenständigen Interessen der staatlichen Bürokratie, die sich allerdings auf politische Strömungen und Interessen in der Gesellschaft stützen kann. Marx exemplifiziert in dieser Analyse den Widerspruch der demokratischen Konstitution in einer Weise, die bis heute als beispielhaft gelten kann. Marx macht deutlich, dass die französische Bourgeoisie 1848 hin- und hergerissen war zwischen einer Ausweitung ihrer Macht auf Kosten der Monarchie durch eine Parlamentarisierung der Verfassung und Einführung des allgemeinen Wahlrechts und der Furcht davor, dass genau dieses die Macht in der Republik zugunsten unterer Klassen und nicht zugunsten des zahlenmäßig kleinen Bürgertums oder Großbürgertums verschiebt. Marx zeichnet exakt die unterschiedlichen Strömungen und Interessengruppen innerhalb der Nationalversammlung nach, was hier nicht detailliert rezipiert werden muss. Das Interesse des konservativen Bürgertums war darauf gerichtet, „dass die Bourgeoisie hier (in der parlamentarischen Republik A.F.) in parlamentarischen Formen herrsche, ohne wie in der Monarchie an dem Veto der Exekutivgewalt oder an der Auflösbarkeit des Parlaments eine Schranke zu finden. Das war die parlamentarische Republik, wie Thiers sie nannte.“59 Es bestand, so Marx Bericht, ein Interesse, den engen „Wahlzensus der Julimonarchie, der selbst einen großen Teil der Bourgeoisie von der politischen Herrschaft ausschloss,“ zu überwinden und weitere Kreise des Bürgertums durch das Wahlrecht in den politischen Prozess einzubeziehen – eben eine allgemeine Repräsentation der Bourgeoisie zu schaffen. Weil aber die Revolution von Arbeitern und dem Mittelstand getragen wurde, ließ sich die Repräsentation nicht auf das Bürgertum beschränken, so wurde im Februar 1848 das allgemeine Wahlrecht eingeführt. „Die Februarrevolution hatte sofort an der Stelle dieses Zensus das direkte allgemeine Wahlrecht proklamiert. Die Bourgeois-Republikaner konnten dieses Ereignis nicht ungeschehen machen. Sie mussten sich damit begnügen, die beschränkende Bestimmung eines sechsmonatlichen Domizils am Wahlorte hinzuzufügen.“60 Die Konservativen drängten jedoch auf die Aufhebung des allgemeinen Wahlrechts, was im Mai 1850 durch ein Gesetz wieder abgeschafft wurde. Marx beschreibt die Bedeutung dieser Wendung folgendermaßen: „Das Gesetz vom 31. Mai 1850 war der coup d’état der Bourgeoisie. Alle ihre bisherigen Eroberungen über die Revolution hatten einen nur provisorischen Charakter. Sie waren in 59 Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. MEW Bd. 8, S. 146. 60 Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. MEW Bd. 8, S. 126. 260 Frage gestellt, sobald die jetzige Nationalversammlung von der Bühne abtrat. Sie hingen von dem Zufall einer neuen allgemeinen Wahl ab, und die Geschichte der Wahlen seit 1848 bewies unwiderleglich, dass in demselben Maße, wie die faktische Herrschaft der Bourgeoisie sich entwickelte, ihre moralische Herrschaft über die Volksmassen verlorenging. Das allgemeine Wahlrecht erklärte sich am 10. März direkt gegen die Herrschaft der Bourgeoisie, die Bourgeoisie antwortete mit der Ächtung des allgemeinen Wahlrechts. Das Gesetz vom 31. Mai war also eine der Notwendigkeiten des Klassenkampfes.“61 Der unberechenbare Zufall der allgemeinen Wahl meint die Wahrscheinlichkeit, dass die bürgerlichen Kräfte im Parlament ihre Mehrheit verlieren. Das nach Eigentum, Einkommen oder Steueraufkommen gestaffelte Zensuswahlrecht verringert diese Möglichkeit deutlich. Für das Proletariat bedeutet die Einführung des Zensuswahlrechts eine empfindliche Niederlage, weil sie von den Wahlen ausgeschlossen bleiben, was Marx so formuliert: „Allein das Wahlgesetz vom 31. Mai 1850 schloss es von aller Teilnahme an der politischen Gewalt aus. Es schnitt ihm das Kampfterrain selbst ab. Es warf die Arbeiter in die Pariastellung zurück, die sie vor der Februarrevolution eingenommen hatten.“62 Umgekehrt wurde mit dem Zensuswahlrecht die Herrschaft der Bourgeoisie gegen die politische Einflussnahme „von unten“ gesichert. Das allgemeine Wahlrecht wurde den Herrschaftsinteressen der Bourgeoisie geopfert, was Marx so beschreibt: „Die Bourgeoisherrschaft als Ausfluss und Resultat des allgemeinen Stimmrechts, als ausgesprochener Akt des souveränen Volkswillens, das ist der Sinn der Bourgeoiskonstitution. Aber von dem Augenblick an, wo der Inhalt dieses Stimmrechts, dieses souveränen Willens nicht mehr die Bourgeoisherrschaft ist, hat die Konstitution noch einen Sinn? Ist es nicht die Pflicht der Bourgeoisie, das Stimmrecht so zu regeln, dass es das Vernünftige will, ihre Herrschaft? Das allgemeine Wahlrecht, indem es die vorhandene Staatsmacht beständig wieder aufhebt und von neuem aus sich erschafft, hebt es nicht alle Stabilität auf, stellt es nicht jeden Augenblick alle bestehenden Gewalten in Frage, vernichtet es nicht die Autorität, droht es nicht die Anarchie selbst zur Autorität zu erheben? Nach dem 10. März 1850, wer sollte noch zweifeln? Die Bourgeoisie, indem sie das allgemeine Wahlrecht, mit dem sie sich bisher drapiert hatte, aus dem sie ihre Allmacht saugte, verwirft, gesteht unverhohlen: ‘Unsere Diktatur hat 61 Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. MEW Bd. 8, S. 158. 62 Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. MEW Bd. 8, S. 157. 261 bisher bestanden durch den Volkswillen, sie muss jetzt befestigt werden wider den Volkswillen.’“63 Arthur Rosenberg hat in seinem umfangreichen Werk über „Demokratie und Sozialismus“ das spannungsreiche Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus in historischer Perspektive ausgearbeitet. Er knüpft gleichsam an Marx Analysen der Entwicklungen in Frankreich an und verlängert sie bis in die Weimarer Republik. Er zeigt, dass das allgemeine Stimmrecht in bestimmten historischen Situationen durchaus mit einer cäsaristischen oder charismatischen Führung vereinbar ist. Napoleon, führt Rosenberg aus, konnte sich gerade auf die Stimmen der Landbevölkerung stützen und plädierte deshalb gegen die Bourgeois Republikaner für das allgemeine Stimmrecht. Rosenberg zieht folgende Lehre: „So gab die Revolution von 1848/49 den wirklichen Demokraten und Sozialisten die Lehre, dass zwar die Selbstregierung des Volkes nach wie vor das allgemeine Stimmrecht voraussetzt, das aber zugleich eine Karikatur des allgemeinen Stimmrechts auch mit brutalster Unterdrückung der Volksmassen vereinbar ist.“64 3. Ermächtigung der Exekutive Das Wahlrecht betraf ein Terrain der Auseinandersetzungen. In einer anderen Auseinandersetzung ging es um die Stärkung der Exekutive, am Ende um das Verhältnis von Napoleon zum Parlament. Im Juni 1848 war ein Arbeiteraufstand in Paris, Marx nennt ihn Juni-Insurrektion, blutig niedergeschlagen worden. Die Revolution, die im Februar begann, wurde so gewaltsam und repressiv beendet. „Die soziale Republik erschien als Phrase, als Prophezeiung an der Schwelle der Februarrevolution. In den Junitagen 1848 wurde sie im Blute des Pariser Proletariats erstickt, aber sie geht in den folgenden Akten des Dramas als Gespenst um.“65 Gegenüber „der Straße“ vertraut auch die parlamentarische Republik auf die Gewaltmittel des Staates, stärkt die Gewaltapparate bzw. die Exekutive insgesamt – ein Phänomen, das nicht nur in den Jahren 1848 ff beobachtet werden konnte. Gegenüber den revolutionären Ansprüchen der Arbeiterbewegung wird die Exekutive gestärkt. Marx schreibt: „So war die französische Bourgeoisie durch ihre Klassenstellung gezwungen, einerseits die Lebensbedingungen einer jeden, also auch ihrer eignen parlamentarischen Gewalt zu vernichten, andrerseits die 63 Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. MEW Bd. 8, S. 93. 64 Rosenberg, Demokratie und Sozialismus, S. 114. 65 Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. MEW Bd. 8, S. 194. 262 ihr feindliche Exekutivgewalt unwiderstehlich zu machen.“66 Der Widerspruch zwischen Exekutive und Legislative ist der zweite Widerspruch, den Marx im 18. Brumaire beschreibt: „Auf der einen Seite 750 durch allgemeines Stimmrecht gewählte und wieder wählbare Volksrepräsentanten, die eine unkontrollierbare, unauflösbare, unteilbare Nationalversammlung bilden, eine Nationalversammlung, welche gesetzgeberische Allmacht genießt, über Krieg, Frieden und Handelsverträge in letzter Instanz entscheidet, allein das Recht der Amnestie besitzt und durch ihre Permanenz unaufhörlich den Vordergrund der Bühne behauptet. Andrerseits der Präsident, mit allen Attributen der königlichen Macht, mit der Befugnis, seine Minister unabhängig von der Nationalversammlung ein- und abzusetzen, mit allen Mitteln der exekutiven Gewalt in seinen Händen, alle Stellen vergebend …. Er hat die ganze bewaffnete Macht hinter sich.“67 Die bürgerlichen Klassen sind so eingeklemmt zwischen den Forderungen der Arbeiterbewegung nach einer „sozialen Republik“ und einer Exekutive, welche mehr oder weniger offen unabhängig von „parlamentarischen Spielchen“ entscheiden will, sich von Parlamentseinflüssen „befreien“ will. Auch dieser allgemeine Konflikt ist bis in die Gegenwart relevant. Am Ende obsiegte die Exekutive, das Parlament dankt ab und Napoleon III ließ sich zum Kaiser proklamieren. Die einzelnen Schritte auf diesem Weg sind nicht nachzuzeichnen. Marx interpretiert die Entwicklung widersprüchlich oder sieht verschiedene Strömungen im bürgerlichen Lager. Auf der einen Seite die monarchistisch gesinnten Kräfte, die nur allzu gern zugunsten der Exekutive auf ihre parlamentarischen Rechte verzichten. Marx meint, dass diese Kräfte der Exekutive die Macht aus Angst vor dem Proletariat übergeben, wenn er schreibt: „Das parlamentarische Regime überlässt alles der Entscheidung der Majoritäten, wie sollen die großen Majoritäten jenseits des Parlaments nicht entscheiden wollen? Wenn ihr auf dem Gipfel des Staates die Geige streicht, was andres erwarten, als dass die drunten tanzen? Indem also die Bourgeoisie, was sie früher als ‘liberal’ gefeiert, jetzt als ‘sozialistisch’ verketzert, gesteht sie ein, dass ihr eignes Interesse gebietet, sie der Gefahr des Selbstregierens zu überheben, dass, um die Ruhe im Lande herzustellen, vor allem ihr Bourgeoisparlament zur Ruhe gebracht, um ihre gesellschaftliche Macht unversehrt zu erhalten, ihre politische Macht gebrochen werden müsse; dass die Privatbourgeois nur fortfahren können, die andern Klassen zu exploitieren und sich ungetrübt des Eigentums, der Familie, der Religion und der Ordnung zu 66 Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. MEW Bd. 8, S. 151. 67 Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. MEW Bd. 8, S. 127 f. 263 erfreuen, unter der Bedingung, dass ihre Klasse neben den andern Klassen zu gleicher politischer Nichtigkeit verdammt werde.“68 An anderer Stelle erscheint die Machtübernahme Napoleons keineswegs mit den Interessen des Parlaments und der Bourgeoisie übereinzustimmen. Die Monarchie setzt sich gegen die Republik, die Exekutive gegen das Parlament durch, das nicht etwa freiwillig auf seinen Einfluss verzichtet. Marx sieht hier einen „Sieg Bonapartes über das Parlament, der Exekutivgewalt über die Legislativgewalt, der Gewalt ohne Phrase über die Gewalt der Phrase. In dem Parlamente erhob die Nation ihren allgemeinen Willen zum Gesetze, d.h. das Gesetz der herrschenden Klasse zu ihrem allgemeinen Willen. Vor der Exekutivgewalt dankt sie jeden eignen Willen ab und unterwirft sich dem Machtgebot des fremden, der Autorität. Die Exekutivgewalt im Gegensatz zur Legislativen drückt die Heteronomie der Nation im Gegensatz zu ihrer Autonomie aus. Frankreich scheint also nur der Despotie einer Klasse entlaufen, um unter die Despotie eines Individuums zurückzufallen, und zwar unter die Autorität eines Individuums ohne Autorität. Der Kampf scheint so geschlichtet, dass alle Klassen gleich machtlos und gleich lautlos vor dem Kolben niederknien.“69 Das Gleichgewicht zwischen Bürgertum und Arbeiterklasse, die Unmöglichkeit für eine Seite ihre Macht zu stabilisieren, führt am Ende dazu, dass beide auf die Macht verzichten und eine dritte „Partei“, die Exekutive oder eben Napoleon, in dieses Machtvakuum vorstoßen kann und ein eigenständiges Regime errichtet, das keineswegs vollständig im Interesse des Bürgertums agiert und funktioniert. Diese Überlegungen sind als Bonapartismustheorem theoriegeschichtlich verarbeitet worden, was im nächsten Kapitel noch einmal aufzugreifen ist. Hier ist die eigenständige Rolle der Exekutive, die Tendenz zur Verselbständigung und Abkopplung von der legitimierten politischen Macht hervorzuheben, die in den 1960er Jahren die kritische Demokratietheorie etwa um Johannes Agnoli inspirierte.70 Die Exekutive erscheint als ständige Bedrohung der parlamentarischen Kompetenzen, weil sie einen Vorrang an Macht, Informationen und Organisation hat. Sie hat die Tendenz zur Verselbständigung gegenüber dem Parlament, erstens um die eigene Machtbasis auszubauen und zweitens weil sie Entscheidungen effektiver produzieren und vollziehen kann. Marx hat das Problem im 18. Brumaire vorweggenommen, wenn er schreibt: „Aber unter der absoluten Monarchie, während der ersten Revolution, unter Napoleon war die Bürokratie nur das Mittel, die Klassenherrschaft der Bourgeoisie 68 Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. MEW Bd. 8, S. 154. 69 Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. MEW Bd. 8, S. 196. 70 Vgl. Agnoli, Die Transformation der Demokratie, passim. 264 vorzubereiten. Unter der Restauration, unter Louis- Philippe, unter der parlamentarischen Republik war sie das Instrument der herrschenden Klasse, so sehr sie auch nach Eigenmacht strebte. Erst unter dem zweiten Bonaparte scheint sich der Staat völlig verselbständigt zu haben. Die Staatsmaschine hat sich der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber so befestigt, dass an ihrer Spitze der Chef der Gesellschaft vom 10. Dezember genügt, ein aus der Fremde herbeigelaufener Glücksritter, auf den Schild gehoben von einer trunkenen Soldateska, die er durch Schnaps und Würste erkauft hat, nach der er stets von neuem mit der Wurst werfen muss. Daher die kleinlaute Verzweiflung, das Gefühl der ungeheuersten Demütigung, Herabwürdigung, das die Brust Frankreichs beklemmt und seinen Atem stocken macht. Es fühlt sich wie entehrt. Und dennoch schwebt die Staatsgewalt nicht in der Luft. Bonaparte vertritt eine Klasse, und zwar die zahlreichste Klasse der französischen Gesellschaft, die Parzellenbauern.“ 71 Gleichzeitig wird hier deutlich, dass sich autoritäre Herrschaft, individuelle Despotie, durchaus auf eine Massenbasis stützen kann, im Frankreich der 19. Jahrhunderts waren es die kleinen Bauern, im deutschen Faschismus das vom Abstieg bedrohte Kleinbürgertum. Die Schrift zum 18. Brumaire wurde hier ausführlich dargestellt, weil sie exemplarisch die Widersprüche der demokratischen Verfassung im Kapitalismus oder die Widersprüche von Demokratie und Kapitalismus in einer historischen Situation und anknüpfend an unsere vorherigen Überlegungen analysiert. Im nächsten Kapitel sind die Anziehungs- und Fliehkräfte zwischen Demokratie und Kapitalismus wiederum strukturtheoretisch zu analysieren. 71 Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. MEW Bd. 8, S. 198. 265 E. Demokratie und Kapitalismus I. Die demokratische Frage Warum hat sich der kapitalistische „Staat nicht in der Form der absoluten Monarchie reproduziert?“1 Diese Frage stellt Nicos Poulantzas in seiner Staatstheorie. Impliziert wird damit gefragt, ob es einen – notwendigen – Zusammenhang zwischen Demokratie und bürgerlicher Gesellschaft oder zwischen Parlamentarismus und Kapitalismus gibt. Unterstellt man zunächst diesen Zusammenhang, dass es eine Homologie von Kapitalismus und Parlamentarismus oder parlamentarischer Demokratie gibt, dann folgt als weitere Frage eine, die sich Marx stellte: „Der umfassende Widerspruch aber dieser Konstitution (der demokratischen Verfassung A.F.) besteht darin: Die Klassen, deren gesellschaftliche Sklaverei sie verewigen soll, Proletariat, Bauern, Kleinbürger, setzt sie durch das allgemeine Stimmrecht in den Besitz der politischen Macht. Und der Klasse, deren alte gesellschaftliche Macht sie sanktioniert, der Bourgeoisie, entzieht sie die politischen Garantien dieser Macht. Sie zwängt ihre politische Herrschaft in demokratische Bedingungen, die jeden Augenblick den feindlichen Klassen zum Sieg verhelfen und die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft selbst in Frage stellen. Von den einen verlangt sie, dass sie von der politischen Emanzipation nicht zur sozialen fort-, von den anderen, dass sie von der sozialen Restauration nicht zur politischen zurückgehen.“2 Wie wird also trotz oder in der parlamentarischen Demokratie die ökonomische Macht der Wenigen stabilisiert? Die dritte Frage ergibt sich aus einem Staunen von David Hume, der bemerkte: „Nichts erscheint erstaunlicher bei der philosophischen Betrachtung menschlicher Angelegenheiten als die Leichtigkeit, mit der die Vielen von Wenigen regiert werden und die stillschweigende Unterwerfung, mit der Menschen ihre eigenen Gesinnungen und Leidenschaften denen ihrer Herrscher unterordnen. Fragt man sich, wie es zu diesem Wunder kommt, so stellt man fest, dass, zumal die Regierten stets die Stärke auf ihrer Seite haben, die Regierenden durch nichts 1 2 266 Poulantzas, Staatstheorie, S. 80. Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich, MEaW II, S. 47. anderes gestützt werden als durch Meinung. Regierung gründet sich daher ausschließlich auf Meinung, und diese Tatsache gilt für überaus despotische und militärische Regierung ebenso wie für die freiesten und republikanischsten.“3 Zu fragen ist nach den Gründen für die faktische Akzeptanz der Herrschaft, die zu unterscheiden ist von der Frage nach der normativen Legitimation. Drittens stellt sich schließlich die Frage nach dem Zusammenhang, der Homologie, von Kapitalismus und Grundrechten und zwischen diesen und dem Rechtsstaat. Dieser Frage ist zuerst nachzugehen, II. Menschenrechte und Rechtsstaat 1. Bedeutung der Menschenrechte und des Rechtsstaates a) Die zwei Seiten des Rechtsstaates Spricht man vom Rechtsstaat, denken viele an die Grund- oder Menschenrechte. Der Rechtsstaat wird mit den inhaltlichen Bestimmungen der Menschenrechte gleichgesetzt. Menschenrechte und Grundrechte unterscheiden sich inhaltlich nicht. Grundrecht bezeichnet nur in der deutschen Verfassung, im Grundgesetz, ein Menschenrecht. Die Bezeichnung Grundgesetz trägt die deutsche Verfassung, weil 1949, als das Grundgesetz erlassen wurde, dieses nur für Westdeutschland, das Gebiet der Bundesrepublik, nicht aber für Ostdeutschland, das Gebiet der späteren DDR, Geltung beanspruchen konnte. Der Verfassungsgeber wollte mit der Bezeichnung Grundgesetz in Erinnerung rufen, dass dieses nur einen vorläufigen Charakter hat und die endgültige Verabschiedung einer deutschen Verfassung nach der Vereinigung mit der DDR stattfinden sollte. In diesem Fall sollte die deutsche Verfassung durch das deutsche Volk, also durch eine Volksabstimmung, verabschiedet werden. Die Geschichte ist anders gekommen: Die Vereinigung von BRD und DDR wurde als Beitritt oder Anschluss der Letzteren vollzogen, so dass das Grundgesetz in Kraft blieb und keine Volksabstimmung über eine neue Verfassung stattfand. Menschenrechte heißen in Deutschland deshalb weiterhin auch Grundrechte, ohne dass dies einen inhaltlich Unterschied machen würde. Bei genauerem Hinsehen stellt man allerdings fest, dass sich der Rechtsstaat nicht auf die Grundrechte beschränkt. Zum Rechtsstaat gehören beispielsweise auch das Recht auf ein faires Verfahren, auf rechtliches Gehör, die Bestimmtheit 3 Hume, Über die ursprünglichen Prinzipien der Regierung, in Politische und ökonomische Essays, S. 25. 267 des Gesetzes oder auch die Möglichkeit, gegen Maßnahmen des Staates zu klagen, administrative Akte von der Justiz für unrechtmäßig erklären zu lassen. Genannt wurden prozedurale Garantien, aber zum Rechtsstaat gehören auch materielle Rechte neben dem Katalog der Menschenrechte; so ist das Rückwirkungsverbot ein materielles Recht, während das Gebot des fairen Verfahrens die prozedurale Seite betrifft. So ist es sinnvoll, zwischen einer formalen und einer materialen Seite des Rechtsstaates zu unterscheiden. Die materiale Seite umfasst vor allem die Grundrechte, während die formale Seite durch das allgemeine Gesetz mit seinen verschiedenen Implikationen bestimmt wird. In der englischen Tradition entspricht dem Rechtsstaat die „Rule of Law“, die Herrschaft des Gesetzes, womit das allgemeine Gesetz gemeint ist. Das Prinzip der Allgemeinheit des Gesetzes, das oben schon als Form des Rechts in der Konkurrenzwirtschaft diskutiert wurde, umfasst unterschiedliche Aspekte. Dazu gehört die Gewaltenteilung, weil das allgemeine Gesetz auf den konkreten Fall bezogen, d.h. administrativ konkretisiert werden muss. Damit ist der Unterschied zwischen Gesetzgebung und Verwaltung als ein Aspekt der funktional zu verstehenden Gewaltenteilung benannt. Die Legislative ist zuständig (und legitimiert) für den Erlass allgemein abstrakter Rechtssätze, während die Exekutive diese im Einzelfall anzuwenden hat, d.h. individuell konkrete Maßnahmen durchzuführen hat. Der Akt der Umsetzung oder des Vollzugs eines allgemeinen Rechtssatzes im Einzelfall ist immer mit einer Interpretation und Auslegung des Gesetzes verbunden, weil das Recht abstrakt gefasst ist und deshalb sprachliche Interpretationsspielräume offen halten muss. Deshalb ist die so genannte Anwendung des Gesetzes durch die Verwaltung oder Administration immer auch Rechtsschöpfung. Die Auslegungsspielräume bei der exekutiven Rechtsarbeit führen zu einem normativen Problem der Legitimation, unter dem Aspekt der in der Konkurrenzwirtschaft gebotenen Berechenbarkeit staatlicher Maßnahmen auch zu einem Problem der Vereinheitlichung. Diese Vereinheitlichung wird unter anderem durch die Justiz und ihren hierarchischen Aufbau sichergestellt. Weil das Bundesverwaltungsgericht am Ende ein Auslegungsmonopol für das öffentliche Recht des Bundes besitzt, wird deren administrativer Vollzug vereinheitlicht, weil sich die Verwaltung im Zweifel an den Sprüchen der Obergerichte orientiert. Damit wird einem anderen Aspekt der Allgemeinheit des Rechtes Rechnung getragen, das die Gleichbehandlung aller Rechtssubjekte impliziert. Die Gleichbehandlung, d.h. die Gleichheit vor dem Gesetz, führt folgerichtig zu weiteren Elementen des Rechtsstaates. Dazu gehört das Bestimmtheitsgebot, das – theoretisch – allzu unbestimmte Generalklauseln ausschließt, womit die Spielräume sowohl der Verwaltung wie der Justiz eingeschränkt werden sollten. 268 Die Gleichbehandlung als Element der Allgemeinheit des Gesetzes muss schließlich zum Gebot eines fairen Verfahrens führen, weil dieses Prinzip die gleichen prozeduralen Chancen der streitenden Parteien wahrt. Die Allgemeinheit des Gesetzes in ihren verschiedenen Ausprägungen lässt sich so als der – oder zumindest der wesentliche – Inhalt der formalen Seite des Rechtsstaatsprinzips ausmachen. Der Rechtsstaat sichert über die abstrakte Allgemeinheit des Gesetzes die Berechenbarkeit staatlicher Maßnahmen, die Berechenbarkeit, die für die Teilnehmer einer Konkurrenzwirtschaft unabdingbar sind. Das Rückwirkungsverbot ist ebenso ein Teil des Rechtsstaatsprinzips, gehört zur formalen Seite des Rechtsstaates und charakterisiert die Herrschaft des Rechts und Gewährleistung von Rechtssicherheit, was ausschließt, dass Handlungen rückwirkend für strafbar erklärt werden oder die Genehmigung einer Fabrikanlage widerrufen wird. Die Kompatibilität von marktförmiger Konkurrenz und allgemeinem Gesetz, das die Berechenbarkeit der Anwendung staatlicher Gewalt sicherstellt und so Orientierungspunkte für die Wirtschaftsubjekte schafft, wurde oben als Homologie der Form des Rechts und kapitalistischen Ökonomie diskutiert. Deshalb ist an dieser Stelle die materiale Seite des Rechtsstaates, sind die Grund- und Menschenrechte, zu diskutieren. b) Struktur und Kampf Bevor die Bedeutung und Funktion der Menschenrechte in der bürgerlichen Gesellschaft, ihre Homologie, Kompatibilität zu den Strukturen der kapitalistischen Ökonomie und der bürgerlichen Gesellschaft diskutiert werden können, ist auf den subjektiven Faktor, das subjektive Moment in den Menschenrechten einzugehen. Der große Vordenker des subjektiven Faktors, Ernst Bloch, beschied: „Nicht haltbar ist, dass der Mensch von Geburt an frei und gleich sei. Es gibt keine angeborenen Rechte, sie sind alle erworben oder müssen im Kampf noch erworben werden.“4 Bloch argumentiert hier gegen die Überhöhung der Menschenrechte als Naturrecht, als angeborene Rechte auf der einen Seite und gegen ihre Erniedrigung, das ökonomistische Kleinreden der Menschenrechte, ihre Reduzierung auf eine ökonomische Funktion andererseits. Die Menschenrechte und der Rechtsstaat entwickeln sich gleichsam spiegelbildlich zur Konzentration der Gewalt beim modernen Staat, also zur Herausbildung des staatlichen Gewaltmonopols. Spiegelbildlich heißt an dieser Stelle, dass die Übertragung von Kompetenzen und Gewaltmitteln an die staatliche Zentrale umgekehrt mit 4 Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, S. 215. 269 Forderungen nach Garantien gegen Übergriffe des neuen Machtapparats verbunden waren. Die Gewalt, die im Staat zentralisiert wird, wird rechtlich gebunden und beschränkt. Sie soll zumindest beschränkt werden, was voraussetzt, dass die Institutionen des Rechtsstaats halbwegs funktionieren, also etwa die Gerichte unabhängig sind und anderes mehr. Exemplarisch dafür ist die Geschichte der Magna Charta, die als (eine) Urform menschenrechtlicher Garantien zu werten ist. Ausgangspunkt der Geschichte um die Magna Charta ist ein Streit zwischen dem König und den Baronen um das Schildgeld, eine Art Wehrsteuer, die König Johann I für seine kriegerischen Auseinandersetzungen mit Frankreich verlangte. Dabei war nicht strittig, dass der König eine Steuer erheben darf, aber Johann hatte die Belastung durch das Schildgeld verglichen mit seinen Vorgängern, Richard Löwenherz und Heinrich II, drastisch gesteigert, was zur Rebellion der Barone führte. Als diese offen mit Bürgerkrieg und der Inthronisation eines französischen Königs drohten, war Johann zu Kompromissen bereit und akzeptierte die Magna Charta. Geltung erlangte sie aber erst unter Johanns Nachfolger, Heinrich III, denn Johann hielt sich schlicht nicht an sein Versprechen. Die Magna Charta beinhaltet eine bunte Mischung von Rechten der Barone einerseits und Pflichten des Königs andererseits. So wird die Steuerpflicht der Barone, weil dies der Grund der Auseinandersetzung war, geregelt und beschränkt. Das Steuererhebungsrecht wurde gleichsam parlamentarisiert, nämlich dem allgemeinen Rat übertragen. In der Magna Charta heißt es: „Eine Dienstpflichttaxe oder Vasallensteuer (Schild- oder Hilfsgeld) soll in unserm Königreiche nur durch den allgemeinen Rath unseres Reiches auferlegt werden können.“ Erzbischöfe, Bischöfe, Äbte, Grafen und größeren Barone sollten in Zukunft gemeinsam mit dem König über die Erhebung eines Hilfsgeldes oder eines Schildgeldes beschließen. Verboten wurde die Folter, also die peinliche Befragung durch königliche Amtsträger, den Sheriff, Constable oder Coroner. Willkürliche Verhaftungen wurden verboten, das heißt ein „freier Mann“ durfte nur aufgrund eines Urteilsspruches eingesperrt werden. Dabei legten die Barone großen Wert auf den Unterschied zwischen den Ständen: „Grafen und Barone können nur durch Ihresgleichen gemäß der Art ihres Vergehens bestraft werden.“ Man findet die Urform des Rechts auf Freiheit, daneben tritt das Recht auf Eigentum, das mit folgender Formulierung eingeführt wird: „Keiner unserer Constables oder Landvögte darf von Jemanden Frucht oder sonstiges Eigenthum nehmen, wenn er ihm nicht sogleich Geld dafür bezahlt oder ihm der Verkäufer einen späteren Zahlungstermin zugesteht.“ Schließlich gibt es eine Urform der Religionsfreiheit in folgender Formulierung: „Dass die Kirche von England frei 270 sein soll und ihre vollen Rechte und Freiheiten unverletzlich genießen soll.“5 Die Magna Charta ist ein Produkt des Kampfes zwischen dem englischen Adel und dem König, ein Produkt der sozialen Auseinandersersetzung innerhalb des geschichtlichen Prozesses der Zentralisation der Gewalt- und Machtmittel beim König und Staat. Menschenrechte historisch als angeborene Rechte zu kategorisieren ist so offenkundig abwegig. Eine andere Frage ist die normative Einordnung, für die insbesondere die Naturrechtstradition steht. Naturrecht meint, dass es „Gott gegebene“, „angeborene“ oder „natürliche Rechte“ des Menschen gäbe, gegen die der Gesetzgeber nicht verstoßen dürfe, die also über dem „weltlichen“, dem menschlich gemachten, dem Gesetztenrecht stehen und dessen Geltung im Zweifel aufheben. Diese naturrechtliche Tradition ist durchaus ambivalent: Einerseits wird das Individuum gegen staatliche Gewalt und Willkür geschützt, d.h. unter Berufung auf Menschenrechte werden individuelle Freiheiten gegenüber dem Staat eingefordert, womit der Staat umgekehrt in seiner Macht begrenzt wird. Demokratische, emanzipatorische Bewegungen berufen sich deshalb in den tagespolitischen Auseinandersetzungen nicht selten auf die universellen Menschenrechte und fordern sie (vom Staat) ein. Die politischen Forderungen der französischen Revolution, das subjektive Moment der Revolution, wurde so u.a. durch die Menschenrechte getragen, nämlich mit der Losung: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Rousseaus Bescheid „Der Mensch ist frei geboren und überall ist er in Ketten.“ aus dem „contrat social“ bringt den Widerspruch zwischen dem angeborenen, natürlichen Recht auf Freiheit und der politischen Ordnung des Ancien Régime auf den Punkt. Andererseits wurde das Naturrecht als normative Rechtfertigung der jeweils gegebenen Herrschaftsordnung genutzt. Standes-, Rassen-, Geschlechts- oder Klassenunterschiede sind aus dieser Perspektive natürlich gegeben, Teil der „göttlichen“ oder „natürlichen“ Ordnung, über die sich der Mensch nicht erheben und hinwegsetzen dürfe. Rechtliche und faktische Differenzierungen ergeben sich aus der „Natur der Sache“ oder sind gottgewollt. Die oben schon erwähnte Hierarchie des Rechts bei Thomas von Aquin ist eines der wichtigen Beispiele für die Rechtfertigung der gegebenen Ordnung durch die Konstruktion eines Naturrechts, d.h. einer gottgewollten Ordnung. Ernst Bloch unterscheidet eine apologetische, Herrschaft legitimierende und eine oppositionelle, Herrschaft attackierende Form des Naturrechts, die er mittels eines grandiosen Streifzugs durch die Geschichte unterschiedlicher 5 Magna Charta Libertatum, http://www.verfassungen.eu/gb/gb1215.htm (Zugriff 25.7.2015). 271 Staats- und Rechtstheorien aufzeigt. Er zeigt, dass und wo sich die konservative und emanzipatorische Formen des Naturrechts historisch gegenüberstanden und sich in ihrer hegemonialen Stellung ablösten. Das konservative, Herrschaft legitimierende Naturrecht nennt Bloch relatives Naturrecht. Bloch schreibt: „Auf diesem Wege also, über Altes Testament und Aristoteles, wird bei Thomas (von Aquin) die Gerechtigkeit ins Naturrecht eingeführt, als ein relatives und das positive Recht nicht sprengendes, vielmehr idealistisch ergänzendes und wärmendes. … Die weltliche Obrigkeit hat in ihrem relativen Naturrecht, in ihrer Aufrechterhaltung von Ordnung und Landfrieden, überall das Ideal der Gerechtigkeit über sich, als der kommutativen wie der distributiven; das heißt, es obliegt ihr, dafür zu sorgen, dass jeder seinem Stand gemäß am bonum commune beteiligt werde … Das ist Gerechtigkeit im Sinne des Suum cuique.“6 Gegen das relative thomistische Naturrecht propagiert die revolutionäre Bourgeoisie die Menschenrechte als Ausdruck der Rechtsideen von Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Das relative Naturrecht „im Sündenstand“, das Martin Luther propagierte, liest Bloch nicht als Antwort auf den Papst, sondern als Antwort auf das absolute Naturrecht der sozialrevolutionären christlichen Sekten. „Sie erkannten lediglich absolutes Naturrecht an, ohne Kompromisse, ohne die Rente, welche der Sündenfall der Herrenschicht abwarf. … Erst ein Dasein ohne Eigentum, Staat, Zwangsrecht machte der Christfrömmigkeit, mit ihrer wahren Bitterkeit, echten Gnade, Raum.“ 7 Bloch argumentiert in „Naturrecht und menschliche Würde“ gegen den Rechtsskeptizismus, der ausgehend von der Marxschen Kritik in der Sowjetunion und den verbündeten Staaten gepflegt wurde, um die Herrschaft der Partei und Bürokratie zu legitimieren. Das Recht und der Staat sollten zwar nicht abgeschafft werden, aber im Sozialismus ihren Charakter ändern und absterben. „Sozialistische Rechtsnorm ergibt sich als die pro rata kodifizierte Solidarität zur Herstellung eines ökonomisch-politischen Zustandes, worin, wie Lenin sagte, jede Köchin den Staat regieren kann und dieser selber keine Kodifizierung mehr braucht. Ein Grenzbegriff, wie bemerkt, doch ein konkreter, mit dem Staat als Mittel zu seinem Überflüssigwerden; objektive Ordnung ist Schutz der menschlichen Würde, damit sie den Schutz nicht mehr nötig hat.“8 Bloch bringt das absolute Naturrecht als Schutz der menschlichen Würde gegen einen „realsozialistischen“ Staat in Stellung, der angeblich im Namen der 6 7 8 272 Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, S. 56 f. Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, S. 43. Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, S. 259. herrschenden, arbeitenden Klasse die Individuen entrechtet. Das absolute Naturrecht, die oppositionelle Tradition des Naturrechts, das versucht Bloch zu zeigen, beherbergt ebenso wie die Sozialutopien den Vorschein einer besseren anderen Welt, nur das relative Naturrecht ist Teil der Klassenherrschaft. Dabei zielen absolutes Naturrecht und Sozialutopie auf verschiedene Momente der Befreiung: „Die Sozialutopie ging auf menschliches Glück, das Naturrecht auf menschliche Würde. Die Sozialutopie malte Verhältnisse voraus, in denen die Mühseligen und Beladenen aufhören, das Naturrecht konstruiert Verhältnisse, in denen die Erniedrigten und Beleidigten aufhören.“9 Beide Traditionen will Bloch im Marxschen Denken aufgehoben sehen, sie gehören für ihn untrennbar als Vorschein einer anderen Gesellschaft, als konkrete Utopie einer menschlichen Gesellschaft zusammen. An anderer Stelle schreibt er: „Die Naturrechtstheorien gehen … überwiegend auf Würde, auf Menschenrechte, auf juristische Garantien der menschlichen Sicherheit oder Freiheit, als Kategorien des humanen Stolzes. Demgemäß richtet sich die Sozialutopie vor allem auf die Abschaffung des menschlichen Elends, das Naturrecht vor allem auf Abschaffung der menschlichen Erniedrigung. … Und doch reißt das die beiden Traumarten von einem besseren gesellschaftlichen Leben nie ganz auseinander. Sie verschränken sich, Glückslehren meinen keinen Garten für unmündige Tiere, Würdelehren keine Kostverächter, auch noch mit der rauen Haut einer Säule.“10 Diese Ambivalenz, die in der Unterscheidung von relativem und absolutem Naturrecht zum Ausdruck kommt, bestimmt bis heute die Auseinandersetzungen um die Menschenrechte. Sie werden auf der einen Seite von emanzipatorischen Bewegungen gegen autoritäre und diktatorische Regime in Anschlag gebracht. Man beruft sich auf die universelle Geltung der Menschenrechte auch in sogenannten Gottesstaaten. Umgekehrt rechtfertigen die kapitalistischen Zentren inzwischen militärische Aktionen unter Berufung auf „Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte“, unter Berufung auf „Freiheit and Democracy“, wie es in Brechts „anachronistischem Zug“ heißt. Die Universalität der Menschenrechte wird hier imperial, dient der Rechtfertigung von Interventionen der „internationalen Gemeinschaft“, womit nur in seltenen Fällen die UNO gemeint ist, vielmehr Bezug genommen wird auf amorphe Gebilde wie die „westliche Wertegemeinschaft“. 9 Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, S. 13. 10 Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, S. 234 f. 273 c) Staat und Struktur Der Kampf um Rechte, um Menschenrechte und Rechtsstaat bringt zwar das subjektive Moment des Vorscheins von Gerechtigkeit zum Ausdruck, ist aber keine voluntaristische Angelegenheit, keine Frage des guten Willens oder wie Bloch das genannt hat, keine „subjektivistische Verblasenheit“. Die Emanzipation, der Kampf um Rechte, findet statt unter den gegebenen Strukturen, die durch das Handeln der Subjekte produziert und reproduziert werden, dabei aber gleichzeitig verändert werden und werden können. Die Strukturen der gesellschaftlichen Realitäten setzen gleichzeitig die Grenzen ihrer Modifikation und die Möglichkeit des Vorscheins eines Anderen, einer besseren Welt, wobei diese Potenzialitäten in die Struktur eingebettet sind und sein müssen. Bloch formuliert das mit Blick auf die konkrete Utopie, zu der er auch das absolute Naturrecht zählte, folgendermaßen: „Marx hat zwar gesagt, die Revolution habe keine Ideale zu verwirklichen; dieser Satz aber wandte sich, wie dargestellt, ausschließlich gegen die subjektivistischen Verblasenheiten, gegen die irrealen Revoluzzer, welche ihre Einbildung bereits für die Wirklichkeit hielten. Der Satz wandte sich nicht gegen den Marxismus selbst, das heißt gegen den endlich begriffenen Weg zur Beförderung der Humanität. Nichts ist legitimer als Ideale zu verwirklichen, wenn sie Tendenzen, Latenzen in der Wirklichkeit selber, folglich realisierbar geworden sind.“11 Den Tendenzen, Latenzen in der Wirklichkeit spürt Bloch vor allem im Prinzip Hoffnung nach, und findet sie in den großen Werken der Menschheitsgeschichte. Denken heißt Überschreiten; Überschreiten der schlechten Wirklichkeit, wozu das absolute Naturrecht seinen Beitrag leistet. Die Analyse der Geschichte um die Magna Charta kann die Dialektik der Potenzialitäten und Begrenzungen in der Struktur erhellen. Als die englischen Barone Johann I die Magna Charta abtrotzen, hatten sie keineswegs gleiche Rechte und Freiheiten für alle im Kopf und vor Augen. Sie forderten Rechte für „freie Männer“, die sie nach Ständen unterscheiden wollten. Gleichheit vor dem Gesetz war der mittelalterlichen Standesgesellschaft fremd. Ihnen ging es um die Höhe der Steuerlast und die Mitwirkung an den Steuerbeschlüssen. Die Barone waren stark genug, um die Repräsentation des Adels bei der Steuererhebung durchzusetzen und sie forderten ein allgemeines Steuergesetz – also gleichmäßige Besteuerung unter Ausschluss der Willkür. Aber sie waren nicht mehr stark genug, um auch eine Repräsentation bei der Entscheidung über die Frage „Krieg oder Frieden“ durchzusetzen, die ja der Steuererhebung zugrunde 11 Bloch, Wiederkehr der Ideale, in: ders., Widerstand und Friede, S. 28. 274 lag. Diese Dialektik von Subjekt und Strukturen12 ist der Analyse der Homologie von Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft und den Strukturen von Recht und Staat vorauszusetzen, was sowohl für die folgenden Betrachtungen des Verhältnisses von Menschenrechten und Demokratie wie für die oben angestellten Überlegungen zu den Relationen der Differentia specifica des Kapitalismus und dem Recht gilt, deren historisch-subjektive Ursprünge im vorangegangenen Kapitel diskutiert wurden. 2. Eigentum, Freiheit und Vertrag a) Das Recht auf Eigentum Die englischen Barone haben mit der Magna Charta eine Garantie ihres Eigentums erstritten. Eingriffe in das Eigentum sollten nur aufgrund eines Gesetzes zulässig sein. Ganz ähnlich lauten bis heute die Eigentumsgarantien in den verschiedensten Verfassungstexten, denn selbstverständlich kann der Staat nicht vollständig auf Eingriffe in das Eigentum – etwa in Form der Steuer oder um Land für den Eisenbahnbau zu requirieren – verzichten. Die Garantie des Eigentums ist das zentrale Grundrecht in der bürgerlichen Gesellschaft. Diese Garantie charakterisiert den Übergang von der persönlichen Gefolgschaft zum modernen Staat. Das mittelalterliche Ritterherr funktionierte ohne Schildgeld, weil die Ritter mit ihrer Ausrüstung und Mannschaft die Armee der jeweiligen Kriegspartei stellten und persönlich zum Dienst verpflichtet waren. Das Schildgeld, das Johann I forderte, hatte auch die Funktion einer Ersatzzahlung – die Adeligen kauften sich vom Kriegsdienst frei. Gleichzeitig war die Zentrale, der englische König schon so stark, dass die Adeligen die Beteiligung am Krieg nicht einfach rundweg ablehnen konnten – sie akzeptierten grundsätzlich ihre Verpflichtung, selbst ins Feld zu ziehen und/oder die Kriegssteuer zu errichten. Und die Adeligen sind schon so schwach, dass sie Garantien ihres Eigentums vom staatlichen Zentrum brauchen und einfordern – vertragliche Garantien in Form der Magna Charta, aber sie sind noch so stark, dass sie diese auch durchsetzen können. Das ist die eine Seite – das Verhältnis von zentraler und dezentraler Macht. Sie leitet über zu den Verhältnissen der bürgerlichen Gesellschaft. 12 Vgl. Fisahn, Herrschaft im Wandel, S. 31 ff. 275 Die englischen Barone traten gegenüber dem König erst in zweiter Linie als Träger der militärischen und politischen Gewalt auf, sie fungierten vorrangig als Träger der ökonomischen Macht, als Besitzer von Ländereien, die besteuerbare Erträge abwarfen. Diese Funktion ging im Laufe der Entwicklung zunächst auf die Handelsbourgeoisie, Verleger, Manufakturisten und schließlich die industrielle kapitalistische Bourgeoisie über. Diese verlangten später ebenso wie die Barone im Jahre 1215 von der Monarchie Garantien für Eigentum und erstritten diese in unterschiedlichen Formen. Seine theoretische Rechtfertigung erhält das Eigentum in den Staatstheorien dieser Epoche. Beispielhaft seien Hobbes und Locke genannt. Hobbes Schrift „Der Leviathan“ (erscheinen 1651) ist als Antwort auf den englischen Bürgerkrieg im 17. Jahrhundert zu verstehen. Dort wird der Staat bekanntlich als absolute Monarchie entworfen, der sich die Bürger unterwerfen sollen, um Frieden herzustellen. Das heißt aber letztlich, sie sollen ihr Eigentum in Frieden und mit sicheren Rechten genießen können. Das sei nur im bürgerlichen, staatlichen Zustand, nicht aber im kriegerischen Naturzustand möglich. Der Monarch, die höchste Gewalt, habe das Recht, „Vorschriften zu erlassen, welche das Eigentum betreffen, damit ein jeder wisse, was ihm gehört, dies ungestört genießen könne, auch unterrichtet werde, was er mit Recht tun und nicht tun dürfe.“13 Implizit wird das Recht des Gesetzgebers eingeschränkt, denn erstens wird das individuelle Eigentum als existierend vorausgesetzt und die Gesetze müssen schon so aussehen, meint Hobbes in aller bürgerlichen Naivität, dass jeder sein Eigentum genießen kann – vorausgesetzt er hat denn welches. Der Naturzustand, der Krieg aller gegen alle, muss verlassen werden, um das Eigentum zu sichern. Hobbes schreibt: „Gerechtigkeit ist der feste Entschluss, einem jeden das Seinige zu geben. Denn wo nicht so etwas da ist, was man das Seinige nennen kann, oder wo kein Eigentum da ist, da fällt alles Ungerechte weg; und außer der bürgerlichen Gesellschaft gibt es kein Eigentum.“14 Noch eindeutiger ist Locke in „Two Treatises of Government“, die er 1689 veröffentlichte. Ziel und Zweck des Staates ist für Locke die Sicherung des Eigentums. „Das große Ziel, mit welchem die Menschen in eine Gesellschaft eintreten, ist der Genuss ihres Eigentums in Frieden und Sicherheit, und das große Werkzeug und Mittel dazu sind die Gesetze, die in dieser Gesellschaft festgelegt sind.“15 Der Staat wird gleichsam umdefiniert zum Garanten des Eigentums. Aber der 13 Hobbes, Leviathan, S. 161. 14 Hobbes, Leviathan, S. 130. 15 Locke, Über die Regierung, XI 134. 276 Konflikt um die Magna Charta wirkt nach, wenn Locke schreibt: „Zum dritten darf sie (die Legislative A.F.) keine Steuern auf das Eigentum des Volkes erheben ohne die eigene oder durch Abgeordnete erteilte Zustimmung des Volkes.“16 So richtig traut er seiner Umdefinition des Staateszweckes nicht und sichert das Eigentum vorsichtshalber durch die Zustimmungspflicht zu Steuergesetzen. Schon für die frühbürgerliche Staatstheorie war das Eigentum dem Staat vorausgesetzt und der Staat wurde als Anstalt zum Schutze des Eigentums konstruiert. Zu verstehen ist dies als normative Konstruktion, die dem Staat, d.h. der absoluten Monarchie durch die Zwecksetzung des Staates und vorgegebene, natürliche Rechte Grenzen setzen sollte. Im Kampf gegen den Adel war die Bourgeoisie auf Seiten des Königs, also auf Seiten staatlicher Macht und nicht dezentraler Machthaber, weshalb die zentrale Macht aber normativ begrenzt werden musste. Die Trennung von ökonomischer und politischer Macht und die Zentralisation der Macht im staatlichen Gewaltmonopol lassen sich so als eine strukturelle Voraussetzung und als ein Grund für die Entstehung der Menschenrechte, insbesondere für das Recht auf Eigentum begreifen. Die ökonomische Macht braucht in der bürgerlichen Gesellschaft Garantien des Eigentums, die ihrerseits entscheidende Voraussetzung dafür sind, dass sich die kapitalistische Wirtschaftsweise entfalten kann. Das Grundrecht auf Eigentum findet so seine Springquelle in der Struktur der bürgerlichen Gesellschaft, in der Trennung von politischer und ökonomischer Macht. Oben wurde ausführlich die Homologie von kapitalistischer Wirtschaftsweise und der Form des Rechts, dem allgemeinen Gesetz, der formalen Seite des Rechtsstaates diskutiert. Diese Form des Rechts schafft die in einer Konkurrenzwirtschaft erforderliche Berechenbarkeit. Weil der Staat sich von der Ökonomie trennt, braucht es den Schutz vor dem unbeschränkten Zugriff des Staates auf die Wirtschafts- und Rechtssubjekte, dazu reicht die formale Berechenbarkeit nicht aus, sondern es ist auch die materielle Absicherung des Eigentums erforderlich. Kurz: Wenn politisches und ökonomisches Personal auseinanderfällt, braucht der Bourgeois zur ökonomischen Entfaltung den Schutz durch rechtliche Garantien. b) Freiheit und Gleichheit Gleiches gilt in modifizierter Weise auch für die übrigen Grundrechte. Die kapitalistische Wirtschaftsweise setzt neben dem Eigentum die Freiheit des Subjekts, das heißt vor allem die Freiheit, Verträge zu schließen, voraus. Die Magna Charta 16 Ebenda. 277 ist auch in dieser Hinsicht relevant als Beispiel für die strukturellen Grenzen und das gleichzeitige Überschreiten der Verhältnisse. Die Gewährleistung von Freiheit und Eigentum gilt oftmals als Zusammenfassung der wesentlichen Garantien der Grund- und Menschenrechte – „Freiheit und Eigentum“ sind Synonyme für den menschenrechtlichen Schutz, den der Staat gewährleisten soll.17 In einer typischen Vorlesung über die Grundrechte wird das Abwehrrecht als „Hauptfunktion“ der Grundrechte bestimmt und definiert als „Anspruch auf Abwehr von staatlichen Eingriffen in Freiheit und Eigentum sowie von Ungleichbehandlungen = entsprechende Unterlassungspflichten des Staates.“18 Aus neoliberaler Sicht wird schließlich die Beziehung verdreht – das Eigentum zur Voraussetzung der Freiheit. „Dass Freiheit und Eigentum nicht beziehungslos nebeneinander stehen, sondern irgendwie miteinander zusammenhängen, gehört zu den Gemeinplätzen unseres heutigen Rechtsverständnisses. Meist stellt man sich diesen Zusammenhang so vor, das Eigentum Freiheit überhaupt erst ermöglicht.“19 Das Eigentum ist das Primäre, die Freiheit das Sekundäre, Freiheit wird zur Freiheit des Eigentümers oder eben zur Vertragsfreiheit, zur Freiheit des Warenbesitzers. Die menschenrechtliche Garantie der Freiheit findet sich in der Magna Charta zunächst als Sicherheit vor willkürlichen Verhaftungen und Strafen sowie als Verbot der Verurteilung ohne Prozess und als Verbot der Folter. Freiheit ist für die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft unter anderen Aspekten relevant, nämlich als Freiheit der Arbeitskräfte – der freie Lohnarbeiter ist Voraussetzung der kapitalistischen Produktion – und als Gewerbefreiheit durch die Beseitigung der strengen Restriktionen von Zünften und Gilden. Die persönliche Freiheit, also die Freiheit des Lohnarbeiters ist – aus der Perspektive der Menschenrechte – von der Bewegungsfreiheit, also dem Schutz vor willkürlichen Verhaftungen zu unterscheiden. Die Magna Charta normierte Schutz vor willkürlichen Verhaftungen ohne Urteil eines Gerichts, das mit Standesgenossen besetzt war; aber sie kannte selbstverständlich nicht die persönliche Freiheit als allgemeines Menschenrecht, verstanden als Freiheit von Leibeigenschaft und Dienstpflichten, also von feudalen Herrschaftsverhältnissen und Sklaverei. Schaut man in die Menschenrechtserklärung der französischen Revolution, die Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen vom 26.8.1789, 17 Etwa: Isensee/Lecheler, Freiheit und Eigentum. Festschrift für Walter Leisner zum 70. Geburtstag, passim. 18 Gröpl,StaatsrechtII,http://www.uni-saarland.de/fileadmin/user_upload/Professoren/fr11_ProfGroepl/lehre___nur_Pdfs_/lehre10/GRVorl/GR02.pdf. 19 Braun, Freiheit, Gleichheit, Eigentum, S. 16. 278 dann steht dort die Freiheit an erster Stelle, und zwar die Freiheit in unterschiedlichen Ausprägungen, nämlich als persönliche Freiheit, als Unabhängigkeit der Person, was Leibeigenschaft ausschließt, weiter als Recht auf Sicherheit, was im französischen Kontext die Sicherheit vor staatlichen, willkürlichen Verhaftungen meint, und als allgemeine Handlungsfreiheit. Standesunterschiede und Privilegien wurden abgeschafft. In der Erklärung heißt es: Artikel 1 – Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es. Gesellschaftliche Unterschiede dürfen nur im allgemeinen Nutzen begründet sein. Artikel 2 – Der Zweck jeder politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unantastbaren Menschenrechte. Diese sind das Recht auf Freiheit, das Recht auf Eigentum, das Recht auf Sicherheit und das Recht auf Widerstand gegen Unterdrückung. Artikel 4 – Die Freiheit besteht darin, alles tun zu dürfen, was einem anderen nicht schadet: Die Ausübung der natürlichen Rechte eines jeden Menschen hat also nur die Grenzen, die den anderen Mitgliedern der Gesellschaft den Genuss eben dieser Rechte sichern. Diese Grenzen können nur durch das Gesetz bestimmt werden. Die Freiheit im ersten und zweiten Artikel bezieht sich auf die persönliche Freiheit und wird noch einmal mit der Abschaffung der Standesunterschiede betont, die auch den Aspekt der Gleichheit vor dem Gesetz umfasst. In Art. 4 wird dann die allgemeine Handlungsfreiheit im heutigen Sinne normiert, die sich von der persönlichen Freiheit unterscheidet. Ähnliche Bestimmungen fanden sich vorher in der Virginia Bill of Rights vom 12.6.1776, wo es heißt: Section 1. That all men are by nature equally free and independent and have certain inherent rights, of which, when they enter into a state of society, they cannot, by any compact, deprive or divest their posterity; namely, the enjoyment of life and liberty, with the means of acquiring and possessing property, and pursuing and obtaining happiness and safety. Section 4. That no man, or set of men, is entitled to exclusive or separate emoluments or privileges from the community, but in consideration of public services; which, nor being descendible, neither ought the offices of magistrate, legislator, or judge to be hereditary. In dieser Tradition wurden die Rechte in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ der Vereinten Nationen aus dem Jahre 1948 und der „Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte“ (EMRK) aus dem Jahre 1950 normiert. An erster Stelle stehen die persönliche Freiheit, die explizit als Verbot der Sklaverei konkretisiert wird, die Gleichheit vor dem Gesetz mit dem expliziten Verbot der Diskriminierung, der Schutz vor unrechtmäßigem Freiheitsentzug und das Verbot der Folter. Auch die Grundrechte-Charta der EU aus dem Jahre 2000 normiert an prominenter Stelle die persönliche Freiheit, 279 und zwar in Art. 5 explizit als Verbot von „Sklaverei oder Leibeigenschaft“ und Zwangsarbeit. Das Grundgesetz weicht von dieser Struktur etwas ab, indem es die allgemeine Handlungsfreiheit in Art. 2 Abs.1 normiert, aber nicht explizit die persönliche Unabhängigkeit im obigen Sinne. Sie ist gleichsam Voraussetzung der allgemeinen Handlungsfreiheit, der auch die Dimension der Vertragsfreiheit zugeschrieben wird. Die Würde des Menschen steht im deutschen Grundgesetz nach den Erfahrungen mit der NS-Barbarei mit Recht an erster und oberster Stelle der Verfassungsnormen. Es folgt in Art. 3 GG das Gleichheitsrecht. Wenn die ersten Verfassungen der bürgerlichen Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts die persönliche Freiheit an den Anfang der Erklärung der Menschenrechte stellen, schließen sie damit den Prozess der Entfeudalisierung der jeweiligen Gesellschaft jedenfalls auf einer normativen Ebene ab. Der freie Lohnarbeiter, das hatte Marx im Kapitel 24, Band I des „Kapital“ über die ursprüngliche Akkumulation hervorgehoben, war eine der zentralen Voraussetzungen für die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft. Das Menschenrecht auf persönliche Freiheit oder der Freiheit der Person garantiert nun verfassungsrechtlich den Zustand, der sich faktisch sukzessive vollzogen hatte durch Flucht in die Städte – „Stadtluft macht frei“ –, die Vertreibung der Bauern von ihren Ländereien oder durch die faktische Reduzierung ihrer Abhängigkeit vom Grundherrn durch die Aufnahme anderer gewerblicher Tätigkeiten, z.B. im Auftrag eines Verlegers, kurz: durch den langsamen Verfallsprozess der feudalen Ordnung und Wirtschaftsweise. Im 16. Jahrhundert waren in Deutschland 90 % der Bauern abhängig von den Lehnsherren, ähnlich sah die Situation im restlichen Europa aus – nur wenige waren „freie Bauern“. In England begann der Prozess der Aufhebung der Leibeigenschaft vergleichsweise früh, während er in Russland bis zur russischen Revolution andauerte. Dabei darf man sich die faktische Aufhebung der Leibeigenschaft nicht als einmaligen Akt vorstellen, sondern als sukzessiven Prozess, dessen Abschluss sich allerdings benennen lässt. Ein sukzessiver Prozess, der von unterschiedlichen Faktoren beeinflusst wurde: von dem Aufkommen der Geldwirtschaft, der Pest oder dem hundertjährigen Krieg ebenso wie von Bauernaufständen – Richard II versprach dem Bauernführer Wat Tyler schon im Jahre 1381 die Aufhebung der Leibeigenschaft, hielt aber sein Versprechen – natürlich – nicht. In Preußen hat Friedrich II 1763 angeordnet, dass „absolut und ohne das geringste Räsonieren die Leibeigenschaften gänzlich abgeschafft werden“; auch er konnte sich aber gegen den Widerstand des Adels nicht durchsetzen. Befreit wurden zunächst die Bauern der königlichen Domänen. Erst die Stein/Hardenbergschen Reformen der Jahre 1807–1826 führten zur rechtlichen Aufhebung der Leibeigenschaft in 280 Preußen, was die preußischen Junker nicht davon abhielt, sich bis in die Weimarer Republik wie feudale Grundherren zu gerieren. Ähnliches gilt für die Gewerbefreiheit, auch sie muss als eine zentrale Bedingung der Entwicklung einer kapitalistischen Ökonomie verstanden werden. Gewerbefreiheit umfasst zwei Aspekte, nämlich die Beseitigung der zünftischen Zulassungsbeschränkungen und zweitens – daraus folgend – die Vertragsfreiheit. Auch für die Gewerbefreiheit ist es schwierig, den Beginn des Prozesses auszumachen. Exemplarisch soll nur die Verrechtlichung der Gewerbefreiheit in Preußen vorgeführt werden. Mit der französischen Revolution und den Stein/ Hardenbergschen Reformen setzte eine Bewegung in Richtung Gewerbefreiheit ein, die sich insbesondere gegen die Privilegien und Beschränkungen durch das überkommene Zunftwesen richtete, das der kapitalistischen Entwicklung im Wege stand bzw. dieser hinderlich war. Nach mehreren spezialgesetzlichen Regelungen, welche die Gewerbefreiheit für bestimmte Produktionszweige und/oder Regionen einführte20, wurde in Preußen durch Edikt vom 2. November 1810 die allgemeine Gewerbefreiheit eingeführt. Diese gestattete allen „Untertanen das Recht“, jedes Gewerbe aufgrund eines jährlich zu lösenden Gewerbescheines sowohl in den Städten als auf dem Land zu betreiben. In der Folgezeit gab es – vor allem getragen durch das Handwerk – Widerstand gegen die allgemeine Gewerbefreiheit. Die preußische „Allgemeine Gewerbeordnung“ vom 17.1.1845 sah deshalb eine im Interesse des Allgemeinwohls eingeschränkte Gewerbefreiheit vor. Dem Drängen nach freiwilligen Kooperationen und Beibehaltung der bestehenden Korporationen wurde durch dieses Gesetz nachgegeben. Wenig später – nach der missglückten Revolution – wurde dieses Element verstärkt. Mit der Verordnung vom 9.2.1849 wurden Gewerberäte mit bedeutenden obrigkeitlichen Kompetenzen sowie – anstelle der freiwilligen Korporationen – Zwangsinnungen geschaffen. Diese antiliberale Tendenz konnte jedoch nicht lange durchgehalten werden. Die Gewerbeordnung von 1869 stellte die Gewerbefreiheit für alle Länder des Norddeutschen Bundes her und geriet in den allgemeinen Bestimmungen zur Deklaration der Gewerbefreiheit. Dort heißt es: „§ 1. Der Betrieb eines Gewerbes ist Jedermann gestattet, soweit nicht durch dieses Gesetz Ausnahmen oder Beschränkungen vorgeschrieben sind. …“ § 4. Den Zünften und kaufmännischen Korporationen steht ein Recht, Andere von dem Betriebe eines Gewerbes auszuschließen, nicht zu. 20 Vgl. die Aufzählung bei Rohrscheidt, Die Gewerbeordnung für das Deutsche Reich, S. 3 f. 281 § 10. Ausschließliche Gewerbeberechtigungen oder Zwangs- und Bannrechte … können fortan nicht mehr erworben werden. Realgewerbeberechtigungen dürfen fortan nicht mehr erworben werden. § 11. Das Geschlecht begründet in Beziehung auf die Befugnis zum selbständigen Betriebe eines Gewerbes keinen Unterschied. …“ Die liberalen Vorstellungen setzten sich nicht nur gegenüber dem Zwang der Korporationen und dem Zunftwesen durch, sondern betrafen auch den Gegensatz von Stadt und Land und die Gleichberechtigung der Geschlechter, was den realen Verhältnissen der Zeit weit voraus war. Der Gewerbefreiheit und der Bauernbefreiung liegt – meist unausgesprochen – die Metamorphose des Untertanen zum Bürger und Rechtssubjekt zugrunde. Dabei ist das Rechtssubjekt ein Verträge schließendes Subjekt. Die Vertragsfreiheit wird verstanden als Bestandteil der allgemeinen Handlungsfreiheit und ist damit menschenrechtlich geschützt. Die Vertragsfreiheit ihrerseits setzt die rechtliche, d.h. formale – im Unterschied zur sozialen, ökonomischen, d.h. materialen – Gleichheit der Menschen in der Regel voraus, und nur diese wird von den Verfassungsnormen garantiert. Vertragspartner können nur gleichwertige Rechtssubjekte sein; ansonsten handelt es sich eben nicht um einen Vertrag, weil eine rechtlich abgesicherte Hierarchie besteht. Das muss strikt getrennt werden von der faktischen Ungleichheit in Vertragsbeziehungen, etwa zwischen Unternehmer und Arbeiter, die trotz des faktischen Machtgefälles einen Vertrag unter formal gleichen Rechtssubjekten schließen. 3. Marktsubjekt und Menschenrecht a) Struktur und der Anspruch auf Freiheit und Gleichheit Der Kampf um die Bauernbefreiung und Gewerbefreiheit mündet ins Menschenrecht auf Freiheit, auf persönliche Unabhängigkeit und allgemeine Handlungsfreiheit. Die Freiheit ist einerseits Befreiung von der persönlichen Abhängigkeit, der Leibeigenschaft der mittelalterlichen Bauern, und andererseits konstitutiv für die Freiheit des Lohnarbeiters und des Kapitalisten, welche die Vertragsfreiheit als Grundlage der menschlichen Beziehungen in der bürgerlichen Gesellschaft umfasst. Die menschlichen Beziehungen der bürgerlichen Gesellschaft werden zu Vertragsbeziehungen. Nun wirkt diese Struktur der gesellschaftlichen Beziehungen zunächst auf die Selbstwahrnehmung, d.h. auf die bewusste Selbstpositionierung, aber ebenso auf die vorbewusste Ordnung der Individuen dieser Gesellschaft, die ethisch-moralische Dimensionen ebenso 282 umfasst wie Wahrnehmungsschemata und -kategorien, die eine Orientierung in der jeweiligen Gesellschaft und Gruppe überhaupt erst ermöglichen. „Das bürgerliche Individuum dünkt sich autonom.“ formulierte Adorno; es dünkt sich als freies Rechtssubjekt, freier Warenbesitzer und Konsument, das heißt als Rechtssubjekt, dessen Willensfreiheit die ökonomischen Zwänge systematisch unberücksichtigt lässt und von weitsichtigen Denkern wie Kant deshalb als „intelligibel“ konstruiert wurde. Diese Autonomie oder Willensfreiheit liegt dem Vertragsschluss in der juristischen Theorie wie in der Selbstwahrnehmung zu Grunde. Das Rechtssubjekt wird konstruiert und konstruiert sich selbst als geborener, natürlicher Marktakteur, welcher der utilitaristischen Rationalität folgt, d.h. seine Handlungen an Kosten-Nutzen-Kalkülen ausrichtet. Die Wahrnehmung des Menschen als Waren tauschendes Subjekt, als Marktteilnehmer beruht keineswegs auf anthropologischen Konstanten. Sie sind vielmehr Ergebnis mühseliger Sozialisationsprozesse, in denen die Bewertungskategorien von einer Ökonomie der Ehre umgestellt wurden auf eine Ökonomie des materiellen Vorteils – in der der kapitalistische Geist gleichsam gezüchtet wurde. Der homo oeconomicus, d.h. der berechnende, auf seinen ökonomischen Vorteil bedachte Spießbürger entspringt keineswegs der menschlichen Natur.21 Ist der „kapitalistische Geist“ in der Welt, meint die Selbstwahrnehmung des Individuums aber, das Nutzen maximierende und Handel treibende Rechtssubjekt sei eine anthropologische Konstante. Und dieses Rechts- und Marktsubjekt beansprucht die Freiheit, Verträge zu schließen oder auch nicht. Als Verträge schließendes Subjekt denkt sich das Individuum autonom, d.h. aber auch unabhängig im Sinne von auf sich selbst gestellt, für sich selbst verantwortlich und isoliert. Das bürgerliche Individuum ist Monade, das seine Sphäre der Autonomie durch Rechte absichert. Das Recht und der Markt vermitteln die gesellschaftlichen Zusammenhänge, die die Konkurrenz zerschlagen hat, reproduzieren die Konkurrenz aber gleichzeitig, weil das Individuum atomisiert, als Monade abstrahiert von allen gesellschaftlichen Zusammenhängen vorgestellt und vorausgesetzt wird. Der Atomismus der bürgerlichen Gesellschaft wird durch das Recht strukturiert. Oder anders gesagt: Das Recht ist die Struktur, welche der Atomisierung einen Ausdruck verleiht und sie gleichzeitig perpetuiert. Die Menschenrechte setzen den Menschen als individualistische, egoistische Monade, d.h. als isoliertes Einzelwesen voraus und schützen ihn in dieser bürgerlichen Existenzweise vor seinen Mitmenschen. Die Freiheit des Individuums der bürgerlichen Gesellschaft ist die Freiheit, Verträge zu schließen. Diese Freiheit ist offensichtlich eine höchst beschränkte. In der Rolle des 21 Polanyi, The Great Transformation, S. 75. 283 Konsumenten wird die Vertragsfreiheit – in fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften – (meist) als wirkliche Freiheit wahrgenommen. Die Situation ändert sich jedoch in anderen vertraglichen Beziehungen. Beim Vertragsschluss – etwa beim Abschluss eines Mietvertrages – bestehen faktische Zwänge für die schwächere Seite. Die Vertragsfreiheit changiert zwischen Realität und juristischer Fiktion. Gleichzeitig ist das Rechtssubjekt hin- und hergerissen zwischen der formalen Gleichheit, der Gleichheit vor dem Gesetz und der materialen Ungleichheit, der Ungleichheit im sozialen Status, die deutlicher wahrnehmbar ist als der faktische Zwang, Verträge abzuschließen, weil jener entpersonalisiert ist, dem anonymen Markt zugeschrieben wird. Die Ungleichheit bleibt personalisiert und der Widerspruch zwischen formaler Gleichheit und materialer Ungleichheit äußert sich als Widerspruch zwischen dem Anspruch auf Nichtdiskriminierung und dem individuellen Streben, sich abzuheben, also Distinktionsmerkmale zu entwickeln, wie Bourdieu das expliziert hat. Distinktionsmerkmale, so Bourdieus empirische Analyse in „Die feinen Unterschiede“, entwickeln oder legen sich die oberen Schichten zu – und zwar in unterschiedlicher Form, je nachdem, ob sie über viel Bildungskapital oder ökonomisches Kapital verfügen –, um sich von den unteren Schichten abzuheben, die nichts Eiligeres zu tun haben, als die Distinktionsmerkmale zu kopieren, bis sie an Wert verloren hatten. Mit der Positionierung im sozialen Raum (oben/unten – gebildet/ungebildet) korrespondiert, das führt Bourdieu aus und belegt es an einer Fülle von empirischem Material, ein etwa gleichartiger Lebensstil. Den Lebensstil setzt Bourdieu aus unterschiedlichen kulturellen Präferenzsetzungen zusammen, den Vorlieben für bestimmte Musik, bildende Kunst, Mode, Kosmetik, Essen, Sportarten und politische Parteien. Seine Untersuchungen ergaben – auf die soziale Landkarte projiziert – kein wildes Durcheinander der verschiedenen Vorlieben. Festgestellt werden konnten nicht nur eindeutige Schwerpunkte für bestimmte Vorlieben und Lebensstile entsprechend der Positionierung im sozialen Raum. Beispielsweise wird oben links (= viel Bildungskapital) in der vorgestellten Matrix weitaus häufiger Jazz-Musik gehört als unten rechts. Auch die einzelnen Vorlieben sind nicht beliebig verteilt, sie „passen“ gleichsam zueinander, was natürlich eine Bewertung des Beobachters einschließt. Der Musikgeschmack korrespondiert beispielsweise mit den Vorlieben für bestimmte Getränkesorten. Wer z.B. Volksmusik hört, trinkt nicht Champagner, sondern (in Frankreich) Landwein. Nur diese Korrespondenzen erlauben es, überhaupt von einem „einheitlichen“ Lebensstil zu sprechen; die Vorlieben folgen derselben „Grundstruktur“.22 22 Bourdieu, Unterschiede,S. 332 ff. 284 Die Matrix der Lebensstile lässt sich dann über die Matrix der Kapitalverteilung legen. Das Kriterium, nach dem das „Zueinander-Passen“ der Lebensstile bewertet wird, ist für Bourdieu der Grad der Distinktion23 ihrer Elemente; d.h. die „oberen“ Gruppen, diejenigen mit höherem Kapitalvolumen der ein oder anderen Art, versuchen sich durch den spezifischen Einsatz ihres Kapitals von den Schichten mit niedrigem Kapitalvolumen und von der Gruppe mit anderem hohen Kapitalvolumen zu unterscheiden. Das führt – das ist absehbar – bei den „Unteren“ zum Versuch der Nachahmung und damit zu einer hohen Flexibilität, zu einem Wandel, der zu einem Lebensstil gehörenden Präferenzen. Kaum ist die Sportart der „high society“, als Beispiel nennt Bourdieu das Skifahren, von der Masse usurpiert, verlagert sich erstere auf andere Sportarten, die einen hohen Einsatz ökonomischen Kapitals erfordern, beispielsweise auf das Golfspielen. Die Konzeption Bourdieus grenzt sich von orthodox-marxistisch geprägten Klassenanalysen ab, die die Lebenslage der Klasse ausschließlich nach ökonomischen Kriterien bestimmen und dann mehr oder weniger rabulistisch zu einer Übereinstimmung der Lebensstile der ökonomisch unterprivilegierten Klassen kommen können bzw. diese eher postulieren. Auf der anderen Seite weist Bourdieu die umgekehrte These einer Entwicklung individueller Lebensstile, die von der Stellung im sozialen Raum vollständig entkoppelt sind und sich aus beliebig disparaten Elementen zusammensetzen können, zurück, indem er den Zusammenhang zwischen Positionierung im sozialen Raum und Lebensstil empirisch nachweist.24 Das Streben nach Distinktionsmerkmalen kann auch in handfesten Rassismus münden, mit denen die „Einheimischen“ sich ein sicheres Distinktionsmerkmal gegenüber den Fremden, den Anderen sichern. Der Widerspruch zwischen der Gleichheit der Marktteilnehmer und der ungleichen Verteilung der Waren und Chancen ist stärker im Bewusstsein als der zwischen der Freiheit des Konsumenten und des faktischen Zwangs als Arbeitskraftverkäufer. Bei aller Widersprüchlichkeit werden „Freiheit, Gleichheit und Eigentum“ als Kern der angeborenen Rechte, als Menschenrechte durch die Konstituierung des Individuums als Rechtssubjekt und Marktteilnehmer beständig produziert und reproduziert. Der historische Kampf um Freiheit und um gleiche Rechte, der mit der großen französischen Revolution ein Fanal setzte, 23 Erinnert sei daran, dass der Kampf um Distinktionsmerkmale nicht als bewusste Strategie vorzustellen ist, vgl. auch: Fröhlich, in: Mörth/Fröhlich, Das symbolische Kapital der Lebensstile,S. 44. 24 Bourdieu folgend sind inzwischen auch für Deutschland gleichartige Studien erstellt worden. (vgl. Vester, et.al., Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel, passim; Vester, Neue soziale Milieus, passim). 285 verbindet sich so mit dem kapitalistischen Geist und den Bedingungen der kapitalistischen Ökonomie. Diese schafft umgekehrt die Voraussetzungen, um sich selbst und die Legitimität, das heißt faktische Akzeptanz, der Menschenrechte auf Freiheit, Gleichheit und Eigentum zu reproduzieren, weil diese in die Struktur der bürgerlichen Gesellschaft, in die Zirkulationssphäre, eingeschrieben sind. b) Politisch-demokratische und individuelle Rechte Freiheit, Gleichheit, Eigentum sind die Grundrechte der bürgerlichen Gesellschaft und entsprechen Bewusstseinsformen, die der Zirkulationssphäre entspringen. Staatsbürgerliche Rechte oder demokratische Rechte sichern dagegen die demokratische Willensbildung und gesellschaftliche Partizipation ab. Man kann also unterscheiden zwischen individuellen und kollektiven Menschenrechten. Die Unterscheidung findet sich schon in einer sehr frühen Schrift von Marx. Er unterteilt die Menschenrechte in politische Rechte oder Staatsbürgerrechte, d.h. „Rechte, die nur in der Gemeinschaft mit anderen ausgeübt werden“, die „droit du citoyen“, und die allgemeinen Menschenrechte, die „droit de l’homme“ ‘ die „nichts anderes sind als die Rechte der Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft, d.h. des egoistischen Menschen, des vom Menschen und vom Gemeinwesen getrennten Menschen.“25 Die droit de l’homme sind für Marx in Wahrheit „droit de bourgeois“. Marx bestimmt – in dieser frühen Schrift – die droit de l’homme noch nicht über ihre Homologie zur Zirkulationssphäre, sondern über die Frage, inwieweit sie den Menschen als soziales, politisches Wesen konstituieren oder aber wie eine isolierte Monade betrachten. Die allgemeine Handlungsfreiheit und das Eigentumsrecht bestimmt Marx über diesen negativen, isolationistischen Charakter der Menschenrechte. Das zentrale Rechtsprinzip der allgemeinen Handlungsfreiheit, „alles zu tun und zu treiben, was keinem anderen schadet“26, ist nicht die Freiheit des vergesellschafteten Menschen, des Menschen als Gattungswesen, sondern des Menschen als isolierter und zurückgezogener Monade. Das gelte ebenso für das Eigentumsrecht, das als Ausschlussrecht konzipiert ist, als Recht des Eigentümers mit seinem Eigentum zu verfahren, wie es ihm beliebt und andere von ihm auszuschließen. Sicherheit sei der „höchste soziale Begriff der bürgerlichen Gesellschaft“, die zum Zweck der Gesellschaftsbildung überhaupt werde und diese damit erkläre, dass „jedem ihrer Glieder die Erhaltung seiner Person, seiner Rechte und seines 25 Marx, Zur Judenfrage, MEW 1, S. 364. 26 Marx, Zur Judenfrage, MEW 1, S. 364. 286 Eigentums“ garantiert werde. 27 Die droits du citoyen, die Staatsbürgerrechte diskutiert Marx allerdings nicht. Die Staatsbürgerrechte haben zwar auch einen individuellen Charakter, sind darüber hinaus aber für den politischen Prozess von zentraler Bedeutung. Insofern ist Marx Kritik, welche an der individualistischen Dimension der bürgerlichen Rechte ansetzt, unzureichend, weil auch die staatsbürgerlichen Rechte, die droit du citoyen, Abwehrrechte sind; sie begründen subjektive Rechtsansprüche des Individuums gegen den Staat. Sie unterscheiden sich dennoch von den droit de bourgeois, die ausschließlich einen individuellen Charakter haben wie das Eigentum und die Religionsfreiheit. Die staatsbürgerlichen Rechte haben dagegen auch eine konstituierende Bedeutung für den politischen Prozess. Das Bundesverfassungsgericht formulierte etwa mit Blick auf die Meinungsfreiheit: „Für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung ist das Recht auf Meinungsfreiheit schlechthin konstituierend, denn es ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist. Es ist in gewissem Sinn die Grundlage jeder Freiheit überhaupt.“28 Versammlungs-, Meinungs-, und Pressefreiheit sind offenbar unabdingbare Voraussetzungen für kollektive Willensbildungsprozesse. Diese setzen eine ungehinderte Kommunikation voraus, was unter Anwesenden durch die Meinungsund Versammlungsfreiheit, unter Abwesenden durch die Telekommunikationsund Pressefreiheit gewährleistet wird. Kollektive Willensbildungsprozesse sind ihrerseits Voraussetzung demokratischer Entscheidungsprozesse. Das gilt unabhängig von der Staats- oder Gesellschaftsform. So kritisierte Rosa Luxemburg das sowjetische System und explizit Lenin und Trotzki wegen der Missachtung dieser staatsbürgerlichen Rechte; die berühmte Passage lautet: „Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder öffentlichen Institution, wird zum Scheinleben, in der die Bürokratie allein das tätige Element bleibt. Das öffentliche Leben schläft allmählich ein. Einige Dutzend Parteiführer von unerschöpflicher Energie und grenzenlosem Idealismus dirigieren und regieren. Unter ihnen leidet die Wirklichkeit. Ein Dutzend hervorragender Köpfe und eine Elite der Arbeiterschaft wird von Zeit zu Zeit zu Versammlungen aufgeboten, um den Reden der Führer Beifall zu klatschen und vorgelegten Resolutionen einstimmig zuzustimmen. Im Grunde also eine Cliquenwirtschaft – eine Diktatur allerdings, aber nicht die 27 Marx, Zur Judenfrage, MEW 1, S. 365 f. 28 BVerfGE 7, 198/208. 287 Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur einer Handvoll Politiker, das heißt Diktatur im rein bürgerlichen Sinne.“29 Die genannten Staatsbürgerrechte lassen sich nicht auf den kollektiven, politischen Prozess reduzieren, sind aber zentral für diesen. Diese Abteilung der Menschenrechte, die droit du citoyen, ist zwar eine Ausprägung des Freiheitsrechtes, aber sie existieren unabhängig von der persönlichen Freiheit, der persönlichen Unabhängigkeit – auch Diktaturen ohne Meinungsfreiheit können kapitalistisch wirtschaften. Die Unterscheidung von droit de citoyen von den droit de l’homme weist auf die Ambivalenz der Grundrechte hin. Sie sind einerseits Rechte, welche die staatsbürgerliche Stellung konstituieren und absichern und andererseits solche, die die Staatsbürger in ihrer Gesamtheit daran hindern, ihre Vorstellung des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu beschließen, weil individuelle Rechte entgegen stehen. 4. Menschenrechte und Demokratie a) Kontrolle des Gesetzgebers durch ein Gericht Die Ambivalenz der strukturellen Genese der Menschenrechte – einerseits erkämpfte Freiheitsgarantie, andererseits droit de bourgeois, Absicherung der marktförmigen Konkurrenzwirtschaft – schlägt durch auf die politische Bedeutung der Menschenrechte im entwickelten Kapitalismus. Einerseits sichern die Menschenrechte demokratische Freiheiten und Partizipation, andererseits sind sie auch Grenze demokratischer Entscheidung, insbesondere dort, wo eine Verfassungsgerichtsbarkeit mit Verwerfungskompetenz existiert. Verfassungsgerichte haben inzwischen in den kapitalistischen Kernländern die Kompetenz, parlamentarisch beschlossene Gesetze für nichtig zu erklären. War diese Kompetenz in Frankreich und Deutschland zunächst auf formal verfassungswidrige Gesetze beschränkt, also auf Gesetze, die unter Verletzung prozeduraler Verfassungsvorschriften zustande gekommen sind, so ist die Verwerfungskompetenz auch auf die materielle Verfassungswidrigkeit erweitert worden. Materielle Verfassungswidrigkeit liegt insbesondere dort vor, wo die Rechtsvorschriften gegen Menschenrechte oder Staatsstrukturprinzipien wie etwa das Rechtsstaatsprinzip oder europarechtlich gegen die europäischen Grundfreiheiten verstoßen. Eman- 29 Luxemburg, Zur Russischen Revolution, GW IV, S. 362. 288 zipatorische, demokratisch beschlossene Gesetze können so von einem Gericht für rechtswidrig und damit auch für nichtig erklärt werden. In der Geschichte der Bundesrepublik gibt es kein wichtiges Beispiel dafür, dass Gesetze, welche die Eigentums- oder Wirtschaftsordnung betrafen, vom BVerfG für nichtig erklärt worden sind. Im Gegenteil hat das Gericht im Mitbestimmungsurteil die Unternehmensmitbestimmung für verfassungskonform erklärt – dabei lässt es offen, ob den Anteilseignern am Ende das Letztentscheidungsrecht zustehen müsse. Anders gesagt: Auch eine Mitbestimmung ohne Stimmenmehrheit der Eigentümer in den Entscheidungsgremien ist mit der Eigentumsgarantie vereinbar. In diesem und anderen Urteilen hält das Gericht ausdrücklich fest, dass das Grundgesetz keine Wirtschaftsordnung festschreibe, also wirtschaftspolitisch neutral sei. So formulierte das Bundesverfassungsgericht: „Das Grundgesetz garantiert weder die wirtschaftspolitische Neutralität der Regierungs- und Gesetzgebungsgewalt noch eine nur mit marktkonformen Mitteln zu steuernde ‘soziale Marktwirtschaft’. Die ‘wirtschaftspolitische Neutralität’ des Grundgesetzes besteht lediglich darin, dass sich der Verfassungsgeber nicht ausdrücklich für ein bestimmtes Wirtschaftssystem entschieden hat. … Die gegenwärtige Wirtschafts- und Sozialordnung ist zwar eine nach dem Grundgesetz mögliche Ordnung, keineswegs aber die allein mögliche. Sie beruht auf einer vom Willen des Gesetzgebers getragenen wirtschafts- und sozialpolitischen Entscheidung, die durch eine andere Entscheidung ersetzt oder durchbrochen werden kann.“30 Umgekehrt hat das BVerfG die Vorschriften zum Arbeitslosengeld II im SGB II, besser bekannt als Hartz IV Gesetz, für nichtig erklärt. Angezweifelt hat das Gericht zwar nur die Rechenmethode, mit der das Existenzminimum berechnet wurde. Nicht angefochten wurde vom Gericht, dass der Gesetzgeber das Arbeitslosengeld II auf das Existenzminimum reduziert hat. Gleichzeitig hat es aber den Weg zu weiteren neoliberalen Kürzungen versperrt. Es gebe, formulierte das Bundesverfassungsgericht, ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Dieses Grundrecht „sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind. Dieses Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG hat als Gewährleistungsrecht in seiner Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung der Würde jedes Einzelnen eigenständige Bedeutung. Es ist dem Grunde nach 30 BVerfGE 4, 7 [17 f]. 289 unverfügbar und muss eingelöst werden, bedarf aber der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber.“31 Insbesondere die außerparlamentarische Linke hat sich auf Grundrechte gegen staatliche Repressionen berufen und wurde dabei gelegentlich vom Bundesverfassungsgericht unterstützt. Ein wichtiges Beispiel ist die Demonstrationsfreiheit, die das BVerfG stärkte, indem es – in der Brokdorf-Entscheidung, welche die weitere Rechtsprechung präjudizierte – ein Demonstrationsverbot mit der Begründung aufhob, militanter, gewalttätiger Widerstand einzelner Gruppen dürfe den gewaltfreien Organisatoren einer Demonstration nicht zugerechnet werden. Der Staat dürfe nur die gewaltsamen Aktionen verbieten und unterbinden, nicht aber die Demonstration insgesamt. Vor einem Verbot sei die Polizei verpflichtet, alle verfügbaren Methoden der Deeskalation anzuwenden. Auch hier sind die Vorgaben des Grundgesetzes keineswegs so präzise, dass diese Entscheidung, die ein Meilenstein für die Grundrechte außerparlamentarischer Opposition war, zwingend so hätte ausfallen müssen. Grundrechte wurden in diesem und in anderen Fällen als Rechte der demokratischen Teilhabe gegen staatliche Repression in Stellung gebracht. Aber das Bundesverfassungsgericht machte von seiner Verwerfungskompetenz auch gegenüber emanzipatorischen Gesetzen Gebrauch, beispielsweise als es die Abschaffung der „Gewissensprüfung“ der Kriegsdienstverweigerer für nichtig erklärte. Kriegsdienstverweigerung war bis in die 1970er Jahre an eine sog. Gewissensprüfung gebunden, d.h. der Verweigerer musste vor einem Ausschuss Fragen beantworten, mit denen geprüft werden sollte, ob er den Kriegsdienst tatsächlich aus Gewissensgründen verweigert. Die damalige sozialliberale Koalition wollte diese Prüfung abschaffen, wurde aber vom BVerfG in die Schranken gewiesen, wozu es ein neues verfassungsrechtliches Gut, nämlich die „Funktionsfähigkeit der Bundeswehr“ erfand. Man könne zwar auf eine Gewissensprüfung verzichten, dann müsse aber die Ernsthaftigkeit der Entscheidung des Verweigerers auf andere Weise deutlich werden, nämlich wenn der Zivildienst länger dauert als der Wehrdienst; geboten sei, dass der Zivildienst eine lästige Alternative darstelle. Das war contra legem, denn in Art. 12a GG steht der Satz: „Die Dauer des Ersatzdienstes darf die Dauer des Wehrdienstes nicht übersteigen.“ Das BVerfG hat gegen den ausdrücklichen Wortlaut des Grundgesetzes entschieden, mit dem explizit erklärten Ziel, die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr zu sichern. Eine Abstimmung mit den Füßen gegen die Bundeswehr sollte ausgeschlossen werden. In diese Linie gehört auch das verfassungsgerichtliche Verbot, den Schwanger31 BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010. 290 schaftsabbruch freizugeben, also straffrei zu lassen. Mehrfach hat der Gesetzgeber versucht, die Strafbarkeit des Schwangerschaftsabruchs abzuschaffen; das BVerfG hat dieses Vorhaben in mehreren Urteilen am Ende zwar nicht grundsätzlich für verfassungswidrig erklärt, jedoch präzise Vorgaben entwickelt, unter welchen Bedingungen ein Abbruch zulässig sein soll. Das Gericht hat damit die Rolle des Gesetzgebers eingenommen, denn dem Grundgesetz ist selbstverständlich nicht zu entnehmen, bis zu welchem Monat und nach welchen Beratungsgesprächen ein Abbruch mit der Verfassung vereinbar ist. Umgekehrt – um auf dem Gebiet der sozio-kulturellen Regeln zu bleiben – hat das Bundesverfassungsgericht gegen die Mehrheit des Parlaments schrittweise Gleichstellung eingefordert. Zunächst betraf das die Gleichstellung der Frau. Das Bundesverfassungsgericht verlangte die Abschaffung des zivilrechtlich normierten Familienoberhauptes – das war natürlich der Mann, der ein Letztentscheidungsrecht in allen Familienangelegenheiten hatte und der seine Zustimmung zum Beispiel geben musste, wenn die Frau ein Arbeitsverhältnis eingehen wollte. Das wurde 1959 beanstandet und 1991 hat das Bundesverfassungsgericht das patriarchale Namenrecht gekippt, so dass beide Geschlechter bei der Heirat den „Mädchennamen“ (!) behalten dürfen. Im neuen Jahrtausend bezogen sich Entscheidungen auf die Gleichstellung der Ehe von gleichgeschlechtlichen Paaren. Gegen die konservative Mehrheit im Parlament akzeptierte das Bundesverfassungsgericht diese Form der Partnerschaft und verlangte gesetzliche Änderungen. Emanzipatorisch ist das unter den gegebenen Voraussetzungen, in denen ein grundrechtlicher Schutz der Ehe in der Verfassung normiert ist. So ergibt sich insgesamt ein widersprüchliches Bild; das Verfassungsgericht schreitet gelegentlich voran und rudert in anderen Fällen zurück. Anders ist die Rolle des EuGH einzuschätzen, der – so das Gesamtbild – gestützt auf die Grundfreiheiten in den EU-Verträgen, das heißt Warenverkehrs-, Kapitalverkehrs- und Niederlassungsfreiheit, den Vorreiter beim Umbau des rheinischen Kapitalismus zu einer neoliberalen Wirtschaftsordnung machte – alsbald von der Europäischen Politik sekundiert. Zunächst kippte er unter extensiver Auslegung der Warenverkehrsfreiheit, die von den Schöpfern der römischen Verträge niemals in diesem Sinne verstanden worden war, deren Wortlaut sich seit 1957 aber nicht geändert hatte, unterschiedliche nationalstaatliche Regulierungen – etwa das deutsche Reinheitsgebot des Bieres. Adenauer und de Gaulle hätten die römischen Verträge sicher nicht unterschrieben, wenn sie diese Form extensiver Auslegung durch den EuGH vorausgeahnt hätten. Mit Fortschreiten des neoliberalen Umbaus der europäischen Gesellschaften hat der EuGH sich weiter vorgewagt. In den berüchtigten Entscheidungen Viking und Lavall schränkte 291 er die – in die nationale Kompetenz fallende – Streikfreiheit zu Gunsten der Niederlassungsfreiheit von Unternehmen ein. Schließlich sei angeführt, dass er Regelungen über „Goldene Aktien“, die in verschiedenen Mitgliedstaaten existierten, als Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit wertete. In Deutschland sah das VW-Gesetz „Goldene Aktien“ vor, d.h. es sicherte dem Staat Entscheidungsrechte, auch wenn er die nach dem Aktiengesetz dafür vorgesehene Höhe am Anteilseigentum nicht besaß. Das Verbot solcher Stimmrechtsvorteile für den Staat entnahm der EuGH der Kapitalverkehrsfreiheit, womit er von jedem Verkehr abstrahierte und stattdessen den Inhalt des Eigentums bestimmte, d.h. in die nationale Eigentumsordnung eingriff, die nach den EU Verträgen ausschließlich Angelegenheit der Mitgliedstaaten ist.32 b) Der Streit um das richterliche Prüfungsrecht in Weimar Ein älterer Konflikt, der Streit um das richterliche Prüfungsrecht in der Weimarer Republik, macht auf einer abstrakteren Ebene das Problem richterlicher Kontrolle und Verwerfungskompetenz von parlamentarischen Gesetzen deutlich. In der Weimarer Republik wurde die Wahrung der Grundrechte nicht durch ein Verfassungsgericht überwacht. Der Staatsgerichtshof war auf die Kontrolle der formalen Verfassungskonformität beschränkt. Verschiedene sozialdemokratische Gesetzesvorhaben führten zur Auseinandersetzung zwischen der – konservativen – Justiz und dem Gesetzgeber über die Frage, ob die Gerichte befugt sind, Gesetze für ungültig zu erklären oder von ihnen abzuweichen, wenn diese nach ihrer Ansicht gegen materielle Vorschriften, also die Menschenrechte, in der Verfassung verstoßen. Justiz und konservative Rechtswissenschaft beanspruchten gegen ihre im Kaiserreich vertretene Auffassung33 für die Gerichte die Kompetenz, Parlamentsgesetze auf ihre materielle Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen und gegebenenfalls für verfassungswidrig und nichtig zu erklären.34 Sie nahmen damit eine Kompetenz in Anspruch, welche die Verfassung nicht vorsah und welche die Machtstellung der Justiz gegenüber dem demokratischen Gesetzgeber 32 Ausführlich: Ocak, Die zivilgesellschaftliche Unternehmensmitbestimmung, Diss., S. 221 ff. 33 Von liberalen und sozialdemokratischen Staatsrechtslehrern wurde das Prüfungsrecht entschieden abgelehnt. Vgl. zu dem heftigen Streit: VVDStRL 1929, passim – mit Diskussionen der unterschiedlichen Richtungen; Neumann, Die Gesellschaft 1929, S. 517 ff; ausführlich zu dieser Diskussion im Rückblick: Wendenburg, Die Debatte um die Verfassungsgerichtsbarkeit, passim. 34 RGZ 11, 320; 114, 33; 124, 183; 128, 165; 129, 146. 292 und auf dessen Kosten ausbaute. In dieser Situation hat das Reichsgericht in mehreren Entscheidungen ein richterliches Prüfungsrecht für sich beansprucht.35 Andere Gerichte sind dem Reichsgericht in dieser Auffassung gefolgt. 1928 wurde von der Reichsregierung – im zweiten Anlauf – ein Gesetz vorgestellt, welches vorsah, das richterliche Prüfungsrecht zwar anzuerkennen, aber die Kompetenz ausschließlich beim Staatsgerichtshof anzusiedeln und so zu zentralisieren. Die Verteidigung der Republik bedeutete vor diesem Hintergrund auch die Verteidigung der demokratischen Legalität, will sagen der uneingeschränkten parlamentarischen Entscheidungshoheit. So hat etwa Franz Neumann das richterliche Prüfungsrecht konsequent abgelehnt. Er stellt sich in seiner Argumentation auf den Boden des juristischen Positivismus und sieht in der Aneignung der Prüfungskompetenz durch die Gerichte eine Tendenz zur freirechtlichen Rechtsprechung, die unter den Bedingungen der Weimarer Demokratie „notwendig reaktionär wirken“ müsse. „Die Arbeiterklasse“ führt er zur Begründung aus, „ist zu einer gewissen Macht gelangt. Auf sozialem Gebiet hat sie ein hohes Maß von Errungenschaften zu verzeichnen. Auf wirtschaftspolitischem Gebiet erhebt sie neue Forderungen, die auf Ausbau der Kartell- und Monopolkontrolle, auf öffentliche Bewirtschaftung der Eisenerzeugung, auf Verstärkung des Arbeitnehmereinflusses in der Kohlen- und Kaliwirtschaft gehen. Die sozialen Verhältnisse haben sich grundlegend gewandelt, und … sie werden sich von Jahr zu Jahr zugunsten der Arbeiterklasse verschieben. In einer solchen Situation aber muss die Anerkennung des weiten richterlichen Ermessens notwendig reaktionär wirken, und es ist kein Wunder, dass gerade der reaktionäre Flügel der deutschen Staatsrechtslehrer aus Bekämpfern des Prüfungsrechts zu seinen leidenschaftlichen Vertretern geworden ist.“36 Die liberale Grundrechtsinterpretation – verbunden mit dem richterlichen Prüfungsrecht – ergebe die unerwünschte Möglichkeit, sozialreformerische Parlamentsgesetze, die über die liberale Gewährleistung von Freiheit hinausgingen, für verfassungswidrig zu erklären und somit den demokratischen Gesetzgeber auszuhebeln.37 Neumann schreibt weiter: „Während die Staatstheorie gegen die Absolutheit der gesetzgebenden Gewalt unter der Herrschaft der Bismarckschen Verfassung nichts einzuwenden hatte, verlangt sie jetzt: Man muss dem Geset35 RGZ, 111, 320 (322); 114, 33; 124, 183; 128, 165; 129, 146. 36 Neumann, Gegen ein Gesetz über Nachprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Reichsgesetzen, in: Die Gesellschaft 1929, S. 521 f. 37 Neumann, Gegen ein Gesetz über Nachprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Reichsgesetzen, in: Die Gesellschaft 1929, S. 522 ff. 293 zesabsolutismus entgegentreten, d.h. der Tendenz, den Gesetzgeber von jeder rechtlichen Schranke loszusprechen. Und dies bedeutet, wie Anschütz zutreffend bemerkt, nichts weiter als einen Angriff auf die parlamentarische Demokratie.“38 c) Ambivalenz der Rechte in der Jurisdiktion Wertet man die Empirie zum Wirken der Verfassungsgerichte aus, lässt sich zunächst folgern, dass Verwerfungskompetenzen eines Gerichts die parlamentarische Gesetzgebung beschränken, d.h. über die Menschenrechte als Maßstab die demokratische Entscheidungsfreiheit einschränken. Zwischen der verfassungsgerichtlichen Überwachung der Schranken der Verfassung und dem demokratischen Anspruch des parlamentarischen Gesetzgebers besteht ein Spannungsverhältnis. Der parlamentarische Gesetzgeber kann für sich in Anspruch nehmen, seine Entscheidungskompetenz sei aus demokratischen Wahlen hervorgegangen, er sei also demokratisch legitimiert. Das gilt nicht für ein Verfassungsgericht, das seine Legitimation aus dem Verfassungskompromiss der Vergangenheit bezieht. Das Verfassungsgericht muss sich auf die Dignität der Verfassung als rechtliche Norm berufen, die gegen Veränderungen durch einfache Mehrheiten zu schützen sei, um den Bestand des Mehrheitsverfahrens selbst zu gewährleisten. Legitimität erlangt ein Verfassungsgericht nicht dadurch, dass die Richter parlamentarisch ausgesucht und konsensual bestimmt wurden – aus der Perspektive faktischer Zustimmung in der Bevölkerung schwächt dieses Berufungsverfahren die Legitimität eher, weil nicht erwartet wird, dass die so ausgewählten Richter dem Gesetzgeber in den Arm fallen, also effektiv kontrollieren werden. Weil das Verfassungsgericht seine Legitimität aus dem Verfassungskompromiss der Vergangenheit bezieht und auf der Grundlage dieses Kompromisses einschließlich der in der Vergangenheit ergangenen Urteile, d.h. Präjudizien, entscheidet, müssen diese Entscheidungen strukturell konservativ ausfallen. Die Entscheidungsbefugnis eines Verfassungsgerichts hat so zunächst eine konservative Funktion, die Verfassung wird gegen Veränderungen geschützt – anders gesagt: gesellschaftliche Verhältnisse werden unter Berufung auf die Verfassung konserviert. Struktureller Konservatismus kann sich allerdings auch gegen eine passive Revolution, wie Gramsci sie verstanden hat, richten, also gegen einen anti-emanzipatorischen, reaktionären Umbau der Gesellschaft von oben. Umgekehrt zeigt das Beispiel des EuGH, dass ein Gericht auch die Anführerrolle 38 Neumann, Gegen ein Gesetz über Nachprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Reichsgesetzen, in: Die Gesellschaft 1929, S. 533 f. 294 in der passiven Revolution spielen kann, apologetisch wird dies als „Motor der Integration“ bezeichnet. Dieser Rollenwechsel ist erklärungsbedürftig. Rechtliche Normen und insbesondere Verfassungsnormen sind sprachlich unbestimmt, enthalten also Interpretationsspielräume, die zu füllen sind – das garantiert den sicheren Broterwerb für Juristen. Abstrakte Normen lassen immer Interpretationsspielräume, eben weil sie abstrakt sind; diese können nur kleiner oder größer sein. Bei Verfassungsnormen sind sie in der Regel größer. Bei der Auslegung der Normen folgen Gerichte, d.h. die Richter, einem Vorverständnis, das nichts mit Vorurteilen oder Befangenheit zu tun hat, sondern notwendig mit dem Textverständnis in einer gegebenen historischen Gesellschaft verbunden ist.39 Um ein soziales, integriertes Mitglied einer Gesellschaft zu sein, um sich in einer Gruppe oder Gesellschaft adäquat bewegen und orientieren zu können, entwickeln die Menschen durch ihre Sozialisation in dieser Gesellschaft Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata, eine vorbewusste Ordnung, die Grundlage der Kommunikation, d.h. auch des Textverständnisses in einer Gesellschaft sein muss.40 Bei Richtern wird die allgemeine gesellschaftliche Sozialisation noch einmal juristisch gebrochen, d.h. durch die juristische Ausbildung überformt – auch diese führt im Ergebnis zu einem strukturellen Konservatismus; angeeignet werden sich in der Vergangenheit entwickelte Vorstellungen der Welt und der Gesellschaft, und dies sowohl in normativer wie in empirischer Hinsicht. Richterliche Rechtskontrolle schafft so strukturelle Resistenzen gegen demokratische Veränderungen. Die Institution der Verfassung, der Grundrechte und der Entscheidungsbefugnis des Verfassungsgerichts wirkt konservierend, d.h. Macht- und Besitzverhältnisse stabilisierend, selbst wenn das Gericht gar keine Entscheidung fällt, wenn diese pessimistisch vom Gesetzgeber antizipiert wird. Die Sozialisation verfestigt sich zwar im Laufe der Persönlichkeitsentwicklung, wird aber nicht abgeschlossen, das heißt die vorbewusste Ordnung ist – bewussten oder unbewussten – Veränderungen zugänglich, die wiederum gesellschaftlichen Änderungen folgen, d.h. die Veränderungen hegemonialer Diskurse aufnehmen und verarbeiten. Das gilt für Juristen in besonderem Maße, weil die Übernahme der so genannten „herrschenden Meinung“, also hegemonialer, juristischer Diskurse geradezu zum Programm juristischer Sozialisation gehört. Das heißt aber: Das juristische Vorverständnis, das die Auslegung einer Norm leitet und 39 Vgl. ausführlich: Fisahn, Grenzen des Konditionalsprogramms und rechtliche Steuerung, in: Universite Paul Verlaine – Metz: Numéro 1, S. 71 ff. 40 Vgl ausführlich: Fisahn, Natur, Mensch, Recht, S. 264 ff. 295 leiten muss, ändert sich, ist Wandlungen in Abhängigkeit von der Wandlung hegemonialer gesellschaftliche Diskurse unterworfen. Grundrechte können also je nach historischem Kontext und Gehalt des Rechts eine sehr unterschiedliche Funktion einnehmen und entsprechend unterschiedlich fällt ihre theoretische Rechtfertigung aus. In der liberalen und christlich geprägten Tradition werden Grundrechte als Naturrecht verstanden, die dem Staat vorgelagert sind, vor dem Staat und dem positiven Recht und gegen den Staat existieren. Die Rechte haben in dieser Tradition – wie gesehen – einen göttlichen Ursprung oder einen unterstellt natürlichen, entsprechen den Rechten der Menschen in einem hypostasierten Naturzustand, aus dem sie in den „bürgerlichen Zustand“ den Staat mitgenommen werden und dort die Schranken der staatlichen Eingriffsbefugnisse bezeichnen. Anders die positivistisch demokratische Tradition: Es gibt kein Recht vor der Gesellschaft. Der Staat ist danach selbst eine rechtliche Konstruktion, eine Konstruktion von Rechtsnormen, zu denen die Grundrechte gehören oder die als Kompetenznormen das Recht statuieren, Grund-Rechte zu erzeugen und zu setzen.41 Wer sich nicht entscheiden kann, behauptet neuerdings, Demokratie und Grundrechte seien gleichursprünglich42 , was allenfalls als Wertung verstanden werden kann, die im Konfliktfall aber nicht weiterhilft. Logisch stimmt es ebenso wenig wie historisch. Historisch sind es zunächst die Grundrechte, die in unterschiedlichen Bündnissen den Monarchen abgerungen wurden. d) Menschenrechte als Grenze und Absicherung der Demokratie Versteht man Demokratie formal als Entscheidungskompetenz des Volkes oder vom Volk legitimierter Organe, dann führen Menschenrechte immer zu einer Beschränkung der Entscheidungsfreiheit des demokratischen Souveräns. Dort, wo eine Verfassungsgerichtsbarkeit mit Verwerfungskompetenz besteht, kann diese formal demokratische Entscheidungen unter Berufung auf Menschenrechte aufheben. Die Weimarer Auseinandersetzung um das richterliche Prüfungsrecht ist nur zu verstehen, wenn man weiß, dass die Sozialdemokratie und „befreundete“ Juristen davon ausgingen, dass die SPD oder zumindest die Weimarer Koalition eine strukturelle Mehrheit im Volk und im Parlament hat – was sich alsbald als Illusionen erwies –, während die Justiz strukturell monarchistisch, konservativ oder reaktionär eingeschätzt wurde –, was sich auch nach der Macht41 Kelsen, Reine Rechtslehre, passim. 42 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 161. 296 übernahme der Nazis bewahrheitete. Beschränkungen der parlamentarischen Entscheidungsbefugnisse durch die Justiz, das war die Einschätzung, sind vor diesem Hintergrund auch material antidemokratisch. Rekurriert man auf einen materialen Begriff der Demokratie, der zugegebenermaßen nicht unproblematisch ist, im Ergebnis aber nicht nur auf formale Entscheidungen und Kompetenzen des Parlaments, sondern auf reale Partizipationsmöglichkeiten der Adressaten verbindlicher Entscheidungen durch die Gewährleistung demokratischer oder staatsbürgerlicher Freiheit abstellt, dann sind Menschenrechte in der Form der droit du citoyen eine wesentliche Voraussetzung eines demokratischen Verfahrens – unabhängig davon, ob man dieses zunächst konkurrenztheoretisch, pluralistisch als Kampf der Meinungen oder radikaldemokratisch, kommunitär als diskursive Annäherung an einen volonté générale versteht. Der demokratische Prozess setzt die Existenz und Wahrnehmung staatsbürgerlicher Rechte voraus – hier bleibt Marx’ Unterscheidung relevant. In dieser Funktion, d.h. mit der Garantie demokratischer Freiheiten, leisten die Menschenrechte einen Beitrag zur Widerständigkeit gegen passive Revolutionen, die regelmäßig staatsbürgerlichen Rechte beseitigen oder zumindest in ihrer Substanz aushöhlen und entleeren, was durchaus im parlamentarischen Verfahren beschlossen werden kann. Umgekehrt produzieren die droit de bourgeois Resistenzen gegen emanzipatorische Veränderungen; das Recht auf Eigentum oder die so genannten wirtschaftlichen Grundfreiheiten der EU haben diese Funktion mit Blick auf die Wirtschafts- und Sozialordnung. Der Schutz von Ehe und Familie und die Religionsfreiheit, soweit sie auch Schutz der Vorrechte von Amtskirchen bedeutet, übernehmen diese Rolle im sozio-kulturellen Feld. Im Ergebnis behält die Ambivalenz der Menschenrechte, die Marx in seiner Frühschrift konstatierte, die Unterscheidung von droit de l’homme und droit du citoyen in der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft ihre Aktualität, allerdings in einer anderen Weise, als Marx sich dies vorgestellt hatte. Die Differenz liegt nicht zwischen atomisierenden und sozialisierenden Rechten, d.h. zwischen solchen, die das Individuum als isolierte Monaden denken, und solchen, die seine Rechte in der Gesellschaft, sein Recht als soziales Wesen festschreiben. Auch die staatsbürgerlichen Rechte haben ihre individualistische Dimension. Die Meinungsfreiheit etwa ist für den demokratischen Prozess relevant, sie garantiert aber auch das Recht höchst individuelle, das Private betreffende Meinungen vorzutragen. Auch dazu braucht es zweifellos eines Rezipienten, aber auch das Eigentumsrecht braucht ein Gegenüber, das der Eigentümer von den Nutzungsrechten ausschließen will und – in diesem eingeschränkten Sinn – sind alle 297 Rechte gesellschaftlich, nicht atomisierend. Im Ergebnis hat auch die scheinbar individualistische Religionsfreiheit – aufgrund der Auseinandersetzung mit dieser hat Marx Schrift den Titel „Zur Judenfrage“ – eine vergesellschaftende Dimension, sobald nämlich Rechte von Religionsgemeinschaften geschützt werden. Und selbst das Eigentum ist nicht mehr nur individualistisch zu denken, wo es Aktiengesellschaften einerseits und Genossenschaften andererseits einbezieht – offensichtlich zwei recht unterschiedliche Formen der Vergesellschaftung. Das nivelliert die Differenz zwischen den Kategorien, beispielsweise der Versammlungsfreiheit als Staatsbürgerrecht und dem Eigentumsrecht als droit de bourgeois nicht. Die Differenz liegt zwischen der Dimension von Menschenrechten, welche Resistenzen gegen Veränderungen der bestehenden Ordnung einbauen, also zwischen einer relativen Dimension des Menschenrechts und der absoluten Dimension des Menschenrechts, die über bestehende Ordnungen hinausweist und als erkämpfte Freiheit auch in einer solidarischen Gesellschaft ihre Bedeutung nicht verliert, weil auch eine solidarische Gesellschaft Konflikte keineswegs ausschließt. Menschenrechtlich garantierte Freiheit ist einerseits Marktfreiheit, die Freiheit, Verträge zu schließen, die auch autoritäre Regime in der Regel respektieren. Freiheit garantiert andererseits individuelle Unabhängigkeit, menschliche Autonomie und schließt – wie bei der Analyse der Menschenrechtskataloge gesehen – in der bürgerlichen Gesellschaft Leibeigenschaft und Sklaverei rechtlich aus. Ähnliches gilt für das zweite zentrale Menschenrecht der bürgerlichen Gesellschaft, die Gleichheit. Sie garantiert die Gleichheit der Warenbesitzer und ist so Voraussetzung der marktförmigen Konkurrenzwirtschaft. Gleichzeitig garantiert auch die formale Gleichheit, das heißt die Gleichheit vor dem Gesetz, den rechtlichen Schutz vor (staatlichen43) Diskriminierungen – es ist nicht erklärungsbedürftig, dass dies in der bürgerlichen Gesellschaft ein hohes Gut ist. Schließlich weisen Freiheit und Gleichheit über ihre Bedeutung in der bürgerlichen Gesellschaft hinaus. Gleichheit verweist auf materielle Gleichheit, die nicht missverstanden werden darf als Konformität, als Nivellierung von Differenz, die vielmehr als regulative Idee fungiert, d.h. als Vor-Schein eines Zustandes in dem der Satz gilt: „Jede nach ihren Fähigkeiten, jede nach ihren Bedürfnissen.“ Der Satz schließt nicht nur die Gleichheit in der Differenz, sondern auch die Freiheit jenseits einer bürgerlichen Gesellschaft ein – er umschließt auch die Freiheit von den Zwangsgesetzen der Ökonomie. 43 Die direkte Geltung der Grundrechte zwischen Privaten ist ein umstrittenes Thema in der juristischen Dogmatik. 298 Ernst Bloch hat die Auseinandersetzung um die Relevanz der Menschenrechte jenseits der bürgerlichen Gesellschaft in der Auseinandersetzung mit dem Sowjetsystem geführt, das die Menschenrechte insgesamt als „bürgerliche, bourgeoise Rechte“ missachtete. Sozialutopie und Naturrecht sind für Bloch keine unvereinbaren Motive und schon gar keine vorwissenschaftlichen Utopien, mit denen der „wissenschaftliche Sozialismus“ unvereinbar wäre. Bloch legt vielmehr überzeugend dar, dass die Kritik der politischen Ökonomie, wie sie Marx und Engels formuliert hatten, nicht denkbar ist, ohne einen Begriff oder zumindest eine Ahnung des Anders-Möglichen, kurz: ohne den Vorschein einer anderen Gesellschaft in den Sozialutopien und im Naturrecht, die gleichzeitig als Maßstab der eigenen Kritik fungieren müssen. Die Konsequenz ist zwingend gegen die realsozialistische Praxis gerichtet: Die Kritik der droit de bourgeois ist keineswegs unvereinbar mit der Absicht, die menschliche Würde einzufordern. Bloch schreibt: „Von hier ab lässt Marx auch auf die Menschenrechte viel wärmeres Licht fallen. Er hat den bürgerlichen Klasseninhalt in ihnen aufgezeigt, mit unübertrefflicher Schärfe, doch ebenso einen künftigen, der damals noch keinen Boden hatte. Er entdeckte das Privateigentum als regierend unter den anderen Menschenrechten, doch diese anderen treten dadurch desto abgebrochener hervor. Lehnt Marx, wenn er das Privateigentum als bürgerliche Schranke in den Menschenrechten anzeigt, Freiheit, Widerstand des Volkes gegen Unterdrükkung, Sicherheit als die anderen Anmeldungen des Rechts ab? Durchaus nicht, wie sich von selbst versteht.“44 Bloch entkoppelt die konkrete sozialistische Utopie des Endes der Ausbeutung, der Armut, der Mühseligen und Beladenen nicht von den Menschenrechten. Die Kritik des Rechts als Mittel der Zementierung gesellschaftlicher Machtverhältnisse endet bei ihm nicht in einem generellen Rechtsskeptizismus. Er greift die Ambivalenz der Menschenrechte, die Marx in Zur Judenfrage entwickelt hatte auf und bewahrt die konkrete Utopie, die in den droit de citoyen steckt, stellt sie gleichwertig neben die Sozialutopien. Er geht noch einen Schritt weiter und meint, die Sozialutopien ließen sich ohne Wahrung der Menschenrechte nicht verwirklichen, kein Glück ohne Würde – und keine Würde ohne Glück. Allerdings: Die Menschenrechte sind, solange Herrschaft und Ausbeutung bestehen, nur halbierte Rechte: „Keine wirkliche Installierung der Menschenrechte ohne Ende der Ausbeutung, kein wirkliches Ende der Ausbeutung ohne Installierung der Menschenrechte.“45 44 Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, S. 203. 45 Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, S. 13. 299 Schließlich formuliert Bloch die schon zitierte Marxsche Bestimmung der kommunistischen Freiheit als Menschenrecht, als subjektiven Anspruch an die Gesellschaft, der weit über die bestehenden droit de citoyen hinausgeht: „Das letzte subjektive Recht wäre so die Befugnis, nach seinen Fähigkeiten zu produzieren, nach seinen Bedürfnissen zu konsumieren; garantiert wird diese Befugnis durch die letzte Norm des objektiven Rechts: Solidarität.“46 Das „letzte subjektive Recht“ normiert die konkrete Utopie und demonstriert erstens, dass die Menschenrechte über die bestehenden Zustände hinausweisen, und zweitens, dass sie keine vorgesellschaftlichen Rechte sind, sondern Produkte sozialer Auseinandersetzungen und gesellschaftlicher Kämpfe. Und, lässt sich ergänzen, das gilt nicht nur für ihr Postulat, die Formulierung des subjektiven Rechts, sondern ebenso für ihre Interpretation oder juristisch die Auslegung der entsprechenden Rechte. Die Ambivalenz oder doppelte Funktion der Grundrechte als relatives und absolutes Naturrecht, ihr konservierender und überschreitender Gehalt findet sich nicht nur in der Unterscheidung zwischen den droit de bourgeois und den droit de citoyen, sondern auch innerhalb der droit de citoyen, in der konkreten Ausgestaltung und Auslegung dieser Rechte. Marx formuliert dies als Kritik der französischen Verfassung von 1848: „Jede dieser Freiheiten wird nämlich als das unbedingte Recht des französischen Citoyen proklamiert, aber mit der beständigen Randglosse, dass sie schrankenlos sei, soweit sie nicht durch die »gleichen Rechte anderer und die öffentliche Sicherheit« beschränkt werde, oder durch »Gesetze«, die eben diese Harmonie der individuellen Freiheiten untereinander und mit der öffentlichen Sicherheit vermitteln sollen. … Wo sie »den andern« diese Freiheiten ganz untersagt oder ihren Genuss unter Bedingungen erlaubt, die ebenso viele Polizeifallstricke sind, geschah dies immer nur im Interesse der »öffentlichen Sicherheit«, d.h. der Sicherheit der Bourgeoisie, wie die Konstitution vorschreibt. Beide Seiten berufen sich daher in der Folge mit vollem Recht auf die Konstitution, sowohl die Ordnungsfreunde, die alle jene Freiheiten aufhoben, wie die Demokraten, die sie alle herausverlangten.“47 46 Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, S. 252. 47 Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, MEW Bd. 8, S. 126 f. 300 III. Affinitäten von Demokratie und Kapitalismus 1. Begriffe der Demokratie Zu Beginn dieses Kapitels wurde als Ausgangsfrage formuliert: Warum organisiert sich das politische System der bürgerlichen Gesellschaft als Demokratie und nicht etwa als Monarchie? Nun zeigt ein Blick nach Großbritannien, dass in einem Mutterland der bürgerlichen Gesellschaft die Monarchie weiter existiert, wenn auch als parlamentarische Monarchie. Deshalb scheint die Frage konkretisierungsbedürftig. Im politischen Diskurs findet man nicht selten die Auffassung, dass kapitalistische Ökonomie und parlamentarische Demokratie zusammengehören, dass also die adäquate Organisationsform des politischen Systems der bürgerlichen Gesellschaft die Demokratie sei. Die Behauptung ist kurz gesagt: Demokratie und Kapitalismus gehören zusammen. Diese These wird insbesondere gegen Spielarten des „demokratischen Sozialismus“ vertreten und zum Beweis wird auf die sowjetkommunistischen Gesellschaften der UdSSR oder auf China verwiesen. Im Ergebnis erscheint der Kapitalismus oder die Marktwirtschaft als Garant und Voraussetzung von Demokratie und Menschenrechten bzw. wird von den Apologeten so hingestellt. Das Gegenargument fällt dann ebenso simpel aus: Der Kapitalismus ist anfällig für oder zumindest vereinbar mit faschistischen und diktatorischen Regimen – deren Beispiele Legion sind. Die von Poulantzas übernommene Frage muss also präzisiert werden zur Frage nach strukturellen Affinitäten oder umgekehrt einer strukturellen Repugnanz zwischen Kapitalismus und Demokratie. Um diese Frage zu beantworten, muss zunächst der Begriff Demokratie geklärt oder vielmehr die vielen, verschiedenen Begriffe von Demokratie diskutiert werden. Insbesondere wenn man sich die normativen Konzepte von Demokratie ansieht, weisen diese ein breites Spektrum auf. Dieses reicht von der Demokratie als „Legitimation von Herrschaft“ bis zum Verständnis der Demokratie als regulative Idee zur Aufhebung von Herrschaft. Das erste Konzept geht davon aus, dass Herrschaft normativ nicht beseitigt werden soll oder empirisch nicht aufzuheben ist. Böckenförde formuliert dies ausdrücklich: „Die Errichtung der Demokratie … bedeutet nicht die Aufhebung politischer Herrschaft, sondern eine bestimmte Organisation dieser Herrschaft. Staatsgewalt und die mit ihr gegebene Herrschaft von Menschen über Menschen bleibt auch in der Demokratie bestehen und wirksam, löst sich … nicht im herrschaftsfreien Diskurs auf.“48 48 Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 297; ähnlich: ders., Der Staat als sittlicher Staat, S. 16; ders., Die Zukunft politischer Autonomie, S. 107. 301 Folglich geht es nur darum, durch welches Verfahren Herrschaft zu legitimieren ist. Nach dem Wegfall der Legitimation durch „Gottes Gnaden“ wird in dieser Konzeption von Demokratie, die insbesondere im juristischen Diskurs stark ist, das Volk als Quelle der Legitimation betrachtet, das im Wahlakt die Staatsgewalt, d.h. die Ausübung von Herrschaft legitimiert, sofern über Ableitungsketten der Legitimation sichergestellt ist, dass nur indirekt legitimierte Amtsträger handeln, also Staatsgewalt und Herrschaft ausüben. Partizipation im Prozess der Produktion allgemein verbindlicher Entscheidungen stört oder unterbricht die Kette demokratischer Legitimation, die nur vom Volksganzen, also einer imaginären Einheit Volk, ausgehen kann und ist so – im Widerspruch zum populären Verständnis von Demokratie – geradezu antidemokratisch. Rosenberg charakterisiert den Aufstieg dieses Begriffs von Demokratie mit den Worten: „Man begann unter der Demokratie nicht mehr die aktive Selbstregierung der werktätigen Massen als Mittel zu ihrer politischen und sozialen Befreiung zu sehen, sondern nur noch eine kapitalistische Staatsform, die sich durch ein Parlament des allgemeinen Stimmrechts auszeichnet, aber sonst den Massen positiv nichts nützt.“49 Begreift man Demokratie als regulative Idee zur Aufhebung von Herrschaft kommt man zu geradezu umgekehrten Ergebnissen. Politische Demokratie verlangt dann eine möglichst breite, umfassende Beteiligung der Adressaten allgemein verbindlicher Entscheidungen an eben diesen Entscheidungen. Sie ist sodann als kontinuierlicher Prozess der Entscheidungsfindung durch deren Adressaten zu verstehen und reduziert sich keineswegs auf den Wahlakt. Demokratie ist zu begreifen als ein beständiger, diskursiver Prozess, der so zur Legitimität der allgemein verbindlichen Entscheidung beitragen soll, eine Legitimität, die sowohl den Output wie den Input betrifft und nicht nur die Entscheidungsträger, d.h. Repräsentanten legitimiert. Legitimität bezeichnet das Ergebnis eines erfolgreichen Prozesses der Legitimation, d.h. einen „Zustand“, in dem eine Maßnahme oder ein Handeln als gerecht, richtig, d.h. legitim empfunden wird. Legitimation ist zu verstehen als der Prozess, der am Ende – mit Glück – Legitimität erzeugt. Jemand wird beauftragt, im Namen oder für einen anderen zu handeln. Politische Repräsentation ist die zentrale Erscheinungsform der demokratischen Legitimation – nur kann sie gründlich schiefgehen; dann werden die Entscheidungen nicht als legitim empfunden. Bei der Legitimität ist zwischen Output und Input zu unterscheiden. Die Legitimation betrifft den Input. Output-Legitimität kann auch durch nicht legitimierte Entscheidungsträger erzeugt werden. Die 49 Rosenberg, Demokratie und Sozialismus, S. 186. 302 Konzeption der Demokratie geht davon aus, dass die Wahrscheinlichkeit eines legitimen Outputs steigt, wenn auch das Input legitim ist, d.h. wenn die Entscheidungsträger legitimiert wurden. Auch die möglichst gleichmäßige Beteiligung der Adressaten von allgemein verbindlichen Entscheidungen führt nicht zwingend und in allen Fällen zu einem egalitären Einfluss auf diese Entscheidungen, weil informelle, hierarchische Strukturen bei allen Anstrengungen und institutionellen Vorkehrungen, Herrschaft aufzuheben, weiterhin denkbar und wahrscheinlich bleiben. So ist das Verständnis von Demokratie als Aufhebung von Herrschaft nur als regulative Idee zu verstehen, d.h. als Orientierungspunkt und Zielvorstellung, die nur der Tendenz nach erreichbar ist. Versteht man politische Demokratie als Rückbindung allgemein verbindlicher Entscheidungen an die Adressaten dieser Entscheidungen, folgt, dass auch allgemein verbindliche Entscheidungen unterhalb des Rechtssatzes, des Gesetzes, Gegenstand demokratischer Prozesse sein können, denn auch administrative Entscheidungen können allgemein verbindlich sein. Demokratie bezieht sich nach diesem Verständnis nicht nur auf die Gesetzgebung, sondern – innerhalb des politischen Systems – auch auf Verwaltung, d.h. administrative Entscheidungen. Ein solches Verständnis unterscheidet sich wiederum von einem Begriff der Demokratie, der diese nur als Selbstgesetzgebung im engeren Sinne versteht und der Exekutive – so wiederum der juristische Diskurs – einen eigenen Entscheidungsspielraum auch gegenüber dem Parlament einräumt. Dies führt schließlich zu einem kontradiktorischen Verständnis des Verhältnisses von Repräsentation und Partizipation sowie Volksgesetzgebung. Wenn Demokratie als Legitimation von Herrschaft verstanden wird, kann man konsistent zu dem Ergebnis kommen, dass Repräsentation und Partizipation sich ausschließen, weil in die Kompetenzen der legitimierten Organe eingegriffen wird. Andere konstruieren Repräsentation als Abschottung eines rationalen Diskurses gegenüber dem Irrationalismus volkstümlicher Meinungen und billigen diesen, d.h. der zivilgesellschaftlichen Artikulation populärer Meinungen dennoch eine Rolle zu, nämlich die Rolle des Feuermelders oder Frühwarnsystems, das sich in den Foren und Arenen der Zivilgesellschaft artikuliert – dort, wo sich die ungefilterten Meinungen der Bevölkerung entwickeln und bemerkbar machen, die dann gefiltert nach „rationalen Argumenten“ in den parlamentarischen Diskurs eindringen können. Umgekehrt muss ein Verständnis der Demokratie als Rückbindung allgemein verbindlicher Entscheidungen dazu führen, das Verhältnis von Repräsentation und Partizipation sowie Volksgesetzgebung als komplementär zu verstehen, und zwar in beiderlei Richtungen, ohne einen etwaigen Vorrang der Repräsentation. 303 Repräsentation lässt sich weiter durch sehr unterschiedliche Systeme verwirklichen, nämlich durch ein parlamentarisches oder beispielsweise ein rätedemokratisches System. Im parlamentarischen System repräsentieren gewählte Abgeordnete in der Regel territoriale Einheiten, während beim Rätesystem funktionale Einheiten repräsentiert werden, wie Betriebe, Kasernen, Schulen u.ä.. Das Rätesystem ist in der Regel mit einem indirekten Wahlrecht verbunden, d.h. die gewählten Repräsentanten wählen ihrerseits Repräsentanten der nächst höheren Organe. Aber weder ist die direkte Wahl zwingend für die parlamentarische Repräsentation, wie das System der USA zeigt, noch die indirekte Wahl für das Rätesystem, das eben auch „basisdemokratisch“ organisiert werden kann, wie die Parteiorganisation von „Bündnis 90/Die Grünen“ und „LINKEN“ in Deutschland zeigt. Das macht gleichzeitig deutlich, dass sich parlamentarisches System und Rätesystem nicht ausschließen, sondern ebenfalls nebeneinander bestehen können. Für die Bundesrepublik schreibt das Grundgesetz eine parlamentarische Vertretung des Volkes im Staat als Konkretisierung des Demokratieprinzips vor. Die ebenfalls gebotene innerparteiliche Demokratie wird in den größeren Parteien dagegen rätedemokratisch organisiert. Weitere Staatsformen ließen sich abgrenzen, die für sich in Anspruch nehmen, demokratisch zu sein, sich aber erheblich unterscheiden, wie die parlamentarische Monarchie Englands, das Präsidialsystem Frankreichs oder der Parlamentarismus Deutschlands. Schließlich lässt sich das Konzept der Demokratie danach differenzieren, ob es ausschließlich auf das politische System begrenzt bleibt oder ob Hegels „System der Bedürfnisse“ mit einbezogen wird, ob sich Demokratie also auch auf die ökonomische Macht erstrecken soll. Versteht man Demokratie als Rückbindung allgemein wirkender Entscheidungen auf die Rezipienten dieser Entscheidung, sind auch ökonomische Entscheidungen, die oft weitreichende gesellschaftliche Folgen zeitigen, einem weiten, emphatischen, normativen Begriff der Demokratie zu subsumieren, so dass als normativer Anspruch folgt, auch ökonomische Entscheidungen, etwa Investitions- oder Verlagerungsentscheidungen in einem demokratischen, partizipativen Verfahren zu treffen. Die unternehmerische Mitbestimmung in Deutschland ist Ergebnis von sozialen Auseinandersetzungen, in denen der Begriff der Demokratie in diesem weiten Sinne verstanden wurde. Hermann Heller hat für die Ausweitung der Demokratie von der Politik auf die Ökonomie den Begriff der „sozialen Demokratie“ geprägt50, der in der Bundesrepublik von Wolfgang Abendroth übernommen wurde. Heller konstatiert, dass 50 Marx sprach im achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte von der „sozialen Republik“. 304 die Beteiligung der Arbeiterbewegung an der Legislative genutzt worden sei, um ökonomische Macht einzuschränken, um so soziale Homogenität zu erreichen: „Der wirtschaftlich Schwache versucht mittels der Gesetzgebung, den wirtschaftlich Starken zu fesseln, ihn zu größeren sozialen Leistungen zu zwingen oder ihn gar aus dem Eigentum zu verdrängen.“51 Weiter meint „soziale Demokratie“ nicht nur Beschränkung ökonomischer Macht, sondern auch gleiche Teilhabe an dieser oder die Ausdehnung der Demokratie vom politisch staatlichen Bereich auf die private Wirtschaft. Heller schreibt: „Bedeutete doch die Forderung der sozialen Demokratie des Proletariats nichts anderes als die Ausdehnung des materiellen Rechtsstaatsgedankens auf die Arbeits- und Güterordnung.“52 Heller schließt sich hier letztlich dem sozialdemokratischen Konzept der Wirtschaftsdemokratie an. Und er konstatiert, dass die Arbeiterbewegung durchaus Fortschritte in Richtung auf Verwirklichung einer sozialen Demokratie erreicht habe: „Die drei Grundsäulen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung Vertragsfreiheit, Privateigentum und Erbrecht werden von der Verfassung ausdrücklich gewährleistet. Die reale Bedeutung dieser Sicherung ist aber sehr gering. Denn die Artikel lassen dem Gesetzgeber völlig freie Hand, jene Rechte, ‘nach Maßgabe der Gesetze‘ so zu beschränken, dass sie selbst in einem reinen sozialistischen Gemeinwesen möglich wären. Wie wenig ist zum Beispiel im Tarifvertragsrecht von einer tatsächlichen Vertragsfreiheit übrig geblieben? … Eine umfassende antikapitalistische Umwälzung der Güterordnung hat sich vollzogen durch Verstaatlichung und Verstadtlichung von Produktionsmitteln … Bergbau-, Druckerei-, Elektrizitätsund gewaltige Betriebe sind in die Staatswirtschaft übergegangen, so dass der Staat bereits heute der weitaus größte Arbeitgeber geworden ist. … Hinzu kommt die Kommunalisierung der Straßenbahnen, die Übernahme der Versorgung mit Gas, Elektrizität, Wasser, die Entstehung städtischer Baugesellschaften und vieler anderer Industriebetriebe. … Nur dadurch, dass sich der politische Verband eigene Wirtschaftsmacht und öffentliche Monopole aneignet, vermag er noch der wirtschaftlichen Privatmacht und dem aus Handel- und Gewerbefreiheit erwachsenden Privatmonopol wirksam zu begegnen.“53 Diese Einschätzung ist sicher nicht unproblematisch, macht aber deutlich, worum es Heller mit dem Begriff „soziale Demokratie“ ging. Entscheidungen großer Industriekonzerne haben zwar Wirkung für große Teile der Gesellschaft, es sind aber keine allgemein verbindlichen Entscheidungen. 51 Heller, Rechtsstaat oder Diktatur, S. 8. 52 Heller, Rechtsstaat oder Diktatur, S. 11. 53 Heller, Politische Ideenkreise, Gesammelte Schriften I, S. 406. 305 Allgemein verbindliche Entscheidungen sind dem politischen System vorbehalten, weil nur dieses – mittels Gewaltmonopol – Verbindlichkeit beanspruchen und durchsetzen kann. Vorstände großer Konzerne treffen weitreichende Entscheidungen, die aber zunächst nur für den Konzern verbindlich sind, also so weit die Befugnis aus dem Eigentumsrecht reicht. Weil die Entscheidungen aber relevante Auswirkungen auf die Gesellschaft insgesamt haben, scheint es sinnvoll, von allgemein wirkenden Entscheidungen zu sprechen. Abgrenzungsfragen stellen sich selbstverständlich, unterscheiden sich aber nicht wesentlich von Fragen der demokratischen Zurechnung im politischen System – also etwa der Frage: Warum entscheidet die japanische Regierung über die Genehmigung von Atomkraftwerken, wenn die Auswirkungen eines Unglücks sich weit über den ganzen Globus verteilen? Oder weniger dramatisch: Warum entscheiden die Bürger Baden-Württembergs über den Neubau des Stuttgarter Bahnhofs und nicht nur die Stuttgarter oder alle Bundesbürger, könnte es doch sein, dass ein Frankfurter den Bahnhof öfter nutzt als ein Freiburger? Ähnlich lässt sich fragen, wenn man allgemein wirksame von privaten Entscheidungen abgrenzen will. Die Abgrenzung wird immer leicht dezisionistisch oder zufällig sein, was man insgesamt von der demokratischen Zurecheneinheit Nationalstaat sagen kann, der sich als Wirtschaftseinheit als gemeinsamer Markt konstituiert und diesen gleichzeitig begrenzt. Die sozialen Auseinandersetzungen um Demokratie folgten dagegen auf der emanzipatorischen Seite dem weiten, emphatischen Begriff der Demokratie als Rückbindung allgemein wirkender Entscheidungen an die Rezipienten solcher Entscheidungen. Dieser emphatisch weite Begriff der Demokratie ergibt sich aus dem Freiheitsbegriff der Aufklärung.54 Befreiung ist dort der Aufbruch aus selbstverschuldeter Unmündigkeit, nicht etwa die freiwillige Unterwerfung unter die Entscheidungen von Repräsentanten, deren Parteiliste man alle vier Jahre ankreuzen darf. Autonomie erschöpft sich offensichtlich nicht in der Legitimation von Herrschaft, sondern erhebt den Anspruch auf selbstbestimmte Entscheidungen, die dort, wo sie eine Gesamtheit von Menschen betreffen, auch von dieser Gesamtheit getroffen werden müssen. Um Autonomie der Willensbildung und Autonomie im Entscheidungsprozess verständlicher zu machen, lässt sich an Kants Verständnis von Republikanismus55 als Selbstgesetzgebung anknüpfen, wenn man diesen Begriff leicht modifiziert. Selbstgesetzgebung hat 54 Ähnlich: Deppe, Autoritärer Kapitalismus, S. 72. 55 Demokratie war für Kant wegen der aristotelischen Tradition, die Demokratie negativ konnotierte, noch verpönt. 306 die Autonomie im ersten Teil des Wortes. Gesetzgebung lässt sich nun – so hat Kant es wohl gemeint – als Rechtsetzung verstehen. Ich schlage einen weiteren Begriff vor: Dann meint Selbstgesetzgebung Autonomie gegenüber heteronomen Gesetzen, die nicht nur Recht umfassen. Natürlich kann sich die Forderung nach Autonomie in der Gesetzgebung nur auf gesellschaftliche Gesetzmäßigkeiten beziehen, nicht etwa auf Naturgesetze. Dann aber meint sie auch Autonomie gegenüber ökonomischen Gesetzen, was man üblicherweise als Primat der Politik gegenüber der Ökonomie bezeichnet. Der normativ verstandene Begriff der Demokratie umfasst das Primat der Politik, d.h. Autonomie der politischen Entscheidungsprozesse. Demokratie hat also neben der prozeduralen eine materiale Dimension. Demokratie als Selbstgesetzgebung steht in einem normativen Widerspruch zur „marktkonformen Demokratie“. Demokratie in einem normativen Sinne wird hier im Sinne des weiten, emphatischen Demokratiebegriffs verstanden. Aber für die Analyse der Affinität und Repugnanz von Demokratie und Kapitalismus reicht es hier, einen empirischen Begriff der Demokratie heranzuziehen, also auf den realen Parlamentarismus in den kapitalistischen Zentren abzustellen. Denn es ist leicht einsehbar, dass sich mögliche Affinitäten oder Repugnanzen von Demokratie und Kapitalismus nicht auf ein spezielles Modell oder Verständnis, das heißt eine der angesprochenen Konzeptionen von Demokratie beziehen lassen. Die Untersuchung affiner Aspekte von Demokratie und Kapitalismus kann sich nur auf ein gemeinsames Moment beziehen, nämlich die Teilhabe weiter Teile der Bevölkerung in den Prozess der Produktion allgemein verbindlicher Entscheidungen, was in den kapitalistischen Zentren durch parlamentarische Repräsentation geschieht. 2. Überschießende Tendenzen von Freiheit und Gleichheit Marx spottet über diese Marktideologie von Freiheit und Gleichheit: In der Zirkulationssphäre herrsche mit „Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham“ ein wahres Paradies „der angebornen Menschenrechte.“56 – das wurde schon ausführlich zitiert. Mit diesem Spott weist er auf die konsistente Relation von rechtlichen Voraussetzungen der Marktgesellschaft und die über deren profane Wirklichkeit hinausweisende Institutionalisierung menschenrechtlicher Garantien hin. Der Spott macht gleichzeitig deutlich, dass diese Rechte keineswegs angeboren sind, sondern sich mit der kapitalistischen Produktionsweise ent56 Marx, Das Kapital I, MEW Bd. 23, S. 189 f. 307 wickeln. Die Ironisierung kann also nicht zu dem Umkehrschluss führen, der Zusammenhang bestehe nicht oder Freiheit und Gleichheit des Warenbesitzers hätten keine strukturierende Bedeutung für die Konzeption von Freiheit und Gleichheit in der bürgerlichen Gesellschaft. Anders gesagt: die Marktfreiheit weist über die Freiheit des Warenbesitzers hinaus auf allgemein menschliche Freiheit, das heißt Autonomie. Die Freiheit des Warenbesitzers hat gleichsam eine überschießende Innentendenz und verweist auf politische Freiheit, d.h. letztlich Demokratie. Der Gedanke findet sich bei unterschiedlichen Autoren der Staatstheorie. Franz Neumann formuliert als Grundthese: „Die Anerkennung von Freiheit und Gleichheit in einem Bereich führt zur Forderung von Freiheit und Gleichheit in anderen Bereichen.“57 Und an anderer Stelle: „Die Anerkennung des Menschen als eines rationales Wesens bedeutet, dass `jedes Individuum kraft seiner ewigen Bestimmung auch für die höchste Gewalt in seinem Kern heilig und unverletzlich’ ist. Darin steckt eine psychologische Sprengkraft, die trotz des rein ideologischen Charakters von Teilen der thomistischen Theorie zur Wirkung kam.“58 Hier geht er noch einen Schritt weiter und schließt aus der Anerkennung der menschlichen Individualität, dass in der Tendenz auch die gleiche Würde des Menschen anerkennt wird, was Gleichheit und Freiheit einschließt. Er führt diese Tendenz auf die „psychologische Sprengkraft“ zurück, womit er auf die Konsequenzen im philosophisch-theoretischen Diskurs abstellt. Die Konstruktion des Menschen als rationales Wesen muss zur Anerkennung seiner Gleichheit führen, nämlich der Gleichheit im Hinblick auf diese Eigenschaft und in der Konsequenz gleicher menschlicher Würde. Wolfgang Abendroth stellt eine direkte Verbindung zwischen Freiheit und Gleichheit des Rechtssubjekts und Demokratie in folgender Weise her: „Die deutschen Besitz- und Bildungsschichten waren nach 1848 durch die Drohung 57 Neumann, Die Herrschaft des Gesetzes, S. 86 f. 58 Neumann, Typen des Naturrechts, in: ders., Wirtschaft, Staat, Demokratie, S.239; Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Bloch in seiner Bewertung des Thomismus. Auch er versteht den Thomismus als Normierung der mittelalterlichen Ordnung, wenn er auch feststellt, dass Thomas sich mit auffallender Einseitigkeit auf die „mittelalterliche Stadt“ bezieht. „Das relative Naturrecht bei Thomas füllte sich mit solchen mittelständischen Inhalten.“ (Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, S.40) Der progressive oder bei Bloch utopische Gehalt im thomistischen System liege darin, dass die „Brücken zur lex imperfecta“ zum urchristlichen Liebeskommunismus, zum Naturrecht des Urstands nicht abgebrochen seien und diese über die stufenweise Vermittlung in der hierarchischen Rangfolge des Rechts auch im Diesseits wirkten. (Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, S. 41 f) 308 der sozialen Revolution derart erschreckt, dass es ihnen – obwohl doch das gleiche Wahlrecht die logische Konsequenz des Ideals der Freiheit und Gleichheit der Rechtssubjekte darstellte – so selbstverständlich vorkam, den Grundsatz der politischen Gleichberechtigung aller Bürger zu missachten, dass sie die abhängigen Lohnarbeiter noch nicht einmal als ordentliche Mitglieder ihres Nationalvereins dulden wollten.“59 Gleichzeitig macht Abendroth die sich aus den Kräfteverhältnissen ergebenden Gegentendenzen an dieser Stelle sichtbar, die noch zu diskutieren sind. Er sieht es offenbar als selbstverständlich an, dass das allgemeine Wahlrecht die logische Konsequenz der Freiheit und Gleichheit der Warenbesitzer ist, so dass er diesen Gedanken nicht weiter ausführt. Neumann und Abendroth sollten nicht missverstanden werden im Sinne eines schlichten Basis-Überbau-Schemas, das zu etwa folgender Erklärung kommen würde: Die Marktfreiheit, die Freiheit in der Zirkulationssphäre spiegelt sich in einem ideologischen Überbau wider, der allgemeine menschliche Freiheit, Autonomie oder politische Demokratie zum Inhalt hat. Die Idee einer Widerspiegelung der materiellen Wirklichkeit im Bewusstsein oder Überbau vernachlässigt die Vermittlung mit allen strukturellen Brechungen. Neumann verarbeitet aber gerade diese Brechungen. Er untersucht die ideengeschichtliche Entwicklung unter anderem von Freiheit und Gleichheit, die er allerdings nur andeutungsweise auf die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Totalität bezieht. Neumann teilt Webers Rationalisierungsthese – jedenfalls bis zum Monopolkapitalismus, der die Irrationalität der faschistischen Diktatur produziert habe. Wenn Rationalisierung als Prozess der Entwicklung formaler Rationalität – oder bei Horkheimer als Entwicklung der instrumentellen Vernunft – gedacht wird, besteht zumindest im Hinblick auf die Wahl der adäquaten Mittel Wahlfreiheit des Individuums. Es ist gleichsam die Analogie zur Wahlfreiheit des Waren- und Geldbesitzers, der die Wahl hat zwischen Verkaufen und Kaufen oder dies eben zu lassen. Es ist genau die Rationalität Benthams, die Rationalität und Wahlfreiheit des „Genies bürgerlicher Dummheit“. Wahlfreiheit unterstellt, lässt sich – rational – nicht rechtfertigen, sie auf bestimmte gesellschaftliche Bereiche, also etwa den Warentausch, zu begrenzen. Die Charakterisierung des Individuums als rationales Wesen muss im Verlauf rationaler Theoriebildung Freiheit und Gleichheit der Individuen zumindest als intelligible hervorbringen. Die Ideengeschichte der Aufklärung lässt sich so als Geschichte der Ausdehnung und Ausweitung des Freiheitsbegriffs schreiben – auch wenn diese Konsequenz etwa bei Hobbes nicht explizit erscheint, ist sie im neuen Verständnis des 59 Abendroth, Demokratie als Institution und Aufgabe, S. 22. 309 Menschen und einer neuartigen, rationalen und nicht exegetischen, scholastischen Argumentation angelegt. Für die Konsequenzen der Vertragstheorie wird das im nächsten Abschnitt ausführlicher diskutiert. Die Willensfreiheit drängt dahin, wirklich zu werden, sich in der gesellschaftlichen Wirklichkeit mit relevanten Folgen äußern zu können. In Rousseaus großartiger Formulierung – „Der Mensch ist frei geboren und überall ist er in Ketten“ – ist ein Höhepunkt der ideengeschichtlichen Entwicklung der Freiheit erreicht. Er machte die Autonomie des Subjekts mit diesem Satz zur Voraussetzung seiner weiteren Überlegungen, kontrastiert sie mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit absolutistischer Herrschaft und entwirft folglich das Gegenbild einer Gesellschaft, in der sich die Freiheit aller verwirklichen lässt, nämlich in einer demokratischen Gesellschaft mit allgemeinem Stimmrecht aller Bürger. Rousseau formuliert: „Der Verzicht auf die eigene Freiheit schließt den Verzicht auf Menschentum, Menschenrechte und -pflichten in sich.“60 So bestimmt er das Menschsein über die Freiheit. Die theoretische Reflexion muss auf die gesellschaftliche Wirklichkeit bezogen werden, sie ist nicht einfach Widerspiegelung der gesellschaftlichen Wirklichkeit, sondern deren Verarbeitung – eine theoretische Verarbeitung, welche der gesellschaftlichen Entwicklung vorgreifen, Sehnsucht nach rückwärts äußern, sie rechtfertigen oder kritisieren kann, in der Analyse treffen oder daneben liegen kann. Die Ideengeschichte ist also zu beziehen auf die realen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, die realen politischen Kämpfe. Engels argumentiert an einer Stelle ganz in diesem Sinne, dass die Anerkennung von Freiheit und Gleichheit in einem Bereich, erkämpfte Freiheit in einem gesellschaftlichen Feld über dieses hinausdrängt, also dazu führen muss, dass der Anspruch verallgemeinert wird. Engels schreibt: „Die Forderung der Befreiung von feudalen Fesseln und der Herstellung der Rechtsgleichheit durch Beseitigung der feudalen Ungleichheiten, sobald sie erst durch den ökonomischen Fortschritt der Gesellschaft auf die Tagesordnung gesetzt war, musste bald größere Dimensionen annehmen. Stellte man sie im Interesse der Industrie und des Handels, so musste man dieselbe Gleichberechtigung fordern für die große Menge der Bauern, die in allen Stufen der Knechtschaft, von der vollen Leibeigenschaft an, den größten Teil ihrer Arbeitszeit unentgeltlich dem gnädigen Feudalherrn darbringen und außerdem noch zahllose Abgaben an ihn und den Staat entrichten mussten. Man konnte andererseits nicht umhin, zu verlangen, dass ebenfalls die feudalen Bevorzugungen, die Steuerfreiheit des Adels, die politischen Vorrechte der einzelnen Stände aufgehoben würden. Und da man nicht mehr in einem Weltreich lebte, wie das römische gewesen, sondern in einem System un60 Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, S. 10. 310 abhängiger, miteinander auf gleichem Fuß verkehrender Staaten von annähernd gleicher Höhe der bürgerlichen Entwicklung, so verstand es sich von selbst, dass die Forderung einen allgemeinen, über den einzelnen Staat hinausgreifenden Charakter annahm, dass Freiheit und Gleichheit proklamiert wurden als Menschenrechte.“61 Engels bezieht sich an dieser Stelle auf die Verallgemeinerung des Menschenrechts, aber man überinterpretiert seine Aussage wohl nicht, wenn man die Argumentationslinie auf die Ausbreitung oder Ausweitung des Freiheitsanspruchs auf die politische Demokratie erweitert. Die Auseinandersetzungen um die Aufhebung der Leibeigenschaft, die zur Freisetzung und Freiheit der Lohnarbeit führten, sowie die Aufhebung der Zunftschranken, die in die Gewerbefreiheit mündet, mussten zu einem neuen Verständnis des Menschen und seiner gesellschaftlichen Situation führen. Die gottgewollte, unabänderliche Ordnung, in der ein jeder den ihm zugewiesenen Platz einnahm, entsprach nicht mehr der Realität, die weder in der theoretischen Reflexion noch im Alltagsbewusstsein in alter Weise verarbeitet werden konnte. Die Freiheit in einem gesellschaftlichen Feld weist über den Umweg der Verarbeitung zu einer hegemonialen Vorstellung und Sichtweise der Wirklichkeit über dieses Feld hinaus, auf allgemeine Freiheit und individuelle Autonomie, die sich in der Forderung nach politischer Selbstbestimmung ausdrückt. Es kommt ein weiteres Moment hinzu. Die funktionale oder arbeitsteilige Trennung von ökonomischer und politischer Macht führt nicht dazu, dass Erstere etwa unpolitisch würde. Im Gegenteil hängen die Verwertungsmöglichkeiten und Bedingungen der Akkumulation von Kapital nicht unwesentlich von politischen Entscheidungen, d.h. den sogenannten politischen Rahmenbedingungen ab. Je bedeutender die von der politischen Macht getrennte ökonomische Macht wurde, umso mehr entwickelte sie ein Interesse an politischem Einfluss, an der Repräsentation bürgerlicher Interessen im politischen System. Historisch entzündeten sich die bürgerlichen Revolutionen – das wurde schon diskutiert – an der Frage der Mitsprache über Steuererhebungen. Es sind zunächst bürgerliche Interessen, das Großbürgertum, die neue ökonomische Macht, die sich im politischen System repräsentiert sehen will, was nicht gleichbedeutend ist mit dem Anspruch, selbst politische Macht auszuüben, das hieße die Trennung von ökonomischer und politischer Macht aufzuheben. Wenn die kapitalistische Ökonomie als Konkurrenzökonomie funktioniert, schließt das in der Regel aus, dass der Bourgeois selbst in die Politik einsteigt, weil die Gefahr besteht, ökonomische Nachteile im 61 Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, MEW Bd. 20, S. 98. 311 hoch spezialisierten, arbeitsteiligen Konkurrenzkampf hinnehmen zu müssen. Umgekehrt kann in der Konkurrenz gleicher Kapitalisten kein privilegierter Zugang zu politischen Entscheidungen akzeptiert werden. Die politische Repräsentation kann nur als allgemeine gefordert werden, als gleiche Repräsentation. Hier fängt das Problem an, das Abendroth im obigen Zitat anspricht: Die Repräsentation allgemeiner bürgerlicher Interessen soll nicht umschlagen in die allgemeine Repräsentation, die Präsentation auch der Lohnabhängigen. Es ist das nämliche Problem, das Marx in der am Anfang dieses Kapitels zitierten Passage als Widerspruch der demokratischen Verfassung herausgestellt hatte. Einen Vorschlag, diesen Widerspruch aufzulösen, d.h. bürgerliche Herrschaft zu sichern, hat John Stuart Mill vorgelegt, und dieser Vorschlag blieb im Kern nicht nur Theorie, sondern bestimmte die politische Realität etwa in Preußen. Die Repräsentation aller Bürger, eben auch der Arbeiter, schreibt Mill, diene dem Zwecke über die Verantwortlichkeit, Selbsttätigkeit und Einbindung des Individuums in die allgemeinen Angelegenheiten, die Kultur oder die „geistige Entwicklung des Gemeinwesens“ zu fördern. Mit diesem Zwecke ist es dann durchaus vereinbar, dass er Vorkehrungen dagegen treffen möchte, dass die Bevölkerungsmehrheit, die er in der Arbeiterklasse vermutet, auch die parlamentarische Mehrheit stellt und ihre eigenen Geschicke über das Parlament und die staatlichen Institutionen bestimmen und kontrollieren kann. Offen bekennt er: „Doch wie die Dinge liegen, würden in den meisten Ländern und besonders bei uns die Arbeiter die große Mehrheit der Wähler stellen; und die doppelte Gefahr eines zu niedrigen Standards der politischen Bildung und einer einseitigen Klassengesetzgebung bestünde (weiterhin) in äußerst bedenklichem Maße. Es bleibt zu untersuchen, ob es Mittel gibt, diese negativen Erscheinungen zu verhindern.“62 Zur Verhinderung einer Arbeitermehrheit schlägt er eine Beschränkung des Wahlrechts vor. Da es darum gehe, den Bildungsstandard im Parlament hoch zu halten, meint Mill, müssten zunächst alle Analphabeten von der Wahl ausgeschlossen werden. Zu diesem Zwecke sollten vor der Wahl mit allen Wahlwilligen Tests durchgeführt werden, ob diese schreiben und einen Dreisatz rechnen (das würde die Zahl heute gewaltig dezimieren) können. Weiter fordert er: „Wie dem auch sei, ich halte es für eine prinzipielle Forderung, dass die Inanspruchnahme einer Unterstützung durch die Kirchengemeinde unbedingt vom Wahlrecht ausschließen sollte.“63 Wer auf soziale Unterstützung in welcher Form auch immer angewiesen ist, soll nicht wählen dürfen. 62 Mill, Betrachtungen über die repräsentative Demokratie, S. 150. 63 Mill, Betrachtungen über die repräsentative Demokratie, S. 149. 312 Die große Masse selektiert Mill nicht nach dem Kriterium Vermögen, denn ein großes Vermögen müsse ja nicht auf eigener Leistung beruhen, und spreche nicht zwingend für die hohe Bildung des Vermögensbesitzers. Allerdings geht Mill schon davon aus, dass mit dem Vermögen zumindest auch ein gewisser Bildungsstandard verbunden ist. So will er, um einen hohen Bildungsstandard in der Politik zu gewährleisten und zu belohnen, die Stimmen entsprechend der Bildung gewichten, also: Je höher der Bildungsstandard, desto mehr Gewicht soll die Stimme bei der Wahl haben. Da es nun nicht besonders realistisch ist, vor der Wahl immer einen Bildungstest durchzuführen, will Mill das Pluralwahlrecht nach Berufen verteilen. Je höher das Bildungsniveau, das ein Beruf verlangt, desto mehr Stimmen hat der Wähler. Dabei geht er typischerweise davon aus, dass ein Arbeitgeber, Kapitalist, mehr Bildung hat als ein Arbeiter und ein Bankier mehr als ein Kleingewerbetreibender und ein Freiberufler mehr als ein Bankier. „Wo auch der Eintritt in einen Beruf ein besonderes Examen oder einen ernstzunehmenden Bildungsnachweis zur Voraussetzung hat, könnte man dessen Angehörigen ohne weiteres eine Mehrzahl von Stimmen zubilligen.“64 Das Ergebnis seiner Überlegungen ist also das Klassenwahlrecht für den Bildungsbürger. So verkommen Mills Barrieren im Wahlsystem, die eine Mehrheit der Arbeiterklasse verhindern sollten, zur persönlichen Schrulle. Mill formuliert das Interesse der bürgerlichen Mittelklasse, an den politischen Entscheidungen einigermaßen gleichberechtigt beteiligt zu werden, während sie gleichzeitig die Beteiligung der Arbeiterklasse fürchtet. Die deutsche Bourgeoisie schreckte deshalb vor der bürgerlichen Revolution und dem allgemeinen Wahlrecht zurück; in Preußen blieb das Dreiklassenwahlrecht bis zur Weimarer Republik bestehen. Gleichzeitig fürchteten die bürgerlichen Demokraten, d.h. die Liberalen, dass der vierte Stand, das Proletariat „auf die Dauer als geduldiges Stimmvieh“ für Regierung und Kirche herangezogen werde. „Was der Liberalen Eule war, war der Konservativen Nachtigall: In England war es Disraeli, in Deutschland Bismarck, der aus dieser Befürchtung der Liberalen seine Hoffnungen schöpfte und deshalb 1867 die ersten wirklich demokratischen Wahlrechtskonzessionen gewährte.“65 Im Ergebnis ist festzuhalten, dass sich aus den Strukturen der arbeitsteiligen Konkurrenzwirtschaft und der Trennung von Politik und Ökonomie die Forderung nach bürgerlicher Repräsentation entwickelt. Die Forderung nach gleichen Rechten und allgemeinen Gesetzen läuft parallel zur Forderung nach Verwirklichung der Freiheit des Rechts- und des Marktsubjekts durch politische 64 Mill, Betrachtungen über die repräsentative Demokratie, S. 152. 65 Abendroth, Demokratie als Institution und Aufgabe, S. 22 f. 313 Freiheit, d.h. konkret Repräsentation und Partizipation. Verkürzt ergibt sich so, dass der Marktfreiheit ein überschießendes Potenzial inhärent ist, das in Richtung menschenrechtlicher Garantien und demokratischer Teilhabe weist. 3. Vertrag und Demokratie Das Individuum der bürgerlichen Gesellschaft ist ein Verträge schließendes Wesen. Die Freiheit des Marktsubjekts ist die Vertragsfreiheit. Die bürgerliche Freiheit ist Vertragsfreiheit. Diese ihrerseits ist Voraussetzung kapitalistischer Ökonomie und das dominante Prinzip der Zirkulationssphäre, in der Freiheit und Gleichheit als Vertragsfreiheit erscheinen. Gesellschaftliche Beziehungen werden zu Vertragsbeziehungen. Ist aber der Vertrag das oder ein zentrales Prinzip in Ökonomie und Gesellschaft, dann liegt es nahe, die Gesellschaft insgesamt als Vertrag zu denken, d.h. die Organisation der Gesellschaft insgesamt über den Vertrag zu konstruieren, also die Grundlage des Staates im Vertrag zu suchen oder den Staat als Ergebnis eines Gesellschaftsvertrages zu begreifen. Das Verträge schließende Wesen, stellt sich auch den Staat als durch Vertrag begründet vor, als Ergebnis eines Gesellschaftsvertrages. a) Gesellschaftsvertrag und Demokratie Exemplarisch und Blaupause für die Vertragstheorien des Staates, wie sie etwa bei Locke, Rousseau oder Kant erscheinen, ist der „Leviathan“ von Thomas Hobbes. Weil der Mensch von Grund auf schlecht und egoistisch sei – das wurde schon berichtet –, müsse er durch Übertritt in den staatlichen Zustand zivilisiert werden oder sich selbst zivilisieren. Um der ständigen Unsicherheit zu begegnen, von einem Stärkeren überfallen zu werden, gründen die Menschen den Staat, der umfassenden Schutz durch die Monopolisierung der Gewalt beim Staat gewährleisten soll. Diesen Gründungsvertrag denkt Hobbes einerseits als zivilen Austauschvertrag nach der Maxime: „Ich verzichte auf meine Freiheit und individuelle Selbstbestimmung und Du Staat garantierst mir Sicherheit.“ Damit wird der Vertrag zum Unterwerfungsvertrag. Einmal begründet, ist der Staat in der Position des absoluten, unbeschränkten Herrschers, während die einstmalig gleichberechtigte Vertragspartei in die Position des Untertanen gerät.66 Obwohl der Staat bei Hobbes als absoluter Staat, uneingeschränkter Herrscher und der 66 Hobbes, Leviathan S. 155. 314 Verzicht auf das Recht hier uneingeschränkt erscheint, enthält die Idee des Gesellschaftsvertrages einige Neuerungen, welche charakteristisch für die bürgerliche Gesellschaft sind. Zunächst ist es bemerkenswert, den Staat auf den Willen der Gründungsmitglieder zu stützen, also auf den Willen der Menschen, die den Gesellschaftsvertrag abschließen. Staat und Herrschaft sind nicht mehr – wie im Mittelalter – gottgegeben, eine göttliche Ordnung, die völlig unabhängig vom Willen der Menschen existiert. Mit Hobbes hält trotz des Unterwerfungsvertrages ein demokratisches Element Einzug in die Staatstheorie, eben weil zumindest der Gründungakt als demokratischer Akt gedacht wird. Der Staat gründet auf dem subjektiven Willen der Individuen. Das ist neu. Das Individuum, die Vielzahl der Menschen betreten damit die Bühne der Weltgeschichte. Das Kollektiv oder die Masse, die Gesellschaft, werden zum handelnden Subjekt. Für Locke ist nicht der Krieg aller gegen alle das Charakteristikum des Naturzustandes, sondern das System des Marktes, das zwar nicht als Krieg zu verstehen ist, aber durch Konkurrenz und Ungewissheit gekennzeichnet ist und deshalb eines „neutralen“ Dritten, d.h. einer über den Marktteilnehmern stehenden Gewalt, bedarf, welche die Einhaltung von Verträgen sicher stellt, einen einigermaßen äquivalenten Austausch der Waren garantiert und Streitigkeiten zwischen Käufern und Verkäufern schlichtet oder entscheidet. In dieser Hinsicht liefert Locke eine der bürgerlichen, kapitalistischen Gesellschaft eher entsprechende Rechtfertigung des Staates als Hobbes. Hegel hält den ursprünglichen Vertrag – auf den ersten Blick – für eine misslungene Konstruktion, eben weil die Begründung des Staates durch einen Gesellschaftsvertrag zu „demokratischen Umtrieben“ führen muss. Hegel schreibt: „Der Staat ist als die Wirklichkeit des substantiellen Willens, die er in dem zu seiner Allgemeinheit erhobenen besonderen Selbstbewusstsein hat, das an und für sich Vernünftige. Diese substantielle Einheit ist absoluter unbewegter Selbstzweck, in welchem die Freiheit zu ihrem höchsten Recht kommt, so wie dieser Endzweck das höchste Recht gegen die Einzelnen hat, deren höchste Pflicht es ist, Mitglieder des Staats zu sein. Wenn der Staat mit der bürgerlichen Gesellschaft verwechselt und seine Bestimmung in die Sicherheit und den Schutz des Eigentums und der persönlichen Freiheit gesetzt wird, so ist das Interesse der Einzelnen als solcher der letzte Zweck, zu welchem sie vereinigt sind, und es folgt hieraus ebenso, dass es etwas Beliebiges ist, Mitglied des Staates zu sein. … In Ansehung des Aufsuchens dieses Begriffes hat Rousseau das Verdienst gehabt, ein Prinzip, das nicht nur seiner Form nach (wie etwa der Sozialitätstrieb, die göttliche Autorität), sondern dem Inhalte nach Gedanke ist, und zwar das Denken selbst ist, nämlich den Willen als Prinzip des Staats aufgestellt zu haben. Allein indem er den Willen nur in bestimmter Form des einzelnen Willens (wie nachher auch Fichte) und den allgemeinen Willen nicht als das an und für sich Vernünftige des Willens, sondern nur als das Gemeinschaft315 liche, das aus diesem einzelnen Willen als bewusstem hervorgehe, fasste, so wird die Vereinigung der Einzelnen im Staat zu einem Vertrag, der somit ihre Willkür, Meinung und beliebige, ausdrückliche Einwilligung zur Grundlage hat, und es folgen die weiteren bloß verständigen, das an und für sich seiende Göttliche und dessen absolute Autorität und Majestät zerstörenden Konsequenzen.“67 Das liest sich auf den ersten Blick explizit antidemokratisch, ist ‒ allerdings unter Anwendung einiger Interpretationskünste ‒ auch fortschrittlich zu wenden. Zunächst die offensichtliche Interpretation: Der Staat ist für Hegel das Vernünftige, Heilige, das von der Gesellschaft und deren niederen Bedürfnissen und Interessen Abgehobene und Abzuhebende, das vor der Gesellschaft zu Schützende, weil über ihr Stehende. Der Staat dient nicht der Gesellschaft, wie es schon der aufgeklärte Absolutismus durch Friederich II formulierte: „Ich bin der erste Diener des Staates.“ Der Staat ist Selbstzweck. Er ist substanzielle Einheit, die gegenüber dem Einzelnen absoluten Vorrang und „das höchste Recht“ hat, während das Individuum nur Pflichten, keineswegs Rechte gegenüber dem Staat hat. Wenn man den Staat so als Selbstzweck konstruiert, ist dies mit einer individualistischen Sichtweise nicht vereinbar, die den Staat aus dem Willen der Staatsbürger, welche diesen begründet haben, ableitet. Der Staat ist für Hegel vor den Bürgern, entspringt keineswegs aus deren Interessen und muss diese auch nicht berücksichtigen oder gar im demokratischen Prozess umsetzen. Die Rückbindung des staatlichen Willens an die Willen der Einzelnen habe, schließt Hegel, für die „absolute Autorität und Majestät“ zerstörende Konsequenzen. Ganz richtig, könnte ein Linkshegelianer einwenden: „Und das ist gut so!“ Genau darum geht es: um die Zerstörung von absoluter Macht und Autorität und allem majestätischen Klimbim. Hegel lobt so – camoufliert durch eine Sklavensprache, die dem Herrscher Honig um den Bart schmiert und seine absolute Autorität vorgeblich schützt – die Umstellung der Staatsbegründung auf den individuellen und im Ergebnis auch demokratischen Willen. Die Sklavensprache, geschuldet der Demokratenverfolgung nach 1815, gibt vor, den Staat nicht auf den Willen der Individuen als Kollektiv, als gesellschaftliche Gesamtheit, sondern auf demjenigen des Souveräns zu gründen und es scheint, als sei dieser Souverän der Monarch, der einen einzelnen, individuellen Willen formulieren kann. Der Staat könne nicht auf das Interesse der vielen Einzelnen gestützt werden. Dieses Interesse zielt bei allen vorangehenden Staatsdenkern auf den Erhalt des Eigentums und der persönlichen Freiheit. Hegel argumentiert nun, dieses Interesse sei aber etwas Beliebiges, könne sich ändern und auf so etwas Schwankendes könne 67 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 258. 316 der Staat doch nicht begründet werden. Auch diese Argumentation hat einen Januskopf. Zunächst lässt sie sich konservativ lesen: der Schutz des Eigentums müsse unabhängig vom „privaten“, individuellen Interesse gewährleistet sein. Hegel sieht schon, dass die „bürgerliche Gesellschaft“ ein neues Problem gewärtigen muss, nämlich das einer Verelendung großer Teile der arbeitenden Bevölkerung und die gleichzeitige Herausbildung vernetzter Strukturen der damals neuen Armen. Die neue Armut erscheint nicht mehr als das Problem von Agrarkrisen, Unterproduktion- und Unterernährung der isolierten Landbevölkerung, sondern als Problem eines in die Städte gewanderten Proletariats, das bei Überproduktion existenziell betroffen ist. Unter diesen neuen Bedingungen kann man schon, das ahnt Hegel, auf den Gedanken kommen, das Eigentum in Frage zu stellen. Die Frühsozialisten Henri de Saint-Simon (1760-1825) oder Charles Fourier (1772-1837) gehörten der gleichen Generation an wie Hegel (1770-1831). Fourier polemisierte gegen Kapitalmärkte und kapitalistischen Handel und entwickelte die Utopie von etwas wie freien Produktionsgenossenschaften, in denen die erotische Energie den Einzelnen zur besten Leistung ansporne.68 Hegel, so lässt er sich interpretieren, macht sich also Sorge um die Institution des Eigentums. Die Verpflichtung eines Staates auf den Schutz des Eigentums gerät ins Wanken, wenn man den Staat auf den individuellen Willen seiner Bürger stützt, aber gleichzeitig eine zunehmende Zahl der Bürger und Bürgerinnen eigentumslos sind und eher Interesse an einer kollektiven Nutzung des Eigentums in Form von Produktionsmitteln und Land entwickeln. Also versucht Hegel, den Staat von den „zufälligen“ und „beliebigen“ Willen der Einzelnen abzukoppeln und einer objektiv waltenden Vernunft unterzuordnen, deren Inhalt selbstverständlich Hegel bestimmt. So wird der Staat unabhängig vom Willen „der Unteren“ zur Schutzeinrichtung der Herrschenden oder Eigentümer, für welche die zentrale Aufgabe des Staates eben der Schutz des Eigentums sein muss. Umgekehrt lässt sich die oben zitierte Passage aber auch so lesen, dass mit der demokratischen Perspektive Eigentum wie Eigentümerstaat zur Disposition stehen. Folglich muss für Hegel der Zweck des Staates nicht der Schutz des Eigentums sein. Der Staat ist für ihn Selbstzweck. So folgert er, dass seine Bestimmung nicht „die Sicherheit und der Schutz des Eigentums“ sein kann, weil sonst das Einzelinteresse zum letzten Zweck werde. Der Selbstzweck ist für Hegel die substanzielle Einheit, also die Überwindung der Gegensätze, die bei Marx dann Klassengegensätze werden. Diese zu überwinden ist eben nicht möglich unter 68 Saage, Utopie und Eros. Zu Charles Fouriers „neuer sozietärer Ordnung“, in: Utopie kreativ 1999, H. 105, S. 68 ff. 317 der obersten Prämisse, dass das Eigentum zu schützen ist. Hegel lässt sich also linkshegelianisch als Hinweis darauf lesen, dass der (bürgerliche) Staat mit dem Eigentum verbandelt ist. Er formuliert gewissermaßen eine Ideologiekritik, die gleichzeitig einen Weg über die Unterordnung des Staates unter die Schutzfunktion für die Eigentümer hinausweist, d.h. schon Hegel macht die dialektische Aufhebung dieses Einzelinteresses des Eigentümers zum Allgemeininteresse der gesamten Gesellschaft denkbar. Aber diese Konsequenz bleibt kryptisch, ist angelegt, wird aber nicht ausgeführt und entfaltet. Das Ergebnis dieser Hegelinterpretation lässt sich so zusammenfassen: Hegel erkannte als erster, dass die Konstruktion des staatlichen Ursprungs aus einem Gesellschaftsvertrag in der logischen Konsequenz dazu führen muss, dass der Wille der Staatsgründer auch bei zukünftigen staatlichen Entscheidungen berücksichtigt werden muss, also in demokratische Teilhabe mündet. Gleiches gilt, wenn man als Zweck des Staates den Eigentumsschutz unterstellt: Es folgt, dass der Staat den Bürgern dient und warum sollte man dann ausschließen, dass diese auch bestimmen, in welcher Form dies geschehen soll. Eigentum als Staatszweck i.V.m. mit der Theorie des Gesellschaftsvertrages hat – das hat Hegel wohl gesehen – demokratische Konsequenzen. Streiten lässt sich, ob er diese fürchtete oder empfahl. Es war Rousseau, der den Gesellschaftsvertrag gleichsam permanent macht, indem er fordert, dass die Gesellschaft beständig über sich selbst beschließen soll. Der Gesellschaftsvertrag kann nach Ansicht Rousseaus nicht zu einer Unterwerfung der Vertragsparteien unter die Herrschaft einer Person, also eines Monarchen, führen. Gegenstand des Vertrages ist zwar die Unterwerfung unter die gemeinsame Gesetzgebung, die den allgemeinen Willen zum Ausdruck bringt – insofern ist Rousseaus Ansatz absolutistisch. Gegenüber den Beschlüssen des Souveräns, das heißt dem Volk als Gesetzgeber, besteht absolute Gehorsamspflicht. Aber der Gesellschaftsvertrag ist nicht wie bei Hobbes ein Vertrag zur Unterwerfung unter einen Fürsten. Die Bürger unterwerfen sich nicht dem Monarchen, sondern setzen eine Regierung, die auch monarchistisch sein kann, zur Ausführung der Gesetze ein. Aber die Einsetzung der Regierung geschieht für Rousseau nicht durch Vertrag. Der Vertragsschluss ist der Staatsgründung vorbehalten, bei der sich zwar alle der Gesetzgebung unterwerfen, aber alle auch an dieser beteiligt sind. Da Gleiche über Gleiche Gleiches – in Form allgemeiner Gesetze – beschließen, kann trotz der Unterwerfung niemandem Unrecht geschehen – so Rousseau. Gegen Hobbes schreibt Rousseau: „Da die Staatsbürger auf Grund des Gesellschaftsvertrages alle gleich sind, so können alle vorschreiben, was alle tun sollen; aber keiner hat das Recht, von einem anderen 318 etwas zu verlangen, was er selbst nicht tut. Gerade dieses für das tätige Leben des Staatskörpers unentbehrliche Recht verleiht der Träger der Staatsgewalt dem Fürsten bei der Einsetzung der Regierung. Einige sehen in dem Akt der Einsetzung einen Vertrag zwischen Volk und Oberhäuptern, die es sich gibt; in ihm sollen die beiden Parteien die Bedingungen festsetzen, welche die eine zum Befehlen, die andere zum Gehorsam verpflichten. Man wird mir sicher zugeben, dass dies ein eigenartiger Vertrag ist. Wir wollen aber prüfen, ob diese Ansicht haltbar ist. Zunächst kann die höchste gesetzmäßige Gewalt ebenso wenig geändert wie veräußert werden. Ihre Begrenzung bedeutet ihre Aufhebung. Es ist ein sinnloser Widerspruch, wenn der Träger der Staatsgewalt sich selbst einen Vorgesetzten gibt. Sich zum Gehorsam gegen einen Herrn verpflichten, heißt sich seine volle Handlungsfreiheit wiedergeben,“ will sagen in den Naturzustand zurückzukehren.69 Und an anderer Stelle: „Wenn ein Privatmann, sagt Grotius, sich seiner Freiheit entäußern und Sklave eines andern werden kann, warum soll nicht ein ganzes Volk seine Freiheit weggeben und Untertan eines Königs werden können?“ Rousseau führt verschiedene Argumente dagegen an, hier sei nur Folgendes zitiert: „Der Verzicht auf die eigene Freiheit schließt den Verzicht auf Menschentum, Menschenrechte und -pflichten in sich. Für einen solchen Verzicht gibt es überhaupt keinen Ersatz; er verträgt sich nicht mit der Natur des Menschen. Nimmt man seinem Willen die Freiheit, so nimmt man seinem Handeln die sittliche Grundlage. Ein Übereinkommen, wonach dem einen unumschränkte Gewalt zusteht und dem andern unbegrenzter Gehorsam zukommt, ist ein Widerspruch in sich und deshalb nichtig. Gegenüber einem Menschen, von dem man berechtigt ist, alles zu fordern, ist man selbstverständlich zu nichts verpflichtet. Und diese eine Bedingung, die jede Entschädigung, jede Gegenleistung ausschließt, hat die Nichtigkeit des Aktes zur Folge. Denn welches Recht hat ein Sklave mir gegenüber, wenn mir alles gehört, was er hat, auch sein Recht? Ein Recht gegen mich, das mir selbst zusteht, ist sinnlos.“ 70 Während Hegel die demokratischen Implikationen der Idee, der Staat sei auf einen Vertrag gegründet, als gefährlich demokratisches Gedankengut zurückweist, formuliert Rousseau den Zusammenhang explizit. Souverän sind diejenigen, die den Staat durch den Vertrag gründen, so Rousseaus Argumentation. Auf diese Souveränität können sie auch im Staat, also nach der Staatsgründung nicht verzichten. Die den Vertrag schließenden Parteien bleiben souverän oder der Souverän, der nun nur nicht mehr in individueller, sondern in kollektiver Freiheit über sich beschließt. Die Vorstellung, der Staat gründet auf einem Vertrag 69 Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, S. 61 f. 70 Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, S. 10 f. 319 eines Jeden mit einer Jeden, mündet in der demokratischen Selbstgesetzgebung. Der Gesellschaftsvertrag trägt in sich demokratische Vorstellungen, die Hobbes noch explizit negiert, die aber von Rousseau zu Ende gedacht werden. Das Verträge schließende Individuum der bürgerlichen Gesellschaft muss so in der Selbstreflexion seiner Vertragsfreiheit dazu kommen, diese als Anspruch auf demokratische Partizipation zu formulieren. Die Staatstheorien der Aufklärung haben diesen Zusammenhang sichtbar werden lassen. Kurz: Der Vertrag führt in seiner überschießenden Tendenz zum Anspruch auf demokratische Teilhabe oder Selbstgesetzgebung respektive Selbstregierung. b) Normative Implikationen Nun ist es offenkundig, dass der Staat nicht durch einen ursprünglichen Vertrag entstanden ist. Schon für Kant ist klar, dass der Gesellschaftsvertrag nur eine hypothetische Annahme ist, eine logische Konstruktion, um normative Konsequenzen für den Staat denken zu können. Historisch treffen sich nicht alle Mitglieder einer Gesellschaft und schließen einen Vertrag, mit dem ein Staat begründet wird. Wenn die Menschen Glück haben, können sie über die Verfassung des Staates abstimmen, aber auch dann zählen nur Mehrheiten. Diejenigen, die gegen die neue Verfassung gestimmt haben, sind dann doch Teil des Staates. Der Gesellschaftsvertrag, meint Kant, ist eben nur eine Idee, um die Rechtmäßigkeit der Staatsorganisation überprüfen zu können. Kant schreibt: „Der Akt, wodurch sich das Volk selbst zu einem Staat konstituiert, eigentlich aber nur die Idee desselben, nach der die Rechtmäßigkeit desselben allein gedacht werden kann, ist der ursprüngliche Kontrakt, nach welchem alle {omnes et singuli) im Volk ihre äußere Freiheit aufgeben, um sie als Glieder eines gemeinen Wesens, d. i. des Volks als Staat betrachtet (imiversi), sofort wieder aufzunehmen.“ 71 An anderer Stelle deutet Kant an, wie es historisch faktisch tatsächlich gewesen sein könnte: „Ob ursprünglich ein wirklicher Vertrag der Unterwerfung unter denselben (pactum subiectionis civilis) als ein Faktum vorher gegangen, oder ob die Gewalt vorherging, und das Gesetz nur hintennach gekommen sei, oder auch in dieser Ordnung sich habe folgen sollen: das sind für das Volk, das nun schon unter dem bürgerlichen Gesetze steht, ganz zweckleere, und doch den Staat mit Gefahr bedrohende Vernünfteleien.“ 72 Kurz: Darüber nachzudenken, 71 Kant, Metaphysik der Sitten, § 47 (kursiv von mir, A.F.) 72 Kant, Metaphysik der Sitten, Allgemeine Anmerkung von den rechtlichen Wirkungen aus der Natur des bürgerlichen Vereins A. 320 wie viel Gewalt, Herrschaft und Unterdrückung bei der Entstehung des Staates eine Rolle spielte, delegitimiert den Staat und ist deshalb ein diesen bedrohender Gebrauch des Verstandes, den Kant ansonsten gerne einfordert, nur eben dann nicht, wenn es ernst wird. Die Konstruktion des Gesellschaftsvertrages als Grundlage des Staates ist wiederum ambivalent zu bewerten. Auf der einen Seite lässt sich die Verfassung eines Staates am normativen Maßstab des Gesellschaftsvertrages prüfen. Die Frage ist dann: „Handelt es sich um einen Kompromiss, der von der übergroßen Zahl der Mitglieder einer Gesellschaft getragen werden kann?“ Nur eine Verfassung, die diesen Ansprüchen genügt, könnte normativ als legitim gelten. Mit diesem Maßstab kommt man mit logischer Notwendigkeit zur demokratischen Teilhabe, Sicherung individueller Rechte als Element dieser Teilhabe und ein Mindestmaß an egalitärer Verteilung des Reichtums, denn selbstverständlich kann man einem Gesellschaftsvertrag nicht zustimmen, bei dem ein Drittel der Bevölkerung finanziell von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen ist und sich der Reichtum der Gesellschaft ausschließlich beim obersten Zehntel der Bevölkerung sammelt. Der Gesellschaftsvertrag ist gleichsam der normative Prüfstein für die Verfassung eines Staates und die gesellschaftliche Wirklichkeit. Dabei ist der Rollentausch Voraussetzung, um die Legitimität zu bewerten. Voraussetzung für eine legitime gesellschaftliche Verfassung ist, dass jeder noch mit jeder Rolle in der Gesellschaft einverstanden ist. Hier weicht die normative Bewertung möglicherweise von der demokratischen Mehrheit ab. Beim Rollentausch ist es ausgeschlossen, dass ein Drittel sozial und kulturell abgehängt wird, mit ungesundem fast food und noch schlechter verdaulicher televisionärer Verblödung abgespeist wird. Demokratisch lassen sich jedoch möglicherweise Mehrheiten für einen solchen gesellschaftlichen Zustand finden, wenn nämlich die anderen Zweidrittel, die Gewinner, zustimmen und das abgehängte Drittel im Zweifel gar nicht mehr an der Abstimmung teilnimmt. Der Rollentausch schließt Zustimmung aus, weil man jedenfalls nicht ausschließen kann, zum unteren Drittel zu gehören. John Rawls hat diesen alten Gedanken des Rollentausches als „Schleier des Unwissens“ refomuliert.73 Über die Verfasstheit einer Gesellschaft müsse unter dem hypothetischen Schleier des Unwissens über die eigene gesellschaftliche Situation abgestimmt werden. Ungleichheit sei nur in dem Maße zu rechtfertigen, wie man unter dieser Bedingung mit der gesellschaftlichen Rollenverteilung, der Verteilung von Chancen und Vermögen mehrheitlich noch einverstanden sein könne. Auch das ist selbstverständlich kein empirischer 73 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, passim. 321 Maßstab, sondern – wie der Gesellschaftsvertrag überhaupt – eine hypothetische Konstruktion, um den Zustand einer Gesellschaft normativ zu bewerten. Kritik verlangt einen normativen Maßstab, der allerdings geeignet sein muss, die faktischen Verhältnisse zu überschreiten. So lässt sich festhalten, dass die Konstruktion des Staates über den Gesellschaftsvertrag eine Affinität zur parlamentarischen Repräsentation und auch zu einem empathischen Begriff der Demokratie erzeugt. Der Staat beruht auf dem Willen der Bürgerinnen und Bürger, die sich in ihm zusammenschließen. Dann liegt es nahe, dass auch die Entscheidungen und Maßnahmen des Staates auf deren Adressaten zurückgeführt werden müssen. Die Konstruktion des Gesellschaftsvertrages wurzelt schließlich in der marktvermittelten Konkurrenzwirtschaft, d.h. in der bürgerlichen Vertragsgesellschaft, deren Zusammenhang nur mittels Vertrag hergestellt wird. Dabei ist der Gesellschaftsvertrag keineswegs der ursprüngliche, vielmehr ist er theoretische Konstruktion und als solche Verlängerung des wirklichen Zusammenhangs, der zwischen den bürgerlichen Monaden über die unterschiedlichsten Verträge, vom einfachen Kauf bis zum Ehevertrag, hergestellt wird. Das Verträge schließende Individuum beansprucht, dass auch die staatliche, politische Einheit über den Vertrag herzustellen ist, und daran beteiligt zu sein. Die Vertragsgesellschaft erzeugt so eine Affinität zur Demokratie. Wie Vertrag und Rechtssubjekt die Selbstwahrnehmung des politischen Systems in der bürgerlichen Gesellschaft strukturieren, führt auch die Konkurrenzwirtschaft zu analogen Interpretationen der Demokratie als Konkurrenzsystem. 4. Konkurrenz und Demokratie Im ersten Teil dieser Arbeit wurde diskutiert, dass die marktvermittelte Konkurrenz als eine Differentia specifica der bürgerlichen Gesellschaft zu bezeichnen ist. Die Konkurrenz ist zunächst Konkurrenz im ökonomischen Sinne, also Konkurrenz auf dem Markt, die aber – da bestehen Parallelen zum Vertrag – in der bürgerlichen Gesellschaft die Sphäre des Marktes überschreitet und in die Poren der gesamten Gesellschaft eindringt, d.h. die gesellschaftlichen Beziehungen in ihrer Totalität strukturiert. So liegt es nicht fern, auch das politische System, d.h. die parlamentarische Repräsentation unter dem Aspekt der Konkurrenz zu interpretieren und zu rechtfertigen. Das geschieht in einer elitetheoretischen Interpretation der Demokratie, die von Weber und Schumpeter vorgelegt wurde. Auch die pluralistische Sicht der Demokratie, wie sie von Ernst Fraenkel entwickelt wurde, greift liberale Konkurrenztheorien auf und erweitert sie zu 322 einem Pluralismus gruppenspezifischer Wertungen. Die beiden unterschiedlichen Sichtweisen auf die Demokratie seien hier kurz unter dem Aspekt des Konkurrenzmechanismus expliziert. a) Elitetheorie der Demokratie (1) Schumpeter Schumpeter entwickelt seinen nüchternen, bisweilen sarkastischen Blick auf die Funktionsweise der politischen Demokratie. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die These: Es gibt keinen Volkswillen. Dieser lasse sich weder empirisch beobachten noch theoretisch dem Mehrheitswillen von Repräsentanten unterschieben. Der Mehrheitswille sei eben nur Mehrheitswille und nicht allgemeiner Volkswille. Schumpeter folgert deshalb, politische Willensäußerungen existierten ausschließlich als produzierte, durch das politische Führungspersonal produzierte und geschaffene. „Wir sehen uns bei der Analyse der politischen Prozesse weithin nicht einem ursprünglichen, sondern einem fabrizierten Willen gegenüber.“ 74 So hat der demokratische Prozess, haben Wahlen und Abstimmungen für Schumpeter nicht die Funktion, politische Präferenzen – wie diffus auch immer – zum Ausdruck zu bringen. Wenn die politische Führung politische Meinungen und Interessen erst produziert, kann es nur darum gehen, zwischen dem Führungspersonal, das zu dieser Produktion befugt ist, zu entscheiden. Und genau aus dieser umgekehrten Perspektive, aus der Perspektive des Führungspersonals beschreibt Schumpeter das demokratische Verfahren. „Die demokratische Methode ist diejenige Ordnung der Institutionen zur Erreichung politischer Entscheidungen, bei welcher Einzelne die Entscheidungsbefugnis vermittels eines Konkurrenzkampfes um die Stimme des Volkes erwerben.“ 75 Der Konkurrenzkampf beim Aufstieg des politischen Personals wird zum entscheidenden Bestimmungsmerkmal der Demokratie. Das ist sehr offensichtlich eine ausschließlich wirtschaftliche Sicht: Da sich erfolgreicher Kampf bei politischer Konkurrenz nicht in monetärem Profit ausdrückt, findet er eine andere Währung, das ist letztlich die Anzahl der Wählerstimmen. Die Wähler geraten dabei automatisch in die Rolle der passiven Konsumenten, wobei ihnen noch weniger zugetraut wird, ihre Bedürfnisse und Präferenzen zu kennen als den Warenkonsumenten. Schumpeter formuliert: „In einer Demokratie besteht, wie 74 Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, S. 418. 75 Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, S. 428. 323 gesagt, die Hauptfunktion der Stimmabgabe des Wählers darin, die Regierung hervorzubringen.“ 76 Demokratie als Methode der Auswahl des Führungspersonals erscheint als eine mögliche unter vielen Methoden und ist anderen Methoden prima facie keineswegs überlegen. Im Gegenteil: Schumpeter moniert – wiederum aus ökonomischer Sicht – die Effizienz dieser Art der Führungsauslese. Er stellt zunächst heraus, dass bewährte Politiker noch längst nicht geeignet sein müssen, Verwaltungen zu führen. Er bezweifelt also die Funktionalität der demokratischen Personalrekrutierung mit Blick auf die erforderlichen administrativen Leistungen, die diese erbringen müssen. Die charakterlichen Eigenschaften eines guten Politikers machen noch lange keinen guten Verwaltungsfachmann aus. „Die demokratische Methode schafft berufsmäßige Politiker, der sie dann zu Verwaltungsdilettanten und ‘Staatsmännern’ macht.“ 77 Dann argumentiert er, dass der politische Konkurrenzkampf mit erheblichen Energieverlusten verbunden ist, die gleichsam im Bereich der tatsächlichen Führungsaufgaben fehlten. Wahlkampf und Wahlwerbung absorbierten viel Energie des politischen Führungspersonals. (2) Weber Weber hebt deutlicher als Schumpeter hervor, dass der Vorteil des demokratischen Systems in seinem Output liegt, nämlich einer gelungenen Führerauslese – und Kontrolle. Dabei ist sein Ausgangspunkt etwas komplizierter. Weber unterscheidet nicht Staats-, sondern Herrschaftsformen und unterteilt in traditionale, charismatische und rational-legale Herrschaft, wobei letztere sich auf einen bürokratischen Verwaltungsapparat stütze, der – dank seiner Effizienz – diese Form der Herrschaft den anderen überlegen mache und sich evolutionär durchgesetzt habe oder durchsetzen werde.78 Demokratie, Parlamentarismus oder auch Monarchie und Diktatur kennzeichnen so verschiedene Organisationsformen der bürokratisch-legalen Herrschaft. Weber betrachtet auf dieser Grundlage die Entwicklung des politischen Betriebes innerhalb der legal-bürokratischen Herrschaftsform moderner Massengesellschaften. Dabei stellt er fest, dass der Einzug der Massen in das politische Geschehen durch Einführung des allgemeinen Wahlrechts dieses radikal geändert habe. Die Notwendigkeiten des politischen Betriebes, insbesondere der Wahlwerbung, führten dazu, dass Honoratioren abgelöst werden durch den Berufspoliti76 Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, S. 433. 77 Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, S. 458. 78 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 122 ff. 324 ker. So folgert Weber: „Parlamentarisierung und Demokratisierung (worunter er die Einführung des gleichen Wahlrechts versteht A.F.) stehen durchaus nicht in Wechselbeziehung, sondern oft im Gegensatz zueinander. Man hat neuerdings sogar nicht selten geglaubt: in notwendigem Gegensatz. Denn wirklicher Parlamentarismus sei nur bei einem Zweiparteiensystem und dies nur bei einer aristokratischen Honoratiorenschaft innerhalb des Parlaments möglich.“ 79 Die Unterscheidung erklärt sich aus dem Ideal des Parlaments als debattierender, verhandelnder und Konsense findender Körperschaft.80 In dieser Weise funktioniere das Parlament in den modernen Massendemokratien nicht (mehr). Die Auslese der politischen Führer ist in der Massendemokratie für Weber keine spezifische Leistung des Parlaments, sondern des politischen Betriebes insgesamt. Die Führungspersonen in der Massendemokratie müssten sich vor allem gegenüber den Massen bewähren, ihre Auswahl habe plebiszitäre Elemente. Im „alten“ Parlamentarismus mussten sie sich dagegen im Kreis der Honoratioren des Parlaments bewähren – diese Seite der Auslese rücke in den Hintergrund. Daneben träten vor allem plebiszitäre Elemente, da die Führungspersonen den Glauben und das Vertrauen der Massen gewinnen müssten. Politik versteht Weber als „Kampf, Werbung von Bundesgenossen und freiwilliger Gefolgschaft.“ Mit fortschreitender Demokratisierung der Politik, d.h. mit der Verallgemeinerung des Wahlrechts, hätten sich die Formen des politischen Geschehens geändert – eine Professionalisierung sei eingetreten; dominant werden die Berufspolitiker.81 Diese charakterisiert Weber so: „Der zur öffentlichen Macht gelangende Politiker und zumal Parteiführer ist dagegen der Beleuchtung durch die Kritik der Feinde und Konkurrenten in der Presse ausgesetzt und kann sich darauf verlassen, dass im Kampf gegen ihn die Motive und Mittel, welche seinen Aufstieg bedingten, rücksichtslos ans Licht gezogen werden. Nüchterne Beobachtung dürfte also ergeben, dass die Auslese innerhalb der Parteidemagogie auf die Dauer und aufs 79 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 857 f. 80 Dieses Ideal gewinnt Weber natürlich nicht aus der empirischen Beobachtung. Es ist vielmehr ein normativ unterstelltes Ideal, weshalb die Unterscheidung von Parlamentarismus und Demokratie auch nicht ausführlich erörtert wird, sondern eher im Ungewissen als nicht genau zuzuordnender Glaube („Man hat neuerdings sogar nicht selten geglaubt“). 81 „Die politische Frage ist lediglich die: was für Konsequenzen hat die fortschreitende Demokratisierung der politischen Kampfmittel und Kampforganisationen für die Gestaltung des politischen Betriebes, des außerparlamentarischen, wie des parlamentarischen. … Beide rufen nach einer charakteristischen Figur: nach dem Berufspolitiker.“ (Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 859). 325 Große gesehen keineswegs nach unbrauchbareren Merkmalen erfolgt als hinter den verschlossenen Türen der Bürokratie. Entscheidend wichtig ist, dass für die politische Führerschaft jedenfalls nur Persönlichkeiten geschult sind, welche im politischen Kampf ausgelesen sind, weil alle Politik dem Wesen nach Kampf ist.“82 Demokratie als Methode der „Bestenauslese“ hat für Weber Vor- und Nachteile. Einerseits würden zur „politischen Führerschaft“ nur Persönlichkeiten ausgebildet, die im politischen Kampf geschult seien und „Eigenverantwortung“83, also verantwortliches Entscheiden gelernt hätten, und das „leistet nun einmal das vielgeschmähte ‘Demagogenhandwerk’ besser als die Aktenstube, die freilich für die sachliche Verwaltung die unendlich überlegene Schulung bietet.“84 Andererseits sieht auch Weber die Möglichkeit, dass an die Spitze der Verwaltung Politiker gesetzt werden und so eine dysfunktionale „Dilettantenverwaltung“ entsteht.85 Im Ergebnis geht Weber aber wohl von einer zunehmenden Differenzierung der Funktionssysteme Politik und Verwaltung aus, die die unterschiedlichen Qualitätsmerkmale bei der Auslese der Führer letztlich rechtfertigen. Der Output des demokratischen Wahlverfahrens ist also eine cäsaristische Führerpersönlichkeit, der es gelingt, das Vertrauen der Massen zu erlangen und die geschult ist in eigenverantwortlichen Entscheidungen. b) Pluralistische Demokratie – Fraenkel Fraenkel hat zwei große Kontrahenten, gegen die er sich in seiner pluralistischen Interpretation der Demokratie wendet, nämlich einerseits die soeben diskutierte elitetheoretische Sicht und auf der anderen Seite die – deutsche – Homogenitätsvorstellung, die auf Carl Schmitt basiert, aber bis heute virulent ist. Fraenkel schreibt gegen die Elitetheorie: „Die Konkurrenztheorie der Demokratie wird den an sich zu stellenden Erfordernissen nicht gerecht, wenn sie in den Wahlen zum Parlament nichts anderes erblickt als ein Personalplebiszit zwischen zwei Persönlichkeiten, die sich um das Amt des Regierungschefs reißen. … Die richtig verstandene Konkurrenztheorie der Demokratie besagt vielmehr, dass durch die Wahlen nicht nur der künftige Regierungschef bestimmt wird, sondern auch eine Entscheidung über Alternativlösungen getroffen werden soll … Denn eine 82 83 84 85 326 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 861. Weber, Politik als Beruf, S. 512 f. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 861. Weber, Politik als Beruf, S. 529, wobei er allerdings glaubt, dass die Dilettantenverwaltung notwendigerweise absterben werde. Parlamentswahl, die nicht zugleich eine Fortsetzung einer Parlamentsdebatte ‘mit anderen Mitteln’ ist, verfehlt ihren Zweck, die Repräsentationsverfassung mit jenem guten Schuss plebiszitären Öls zu salben, ohne die sie rostig wird.“86 Fraenkel will seine Demokratietheorie ausdrücklich als „Konkurrenztheorie“ verstehen, aber eben nicht nur als Konkurrenz um Führungspersönlichkeiten, als Konkurrenz des Personals, sondern als Konkurrenz der Ideen. Die Theorie der „pluralistischen Demokratie“87 geht von der Konkurrenz und damit von divergierenden und konfligierenden Interessen aus. Sie nimmt deshalb erstens nicht an, dass die Demokratie eine homogene Einheit „Volk“ voraussetzt – so die präfaschistische Konstruktion Schmitts. Volk bestimmt Fraenkel deshalb so: „Volk sind die Angehörigen der in verschiedenen Körperschaften, Parteien, Gruppen, Organisationen und Verbänden zusammengefassten Mitglieder einer differenzierten Gesellschaft, von denen erwartet wird, dass sie sich jeweils mit Erfolg bemühen, auf kollektiver Ebene zu dem Abschluss entweder stillschweigender Übereinkünfte oder ausdrücklicher Vereinbarungen zu gelangen, d.h. aber mittels Kompromissen zu regieren.“88 Zweitens nimmt Fraenkel nicht an, dass im Prozess des Meinungsstreits eine einheitliche Meinung entsteht, sondern allenfalls ein Kompromiss – auch hier distanziert er sich von harmonistischen Vorstellungen und bleibt bei der Konkurrenz von Interessen und Meinungen. Fraenkel schreibt: „Denn wenn es in der Gegenwart wohl kaum noch ernst zu nehmende Denker gibt, die die Überzeugung teilen, durch ‘Aufklären’ … sei mittels einer freien Diskussion eine öffentliche Meinung zu begründen, die notwendigerweise die Koinzidenz von Gemeinwillen und Gemeinwohl, d.h. aber die Verwirklichung der Rousseauschen volonté générale herbeiführt, besagt die Verneinung des absoluten Wertes der öffentlichen Meinung nichts über deren relativen Wert.“89 Der relative Wert ist eben nicht die Harmonie, sondern die berechtigte und für die Demokratie notwendige Konkurrenz der Meinungen und Interessen. Die „Pluralistische Demokratie“ charakterisiert er zusammenfassend folglich in dieser Weise: „Die nunmehr zu behandelnde vierte Demokratievorstellung (also die pluralistische Demokratie A.F.) sagt: jawohl, wir sind eine heterogene Gesellschaft, sie sagt, dass niemand vorher mit absoluter Gewissheit voraussehen und proklamieren kann, was dem Gemeinwohl entspricht, sie erachtet es nicht 86 87 88 89 Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, S. 90. Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, S. 300. Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, S. 290. Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, S. 236. 327 nur für zulässig, sondern für erforderlich, dass die heterogene Struktur der Gesellschaft in der Politik zum Ausdruck gelangt, und zwar dergestalt, dass aus der heterogenen Not eine pluralistische Tugend gemacht wird.“ Die Staatsbürger sollen sich kollektiv zu Gruppen, Interessenverbänden und Parteien zusammenschließen, die keineswegs etwas Negatives, sondern für die Demokratie der Massengesellschaft erforderlich seien. „Aus dem Zusammenwirken dieser kollektiven Gruppen entsteht … auf dem Wege des Kompromisses die denkbar beste Lösung der anfallenden Probleme. Wenn wir diese Lösung als Gemeinwohl bezeichnen wollen, handelt es sich allerdings nicht um ein vorgegebenes, sondern um ein nachträgliches Gemeinwohl, um ein a-posteriori Gemeinwohl.“90 Hörbar ist eine gewisse Distanzierung vom Gemeinwohl, nicht nur von der Annahme, dieses sei „erkennbar“, existiere also vor dem demokratischen Prozess, der es nur auffinde. Im Ringen der unterschiedlichen Interessen, dessen ist sich Fraenkel bewusst, können sich auch besondere Interessen durchsetzen, weil aber keine andere „Erkenntnisquelle“ zur Verfügung steht, ist das Ergebnis des demokratischen Prozesses gleichsam als Gemeinwohl zu fingieren. Tatsächlich bestimmen auch für Fraenkel die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, die sich im Staat, den staatlichen Institutionen gebrochen wiederfinden, das Ergebnis demokratischer Verfahren. Fraenkel schreibt: „In stets zunehmendem Maße wurde die Verfolgung individueller und lokaler Interessen ersetzt durch das Bestreben, den Wünschen der in zentralen Mammutorganisationen verkörperten Kollektivinteressen Rechnung zu tragen. In der Gegenwart stellen politische Entscheidungen zumeist die Resultante im Parallelogramm von Kräften dar, an deren Zustandekommen die Interesseorganisationen maßgeblich teilhaben.“91 Demokratie hat in der pluralistischen Theorie weder einen einheitlichen Volkswillen, ein einheitliches Volk noch sonst eine irgendwie geartete Einheit oder inhaltliche Essenz zur Voraussetzung, sondern nur die Einhaltung der demokratischen Spielregeln des Konkurrenzkampfes: „Ein richtig verstandener Pluralismus ist sich der Tatsache bewusst, dass das Mit- und Nebeneinander der Gruppen nur dann zur Begründung eines a-posteriori Gemeinwohls zu führen vermag, wenn die Spielregeln des politischen Wettbewerbs mit Fairness gehandhabt werden, wenn die Rechtsnormen, die den politischen Willensbildungsprozess regeln, unverbrüchlich eingehalten werden.“92 90 Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, S. 290. 91 Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, S. 64 f. 92 Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, S. 274 f. 328 Im Ergebnis expliziert die Theorie der pluralistischen Demokratie den liberalen Konkurrenzgedanken, nur dass er nicht als individuelle Konkurrenz verstanden wird, wie im „alten“ Liberalismus, für den alles Kollektive verwerflich war; für Fraenkel findet die Konkurrenz gleichsam als oligopolistische Konkurrenz zwischen Interessengruppen statt. Aber die Theorie der pluralistischen Demokratie greift die liberalen Ideen auf. Der Liberalismus hatte die Marktregeln in die politische Sphäre übertragen, das Richtige, Gerechte setzt sich im öffentlichen Meinungskampf aus dem Wettstreit der Ideen hinter dem Rücken der Beteiligten durch. Der Pluralismus erweitert diese individualistische Annahme um einen Schuss Realismus und postuliert, dass der Wettstreit zwischen Gruppen stattfindet und auch stattfinden darf. c) Konkurrenz und Affinität Zunächst sind die vorgestellten konkurrenztheoretischen Konzeptionen der Demokratie nach ihrem normativen und empirischen Gehalt zu bewerten. Die elitetheoretischen Konzeptionen treten als empirische Analyse auf – Weber postuliert explizit, dass die Wissenschaft insgesamt wertneutral sein müsse und seine Soziologie wertneutral sei. Sein und Sollen dürften nicht vermischt werden. Die elitetheoretische Konzeption von Demokratie führt in der Konsequenz recht offenkundig zu einer Negation oder sogar Destruktion des emanzipatorischen, aufklärerischen Verständnisses der Demokratie als kollektive Autonomie. Der emphatische Impetus des emanzipatorischen Konzepts von Demokratie geht verloren und mit ihm ein normativer Anspruch, an dem die Realität gemessen werden könnte. Wenn Demokratie nur die Konkurrenz der Eliten um die politische Macht ist, wenn der politische, demokratische Prozess nur der Bestenauslese dient und nur diese Funktion haben kann und letztlich haben soll, werden Ansprüche an die Rückbindung allgemein wirkender Entscheidungen obsolet. Es reicht normativ aus, dass geeignete Entscheidungsträger ausgewählt oder -sortiert werden, um von einer Demokratie zu sprechen. Die besten Politiker setzen sich durch und haben damit den Anspruch auf Herrschaft – ohne Rücksicht auf das dusselige Volk – errungen. Demokratie als Form der Bestenauslese vermeidet Ansprüche des Volkes auf Teilhabe jenseits der Wahlen oder gar Angriffe auf die ökonomische Macht mittels demokratischer Entscheidungen – insofern ist sie gleichzeitig realistisch und normativ apologetisch. Die Systemtheorie Luhmannscher Prägung, deren ausführliche Darstellung ich mir schenke, treibt die elitetheoretische Konzeption auf die Spitze: Die politische Kommunikation dreht sich um den binären Code Macht/Ohnmacht und Demokratie verkommt 329 regelrecht zum Verfahren, um politische Macht zuzuordnen, die sich sogleich als Ohnmacht darstellt, weil sie nicht sinnvoll, d.h. intentional in andere gesellschaftliche Subsysteme, insbesondere die Ökonomie, intervenieren kann. Das Spiel wird reiner Selbstzweck – eben autopoietisch – und die Ökonomie wird gegen demokratische Ansprüche abgeschottet und abgesichert – auch hier hat die angeblich nur analytisch, empirische Theorie normative Folgen. Die Theorie der „pluralistischen Demokratie“ gibt dagegen nicht vor, ausschließlich Empirie zu betreiben; es handelt sich um eine empirisch fundierte normative Theorie der Demokratie. Die normativen Ansprüche und Implikationen wirken bis in die Judikatur der Gegenwart. So begreift das Bundesverfassungsgericht die Pluralismustheorie recht offenkundig auf, wenn es die Funktion der Meinungsfreiheit in folgender Weise beschreibt: „Das Grundgesetz hat dem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung erhöhte Bedeutung verliehen. Wie der Senat schon in früheren Urteilen ausgeführt hat, ist die Meinungsfreiheit als unmittelbarer Ausdruck der Persönlichkeit in der Gesellschaft eines der vornehmsten Menschenrechte; schon das verleiht ihr besonderes Gewicht. Darüber hinaus ist das Grundrecht für die freiheitliche demokratische Grundordnung schlechthin konstituierend, indem es den geistigen Kampf, die freie Auseinandersetzung der Ideen und Interessen gewährleistet, die für das Funktionieren dieser Staatsordnung lebensnotwendig ist. Nur die freie öffentliche Diskussion über Gegenstände von allgemeiner Bedeutung sichert die freie Bildung der öffentlichen Meinung, die sich im freiheitlich demokratischen Staat notwendig ‘pluralistisch’ im Widerstreit verschiedener und aus verschiedenen Motiven vertretener, aber jedenfalls in Freiheit vorgetragener Auffassungen, vor allem in Rede und Gegenrede, vollzieht.“93 Die Theorie einer pluralistischen Demokratie destruiert den emphatisch, emanzipatorischen Begriff der Demokratie nicht, sondern formuliert einen normativen Anspruch an Demokratie in der kapitalistischen Massengesellschaft neben oder vor der regulativen Idee der Aufhebung von Herrschaft. Der emphatische emanzipatorische Begriff der Demokratie ist mit der pluralistischen Konzeption durchaus vereinbar, weil auszuschließen ist, dass unterschiedliche Interessen und Meinungen in einer postkapitalistischen, freien und demokratischen Gesellschaft nicht mehr existieren würden, so dass der Austausch von Argumenten im demokratischen Prozess, der möglicherweise dem Ideal eines herrschaftsfreien Diskurses angenähert werden kann, sich weiterhin als Verfahren anbietet, Divergenzen auszugleichen und zu einem Gemeinwohl a posteriori zu 93 BVerfgE 12, 113 [125]. 330 kommen. Der herrschaftsfreie Diskurs markiert an dieser Stelle die Differenz zur marktanalogen Konkurrenz. Wenn Politik als Konkurrenzkampf um die politische Macht verstanden wird, liegt die Analogie zur marktvermittelten Konkurrenz in der Ökonomie auf der Hand. Sowohl in dem elitetheoretischen Konzept wie in Fraenkels pluralistischer Demokratie bleibt die Analogie nicht nur implizit. Die ökonomische Konkurrenz ist Vorbild für die Konzeption der Demokratie oder allgemeiner des Politischen. Das Politische wird so über die Konkurrenz beim Zugang zu staatlichen Positionen, beim Zugang zu den „Hebeln der Macht“ oder als Konkurrenz der politischen Ideen und Konzepte definiert. Die explizite Anrufung der Analogie zur Ökonomie, das heißt die Konstruktion eines politischen neben einem ökonomischen Markt, lässt sich nicht als Ideologie im Sinne eines falschen Bewusstseins begreifen. Die theoretische Analogie folgt vielmehr – soweit man sie als empirische Analyse nimmt, die kritisch zu wenden ist – den realen Entwicklungen der bürgerlichen Gesellschaft. Ausgehend von der Konkurrenz um territoriale Herrschaftsansprüche verselbstständigt sich die Konkurrenz in der kapitalistischen Ökonomie, wird dort zum Motor und Zwangsgesetz des Wirtschaftens. Konkurrenz wird ausgehend von der Ökonomie zum Bestandteil des „sozialen Sinns“ oder des Habitus, wie er von Bourdieu entwickelt und verstanden wurde. Die Konkurrenz ist Orientierungspunkt in der Wahrnehmung der Gesellschaft, ermöglicht das Zurechtfinden in deren Strukturen, schreibt sich nicht nur in die Psyche, sondern in die Körper der handelnden Subjekte ein und wird in der Selbstreflexion schließlich zur anthropologischen Konstante. Der Mensch erscheint in der bürgerlichen Gesellschaft als Verträge schließendes und ebenso als konkurrierendes Wesen, bis schließlich die gesamte Natur der Konkurrenzvorstellung unterworfen wird. So erscheinen Nahrungskonkurrenten und Ähnliches als wichtige Bausteine der Naturvorstellung. So kann es nicht wundern, dass nicht nur die theoretisch-wissenschaftliche Konstruktion von Politik, die diese ihrerseits immer auch beeinflusst, sondern die Praxis der Politik zur Bühne der Konkurrenz wird. Die elitetheoretischen wie die pluralistischen Konzepte treffen einen Kern der real existierenden Demokratie – apologetisch wird der elitetheoretische Begriff dort, wo insinuiert wird, Demokratie sei nur in Analogie zu ökonomischer Konkurrenz zu denken und gar nicht anders möglich, d.h. auf die Konkurrenz, um Machtpositionen und zu beschränken. Wenn die Konkurrenz die Poren der Gesellschaft durchdringt und den Habitus der handelnden Akteure strukturiert, folgt in der Konsequenz, dass Politik nicht nur konkurrenztheoretisch gedacht, sondern auch in dieser Weise organi331 siert wird. Das bedeutet aber, dass das institutionelle Arrangement des Politischen in der bürgerlichen Gesellschaft so gestaltet wird, dass Konkurrenz stattfinden kann, also – vor allem – als parlamentarische Demokratie. Diese organisiert eine Konkurrenz zwischen Parteien, die um Parlamentssitze und im Ergebnis um die Übernahme der Regierung konkurrieren. – Verzichtet eine Partei explizit auf den Wettstreit um Regierungsübernahme, entzieht sich also einem Teil der Konkurrenz, gerät sie auch im sonstigen Konkurrenzkampf ins Hintertreffen. – Die theoretische Homologie von ökonomischer und politischer Konkurrenz erzeugte so auch in der Praxis der bürgerlichen Gesellschaft eine Affinität von Demokratie und Kapitalismus – genauer: Die theoretische Begriffsbildung reflektiert die reale Affinität von Kapitalismus und parlamentarischem System. IV. Repugnanz von Demokratie und Kapitalismus Dem Verbindenden steht immer auch Trennendes gegenüber; die Verbindung von Kapitalismus und Demokratie ist offenbar fragil, das Trennende, Abstoßende ist ebenso Aspekt dieser Beziehung wie das Anziehende, die Affinität. Will man die Repugnanz von Demokratie und Kapitalismus erfassen, ist es sinnvoll, an die am Anfang dieses Kapitels gestellten Fragen zu erinnern. Hier ist zunächst der „Widerspruch der demokratischen Konstitution“ relevant, den Marx benennt. Das Problem der demokratischen Verfassung bestehe darin, dass die ökonomisch ohnmächtige Klasse davon abgehalten werden müsse, von der politischen zur sozialen Demokratie voranzuschreiten, also die Ökonomie zu demokratisieren. Mit Hume gefragt: Warum finden sich die „Unteren“ mit der Herrschaft in einer Wirtschaftsweise ab, die andere privilegiert, d.h. zu extremer sozialer Ungleichheit führt? Das Problem einer demokratisch verfassten bürgerlichen Gesellschaft besteht also darin, die Reproduktion eben dieser Gesellschaft einschließlich der Eigentums- und Aneignungsverhältnisse unter Bedingungen von sozialer Ungleichheit und ungleicher ökonomischer Macht zu sichern. 1. Halbierte Demokratie und strukturelle Dependenz Ein zentrales Element der Stabilisierung von Herrschaftsverhältnissen unter den Bedingungen des allgemeinen Wahlrechts ergibt sich aus der Trennung von Politik und Ökonomie. Wir haben die Affinität von Demokratie und Kapitalismus verkürzt auf die Affinität von Parlamentarismus und Kapitalismus. 332 Demokratie ist in der bürgerlichen Gesellschaft immer halbierte Demokratie, sie ist beschränkt auf die politische Sphäre, auf den Staat, und erstreckt sich nicht auf „das System der Bedürfnisse“, also auf die Ökonomie. Während die politische Macht demokratisch, parlamentarisch konstituiert und legitimiert wird, bleibt die ökonomische Macht jenseits demokratischer Legitimation und wird nicht demokratisch konstituiert. Trennung von politischer und ökonomischer Sphäre als konstituierendes Merkmal der bürgerlichen Gesellschaft ist verbunden mit der Unterscheidung von Öffentlichem und Privatem – eine Unterscheidung, die weitgehend willkürlich und eine „Errungenschaft“ der Moderne ist. Der mittelalterliche Fürst konnte nicht auf öffentliche Ressourcen – gleich welcher Art – zurückgreifen, sein privater war auch der staatliche Haushalt. Die Differenzierung von privat und öffentlich entwickelt sich mit dem Auseinanderfallen von der politischen und ökonomischen Macht, d.h. mit dem ökonomischen Aufstieg des Bürgertums. Das Bürgertum verlangte – ebenso wie Teile des Adels – von der Zentrale die Sicherung einer eigenständigen Sphäre, eines Bereichs eigener, das heißt privater Angelegenheiten, in die der Staat nicht eingreifen darf. Rechtlich abgesichert wird dieser Bereich durch die Grund- und Menschenrechte. Das „System der Bedürfnisse“, also der gesamte Bereich ökonomischer Beziehungen, fällt in der bürgerlichen Gesellschaft in diesen Bereich der rechtlich geschützten Privatsphäre, das heißt er wird vom Öffentlichen gesondert und dem Zugriff des Öffentlichen entzogen. Im Bereich des Öffentlichen werden allgemein verbindliche Entscheidungen getroffen, während im Bereich des Privaten – so scheint es – nur individuell oder allenfalls gruppenspezifisch verbindliche Entscheidungen getroffen werden. Die Forderung nach Teilhabe, nach Partizipation bezieht sich so zunächst auf den Bereich des Öffentlichen, den Bereich der Politik, und diese Forderung entsteht, weil die ökonomische Macht von der politischen besondert ist, gleichzeitig aber nicht ohne sie kann. Anders gesagt: Das konstitutive Merkmal der bürgerlichen Gesellschaft, die Trennung von Politik und Ökonomie, hat zur Folge, dass demokratische Teilhabe überhaupt auf der geschichtlichen Agenda erscheint und sich durchsetzen kann. Aber die Trennung führt gleichzeitig dazu, dass die ökonomischen Machtbeziehungen und Herrschaftsverhältnisse ausgeklammert werden und nicht als potentieller Bereich demokratischer Teilhabe erscheinen. Demokratie ist in der bürgerlichen Gesellschaft von vornherein eine halbierte Demokratie. Wichtige Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenlebens, das heißt von Entscheidungen, die für die Frage der Politik „Wie wollen wir leben?“ von eminenter Bedeutung sind, werden dem demokratischen Prozess entzogen und als Privates selbst vor dem Zugriff politischer Macht geschützt. Die 333 Affinität von Kapitalismus und Demokratie ist so von vornherein eine begrenzte. Der emphatische Begriff der Demokratie ist mit Kapitalismus unvereinbar. Eine demokratische Kontrolle ökonomischer Prozesse ließe die Ökonomie nicht als Bereich verdinglichter Gesetzmäßigkeiten bestehen, als Bereich, in dem das heteronom bestimmte Ziel, Verwertung von Wert, unbeschränkt herrscht. Kurz: Demokratische Kontrolle der Ökonomie hebt den Kapitalismus auf. Wenn man von der Affinität von Kapitalismus und Demokratie spricht, ist immer nur die Affinität von Kapitalismus und halbierter Demokratie, also Parlamentarismus, gemeint. Kapitalismus und Demokratie in dem oben diskutierten emphatischen Sinne schließen sich dagegen aus: In der bürgerlichen Gesellschaft bezieht sich demokratische Teilhabe nur auf die politische Macht. Wir hatten weiter gesehen, dass aus dem Konkurrenzverhältnis eine Affinität von Kapitalismus und parlamentarischer Demokratie entspringt. Der Zugang zu allgemein verbindlichen Entscheidungen muss in einer Konkurrenzwirtschaft dem Gleichheitspostulat entsprechen, d.h. ein privilegierter Zugang zur politischen Macht widerspricht der Logik der bürgerlichen Gesellschaft: Entweder gibt es den gleichen Zugang aller Konkurrenten oder eben gar keinen – das wäre mit der Konkurrenzsituation vereinbar und eröffnet den zu diskutierenden Spielraum für den Weg in autoritäre Regime. Demokratie in der bürgerlichen Gesellschaft ist verbunden mit dem gleichen Wahlrecht – jedenfalls für die ökonomisch mächtigen Männer. Die Konkurrenzbeziehungen sind aber im entwickelten Kapitalismus keineswegs gleich, wobei es offen bleiben kann, ob das jemals der Fall war oder nur eine theoretische Konstruktion, ob man im „liberalen Kapitalismus“ von der Existenz annähernd gleich starker Unternehmen sprechen kann. Gegenwärtig jedenfalls gibt es offensichtliche Unterschiede mit Blick auf die ökonomische Bedeutung und Macht einzelner Unternehmen. Der Oetker-Konzern ist in keiner Weise mit dem eigenständigen Bäcker in Bielefeld zu vergleichen. Die ökonomische Bedeutung unterscheidet sich eklatant und aus dieser ökonomischen Bedeutung folgt eine ungleiche politische Bedeutung. Ökonomische Macht meint zunächst die auf ökonomischem Kapital beruhende relative Stärke, in einem Beziehungsgeflecht Interessen durchzusetzen. Aber – Bourdieus Kapitalbegriff folgend – gehen wir davon aus, dass ökonomisches Kapital in politisches Kapital transformiert werden kann. Das heißt, es gibt eine Konvertibilität von ökonomischer und politischer Macht. Folgt man dem Alltagsverstand, vollzieht sich diese Transformation von ökonomischer in politische Macht bei funktionaler Trennung der Bereiche mittels lobbyistischer Einflussnahme und – im Extremfall – durch Korruption. Politiker werden in dieser Vorstellung durch materielle Vergünstigungen mehr oder weni334 ger direkt beeinflusst. Diese Vorstellung findet man auch bei Engels, der schrieb: In der demokratischen Republik „übt der Reichtum seine Macht indirekt, aber um so sichrer aus. Einerseits in der Form der direkten Beamtenkorruption …, andrerseits in der Form der Allianz von Regierung und Börse, die sich umso leichter vollzieht je mehr die Staatsschulden steigen …“94 Nun ist es abwegig zu bestreiten, dass es direkte Korruption gibt. Aber sie schafft tendenziell kein günstiges Umfeld für eine kapitalistische Ökonomie, weil durch Korruption die Allgemeinheit des Gesetzes, dessen Bedeutung oben erläutert wurde, unterlaufen wird. Entwickelte und fortgeschrittene bürgerliche Gesellschaften schränken Korruption nach Möglichkeit ein, was nicht heißt, dass dies vollständig gelingt. Von der Korruption, der Bestechung, die strafrechtlich verfolgt wird, unterscheidet sich das Phänomen, das als Lobbyismus diskutiert wird. Lobbys arbeiten zwar auch mit materiellen Vorteilen, aber der Zusammenhang zwischen Vorteil und erwarteter Entscheidung bleibt regelmäßig indirekt oder wird verschleiert. Lobbyismus gründet vor allem auf „sozialem Kapital“, womit Bourdieu soziale Beziehungen, Mitgliedschaften in (exklusiven) Vereinen, den Bekanntheitsgrad einer Person oder eines Namens meint. Es ist eben nicht die Bestechung, die es ermöglicht, Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen, sondern die persönlichen Beziehungen, die sich aus Zugehörigkeiten zu exklusiven Gruppen ergeben oder – im Falle der Lobbys – der bewusst gesuchte und gepflegte Kontakt, das bewusst organisierte Netzwerk. Der privilegierte Zugang und die mögliche Einflussnahme auf politische Entscheidungen sind die Profite, die dem sozialen Kapital entspringen. „Die Profite, die sich aus der Zugehörigkeit zu einer Gruppe ergeben, sind zugleich Grundlage für die Solidarität, die diese Profite ermöglichte. Das bedeutet nicht, dass sie bewusst angestrebt werden – nicht einmal in den Fällen, wo bestimmte Gruppen, z.B. exklusive Clubs, offen darauf ausgerichtet sind, Sozialkapital zu konzentrieren und dadurch den Multiplikatoreneffekt voll auszunutzen, der sich aus dieser Konzentration ergibt.“95 Weil ökonomisches Kapital in soziales Kapital transferiert werden kann, wird diese spezielle Art von Profit erzielt. Wichtig für die Relation von Kapitalismus und Demokratie ist dabei, dass die vorausgesetzte Gleichheit in der Teilhabe, die Gleichheit als Voraussetzung demokratischer Partizipation, durch diese Form des privilegierten Zugangs unterlaufen wird. Es geht – gegen den Eindruck, der in der öffentlichen Diskussion oft vermittelt wird – nicht darum, dass sich Interessen artikulieren oder dass Parla94 Engels, Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, MEaW VI, S. 191. 95 Bourdieu, Die verborgenen Mechanismen der Macht, S. 64 f. 335 mentarier partikulare Interessen vertreten. Das gehört zu den Spielregeln der parlamentarischen Demokratie. Der Abgeordnete als Interessensvertreter des ganzen Volkes, wie das Grundgesetz es fordert, ist eine Chimäre, welche vordemokratischen Unterstellungen der Einheitlichkeit des Volkes entspringt. Das Problem des Lobbyismus ist der privilegierte Einfluss auf politische Entscheidungen, der meist Resultante der ungleichen Verteilung ökonomischer Macht ist. Ungleiche ökonomische Macht führt so zur Ungleichheit der demokratischen Partizipation. Vordenker des Bürgertums haben diese Ungleichheit keineswegs ausgeschlossen, vielmehr etwa durch ein ungleiches Wahlrecht institutionalisieren wollen. Das hat sich historisch nicht halten können. Gleicher Zugang und gleiche Partizipation wurden zur normativen Prämisse in den parlamentarischen Demokratien der bürgerlichen Gesellschaft. Trotzdem lässt sich festhalten, dass die ökonomische Ungleichheit im Kapitalismus tendenziell zu ungleichen Einflussnahmen auf politische Entscheidungen führt, der Kapitalismus also die normativen Prämissen auch der parlamentarischen Demokratie untergräbt. Ökonomische Macht ist in politische Macht konvertibel, wobei die Wechselkurse in den bürgerlichen Gesellschaften sehr unterschiedlich sind. Die Dimension mit den Geldspenden der Finanz- und Großunternehmen in den USA den Wahlkampf beeinflussen, um anschließend entsprechende Rücksichtnahmen einzufordern, ist in Europa weitgehend unbekannt. Schließlich sind inhaltliche Beschränkungen parlamentarischer Entscheidungsfreiheit ebenfalls unter die Abstoßungseffekte von Demokratie und Kapitalismus zu subsumieren. Neben das normative Postulat von Gleichheit tritt auch im parlamentarischen System das Freiheitspostulat; Wähler sollen ebenso frei sein wie die Parlamentarier in ihren Entscheidungen. Die Freiheit und Gleichheit des Marktteilnehmers reproduziert sich in der freien Gleichheit des homo politicus. Freiheit meint dabei zunächst das Fehlen von äußeren Zwängen, also etwa die Stimmabgabe ohne individuelle Nötigung. Im Gesamtbild führt diese Form der Freiheit dann zur Autonomie der Rechtsetzung. Die Gesetzgebung soll frei von äußeren Zwängen sich vollziehen, dem freien Gewissen des Parlamentariers entspringen – so das normative Postulat des Grundgesetzes. Keine Sorge, hier soll nicht der Fraktionszwang als Widerspruch zu diesem normativen Postulat diskutiert werden – das Problem liegt tiefer. Strukturelle Zwänge bleiben prinzipiell außerhalb des bürgerlichen Rechtshorizonts. „Geld hat man zu haben“, lernt das Erstsemester im tiefsten Ernst einer bürgerlich-rechtlichen Vorlesung. Ebenso bleiben strukturelle Zwänge im Kontext gesetzgeberischer Entscheidungen außerhalb jeder normativen verfassungsrechtlichen Betrachtung zur Freiheit des Parlaments. Die kapitalistische Ökonomie dreht sich um die Verwertung von 336 Wert und funktioniert nur störungsfrei, solange sich der Mehrwert in immer neuen Schleifen realisieren lässt, solange sich das eingesetzte Kapital verzinst. Oder: Im Kapitalismus muss die Wirtschaft wachsen oder sie schrumpft und gerät in einen krisenhaften Abwärtsprozess. Die Alternative „Wachstum oder Krise“ determiniert dabei keineswegs nur den ökonomischen Mechanismus. Die Politik ist unmittelbar und mittelbar darauf angewiesen, dass die Ökonomie „rund läuft“, also Wachstum produziert wird. Die unmittelbare Dependenz ergibt sich aus dem Zusammenhang von Boom-Depression und den Steuereinnahmen. Bei gleichbleibenden Ausgaben, etwa den Personalkosten, führen sinkende Steuereinnahmen unmittelbar ins Haushaltsdefizit und selbst bei gleichbleibenden Steuereinnahmen hat der Haushaltsgesetzgeber ein Problem, weil den Beschäftigten im öffentlichen Dienst jede Lohnerhöhung verweigert werden müsste. Solche „Nullrunden“ stoßen aber regelmäßig und – zu recht – auf erbitterten Widerstand der Beschäftigten. Von den Steuereinnahmen hängt – das ist eigentlich nicht zu erwähnen – der politische Gestaltungsspielraum und letztlich die Existenz des bürokratischen Apparates und des politischen Systems ab. Mittelbar besteht die Dependenz, weil in parlamentarischen Systemen Parteien nur Mehrheiten gewinnen und halten können, wenn sie eine stabile soziale Situation gewährleisten oder ihnen diese Fähigkeit zumindest zugeschrieben wird. Das hängt letztlich von der wirtschaftlichen Prosperität ab. Der Zusammenhang ist vergleichsweise banal und aktiven Politikern durchaus bewusst. Politische Entscheidungen sind so im Ergebnis strukturellen Zwängen unterworfen; Prämisse jeder weiteren Entscheidung ist die Notwendigkeit, die kapitalistische Wachstumsdynamik in Gang zu halten. Das kann in unterschiedlicher Weise geschehen, das heißt es kann darüber politisch gestritten werden, wie diese Dynamik aufrechterhalten wird; aber die Prämisse lässt sich nicht negieren oder ignorieren. Kapitalismus ohne Wachstum gerät in einen krisenhaften Prozess und fegt alle politischen Akteure, die auf Nullwachstum setzen, von der politischen Macht hinweg. Die Grünen in der Bundesrepublik haben dies vergleichsweise schnell gelernt. Politische Entscheidungen sind in ihrer Substanz so keineswegs frei, wie das normative Bild dies fordert. Sie sind beschränkt durch die von der kapitalistischen Ökonomie erzwungene Wachstumsdynamik. Am Ende führt diese Dependenz auch zu einem ungleichen Zugang zu Entscheidungen oder Einfluss auf die Entscheidungsträger. Die Interessenvertreter „der Wirtschaft“ haben sich im öffentlichen Diskurs abgewöhnt, über das Allgemeinwohl zu diskutieren oder Argumente ins Feld zu führen, welche die Allgemeinverträglichkeit einer politischen Maßnahme stützen könnten, um ihr Anliegen zu stärken. Sie erklären schlicht: „Das schadet unseren Interessen, wir lehnen es deshalb ab.“ 337 Und sie dringen mit diesem Statement in der Politik durch. Man stelle sich vor, ein Motorrad Club würde in ähnlicher Weise argumentieren, er erntete Hohn und Gelächter. Ökonomische Macht wird in politische Macht konvertierbar, schafft einen ungleichen Zugang zu Entscheidungen aufgrund der strukturellen Dependenz der Politik. Grundlage sind Beschränkungen des politischen Entscheidungs- und Gestaltungsspielraums durch die heteronomen Gesetzmäßigkeiten der Ökonomie. Das ist mit dem Freiheits- und Gleichheitsanspruch, der im parlamentarischen System erhoben wird, nicht vereinbar. Die kapitalistische Ökonomie produziert Effekte, die im Widerspruch zu den normativen Postulaten parlamentarischer Systeme stehen. 2. Autoritäre Sicherung ökonomischer Macht Marx konstatierte, dass die ökonomisch Mächtigen davon abgehalten werden müssen, zur Restauration zurückzuschreiten, denn bei allgemeinem Wahlrecht besteht tendenziell die Möglichkeit, dass die ökonomisch Ohnmächtigen politische Mehrheiten erringen. Die Frage, wie die ungleichen gesellschaftlichen Verhältnisse gegen den Fortschritt zur sozialen Republik oder sozialen Demokratie zu sichern sind, legt eine Antwort nahe, die wenig geheimnisvoll ist: Zur Sicherung der Eigentums- und Aneignungsverhältnisse wird auf autoritäre oder gar faschistische Herrschaftsformen zurückgegriffen. Die ökonomisch mächtigen Klassen sind durch die existierenden Eigentums- und Aneignungsverhältnisse privilegiert, kommen in den Genuss materieller oder ideeller Vorteile, die sie auch mit Gewalt verteidigen, wenn ihre gesellschaftliche Stellung grundsätzlich zur Disposition gestellt, also angegriffen wird. Bei genauerem Hinsehen bemerkt man aber, dass zumindest erklärungsbedürftig ist, wer da auf Repression und die autoritäre Beseitigung demokratischer Teilhabe zurückgreift, also zur „politischen Restauration“ zurückgeht. Ist doch vorausgesetzt, dass politische und ökonomische Macht in der bürgerlichen Gesellschaft getrennt sind. Der Rückschritt vollzieht sich zunächst auf der politischen Ebene, die – so scheint die Trennungsthese nahe zu legen – kein unmittelbares, eigenes Interesse an der Kontinuität der bestehenden Eigentumsund Aneignungsverhältnisse hat oder haben sollte. Aber sie hat ein Interesse an der Aufrechterhaltung oder Sicherung der eigenen Macht, die nicht zuletzt mit individuellen Vorteilen verbunden ist, die zwar nur mittelbar aus den bestehenden Eigentumsverhältnissen entspringen; aber diese mittelbare Abhängigkeit ist im politischen System durchaus bewusst. Der Steuerstaat macht die Sicherung der 338 politischen Macht oder auch nur der eigenen Position im politischen System von der Existenz der Eigentumsverhältnisse – schlimmer noch – von der Prosperität der Ökonomie, d.h. vom ökonomischen Wachstum abhängig. Die Trennung von Politik und Ökonomie ist nur eine relative, weil die Politik für die Reproduktionsbedingungen des Gesamtsystems verantwortlich ist oder diese – regelmäßig auch in eigenem Interesse – gewährleisten muss. Zu den Reproduktionsbedingungen gehört nicht nur, Rahmenbedingungen für Wachstum zu setzen, sondern auch die Bereitstellung ausreichender Bildungseinrichtungen, von Infrastruktur, von Schutzmaßnahmen für die Umwelt und anderes. Man kann so von einer materiellen Koppelung von Politik und Ökonomie bei gleichzeitiger funktionaler Trennung sprechen. Das eigene Interesse oder die Eigengesetzlichkeit der politischen Macht lassen es als eine Option erscheinen, die Stabilität des Systems repressiv oder autoritär abzusichern. Autoritäre oder repressive Herrschaftssicherung ist nicht auf Zustimmung, also empirische Legitimität angelegt; es reicht, die potentielle oder auch noch vermutete Gefahr für das System durch Gewalt, Polizei, Militär, Gefängnisstrafen usw. zu unterdrücken. Repressiv autoritäre Absicherung erscheint als ein Modus der Herrschaftssicherung oder Stabilisierung des Gesamtzustandes der bürgerlichen Gesellschaft. Marx, Engels und Lenin analysieren die Klassenherrschaft an verschiedenen Stellen als Repression und blutige Unterdrückung der Arbeiterbewegung. Marx schreibt: „In dem Maß, wie der Fortschritt der modernen Industrie den Klassengegensatz zwischen Kapital und Arbeit entwickelte, erweiterte, vertiefte, in demselben Maß erhielt die Staatsmacht mehr und mehr den Charakter einer öffentlichen Gewalt zur Unterdrückung der Arbeiterklasse, einer Maschine der Klassenherrschaft.“96 Und an anderer Stelle heißt es: „Ist einmal das Ziel der proletarischen Bewegung, die Abschaffung der Klassen erreicht, so verschwindet die Gewalt des Staates, welche dazu dient, die große produzierende Mehrheit unter dem Joche einer wenig zahlreichen ausbeutenden Minderheit zu halten, und die Regierungsfunktionen verwandeln sich in einfache Verwaltungsfunktionen.“97 Für Lenin ist der Staat ausschließlich ein „Organ der Klassenherrschaft, ein Organ zur Unterdrückung der einen Klasse durch die andere, ist die Errichtung derjenigen ‘Ordnung’, die diese Unterdrückung sanktioniert und festigt.“98 Und er folgert für den Einsatz von Gewalt: „Im Kapitalismus haben wir den Staat im eigentlichen Sinne des Wortes, eine besondere Maschine zur Unterdrückung einer Klasse durch eine 96 Marx, Bürgerkrieg in Frankreich, MEaW IV, S. 71 f. 97 Marx/Engels, Die angeblichen Spaltungen in der Internationale, MEW Bd. 18, S. 50. 98 Lenin, Staat und Revolution, Ausgewählte Werke (LaW), S. 290. 339 andere, und zwar der Mehrheit durch eine Minderheit. Damit eine solche Sache wie die systematische Unterdrückung der Mehrheit der Ausgebeuteten durch die Minderheit der Ausbeuter erfolgreich ist, bedarf es natürlich der größten Grausamkeiten und bestialischer Unterdrückung, sind Meere von Blut nötig.“99 Die historischen Situationen, in denen Marx, Engels und Lenin die Politik staatlicher Herrschaftssicherung beschrieben, waren durch eine Dominanz von Repression gegenüber sozialistischen und auch demokratischen Bewegungen gekennzeichnet. Das gilt für Deutschland mit Blick auf die Demagogenverfolgung im Vormärz und ebenso für die Restauration nach der gescheiterten Revolution 1848. Marx bezog sich außerdem auf den Bürgerkrieg in Frankreich, das Scheitern der Pariser Kommune 1871 – auch hier bestand die Antwort in repressiven Maßnahmen gegen die französischen Arbeiter und dann auch gegen die deutsche Sozialdemokratie, die durch Bismarcks Sozialistengesetze (18781890) verboten wurde. Die Repression im zaristischen Russland, die Lenin bei seiner Bewertung staatlicher Funktionen vor Augen hatte, muss ebenfalls nicht weiter erläutert werden. Repression als hervorstechendes Merkmal staatlicher Herrschaftssicherung trifft die Situation Kontinentaleuropas in der Mitte des 19. Jahrhunderts und die Situation Russlands um die Jahrhundertwende. Repression zur Absicherung politischer und ökonomischer Interessen und zur Stabilisierung des Systems der bürgerlichen Gesellschaft war und ist in unterschiedlichem Ausmaß Mittel staatlicher Politik, wobei sich die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass die Organisationen von Zustimmung, die Beschaffung von Legitimität in den kapitalistischen Zentren eine sicherere Methode zur Stabilisierung der bürgerlichen Gesellschaft ist. Herrschaft lässt sich nur begrenzte Zeit ausschließlich auf Gewalt stützen, das hat schon Weber festgestellt. Verschiedene Varianten der Erzeugung von Legitimität werden weiter unten diskutiert. Sie lösen sich und Repression nicht in dem Sinne ab, dass diese verdrängt wird, nicht mehr vorkommt, aber sie tritt in den Hintergrund und wechselt ihren Charakter. Zahlreiche Beispiele gibt es dafür, dass ein Teil des politischen Establishment und des Staatsapparates ein autoritäres Regime im Putsch gegen eine sozialistische Regierung durchsetzte, wobei geostrategische Interessen der kapitalistischen Zentren ins Kalkül zu ziehen sind. Insbesondere die Monroe Doktrin der USA führte dazu, dass diese sich an verschiedenen Putschaktionen und gewaltsamer Entmachtung unliebsamer, in der Regel sozialistischer Regime in Südamerika beteiligten. Die Beispiele reichen von der Franco-Diktatur in Spanien über Pinochets Putsch in Chile, bis zur Errichtung autoritärer Regime in Griechenland 99 Lenin, Staat und Revolution, Ausgewählte Werke (LaW), S. 552. 340 durch die Diktatur der Obristen. Als autoritär wird auch die Durchsetzung einer Autoritätspolitik gegenüber Griechenland durch die „Troika“, das heißt durch europäische Institutionen geführt von der deutschen Regierung in den Jahren 2014/15 charakterisiert. Diese Variante autoritärer Herrschaft unterscheidet sich offenbar von den vorher genannten, in denen die staatsbürgerlichen Rechte außer Kraft gesetzt und die Opposition gewaltsam, physisch verfolgt wurde. Gewaltsame Repression spielt im Wirtschaftsregime der EU (bisher) keine Rolle – so scheint es sinnvoll zwischen Diktaturen, autoritärem Staat einerseits und der neuen Form autoritärer Wirtschaftsregierung zu unterscheiden. Letztere hebt die parlamentarische, demokratische Kompetenz auf, lässt aber die staatsbürgerlichen Rechte in Kraft – ihre Wahrnehmung bleibt in doppeltem Sinne folgenlos. Eine weitere Unterscheidung ist wichtig: Zu differenzieren ist zwischen autoritären Diktaturen und faschistischen Diktaturen. Autoritärer Staat und Faschismus können, aber müssen sich nicht mit Blick auf den Umfang der Repression unterscheiden. Dabei kann der zunächst graduelle Unterschied in eine unterschiedliche Qualität umschlagen, was im Falle der NS-Diktatur zutrifft. Die geradezu paranoide Vernichtung der Juden unterscheidet dieses Regime auch vom italienischen Faschismus und begründet die Singularität der NS-Verbrechen. Es gibt einen relevanten Unterschied auch zwischen dem italienischen Faschismus und zum Beispiel der chilenischen Diktatur unter Pinochet. Der Faschismus stützt sich nicht nur auf Repression, sondern auch auf eine antimodernistische Massenbewegung, verschafft sich also eine spezifische Form der Zustimmung. Insofern bestehen Parallelen zu den islamistischen „Bewegungen“ der Gegenwart – sie sind zumindest auch Antwort auf eine verspätete Modernisierung oder einen verspäteten Weg zum Kapitalismus in der arabischen Welt. Die Zustimmung zum Hitlerfaschismus in der deutschen Bevölkerung wurde weitgehend unwidersprochen auf ca. 75 % geschätzt – natürlich vor Kriegsbeginn. Teile der bürgerlichen Eliten haben, das ist bekannt, die faschistische Machtübernahme in Deutschland unterstützt oder aktiv betrieben, was mit Blick auf den Einsatz finanzieller Ressourcen und der Verfügung über Massenmedien in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzen ist. Das heißt: der Rückschritt zur politischen Reaktion war im Interesse und wurde von Teilen der ökonomischen Eliten mitbetrieben. An dieser Stelle müssen wir – aus einem anderen Blickwinkel – auf Marx Analysen zum Bürgerkrieg in Frankreich zurückkommen. Er konstatiert dort, dass die Restauration zwar im Interesse der ökonomisch mächtigen Klassen erfolgte, aber erstens personell nicht von diesen getragen wurde und zweitens von diesen entfernte unabhängige, eigene Interessen entwickelte, die sich durchaus von den Interessen der Bourgeoisie unterscheiden konnten. Marx beschreibt 341 die Entwicklung der revolutionären Situation des Jahres 1848 in Frankreich und wundert sich, dass große Teile der Bauern und Kleinbürger zu den alten Formen des Kaisertums zurückkehren wollten und Charles-Louis-Napoléon Bonaparte zuerst zum Präsidenten wählten, um 1852 schließlich zu akzeptieren oder sogar zu feiern, dass er sich zum Kaiser proklamierte und damit an die schon unter Napoleon I toten Traditionen der Monarchie anknüpfte. Marx schreibt: „Das allgemeine Stimmrecht besaß nicht die magische Kraft, welche ihm die Republikaner alten Schlages zugetraut hatten. In ganz Frankreich, wenigstens in der Majorität der Franzosen, erblickten sie Citoyens mit denselben Interessen, denselben Einsichten usw. Es war dies ihr Volkskultus. Statt ihres eingebildeten Volkes brachten die Wahlen das wirkliche Volk ans Tageslicht, d.h. Repräsentanten der verschiedenen Klassen, worin es zerfällt.“100 Mit dem – oben schon angesprochenen – Bonapartismustheorem führt er diese Form autoritärer Herrschaft auf ein Klassengleichgewicht zurück, dass es der autoritären Formation erlaubt, die Macht zu ergreifen – der starke Mann und der autoritäre Staat sind dabei nicht einfach „Instrumente der herrschenden Klasse“, sondern setzen ihre eigenen Interessen auch gegen die sozial herrschende Klasse durch. Die „bonapartistischen Kräfte“ okkupieren das Machtvakuum, das sich aus dem Gleichgewicht der Kräfteverhältnisse in den sozialen Auseinandersetzungen ergeben hat, wobei sie antimodernistische Reflexe, die Furcht vor dem Wandel, der mit der Durchsetzung der kapitalistischen Gesellschaft verbunden ist, aufgreifen, die „guten, alten Zeiten“, wie z.B. das Kaisertum beschwören, um so Kräfte zu bündeln, welche die Übernahme der politischen Macht ermöglichen. Engels fasst Marx Analyse so zusammen: „Der Bonapartismus ist die notwendige Staatsform in einem Lande, wo die Arbeiterklasse, auf einer hohen Stufe ihrer Entwicklung in den Städten, aber an der Zahl überwogen von den kleinen Bauern auf dem Lande, in einem großen revolutionären Kampf von der Kapitalistenklasse, dem Kleinbürgertum und der Armee besiegt worden ist. Als in Frankreich in dem Riesenkampfe vom Juni 1848 die Pariser Arbeiter besiegt waren, hatte sich zugleich die Bourgeoisie an diesem Siege vollständig erschöpft. Sie war sich bewusst, keinen zweiten solchen Sieg ertragen zu können. Sie herrschte noch dem Namen nach, aber sie war zur schwach zur Herrschaft. An die Spitze trat die Armee, der eigentliche Sieger, gestützt auf die Klasse, aus der sie sich vorzugsweise rekrutierte, die kleinen Bauern, welche Ruhe haben wollten vor den Städtekrawallern. Die Form dieser Herrschaft war selbstredend der militärische Despotismus, ihr natürlicher Chef der angestammte Erbe desselben, Louis Bonaparte. Gegenüber den Arbeitern wie den Kapitalisten zeichnet sich der Bonapartismus dadurch aus, dass er sie verhindert, aufeinander loszuschlagen. Das heißt, er schützt 100 Marx, Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1850, MEaW II, S. 31. 342 die Bourgeoisie vor gewaltsamen Angriffen der Arbeiter, begünstigt ein kleines friedliches Plänkelgefecht zwischen beiden Klassen und entzieht im übrigen den einen wie den anderen jede Spur politischer Macht.“101 Otto Bauer und Otto Kirchheimer haben im Anschluss an Marx die Entwicklung der Weimarer Republik und den deutschen Faschismus bonapartistisch interpretiert. Kirchheimer sieht zunächst die staatliche Bürokratie und den Reichspräsidenten als Usurpator der politischen Macht, wo sich das Parlament wegen unüberbrückbarer Klassengegensätze selbst ausgeschaltet hat. Er schreibt: „Aber seit das monarchische Legitimitätsprinzip der parlamentarischen Monarchie Platz gemacht hat, ist die Legitimität lediglich noch ein Symbol für die durch die parlamentarische Regierung präsentierte National- und Sozialordnung. Heute bahnt sich jedoch in Deutschland die Herrschaft einer neuen legitimen Macht an. Die Schwierigkeiten einer klassengespaltenen Demokratie haben die Machtstellung des Berufsbeamtentums im gegenwärtigen Augenblick der Ohnmacht des Gesetzgebungsstaates zu einer Schlüsselstellung schlechthin gemacht.“102 Aber die neue Machtstellung von Teilen des Staatsapparates lässt die Eigentums- und Aneignungsverhältnisse im Wesentlichen unangetastet, d.h. die Ausschaltung des Parlaments und die Stilllegung der Demokratie dienen im Ergebnis der Aufrechterhaltung bestehender ökonomischer Machtverhältnisse. So folgert Kirchheimer: „Indem die ökonomischen Mächte, in die Form politischer Parteien gekleidet, vom Parlament Besitz ergriffen, handhabten sie zwar dessen Technik als vereinfachtes und relativ friedliches Mittel des Klassenkampfes, falls sie ihnen Vorteile gewährte, dachten aber keineswegs daran, sich ihr zu unterwerfen, wenn sich diese Technik in der Form von Mehrheitsbeschlüssen gegen sie zu wenden drohte.“103 Otto Bauer geht ganz ähnlich von einem Kräftegleichgewicht der Klassen aus, das ein Machtvakuum erzeugt, in das die Nazis vorstoßen konnten. Die Wirtschaftskrisen der Nachkriegszeit hätten „breite Massen von Kleinbürgern und Bauern verelendet. Diese Massen, pauperisiert und erbittert, fielen von den bürgerlich-demokratischen Massenparteien … ab, sie wandten sich enttäuscht und hasserfüllt gegen die Demokratie.“104 und damit den faschistischen Partei101 Engels, Die preußische Militärfrage und die deutsche Arbeiterpartei, MEaW III, S. 57 f. 102 Kirchheimer, Legalität und Legitimität (1932), in: ders.: Politische Herrschaft – Fünf Beiträge zur Lehre vom Staat, S. 8. 103 Kirchheimer, Weimar und was dann? Analyse einer Verfassung (1930), in: ders.: Politik und Verfassung, S. 28. 104 Bauer, Zwischen zwei Weltkriegen?, S. 114 343 en zu. Weiter „haben die Wirtschaftskrisen der Nachkriegszeit die Profite der Kapitalisten gesenkt“105, die sie durch Steigerung des Grades der Ausbeutung wiederherstellen wollten. Dazu müsse der Widerstand der Arbeiterbewegung gebrochen werden und schließlich die Demokratie zerschlagen werden, was mit Hilfe der faschistischen Organisationen geschehen sei, die deshalb von der Kapitalistenklasse finanziell unterstützt und mit Waffen ausgestattet worden seien. „Aber der Faschismus wächst, so begünstigt, den kapitalistischen Klassen bald über den Kopf. … Auch in Deutschland trat der Augenblick ein, in dem Junker und Kapitalisten nur noch die Wahl hatten, den Faschismus niederzuwerfen und dadurch die Machtverhältnisse mit einem Schlage zu Gunsten der Arbeiterklasse zurückzuverschieben, oder die Staatsmacht dem Faschismus zu übergeben. In dieser Lage entschied die junkerliche Umgebung Hindenburgs für die Übergabe der Staatsmacht an Hitler.“106 Auf der anderen Seite habe zwar eine starke Arbeiterbewegung gestanden, die die ökonomischen und politischen Interessen des Kapitals ernsthaft gefährdete, andererseits aber eine schwache reformistische Sozialdemokratie, die für den Erhalt der bürgerlichen Demokratie eintretend, die pauperisierten und von der Demokratie enttäuschten Massen nicht habe für sich gewinnen können. So sei ein Kräftegleichgewicht entstanden, in dem beide Klassen zu schwach gewesen seien, ihre politischen Ziele zu verwirklichen, dessen Nutznießer der Faschismus gewesen sei. Bauer schreibt: „Das Resultat dieses Gleichgewichts der Kräfte oder vielmehr der Schwäche beider Klassen ist der Sieg des Faschismus, der die Arbeiterklasse im Dienste der Kapitalisten niederwirft aber im Solde der Kapitalisten ihnen so über den Kopf wächst, dass sie selbst ihn schließlich zu unbeschränkten Herren über das ganze Volk und damit auch über sich selbst machen müssen.“107 Die Trennung von Ökonomie und Politik als Charakteristik der bürgerlichen Gesellschaft bleibt bestehen, aber es entwickeln sich zum Schutz der bestehenden Eigentums- und Aneignungsverhältnisse starke Kräfte, die auf eine Beseitigung der Demokratie drängen. So lässt sich der Widerspruch von potenzieller politischer und ökonomischer Macht als ein Faktor charakterisieren, der die Demokratie in der bürgerlichen Gesellschaft fragil erscheinen lässt, d.h. ein Abstoßungsverhältnis von Demokratie und Kapitalismus begründet. 105 Bauer, Zwischen zwei Weltkriegen?, S. 114 106 Bauer, Zwischen zwei Weltkriegen?, S. 114 107 Bauer, Zwischen zwei Weltkriegen?, S. 129 344 3. Despotie der Fabrik und autoritärer Charakter a) Despotie der Fabrik Wenn Freiheit und Gleichheit auf dem Markt eine überschießende Tendenz in Richtung Verallgemeinerung von Freiheit und Gleichheit des Staatsbürgers aufweisen, wird man der Despotie der Fabrik, der Hierarchie in der Fabrik die gegenteilige Tendenz bescheinigen müssen. Wenn die Marktfreiheit psychische Prozesse in Richtung Demokratie hervorruft, dann hat die Despotie der Fabrik gegenteilige Effekte, sie führt zur Einordnung, Unterordnung und Akzeptanz hierarchischer Verhältnisse. Wo das Rechtssubjekt zur Demokratie prädisponiert wird, ordnet sich der Arbeitskraftverkäufer unter, lernt die Unterordnung durch die Disziplin der Fabrik. Marx und Engels beschreiben die Despotie der Fabrik in kritischer Absicht, ohne jedoch Bezüge zur politischen Organisation herzustellen oder die Auswirkungen der Inkorporation der neuen Disziplin der Arbeit zu thematisieren. Engels schreibt: „Der mechanische Automat einer großen Fabrik ist um vieles tyrannischer, als es jemals die kleinen Kapitalisten gewesen sind, die Arbeiter beschäftigen. Wenigstens was die Arbeitsstunden betrifft, kann man über die Tore dieser Fabriken schreiben: Lasst alle Autonomie fahren, die Ihr eintretet! Wenn der Mensch mit Hilfe der Wissenschaft und des Erfindergenies sich die Naturkräfte unterworfen hat, so rächen diese sich an ihm, indem sie ihn, in dem Maße, wie er sie in seinen Dienst stellt, einem wahren Despotismus unterwerfen, der von aller sozialen Organisation unabhängig ist. Die Autorität in der Großindustrie abschaffen wollen, bedeutet die Industrie selber abschaffen wollen.“108 Autonomie als der Demokratie vorausgesetzte individuelle Selbstbestimmung findet in der Fabrik nicht statt – das muss nicht weiter diskutiert werden. Aber wieso sollte der Untertan der Fabrik zum selbstbestimmten Staatsbürger werden, wenn er die Fabriktore hinter sich lässt? An anderer Stelle stellt Engels die Verbindung zwischen der ‘Disziplin der Fabrik‘ und der Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft her, beschränkt die Tyrannei aber zunächst auf die Lohnarbeit. Er schreibt mit Blick auf die Einführung der Stechuhr und der Abzüge vom Lohn für diejenigen, die sich der Disziplin der Stechuhr nicht unterwerfen, also zu spät kommen. „Man wird mir sagen, solche Regeln seien notwendig, um in einer großen, geordneten Fabrik das nötige Ineinandergreifen der verschiedenen Manipulationen zu sichern; man wird sagen, eine solche strenge Disziplin sei hier ebenso notwendig wie bei der Armee – gut, es mag sein, aber was ist das 108 Engels, Von der Autorität, MEW Bd. 18, S. 306 f. 345 für eine soziale Ordnung, die ohne solche schändliche Tyrannei nicht bestehen kann?“109 Engels stellt an dieser Stelle den Zusammenhang von der Disziplin in der Fabrik und der militärischen Disziplin her. Marx fundiert beides in der Arbeitsteilung. Er schreibt: „Die technische Unterordnung des Arbeiters unter den gleichförmigen Gang des Arbeitsmittels und die eigentümliche Zusammensetzung des Arbeitskörpers aus Individuen beider Geschlechter und verschiedenster Altersstufen schaffen eine kasernenmäßige Disziplin, die sich zum vollständigen Fabrikregime ausbildet und die schon früher erwähnte Arbeit der Oberaufsicht, also zugleich die Teilung der Arbeiter in Handarbeiter und Arbeitsaufseher, in gemeine Industriesoldaten und Industrieunteroffiziere, völlig entwickelt.“110 Wir haben oben schon gesehen, dass Sombart die militärische Disziplin als eine der Quellen oder Ursprünge des kapitalistischen Geistes ausgemacht hat. Und er hat einen Zusammenhang hergestellt, der an dieser Stelle in Erinnerung zu rufen ist: Man müsse nicht annehmen, dass die Söldner später Fabrikarbeiter wurden, „dass dieselben Leute, die auf dem Exerzierplatz eingeübt waren, nun in der Fabrik die neue Kunst des sich Unterordnens verwertet hätten: schon das Beispiel, das die Armee gab, wirkte und der Geist, der in ihr herrschte, pflanzte sich doch wohl auch in der übrigen Bevölkerung fort.“111 Sombart nimmt an, dass die Disziplin den Kasernenhof verlässt und zum allgemeinen Charakterzug wird, d.h. sich in der Gesellschaft ausbreitet. Er bezieht dieses Ergebnis nicht auf den Staatsbürger, sondern zunächst nur auf den Fabrikarbeiter, aber es liegt nahe, die körperliche Einübung der Disziplin auf den Staatsbürger zu erweitern. b) Der autoritäre Charakter Die Frankfurter Schule hat diese Beobachtung im Typus des „autoritären Charakters“, den sie zur Erklärung der NS-Massenbewegung heranzieht, zusammengefasst. Als „autoritären Charakter“ bezeichnen Horkheimer und Adorno eine Anhäufung oder ein Zusammentreffen bestimmter Einstellungen bei Personen, die empirisch abzufragen sind und die sie in ihren berühmt gewordenen Studien in der F(aschismus)-Skala, die antidemokratischen Elemente in der Struktur des Charakters messen sollte, einordneten. Ursprünglich ist der Gedanke, dass autoritäre Einstellungen ein Massenphänomen sind und empirisch zu erfassen 109 Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, MEW Bd. 2, S. 400. 110 Marx, Das Kapital, MEW Bd. 23, S. 446-447. 111 Sombart, Studien zur Entwicklungsgeschichte des modernen Kapitalismus 2. Bd. Krieg und Kapitalismus, S. 30. 346 sind, von Wilhelm Reich und Erich Fromm entwickelt worden. Gemeinsam ist den Studien und Überlegungen, die sich im Einzelnen unterscheiden und zu Auseinandersetzungen oder gar Zerwürfnissen zwischen den genannten Forschern führten, dass sie versuchen, die Psychoanalyse für die Erklärung des deutschen Faschismus fruchtbar zu machen und von der individuellen Ebene, die Freud vorwiegend untersucht hatte, zu einer Massenpsychologie zu kommen. Wilhelm Reich hat in seiner Studie zur „Massenpsychologie des Faschismus“ einen ersten Anlauf unternommen, die nazistische Massenbewegung aus psychoanalytisch-gesellschaftskritischer Sicht zu interpretieren. Reichs Theorie kreist zentral um die Triebunterdrückung in der Zivilisation und speziell der bürgerlichen Gesellschaft. Freuds Psychoanalyse folgend verortet er die Triebunterdrückung in der frühkindlichen Phase, die in der bürgerlichen Gesellschaft von der Kleinfamilie geprägt werde. Dort werde das Kleinkind erzogen, seine sexuelle Lust, den Eros zu unterdrücken, es werde zu Ordnung, Sauberkeit und ähnlichen Sekundärtugenden, kurz: zur bürgerlichen Moral erzogen. Die Folge, es bilde sich ein gehemmter, autoritärer Charakter heraus, der sich in seiner Untertanenrolle wohl fühlt, Autoritäten vergöttert und das Schwache hasst. Reich schreibt: „Die moralische Hemmung der natürlichen Geschlechtlichkeit des Kindes, deren letzte Etappe die schwere Beeinträchtigung der genitalen Sexualität des Kleinkindes ist, macht ängstlich, scheu, autoritätsfürchtig, gehorsam, im autoritären Sinne ‘brav’ und ‘erziehbar’ … kurz, ihr Ziel ist die Herstellung des an die autoritäre Ordnung angepassten, trotz Not und Erniedrigung sie duldenden Untertans. Als Vorstufe dazu durchläuft das Kind den autoritären Miniaturstaat der Familie, an deren Struktur sich das Kind zunächst anpassen muss, um später dem allgemeinen gesellschaftlichen Rahmen einordnungsfähig zu sein. Die autoritäre Strukturierung des Menschen erfolgt … zentral durch Verankerung sexueller Hemmung und Angst am lebendigen Material sexueller Antriebe.“112 Fromm verwendet in seiner Studie „Die Furcht vor der Freiheit“ die Begriffe autoritärer und sado-masochistischer Charakter synonym. Diesen beschreibt er in folgender Weise: „Diese Terminologie ist auch dadurch gerechtfertigt, dass der Sado-Masochistische immer durch seine Einstellung zur Autorität gekennzeichnet ist. Er bewundert die Autorität und strebt danach, sich ihr zu unterwerfen; gleichzeitig aber will er selbst Autorität sein und andere sich gefügig machen. – Ein weiterer Grund für die Wahl dieser Bezeichnung: Das faschistische System nennt sich – auf Grund des überragenden Anteils der Autorität an seinem Aufbau – selber ein ’autoritäres’. Durch die Bezeichnung ’autoritärer 112 Reich, Die Massenpsychologie des Faschismus, S. 49. 347 Charakter’ deuten wir also zugleich auf die dem Faschismus zugrunde liegenden Persönlichkeitsanlagen.“113 Die autoritäre Persönlichkeit identifiziert sich, so Fromm, mit den Trägern der Macht, um seine eigene Ohnmacht zu vergessen oder zu kompensieren. Der autoritäre Charakter entwickele so einerseits das Bedürfnis nach Gehorsam und Unterwerfung, nach Erniedrigung – das ist der masochistische Teil – und auf der anderen Seite das Verlangen, auf der Seite der Gewinner zu stehen, etwas Besseres zu sein, sich selbst zu erhöhen und so andere zu unterdrücken – das ist der sadistische Teil. Fromm schreibt: „Der autoritäre Charakter gewinnt seine Kraft zu handeln, indem er sich an eine überlegene Macht anlehnt. Diese Macht ist unanfechtbar und unveränderlich. Mangel an Macht ist für ihn stets ein untrügliches Zeichen von Schuld und Minderwertigkeit, und wenn die Autorität, an die er glaubt, Zeichen von Schwäche erkennen lässt, so verwandelt sich seine Liebe und Achtung in Hass und Verachtung. (…) Nicht das Schicksal zu ändern, sondern sich ihm zu unterwerfen, macht den Heroismus des autoritären Charakters aus. Er glaubt an die Autorität, solange sie stark ist und Befehle erteilen kann. Letzten Endes wurzelt sein Glaube in seinem Zweifel und stellt den Versuch dar, diesen zu kompensieren.“114 Die Ursache für die Entwicklung der autoritären Persönlichkeit sieht Fromm anders als Reich. Er konstatiert, dass sich mit der bürgerlichen Gesellschaft für das Individuum neue Freiräume entwickelt haben. Während der mittelalterliche Mensch vielfältigen Zwängen und Bindungen unterworfen war, eröffneten sich, so Fromm, für den modernen Menschen vielfältige Möglichkeiten. Zwänge und Bindungen schufen aber gleichzeitig Sicherheit. Der Mensch kannte seinen Platz in der Welt, die Regeln standen fest und gaben Halt. So ist die Kehrseite des freien Lohnarbeiters für Fromm dessen Verunsicherung, die zu dem Gefühl von Ohnmacht und Einsamkeit geführt haben. Die Konsequenz beschreibt Fromm so: „Nachdem er die primären Bindungen, die ihm Sicherheit gaben, durchtrennt hat und der Welt als völlig separater Größe gegenübersteht, bleiben ihm zwei Möglichkeiten, den unerträglichen Zustand seiner Ohnmacht und Einsamkeit zu überwinden. Der eine Weg führt in die ‘positive Freiheit’. Der Mensch hat die Möglichkeit, spontan in Liebe und Arbeit mit der Welt in Beziehung zu treten und auf diese Weise seinen emotionalen, sinnlichen und intellektuellen Fähigkeiten einen echten Ausdruck zu verleihen. Auf diese Weise kann er mit seinem Mitmenschen, mit der Natur und mit sich selbst wieder eins werden, ohne die Unabhängigkeit und Integrität seines individuellen Selbst aufzugeben. Der andere 113 Fromm, Die Furcht vor der Freiheit, S. 163. 114 Fromm, Die Furcht vor der Freiheit, S. 317 f. 348 Weg, der ihm offen steht, ist der zu regredieren, seine Freiheit aufzugeben und den Versuch zu machen, seine Einsamkeit dadurch zu überwinden, dass er die Kluft, die sich zwischen seinem Selbst und der Welt aufgetan hat, zu beseitigen. Dieser zweite Weg kann niemals zu einer solchen Einheit mit der Welt führen, wie sie war, bevor der Mensch zum ‘Individuum’ wurde, denn seine Lostrennung lässt sich nicht rückgängig machen. Es handelt sich um eine Flucht aus einer unerträglichen Situation, die ein Weiterleben auf Dauer unmöglich machen würde.“115 Der autoritäre Charakter ist so eine Form der Regression, die Ergebnis der „Furcht vor der Freiheit“ ist. Moderner formuliert: Die Unübersichtlichkeit und Komplexität der modernen Welt lässt das desorientierte Individuum nach Zufluchtsorten, Haltepunkten und Orientierung suchen, die es in der Autorität findet. Fromm entwickelt gleichsam eine Massenpsychologie der Modernisierungsverlierer oder derjenigen, die fürchten, auf der Verliererseite zu stehen. Aber er zeigt gleichzeitig die Alternative in dieser Furcht auf, die Entwicklung eines solidarischen Charakters. Der Grund, warum der autoritäre und nicht der solidarische Weg eingeschlagen wird, liegt am Ende in der Gesamtstruktur der bürgerlichen Gesellschaft. Man könnte sagen in der Form einer allgemeinen Disziplinierung, die sich Foucault zum Thema gemacht hat. c) Normalisierung der Körper Michel Foucault hat sein Leben dem Nachweis gewidmet, dass der Kapitalismus durch die staatlichen Institutionen von der Disziplinierung, die am Körper ansetzt, indem dieser gemartert wird, zur Selbstdisziplinierung und Normalisierung der Körper voranschreitet. Das System der Herrschaft wird gleichsam verfeinert. Von der Vernichtung der Rechtsbrecher oder Abweichenden schreitet man voran zu seiner Disziplinierung und schließlich zur internalisierten Selbstdisziplin. Foucault zeigt in seinen Werken, dass der Rechtsbruch bis in die frühe Neuzeit öffentlich ausgestellt wurde. Strafe war körperlich. Kontrolle und Macht über Körper wurden demonstriert. Der Delinquent wurde gefoltert, geköpft und anschließend noch gevierteilt. Macht und Ohnmacht wurden demonstriert. Mit der Neuzeit wird an die Stelle drakonischer Strafen ein System der Normalisierung und Kontrolle gesetzt. Paradigmatisch ist das von Bentham erdachte Panoptikum, dessen Beschreibung von Foucault oben zitiert wurde.116 Die Gefangenen des 115 Fromm, Die Furcht vor der Freiheit, S. 299. 116 Vgl. S. 91, Kapitel III 2e. 349 Benthamschen Gefängnisses müssen jederzeit damit rechnen, dass ein Aufseher sie kontrolliert, auch wenn dies nicht der Fall ist. Im Ergebnis fühlt sich der Strafgefangene immer beobachtet und agiert nicht nur dann, wenn er wirklich beobachtet wird, normkonform, sondern immer. Weil die Zellenbewohner selbst nicht wissen, ob sie vom Wärterturm tatsächlich beobachtet werden, und annehmen müssen, dass sie es werden, verhalten sie sich „normal“ und konform, ohne dass Gewalt oder Repression gegen sie eingesetzt werden müsste und ohne dass sie tatsächlich beständig überwacht werden. Dabei bleibt die Normalität nicht äußerlich, ist kein Schauspiel, das dem Wärter vorgeführt wird, sondern schleift sich über die ununterbrochene Beobachtung in die Körper, die kleinsten Gesten, den Habitus der Zellenbewohner ein. Foucault beschreibt das so: „Und was durch die Besserungstechnik schließlich wiederhergestellt werden soll, ist nicht so sehr das Rechtssubjekt, das in die fundamentalen Interessen des Gesellschaftsvertrages integriert ist, sondern das gehorchende Subjekt, das Individuum, das Gewohnheiten, Regeln Ordnungen unterworfen ist und einer Autorität, die um es und über ihm stetig ausgeübt wird, und die es automatisch in sich selber wirken lassen soll.“117 So internalisiert er normales Verhalten, es wird in seinen Körper eingeschrieben. Die Körper werden normalisiert. Erreicht wird so Selbstkontrolle, Selbstdisziplinierung als Form der Normalisierung der Körper. Vom Strafsystem überträgt Foucault dieses System der Normalisierung auf andere staatliche Institutionen wie die Schule und das Krankenhaus. Warum lehrt die Schule nicht nur Schreiben und Rechnen, fragt er, sondern zwingt die Schüler auch, sich zu waschen? In der Schule geht es auch explizit um Erziehung und nicht nur um Ausbildung. Die Normalisierung greift schließlich durch entsprechende Diskurse über auf die Normalität im Sinne einer Definition des geistig Gesunden oder umgekehrt des Wahnsinns. Schließlich spielt, so Foucault, die Disziplinierung der Sexualität eine zentrale Rolle bei der Normalisierung der Körper. Er setzt damit einen anderen Akzent als Freud und Reich, die gezeigt hatten, dass die Disziplinierung der Sexualität oder der Triebaufschub zur Sublimierung und damit zu kulturellen Leistungen oder eben zur autoritären Persönlichkeit führen können. Die Disziplinierung der Arbeiter ist auch für Foucault eine wichtige Station in der Entwicklung der kapitalistischen Ökonomie. Er schreibt: „Eine Geschichte der sozialen Kontrolle des Körpers könnte zeigen, dass der Körper des Einzelnen bis ins 18. Jahrhundert hinein vor allem die Fläche ist, auf der Martern und Strafen ansetzen können; der Körper ist dazu da gemartert und gepeinigt zu werden. 117 Foucault, Überwachen und Strafen, S. 167. 350 Für die im 19. Jahrhundert entstehenden Kontrollinstanzen erhält der Körper eine völlig andere Bedeutung; er muss nun nicht mehr gemartert, sondern soll geformt, umgeformt, verbessert werden. … Die erste Funktion bestand darin, die Zeit zu extrahieren und dafür zu sorgen, dass die Zeit der Menschen, ihre Lebenszeit, sich in Arbeitszeit verwandelt. Die zweite Funktion besteht darin, des Menschen zur Arbeitskraft zu machen.“118 Foucault bezieht die Selbstdisziplinierung und Normalisierung am Ende auf die Produktion von disziplinierten Arbeitskraftbesitzern. Die Disziplin der Fabrik oder allgemeiner: der trotz seiner Freiheit disziplinierte Lohnarbeiter, sind Voraussetzung der Reproduktion der bürgerlichen Gesellschaft, deren Struktur diese Voraussetzung durch Formen der Disziplinierung selber schafft – so jedenfalls lässt sich Foucault interpretieren, wenn die Macht nicht Selbstzweck119 ist, sondern eingebunden in die Totalität der bürgerlichen Gesellschaft. Und er stellt im vorangehenden Zitat das Rechtssubjekt, dem Freiheit und Gleichheit zugeordnet werden, explizit das „gehorchende Subjekt“ gegenüber, d.h. das durch die Disziplinierungsinstitutionen geschaffene, produktive Individuum, das die autoritären Strukturen nicht nur der Fabrik internalisiert hat. Das von Foucault gezeichnete Bild trifft die Gesellschaft des organisierten Kapitalismus oder die „formierte Gesellschaft“ der Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg; er hat Frankreich unter de Gaulle vor Augen. Der Gesellschaftskörper erscheint als normalisiert, „man“ fügt sich ein, übernimmt seine Rolle eher unauffällig, ist Teil einer großen Armee, die diszipliniert täglich ihren Weg zur Arbeit antritt und die internalisierten Sekundärtugenden Ordnung, Pünktlichkeit, Fleiß schätzt. Der Einzelne funktioniert als anständiger, braver Bürger im weitgehend homogenen, normalen Gesellschaftskörper; widerständige Potenziale existieren kaum, sind marginalisiert; denn Abweichungen von der Normalität des Kleinbürgers werden von der Mehrheit abgelehnt und verfolgt und keineswegs toleriert. Die Lage wird im flexiblen Kapitalismus, im Kapitalismus neoliberal entfesselter Märkte komplizierter. Dieses neue Produktionsregime braucht nicht den normalisierten Körper, der sich äußerlich legal und normal verhält, seinen Dienst ordnungsgemäß tut, seine vierzig Arbeitstunden abreißt und anschließend frei ist. Der flexible Kapitalismus verschlingt die Produzenten mit Haut und Haaren, beansprucht ihren Körper und ihren Geist vollständig, braucht und verbraucht die 118 Foucault, Die Wahrheit und die juristischen Formen, S. 117. 119 Die Macht als Selbstzweck als alles durchdingender Faktor der gesellschaftlichen Beziehungen losgelöst von der materiellen Re-Produktion der bürgerlichen Gesellschaft kennzeichnet eine andere Lesart des Foucaultschen Werkes. 351 Kreativität der Individuen, die deshalb nicht normalisiert, sondern freigesetzt und dadurch genutzt werden kann. Die homogene, normalisierte Masse der fordistischen Produktion wird individualisiert oder besser als homo oeconomicus atomisiert und in dieser Individualität der neuen Form der Produktion, die die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit beständig durchbricht, untergeordnet.120 Der andere Teil der Gesellschaft wird ausgegrenzt, abgehängt und entwickelt in dieser Form des nicht eingegliederten „Prekariats“ ebenfalls eine neue Dimension des NichtNormalen. Während die Fabrikarbeit des Fordismus mit der Stechuhr zu erfassen war, wird im flexiblen Kapitalismus der „Vertrauensarbeitszeit“ die Arbeitsleistung individuell erfasst und überwacht. Die Stechuhr, die nur Anwesenheit, also äußere Normalität erfassen kann, wird ersetzt durch die computergestützte Erfassung der individuellen Arbeitszeit, der Überprüfung der Bildschirmarbeiter in ihrem individuellen und unterschiedlichen Arbeitsverhalten. Wenn der atomisierte Gesellschaftskörper des flexiblen Kapitalismus nicht nach dem Paradigma der Normalisierung funktionieren kann, sondern die individuelle Kreativität umfassend beansprucht, dann muss die Differenz, das Abweichende, der Unterschied, auch das Extravagante und Nonkonforme akzeptiert werden. Der flexible Mensch funktioniert in scheinbarer Individualität und Autonomie, ist gerade in seiner scheinbaren Autonomie und Differenz der ideale Produzent. Aber eben nur, solange sich diese Differenz innerhalb der Spielregeln der kapitalistischen Reproduktion bewegt, das kreative Handeln keine Grenzen sprengt, den Vorschein einer anderen Wirklichkeit, die in der Differenz schlummert, nicht zum „anders Handeln“ nutzt, sondern sich der Logik des Systems anpasst. Und die faktischen Zwänge unsicherer Existenz sorgen in der Regel (noch) für die freiwillige Einordnung und Inwertsetzung aller Energien. Solange die Differenz sich innerhalb der Spielregeln bewegt, wird sie nicht nur akzeptiert, sondern geradezu gebraucht. Die Normalität ist deshalb eine solche der Differenz und der Toleranz, aber einer Art repressiver Toleranz. Herbert Marcuse benutzte diesen Begriff als Vorschlag für ein strategisches Konzept, um „die parteiische Toleranz in umgekehrter Richtung zu praktizieren, als Mittel, die Balance zwischen Rechts und Links durch eine Beschränkung der Freiheit der Rechte zu verschieben, um so der herrschenden Ungleichheit der Freiheit (den ungleichen Zugangsmöglichkeiten zu den Instrumenten der demokratischen Manipulation) entgegenzuarbeiten und die Unterdrückten gegen die Unterdrücker zu stärken.“121 Der Begriff scheint umgekehrt zur Kennzeichnung des ungleichen Herrschaftsmechanismus zu taugen, der die 120 So etwa: Sennett, Der flexible Mensch (Berlin 1998), passim. 121 Marcuse, Repressive Toleranz, in: ders., Schriften Bd. 8, S. 163 f. 352 gegenwärtige Situation kennzeichnet. Die Differenz wird in Grenzen toleriert, und erst hinter diesen Grenzen beginnt die Repression, die aber nur gelegentlich sichtbar wird. Auch Opposition darf sich äußern, demonstrieren, Parteienrechte wahrnehmen, aber sie wird nicht ernst genommen, sondern ausgegrenzt, als Partner nicht akzeptiert. Karrierechancen werden informal abgeschnitten oder die Drohung damit steht im Raum und Ähnliches. Die Selbstdisziplinierung wird extrem gesteigert, nicht nur die äußeren Kontrollen, auch deren Schein entfällt, die Ausbeutung erfolgt als Selbstausbeutung, die eine hohe individuelle Disziplin erfordert. Die potenzierte Selbstdisziplinierung nimmt das Individuum jedoch als Freiheit wahr, d.h. es präsentiert sich selbst als autonomes Subjekt; die von außen geforderte Selbstpräsentation schlägt am Ende um in Selbstwahrnehmung. Das Subjekt fühlt sich autonom, als selbstbestimmtes Individuum, das den eigenen Lebensentwurf verwirklicht. Insofern gerät die Disziplin, d.h. diese neue Form der Selbstdisziplinierung nicht mehr in Widerspruch zur Demokratie, sondern produziert Ansprüche auf Selbstbestimmung und Demokratie. Da die Selbstbestimmung aber nur schöner Schein ist, wird es akzeptabel, wenn der Schein von Demokratie produziert wird. Die Scheinindividualität und -autonomie produziert den Anspruch auf den Schein von Demokratie, aber die Differenz, die atomisierende Individualisierung ist real. So wird verständlich, wie die radikale Entdemokratisierung der Gesellschaft gleichzeitig mit einem weitgehenden Erhalt von Teilen des Rechtsstaates vereinbar ist. Diese Gesellschaft kann es sich gegenwärtig nicht leisten, individuelle Freiräume vollständig aufzuheben und in persönliche Freiheiten willkürlich einzugreifen, d.h. der Rechtsstaat wird – anders als etwa in der Weimarer Republik – allgemein akzeptiert, was nicht heißt, dass nicht gelegentlich massiv zugeschlagen wird und dies selbst außerhalb der Legalität. Die Freiräume werden erkauft durch erhöhte Überwachung. So sind in Anknüpfung an diese Ambivalenz abschließend Widersprüche zu konstatieren, die in der Despotie der Fabrik ebenso angelegt sind wie im Rechtssubjekt. Die Despotie der Fabrik, die Existenz gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse kann auch dazu führen, dass sich das Individuum auflehnt, die Eingliederung verweigert, nicht zum Untertanen, sondern zum Rebellen wird, Autorität eben nicht akzeptiert. Hierarchische Strukturen können ebenso – Fromm hatte die Alternative sichtbar werden lassen – das solidarische Subjekt hervorbringen, das den Ausweg nicht in der Unterwerfung, sondern der Auflehnung, d.h. im Widerständigen sucht. Ebenso wie die Affinität von Kapitalismus und Demokratie widersprüchlich ist und im Sinne einer Eliteherrschaft „gebogen“ werden kann, muss die Hierarchie in Fabrik und Gesellschaft widersprüchlich gelesen und 353 verstanden werden, neben dem Untertanen, für den Demokratie irrelevant ist, kann sie auch den Rebellen oder zumindest die Verweigerung produzieren. Das eröffnet die Möglichkeit der sozialen Auseinandersetzung, die zur Kontingenz der realen gesellschaftlichen Entwicklung führt, in der die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse insgesamt, einschließlich des Widerspruchs von Affinität und Repugnanz zwischen Kapitalismus und Demokratie den Ausgang entscheiden. 4. Basislegitimität des Staates a) Begriff, Annäherungen und Abgrenzungen An den Anfang der folgenden Überlegungen sei die Beobachtung einer Diskussion in einem interdisziplinären Graduiertenkolleg gestellt, die das Gewaltmonopol betraf. Ich hatte gezeigt, dass das staatliche Gewaltmonopol normativ nur dann zu rechtfertigen ist, wenn die staatliche Gewalt demokratisch kontrolliert und legitimiert, deshalb legitim ist. Das führte zu meinem Erstaunen zu Irritationen. Ein nicht kleiner Teil der Teilnehmer war der Auffassung, das Gewaltmonopol sei auch in einem nicht demokratischen Staat zu rechtfertigen, etwa wenn ein „guter König“ herrsche. Aufgegriffen wurde mit dieser Intervention – wohl unbewusst – die Vorstellung von Hobbes: besser absolute Herrschaft als gar keine Ordnung. Die staatliche Gewalt sollte gleichsam unabhängig von der Staatsform normativ als legitim eingestuft werden, ohne dass dafür gute Gründe vorgetragen werden konnten. Sichtbar wurde hier ein Phänomen, das ich Basislegitimität nennen möchte – der Staat kann prima facie Legitimität beanspruchen, es kommt nicht darauf an, ob er demokratisch organisiert ist und ob die demokratische Legitimation gelingt. Beim „guten König“ schwingt noch etwas mit wie OutputLegitimität, gemeint ist ja offenbar, dass er im Interesse der Untertanen agiert, für deren „gutes Leben“ sorgt. Aber das Argument blieb verdeckt, es herrschte bei einigen Teilnehmern eher ein unbestimmtes Unwohlsein bei der Vorstellung, dem Staat jede Legitimation absprechen zu wollen, womit in der Konsequenz das Gewaltmonopol infrage gestellt wird. An dieser Stelle ist nicht erneut die Frage nach dem Gewaltmonopol zu stellen, obwohl sie gleichsam pars pro toto für die Frage nach der Legitimität des Staates oder eben der Staatsgewalt ist. Für die weiteren Überlegungen ist es wichtig, zwischen normativen Ansprüchen an Legitimität und empirischer Legitimität zu unterscheiden. Empirische Legitimität bezieht sich auf die faktische Zustimmung zu staatlichen Maßnahmen oder Handeln und letztlich zur staatlichen Herrschaft. Fragt man nach der empirischen Legitimität, geht es um die eingangs 354 von Hume gestellte Frage, warum unterwerfen sich die Menschen überhaupt einer Herrschaft, insbesondere wenn diese nicht in ihrem Interesse oder Sinne ausgeübt wird. Normativ wird nach rationalen Gründen zur Rechtfertigung staatlicher Befugnisse, des Staates oder der Staatsgewalt gefragt. Dabei wird angenommen, dass eine Übereinstimmung der staatlichen Organisation mit den normativen Ansprüchen auch zu faktischer, empirischer Legitimität führt. Umgekehrt kann empirische Legitimität auch erzeugt werden, ohne dass die staatliche Organisationsform oder Praxis der Staatsgewalt mit den normativen Ansprüchen übereinstimmt. Diese Akzeptanz oder Zustimmung wird – wie das Beispiel aus dem Graduiertenkolleg lehrt – offenbar unbewusst produziert. Auch Hume hatte diese un- oder vorbewusste faktische Zustimmung zur Herrschaft mit seiner Frage im Blick. Vorbewusste, oft diffuse faktische Zustimmung will ich Basislegitimität nennen – zu fragen ist, ob sie existiert und wie sie erzeugt wird. Normative Legitimität bezieht sich dagegen auf die rationale Rechtfertigung von Kompetenzen, Befugnissen usw., d.h. sie gründet immer auf bewussten Reflexionen und Diskursen. Normativ lassen sich Kompetenzen und Maßnahmen des Staates, also die Staatsgewalt, nur demokratisch rechtfertigen, wobei der normative Anspruch an den Begriff der Demokratie oben diskutiert wurde. An dieser Stelle soll eine „klassische“ Begründung ergänzend hinzugefügt werden, nämlich Kants Begründung der Republik. Der Grund dafür, dass die staatliche Befugnis zu zwingen mit individueller Freiheit vereinbar ist, ist für Kant die Lauterkeit des Ursprungs des Gesetzes. Besser gesagt: Nur der lautere Ursprung des Gesetzes rechtfertigt die Möglichkeit des Zwangs. Kant schreibt: „Nun hat aber die republikanische Verfassung außer der Lauterkeit ihres Ursprungs, aus dem reinen Quell des Rechtsbegriffs entsprungen zu sein, noch die Aussicht in die gewünschte Folge, nämlich den ewigen Frieden; wovon der Grund dieser ist. — Wenn (wie es in dieser Verfassung nicht anders sein kann) die Beistimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen, ‘ob Krieg sein solle, oder nicht’, so ist nichts natürlicher, als dass, da sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müssten (…), sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen.“122 Die staatliche Friedensordnung folgt für Kant aus der demokratischen Gesetzgebung, nicht aus der Existenz des Staates an sich. Mit Blick auf die „Außenpolitik“ folgt aus der Selbstgesetzgebung die Tendenz zum Frieden, weil der Krieg für die Bürger in jeder Beziehung Unannehmlichkeiten verursacht. Die Beistimmung, „ob Krieg sein solle oder nicht“, ist gleichsam ein Unterfall der Beistimmung 122 Kant, Zum ewigen Frieden, Erster Definitivartikel, S. 127 f. 355 zu allen gesetzgeberischen Akten. Folglich rechtfertigt nur eine demokratische Zustimmung zu den Gesetzen den mit diesen notwendig verbundenen Zwang. So formuliert Kant allgemeiner: „Vielmehr ist meine äußere (rechtliche) Freiheit so zu erklären: sie ist die Befugnis, keinen äußeren Gesetzen zu gehorchen, als zu denen ich meine Beistimmung habe geben können.“123 Die Befugnis zu zwingen ist nur deshalb mit der Freiheit vereinbar, weil sie auf einem allgemeinen Gesetz basiert, dem diejenigen ihre Beistimmung geben konnten, die im Zweifel gezwungen werden können. Die Begründung, warum die Zustimmung nicht zu Unrecht führen kann, lautet: „Die gesetzgebende Gewalt kann nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen. Denn da von ihr alles Recht ausgehen soll, so muss sie durch ihr Gesetz schlechterdings niemand unrecht tun können. Nun ist es, wenn jemand etwas gegen einen anderen verfügt, immer möglich, dass er ihm dadurch unrecht tue, nie aber in dem, was er über sich selbst beschließt (denn volenti non fit iniuria). Also kann nur der übereinstimmende und vereinigte Wille aller, so fern ein jeder über alle und alle über einen jeden ebendasselbe beschließen, mithin nur der allgemein vereinigte Volkswille gesetzgebend sein.“124 Rousseau formuliert das ganz ähnlich: „Da die Bürger durch den Gesellschaftsvertrag alle gleich sind, können auch alle vorschreiben, was alle tun müssen, während keiner das Recht hat, von einem anderen etwas zu fordern, was er nicht selber macht.“125 Weber hat mit dem Legalitätsglauben einen Mechanismus der Erzeugung von Basislegitimität benannt, macht diesen aber – trotz seines empirischen Ansatzes – zum normativen Prinzip. Die „legale Herrschaft mit bürokratischem Verwaltungsstab“ beziehe ihre Legitimität aus dem Legalitätsglauben, d.h. aus der Vorstellung, dass Maßnahmen, die vom Gesetz vorgesehen sind, auch legitim sind. Weber schreibt: „Die heute geläufigste Legitimitätsform ist der Legalitätsglaube: die Fügsamkeit gegenüber formal korrekt und in der üblichen Form zustande gekommenen Satzungen. Der Gegensatz paktierter und oktroyierter Ordnungen ist dabei nur relativ. Denn sobald die Geltung einer paktierten Ordnung nicht auf einmütiger Vereinbahrung beruht, – wie dies in der Vergangenheit oft für erforderlich zur wirklichen Legitimität gehalten wurde, – sondern innerhalb eines Kreises von Menschen auf tatsächlicher Fügsamkeit abweichend Wollender gegenüber Majoritäten – wie es sehr oft der Fall ist, – dann liegt tatsächlich eine Oktroyierung gegenüber der Minderheit vor. Der Fall andrerseits, dass gewaltsame oder doch rücksichtslosere und zielbewusstere Minderheiten Ordnung 123 Kant, Zum ewigen Frieden, Erster Definitivartikel, S. 126. 124 Kant, Metaphysik der Sitten, § 46, S. 432. 125 Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S 132. 356 oktroyieren, die dann auch den ursprünglich Widerstrebenden als legitim gelten, ist überaus häufig. Soweit ‘Abstimmungen’ als Mittel der Schaffung oder Änderung von Ordnungen legal sind, ist es sehr häufig, dass der Minderheitswille die formale Mehrheit erlangt und die Mehrheit sich fügt, also: die Majorisierung nur Schein ist.“126 Weber grenzt den Legalitätsglauben ausdrücklich von der Bindung an den Gesellschaftsvertrag, d.h. an die Verfassung, und von der demokratischen Zustimmung zu einzelnen Herrschaftsmaßnahmen ab, weil diese immer eine Herrschaft der Majorität gegenüber der Minderheit impliziere und manchmal sogar zur Herrschaft der Minderheit führen könne. Die scheinbar empirische Analyse der Legitimität wird hier normativ, indem Demokratie und demokratische Teilhabe argumentativ entwertet wird. Mehrheitsentscheidungen sind sicher eine Krücke, eine Hilfskonstruktion im Prinzip demokratischer Willensbildung, nur wenn man sich der Krücke entledigt, stürzt man und geht keineswegs den aufrechten Gang, denn im Ergebnis verzichtet Weber auf die Rückbindung allgemein verbindlicher oder wirkender Maßnahmen an die Adressaten dieser Maßnahmen – wer die Gesetze verabschiedet, macht für den Legalitätsglauben keinen Unterschied. Webers Argumente sind normativ. Weil Mehrheitsentscheidungen Schwächen haben, so muss man Weber lesen, kann ich auf den normativen Anspruch auf eine demokratische Genese der Gesetze ganz verzichten. Ansonsten fehlt die Begründung für oder die Herleitung des Legalitätsglaubens. Bevor der empirische Befund, „es existiert ein Legalitätsglaube“, als Basislegitimität aufgegriffen wird, soll gezeigt werden, dass diese Form der Argumentation im deutschen juristischen Diskurs durchaus verbreitet ist. Sie führt logisch zum Vorrang des Gesetzesstaates vor der Demokratie, was in der Bundesrepublik wohl bis in die 1990er Jahre herrschende Meinung war. Der juridische Diskurs greift auf Hobbes Rechtfertigungsmodus für das Gewaltmonopol zurück, um es mit dem Demokratiegebot des Grundgesetzes zu verbinden. Die Legitimation der Staatsgewalt kann dann nur zweistufig erfolgen. Auf der ersten Stufe wird abstrakte Staatlichkeit – allerdings inklusive Gewaltmonopol – durch die Friedens- und Ordnungssicherung gerechtfertigt. Dieser Legitimation abstrakter Staatlichkeit wird dann die Legitimation des konkreten Staates und seines Rechts gleichsam oben aufgepfropft. Forsthoff konstruiert ein vorgelagertes Wesen des Staates gleichsam als Substanz, als dem verfassten Staat vorausgehende Entität, als geschichtliches Kontinuum oder als gegebene Wesenheit, deren Ausgestaltung geschichtlichen Prozessen, unterschiedlichen Einflüssen und Kräften nicht 126 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 19 f. 357 unterliegt. Charakteristisch für dieses Grundverständnis ist ein Satz wie: „Die Staatsgewalt als solche ist in allen Verfassungen gleich.“127 Böckenförde greift in dieser Tradition für seine Bestimmung des Staatszwecks die Definition des Politischen über die Freund-Feind-Unterscheidung von Carl Schmitt128 auf, zivilisiert sie jedoch, indem sie der Friedensfunktion des Staates subsumiert wird. Innerhalb des Staates werde die Existenz von Freund-Feind-Gruppierungen ausgeschlossen, weil staatlicherseits die friedliche, nicht-gewaltsame Lösung von Konflikten garantiert werde – nämlich durch das Gewaltmonopol.129 Der Staat wird so der Demokratie bei Böckenförde gleichsam als „Rohling“ der konkreten Staatsform vorgelagert. Die konkrete, geschichtliche Erscheinung des Staates wird zur abstrakten Staatlichkeit, die unabhängig von der Form oder dem Gebrauch oder Missbrauch der staatlichen Macht affirmativ besetzt wird. Böckenförde wörtlich: „Staatlichkeit im modernen Sinn bedeutet zunächst die Organisation einer Gesellschaft als Friedenseinheit, als zu eigenen Entscheidungen befähigte Handlungseinheit und als Machteinheit.“130 Diese abstrakte Staatlichkeit kann nur gedacht werden als Einheit mit Gewaltmonopol. Die Demokratie wird oben aufgesetzt, sie gibt dem abstrakten Staat, der „Staatlichkeit“, nur einen besonderen Inhalt; sie wird nicht zur Selbstorganisation der Gesellschaft, sondern erhält nur die Funktion, staatliche Herrschaft zu legitimieren. Weniger eloquent findet sich dieser Begründungszusammenhang in vielen juridischen Räsonnements über das Gewaltmonopol. So kann man etwa lesen: „Dem staatlichen Gewaltmonopol entspricht die Friedenspflicht des Bürgers. Diese bindet ihn jedoch nur, wenn der Staat seinerseits für Frieden und Ordnung 127 Forsthoff, Verfassungsprobleme des Sozialstaats, S. 50. 128 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 39 f. 129 Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat (Berlin 1978) S. 13. Böckenförde wörtlich: „Alle Streitigkeiten und Konflikte zwischen den Einzelnen oder zwischen Gruppen innerhalb des Staates werden friedlich, d.h. ohne Anwendung physischer Gewalt und in rechtlich geordneten Verfahren ausgetragen. Das ist ein Grundelement staatlicher Ordnung. Auch in der politischen Auseinandersetzung und im politischen Machtkampf innerhalb des Staates findet keine Freund-Feind-Gruppierung statt, welche die Bereitschaft zur physischen Gewaltanwendung einschließt, sondern alle Gegensätze verbleiben auf dem Intensitätsgrad einer Gesellschaft, welche die Einbindung in die gemeinsame Friedensordnung nicht sprengt.“ 130 Böckenförde, Die Zukunft politischer Autonomie. Demokratie und Staatlichkeit im Zeichen von Globalisierung, Europäisierung und Individualisierung, in: ders., Staat, Nation, Europa, S. 108. 358 im Gemeinwesen sorgt.“131 Die Bindung der Bürger an die Friedenspflicht ergibt sich auch hier nicht aus einer wie immer gearteten demokratischen Legitimation der Gesetze, sondern aus der Friedensfunktion des Staates an sich. Das heißt aber nichts anderes, als dass die Legitimität schon aus der effektiven Ausübung von Herrschaft, die notwendig eine Ordnung herstellt, entspringt. Diese aus dem Wesen des Staates begründete Friedenspflicht der Bürger und Ordnungsfunktion des Staates ist eine vordemokratische Konstruktion, die die unterschiedlichsten Staatsformen – also ebenso Diktaturen, Monarchie oder Oligarchie – normativ rechtfertigen, solange sie eine (rechtliche) Ordnung herstellen. So wird durch die Ordnungsfunktion des Staates Herrschaft normativ gerechtfertigt. Die juristische Argumentation ist normativ angelegt. Anders formuliert: Über die Ordnungsfunktion ist nach dieser Konzeption eine erste Ebene normativer Rechtfertigung von staatlicher Herrschaft erfolgt. Die zusätzliche, demokratische Legitimation hat dann keine andere Funktion als das Legitimationsniveau zu erhöhen. An eine vordemokratische Bestimmung des Staates wird die demokratische Form als etwas Zusätzliches herangetragen. Die juristische Theorie des Staates und der Demokratie begrenzt so die Demokratie. Gleichzeitig deckt sie aber die empirisch zu begreifende Tatsache einer Basislegitimation des Staates auf. Der Staat erfährt Zustimmung seitens der Bürger, weil er als Friedensmacht und als Ordnungsmacht wahrgenommen wird, die der Nicht-Ordnung und dem Unfrieden vorgezogen wird – egal wie undemokratisch oder repressiv die Staatsmacht auch agiert. Die gleiche Wirkung lässt sich dem Weberschen Legalitätsglauben zuschreiben, die Staatsmacht wird akzeptiert, erscheint empirisch als legitim, weil sie auf Gesetzen beruht. Es wurde oben schon angesprochen, dass der Gleichklang von Recht und Gesetz und die positive Konnotation von Recht dem Legalitätsglauben Vorschub leisten, eine eigene Quelle der faktischen Zustimmung darstellen. Diese wird verstärkt durch den Ursprung des Gesetzes in den Sitten und Moralvorstellungen der Gesellschaft, die bei der Ansprache durch das Gesetz im Hintergrund immer mitschwingen. Bei den Begriffen Rechtsordnung, staatliche Ordnung oder Friedensordnung schwingt gleichzeitig immer deren Ursprung im Vertrag mit; das Gesetz ist auch Verfassung und die Verfassung ist Gesetz, und zwar wegen der Vorstellung eines Gesellschaftsvertrages positiv konnotiertes Gesetz. Das kommt theoretisch nicht zuletzt in der Idee eines „Verfassungspatriotismus“, der den Nationalpatriotismus ablöst oder ablösen soll, zum Ausdruck. Der Patriotismus entzieht die Nation 131 Schulte, Gefahrenabwehr durch private Sicherheitskräfte im Lichte des staatlichen Gewaltmonopols, in: DVBl. 1995, S. 130. 359 und der Verfassungspatriotismus die Verfassung der Kritik – es wird Zustimmung unterstellt oder eingefordert, weil es die Verfassung ist. Das Rechtssubjekt beachtet den Vertrag, den privaten wie den öffentlichen Gesellschaftsvertrag, aus der Perspektive des Staates und des Rechts nicht um des eigenen Vorteils willen – dann könnte es den Vertrag auch jederzeit brechen –, sondern auf der Basis einer transzendenten Legitimität des „ursprünglichen Vertrages“. Der Rechtsgrundsatz „pacta sunt servanda“ (Verträge sind einzuhalten) ist gleichsam vorstaatliches Naturrecht. Mit dem ursprünglichen Vertrag konstituiert sich das juridische Subjekt, bindet und unterwirft sich gleichzeitig der mit dem ursprünglichen Vertrag begründeten öffentlichen Gewalt, stimmt dieser faktisch zu. b) Staat und Doxa – Bourdieu Pierre Bourdieu hat in seiner Vorlesung über den Staat den Ursprung dieser unkritischen, vorbewussten, faktischen Zustimmung zum Staat zum zentralen Thema gemacht und theoretisch aufgearbeitet. Er beansprucht, eine Genese des Staates zu entwickeln, wobei er seine Methode als „genetischen Strukturalismus“ bezeichnet, der sich von einfacher Geschichtsschreibung dadurch unterscheide, dass die impliziten Regeln des Feldes aufgedeckt werden. Er vergleicht das Feld mit einem Spiel, etwa im Schachspiel, das explizite Regeln kennt, dann aber auch implizite wie etwa die, dass auf jedem Feld nur eine Figur steht. “In einem Feld sind die Regeln implizite Regularitäten, Üblichkeiten; nur ein ganz kleiner Teil der Regularitäten wird in einen expliziten Zustand überführt.“132 Deshalb seien die wirksamsten Verträge diejenigen, über die nicht gesprochen werde, die der Einigung unbewusst zugrunde liegen. Diese interessieren Bourdieu, nicht der Gesellschaftsvertrag, die Verfassung mit den expliziten Regeln. Den Staat bestimmt Bourdieu durch eine Erweiterung Webers berühmten Definition so: „Wenn ich eine vorläufige Definition dessen geben sollte, was man ‘Staat’ nennt, würde ich sagen, dass derjenige Sektor des Feldes der Macht, den man als ‘administratives Feld’ oder ‘Feld der öffentlichen Verwaltung’ bezeichnen kann, derjenige Sektor, an den man in erster Linie denkt, wenn man ohne nähere Präzisierung vom Staat spricht, sich durch den Besitz des Monopols der legitimen physischen und symbolischen Gewalt definiert.“133 In „Praktische Vernunft“ lautet die Definition so: Der Staat ist ein „X“, das mit Erfolg das Monopol auf den legitimen Gebrauch der physischen und symbolischen Gewalt über ein 132 Bourdieu, Über den Staat, S. 176. 133 Bourdieu, Über den Staat, S. 18. 360 bestimmtes Territorium und über die Gesamtheit der auf diesem Territorium lebenden Bevölkerung für sich beansprucht.“134 Bourdieu interessiert sich nicht so sehr für die Genese des physischen Gewaltmonopols, sondern für das Monopol der symbolischen Gewalt. Bourdieu geht es darum, den Unterschied zwischen Staat und Räuberbande zu klären, also die Legitimität des Gewaltmonopols zu untersuchen, ihre Genese zu verstehen. Sein wichtigster Baustein für die Analyse der Legitimität des Staates ist das „symbolische Kapital“. Neben vielen Explikationen des symbolischen Kapitals gibt es an einer Stelle auch eine Definition: „Unter symbolischem Kapital verstehe ich diejenige Kapitalform, die aus der Beziehung zwischen einer beliebigen Kapitalsorte und den Akteuren entsteht, die so sozialisiert sind, dass sie diese Kapitalsorte erkennen und anerkennen. Das symbolische Kapital hat seinen Platz, wie das Wort sagt, in der Ordnung des Erkennens und Anerkennens.“135 Kurz: beim symbolischen Kapital geht es darum, dass die Menschen den Staat als solchen erkennen und anerkennen – das war einer der zentralen Gedanken auch von Louis Althusser. Die Menschen kennen den Unterschied zwischen der Mafia, die Schutzgeld erpresst, und dem Staat, der Steuern eintreibt. Dieser Unterschied macht die Legitimität. Will man nicht tautologisch bleiben, müssen die Bedingungen, Voraussetzungen und die Entstehungsgeschichte des symbolischen Kapitals bzw. das Monopol des Staates auf das symbolische Kapital und seine Reproduktion erklärt werden. Die Frage ist also: Wie wurde das Monopol des Staates über das symbolische Kapital produziert und wie reproduziert es sich? Bourdieu setzt den Beginn der europäischen Staatenbildung – in Übereinstimmung mit unserem Vorschlag – im zwölften Jahrhundert an, dabei begreift er die Herausbildung des modernen Staates als Monopolisierungs- oder Konzentrationsprozess zunächst der physischen Gewaltmittel, also der Armee, und gleichzeitig des ökonomischen Kapitals mittels Steuererhebung. Beide Prozesse konnten nur Hand in Hand laufen, denn nur über eine effektive Steuerverwaltung ließ sich eine Armee rekrutieren und bezahlen, die derjenigen anderer Fürsten überlegen war, so dass sich die Macht beim König konzentrierte und die Adeligen – so die französische Sicht – in die Rolle der Hofstaffage gerieten, weil sie ihre ursprüngliche Funktion, nämlich Kriegsdienst zu leisten, verloren hatten. Auch diese Analyse korrespondiert mit den hier gewonnenen Ergebnissen. 134 Bourdieu, Praktische Vernunft, S. 99. 135 Bourdieu, Über den Staat, S. 337. 361 Die Konzentration der Gewaltmittel und von ökonomischem Kapital konnte – das ist Bourdieus zentrale These – nur gelingen, weil der König gleichzeitig das symbolische Kapital akkumulierte und schließlich monopolisierte. Zunächst habe der Titel „König“ das Seine dazu beigetragen, dass sich Gewaltmittel und symbolisches Kapital bei ihm und keinem anderen Fürsten konzentrierten. „Also eines der Erklärungsprinzipien für den Aufstieg des Königs hängt schlicht daran, dass er der König ist, das heißt, dass er innerhalb des Spiels einen besonderen Platz einnimmt, nämlich den des Königs – und deshalb bezeichne ich diesen Gegenstand als: Platz des Königs.“136 Wichtiger erscheint in unserem Kontext ein anderer Faktor, nämlich die Rolle der Juristen. Diese waren es – so Bourdieu –, die durch die Rezeption des römischen und kanonischen Rechts die königliche Macht von der privaten, personalen Herrschaft in den Staat überführten, zur öffentlichen Angelegenheit erklärten, die öffentlich verhandelt wurde und über Systeme der Legitimierung die Administration zu einer öffentlichen und bürokratischen gemacht haben. Bourdieu schreibt: „Tatsächlich verweist die Beschreibung des Offiziellen auf die Genese des Offiziellen, des Staates, der das Offizielle hervorgebracht hat. Kantorowicz arbeitet über die Juristen, die am Ursprung des Offiziellen standen. Ich vereinfache, denn man kann nicht sagen, dass es die Juristen und die Kanonisten waren, die den Staat hervorgebracht haben, aber sie trugen weitgehend dazu bei. Ich glaube, man kann keine Genealogie des abendländischen Staates entwickeln, ohne die mit dem römischen Recht groß gewordenen Juristen eine bestimmende Rolle dabei spielen zu lassen; sie waren es, die diese fictio juris, diese Rechtsfiktion hervorzubringen vermochten. Der Staat ist eine von den Juristen hervorgebrachte Rechtsfiktion, die sich als Juristen hervorgebracht haben, indem sie den Staat hervorbrachten.“137 Dabei beschreibt Bourdieu die Herausbildung des modernen bürokratischen Staates auch als Differenzierungsprozess, der mit der Konzentration der Gewaltmittel verbunden und notwendig war, an dem die Juristen aber auch ein Interesse hatten, weil dieser Prozess ihre Stellung gegenüber derjenigen der Adeligen stärkte. Der König war in der guten Situation, das bürokratische gegen das aristokratische – Bourdieu spricht vom dynastischen – Element ausspielen zu können. Die Juristen konstruieren den Staat, machen das private zu einem öffentlichen Amt und schaffen mit den theoretischen Konstruktionen des Staates 136 Bourdieu, Über den Staat, S. 439. 137 Bourdieu, Über den Staat, S. 110 ähnlich S. 674. 362 – von Machiavelli bis (vielleicht) Hegel – die Grundlage für den Anspruch auf das Monopol des symbolischen Kapitals. Die Anerkennung, die mit dem symbolischen Kapital verbunden ist, liegt vor der Akzeptanz, der bewussten Zustimmung. Sie liegt in der körperlichen Einübung von Verhaltenscodes, einem Habitus, der die Orientierung in einer (nationalen) Gesellschaft überhaupt erst ermöglicht. Bourdieu führt als Beispiel mehrfach an, dass Kalender verwendet werden, die Uhrzeit akzeptiert oder besser unhinterfragt genutzt wird. Er fasst so zusammen: „Kultur stiftet Einheit: der Staat trägt zur Vereinheitlichung des kulturellen Marktes durch die Vereinheitlichung sämtlicher Regelwerke – Recht, Sprache, Maße und Gewichte – und die Homogenisierung der – insbesondere bürokratischen (Formulare, Vordrucke usw.) – Kommunikationsformen bei. Mit Hilfe der Klassifizierungssysteme (vor allem nach Alter und Geschlecht), die im Recht, den bürokratischen Verfahren, den Strukturen des Bildungssystems und … in den sozialen Ritualen festgeschrieben sind, formt der Staat die mentalen Strukturen, setzt gemeinsame Wahrnehmungs- und Gliederungsprinzipien durch, Formen des Denkens, die für das gebildete Denken das darstellen, was die von Durkheim und Mauss beschriebenen primitiven Formen der Klassifizierung für das ‘wilde Denken’ sind, und trägt damit zur Konstruktion dessen bei, was man gemeinhin als nationale Identität oder, in einer eher traditionellen Sprache, als Nationalcharakter bezeichnet.“138 Es sind diese Regularien, die den expliziten Regeln des Staates, d.h. dem Recht vorgelagert sind. Es sind die Voraussetzungen der expliziten Regeln – ähnlich dem Schachspiel –, welche die Stabilität der Institutionen sichern. Es sind also diese vorgelagerten Institutionen, welche die Stabilität des Gesamtsystems reproduzieren. Das heißt natürlich nicht anderes, als dass die Institutionen und der Staat durch das Handeln der Akteure produziert und reproduziert wird. Bourdieu schreibt: „Die soziale Welt ist im Modus der doxa gegeben, jener Art von Glauben, die sich selbst nicht als Glauben wahrnimmt. Die soziale Welt, ein historisches Artefakt, ein Produkt der Geschichte, das Dank einer Amnesie der Genese, die alle sozialen Schöpfungen betrifft, in seiner Genese vergessen ist. Der Staat wird als historischer verkannt und mit uneingeschränkter Anerkennung, die die Anerkennung der Verkennung ist, anerkannt. Es gibt keine vollkommenere Anerkennung als die Anerkennung der doxa, weil sie sich als Anerkennung nicht wahrnimmt. Doxa heißt eine Frage bejahen, die ich nicht gestellt habe. Die Bindung an die doxa ist die vollkommenste Bindung, die eine soziale Ordnung 138 Bourdieu, Praktische Vernunft, S. 106 f. 363 erreichen kann, weil sie sich noch jenseits der Konstitution der Möglichkeit, anders zu handeln, ansiedelt.“139 Nun müssen die Akteure sich dieses vorgelagerte Vertrauen noch aneignen, das symbolische Kapital des Staates muss produziert werden. Bourdieu verbindet diese Re-Produktion des symbolischen Kapitals mit der Nationenbildung oder der Konstituierung des Staates als Nationalstaat. Die Nationenbildung sei – jedenfalls in der französischen Denktradition, die er hier von der Deutschen unterscheidet, – kein dem Staat vorangehendes Phänomen. Die Nation wird vom Staat gebildet, nämlich erfunden, indem mit dieser Nation einheitliche Codes oder Schemata verbunden werden. Der Staat universalisiert, so Bourdieu, durch sein Monopol auf das symbolische Kapital die Bewertung und Wahrnehmungsschemata seiner Untertanen und macht sie damit zu Staatsbürgern – die sich als solche erstmals anerkennen, wenn sie Steuern zahlen. Wie macht der Staat das? Die Antwort in den Vorlesungen erscheint manchmal etwas simpel: durch die Schule. Ein Beispiel: „Der Staat ist in der Lage, diese Wahrnehmungskategorien innerhalb der Grenzen eines Territoriums zu universalisieren. Nach dieser Logik ist eine Nation ein Ensemble von Leuten, die die gleichen staatlichen Wahrnehmungskategorien haben und, nachdem sie die gleichen Prozeduren der Konditionierung und Einimpfung durch den Staat, d.h. durch die Schule, durchlaufen haben, mit [gemeinsamen] Wahrnehmungs- und Einteilungsprinzipien zu einer Reihe von ziemlich ähnlichen grundlegenden Problemen ausgestattet sind.“140 In seiner Abhandlung zur praktischen Vernunft klingt das etwas umfassender und differenzierter: „In unseren Gesellschaften hat der Staat an der Produktion und Reproduktion der Instrumente zur Konstruktion der sozialen Realität einen entscheidenden Anteil. Als Organisationsstruktur und Regulierungsinstanz der Praktiken übt er, vermittelt über die körperlichen und mentalen Zwänge und Disziplinierungen, die er sämtlichen Akteuren gleichermaßen auferlegt, permanent eine Wirkung aus, die zur Bildung von dauerhaften Dispositionen führt. Er sorgt außerdem für die Durchsetzung und Verinnerlichung aller grundlegenden Klassifizierungsprinzipien – nach Geschlecht, Alter, Kompetenz usw. – und ist der Ursprung der symbolischen Wirksamkeit aller Setzungsriten, all derer beispielsweise, auf denen die Familie beruht, aber auch all derer, die vom Bildungssystem vollzogen werden. … Die Konstruktion des Staates geht einher mit der Konstruktion eines gemeinsamen historischen, all seinen ‘Subjekten’ immanenten Transzendentalen. Durch den Rahmen, den er den Praktiken setzt, sorgt der Staat für die Einführung und Verinnerlichung der gemeinsamen Wahrnehmungsformen und -kategorien sowie Denkformen und 139 Bourdieu, Über den Staat. S. 326. 140 Bourdieu, Über den Staat. S. 604. 364 -kategorien, der sozialen Rahmen von Wahrnehmung, Vernunft oder Gedächtnis, der mentalen Strukturen, der staatlichen Formen der Klassifikation. Damit schafft er die Voraussetzungen für eine Art unmittelbarer Abstimmung der Habitus, welche selber die Grundlage einer Art Konsensus über jenes Ensemble der von allen geteilten Selbstverständlichkeiten bildet, das den common sense ausmacht.“141 In dieser Fassung, in der die Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata Ergebnis der Sozialisation sind, lässt sich nicht mehr begründen, warum der Staat das Monopol auf das symbolische Kapital hat. Und hier beginnen Einwände gegen Bourdieus Analysen. Das symbolische Kapital und seine Re-produktion – das geht bei Bourdieu meist ineinander über – sind in der bürgerlichen Gesellschaft keineswegs beim Staat monopolisiert. Der Staat ist ein wichtiger, vielleicht auch der größte Player, aber zwei weitere große Player produzieren offenbar auch symbolisches Kapital, nämlich die Kirche und die Kulturindustrie, wobei beide wohl in den Plural gesetzt werden müssen. Daneben gibt es natürlich weitere kleinere Mitspieler. Die Kirchen werden von den Gläubigen, ihren Mitgliedern, auch anerkannt, nämlich etwa als „Gottes Stellvertreter“ oder „Übermittler der Botschaft“ und was auch immer. Ohne diese Anerkennung könnte die Kirche ihre Rolle nicht erfüllen, was bei starken Säkularisierungstendenzen deutlich wird. Die Kulturindustrie, etwa das Fernsehen, wird in einem weniger umfassenden Sinne anerkannt, etwa als Produzent objektiver Nachrichten – aber es ist mindestens so wie die Schulen an der Produktion symbolischen Kapitals beteiligt. Nun könnte man Kulturindustrie und Kirchen kurzerhand einem Begriff des „erweiterten Staates“ subsumieren. Damit verschwinden aber gerade die Unterschiede, die für Bourdieu und unsere Diskussion wichtig sind. Verwirft man das Monopol des Staates auf das symbolische Kapital, stellt sich die Frage nach der Legitimität und sie stellt sich anders als beim legitimen Monopol auf physische Gewalt. Dieses Monopol beansprucht der Staat explizit und andere Formen physischer Gewalt – auch solche, die effektiv sind und Herrschaft beanspruchen wie bei der Mafia – werden vom Staat und von den Bürgern – auch von der Mafia selbst – als illegitim angesehen. Das heißt: Das Erkennen des Staates als Staat verschafft ihm – zunächst mit Blick auf das Gewaltmonopol – einen Legitimitätsvorsprung, und zwar unabhängig davon, welche Staatsform besteht, ob der Modus der Herrschaft eher auf Gewalt beruht oder eher sozial integrativ ist. Das Erkennen und Anerkennen des Staates verweist auf den Begriff der Basislegitimität. Als Basislegitimität könnte man den Zustand fassen, in welchem der Staat als solcher anerkannt wird, d.h. als Institution, die berechtigt ist, Pässe, 141 Bourdieu, Praktische Vernunft, S. 117. 365 Zeugnisse, (Heirats-) Urkunden usw. auszustellen, Grundbücher zu führen oder den Gerichtsvollzieher vorbeizuschicken. Trotzdem kann der einzelne Bürger, ja sogar eine Mehrheit, den Staat für illegitim halten. Der Unterschied wird deutlich, wenn man die sogenannten failing states in Afrika mit der DDR des Jahres 1988 vergleicht. In den failing states wird der Staat nicht mehr als solcher anerkannt. Im Zweifel besinnen sich die Menschen auf Stammesstrukturen und entsprechende Riten, wenn sie beispielsweise heiraten wollen. In der DDR des Jahres 1988 funktionierte der Staat im Wesentlichen – er war unbestritten zuständig für die oben genannten Handlungen; aber eine Mehrheit der Bürger bezweifelte seine Legitimität, wünschte sich nicht nur eine andere Regierung, sondern eine andere Staatsverfassung und gesellschaftliche Konstitution – was auseinanderfallen kann, wofür die DDR wiederum ein gutes Beispiel lieferte. Der DDR, die sogar versuchte, das symbolische Kapital zu monopolisieren, gelang es zwar, genügend symbolisches Kapital zu akkumulieren, um als Staat anerkannt zu werden. Ihr gelang es aber nicht mehr, so viel symbolisches Kapital zu akkumulieren, um Legitimität, d.h. faktische Zustimmung oder mindestens Akzeptanz bei der Mehrheit der Bürger zu gewinnen, um sich als legitimer Staat oder als legitime Herrschaft zu stabilisieren. Basislegitimität, die der Doxa entspringt, unbewusst oder vorbewusst bleibt, so kann man Bourdieu weiter entwickeln, schafft ein gewisses Prä für den Staat, für die bestehende Ordnung und deren Legitimität. Dieses kann aber verloren gehen oder überspielt werden, wenn die Herrschaft sich nicht legitimieren oder stabilisieren lässt; die Legitimität der Herrschaft und des Staates wird dann in Frage gestellt, was nicht heißen muss (es aber kann), dass der Staat nicht mehr als Staat anerkannt wird; es kann auch einfach heißen, dass die Regierung stürzt, die Staatsform reformiert oder revolutionär verändert wird. Im Ergebnis muss man Bourdieu um verschiedene Modi der Legitimation von Herrschaft ergänzen, wenn man Humes Frage beantworten will: Warum fügt sich die große Mehrheit einer Herrschaft, von der vor allem andere, eine Minderheit, profitieren? Aber mit Bourdieu lässt sich die Basislegitimität als in der tiefen Struktur der Doxa verwurzelt verstehen. Mit der Anerkennung des Staates als Staat wird eine relative faktische Zustimmung produziert, d.h. in Folge der Sozialisation in die Köpfe und Körper der Staatsbürger eingeschrieben. Die Basislegitimation, lässt sich abschließend resümieren, kann zu einer gewissen Apathie gegenüber den Organisationsformen des bürgerlichen Staates führen. Der Staat erscheint von vornherein als legitim, seine Entscheidungen, Maßnahmen und Befehle als gerechtfertigt, so dass das subjektive Moment sich in den sozialen Auseinandersetzungen zurückzieht, auf Intervention verzichtet und 366 in Apathie gegenüber der Form von staatlicher Herrschaft verfällt. Die überschießenden Tendenzen von Freiheit und Gleichheit werden gleichsam konsumiert und der Bürger zieht sich ins Private zurück, d.h. er akzeptiert staatliche Herrschaft, auch wenn er nicht partizipieren kann, diese nicht einmal die Form der parlamentarischen Beteiligung verwirklicht oder wenn die parlamentarische Beteiligung zu einem Staatsschauspiel degeneriert, was abschließend zu diskutieren ist. Die Basislegitimität kann das Gefühl verstärken: „Die da oben machen eh, was sie vollen – das interessiert mich nicht.“ c) Nationalstaat und das Andere Der Staat der bürgerlichen Gesellschaft hat sich und ist als Nationalstaat konstituiert. Die Nation ist nichts Essentielles, das vor dem Staat bestand, sondern ein Geschaffenes, eine staatliche Konstruktion, also ein Konstrukt, das mit dem Staat entsteht. Diese Konstruktion produziert aber potenziell Selbstüberhöhung der eigenen Nation und Diskriminierung des Anderen. Die Selbsterhöhung wird zum Ersatz für Selbstbestimmung, so dass Nationalismus als Teil der Basislegitimation des Staates verstanden werden muss. Nationalismus in diesem Sinne beruht auf der Vorstellung, die Nation sei etwas dem Staat Vorgängiges, d.h. die Nation existiere vor dem Staat und schließe sich – mit etwas Glück – zu einem Staat zusammen. Hobsbawm unterscheidet einen revolutionär-demokratischen und einen nationalistischen Begriff der Nation. „Die Formel ‘Staat = Nation = Volk’ galt für beide, doch für Nationalisten leiteten sich die zukünftigen politischen Einheiten aus der vorausgehenden Existenz einer Gemeinschaft ab, die sich von Fremden abgrenzte, während für die revolutionären Demokraten der Zentralbegriff das souveräne Volk von Staatsbürgern gleich dem Staat war, das im Verhältnis zum übrigen Menschheit eine ‘Nation’ bildete.“142 Das revolutionär-demokratische Verständnis der Nation entsteht in der großen französischen Revolution, in der sich das souveräne Volk als Nation konstituiert: „In diesem Verständnis war die Nation eine Gemeinschaft von Staatsbürgern, deren kollektive Souveränität sie zu einem Staat – als ihrem politischen Ausdruck – machte. Denn was immer eine Nation sonst sein mochte, das Elemente der Staatsbürgerlichkeit und der Massenteilhabe oder der Wahl fehlte darin nie.“143 So produziert dieser Begriff der Nation eine Affinität zwischen Kapitalismus und Staat, gerade weil keine vorgängige Einheit, keine „völkische“ Homogeni142 Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, S. 34. 143 Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, S. 30. 367 tät unterstellt wurde, die wird allenfalls im demokratischen Prozess erzeugt. Hobsbawm schreibt: „Wenn die Nation unter dem volksrevolutionären Aspekt überhaupt etwas gemein hatte, dann war es in einem grundlegenden Sinne nicht die ethnische Zugehörigkeit, Sprache und dergleichen, obgleich auch sie Zeichen einer kollektiven Möglichkeit sein konnten. Wie Pierre Vilar bemerkt hat, war es von unten betrachtet das eigentliche Kennzeichen der Nation als Volk, dass sie das Allgemeininteresse gegenüber den partikularen Interessen repräsentierte, das Gemeinwohl gegenüber den Privilegien.“144 Im Unterschied dazu separiert sich der nationalistische – vor allem deutsche – Begriff der Nation von der Demokratie, dient gleichsam als Ersatzlegitimation und wird übersteigert zur säkularen Religion, in der der neue Gott unfehlbar wird und damit jenseits der Kritik steht. Für den Nationalismus, der Herrschaft legitimiert, wird die Nation als vorgängige Existenz einer Gemeinschaft verstanden, auf der ein Staat aufbaut. Zuerst kam die Einheit der Nation, also des Volkes, dann der Staat. Zur Nation gehört man oder man gehört nicht dazu, man kann nicht dazu gehören, weil man sich zu ihr bekennt. Das einheitliche Volk gründet einen Staat, so der weit verbreitete Mythos. Bis heute wirkt diese Vorstellung fort, wie man den folgenden Definitionen des Nationalstaates sehr unterschiedlicher Provenienz entnehmen kann. Der Erzliberale John Stuart Mill schrieb: „Ein solches Gefühl der nationalen Zusammengehörigkeit kann aus den verschiedensten Ursachen entstanden sein. Mitunter wird es durch die gleiche Rasse und Abstammung hervorgerufen; Gemeinsamkeit der Sprache und Religion fördern es entscheidend. … Am stärksten in diesem Sinne aber wirkt eine gemeinsame politische Vergangenheit.“145 Dem folgte der Diktator Stalin: „Eine Nation ist eine historisch entstandene stabile Gemeinschaft von Menschen, entstanden auf der Grundlage der Sprache, des Territoriums, des Wirtschaftslebens und der sich in der Kultur der Gemeinschaft offenbarenden psychischen Wesensart.“146 Schließlich findet sich eine ähnliche Definition in einem juristischen Lehrbuch der Gegenwart: „Zum Staatsvolk gehören in einem umfassenden Sinne alle einem Staat zugehörigen Menschen. … Es stellt einen dauerhaften Personenverband, eine rechtliche und politische Schicksalsgemeinschaft dar. Die Bestimmungen, wer zum Staatsvolk gehört, kann 144 Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, S. 31. 145 Mill, Betrachtungen über die repräsentative Demokratie, S. 241. 146 Stalin, Marxismus und nationale Frage, Werke Bd. 2, S. 266. 368 nach den verschiedensten Kriterien vorgenommen werden (Sprache, Religion, Rasse, Nationalität (?) usw.).“147 Die vorgängige Einheit der Nation ist ein weit verbreiteter Irrtum, der von Historikern immer wieder und aufwendig als moderner Mythos widerlegt wird. Alle diese Kategorien, Kultur, Sprache, Ethnie, Religion usw. sind als Beschreibung der vorpolitischen Bindung einer Nation unzureichend, weil es in beide Richtungen eine Fülle von historischen und aktuellen Abweichungen gibt. Es gibt Gruppen, die ein Wir-Gefühl entwickeln, ohne damit eine Nation zu bilden und es gibt Nationen oder Nationalstaaten, die bei ihrer Entstehung keines der genannten Kriterien aufwiesen. Australien und die USA sind Beispiele für Nationalstaaten, für die das Merkmal Nation vor der Gründung des Staates völlig unangebracht war. Die Schweiz hat keine einheitliche Sprache, die USA sind multiethnisch, Deutschland zerfällt in sehr unterschiedliche Kulturen, die Religion ist in Europa seit längerem kein nationale Einheit stiftendes Merkmal mehr und Blutsbande und Rasse sind – seit der Nazi-Diktatur – tabu. Das muss nicht weiter expliziert werden, denn die Erkenntnis ist alt. Weber schrieb etwa: „‘Nation’ ist ein Begriff, der, wenn überhaupt eindeutig, dann jedenfalls nicht nach empirischen gemeinsamen Qualitäten der ihr Zugerechneten definiert werden kann. Er besagt, im Sinne derer, die ihn jeweilig brauchen, zunächst unzweifelhaft, dass gewissen Menschengruppen ein spezifisches Solidaritätsempfinden anderen gegenüber zuzumuten sei, gehört also der Wertsphäre an. Weder darüber aber, wie jene Gruppen abzugrenzen seien, noch darüber, welches Gemeinschaftshandeln aus jener Solidarität zu resultieren habe, herrscht Übereinstimmung. … Dass ‘nationale’ Zugehörigkeit nicht auf realer Blutsgemeinschaft ruhen muss, versteht sich vollends von selbst: überall sind gerade besonders radikale ‘Nationalisten’ oft von fremder Abstammung. Und vollends ist Gemeinsamkeit eines spezifischen anthropologischen Typus zwar nicht einfach gleichgültig, aber weder ausreichend zur Begründung einer ‘Nation’, noch auch dazu erforderlich. Wenn gleichwohl die Idee der ‘Nation’ gern die Vorstellung der Abstammungsgemeinschaft und einer Wesensähnlichkeit (unbestimmten Inhalts) einschließt, so teilt sie das mit dem – wie wir sahen – ebenfalls aus verschiedenen Quellen gespeisten ‘ethnischen’ Gemeinsamkeitsgefühl. Aber ethnisches Gemeinsamkeitsgefühl allein macht noch keine ‘Nation’.“148 147 Katz, Staatsrecht, Rn. 25. 148 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 528. 369 Hobsbawm teilt als Ergebnis seiner historischen Analysen, dass es keinen essentiellen Begriff der Nation geben kann, diese aber dennoch wirkmächtig ist, also das Leben und Handeln der Menschen bestimmen (kann), deshalb schlägt er vor, die Nation über das – wie auch immer entstandene Zugehörigkeitsgefühl zu einer größeren Menschengruppe zu verstehen. Hobsbawm schreibt: „Weder subjektive und objektive Definitionen sind demnach befriedigend, und beide führen in die Irre. In jedem Fall ist eine agnostische Haltung für den an diesem Thema Interessierten wohl die beste Ausgangsposition, und deshalb wird auch in diesem Buch nicht vorweg eine Definition von dem gegeben, was eine Nation ausmacht. Als vorläufige Arbeitshypothese wird darunter jede ausreichend große Gemeinschaft von Menschen verstanden, deren Mitglieder sich als Angehörige einer Nation betrachten. Ob sich allerdings eine solche Gemeinschaft auch selbst so versteht, lässt sich nicht einfach feststellen.“149 Wenn die Nation nicht essentiell zu verstehen ist, kann sie nur in Verbindung mit dem Nationalstaat als Staatsnation oder auch „gegen den Nationalstaat“ als sich im Staat konstituierende Minderheit gedacht werden. Die Nation existiert nicht vor dem modernen Nationalstaat. Hobsbawm formuliert pointiert: „Wie die meisten ernsthaften Forscher betrachte ich die Nation nicht als eine ursprüngliche oder unveränderliche soziale Einheit. Sie gehört ausschließlich einer bestimmten und historisch jungen Epoche an. Sie ist eine gesellschaftliche Einheit nur insofern, als sie sich auf eine bestimmte Form des modernen Territorialstaates bezieht, auf den Nationalstaat, und es ist sinnlos, von Nation und Nationalität zu sprechen, wenn diese Beziehung nicht mitgemeint ist.“150 Wenn man den Begriff der Nation und den Staat der bürgerlichen Gesellschaft nicht trennen kann, scheint er ein Organisationsprinzip der bürgerlichen Gesellschaft zu sein, das eben den Strukturen dieser Gesellschaft entspringt. Wir hatten gesehen, dass „das Private“ mit der bürgerlichen Gesellschaft entsteht, erst in der bürgerlichen Gesellschaft die private von der öffentlichen Sphäre getrennt wird. Das Öffentliche konstituiert sich als Herrschaftsbereich, als politische Macht, deren ökonomische Basis außerhalb liegt, nämlich im Wesentlichen im Steueraufkommen der nun Privaten. Diese brauchen deshalb eine rechtliche Sicherung gegen den unbeschränkten Zugriff der öffentlichen Macht. Umgekehrt werden die alten Bindungen aufgelöst. Der freie Lohnarbeiter ist genauso wenig an seinen Herrn gebunden wie der Bourgeois an den politischen Herrscher oder besser den Staat, und die Bindung zwischen den Einwohnern eines Territoriums wird 149 Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, S. 19. 150 Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, S. 21 f. 370 zur vertraglichen Bindung, die Vergesellschaftung des bürgerlichen Individuum erfolgt über den Markt. Fallen die persönlichen Herrschaftsbeziehungen weg, müssen die Beziehungen in anderer Form hergestellt werden. Das geschieht in der Auseinandersetzung um Herrschaftsbesitz im Zweifel zunächst über Gewalt, aber die Gewalt hat den Sinn der Abgrenzung, sie führt zu der Frage, über welches Territorium – das an die Stelle der persönlichen Bindungen tritt – darf Staatsgewalt ausgeübt werden, d.h. in welchem Territorium kann das Recht Geltung beanspruchen und durchgesetzt werden. Die Abgrenzung von Herrschaftsbefugnissen geschieht durch das geltende und anzuwendende Recht in einem Territorium und erst am Ende durch die Anwendung der Gewalt, die hinter dem Recht steht. Kurz: An die Stelle der personalen Bindungen treten die rechtlichen Bindungen und soweit diese reichen, reicht der Staat. Der Staat konstituiert sich als Rechtseinheit. Kelsen hat die Konsequenz mit Blick auf den juristischen Staatsbegriff, der den Staat – gedanklich etwas schlicht – über die Dreieinigkeit von Volk, Territorium und Staatsgewalt definiert, in aller Klarheit beschrieben: „Nur wenn man den Staat mit einer geographischen Fläche identifiziert, muss man die irgendwie doch auch zum Staat gehörigen Menschen in diesem Gebiet festwurzeln, damit einem dieses ‘Element’ nicht verloren gehe. Von all diesen naiven Vorstellungen mit ihren oft höchst verwirrenden Konsequenzen emanzipiert sich die Theorie erst durch die Einsicht, dass das Staatsgebiet eben nichts anderes ist als der Geltungsraum, der räumliche Geltungsbereich der staatlichen Rechtsordnung. Und tatsächlich ist bereits eine jüngste Richtung der Staatslehre im Begriffe, die beispiellos primitive bisherige Gebietstheorie dadurch zu überwinden, dass sie das Staatsgebiet als örtliche Kompetenz des Staates auffasst.“151 Und der Staat konstituiert sich als einheitlicher Markt und den einheitlichen Markt über den Staat. Der Markt ist einheitlich durch die schon vorausgesetzte Rechtseinheit, die Anwendung gleicher Regeln des Wirtschaftens und durch ein einheitliches Zollgebiet. Diese Einheit ist keine natürliche, sondern eine historisch gewordene und damit kontingente. Diese Form einheitlichen Wirtschaftens erfordert Grenzziehungen, d.h. Abgrenzung gegenüber den anderen, was durch Nationenbildung geschah. Eine wichtige Funktion der Nation war „die Herstellung einer territorial definierten ‘Volkswirtschaft’ oder nationalen Ökonomie“152 , so „bedeutete ‘Nation’ eine Wirtschaft innerhalb nationaler Grenzen und deren 151 Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 147. 152 Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, S. 208. 371 systematische Förderung durch den Staat, und das hieß im 19. Jahrhundert nichts anderes als Protektionismus.“153 Festgestellt wird mit der territorialen die personale Geltung der Markt- und Rechtsregeln. Hier wird der zweite Faktor relevant. Die verlorenen personalen Bindungen – und auch religiösen Bindungen, die in der kapitalistischen Ökonomie verdampfen – suchen Ersatz, d.h. eine neue Form der Verbindung, so dass die Rechtseinheit sich als nationale Einheit ausdrückt. Gebraucht wird eine Rechtfertigung, warum die Grenzen der Herrschaft, des Rechts und des einheitlichen Marktes hier und nicht anderswo verlaufen. Das lässt sich nicht mehr mit der Stellung des Eigentümers oder des Lehnsherrn begründen. Die Einheit wird durch eine neu geschaffene Nation hergestellt. Die Nationenbildung ist im Ergebnis zu begreifen als Identitätsstiftung durch Herstellung einer Einheit, die mit den Marktgrenzen übereinstimmt. Das funktionierte in den erfolgreichen Fällen der Nationenbildung, in anderen allerdings nicht, wenn ausreichend große Gruppen innerhalb des Staatsgebietes als das Andere konstruiert wurden oder sich selbst konstruierten, also sich wie etwa Basken in Spanien ausgehend von einem Abgrenzungsmerkmal, das beliebig tauschbar ist, als Minderheiten konstituierten oder von der Mehrheit als solche ausgegrenzt wurden wie die Juden. So lässt sich feststellen: „Nicht die Nationen sind es, die Staaten und Nationalismen hervorbringen, sondern umgekehrt.“154 Der berühmte Ausspruch des italienischen Nationalisten Massimo d’Azeglio in der ersten Parlamentssitzung des gerade vereinigten Italiens bringt die Beziehung von Staat und Nation auf den Punkt: „Wir haben Italien geschaffen, jetzt müssen wir Italiener schaffen“155, ganz ähnlich klingt die Äußerung von Marschall Pilsudski, der im Ersten Weltkrieg erfolgreich für die Eigenständigkeit Polens gestritten hatte: „Der Staat macht die Nation, nicht die Nation den Staat.“156 Der Staat kann die Nation schaffen, indem er – wahrscheinlich unter Aufgriff protonationaler Einstellungen in der Bevölkerung des Territoriums – Strukturen und Institutionen schafft, über die das nationale Wir-Gefühl in die Körper und Vorstellungswelten der Menschen eingeschrieben wird. Denn die Nationenbildung von oben funktioniert immer nur, wenn sie an Dispositionen unten, d.h. in der Bevölkerung anknüpft. So schreibt – wieder – Hobsbawm: „Aus diesem Grund sind Nationen nach meinem Dafürhalten Doppelphänomene, im Wesentlichen zwar von oben konstruiert, 153 154 155 156 372 Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, S. 41. Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, S. 21. Zit. nach Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, S. 58. Zit. nach Roos, A History of Modern Poland, S. 48. doch nicht richtig zu verstehen, wenn sie nicht auch von unten analysiert werden, d.h. vor dem Hintergrund der Annahmen, Hoffnungen, Bedürfnisse, Sehnsüchte und Interessen der kleinen Leute.“157 Die Wir-Identität ist nicht zwingend mit Diskriminierung verbunden, aber sie schafft die strukturellen Voraussetzungen, weil mit dem „Wir“ zwangläufig die Abgrenzung zum Anderen verbunden ist. Das Andere ist das Nicht-Nationale, zunächst die Fremden außerhalb der Staatsnation, dann aber das Fremde und Andere innerhalb des Staates. Vor allem in der Krise manifestiert sich die strukturelle Latenz, die Abgrenzung zum Anderen wird zur Ausgrenzung und Diskriminierung. Prominent geworden ist Carl Schmitts theoretische Rechtfertigung der Abgrenzung und schließlich Ausgrenzung des Anderen aufgrund des Postulats nationaler Homogenität als Voraussetzung der Demokratie. Schmitt konstruiert einen Gegensatz von Demokratie und Liberalismus, womit er die national homogene Demokratie zum Gegenstück zur liberalen Menschheitsdemokratie aufbaut und letztere gleichzeitig fundamentalistisch angreift. Jede Demokratie, meint Schmitt, „beruhe darauf, dass nicht nur Gleiches gleich, sondern mit unvermeidlicher Konsequenz, das Nichtgleiche nicht gleich behandelt wird. Zur Demokratie gehört also notwendig erstens Homogenität und zweitens – nötigenfalls – die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen.“158 Die geforderte Homogenität wird als nationale Homogenität gedacht, nicht als Menschengleichheit, denn die Gleichheit der Menschen sei ein liberaler Gedanke und kein demokratischer und es würde „die politische Gleichheit in demselben Maße entwertet, wo er (der Staat) sie der Menschengleichheit annähert,“ die Gleichheit verlöre ihre Substanz.159 Der Gehalt dieser Substanz und ihre Entwertung bleiben im Dunkeln. Unmissverständlich macht Schmitt aber klar, was er unter der Ausscheidung und Vernichtung des national Heterogenen versteht, nämlich einen Sachverhalt, den man heute als ethnische Säuberung bezeichnen würde. Er verweist als „positives“ Beispiel auf die damalige Türkei mit ihrer Praxis der „radikalen Aussiedlung der Griechen und ihrer rücksichtslosen Türkisierung des Landes.“160 Das Nicht-Synthetisierbare, das absolut Andere, die verharrende Vielfalt, lässt sich dann folgern, muss nivelliert, integriert oder diskriminiert werden, damit die Einheit bestehen kann, sich selbst als Einheit repräsentieren kann und letztlich 157 158 159 160 Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, S. 21. Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 13 f. Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 18. Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 14. 373 Herrschaft legitimieren kann. Diese Repräsentation des einheitlichen „Wir“ durch den Staat bleibt keineswegs ein ideologisches Konstrukt, sondern wird durch die unterschiedlichsten Formen der Diskriminierung mehr oder weniger gewaltsam in die Körper der Anderen eingeschrieben161. Im Ergebnis ist die formale Rationalität des Marktes, des Rechts und des modernen Staates nur die eine Seite der Moderne. Gleichzeitig produziert die national-staatliche, also die nationale und die staatliche Organisation der Herrschaft eine neue Abgrenzung zwischen Innen und Außen, zwischen Wir und dem Anderen. Diese Abgrenzung schafft eine strukturelle Latenz, die in krisenhaften Situationen – welcher Art auch immer – hervorbrechen und in Verfolgung und Diskriminierung manifest werden kann. Die nationalistische Konstruktion des „Wir“ im Staat gerät so nicht nur in einen strukturellen Gegensatz zu einer emphatisch, emanzipatorischen Demokratie, die keine homogene Einheit des Volkes voraussetzt, sondern „Einheit“ allenfalls als „allgemeines Interesse“, als „Gemeinwohl“ im demokratischen Prozess destilliert oder entwickelt. In der Konsequenz gerät der Nationalismus auch in Konflikt mit dem Rechtsstaat, der die Gleichheit vor dem Gesetz nur an das Menschsein bindet. Im demokratischen Prozess gibt es keine nationalen Voraussetzungen, wie immer diese auch konstruiert sein mögen, nach Rasse, Geschlecht, Ethnie, Religion usw. Voraussetzung der Beteiligung wie der rechtlichen Gleichbehandlung ist das Menschsein als potenzieller Adressat der allgemein verbindlichen Entscheidung, wofür die Staatsbürgerschaft die rechtliche Fiktion schafft – also: Wer Staatsbürger ist, ist potenzieller Adressat staatlicher Entscheidungen. Das Postulat nationaler Einheit dagegen gerät in einen Gegensatz zum Parlamentarismus, der gleiche Repräsentation beinhaltet, und zum Rechtsstaat, weil es Ungleichheit unterstellt, hat also abstoßende Effekte zur Folge. So lässt sich im Ergebnis neben der Affinität eine mehrdimensionale Repugnanz von Kapitalismus und Demokratie feststellen. Im Ergebnis gibt es strukturelle Momente, die eine Affinität und solche, die eine Repugnanz von Demokratie und Kapitalismus begründen. Wenn es sowohl affine wie repugnante Faktoren in den Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft, das heißt in der Beziehung zwischen Demokratie und Kapitalismus gibt, dann besteht kein Grund für die Annahme, bürgerliche Gesellschaften würden sich in der Tendenz demokratisch organisieren – genauso wenig ist eine prinzipielle Neigung zu einem autoritären Regime anzunehmen. Ob sich eine eher demokratische 161 Zunächst in die Körper der vaterlandslosen Gesellen, später der bolschewistischen Juden oder der jüdischen Bolschewiki und auch die Great Society oder die formierte Gesellschaft war keineswegs repressionsfrei. 374 oder eine eher autoritär, diktatorische Organisation des Staates entwickelt oder durchsetzt, hängt dann offenbar von den Kräfteverhältnissen in der Gesellschaft und im Staat ab, die sich – wie im ersten Kapitel diskutiert wurde – im Zweifel nicht decken. Die Kräfteverhältnisse ergeben sich nun nicht aus irgendwelchen objektiven Interessen, der objektiven sozialen Situation, sondern sind abhängig vom subjektiven Faktor, also davon, inwieweit sich die Menschen oder Staatsbürger für demokratische Rechte und Teilhaber einsetzen, inwieweit diese verteidigt und erkämpft werden. Der subjektive Faktor beschreibt die Kontingenz des Handelns relevanter Akteure. Diese sind in die Strukturen der Gesellschaft eingebunden, werden innerhalb der Strukturen sozialisiert und reproduzieren sie beständig durch ihr Handeln. Aber die Strukturierung des Handelns ist keineswegs als Determinierung zu verstehen. Die handelnden Subjekte sind in ihren Lebensäußerungen, d.h. ihrem Handeln strukturiert, aber nicht determiniert. Das ist offensichtlich, wenn die Struktur, wie das Ergebnis unserer Analyse zeigt, uneindeutig bzw. widersprüchlich ist und so schon wegen dieser Widersprüchlichkeit divergierende Impulse und Tendenzen in der Orientierung handelnder Akteure hervorbringen muss. Die Annahme oder Unterstellung menschlicher Freiheit, ohne die Demokratie in ihrem emanzipatorisch, aufklärerischen Gehalt nicht diskutiert werden müsste und könnte, schließt es darüber hinaus aus, das Handeln der Subjekte nur als Reflex auf strukturelle Bedingungen zu verstehen. V. Die Mechanismen der Stabilisierung bürgerlicher Herrschaft Die Basislegitimität des Staates sowie nationaler Chauvinismus wurden als Ansätze entwickelt, um zu verstehen, warum Menschen sich mit Herrschaft abfinden, auch mit einer Herrschaft, die nicht in Übereinstimmung mit ihren Bedürfnissen, Werten, Vorstellungen oder Interessen agiert. Die Basislegitimität bezieht sich sowohl auf die eingangs gestellte Frage von Hume wie auf die Frage von Marx, warum die beherrschten Klassen unter einer demokratisch-parlamentarischen Verfassung nicht zur sozialen Revolution voranschreiten. Die materialistische Staatstheorie hat zu dieser Frage verschiedene Erklärungsmuster hervorgebracht, die ich unterschiedlichen historischen Phasen zugeordnet habe. Ich will diese Form der Rezeption nicht wiederholen,162 sondern nur schlagwortartig Ergeb162 Vgl. ausführlich, Fisahn, Herrschaft im Wandel, passim. 375 nisse und Ergänzungen referieren, um Tendenzen und Widersprüche aktueller Entwicklungen aufzuzeigen. Gezeigt wurde schon, dass die repressive Sicherung von Eigentums- und Aneignungsverhältnissen bestimmten Epochen der bürgerlichen Gesellschaft zuzuordnen sind. 1. Hegemonie und Kulturindustrie Gramsci geht über die Charakterisierung des Staates als Gewaltmaschine hinaus und kommt zu der These, dass in der bürgerlichen Gesellschaft Zustimmung über kulturelle Integration erreicht wird. Sein theoretisches und praktisches Problem war, eine Erklärung dafür zu finden, warum die Revolution in Russland glücken konnte, während sie im Westen grandios scheiterte und stattdessen faschistische Diktaturen oder zumindest autoritäre Regime installiert wurden, die sich auch in Europa bis in 1970er Jahre (Spanien, Portugal, Griechenland) halten konnten. Ausgangspunkt für seinen Erklärungsansatz ist die Unterscheidung zwischen Staat und Zivilgesellschaft oder bürgerlicher Gesellschaft. Die Zivilgesellschaft hat für ihn zentralen Anteil an der Sicherung von Herrschaft oder Stabilisierung der kapitalistischen Gesellschaft. Gramsci füllt die Begriffe Staat und Zivilgesellschaft in folgender Weise: „Vorläufig lassen sich zwei große superstrukturelle ‘Ebenen’ festlegen, diejenige, die man die Ebene der ‘Zivilgesellschaft’ nennen kann, das heißt das Ensemble der gemeinhin ‘privat’ genannten Organismen, und diejenige der ‘politischen Gesellschaft oder des Staates’ –, die der Funktion der ‘Hegemonie’, welche die herrschende Gruppe in der gesamten Gesellschaft ausübt, und der Funktion der ‘direkten Herrschaft’ oder des Kommandos, die sich im Staat und in der ‘formellen’ Regierung ausdrückt, entsprechen. Diese Funktionen sind eben organisierend und verbindend.“163 Zentral ist bei Gramsci der Begriff der Hegemonie. Hegemonie „erwächst aus der zivilen Gesellschaft und ist politische, geistige, kulturelle und moralische Führung in der Gesellschaft, das heißt der erlangte Einfluss auf Mehrheiten; Hegemonie ist kein Anspruch, sondern eine von den Partnern gebilligte, anerkannte Führungsfunktion jener Kraft, die sich als hegemoniefähig erweist. Hegemonie beruht auf Zustimmung, Gleichberechtigung, Anerkennung, Konsens seitens derer, auf die sie sich erstreckt.“164 Der zentrale Unterschied zwischen Russland 163 Gramsci, Gefängnishefte, Bd. 7, S. 1502. 164 Neubert, Antonio Gramsci – Hegemonie – Zivilgesellschaft – Partei – eine Einführung (Hamburg 2001), S. 66 f. 376 und den westlichen Staaten ist für Gramsci, dass in Russland keine ausgeprägte, stabile bürgerliche Gesellschaft bestanden habe. Der russische Staat konnte sich nicht auf die Hegemonie in der Zivilgesellschaft stützen, er war gleichsam nur ein Zwangsapparat, dem die konsensuale Zustimmung fehlte. Die Revolution konnte in Russland deshalb gelingen, weil es ausreichte, den Angriff auf den Staat zu konzentrieren, die Staatsmacht zu erobern und die alte Herrschaft davonzujagen. Dies konnte im Westen nicht gelingen, weil sich der Staat auf kulturelle Hegemonie in der Zivilgesellschaft stützen konnte, es gab eine historisch gewachsene bürgerliche Gesellschaft. Den Staat bestimmt Gramsci darum nicht mehr ausschließlich über die repressiven Organe oder Apparate, sondern entwickelt einen Begriff des „integralen Staates“, der die „ideologischen“ oder Hegemonie „produzierenden“ Organe, Institutionen, Apparate, insbesondere Bildungs- und Kultureinrichtungen sowie Medien umfasst. „Denn es ist festzuhalten, dass in den allgemeinen Staatsbegriff Elemente eingehen, die dem Begriff der Zivilgesellschaft zuzuschreiben sind (in dem Sinne könnte man sagen, dass Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie gepanzert mit Zwang).“165 Herrschaft ist bei Gramsci also nicht nur, nicht einmal vornehmlich zu charakterisieren durch Repression, direkte Unterdrückung der Beherrschten, der ausgebeuteten Klassen. Mindestens ebenso wichtig ist die Organisation und Herstellung von Zustimmung oder Konsens. Dies geschieht für Gramsci durch die Vermittlung und Internalisierung kultureller Werte und Praktiken. Die Kulturindustrie, die populäre Kultur oder – in Italien – die katholische Kirche produzieren ein Weltverständnis, so Gramsci, das eine Zustimmung zur bürgerlichen Gesellschaft insgesamt hervorruft. Gramscis Analyse der kulturellen Hegemonie im präfaschistischen Italien erscheint geradezu romantisch, oder kritischer formuliert, altbacken, wenn man es mit der Analyse der Kulturindustrie in der „Dialektik der Aufklärung“ vergleicht. Horkheimer und Adorno lassen sich so lesen, dass sie Gramscis Analysen der Kultur und kulturellen Hegemonie in gewissem Sinne fortschreiben, sie radikalisierten und auf einen Stand bringen, der bis heute aktuell ist. Das Kapitel über die Kulturindustrie des 1947 erschienenen Buches kritisiert – aus heutiger Perspektive – die Anfänge der US-amerikanischen Kulturindustrie, die im Rückblick geradezu als das niveauvolle, goldene Zeitalter Hollywoods erscheinen. Ausgangspunkt für Horkheimer und Adorno ist die Feststellung, dass Kultur oder im engeren Sinne Kunst der Warenform völlig subsumiert 165 Gramsci, Gefängnishefte Bd. 4, S. 783. 377 werden, woraus folgt, dass Kultur zu einem industriellen Massenprodukt wird. An einigen Stellen gewinnt der Leser den Eindruck, dass für Horkheimer und Adorno diese Tatsache allein schon problematisch ist. Sie argumentieren analog zu Benjamins Überlegungen in seinem berühmten Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, der feststellt: „Was im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verkümmert, das ist seine Aura.“166 Mit der Reproduzierbarkeit, der massenweisen Vervielfältigung, werde die „Verarmung der ästhetischen Materialien“ radikal gesteigert, so Horkheimer und Adorno.167 In unserem Kontext ist die These relevanter, dass die Kulturindustrie Herrschaft absichert, indem sie die Individuen zu glücklichen Konsumenten macht, damit Widerständigkeit bricht und aktive Zustimmung erzeugt, weil sie die gegebenen Verhältnisse erstens als unabänderlich und zweitens als gut erscheinen lässt und entsprechende Orientierungsmuster bei den Rezipienten produziert. Die Kulturindustrie produziere die Negation von individuellem Stil, der keineswegs als „ästhetische Gesetzmäßigkeit“ zu begreifen sei. Das sei eine romantische Projektion. Der individuelle Stil des großen Künstlers oder Kunstwerks entspringt dem Leiden des Künstlers an der schlechten Wirklichkeit, das sich als „negative Wahrheit“ im Kunstwerk einen Ausdruck verschafft, der der Logik der Sache entspringe und nicht dem Versuch, einen marktförmigen Stil zu produzieren, gegen den Kunst sich immer ein Misstrauen bewahrt habe. Die Kulturindustrie produziert nur noch Imitate von Stil und so das Anpassen an die gesellschaftliche Wirklichkeit. Horkheimer und Adorno schreiben: „Das Moment am Kunstwerk, durch das es über die Wirklichkeit hinausgeht, ist in der Tat vom Stil nicht abzulösen; doch es besteht nicht in der geleisteten Harmonie, der fragwürdigen Einheit von Form und Inhalt, Innen und Außen, Individuum und Gesellschaft, sondern in jenen Zügen, in denen die Diskrepanz erscheint, im notwendigen Scheitern der leidenschaftlichen Anstrengung zur Identität. Anstatt diesem Scheitern sich auszusetzen, in dem der Stil des großen Kunstwerks seit je sich negierte, hat das Schwache immer an die Ähnlichkeit mit anderen sich gehalten, an das Surrogat der Identität. Kulturindustrie endlich setzt die Imitation absolut. Nur noch Stil, gibt sie dessen Geheimnis preis, den Gehorsam gegen die gesellschaftliche Hierarchie.“168 166 Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Gesammelte Schriften Band I, Teil 2, S. I75. 167 Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 111. 168 Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 117. 378 Das Produkt der Kulturindustrie – insbesondere von Tonfilm und Fernsehen – sei so angelegt, dass es „zwar Promptheit, Beobachtungsgabe, Versiertheit erheischt, dass sie aber die denkende Aktivität des Betrachters geradezu verbieten, wenn er nicht die vorbeihuschenden Fakten versäumen will.“169 Es ist inzwischen eine allgemein geteilte Diagnose: Das Fernsehen trägt zur Verblödung des Publikums bei – die neuen Formate des Privatfernsehens erlauben keinen ernsthaften Widerspruch zu dieser Feststellung. Horkheimer und Adorno koppeln diese Feststellung an die Realität der Arbeitswelt zurück; die leichte Entspannung kompensiert die Anforderungen im Arbeitsprozess. Sie schreiben: „Amusement ist die Verlängerung der Arbeit unterm Spätkapitalismus. Es wird von dem gesucht, der dem mechanisierten Arbeitsprozess ausweichen will, um ihm von neuem gewachsen zu sein. Zugleich aber hat die Mechanisierung solche Macht über den Freizeitler und sein Glück, sie bestimmt so gründlich die Fabrikation der Amüsierwaren, dass er nichts anderes mehr erfahren kann als die Nachbilder des Arbeitsvorgangs selbst. Der vorgebliche Inhalt ist bloß verblasster Vordergrund; was sich einprägt, ist die automatisierte Abfolge genormter Verrichtungen. Dem Arbeitsvorgang in Fabrik und Büro ist auszuweichen nur in der Angleichung an ihn in der Muße. Daran krankt unheilbar alles Amusement. Das Vergnügen erstarrt zur Langeweile, weil es, um Vergnügen zu bleiben, nicht wieder Anstrengung kosten soll und daher streng in den ausgefahrenen Assoziationsgeleisen sich bewegt. Der Zuschauer soll keiner eigenen Gedanken bedürfen: das Produkt zeichnet jede Reaktion vor.“170 Am Ende steht Anpassung und Konformität, die nicht nur passive Akzeptanz des Bestehenden erzeugt, sondern aktive Zustimmung, d.h. die aktive Stellungnahme für die gesellschaftlichen Zustände: „Was nicht konformiert, wird mit einer ökonomischen Ohnmacht geschlagen, die sich in der geistigen des Eigenbrötlers fortsetzt. Vom Betrieb ausgeschaltet, wird er leicht der Unzulänglichkeit überführt. Während heute in der materiellen Produktion der Mechanismus von Angebot und Nachfrage sich zersetzt, wirkt er im Überbau als Kontrolle zugunsten der Herrschenden. Die Konsumenten sind die Arbeiter und Angestellten, die Farmer und Kleinbürger. Die kapitalistische Produktion hält sie mit Leib und Seele so eingeschlossen, dass sie dem, was ihnen geboten wird, widerstandslos verfallen. Wie freilich die Beherrschten die Moral, die ihnen von den Herrschenden kam, stets ernster nahmen als diese selbst, verfallen heute die betrogenen Massen mehr noch als die Erfolgreichen dem Mythos des 169 Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 114. 170 Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 123. 379 Erfolgs. Sie haben ihre Wünsche. Unbeirrbar bestehen sie auf der Ideologie, durch die man sie versklavt. Die böse Liebe des Volks zu dem, was man ihm antut, eilt der Klugheit der Instanzen noch voraus.“171 Dabei lassen Horkheimer und Adorno durchaus Spielräume für Differenzierungen im Kulturkonsum, denn: „Der Fortschritt der Verdummung darf hinter dem gleichzeitigen Fortschritt der Intelligenz nicht zurückbleiben.“172 Dem Anspruch auf Individualität und auf Bildung wird Rechnung getragen. Aber das Individuum wird illusionär und „nur so weit geduldet, wie seine rückhaltlose Identität mit dem Allgemeinen außer Frage steht. Von der genormten Improvisation im Jazz bis zur originellen Filmpersönlichkeit, der die Locke übers Auge hängen muss, damit man sie als solche erkennt, herrscht Pseudoindividualität. Das Individuelle reduziert sich auf die Fähigkeit des Allgemeinen, das Zufällige so ohne Rest zu stempeln, dass es als dasselbe festgehalten werden kann. Gerade die trotzige Verschlossenheit oder das gewählte Auftreten des je ausgestellten Individuums werden serienweise hergestellt wie die Yaleschlösser, die sich nach Bruchteilen von Millimetern unterscheiden.“173 Und der gebildete Genuss des Kunstwerks, sein Gebrauchswert „wird durch den Tauschwert ersetzt, anstelle des Genusses tritt Dabeisein und Bescheidwissen, Prestigegewinn anstelle der Kennerschaft.“174 Die Kulturindustrie schafft eigene, neue Bedürfnisse, die durch (kulturellen) Konsum befriedigt werden können – das Individuum wird Konsument und nur Konsument, d.h. ein Anderes, Jenseitiges außerhalb des Konsums wird unzulässig: „Entscheidend heute ist nicht mehr der Puritanismus, obwohl er sich in Gestalt der Frauenorganisationen immer noch geltend macht, sondern die im System liegende Notwendigkeit, den Konsumenten nicht auszulassen, ihm keinen Augenblick die Ahnung von der Möglichkeit des Widerstands zu geben. Das Prinzip gebietet, ihm zwar alle Bedürfnisse als von der Kulturindustrie erfüllbare vorzustellen, auf der anderen Seite aber diese Bedürfnisse vorweg so einzurichten, dass er in ihnen sich selbst nur noch als ewigen Konsumenten, als Objekt der Kulturindustrie erfährt. Nicht bloß redet sie ihm ein, ihr Betrug wäre die Befriedigung, sondern sie bedeutet ihm darüber hinaus, dass er, sei’s wie es sei, mit dem Gebotenen sich abfinden müsse. Mit der Flucht aus dem Alltag, welche die gesamte Kulturindustrie in allen ihren Zweigen zu besorgen verspricht, ist es bestellt wie mit der Entführung der Tochter im amerikanischen Witzblatt: 171 172 173 174 380 Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 120. Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 130. Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 139. Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 142. der Vater selbst hält im Dunklen die Leiter. Kulturindustrie bietet als Paradies denselben Alltag wieder an. Escape wie elopement sind von vornherein dazu bestimmt, zum Ausgangspunkt zurückzuführen. Das Vergnügen befördert die Resignation, die sich in ihm vergessen will.“175 Horkheimer und Adorno beschrieben die Entwicklung der Kulturindustrie geradezu prophetisch. Vom Amüsement zur Event-Kultur ist es nur ein vergleichsweise kleiner Schritt; Dabeisein ist alles, egal ob der Papst zelebriert wird oder ein Schlagersternchen auftritt. Da ist es irrelevant, ob man mit Religion etwas am Hut hat oder Jazz präferiert – insofern konnten sich Horkheimer und Adorno den Verfall des Niveaus nicht ausmalen. Aber ihre Beschreibung bleibt eindimensional, eben nicht dialektisch. Die Massenkultur ist im Ansatz auch egalitär, lässt Privilegien und Standesunterschiede nicht zu und schleift selbst Distinktionsmerkmale in inzwischen atemberaubender Geschwindigkeit. Die Propagierung von Prüderie und kleinbürgerlichen Orientierungsmustern, die heute – wieder, oder immer noch – so aktuell sind wie in den 1950er Jahren, wird immer wieder durchbrochen, weil die Normalisierung der Körper und die Gleichförmigkeit der Produktion im fordistischen Akkumulationsregime, das Horkheimer und Adorno genauso wie Foucault vor Augen haben, abgelöst wird durch eine neue Form der Atomisierung, die auch neue Formen der „heilen Welt“ hervorbringt. Weiter: Der „glückliche Konsument“ des Fordismus lernt in der neoliberalen Ordnung, dass die schöne neue Welt des Konsums für ihn unerreichbar ist, imaginär oder illusionär bleiben muss, weil die soziale Schere immer weiter auseinanderklafft. Das gilt natürlich nicht für „den“ glücklichen Konsumenten, weil Differenzierungen angebracht sind und die unterstellte Einheitlichkeit nie bestehen kann. Aber ein immer größerer Teil der Bevölkerung auch in den wohlhabenden Industrieländern ist von der schönen Warenwelt, vom Glück im Konsum ausgeschlossen, d.h. der Konsument kann mit der Imagination der Kulturindustrie nur mithalten – oder meint dies zumindest, wenn er mehrere Jobs gleichzeitig annimmt, während Andere, der kulturindustriellen Imagination von Aufstieg, Anerkennung, Wohlstand und Glück folgend der Depression verfallen, wenn ihnen durch Burn-Out-Syndrome die Grenzen gezeigt werden. Die Kulturindustrie produziert im Neoliberalismus eine Vorstellung des Glücks, die in der materiellen Welt nicht mehr einzulösen ist. Das war sie zwar auch in der fordistischen Periode nicht, aber die Imagination des Glücks durch Konsum konnte insofern der Wirklichkeit angepasst werden, als Hoffnung auf „stetige Bes175 Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 127. 381 serung“, das heißt Hoffnung auf wachsenden materiellen Wohlstand und Aufstieg bestand, und gleichzeitig die Differenzen, der Unterschied zum Nachbarn, der Unterschied zwischen Arm und Reich geringer ausfiel. Kurz: die Kulturindustrie schafft Bedürfnisse, die nicht mehr einzulösen sind und die soziale Differenz, die soziale Ungleichheit wieder sichtbar und spürbar werden lassen, zu Bewusstsein bringen können – nicht weil darauf hingewiesen wird, der soziale Widerspruch vermittelt würde, sondern weil zwischen der heilen Welt der Kulturproduktion und der realen Welt eine Lücke klafft, die beständig größer wird. 2. Soziale Integration Nicos Poulantzas geht weiter, denn er hat nicht nur den kulturellen, sondern auch den materiellen Massenkonsum der fordistischen Gesellschaft vor Augen. Er konstatiert, dass der Staat sich nicht begreifen lasse, wenn man ihn nur als durch Ideologie abgesicherten Herrschaftsapparat versteht. Gramscis Formel „Hegemonie gepanzert mit Zwang“ reiche nicht aus, meint Poulantzas, und weil er den Sozialstaat zwischen 1950 und 1980 vor Augen hat, bemerkt er: „Die Beziehung der Massen zur Macht besitzt in dem, was man insbesondere als Konsens bezeichnet, stets ein materielles Substrat. Der Staat übernimmt daher beständig eine Reihe von positiven materiellen Maßnahmen für die Volksmassen, selbst wenn diese Maßnahmen durch den Kampf der beherrschten Klassen durchgesetzte Konzessionen darstellen. Es handelt sich dabei um einen grundlegenden Tatbestand; man kann der Materialität der Beziehung zwischen Staat und den Volksmassen nicht Rechnung tragen, wenn man sie auf das Paar Repression/ Ideologie reduziert.“176 Zustimmung hat im Sozialstaat ihr materielles Substrat, beschränkt sich nicht auf Mystifikationen, Kulturkonsumismus oder Ideologie. Die Organisation von Zustimmung über materielle Zugeständnisse weist erneut darauf hin, dass der Staat als von der ökonomischen Elite besonderte Macht zu denken ist, der nicht nur unabhängig, sondern auch gegen Interessen der ökonomischen Macht agieren kann. Poulantzas verwendet hierfür den später viel gebrauchten und geschundenen Begriff der „relativen Autonomie“ des Staates. Gleichzeitig sind die sozialstaatlichen Sicherungen nicht einfach Wohltaten gut meinender Politik, sondern im politischen Kampf errungene Zugeständnisse – was unter neoliberaler Hegemonie kaum zu betonen ist. Das führt Poulantzas zu der Ein176 Poulantzas, Staatstheorie, S. 60. 382 sicht, dass sich die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse nicht jenseits des Staates entwickeln, dem Staat vorgelagert sind und dann im Staat abgebildet werden. Die Kräfteverhältnisse sind vielmehr in den Staat eingeschrieben und der Staat schreibt sich in die Kräfteverhältnisse ein. Die Kräfteverhältnisse spiegeln sich im Staat nicht einfach wider, sondern erhalten ihren Stempel durch die Institutionen des Staates, werden durch das materielle Gerüst des Staates geprägt, bestimmt oder auch erst konstituiert. Die Kräfteverhältnisse bestimmen, ob durch sozialstaatliche Umverteilung und ein rechtlich abgesichertes Tarifsystem die Lebensbedingungen der unteren Klassen verbessert werden und ein relativer Wohlstand allgemein wird. Die Verteilungsverhältnisse, die Relation von Profit und Lohn, d.h. die Einkommensverteilung in einer Gesellschaft, unterliegen keinen ehernen Gesetzen, sondern Verteilungsfragen sind Fragen der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, u.a. der Stärke von Gewerkschaften und politischer Vertretung der Arbeiterbewegung. Die Verschiebung der Verteilungsverhältnisse zugunsten der Lohnarbeit in den kapitalistischen Zentren nach dem Zweiten Weltkrieg, im sog. deutschen Wirtschaftswunder oder in den „trente glorieuses“ (1945–1975), wie sie in Frankreich genannt wurden, führte zu politischen Verschiebungen, die radikale Opposition gegen das kapitalistische System wurde schwächer, weil auch die unteren Klassen für die „soziale Marktwirtschaft“ oder den „Rheinischen Kapitalismus“ gewonnen werden konnten, weil sie „das System“ grundsätzlich akzeptierten, es als legitim betrachteten. Herrschaft konnte durch soziale Integration gesichert werden. Frank Deppe beschreibt die Situation folgendermaßen: „Auf der anderen Seite zielte die Erweiterung der Staatstätigkeit auf die Entschärfung des Klassenkonfliktes. Der Staat übernimmt Aufgaben der sozialen Reproduktion und Kohäsion. Er verfolgte eine Wirtschaftspolitik, die auf Wachstum und Vollbeschäftigung (‘Keynesianismus’) ausgerichtet ist. Auf diese Weise soll der Klassenkonflikt ‘befriedet’ werden. Vor allem im Bereich der Sozialpolitik werden Vertreter der politischen und gewerkschaftlichen Organisationen in die Staatsapparate integriert. Sozialdemokratische Parteien, die die Chance hatten, Wahlen zu gewinnen und an der Regierung beteiligt zu sein, waren die wichtigsten Träger einer solchen Politik der Erweiterung der Staatstätigkeit.“177 Es hat sich inzwischen herumgesprochen, dass die Verteilungssituation sich spätestens seit den 1990er Jahren in den kapitalistischen Zentren wieder geändert hat. Die Verschiebung zugunsten der Lohnabhängigen wurde zurückgedreht. Es fand eine Umverteilung von unten nach oben statt, die Nettoeinkommen aus 177 Deppe, Der Staat, S. 82 f. 383 Kapital und „selbstständiger Arbeit“ wuchsen deutlich stärker als diejenigen aus abhängiger Arbeit. Dieses Phänomen wurde in der gesellschaftlichen Linken schon Ende der 1990er Jahre diskutiert, eine breite Diskussion um die „neue“ Ungleichheit im Kapitalismus begann mit Pikettys Buch „Das Kapital“178. Er zeigt, dass die Einkommensverteilung in den USA und Europa zwischen 1910 und 2010 eine U-Form annahm. In den USA sank das Einkommen des oberen Zehntels von ca. 50 % zwischen 1910 und 1920 auf unter 35 % in den 1950er Jahren und stieg nach 2000 wieder auf fast 50 %. Der Tiefpunkt des U liegt gleichmäßig zwischen 1950 und 1980. Ähnlich sah die Situation in kapitalistischen Kernländern Europas aus. Quelle: http://piketty.pse.ens.fr/files/capital21c/en/pdf/F0.I.1.pdf#page=1&zoom= auto,-27,595 Die neoliberale Wende hat in den 1980er Jahren die Umverteilung von unten nach oben eingeleitet, was aber erst in den 2000er Jahren dazu führte, dass die Sicherungen nach unten so weit reduziert wurden, dass von neuer Armut, einer neuen sozialen Frage, einer „neuen Unterschicht“ oder von einem „Prekariat“ gesprochen wurde. Die empirische Entwicklung muss hier nicht nachgezeichnet werden. Festzuhalten ist, dass im Ergebnis die integrative Wirkung der sozialstaatlichen Sicherung nachgelassen hat und die Herrschenden erschrecken, wenn 178 Vgl. Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, passim. 384 berichtet wird: „Jeder Dritte ist demnach davon überzeugt, dass der Kapitalismus zwangsläufig zu Armut und Hunger führe. Drei von zehn Befragten gaben an, sie könnten sich eine wirkliche Demokratie nur ohne Kapitalismus vorstellen.“179 Und es erregt Aufsehen, wenn Umfragen zufolge ungefähr die Hälfte der Bevölkerung den Kapitalismus „nicht mehr für zeitgemäß“ hält. Die durch soziale Integration erreichte Zustimmung bröckelt offenbar, was sich aber im politischen Kräfteverhältnis nur bedingt auswirkt. Einerseits wurde mit der neoliberalen Wende ein altes liberales Versprechen neu aktiviert und zur hegemonialen Deutung individueller Entwicklung. Der Neoliberalismus war auch deshalb eine Erfolgsgeschichte, weil er versprach: „Jeder ist seines Glückes Schmied.“ So wird „Versagen“, sozialer „Abstieg“ oder „Misserfolg“ von außen und innen als individuelles Versagen gedeutet und angenommen, dass man es individuell besser machen kann. Soziale Probleme, also beispielsweise objektiv steigende Armut, werden nicht als gesellschaftliches, sondern als individuelles Problem wahrgenommen, so dass kollektive Gegenwehr dem Individuum keinesfalls als aussichtsreiche oder auch nur in Betracht kommende Perspektive erscheint. Zweitens sind Armut und Ungleichheit relativ. Die nationale Ungleichheit wird im absoluten Vergleich der Armut zwischen den kapitalistischen Zentren und der Peripherie auch für die Unteren in den Zentren erträglich. Sie können sich immer noch zu den Privilegierten oder besser Gestellten zählen, was gern geschieht. Die Abgrenzung nach unten macht die Distanz nach oben erträglich, birgt aber immer auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Abgrenzung national-chauvinistisch verteidigt oder rassistisch verstärkt wird – eine Tendenz, die mit der stärkeren innergesellschaftlichen Ungleichheit stärker in den Vordergrund tritt. Sie unterminiert die demokratische Entwicklung in den Gesellschaften. Über kurz oder lang gefährdet der national-chauvinistische Diskurs und neue Egoismus auch die neue Form der neoliberalen Herrschaftssicherung über das Ausschalten relevanter Alternativen mittels supra- und internationaler Verrechtlichung. Thatchers TINA-Modell (There Is No Alternative) kann auch als Überschrift für die Zerstörung demokratischer Alternativen innerhalb der und durch die Europäische Union stehen. 179 Zeit vom 23.2.2015, http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-02/studiefu-berlin-linksextremismus-demokratie-skepsis (Zugriff. 31.8.2015). 385 3. Supranationale Verrechtlichung a) Verschiebung des sozialen Kompromisses Die Europäische Union hat sich in Etappen entwickelt, die sich deutlich voneinander abgrenzen lassen. Der EWG-Vertrag von 1957 erweiterte die Zollunion über Kohle und Stahl auf die gesamte wirtschaftliche Produktion der zunächst sechs Mitgliedstaaten. Zollunion bedeutete, dass die Mitgliedstaaten untereinander Aus- und Einfuhrzölle abbauen und nach außen gemeinsame Zolltarife entwickeln sollten. Die römischen Verträge enthielten schon die sog. vier Grundfreiheiten, also Warenverkehrs-, Kapitalverkehrs-, Dienstleistungsfreiheit und Arbeitnehmerfreizügigkeit. Der ursprüngliche EWG-Vertrag enthielt aber auch Regelungen zur Konjunkturpolitik, mit einer entsprechenden Ermächtigung für die europäischen Institutionen konjunkturpolitische Maßnahmen zu ergreifen (Art. 103 EWG 1957). In den aktuell geltenden Lissabonner Verträgen findet sich nicht einmal mehr das Wort „Konjunktur“, geschweige denn eine Kompetenznorm für eine gemeinschaftliche Konjunkturpolitik. Man kann mit Blick auf die „alte“ EWG von „einer begrenzten Öffnung der nationalen Wirtschaftsräume“ sprechen, die dazu beitrugen, „die nationalen fordistischen Entwicklungspfade“ abzusichern.180 Die römischen Verträge normierten in den Bestimmungen über die Warenverkehrsfreiheit, dass mengenmäßige Einfuhrbestimmungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten verboten sind (Art. 30 EWG 1957). Diese Grundregel findet sich bis heute im Primärrecht der EU (Art. 34 AEUV), wenngleich das Verbot heute kategorischer formuliert ist, weil (zeitliche) Einschränkungen weggefallen sind. Mengenmäßige Beschränkung meint im Ursprung die Kontingentierung von Warenexporten oder -importen. Diese Norm schlummerte bis Ende der 1970er Jahre weitgehend unbeachtet vor sich hin, bis sie vom EuGH aus dem Dornröschenschlaf gerissen wurde. In der sog. Dassonville-Entscheidung181 subsumierte das Gericht weitgehend alle nationalen Produktregelungen, welchen Zweck sie auch immer verfolgten, der „Maßnahme gleicher Wirkung“, die ebenso wie eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung nach den Verträgen verboten sei. Das wurde in späteren Entscheidungen182 relativiert und bestimmte Regulierungsgründe, d.h. Beschränkungen des Warenverkehrs etwa zum Schutze der menschlichen Gesundheit für 180 Bieling, Die neue europäische Ökonomie, S. 45. 181 EuGH 1974: Rs. 8/74. 182 EuGH 1979: Rs. 120/78. 386 zulässig erklärt. Der EuGH betätigte sich euphemistisch gesprochen als „Motor der Integration“, weniger apologetisch lässt sich diese Rechtsprechung als nicht legitimierte Rechtsfortbildung kritisieren. Mit dieser Rechtsprechung hat der EuGH den Startschuss für eine neue neoliberale Konkurrenzordnung gegeben, der die Politik zum Laufen veranlasste. Inzwischen setzt das Europäische Recht und die Rechtsprechung des EuGH nationalen, d.h. demokratischen Entscheidungen in wichtigen Bereichen enge Grenzen, wie beispielsweise beim Verbot von Tariftreueregelungen in Vergabegesetzen183, der Abwägung des Streik- und anderer Grundrechte mit der Warenverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit184 oder der Genehmigungspflicht staatlicher Beihilfen, welche die Strukturpolitik der Nationalstaaten radikal umgestaltete. Mit den Europäischen Verträgen hat sich der dem deutschen Grundgesetz und den Verfassungen der anderen Kernländer der EU zugrunde liegende Klassenkompromiss entscheidend verschoben. An die Stelle der in Volksabstimmungen abgelehnten Verfassung trat der inhaltlich identische Lissabonner Vertrag, der die neoliberalen Festschreibungen bestätigte. Die Verschiebung des Klassenkompromisses lässt sich charakterisieren als Übergang von einer wirtschaftspolitisch offenen Verfassung in der BRD und den meisten anderen Mitgliedsstaaten der EU hin zu einer europäischen Konstitution, die auf „offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ verpflichtet. Kennzeichen dieses verschobenen Klassenkompromisses ist die Etablierung eines europäischen Wettbewerbsstaates185 oder eines Wettbewerbskonstitutionalismus186. Die Entfesselung des europäischen Marktes bedeutet nicht nur Deregulierung. Der Markt braucht Regulierung. Da viele Kostenfaktoren aus der Sicht der Unternehmen durch einheitliche europäische Regulierungen – man denke etwa an Emissionswerte im Umweltrecht – in der EU angeglichen sind, liegt es nahe, dass der Wettbewerb der Staaten um Industrieansiedlungen in den Bereichen stattfinden muss, in denen es keine europäischen Vorgaben mangels entsprechender Kompetenz gibt. Zentral sind hier die direkten Steuern und die Sozialversicherungssysteme, die nicht in die Regelungskompetenz der EU fallen. Versuchte die Kohl-Regierung, den Standort Deutschland über weiche Faktoren zu verbessern, folgte die Regierung Schröder den strukturellen Vorgaben aus Eu183 EuGH Rs. C-346/05. 184 EuGH, Rs. C-438/05; C-341/05. 185 Vgl. Hirsch, Vom Sicherheitsstaat zum nationalen Wettbewerbsstaat, passim – dabei ist es an dieser Stelle müßig darüber zu streiten, ob die EU im juristischen Sinne als Staat zu bezeichnen ist. 186 Deppe, Autoritärer Kapitalismus, S. 11. 387 ropa und senkte mit Hartz IV nicht nur Sozialleistungen und -beiträge, sondern auch das Lohnniveau. Ähnlich konsequent wurden die Unternehmenssteuern gesenkt. Vorreiter dabei ist Irland mit Flatrate-Steuern, die entsprechend attraktiv für „global Player“ sind. Kurz: Die Europäische Wettbewerbsordnung produziert einen strukturellen Druck auf Sozialleistungen und Unternehmenssteuern, der zu einem Dumpingwettbewerb führen muss. Mit dem Maastricht-Vertrag wurde außerdem eine Liberalisierungspflicht des Kapitalverkehrs in die Verträge aufgenommen und zwischen 1993 und 2007 konsequent umgesetzt. Kurz: Man folgte den Vorgaben des Vertrages und eröffnete auch in Europa das Casino, das nach 2007 keineswegs geschlossen wurde. Mit dem Euro wurde ein weiteres Element eingeführt, dass die Handlungsfreiheit nationaler Regierungen und vor allem der nationalen Parlamente entscheidend einschränkt, ohne auf der Ebene der EU zu einer Handlungserweiterung des Parlaments geführt zu haben. Der Euro wurde eingeführt unter Fortbestand nationaler Ökonomien und Rechnungsleistung und unter dem ausdrücklichen Verbot von Transferleistungen. Die einheitliche Währung wurde eingeführt bei Fortexistenz von Nationalökonomien. Das meint, dass es weiter nationale Rechnungslegungen und Bilanzierungen gibt und verpflichtende Transferleistungen vertraglich ausgeschlossen wurden. Durch diesen magersüchtigen Staat bei einheitlicher Währung wird Druck auf die sozialen Sicherungen und Löhne erzeugt. Ist die Abwertung der Währung versperrt, so die Logik, bleibt nur die innere Abwertung, also die Senkung der Lohnstückkosten durch Senkung der Löhne, um die Leistungsbilanz zu korrigieren. – Dieses Rezept wurde in Griechenland nach der Krise 2008 mit grandiosem Misserfolg vorexerziert und gleichzeitig die Reste europäischer Demokratie ruiniert. Die wirtschaftspolitischen Festlegungen führen unmittelbar zur Frage nach demokratischen Entscheidungsoptionen, nach Möglichkeiten einer anderen Politik. Die Frage stellen, heißt sie beantworten. Das Modell der Europäischen Verträge schränkt die Entscheidungsspielräume der nationalen Parlamente erheblich ein. Durch die verfassungsähnliche Festschreibung einer Wirtschaftsordnung wird diese dem politischen Streit und damit auch der demokratischen Veränderung entzogen. Weil gleichzeitig ein struktureller Druck in Richtung Sozial- und Steuerdumping erzeugt wurde, reduziert die EU auch die demokratischen Entscheidungsspielräume auf nationaler Ebene – anders gesagt: Sie erzeugt in der Verteilungsfrage strukturelle Zwänge und schottet sie so gegen den demokratischen Druck subalterner Klassen ab, denn die Opposition formiert sich immer noch vorwiegend national. Das vermindert am Ende die Notwendigkeit, innerhalb des demokratischen Spiels Hegemonie zu erzeugen, Zustimmung und 388 Akzeptanz zu organisieren. Das Europäische Parlament hat immer noch nicht die Kompetenzen der nationalen Parlamente, die wesentlichen Entscheidungen werden zwischen den Regierungschefs getroffen. Aber die Verfassung der EU setzte auch einem vollwertigen EP Grenzen, die es nicht zulassen, von einer Demokratie in der EU zu sprechen. In der EU regiert TINA – ein anderes als ein neoliberales Politikmodell ist durch die Verträge ausgeschlossen. b) Vom Wettbewerbsstaat zur autoritären Wirtschaftsregierung Mit der Wirtschaftskrise 2008 und den anschließenden Refinanzierungsschwierigkeiten vor allem südeuropäischer Staaten, d.h. mit der von der Finanzkrise ideologisch abgelösten „Schuldenkrise“, wurde eine weitere Verschiebung auf den Weg gebracht.187 Diese lässt sich als Weg in eine autoritäre Wirtschaftsregierung charakterisieren. Das ist nicht der bekannte, autoritäre Staat mit einem Abbau von rechtsstaatlichen Sicherungen und dem Ausbau der Repression – der könnte am Ende stehen. Gemeint ist, dass Budgetentscheidungen zentralisiert werden und damit zentral von europäischer Ebene in den Haushalt und damit letztlich in die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Mitgliedstaaten eingegriffen werden soll. Die nationalen Parlamente verlieren ihre Budgethoheit, ein zentrales Element demokratischer Repräsentation und werden abhängig von europäischen Vorgaben, die von der Administration, d.h. ohne parlamentarische Beteiligung beschlossen werden. Neben den Verträgen und Institutionen der Union wurde ein neues Regime etabliert, das gleichwohl mit dem EU-Recht und den Organen verflochten ist. Statt der Unionsmethode wurde die intergouvernementale Vereinbarung mittels völkerrechtlichem Vertrag gewählt, was „den Vorteil“ hat, dass das Europäische und die nationalen Parlamente ihren Einfluss weitgehend verlieren. Die Etablierung der Austeritätspolitik ist „exekutivlastig“.188 Die Verschiebung der Entscheidungen auf die Exekutive, d.h. die Ausschaltung des Parlaments ist die erste Dimension des Übergangs zu einer autoritären Wirtschaftsregierung. Die zweite Dimension bezieht sich auf den Inhalt der Verträge. Die Transformation erfolgt wiederum schrittweise, aber in hohem Tempo. Auf dem Weg wurden unterschiedliche völkerrechtliche Verträge geschlossen, welche die EU-Verträge verändert haben. Dazu gehören: der „Pakt für den Euro“ mit der Verpflichtung auf ein Benchmarking bei Löhnen und Sozialleistungen; der 187 Vhl. Deppe, Autoritärer Kapitalismus, S. 149 ff. 188 Bieling, Europäische Austeritätspolitik – Ein Beispiel für die Exekutivlastigkeit des europäischen Entscheidungsprozesses, in: D&E 2014, S. 45. 389 „Fiskalpakt“ mit einer Begrenzung der Kreditaufnahme auf 0,5% des BIP und einer Genehmigung des Haushaltes von Staaten im Defizitverfahren; der ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus), aus dem Staaten Kredite erhalten können, wenn sie ein Memorandum of Understanding unterschreiben, was immer eine strikte Kürzungspolitik vorschreibt, die von der sog. Troika überwacht wird. Parallel dazu wurde das sog. „Six Pack“ und Anfang 2013 das „Two Pack“ verabschiedet. Das sind europäische Gesetzeswerke, welche die Staaten u.a. dazu verpflichten, ihre Haushaltsentwürfe der Kommission vorzulegen. Wo es hingehen soll, hat der deutsche Finanzminister Schäuble klar formuliert: „Im Optimalfall gäbe es einen europäischen Finanzminister. Der hätte ein Vetorecht gegen einen nationalen Haushalt und müsste die Höhe der Neuverschuldung genehmigen.“189 Und Kanzlerin Merkel forderte in einer Rede in Davos einen Pakt für Wettbewerbsfähigkeit mit Zielvereinbarungen zwischen EU und Mitgliedstaaten über Lohnzusatzkosten, Lohnstückkosten, Forschungsausgaben, Stand der Infrastruktur sowie über die Effizienz der Verwaltung. Es geht dabei immer um direkte Eingriffe in nationale Wirtschafts- und Sozialpolitik mit dem Ziel, diese durch eine Senkung der Löhne, d.h. der Lohnstückkosten wettbewerbsfähig gegenüber China und den USA zu halten.190 Das Kommissionspapier zu „Convergence and Competitiveness Instruments“191 bestätigt diese Richtung ebenso wie der „Bericht der fünf Präsidenten“ zur Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion192 aus dem Jahre 2015. Alles bewegt sich hin zu einer zentralistisch, europäischen Kontrolle der nationalen Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die nationalen Parlamente werden entmachtet. Mit dem neuen Regime wird von der EU direkt in Politik- und Regelungsfelder eingegriffen, die 189 Schäuble im Spiegel Interview, nach N-TV vom 23.6.2012, http://www.n-tv.de/politik/Schaeuble-pocht-auf-mehr-Europa-article6570771.html?service=print. 190 Eine solche Politik der internen Abwertung kann in einem einzelnen Staat funktionieren, der sich gegenüber den Konkurrenten in eine bessere Position bringen will, nicht aber im Vergleich der großen Wirtschaftsräume. Nicht bedacht wird, dass sie nach hinten losgeht, nämlich entweder durch einen Wettbewerb um den niedrigsten Lohn oder weil die Effizienzsteigerung vernachlässigt wird. Schließlich wird verkannt, dass die Gesamtsituation durch Überakkumulation mit ökologischen Problemen verbunden ist, so dass eine Erweiterung der Produktion wenig wahrscheinlich und nur sehr kontrolliert wünschbar ist. 191 http://ec.europa.eu/economy _finance/articles/governance/pdf/2039_165_final_ en.pdf. 192 http://ec.europa.eu/priorities/economic-monetary-union/docs/5-presidents-report_ de.pdf. 390 bisher den Mitgliedstaaten und den Sozialvertragsparteien vorbehalten waren.193 Eine zentralistische Kontrolle der nationalen Wirtschafts- und Sozialpolitik wurde drittens für die Euro-Schuldnerstaaten etabliert. Im Gegenzug zu unterschiedlichen Formen der Kreditvergabe über die Rettungsschirme EFSF und ESM müssen sich die Schuldner zu Kürzungs- und Streichungsprogrammen verpflichten. Den Schuldnerstaaten wird zentral eine Austeritätspolitik diktiert. Im Falle Griechenlands wurde die Missachtung demokratischer Mehrheitsmeinungen unübersehbar. Die EU hält sich nationale Parlamente, die ihre Vorgaben getreu umsetzen (müssen). Von einem demokratischen Prozess lässt sich nicht mehr sprechen. Im Ergebnis haben sich die nationalen Parlamente weiter entmachtet, ohne dass eine demokratische Kompensation auf europäischer Ebene stattgefunden hat. So lässt sich von einer autoritären Wirtschaftsregierung sprechen. Das fatale ist, dass nicht einmal das Ziel der Zentralisierung, eine Stabilisierung der EuroZone, erreicht werden dürfte. Hier sprechen die sozialen Verwerfungen eine eigene Sprache. Aber auch die Widersprüche innerhalb der Konstruktion der EU sind nicht gelöst. Im schlimmsten Fall wird die autoritäre Wirtschaftsregierung also möglicherweise repressiv ergänzt. Die Staaten werden damit nicht zwingend autoritäre Staaten im bisher bekannten Sinne, aber sie können kaum noch als demokratisch bezeichnet werden. Oberndorfer nennt die neue Formation „autoritärer Konstitutionalismus“194. Lemb/Urban sprechen von einem „autoritären Stabilitäts-Regime“195. An die Stelle des strukturell indizierten „race to the bottom“ im Bereich Sozialleistungen und Unternehmenssteuer wird dieser Wettlauf nun autoritär, zentral von der EU gesteuert mit dem Ziel, Wettbewerbsfähigkeit durch niedrige Löhne und Abgaben herzustellen. 4. Zum Zustand der Demokratie Die Diagnose für den Zustand der Demokratie in den kapitalistischen Zentren fällt im Ergebnis recht eindeutig aus und wird durchaus von unterschiedlichen 193 Lemb/Urban, Ist die Demokratie in Europa noch zu retten? Plädoyer für einen radikalen Pfadwechsel in der Europapolitik und der Europäischen Union, in: Buntenbach/ Bsirske u.a., Ist Europa noch zu retten?, S. 43. 194 Oberndorfer, Die Renaissance des autoritären Liberalismus?, in: Prokla 2012, S. 416. 195 Lemb/Urban, Ist die Demokratie in Europa noch zu retten? Plädoyer für einen radikalen Pfadwechsel in der Europapolitik und der Europäischen Union, in: Buntenbach/ Bsirske u.a., Ist Europa noch zu retten?, S. 45. 391 politischen Standpunkten geteilt. Hier sollen nur eine wenige Schlaglichter auf den Stand der Diagnose geworfen werden. Bofinger, Habermas und NidaRümelin konstatieren – in einem viel beachteten Aufsatz zu den Konsequenzen der ausgebliebenen Demokratisierung der EU – eine „Umwandlung der sozialstaatlichen Bürgerdemokratie in eine marktkonforme Fassadendemokratie“196. Die Entleerung, Aushöhlung parlamentarischer Kompetenzen ist nicht nur ein europäisches Phänomen: Aus der Perspektive des Insiders im Politikgeschäft stellt Robert Reich, Arbeitsminister unter Clinton, ein exorbitantes Wachstum der Lobbygruppen aus der Wirtschaft fest, die zu einer Verdrängung anderer pluraler Interessen führe. Die gesteigerten Versuche der Einflussnahme wirtschaftlicher Interessen seien auf die neue globale Konkurrenz zurückzuführen, die einen intensiven Kampf um jeden (gesetzlichen) Wettbewerbsvorteil produziere. Politik verkomme so zum Austarieren der unterschiedlichen wirtschaftlichen, nicht mehr gesellschaftlichen Interessen, so dass die demokratischen Prozesse, wie öffentliche Diskurse um das Gemeinwohl und der Anspruch auf gleichberechtigte Teilhabe, nur stören. Reich resümiert: „Demokratie und Kapitalismus stehen auf dem Kopf. Der Kapitalismus hat die Demokratie erobert. Gesetze werden im Namen des Allgemeinwohls verabschiedet, doch dahinter stehen die Sonderinteressen der Unternehmen und deren Lobbyisten, die sich für sie eingesetzt, und der Gesetzgeber, die für sie gestimmt haben. Verordnungen, Subventionen, Steuern und Steuerbefreiungen werden mit Verweis auf das Allgemeinwohl gerechtfertigt, doch oft sind sie das Ergebnis heftiger Lobbyarbeit von Unternehmen und Branchen, die sich einen Wettbewerbsvorteil gegenüber der Konkurrenz verschaffen wollen. Die breitere Öffentlichkeit ist nicht beteiligt. Die Stimmen der Bürger werden übertönt. Der Verweis auf das allgemeine Interesse verbirgt, was wirklich vorgeht und welche Unternehmen und Branchen gewinnen oder verlieren. Gleichzeitig wurde der Kapitalismus von einer Art Scheindemokratie erobert. Politiker und Bürgerinitiativen loben Unternehmen, wenn diese ‘sozial verantwortlich’ handeln, oder prangern sie an, wenn sie dies nicht tun. Doch Lob und Anklage leiten sich nicht aus Gesetzen oder Spielregeln ab, die definieren würden, was ‘sozial verantwortliches Handeln’ bedeutet. Die Rede vom Unternehmen als einem moralischen Wesen mit gesellschaftlicher Verantwortung verschleiert die Tatsache, dass die Öffentlichkeit die Aufgabe hat, diese Gesetze und Spielregeln überhaupt erst einmal festzulegen. Zudem stellt sie Unternehmen moralisch auf eine Höhe mit den Bürgern, die Rechte besitzen, unter anderem auch das Recht, in einer Demokratie gehört zu werden.“197 196 Bofinger/Habermas/Nida-Rümelin, Einspruch gegen die Fassadendemokratie, in: FAZ 4. 8. 2012, S. 33. 197 Reich, Superkapitalismus, S. 270 f. 392 Auch der Superkapitalist Georg Soros, ein Fondmanager, dem es 1992 gelang, durch Spekulationen gegen das englische Pfund die Zentralbank in die Knie zu zwingen, was zu einer Abwertung führte, macht sich Sorgen um die Demokratie. Diese Sorge begründet er mit seinen Kenntnissen aus dem Inneren der ökonomischen Macht. Auch er beobachtet einen Prozess der Entdemokratisierung, den er auf die Dominanz wirtschaftlicher Interessen zurückführt. Dabei argumentiert er durchaus wertkonservativ im Sinne des „alten“ Industriekapitalismus, den er selbst mithalf zu zerstören: Die Grundlage der Demokratie werde ausgehöhlt, weil bürgerliche Tugenden durch monetäre Werte verdrängt werden, so dass demokratische Prozesse nicht mehr das Gemeinwohl im Auge haben, sondern die Konkurrenzfähigkeit. So lege sich die Politik selbst Fesseln an, reduziere ihren Entscheidungsspielraum, was den Prozess der demokratischen Entscheidungsfindung entwerte und ineffektiv mache. So verliere die Demokratie und Politik an Ansehen, was demokratische Tugenden weiter reduziere. Es beschleunigt sich der Verfall demokratischer Prozesse in einem Circulus vitiosus. Soros verbindet zwei Überlegungen: „Erstens hat im Unterschied zu früher, als soziale Werte oder ’bürgerliche Tugenden’ noch einen höheren Stellenwert als heute besaßen, die Ausbreitung monetärer Werte den politischen Spielraum eingegrenzt und das Gemeinwohl in den Hintergrund treten lassen. Zweitens ist der politische Prozess in der Korrektur seiner Exzesse weniger effektiv als der Marktmechanismus. Diese beiden Überlegungen verstärken einander durch die Wechselbeziehung, in der sie stehen: der Marktfundamentalismus unterminiert den demokratischen politischen Prozess, und die Ineffizienz des politischen Prozesses ist ein gewichtiges Argument zu Gunsten des Marktfundamentalismus. Die Institutionen repräsentativer Demokratie, die in den Vereinigten Staaten, in Europa und anderswo so lange funktioniert haben, sind heute gefährdet, und bürgerliche Tugenden, einmal verloren, sind schwer wiederzugewinnen.“198 Die Erosion demokratischer Standards ist gleichsam zum Allgemeingut der Gegenwartdiagnose geworden: Colin Crouch hat diese Ordnung mit dem populär gewordenen Begriff „Postdemokratie“ auf den Punkt gebracht. Die demokratischen Prozeduren und Institutionen diagnostiziert Crouch, werden zwar beibehalten, Wahlen werden abgehalten, verkommen dabei aber zu einem Public-relation-Spektakel. Gesellschaftliche Probleme würden nicht zum Gegenstand öffentlicher Diskurse und anschließender demokratischer Entscheidungen, sondern zur Angelegenheit von Experten, die dem erstaunten Publikum Lösungen präsentierten, während die Bürger schwiegen. So finde Politik hinter verschlossenen Türen statt, was den Einfluss starker Interessengruppen verstärke, 198 Soros, Die Krise des globalen Kapitalismus, S. 249. 393 am Ende vertreten Politiker nur noch unterschiedliche wirtschaftliche Interessen. Die Postdemokratie werde zu einem großen Spektakel ohne demokratische Substanz. Crouch definiert Postdemokratie so: „Der Begriff bezeichnet ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden, Wahlen, die sogar dazu führen, dass Regierungen ihren Abschied nehmen müssen, in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben. Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle, sie reagieren nur auf Signale, die man ihnen gibt. Im Schatten dieser politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten.“199 Den Überlegungen von Blühdorn merkt man an, dass er auf den Zug aufspringen wollte und ein ebenso marktgängiges Schlagwort für die Beschreibung der Demokratie in die Diskussion werfen wollte, ohne sich von der Postdemokratie wirklich lösen zu können. Er bezeichnet den gegenwärtigen Zustand der Demokratie als „simulative Demokratie.“ Simulative Demokratie bezeichne den „gleichzeitigen Sieg über die Demokratie und ihre Nachahmung.“ Denn, so konstatiert er: „Zeichen der Demokratie (regelmäßig abgehaltene Wahlen, der Protest der Bürger, Politikerbekenntnisse zum Wählerwillen etc.) werden zum Ersatz nicht nur für empirisch wirkliche politische Selbstbestimmung, sondern sie inszenieren die Gültigkeit demokratischer Normen und die Verpflichtung auf die schrittweise Umsetzung des demokratischen Versprechens von Autonomie, Souveränität und Integrität – auch wenn die Entpolitisierung zügig und wesentlich vorangetrieben wird, die umfassende Fremdbestimmung allenthalben offensichtlich ist und zuweilen ganz unverblümt ausgesprochen wird, dass der Ausgang solcher demokratischen Rituale auf zentrale Fragen der gesellschaftlichen Zukunft (etwa die von transnationalen Akteuren verordnete Sparpolitik) keinerlei Einfluss haben wird. Simulative Demokratie ist also die Produktion und Reproduktion von Diskursen, Narrativen und gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen, in denen jenseits der postdemokratischen Wendenormen, Werteorientierungen und Zukunftsperspektiven inszeniert und kultiviert werden, die für das demokratische Projekt der Zweiten Moderne konstitutiv waren, denen in der dritten Moderne aber nicht minder gewichtige inkompatible 199 Crouch, Postdemokratie, S. 10. 394 Wertorientierungen gegenüberstehen.“200 Auch bei Blühdorn scheint alle zehn Jahre ein grundsätzlich neues Zeitalter anzubrechen – statt gedanklicher Schärfe wird die nächste neue Moderne ausgerufen, die sich natürlich nicht wirklich von der vorhergehenden abgrenzen lässt. Wilhelm Heitmeyer fasst den Zustand der Demokratie so zusammen: „Es gibt eine fortschreitende Demokratie-Entleerung. Der politische Betrieb läuft, wie geschmiert sogar. Das ist schon für sich genommen ein Problem. Aber hinzukommt: Die Substanz der Demokratie wird ausgezehrt. Ein oberflächlicher Indikator dafür ist die geringe Wahlbeteiligung.“ 201 Abschließend sei es erlaubt, kurze Ergänzungen zum Zustand der Demokratie anzubringen. Auf europäischer und nationaler Ebene ist gleichzeitig das neokorporatistische Arrangement der Nachkriegsära, das die Pluralismustheorie demokratietheoretisch fasste, zugunsten der ökonomischen Eliten verrutscht. Der fordistische Pluralismus organisierte einen asymmetrischen Pluralismus durch Teilhabe unterschiedlicher sozialer Kräfte in den verschiedenen staatlichen und halbstaatlichen Gremien. Diese Form pluralistischer Beteiligung war nur beschränkt demokratisch, weil nach geschätzter sozialer Macht, nicht nach Anzahl der organisierten Mitglieder mitbestimmt werden durfte. Im pluralistischen Rundfunkrat sitzen etwa Gewerkschaften und Unternehmerverbände in gleicher Anzahl, obwohl die Anzahl der Mitglieder sehr unterschiedlich ist. Im flexiblen Kapitalismus hat sich solche Rücksichtnahme, d.h. diese Form der Kooperation durch asymmetrische Beteiligung der „Tarifpartner“, weitgehend erledigt. Entscheidungsstrukturen im weiteren Umfeld des Staates werden so umgebaut, dass die sozialen Eliten unter sich bleiben. Das kann man ablesen an ganz unterschiedlichen Bereichen wie den Hochschulräten, in denen Gewerkschafter höchst selten zu finden sind, sog. Business Improvement Districts, in denen die ansässigen Eigentümer die Stadtteilpolitik z.T. an Stelle der gewählten Gremien bestimmen oder in sog. Normierungsgremien, in denen wesentlich die Interessen der „betroffenen“ Industrien artikuliert werden. Damit werden formale Entscheidungskompetenzen der gewählten Volksvertretungen in oligarchisch strukturierte Gremien verlagert, die teilweise faktisch und teilweise sogar rechtlich verbindliche Entscheidungen vorgeben. Die Expertengremien und Kommissionen neben dem Parlament verdrängen auch die gefilterte Meinungsbildung, die über Parteien und Wahlen an öffentliche Diskurse zurückgebunden sind. Die 200 Blühdorn, Simulative Demokratie, S. 177 f. 201 Heitmeyer, W.: Eliten sind Teil des Problems, Interview Frankfurter Rundschau v. 4.6.2012, S. 17. 395 legitimierten Gremien beschließen formal, treffen aber keine Entscheidungen, da diese von ökonomischen und politischen Eliten vorher getroffen werden oder Strukturen geschaffen wurden, die keine Alternativen offen lassen. So ist statt pluralistischer Teilhabe eine Dominanz oligarchischer, ökonomischer Interessen festzustellen, die selbst einen asymmetrischen Einfluss auf allgemein verbindliche Entscheidungen unterminiert, in sich aber selbst pluralistisch organisiert ist, so dass ein Pluralismus der Oligarchien herrscht. Die Differenz kennzeichnet auch die Eliten und es gibt keine Tendenz, dass diese Pluralität bonapartistisch homogenisiert wird. Ohnmächtige Gruppen, Interessen usw. werden in diesen Prozess gelegentlich als Feigenblatt integriert, fühlen sich aufgewertet und verteidigen am Ende Ergebnisse und Entscheidungen, gegen die sie ursprünglich angetreten waren, als vernünftigen Kompromiss. Die Macht schottet sich ab, indem sie auf andere Entscheidungsträger verweist und „über Bande spielt“ – ein Spiel, das in der Europäischen Union zur Perfektion ausgefeilt wurde. Durch die Deregulierung und Globalisierung der Märkte, d.h. der kapitalistischen Produktion und des Verkehrs mit Waren und Dienstleistungen wurden Sachzwänge geschaffen, deren bekanntester die Konkurrenzfähigkeit ist und nicht nur den Parlamenten, sondern auch den Regierungen die Optionen diktieren – unter den gegebenen Bedingungen, versteht sich. Die kapitalistische Ökonomie hat die Tendenz, sich einen Weltmarkt zu schaffen, sich auszuweiten, fremde Märkte und Kontinente zu erobern, aber dies funktioniert nur, wenn politisch entsprechende Bedingungen geschaffen werden, etwa Freihandelsabkommen geschlossen werden. So schafft die Politik selber die Bedingungen, unter denen sie sich selbst abschafft, weil nichts mehr zu entscheiden ist. Demokratie hat sich selbst überflüssig gemacht, kann deshalb nur wieder erstarken, zu neuem Leben erweckt werden, wenn sie von der halbierten, auf das Politische beschränkten Demokratie, ausgedehnt wird auf alle gesellschaftlichen Bereiche, insbesondere die Ökonomie, um so das Versprechen von Selbstgesetzgebung und Autonomie einzulösen. 396 VI. Ergebnisse202 Es wurde gezeigt, dass die Menschenrechte eine ambivalente Funktion innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft einnehmen. Durch die Trennung von Politik und Ökonomie wird der Schutz der Wirtschafts- und Rechtssubjekte vor dem Zugriff des Staates notwendig, was auch aus der Sicht der ökonomisch Mächtigen gilt. Ein Element dieses Schutzes ist die formelle Seite des Rechtsstaates mit dem Prinzip des allgemeinen Gesetzes, die staatliche Handlungen berechenbar macht. Jedoch reicht die formelle Berechenbarkeit staatlicher Handlungen nicht aus, sie wird auch materiell-rechtlich durch Menschen- bzw. Grundrechte abgesichert. Die Menschenrechte unterteilt Marx in unterschiedliche Kategorien, nämlich in Staatsbürgerrechte, d.h. „Rechte, die nur in der Gemeinschaft mit anderen ausgeübt werden“ und die allgemeinen Menschenrechte, die „droit de l’homme“ die im Unterschied zu den droit du citoyen, „nichts anderes sind als die Rechte der Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft, d.h. des egoistischen Menschen, des vom Menschen und vom Gemeinwesen getrennten Menschen.“ Die Unterscheidung von droit de citoyen von den droit de l’homme weist auf die Ambivalenz der Grundrechte hin. Sie sind einerseits Rechte, welche die staatsbürgerliche Stellung konstituieren und absichern, und andererseits solche, die die Staatsbürger in ihrer Gesamtheit daran hindern, ihre Vorstellung des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu beschließen, weil individuelle Rechte entgegenstehen. Die Differenz liegt jedoch – anders als Marx es darlegt – nicht zwischen atomisierenden und sozialisierenden Rechten, d.h. zwischen solchen, die das Individuum als isolierte Monade denken, und solchen, die seine Rechte in der Gesellschaft, sein Recht als soziales Wesen festschreiben. Die Differenz liegt zwischen der Dimension von Menschenrechten, welche Resistenzen gegen Veränderungen der bestehenden Ordnung einbauen, also zwischen einer relativen Dimension des Menschenrechts und der absoluten Dimension des Menschenrechts, die über bestehende Ordnungen hinausweist und als erkämpfte Freiheit auch in einer solidarischen Gesellschaft ihre Bedeutung nicht verliert, weil auch eine solidarische Gesellschaft Konflikte keineswegs ausschließt. Als ähnlich ambivalent wurde das Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie analysiert. Zunächst lassen sich besondere strukturelle Affinitäten feststellen. Aus den Strukturen der arbeitsteiligen Konkurrenzwirtschaft und der Trennung von Politik und Ökonomie entwickelt sich die Forderung nach bürgerlicher Re202 Dank an meinen Mitarbeiter, Onur Ocak, für diese Zusammenfassung, die hoffentlich Unklares noch einmal klären kann. 397 präsentation. Mit der Durchsetzung der kapitalistischen Konkurrenzwirtschaft und der Beseitigung der feudalen Schranken werden die Marktfreiheiten etabliert, sie haben nicht nur Auswirkungen auf die Ökonomie, sondern münden auch in ein neues Verständnis des Menschen und seiner eigenen gesellschaftlichen Situation. Die gottgewollte, unabänderliche Ordnung, in der ein jeder den ihm zugewiesenen Platz einnahm, entsprach nicht mehr der Realität, die weder in der theoretischen Reflexion noch im Alltagsbewusstsein in alter Weise verarbeitet werden konnte. Die Marktfreiheit des Warenbesitzers weist über den Umweg der Verarbeitung zu einer hegemonialen Vorstellung und Sichtweise der Wirklichkeit über dieses Feld hinaus, auf allgemeine Freiheit und individuelle Autonomie, die sich in der Forderung nach politischer Selbstbestimmung d.h. Demokratie ausdrückt. Dieses neue Verständnis hat Auswirkungen auf die Begründung und Legitimation des Staates. Die zentrale Freiheit des Marktsubjekts ist die Vertragsfreiheit und deswegen liegt es auch nahe, den Staat über den (Gesellschafts-)Vertrag zu begründen. So erkannte Hegel als erstes die demokratische Implikation, die der Vorstellung vom Gesellschaftsvertrag zugrunde lag. Wenn man den Staat auf den Willen der Vertragsschließenden stützt, so ist die logische Konsequenz, dass der Wille der Staatsgründer auch bei zukünftigen staatlichen Entscheidungen zu berücksichtigen ist. Gleiches gilt, wenn man als Zweck des Staates den Eigentumsschutz unterstellt: Es folgt, dass der Staat den Bürgern dient; was wiederum die Forderung nahe legt, dass diese auch bestimmen, in welcher Form dies geschehen soll. Eigentum als Staatszweck in Verbindung mit der Theorie des Gesellschaftsvertrages hat demokratische Konsequenzen; denn der Staatszweck wird aus dem Willen oder den Interessen der Bürger abgeleitet, womit die Sicherung des Eigentums zufällig oder ein kontingenter Staatszweck wird. Die Vertragsgesellschaft erzeugt eine Affinität zur Demokratie. Damit sind jedoch nicht beliebige demokratische Konsequenzen gemeint. Wenn die Marktfreiheiten die Selbstwahrnehmung des Subjekts und des politischen Systems strukturieren und die Konkurrenz die Poren der Gesellschaft durchdringt und den Habitus der handelnden Akteure strukturiert, folgt in der Konsequenz, dass Politik nicht nur konkurrenztheoretisch gedacht, sondern auch in dieser Weise organisiert wird. Das Politische wird so über die Konkurrenz beim Zugang zu staatlichen Positionen, beim Zugang zu den „Hebeln der Macht“ oder als Konkurrenz der politischen Ideen und Konzepte definiert. Die theoretische Homologie von ökonomischer und politischer Konkurrenz erzeugte so auch in der Praxis der bürgerlichen Gesellschaft eine Affinität von Demokratie und Kapitalismus. 398 Neben dieser skizzierten Affinität von Kapitalismus und Demokratie bestehen auch diverse abstoßende Effekte. Durch die Trennung von Politik und Ökonomie, besteht zwar kein unmittelbares eigenes Interesse der politischen Sphäre an den Eigentums- und Aneignungsverhältnissen. Jedoch entwickelt sich ein Interesse an der Aufrechterhaltung und Sicherung der eigenen politischen Macht und damit ein unmittelbares Interesse, die Reproduktionsbedingungen des Gesamtsystems aufrechtzuerhalten, wozu auch die Eigentumsverhältnisse und die Prosperität der Ökonomie gehören. Es besteht daher nur eine funktionale Trennung bei gleichzeitiger materieller Kopplung von Politik und Ökonomie. Diese Eigengesetzlichkeit der politischen Macht lässt eine autoritäre oder repressive Herrschaftssicherung als Option möglich erscheinen. Die Demokratie in der bürgerlichen Gesellschaft bleibt daher fragil. Der Kapitalismus begründet auch auf subjektiver Ebene Abstoßungseffekte, während die Marktfreiheiten psychische Prozesse in Richtung Demokratie anstoßen, führt die Unterordnung des Arbeitnehmers unter die Hierarchie und Despotie der Fabrik zum Gegenteil. Autonomie als der Demokratie vorausgesetzte individuelle Selbstbestimmung findet in der Fabrik nicht statt. Jedoch ist das Verhältnis auch hier ambivalent. Die Despotie der Fabrik, die Existenz gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse kann eben auch dazu führen, dass sich das Individuum auflehnt, die Eingliederung verweigert, nicht zum Untertanen, sondern zum Rebellen wird, Autorität also nicht akzeptiert. Ein ähnliches Verhältnis lässt sich auch für den autoritären Charakter feststellen. Die Durchsetzung der Marktfreiheiten und die damit verbundene Abschaffung der feudalistischen Reglementierungen und Bindungen vervielfältigten die individuellen Entfaltungsmöglichkeiten, begünstigten aber parallel die Entwicklung des autoritären Charakters. Die Zwänge und Bindungen des Feudalismus schufen Sicherheit, der Mensch kannte seinen Platz in der Gesellschaft und die Regeln standen fest und gaben Halt. Die Beseitigung der geordneten Welt, dieser Regeln, führte aber auch zu Verunsicherung, Ohnmacht und Einsamkeit. Die Unübersichtlichkeit und Komplexität der modernen Welt lässt das desorientierte Individuum nach Zufluchtsorten, Haltepunkten und Orientierung suchen, die es in der Autorität findet. Diese hierarchischen Strukturen können aber ebenso das solidarische Subjekt hervorbringen, das den Ausweg nicht in der Unterwerfung, sondern in der Auflehnung, d.h. im Widerständigen sucht. Die Stabilität staatlicher Herrschaft oder staatliche Autorität kann eine gewisse Basislegitimität in Anspruch nehmen, d.h. es ist eine Form von faktischer Zustimmung zur staatlichen Autorität, eine faktische Anerkennung des Staates als 399 legitim zu konstatieren, die einem Legalitätsglauben oder dem symbolischen Kapital des Staates entspringt. Basislegitimität sieht ab von der Form staatlicher Herrschaft und ist autoritären Regimen ebenso zuzuordnen wir parlamentarischen Systemen. In der Folge kann sich ein Desinteresse gegenüber der konkreten Organisationsform bürgerlicher Herrschaft ergeben, nämlich wenn die Basislegitimität ausreicht und der gesellschaftliche Kontext Apathie erzeugt. Ein weiteres repugnatives Merkmal ist der bürgerliche Nationalstaat und der mit ihm entstehende Nationalismus. Der Staat der bürgerlichen Gesellschaft hat sich als Nationalstaat konstituiert. Die Nation ist nichts Essentielles, das vor dem Staat bestand, sondern ein Konstrukt, das mit dem Staat entsteht. Diese Konstruktion produziert aber potenziell Selbstüberhöhung der eigenen Nation und Diskriminierung des Anderen. Die Selbsterhöhung wird zum Ersatz für Selbstbestimmung. Der Nationalismus kann daher zum Konflikt mit dem Rechtsstaat und der Demokratie führen. Erster bindet die Gleichheit vor dem Gesetz nur an eine Voraussetzung, nämlich das Menschsein. Auch für die Teilnahme am demokratischen Prozess werden keine weiteren, ethnische, religiöse usw., letztlich die Nation konstituierende Voraussetzungen gefordert. Im Ergebnis gibt es strukturelle Momente, die eine Affinität und solche, die eine Repugnanz von Demokratie und Kapitalismus begründen. Wenn es sowohl affine wie repugnante Faktoren in den Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft, das heißt in der Beziehung zwischen Demokratie und Kapitalismus gibt, dann besteht kein Grund für die Annahme, bürgerliche Gesellschaften würden sich in der Tendenz demokratisch, also in der parlamentarischen Republik, organisieren – genauso wenig ist eine prinzipielle Neigung zu einem autoritären Regime anzunehmen. Ob sich eine eher demokratische oder eine eher autoritär, diktatorische Organisation des Staates entwickelt oder durchsetzt, hängt dann offenbar von den Kräfteverhältnissen in der Gesellschaft und im Staat ab. Die bürgerliche Gesellschaft hat aber unterschiedliche Mechanismen zur Stabilisierung ihrer Herrschaft entwickelt. Eine davon ist Hegemonie und Kulturindustrie. Anders als in früheren Epochen, wird die bürgerliche Eigentumsordnung nicht mehr primär durch Repression und Gewalt gewährleistet, sondern durch Zustimmung und Integration der Menschen. Zentraler Baustein ist die sog. Kulturindustrie. Sie sichert die bestehenden Verhältnisse ab, indem sie die Individuen zu „glücklichen Konsumenten“ macht, damit ihre Widerständigkeit bricht und aktive Zustimmung erzeugt, weil sie die gegebenen Verhältnisse als gut und unabänderlich erscheinen lassen und entsprechende Orientierungsmuster produziert. In anderen historischen Phasen wird die Zustimmung zur bestehenden Ordnung (zusätzlich zur Ideologischen Absicherung auch) durch materielle Zugeständnisse 400 erzeugt. Die Verschiebung des gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses zugunsten der Lohnarbeit nach dem zweiten Weltkrieg, hatte eine sozialstaatliche Umverteilung und Absicherung der Lebensverhältnisse zur Folge. Dadurch gelang es auch die unteren Klassen in die sog. „soziale Marktwirtschaft“ zu integrieren. Mit dem Scheitern dieses Integrationsmodells und dem Aufstieg des Neoliberalismus wurden andere Formen der Herrschaftssicherung entwickelt. Über die europäische Verrechtlichung wurden sukzessive die demokratischen Handlungsspielräume der Parlamente beschränkt, die nationalstaatlichen Klassenkompromisslinien aufgelöst und über die Deregulierung der Finanzmärkte, der Primat der Ökonomie über die Politik verfestigt. Dabei nimmt die Wirtschaftspolitik der EU zunehmend autoritäre Züge an, wie sich an der Krisenpolitik zeigen lässt. Die demokratischen Spielregeln und Verfahren werden zwar noch eingehalten, jedoch handelt es sich dabei lediglich um inszenierte Rituale. Im Rahmen dieser „Postdemokratie“ werden gesellschaftliche Probleme nicht Gegenstand von öffentlichen Diskussionen, sondern Angelegenheiten von Experten. Der Bürger bleibt apathisch und passiv im Prozess und die Politik findet hinter verschlossenen Türen statt. Asymmetrische Beteiligung als Kennzeichen des fordistischen Kompromisses wird abgelöst durch einen Pluralismus der Oligarchien. 401 Epilog: Staatlichkeit im Wandel? Seit einiger Zeit wurde die Staatsdiskussion abgelöst von einer Diskussion, die das „Wesen“ des Staates in den Mittelpunkt stellt und den Veränderungen dieses schlechten, alten Wesens nachspürt. Aber beherrschte „DAS WESEN“ noch die Rhetorik der Nachkriegsjahrzehnte in der Bundesrepublik, wählt man nun neuere Begriffe, verfällt dabei aber unbemerkt wieder in den gleichen Essentialismus. Neben dem traditionell klingenden Staat treibt der Begriff „Staatlichkeit“ neue Blüten. In Bremen gab es einen von der DFG geförderten Sonderforschungsbereich „Staatlichkeit im Wandel“ und in Berlin förderte die DFG die Sonderforschung zu „Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit“. Zum „Auftakt der Eröffnungskonferenz des Sonderforschungsbereiches (SFB) 700 ‘Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit’“ hielt Georg Boomgaarden als Vertreter des Auswärtigen Amtes eine Rede, in der ihm immerhin etwas Ähnliches wie eine Definition von Staatlichkeit herausrutschte: „Staatlichkeit als territoriale Herrschaft über eine Gemeinschaft setzt nicht unbedingt ein Gewaltmonopol auf nur einer Ebene voraus.“1 Staatlichkeit ist als territoriale Herrschaft über eine Gemeinschaft, ob sie nun ein Gewaltmonopol braucht oder nicht, weiß man nicht genau, jedenfalls muss es nicht auf einer Ebene angesiedelt sein. Die juristische Schulung kann Boomgaarden nicht verleugnen. Georg Jellinek definierte in seiner klassischen und in den juristischen Lehrbüchern bis heute tradierten Definition den Staat über drei Elemente, nämlich Staatsgewalt, Staatsvolk und Staatsterritorium. 2 Dann bestände der Unterschied zwischen Staat und Staatlichkeit darin, dass im Staat das „Gewaltmonopol auf nur einer Ebene“ vorausgesetzt ist, bei Staatlichkeit aber nicht? Die Bundesrepublik wäre nach dieser Definition kein Staat, sondern Staatlichkeit, denn die Polizeigewalt liegt bei den Ländern oder (im Land Bremen) sogar den Kommunen, der Bund kontrolliert die Armee. Das ist offensichtlicher Unsinn. Die Verteilung des Gewaltmonopols auf mehrere Ebenen ist – neben den überkommenen Bundesstaaten – ein Phänomen der Europäischen Union, die es von sich weist, Staat zu sein und auch im herrschenden (juristischen) Diskurs als Staatenverbund, -verband oder Herrschaftsverband bezeichnet wird – eben nur 1 2 402 Boomgaarden, Rede zum Auftakt der Eröffnungskonferenz des Sonderforschungsbereiches (SFB) 700 „Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit“, SFB-Governance Lecture Series, Nr. 2, März 2007, S. 3. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 174 ff. nicht als Staat.3 Am Staat fehlt – anders als der herrschende Diskurs meint – der Union nicht etwa die Kompetenz-Kompetenz, die immer nur eine Schimäre ist – auch der Bund kann ohne die Länder, d.h. die Zustimmung im Bundesrat seine Verfassung nicht ändern – am Staat fehlt der Union allerdings die Finanzhoheit, insbesondere als Recht, Steuern zu erheben und einzutreiben. Insofern könnte für die EU der Begriff Staatlichkeit zutreffen, der Begriff ganz in dem Sinne, wie er von der Mediävistik gebraucht wird, als Unentschieden zwischen Staat und Nicht-Staat, als „Vorstaat“ oder „Nicht-Ganz-Staat“. Eine Unterscheidung in diesem Sinne ist nun wiederum wesentlich für einen weiteren postmodernen Diskussionsstrang, dessen Zentralbegriff ähnlich unpräzise daherkommt: für die Diskussion um Governance und Gouvernementalität. Stellen wir den Zusammenhang zurück und prüfen, welcher Begriff von „Staatlichkeit“ im Unterschied zum „Staat“, denn im Sonderforschungsbereich „Staatlichkeit im Wandel“ kursiert. „Vom Wandel des Staates zur Staatlichkeit im Wandel“4 heißt eine Überschrift einer Publikation aus dem Sonderforschungsbereich und lässt eine klare Unterscheidung der beiden Wandlungen erwarten. Dann aber geht es doch wild durcheinander, die Begriffe werden offenbar synonym gebraucht – jedenfalls wird eine klare Grenzziehung nicht sichtbar. Da heißt es etwa: Thomas Hobbes schrieb „dem Staat als vornehmliche Aufgabe zu, den ‘Krieg eines jeden 3 4 Trotzdem spricht auch das BVerfG von einer „Verfassung Europas“, die allerdings schamhaft in Anführungszeichen gesetzt wird oder von einer „europäischen Verfassung im funktionellen Sinne“, also keiner so richtigen Verfassung, denn Verfassungen geben sich üblicherweise Staaten. Die EU ist aber kein Staat, meint das BVerfG, weil ihr der Wille dazu fehle und die staatliche Souveränität als berühmt gewordene Kompetenz-Kompetenz. In Wahrheit hätte das BVerfG ein Problem, wenn es die EU als Staat anerkennen würde, weil die EU nicht demokratisch organisiert ist. Also verlagert das Gericht das Problem, indem es behauptet, an einen Staatenverbund seien andere normative Maßstäbe hinsichtlich der demokratischen Legitimation anzulegen als an einen Staat. Diese Prämisse erscheint ausgesprochen fraglich und in anderen Zusammenhängen verlangt die herrschende Meinung in der Jurisprudenz eine demokratische Legitimation schon dann, wenn in Grundrechte eingegriffen wird – und dies kann man angesichts der Regulierungsdichte der EU wohl annehmen. Kurz: Es ist keine Frage der Staatsdefinition, ob und mit welchem Recht jemand über andere entscheiden kann und ob die Entscheidungsfindung demokratisch stattfindet oder nicht. Wie dem auch sei: die Finanz- und Wirtschaftskrise hat die Fragilität und Beschränkung der europäischen Konstruktion und Konstitution sichtbar gemacht. Die Staaten stützten „ihre“ Banken und subventionierten „ihre“ Industrien. Der EU fehlte es an eigenen Mitteln und an der Möglichkeit, Kredite aufzunehmen, so dass sie in der Krise handlungsunfähig blieb. Leibfried/Zürn, Von der nationalen zur post-nationalen Konstellation, in: dies. (Hrsg)., Transformationen des Staates, S. 17. 403 gegen jeden’ zu überwinden …. Das Frontispiz dieses Buches hat unser Bild von Staatlichkeit beinahe vier Jahrhunderte maßgeblich beeinflusst. Es zeigt einen gigantischen Herrscher, einen König, dessen Körper sich aus den Bürgern der Stände zusammensetzt.“5 Nur war dieses Bild die Allegorie für den Staat, den Staat als großen Leviathan, keineswegs die Allegorie für die etwas glitschige Staatlichkeit – konnte es ja auch nicht sein, ist doch die Staatlichkeit erst als postrationale Beliebigkeit der im Vergleich klaren Vorstellung vom Staat hinzugefügt worden. Der bei Hobbes noch ziemlich eindeutig bestimmte Staat wird in dem Zitat nicht nur sinnbildlich gleichgesetzt mit der Staatlichkeit.6 Untersucht wird die Wandlung des DRIS, was im Jargon des Forschungsbereichs für den „Demokratischen Rechts- und Interventionsstaat“ steht, als Staat des „Goldenen Zeitalters“ des Kapitalismus, welcher der Sonderforschung dient als „Status quo ante für unsere vergleichende Analyse und als historischer Anfangs- und Kontrastpunkt, als ‘benchmark’, wie es heute heißt. Diese Form von Staatlichkeit betrachten die meisten Analytiker als den Höhepunkt einer vierhundertjährigen Entwicklung.“ 7 Ist der DRIS also – trotz seines etwas despektierlichen Namens – eine Form der Staatlichkeit und nicht eine spezifische Ausprägung des Staates? Letzteres könnte man ohne Probleme unterschreiben, ist es doch seit Aristoteles bekannt, dass ein Staat verschiedene Formen annehmen kann. Und spätestens seit Marx könnte man wissen, dass auch der Staat im Kapitalismus bei vergleichbaren Grundstrukturen nicht nur verschiedene i.e.S. politische Organisationsformen annehmen kann, sondern auch verschiedene Integrationsmodi und Formen der Herrschaftsausübung oder Führungsformen hervorbringen kann. Dazu braucht es keine Abstraktion der schon bestehenden Abstraktion Staat, kein Konzept von „Staatlichkeit“. Die Sonderforschung arbeitet mit der Hypothese, „dass im Zuge dieser Veränderungen die moderne Staatlichkeit ‘zerfasert’. Das besagt: „Die vier ehemals 5 6 7 404 Leibfried/Zürn, Von der nationalen zur post-nationalen Konstellation, in: dies. (Hrsg)., Transformationen des Staates, S. 19. Nun erinnert die Unterscheidung von Staat und Staatlichkeit an Heideggers Begriffsbildung, etwa an die Unterscheidung von Geschichte und Geschichtlichkeit, sie lässt die Unterscheidung des Seins vom Seienden anklingen. Heidegger versucht damit das hinter der Erscheinung liegende Wesen bzw. „wesende“ begrifflich zu erfassen, ohne dass eine Chance dazu bestünde. Mit der Staatlichkeit würde dann die hinter dem Staat liegende wesende, verborgene Realität umschrieben und gesucht, was aber schon deshalb als hoffnungslos erscheint, weil schon ein adäquater Begriff des Staates fehlt. Leibfried/Zürn, Von der nationalen zur post-nationalen Konstellation, in: dies. (Hrsg)., Transformationen des Staates, S. 37. national gebündelten Dimensionen driften auseinander und konfigurieren sich in einer Vielzahl andersartiger Muster neu. Wir sind also nicht Zeugen einer einzigen Transformation von Staatlichkeit, sondern einer Pluralität von Wandlungen, die bei der Zerfaserung von Staatlichkeit ebenso zusammenwirken können, wie sie es bei der Herausbildung des Goldenen Zeitalters taten.“8 Ist also der Staat eine der vier Dimensionen der Staatlichkeit? Die vier Dimensionen des DRIS, also des demokratischen Rechts- und Interventionsstaates, waren national gebündelt, aber wo? In der nationalen Staatlichkeit? Vormals hätte man einfach gesagt im Nationalstaat, aber der Staat ist ja eine der vier Dimensionen, muss also zusammen mit der Demokratie usw. anderswo gebündelt worden sein. Und ist dann Staatlichkeit der Oberbegriff für Staat oder auch für Demokratie, Interventions- und Rechtsstaat? Das ist – vorsichtig formuliert – keine überzeugende Begriffsbildung. Und nun zerfasert also die Staatlichkeit durch verschiedenartige Wandlungen – was passiert dabei mit dem Staat? Man höre und staune: Die „materielle Basis“ des Staates scheint „stabil zu sein, obschon um sie herum das Staatskleid zerfasert. Steuer- wie Gewaltmonopol des Staates scheinen in keinem der OECD-Länder essenziell geschwächt zu sein.“9 Das Steuer- und Gewaltmonopol des Staates bleibt intakt, was zerfasert dann also? Demokratie und Rechtsstaat oder die Interventionsfähigkeiten des Staates? Nein, es zerfasert das Staatskleid. Wenn dieses und die Staatlichkeit zerfasern, während die materielle Basis des Staates stabil bleibt, scheint das Staatskleid ein Synonym für Staatlichkeit zu sein. Damit ist aber auch nicht viel gewonnen, denn was das Staatskleid sein könnte, wird keineswegs konkret bestimmt. Die Vorstellung des Staatskleides wird dem geneigten Leser überlassen; Assoziationen zu Hofbällen und Staatsbanketten liegen nahe – nah dann soll es mal zerfasern. Wen außer den Schranzen könnte es stören? Es bleibt beim Geschwätz des Ungefähren. Genschel und Zangl formulieren weniger blumig und versuchen, den Unterschied zwischen Staat und Staatlichkeit zu erläutern, indem sie beides folgendermaßen definieren: „Als Staat bezeichnen wir einen politischen Herrschaftsverband, der darauf spezialisiert ist, für ein bestimmtes Gebiet – das Staatsgebiet – und für eine bestimmte Gruppe von Menschen – die Staatsbürger – die Versorgung mit Kollektivgütern zu sichern.“ Um Letzteres zu können, braucht der Staat „bestimmte Fähigkeiten, die wir als Staatlichkeit bezeichnen,“ nämlich: „Entscheidungskompetenz, das heißt die Macht, kol8 9 Leibfried/Zürn, Von der nationalen zur post-nationalen Konstellation, in: dies. (Hrsg)., Transformationen des Staates, S. 41. Leibfried/Zürn, Von der nationalen zur post-nationalen Konstellation, in: dies. (Hrsg)., Transformationen des Staates, S. 42. 405 lektiv verbindliche Entscheidungen zu treffen; Organisationskompetenz, also das Vermögen, kollektiv verbindliche Entscheidungen verlässlich umzusetzen; Letztverantwortung, das heißt die Fähigkeit, faktische Anerkennung als höchste politische Autorität zu finden, in deren Namen Herrschaft ausgeübt wird.“10 Die Definition modifiziert Jellineks Staatsbegriff nur unwesentlich. Staatsvolk und Staatsterritorium begegnen uns in der Definition von Genschel und Zangl unverändert wieder; nur die Staatsgewalt wird umgetauft und zur Staatlichkeit. Sie wird dann etwas genauer umschrieben und um das Webersche Gewaltmonopol ergänzt, das zur faktischen Anerkennung höchster legitimer Autorität wird. Der Staat erhält außerdem – anders als bei Jellinek – einen Zweck, nämlich die Bereitstellung kollektiver Güter. Oder ist der Zweck doch die Organisation von Herrschaft? Der Staat, d.h. auch der demokratische Staat bleibt bei Genschel und Zangl unhinterfragt und keineswegs kritisch konnotiert ein „Herrschaftsverband“. Die Organisation von Herrschaft könnte allerdings auch ein kollektives Gut sein, nämlich für die Herrschenden. Wahrscheinlich soll aber beides nebeneinander stehen. Was zerfasert dann? Die Staatlichkeit wird verstanden als Staatsgewalt, die wiederum über Souveränität nach außen definiert wird und die ausschließliche Entscheidungskompetenz für „das eigene“ Territorium und Volk sowie das Gewaltmonopol umfasst. Es scheint allerdings fraglich, ob durch die begriffliche Ersetzung der alteuropäischen Staatsgewalt durch die postmoderne Staatlichkeit bei gleichem Inhalt für die Erkenntnis aktueller Prozesse etwas gewonnen ist. Auch Genschel und Zangl konstatieren ein Zerfasern der Staatlichkeit, d.h. vor dem Hintergrund ihrer Definition: die Staatsgewalt verliert an Gewalt, Autorität oder Kompetenzen. Diese werden (vertraglich) abgegeben – das hat sich inzwischen herumgesprochen – an die EU und andere supranationale Institutionen. Auch Privatisierung subsumieren sie unter Zerfaserung der Staatsgewalt. Der unzulängliche Staatsbegriff lässt das eigentliche Problem der Verschiebung allerdings nicht erkennen. Wenn Staatsgewalt vom besonderen Apparat „Staat“ auf Private übergeht, verschiebt sich das für kapitalistische Gesellschaften typische Arrangement, nämlich die Trennung der politischen von der sozialen Herrschaft. Anders gesagt, wo Staatsgewalt an Private zurückgeschoben wird, fallen ökonomische, soziale und politische Herrschaft möglicherweise wieder zusammen. Das führt nicht zu einer Refeudalisierung, aber möglicherweise zu einer Entdifferenzierung, die für die Stabilität der Herrschaft relevant werden 10 Genschel/Zangl, Die Zerfaserung von Staatlichkeit und die Zentralität des Staates, in: APuZ 20-21/2007, S. 10 f. 406 könnte. Mit Jellineks drei Elementen, auch wenn sie etwas angereichert werden, kommen solche Verschiebungen ebenso wenig in den Blick, wie die damit verbundene Entdemokratisierung von Entscheidungen, die nicht mehr kollektiv produziert werden, aber für und gegen das Kollektiv wirken. Etwas genauer beschrieben wird die Verlagerung von Rechtsetzungskompetenzen an die Europäische Union auch von Leibfried und Zürn. Diese sei mit einem Problem für Souveränität, Rechtsstaat und Demokratie verbunden. Es beinhaltet aber kaum einen Erkenntnisgewinn und schon gar keinen kritischen Impuls, diese unbestrittene Neuverteilung von Kompetenzen und Machtverschiebungen begrifflich als Zerfaserung des Staatskleides oder der Staatlichkeit zu fassen. Die Europäische Union als Herrschaftsprojekt wird z.B. mit dem Blick auf den Interventions- und Wohlfahrtsstaat auch nicht annähernd erfasst. Leibfried/ Zürn schreiben: „Es gibt also klare Signale für einen epidemischen Wandel in der Interventionsdimension, doch weisen sie für die verschiedenen Komponenten in unterschiedliche Richtungen. In manchen Bereichen verengt sich der institutionelle Korridor (‘Verwischung von Regimen’, Mischformen), in anderen destabilisiert massive Privatisierung den Korridor, oft gefördert durch die EU.“11 Klar geht es um Privatisierung und Deregulierung, aber dies ist nicht als Verengung des „institutionellen Korridors“ und Destabilisierung (des institutionellen oder eines anderen?) Korridors zu beschreiben. Das eigentliche Projekt der EU – zumindest bis 2010 –, nämlich die Verschiebung des sozialstaatlichen Nachkriegskonsenses durch eine internationale Konkurrenzordnung gestützt durch „Akkumulation durch Enteignung“ wird zur eher zufällig daherkommenden Zerfaserung. Akkumulation durch Enteignung erklärt David Harvey folgendermaßen: „Da der Kapitalismus seit 1973 chronisch unter dem Problem der Überakkumulation leidet, ergibt das neoliberale Projekt der allumfassenden Privatisierung Sinn als Möglichkeit, das Problem zu lösen. … Aber vor allem müssen wir die spekulative Plünderung durch Hedgefonds und andere wichtige Institutionen des Finanzkapitals als neueste Errungenschaft der heutigen Akkumulation durch Enteignung betrachten.“12 Von hier aus wird die – selbst im herrschenden Diskurs – fehlende demokratische Legitimation der EU verständlich, nämlich als Abschottung gegenüber demokratischen Ansprüchen 11 Leibfried/Zürn, Von der nationalen zur post-nationalen Konstellation, in: dies. (Hrsg)., Transformationen des Staates, S. 53. 12 Harvey, Der neue Imperialismus, S. 146 ff. 407 auf sozialen Ausgleich, und erscheint nicht als ein weiteres Element im bunten Gemisch der „Zerfaserung von Staatlichkeit“.13 Staatlichkeit ist ein Begriff, der – jedenfalls in der deutschen Übersetzung – wohl erstmalig vom Vordenker des Anarchismus, Michail Bakunin, benutzt wurde, als er in seinem gleichnamigen Buch „Staatlichkeit und Anarchie“ gegenüberstellte. Aber auch bei Bakunin geht es nicht um Staatlichkeit, sondern um den Staat bzw. gegen den Staat. Bakunin entdeckt bekanntlich im Staat die Grundlage und Ursache aller Herrschaft und allen Übels: „Solange es einen Staat gibt, muss es auch Herrschaft geben und folglich auch Sklaverei; ein Staat ohne offene oder verborgene Sklaverei ist undenkbar – das ist der Grund, weshalb wir Feinde des Staates sind.“14 Deshalb fordert er nicht etwa Demokratisierung oder die Übernahme der Staatsgewalt durch die Arbeiterklasse, sondern die Abschaffung des Staates durch die soziale Revolution: „Es ist klar, dass die Volksmassen die Freiheit, nach der sie dürsten, nicht von einem theoretischen Sieg abstrakten Rechts erwarten können; sie müssen die Freiheit mit Gewalt erobern, wozu sie ihre elementaren Kräfte außerhalb des Staates und gegen ihn organisieren müssen.“15 Staatlichkeit meint bei Bakunin in Wahrheit das „Wesen des Staates“ und dieses Wesen ist – behauptet er ohne wirkliche Begründung – die Unterdrükkung, Ausbeutung Herrschaft, kurz: die Sklaverei oder Unfreiheit. Und in der Tat benutzt Bakunin den Begriff Staatlichkeit in diesem Sinne, z.B. wenn er die Entwicklung der deutschen Einigung unter Bismarck beschreibt. Deutschland repräsentiert und verkörpert für Bakunin einen der Pole der zeitgenössischen sozialen Entwicklung, nämlich den Pol der Staatlichkeit, des Staates und der Reaktion. Das Deutsche Reich repräsentiere den Staat par excellence, so wie Frankreich diesen unter Ludwig XIV und Napoleon repräsentiert habe. Den Deutschen „Das Wesen des Staates“ zuzuschreiben ist passend. Und so definiert er das Wesen des Staates in einer sehr schlichten, deutsch-obrigkeitsstaatlichen Weise: „Der weise Staatsmann, Schüler Machiavellis und Lehrer Bismarcks, (Friedrich II) glaubte nur an seine ‘Staatsraison’, wobei er sich aber wie eh und je auf die (Armee), auf die Wirtschaft und auf eine möglichst perfekte Organisation der inneren Verwaltung stützte, die natürlich eine mechanische und despotische 13 Die Beliebigkeit und das Verharren im Ungefähren erscheinen insgesamt als Resultate der Drittmittelforschung. Das Projekt bleibt im main stream oder auf der Linie der Drittmittelgeber, deren vorgestellte Toleranzgrenze als Schere im Kopf fungiert. So erzeugt man keine Spitzenforschung – jedenfalls nicht in den Geisteswissenschaften –, sondern mediokre Langeweile und Unbestimmtheit. 14 Bakunin, Staatlichkeit und Anarchie, S. 612. 15 Bakunin, Staatlichkeit und Anarchie, S. 604. 408 war. In der Tat besteht darin nach seiner wie auch unserer Meinung das eigentliche Wesen des Staates. Alles Übrige sind lediglich unschuldige Verzierungen …“16 In der Regel führt die Ergründung „des Wesens“ zu einer naturalistischen Rechtfertigung von Aufgaben oder Zuschreibungen des Staates oder wessen Wesen immer erkundet wird. Solche Ableitungen aus dem Wesen waren in der deutschen konservativen Theorie eine Zeitlang sehr beliebt. Bei Bakunin ergibt sich aus dem Wesen des Staates, seiner Staatlichkeit, nicht seine Rechtfertigung, sondern die Delegitimierung. So habe es mit diesem Wesen des Staates, der Staatlichkeit bald genauso ein Ende wie mit dem Staat: „Trotz der ungeheuren Entwicklung der modernen Staaten, ja als Folge dieser endgültigen Entwicklung, die übrigens vollkommen logisch und mit unbedingter Notwendigkeit gerade das Prinzip der Staatlichkeit ad absurdum geführt hat, wurde klar, dass die Tage des Staates und der Staatlichkeit gezählt sind und dass sich die Zeiten für eine völlige Befreiung der Arbeitermassen nähern: die Zeiten ihrer freien gesellschaftlichen Organisation von unten nach oben.“17 Schon der Blick auf Bakunins „Wesen“ zeigt, dass dieses Wesen sich offenbar in der Geschichte entwickelt und entscheidend wandelt oder anders gesagt: sein Staatsbegriff ist ebenso unzureichend wie sein Begriff der Staatlichkeit. Friedrich II konnte seinem Staatsbegriff in der Tat eine halbfeudale Wirtschaft subsumieren. Der Staat in einer kapitalistischen Wirtschaft ist aber gerade dadurch zu charakterisieren, dass er sich von dieser trennt, die Wirtschaft der staatlichen Sphäre abgesondert wird, was nicht heißt, dass sie den Staat nicht entscheidend beeinflusst oder strukturiert. Herumgesprochen hat sich inzwischen auch, dass sich die Staatstätigkeit gegenwärtig – trotz neoliberaler Politikkonzepte – keineswegs auf die Organisation eines Gewaltapparates, in Form von Armee und Polizei, und einer reibungslosen, mechanischen Staatsverwaltung beschränkt. Der Staat produziert – ziemlich erfolgreich – seine eigene Rechtfertigung durch Einrichtungen, die Louis Althusser „ideologische Staatsapparate“ genannt hat, etwa Schulen und Hochschulen. Aber dort wird ja keineswegs nur Ideologie produziert, sondern auch die notwendigen Kenntnisse, um eine hochkomplizierte Technik (sowohl im natur- wie im sozialwissenschaftlichen Sinn) zu produzieren und anzuwenden, also zu reproduzieren. Festzuhalten ist trotz dieser offenkundigen Unzulänglichkeit: Staatlichkeit meint hier begrifflich mehr oder weniger das Gegenteil dessen, was in der Mediävistik darunter verstanden wird. Dort wird unter Staatlichkeit der Vor-Staat 16 Bakunin, Staatlichkeit und Anarchie, S. 425. 17 Bakunin, Staatlichkeit und Anarchie, S. 436. 409 oder Noch-Nicht-Staat verstanden. Staatlichkeit bezeichnet dagegen heute den Kern des Staates, der erforderlich ist, damit er als Staat charakterisiert werden kann. Nun scheinen die Ergebnisse des Sonderforschungsbereichs „Staatlichkeit im Wandel“ eine Nähe zu Bakunin aufzuweisen, die den Forschern selbst verborgen geblieben sein dürfte. Das meint nicht nur das implizite Verständnis von Staatlichkeit als Wesen des Staates, das sich in der Staatsgewalt äußert. Der Staat scheint sich außerdem selbst abzuschaffen, indem er kräftig an seiner Zerfaserung mitwirkt. „Hipphipphurra“ würde Bakunin rufen: „Endlich naht die Befreiung von der Knechtschaft des Staates, der sich in alle Winde zerteilt.“ Kurzes Nachdenken über dieses unerwartete Ergebnis und es zeigt sich: irgendetwas stimmt an der Diagnose nicht. Wenn der Staat in der Staatlichkeit verschwindet, werden begrifflich Zurechnungen, Verantwortlichkeiten und damit letztlich das Konzept der Demokratie unterlaufen. Das wird offensichtlich, wenn an die Stelle demokratischer Reflexivität allgemein verbindlicher Entscheidungen diese ausschließlich nach dem Output oder unter dem Gesichtspunkt good or bad Governance – eine der anderen Phrasen aus dem Topf der aktuellen Geschwätzigkeit – beurteilt werden. Die Aushöhlung demokratischer Reflexivität verrät sich manchmal eher wie nebenbei, wenn etwa die Geschäftsführerin der „AG Globale Verantwortung“ in einem Interview erklärt, man solle sich zurückbesinnen auf das „ursprüngliche Verständnis von ‘good Governance’ – ein Begriff, der ja schon im 14. Jahrhundert existierte. Am Rathaus von Siena gibt es wunderschöne Fresken, auf denen abgebildet ist, was ‘good’ und ‘bad Governance’ ist.“18 Die Allegorie der „guten Regierung“ von Ambrogio Lorenzetti im Palazzo Pubblico von Siena zeigt allerdings, wie sollte man es anders erwarten, den übermächtigen und übergroßen Herrscher, zu dem die kleinen Untertanen mit ihren Bitten und Anliegen in Erwartung guter Entscheidungen kommen und der – unterstützt von der austeilenden und ausgleichenden Gerechtigkeit – jedem das Seine zuerkennt: Die einen sind in Fesseln, die guten Bürger erhalten nach dem Maßstab der abgewogenen Äquivalenz. Good Governance ist eben gute Herrschaft und nicht Aufhebung der Herrschaft durch Selbstorganisation. Wenn Demokratie normativ entsorgt wird, indem good Governance zum normativen Maßstab wird, können allgemein verbindliche Entscheidungen des Staates sich in Staatlichkeit verlieren, schlimmer noch: Auch die Zurechenbarkeit der allgemein verbindlichen Entscheidungen zum Staat wird unterminiert. An die Stelle des 18 Navara-Unterluggauer, Die sensible Balance zwischen Staat, Zivilgesellschaft und Wirtschaft, http://www.pfz.at/article1147.htm. 410 Staates als Repräsentation des Öffentlichen mit abgrenzbaren Kompetenzen, Verantwortlichkeiten und geregelten Verfahren der demokratischen Einflussnahme treten unklare Entscheidungsstrukturen, in denen der Staat neben Zivilgesellschaft und Wirtschaft tritt; in denen gleichsam drei gleichberechtigte und gleich legitime Akteure konstruiert und real akzeptiert werden, die „irgendwie“ an allgemein verbindlichen Entscheidungen und dem „Guten Regieren“ beteiligt sind. Die Beteiligung von Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Staat an der Lösung „moderner Governanceprobleme“ wird normativ eingefordert. Dabei überrascht es nicht, wenn das deutsche Entwicklungsministerium „die Wirtschaft“, wer immer das so ist, gleichberechtigt neben Staat und Zivilgesellschaft stellte und auf der Homepage des Ministeriums verkünden ließ: „Millenniumsentwicklungsziele nur im Dreiklang Regierung, Zivilgesellschaft, Wirtschaft erreichbar. Eine Woche vor Beginn des Gipfels der Vereinten Nationen zu den Millenniumsentwicklungszielen in New York hat der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Dirk Niebel, die Verpflichtung der Bundesregierung auf die Millenniumserklärung und die Millenniumsentwicklungsziele bekräftigt. Im Rahmen einer gemeinsam mit dem Verband Entwicklungspolitik deutscher Nichtregierungsorganisationen (VENRO) ausgerichteten Veranstaltung erklärte er: ‘Das Erreichen der Millenniumsentwicklungsziele setzt voraus, dass alle Akteure sich beteiligen: die Regierungen, die Zivilgesellschaften und der Privatsektor.“19 Ähnliche Töne lassen sich auch aus der Zivilgesellschaft vernehmen. So erklärte die schon zitierte Frau Navara-Unterluggauer: „Weder kann dem Staat alleine die Aufgabe für ‘good Governance’ übertragen werden, noch kann dieser gänzlich aus der Verantwortung entlassen werden. Ich sehe in der Entwicklungszusammenarbeit drei Säulen als relevant für Entwicklung: den Staat, die Zivilgesellschaft und die Wirtschaft. Diese funktionieren nicht unabhängig voneinander.“20 Die Dreiteilung von Staat, Zivilgesellschaft und Wirtschaft und deren Inpflichtnahme ist so zum Allgemeingut der Sprechblasen geworden, dass sie nicht weiter erklärungs- und rechtfertigungsbedürftig ist. So ist es nicht erstaunlich, wenn Referenten der Konrad-Adenauer-Stiftung wie selbstverständlich auf die Dreiteilung Bezug nehmen. So etwa Schockenhof, der formulierte: Dies wiederum schaffe „neue Perspektiven für alle Ebenen der zwischengesellschaftlichen 19 BMZ: http://www.bmz.de/de/presse/aktuelleMeldungen/2010/september/ 20100914_pm_144_mdgs/index.html (14.09.2010). 20 BMZ: http://www.bmz.de/de/presse/aktuelleMeldungen/2010/september/ 20100914_pm_144_mdgs/index.html (14.09.2010). 411 Zusammenarbeit, in der Wirtschaft und Zivilgesellschaft heute natürliche Partner sind. …. Wirtschaft und Zivilgesellschaft sollten sich ebenfalls als ‘Verbündete’ sehen – mit einem gemeinsamen Anliegen und gemeinsamen Interessen.21 Dabei keimt der Verdacht auf, dass es „die Wirtschaft“ ist, welche „gemeinsame Anliegen und Interessen“ formuliert und auf die Zivilgesellschaft als Verbündeten zurückgreifen soll. Kritische Geister liegen bei der Bewertung der neuen Dreieinigkeit oft haarscharf daneben. So polemisiert etwa Dembowski in offensichtlicher Verkennung der realen Machtstrukturen gegen die Gewerkschaften, um die eigene NGO abzugrenzen. Er schreibt: „Einige Akteure von deutschen nichtstaatlichen Organisationen meinen, das soziale Leben werde von drei Bereichen geprägt: Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Ihrer Ansicht nach hat die Zivilgesellschaft die Funktion, soziale Anliegen und Umweltanforderungen mit profithungrigen Unternehmen und machtgierigen Parteien zu versöhnen. Es wird dabei impliziert, dass Unternehmerverbände zur Wirtschaft gehören, Gewerkschaften und Umweltinitiativen aber Teil der inhärent wertvolleren Zivilgesellschaft sind. Diese Sicht ist konfus. Es gibt keinen Grund, warum die Forderungen der IG Metall, der Gewerkschaft hochbezahlter deutscher Metallarbeiter, immer besser sein sollten als die des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall. Beide Organisationen sind einflussreich, beide vertreten die Interessen ihrer Mitglieder, und beide einigen sich schnell auf alles, was diese gleichermaßen wollen.22 Das hört sich an wie aus der guten alten Zeit, dem goldenen Zeitalter des Fordismus, als Linksaußen in trauter Zweisamkeit mit den Unternehmensverbänden die Übermacht der Gewerkschaften bekämpften – stammt aber aus dem Jahre 2011. Die im Ansatz sichtbare Distanzierung von der Dreiteilung schlägt dann um in eine Steigerung der vorhandenen Konfusion. 21 Schockenhof, Wirtschaft und Zivilgesellschaft– Partner für ein modernes Russland, Konrad Adenauer Stiftung, http://www.kas.de/wf/doc/kas_16913-1522-1-30. pdf?091015102826. 22 Dembowski, Spektakulärer Erfolg, in: E & Z, 2011/02, S. 46. 412 Literatur Abendroth, Wolfgang: Demokratie als Institution und Aufgabe, in: ders., (Hg.: Perels), Arbeiterklasse, Staat und Verfassung, Frankfurt a.M./Köln 1975, S. 21 ff. 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