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ZESZYTY NAUKOWE UNIWERSYTETU SZCZECIŃSKIEGO NR 774 COLLOQUIA GERMANICA STETINENSIA NR 22 2013 BARTOSZ WÓJCIK Uniwersytet Szczeciński ZWISCHEN ‘FEMME FRAGILE’ UND ‘FEMME FATALE’: DAS WEIBLICHE ELEMENT ALS ZUKUNFTSWEISENDE KRAFT FÜR DIE POMMERSCHE GESELLSCHAFT UM 1900 IN DEN GESCHICHTEN AUS HINTERPOMMERN HANS HOFFMANNS Im Zuge des 19. Jahrhunderts vollzog sich ein großer wirtschaftstechnischer und gesellschaftspolitischer Wandel, der sich auf die soziale Rolle des Mannes und der Frau maßgebend auswirkte. Nicht alle seine zivilisatorischen Folgen führten jedoch die Gleichstellung beider Geschlechter herbei, die einen zunehmenden gesellschaftlichen Einfluss der Frauen bedeutet hätte.1 Insofern blieb Jean-Jacques Rousseaus berüchtigte Wahrnehmung der Rolle der Frau weitgehend auch noch im 19. Jahrhundert aktuell2, als der sich im Laufe des 1 Roger Stein nennt einige Merkmale des 19. Jahrhunderts, die seiner Meinung nach zum fortschreitenden Ausschluss der Frau aus dem öffentlichen Teil des bürgerlichen Daseins und ihrer Verbannung in den Privatbereich führten. Zu solchen zählten nach ihm u. a. das 1850 erlassene „Preussische Vereinsgesetz“, das Frauen grundsätzlich die Teilnahme an politischen Versammlungen untersagt hat, bzw. die praktisch vollzogene Trennung von Arbeits- und Wohnbereich, indem der Arbeitsbereich der Männer nicht mehr die Werkstätte im eigenen Haus war, sondern meistens ein mehr oder wenig entfernter Betrieb. Dessen Folge stellte eine starke Privatisierung des Wohnbereichs dar, die wiederum die Rolle der Frau definierte, ihrem Mann „ein wohliges häusliches Refugium“ zu bieten. Roger Stein: Bürgerlicher Moralcodex und Frauenbild. Verfügbar über: http://www.dirnenlied.de/page20/page23/page23.html (Zugriff am 22.08.2012). 2 „Sie [die Frauen, B. W.] müssen viel lernen, aber nur das, was zu wissen ihnen gemäss ist. [...] die Frauen hängen von den Männern durch ihre Begierden und ihre Bedürfnisse ab; wir könnten eher ohne sie bestehen als sie ohne uns [...]. So muss sich die ganze Erziehung der Frauen im Hinblick auf die Männer vollziehen. Ihnen gefallen, ihnen nützlich sein [...], für sie sorgen, sie beraten, sie trösten, ihnen ein angenehmes und süsses Dasein bereiten: Das sind die Pflichten 50 Bartosz Wójcik 19. Jahrhunderts vollziehende Prozess der Frauenemanzipation, der sich doch langsam und stark beschränkt, anbahnte. Selbst die Definition der Emanzipation der Frau stellte im Brockhaus von 1844 fest, sie zielte auf die „Befreiung des weiblichen Geschlechts von den Schranken, mit welchen es Naturverhältnisse und gesellschaftliche Einrichtungen umgeben“3. Ähnlich beschränkt – und doch beinahe revolutionär – blieben die Forderungen der sich in Deutschland bildenden Vereine, die sich für Frauenrechte einsetzten.4 Auch sie betrachteten Ehe und Mutterschaft als „natürliche“ Bestimmung der Frau.5 Ähnlich langsam änderten sich Bildungs-, Berufs- und gesellschaftsbezogene Entwicklungsmöglichkeiten für das Frauengeschlecht. Erst 1893 wurden die Frauen zum Abitur6 und um 1900 an den Universitäten zugelassen. Erst nach 1900 begann die Diskussion über die Vereinbarkeit von Ehe und Beruf, 1911 fand ein erster internationaler politisch ausgerichteter Frauentag7 statt, und das Wahlrecht wurde den Frauen in Deutschland erst 1918 zuerkannt. In Pommern war es nicht anders. Mädchen hatten geringe Bildungsmöglichkeiten. Die Schulen, prinzipiell nur Kindern und Jugendlichen aus größeren Städten zugänglich, wurden für Jungs und Mädchen getrennt betrieben8; selbst die Tatsache, dass die Schulen für Mädchen im 19. Jahrhundert entstanden, ist der Frauen zu allen Zeiten, das ist es, was man sie von Kindheit an lehren muss.“ Jean-Jacques Rousseau: Emile – oder über die Erziehung (1762). Stuttgart 1963, S. 732 f. 3 Stichwort „Emanzipation“ im Brockhaus. Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände. Conversations-Lexikon. Bd. 4. Leipzig 1844. 4 Zu den wichtigsten zählten der 1865 von Luise Otto-Peters (1819–1895) gegründete „Allgemeine deutsche Frauenverein“, der ihre Aufgabe im Einsatz „für die erhöhte Bildung des weiblichen Geschlechts und die Befreiung der weiblichen Arbeit von all ihrer Entfaltung entgegenstehenden Hindernissen mit vereinten Kräften zu wirken“ sah, wie auch der ein Jahr später ins Leben gerufene „Lette-Verein“ zur Vermittlung weiblicher Arbeit, um den Frauen „bisher verschlossene oder noch nicht entdeckte Berufswege zu öffnen“ (Erwin J. Haeberle: Die Sexualität des Menschen. Handbuch und Atlas. Berlin 2003. Deutsche Übersetzung unter Mitwirkung von Ilse Drews. Verfügbar über: http://www2.hu-berlin.de/sexology/ATLAS_DE/html/die_ emanzipation_der_frau.html [Zugriff am 15.08.2012]), als auch der größte Dachverband „Bund deutscher Frauenvereine“, in dem sich 1894 mehrere Frauenvereine zusammenschlossen. 5 Haeberle: Die Sexualität des Menschen. 6 In Preußen 1908. Vgl. Kläre Schmitz: Die Rolle der Frau um 1900 in Deutschland/Gymnich – insbesondere die Rolle der alleinerziehenden Frau. Katharina Kentenich war eine von ihnen. Verfügbar über: http://www.emsms.schoenstatt.dedeuploads2010-news11Die%20Rolle%20der% Frau.pdf (Zugriff am 16.08.2012). 7 Noch nicht am 8., sondern am 19. März. 8 Edward Włodarczyk: Wielkomiejski rozwój Szczecina w latach 1871–1918. In: Bogdan Wachowiak (Hg.): Dzieje Szczecina 1806–1945. Szczecin 1994, S. 279–520, hier S. 483. Zwischen ‘Femme fragile‘ und ‘Femme fatale‘ ... 51 als Effekt des gesellschaftlichen Drucks auszulegen.9 Eine hitzige Diskussion zu deren Profil entbrannte in Stettin in den 1860er und 1870er Jahren.10 Dieses war anders als das für die Jungs: Mathematik an Gymnasien war auf die Fähigkeit begrenzt, Rechnungswesen im Bereich des privaten Haushalts und des eigenen Familiensparprogramms zu führen, relativ viel Platz wurde dagegen solchen Fächern wie Singen und Handarbeiten eingeräumt.11 Der soziale Aufstieg war dadurch deutlich erschwert. Dementsprechend spielten die Frauen in der regionalen Wirtschaft und Politik auch eine zweitrangige Rolle. Von den pommerschen Gutswirtschaften – die „im ostelbischen Deutschland traditionell die entscheidende Grundlage der wirtschaftlichen und politischen Macht des Adels“12 bildeten und „maßgeblich seine gesellschaftliche Position“ bestimmten – befanden sich 1910 weniger als 10 % in den Händen der Frauen.13 Viele Berufe, die die Zugehörigkeit zur Stadtelite gewährten, blieben den Frauen verschlossen. Sie waren praktisch abwesend unter den Direktoren der Stettiner Theater und Museen, unter den pommerschen Journalisten und Historikern. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts bildeten die Frauen einen minimalen Prozentsatz unter den Stettiner Lehrern. Die weiblichen Lehrkräfte konnten auch keinen Einfluss auf Bildungsprozesse haben, und waren für Handarbeitsunterricht zuständig.14 Trotz sichtbarer Anzeichen eines sozialen Umbruchs lebten Frauen um 1900, wie Kläre Schmitz es plakativ formuliert, „in allen sozialen Schichten [...] weniger als individuelle Personen als vielmehr in tradierten Beziehungssystemen zu Eltern, Ehemann, Familien und Kindern“15. Der bei anderen liegende Bezugspunkt der weiblichen Identität und der daraus resultierende Mangel an Selbstdefinition der Frau wurde im Begriff der 9 Ebd., S. 488. Ebd. 11 Ebd., S. 484. 12 Ilona Buchsteiner: Adlige Gutswirtschaften an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Eine Momentaufnahme für Pommern. In: Włodzimierz Stępiński, Zygmunt Szultka (Hgg.): Pomorze – Brandenburgia – Prusy (państwo i społeczeństwo). Księga pamiątkowa dedykowana Profesorowi Bogdanowi Wachowakowi z okazji 70-lecia urodzin i 50-lecia pracy naukowej. Szczecin 1999, S. 271–288, hier S. 271. 13 „Von den 551 Einzelpersonen gehörten 467 dem männlichen und 84 dem weiblichen Geschlecht an. Bei den Frauen handelte es sich in 45,2 % der Fälle um Witwen. Sie nahmen meistens als Treuhänderinnen für ihre noch nicht volljährigen Kinder übergangsweise das Gutseigentum wahr.“ Ebd., S. 275. 14 Włodarczyk: Wielkomiejski rozwój Szczecina, S. 482. 15 Schmitz: Die Rolle der Frau um 1900. 10 Bartosz Wójcik 52 ‘Femme fragile’ widergespiegelt. Dieser Frauentypus, von ca. 1880 bis 1905 in der Literatur präsent16, bildete das begriffliche Gegenstück zur selbstsicher auftretenden ‘Femme fatale’17. Zum Zeitpunkt, als Frauen langsam und dennoch allmählich an öffentlicher Bedeutung, wirtschaftlicher Unabhängigkeit und politischer Kraft gewannen, gestalteten vorwiegend männliche Autoren „eine morbide kulturelle Repräsentation der schwachen, hilflosen und kränklichen ‘Femme fragile’“18. Die zerbrechliche Frau steht somit in Opposition zu männlichen Attributen wie Aktivität, Energie, Willenskraft und Stärke. Sie hingegen, als treusorgende Ehefrau und Mutter geltend, ist meistens durch solche Merkmale wie Passivität, Schwäche, Bescheidenheit, Geduld und Nachgiebigkeit gekennzeichnet. Eine solche zartgliedrige Gestalt bedarf des männlichen Schutzes. Das Bild der „Anti-Amazonen“ ist jedoch nicht ganz einseitig. Eine solche Beschreibung schließt nämlich viele Eigenschaften – wie etwa Intelligenz, Fantasie, Ideenreichtum – nicht aus, die ‘Femmes fragiles’ setzen jedoch ihre Vorhaben als Intrigen im Geheimen durch.19 Die ‘Femme fatale’ agiert anders.20 Die eigensinnig auftretende Frau handelt mehr als emanzipatorisch21: Sie kann nicht nur entschlossen und unabhängig vorgehen, sie kann auch ihrem Partner zum Verhängnis werden. Dieses Konstrukt, vom Ursprung her eine männliche Fantasie und als solche eine Dämonisierung der fraulichen Sexualität, stellt das weibliche Element als eine destruktive Kraft jenseits von Moral und Recht dar, mit ihrem – meistens doch latenten – Ein- 16 Vgl. Emil Brix: Die Frauen der Wiener Moderne. München 1997. Dieser Typus ist besonders bei den Autoren der Wiener Moderne zu finden, z. B. in Hugo von Hofmannsthals Die Frau im Fenster bzw. in Arthur Schnitzlers Liebelei. Zum Werk Hugo von Hofmannsthals vgl. weiterführend Michela Cessari: „Imaginierende Weiblichkeit“ oder Die ‘ femme fragile’ entgeht ihrem Schicksal: Hofmannsthals „Der Abenteurer und die Sängerin oder Die Geschenke des Lebens“ und die ‘ femme fragile’ als moderne Heldin. In: dies.: Mona Lisas Enkelinnen: Reflexionen über die femme fragile. Würzburg 2008, S. 43–58. 17 Ariane Thomalla: Die „femme fragile“. Düsseldorf 1972. Der vorliegende Text lässt wegen seiner Kapazität bestimmte gesellschaftliche Rollen der Frau unbehandelt, wie z. B. die Prostitution oder die Situation der Frauen auf dem Lande, nuanciert auch viele soziale Bilder nicht. 18 Friederike B. Emonds: femme fragile. In: Friederike Eigler, Susanne Kord: The Feminist Encyklopedia of German Literature. Westport 1997. Übersetzt von mir, B. W. 19 Vgl. http://www.abiunity.de/download.php?id=15326&sid= (Zugriff am 10.08.2012). 20 Zum Begriff siehe u. a. Claudia Bork: Femme Fatale und Don Juan: Ein Beitrag zur Motivgeschichte der literarischen Verführergestalt. Hamburg 1992; Carola Hilmes: Die Femme fatale: Ein Weiblichkeitstypus in der nachromantischen Literatur. Stuttgart 1990. 21 Vgl. Sabine Hake: femme fatale. In: Eigler/Kord: The Feminist Encyklopedia of German Literature. Zwischen ‘Femme fragile‘ und ‘Femme fatale‘ ... 53 satz für die Freiheitlichkeit, unabhängige Kraft oder gar Vergeltung, somit eine komplette Opposition zu den ‘natürlichen’ Realisierungswegen der Weiblichkeit durch Ehe und Mutterschaft bildend. Diese gemischte Eigenschaft, hilflos zu erscheinen und dennoch mit der Energie ausgestattet zu sein, im latenten Bereich wie öffentlich wirkungsvoll zu agieren, scheint das weibliche Element in den Geschichten aus Hinterpommern Hans Hoffmanns22 zu durchziehen. Seine Frauengestalten sind jedoch keine schablonenhaften Epigonen der europäischen Muster, sondern glaubwürdig auftretende Personen mit klar gezeichneten Charakterzügen, die die enzyklopädischen Frauentypen bereichern, modulieren und nuancieren. Mehr noch, es scheint angebracht zu sein, dieses Element im breiteren Kontext als zukunftsweisend für die Sozialgeschichte der Region auszulegen. Hoffmann, ein im Jahre 1848 geborener Stettiner, war Sohn eines Predigers und relativ früh Schüler des bekannten regionalen Dichters Heinrich Ludwig Theodor Giesebrecht.23 Bereits während seiner Studienzeit weilte er in verschiedenen Regionen Deutschlands – in Berlin, Halle und Bonn. Nach seiner Promotion zum Dr. phil. im Jahre 1871 unterrichtete er sieben Jahre lang als Lehrer an Gymnasien in Stettin, Stolp, Danzig24 und Berlin. Er unternahm Reisen nach Italien, Griechenland und in den Norden, lebte auch eine Zeit lang in Rom, wo er als Hauslehrer arbeitete. Im Laufe der Zeit wuchs seine Bedeutung für das deutsche Schrifttum: In den Jahren 1884–1886 redigierte er die „Deutsche Illustrierte Zeitung“, und wenige Jahre später, 1902, wurde er zum Generalsekretär der Schiller-Gedächtnis-Stiftung in Weimar. Seine unterhaltsamen Texte zu Pommern, die vor allem für den regionalen Leser aus seinem Heimatgebiet bestimmt waren, lassen sich womöglich nicht nur im Kontext der damals besonders populären Heimatliteratur25 lesen – auch wenn sie von diesem keinesfalls gelöst gesehen werden sollen –, sondern lassen 22 Hans Hoffmann: Geschichten aus Hinterpommern. Berlin 1905. Im Folgenden zitiert als GHP mit der Seitennummer. Das Buch wurde ursprünglich im Jahre 1891 veröffentlicht. Vgl. dazu: Fritz Raeck: Pommersche Literatur. Proben und Daten. Nach dem Tode von Fritz Raeck zum Druck bereitet durch Rüdiger Bliß. Hamburg 1969, S. 335. 23 Informationen zum Lebenslauf Hans Hoffmanns stützen sich auf Raeck: Pommersche Literatur, S. 335. 24 Heute entsprechend: Szczecin, Słupsk, Gdańsk. 25 Gemeint ist die Heimatliteratur in der Tradition Walter Scotts. Hierzu vgl. u. a. Michael Limlei: Geschichte als Ort der Bewährung. Menschenbild und Gesellschaftsverständnis in den deutschen historischen Romanen 1820–1890. Frankfurt a. M. 1988; Raimund Borgmeier, Bernhard Reitz (Hgg.): Der historische Roman I: 19. Jahrhundert. Heidelberg 1984. 54 Bartosz Wójcik durch das Prisma seines erfolgreichen beruflichen Werdegangs in der Skala ganz Deutschlands auch literaturgeschichtliche Erwägungen zu seinem erkenntnistheoretischen Beitrag zur Wahrnehmung der gesellschaftlichen Rolle der Frau um 1900 in Pommern anstellen. Im Folgenden sollen drei Erzählungen von den insgesamt vier Geschichten aus Hinterpommern unter dem Aspekt des so begriffenen weiblichen Elements im Spannungsfeld zwischen den damaligen extremen Bildern der ‘Femme fragile’ und der ‘Femme fatale’, wenn auch leicht modifiziert und mit erwähnungswürdigen Sondereigenschaften ausgestattet, untersucht werden.26 Wie selbst der Titel des Buches ahnen lässt, handelt es sich im genannten Band um Erzählungen, die nicht wirkliche Vorgänge vor dem Hintergrund wahrer geschichtlicher Ereignisse aus der Geschichte Pommerns in der Zeitspanne vom 15. zum 17. Jahrhundert schildern. Die Politik und die individuelle Identität wurden zu diesem Zeitpunkt durch das männliche Element getragen. Dynastisch regierende pommersche Herzöge waren Männer. Frauen wurden von ihnen aus politischen Zwecken geheiratet – genannt seien zwei Frauen Bogislaws X.27, eines regionalen Spitzenpolitikers, des Herzogs über Pommern an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert.28 Beide Ehen verfolgten politische Ziele, und seine Frauen bildeten das Instrument zur Ergreifung des politischen Einflusses durch den Mann.29 Umso interessanter ist die Ausstattung der Frauengestalten durch den 26 Es wurde die Erzählung Der Teufel vom Sande ausgelassen. Dies erfolgt wegen der Kapazität des vorliegenden Textes wie auch aus der Überzeugung, die These in den drei analysierten Texten ausreichend belegt zu haben. 27 Da zwei der vier Erzählungen höchstwahrscheinlich zur Zeit Bogislaws X. handeln – Der falsche Bogislaw im Jahre 1480, Der grobe Pommer zur Zeit „eines der pommerschen Herzöge Bugslaw“. Dies ist insofern wahrscheinlich, als Bogislaw X. – dessen Denkmal auch heute am Stettiner Schloss steht – als der ausgezeichnetste Herzog des ganzen, etwa fünf Jahrhunderte lang herrschenden Greifengeschlechts fungiert. 28 1474, nach dem Tod seines Vaters Erichs II. und seines Onkels Wartislaws X., übernahm er Pommern zwischen Leba (heute: Łeba) und Rügen. Selten in der gesamten Geschichte der Region wurde das Gebiet von einem Verwaltungsapparat als ein Land administriert. 29 Seine erste Frau war Margarete von Hohenzollern, die Tochter des brandenburgischen Kurfürsten Friedrichs II. Dadurch konnte der Konflikt mit Brandenburg – und die Gefährdung der Unabhängigkeit Pommerns – beseitigt werden. In der Folge wurden die friedliche Vereinbarung 1478 und der Friedensvertrag 1479 unterzeichnet (vgl. Cecylia Judek u. a.: Wybitni szczecinianie. Katalog wystawy ze zbiorów Książnicy Pomorskiej. Szczecin 1993, S. 19). Verwitwet, heiratete Bogislaw zwei Jahre später Anna Jagiellonin im Jahre 1491, wodurch dieser sich diesmal die Obhut ihres Vaters, des polnischen Königs Kasimir des Jagiellonen, sicherte. Nach Zygmunt Boras sollte Bogislaw X. 1461 auch mit der mecklenburgischen Fürstin, der Tochter Heinrichs IV., vermählt gewesen sein, die jedoch frühzeitig verstarb (Zygmunt Boras: Książęta Pomorza Za- Zwischen ‘Femme fragile‘ und ‘Femme fatale‘ ... 55 Autor mit zeitgenössischen – und in der Zeit um 1900 nicht selbstverständlichen – Charakterzügen, und die dadurch erzielte ästhetische und in der Konsequenz gesellschaftskritische Einstellung: Das in der (rezeptiven, produktiven und kommunikativen) ästhetischen Einstellung eröffnete und sich vollziehende distanziertere, gelöstere, möglichkeitsoffenere und kreativere Sich-Verhalten zu Welt, Leben und Selbst ist aber nicht nur ein anderes gegenüber den kognitiv, pragmatisch, moralisch und auch ethisch-existentiell gebundenen oder sich bindenden Verhaltensweisen, sondern es rückt diese in ihrer Realitäts- und Idealitätsbindung auch in ein kritisches, zumindest korrektiv-kritisches und -relativierendes Licht.30 Die Darstellung der Frau als Auslöser für die Ausstrahlung des pommerschen „korrektiv-kritischen und -relativierenden Lichts“ um 1900, bei Schilderung der Vorgänge aus ferner Vergangenheit, scheint kaum möglich zu sein. Die anschließende Analyse soll jedoch veranschaulichen, dass dies in den Geschichten aus Hinterpommern tatsächlich geschieht. In der Erzählung Der grobe Pommer erhält das weibliche Element scheinbar lediglich eine Zusatzfunktion, die das männliche Element im Vordergrund erscheinen lässt. Knuz von Poggendorf wird an den Hof des deutschen Kaisers gesandt, nachdem „einer der pommerischen Herzöge, Bugslaw, der sich einstmals bei der kaiserlichen Hofstatt aufgehalten, im Scherz ersucht, er möge ihm doch einmal so einen rechten groben Pommer überschicken, davon in der ganzen Welt zu hören sei, welches der Herzog bereitwillig Kaiserlicher Majestät versprochen“ (GHP 75). Die Beschreibungen aller folgenden Fehltritte von Poggendorfs am Hof nehmen einen geraumen Platz im Text ein. Dadurch wird der Effekt – besonders bei einem sich mit Pommern identifizierenden Leser – erzielt, Pommern sei vor Augen anderer deutscher Länder blamiert und so für mehrere Jahrhunderte gebrandmarkt worden. Der formale Eingriff des Autors in die Schilderung der Handlung führt eine zusätzliche Wirkung herbei, die Situation habe wirklich stattgefunden, die „gesamtdeutsche“ Empörung über Pommern hervorrufend: Als Fußnote zum Text wird Folgendes angeführt: chodniego. Poznań 1996, S. 161). Die Schwester Bogislaws, Zofia, war wiederum aus ähnlichen Gründen mit dem mecklenburgischen Fürsten Magnus verheiratet (ebd., S. 170). 30 Helmut Fahrenbach: Anthropologische Grundlagen und Sinnperspektiven ästhetischer und ethischer Existenzverhältnisse. In: Thomas Koebner (Hg.): Ästhetische Existenz – Ethische Existenz. Ein zeitgenössisches Entweder – Oder? München 2008, S. 13–44, hier S. 27. Bartosz Wójcik 56 Auch etwas andres wird von seinen Aufführungen berichtet, das sich jedoch um der zarten Verletzlichkeit unserer heutigen Leser willen nur in einer Anmerkung für Gelehrte hinsetzen läßt. (GHP 78)31 Die wundersame Veränderung des pommerschen Gesandten verläuft anschließend parallel zu der immer deutlicher charakterisierten Gestalt der Kaisertochter Luitgart. Diese, angetan von Knuz, setzt sich zum Ziel, „etwas zu seiner Sittigung und Klärung zu tun“ (GHP 93 f.), besonders angesichts der Tatsache, dass er „der luthergläubige Wildling“ (GHP 100) und somit „der schlimmgelehrte Ketzer“ (GHP 103) – wie alle Pommern – sei. Im Zuge langer Gespräche mit dem Prior wird sie von seinem Bibelwissen und seiner Beredsamkeit überrascht. Schließlich inspiriert sie ihn zu der Überlegung, ob „er nicht selber wünsche, solchen Unrat pommerischer Rohheit von sich abzuwaschen“ (GHP 105), und schlägt ihm ihre Unterstützung bei dem Vorhaben vor, „zuvörderst sein pommerisch Bärenhäuterkleid abzutun und höfisch aufzuziehen“ (GHP 106). Sie bringt ihm auch Manieren und Hofgebärden bei (GHP 105 f.). Die Verwandlung des Grobians in den „wohlerzogensten und geschliffensten Edelmann“ (GHP 106) vollzieht sich bis zum so extremen wie erwarteten Ende – der provinzielle Rohling heiratet die kaiserliche Tochter, und die Heirat wird vom Kaiser (wenn auch nicht sofort) begrüßt (vgl. GHP 109 ff.). Die Handlung der Erzählung Der falsche Bogislaw schildert scheinbar historische Vorfälle im Jahre 1480 (vgl. GHP 13 f.). Der verarmte Herzog von Pommern überfällt mit seiner Truppe Kaufleute zwischen Cammin und Köslin.32 In einer voreiligen Vergeltungsaktion nehmen die Kösliner alle Raubritter fest. In Köslin entschuldigen sie sich jedoch beim Herzog, der für eine Zeit lang in der Stadt in Privatquartieren bleibt. Einer seiner Ritter, Bernd Heydebreck, beim Bürgermeister einquartiert, wird von seiner Tochter irrtümlicherweise für den Herzog gehalten. Als ihr Vater sie anlügt, er würde hingerichtet werden, verhilft sie ihm zur Flucht. Außerhalb der Stadt erfährt sie ihren Irrtum und den Betrug Heydebrecks, der ihr die Wahrheit vorenthalten hat. Anschließend lockt sie den Betrüger in die Falle. Gefangen genommen von den Kösliner Rittern, 31 Diese Hervorhebung der peinlichen Vorgänge soll sowohl die Glaubwürdigkeit des unterhaltsamen Textes unterstreichen, als auch die erzählte Geschichte nicht etwa als eine interessante Story für einen unprätentiösen Literaturabend klingen lassen, sondern sie mit einem Wahrheitsgehalt ausstatten und ihr so einen Hauch „des Beitrags zur Regionalgeschichte“ verleihen. 32 Heute entsprechend: Kamień Pomorski und Koszalin. Zwischen ‘Femme fragile‘ und ‘Femme fatale‘ ... 57 wird er vom Herzog zum Tode verurteilt. Die Tochter des Bürgermeisters rettet ihn jedoch kurz vor der Hinrichtung, indem sie ihn zum Mann nimmt. Die einzelnen Protagonisten stellen unterschiedliche gesellschaftliche Typen dar. Den Bezugspunkt für sie alle bildet der Herzog, der entpersonifiziert die Tugenden schlechthin – wenn auch vom Autor teilweise wohl etwas satirisch gemeint – verkörpert: Er verkehrt „im Gebiete des Bistums Cammin“ (GHP 13 f.), wo sich „eine berühmte Wallfahrtsstätte“ für Christen befand; auch wenn seine Truppe Kaufleute beraubt, meint einer seiner Leute: [...] um vieles schlimmer würde es ihnen ohne Zweifel ergangen sein, wenn sie etwa irgendwo in die Hände unchristlicher Türken gefallen wären: so müsse es ihnen ein freundlicher Trost sein, dass ihr Gut in ehrlichen und obendrein pommerschen Händen verbleibe. (GHP 16) Als der Herzog in einer ethischen Frage entscheidet, zeigt er sich fern von persönlichen Gefühlen, auch wenn er seinen Freund, der sein Leben in der Schlacht am Vortag gerettet hat, zum Tode verurteilt: [...] daß du einem unschuldigen Weiblein an die Ehre gingst [...] – kann ich ihrer Ehre die Sühnung nicht weigern, die ihr einzig kann gegeben werden durch deinen Tod. Täte ich anders, so dürfte ich mich nicht mit Fug mehr Herzog nennen in diesem Lande. Weil ich aber Herzog bin, weiß ich nichts von Freundschaft und nichts von Dank und nichts von Mitleid, sondern einzig von Gerechtigkeit und von dem, was ich meinem Volke schuldig bin. (GHP 66 f.)33 Der obersten Instanz, objektiv gerecht und gefühlskalt dargestellt, folgen weitere Mustertypen der hierarchischen Gesellschaft. Frederick Schulte, der Bürgermeister von Köslin, vertritt die pommerschen Eliten. Angesichts der Heißblütigkeit der Durchschnittsbürger zeigt er sich gefühlsmäßig gelassen und politisch erfahren: Als die Kösliner feststellen, „die Räuber sind von des Herzogs Gesinde“, verlangen sie, „am liebsten alle umzubringen“ (GHP 17). Nur Schulte rät ab, und zwar angesichts der Tatsache, Köslin sei nicht stark genug, um gegen Verbündete des Herzogs zu agieren. Politisch ist er tatsächlich gewandt: Als die gefangen genommenen Männer des Herzogs nach Quartieren suchen, beherbergt er den herzoglichen Favoriten, in der Hoffnung auf seine spätere Fürsprache. In gesell33 Der Verurteilte bestätigt selbst die gerechte Behandlung: „Dein Spruch ist recht und würdig, und ich mag auch gern sterben.“ (GHP 67) 58 Bartosz Wójcik schaftlichen Fragen handelt er traditionell patriarchalisch: Seine achtzehnjährige Tochter nimmt er nicht partnerschaftlich wahr. Er belügt und manipuliert sie, um sich selbst zu überzeugen, der Herr des Hauses zu sein.34 Anna Maria, seine Tochter, wird als Gegensatz zu ihrem Vater vorgestellt. Sie wird als „eine kluge Hauswirtin, besonnen und tätig“ (GHP 20) charakterisiert, „aber in den großen Wettläufen gänzlich unerfahren und töricht“.35 Die am Anfang angegebene Auflistung ihrer weiteren, äußeren und charakterlichen Merkmale – „ein hübsches Mädchen, jung und neugierig“ (GHP 19) – wird später um den Vorfall ergänzt, in dem sie sich als schlau und eigenständig erweist: Sie ist imstande, den sie betrügenden herzoglichen Ritter einen falschen Weg durch den Wald zur Falle zu leiten, obwohl er die richtige Richtung der geplanten Route erkennen kann.36 Bernd Heydebreck, einer der Begleiter des pommerschen Herzogs, „unter diesen Rittern einer der jüngsten zwar, aber vor allem der Stärkste und Schönste und allezeit bei kecken Unternehmungen der Vorderste“ (GHP 15), vertritt ein Modell des gesellschaftlichen Handelns eines neuen Typus. Stark und tüchtig, kämpft er für Pommern in der ersten Reihe – er ist derjenige, der dem Herzog das Leben gerettet hat. Er ist Kämpfer und Vorkämpfer, die symbolische Verkörperung der Zukunft der Region. Er hat jedoch seine „dunkle Seite“, seine Neigung zum Negativen. Nicht nur nimmt er an Raubaktionen des Herzogs aktiv teil – ist „allezeit bei kecken Unternehmungen der Vorderste“ –; er ist derjenige, der zivile Personen physisch misshandelt37; er schließlich nutzt die Situation, für den Herzog gehalten zu werden, um Anna Maria zu verführen (vgl. GHP 23, 31 u. a.), was in der Folge der Ereignisse ihre soziale Würde ernsthaft gefährdet. 34 „Nun hatte Herr Frederick Schulte die Angewohnheit, vor seinen Weibsleuten sich etwas grimmig und bärbeißig, ja manchmal fast grausam zu zeigen: denn er war von Natur ein äußerst gutmütiger Mann, wusste aber aus Erfahrung, dass diese Eigenschaft allemal von den Frauen gemissbraucht wird, ihre eigene Herrschaft klüglich auszubreiten; darum stellte er sich vor ihnen anders als er war. Besonders aber, wenn er eine Angst im Herzen trug, hielt er es für schicklich, diese vor dem Weibsvolk sorgsam zu verbergen und ein recht hartköpfiges Gebaren sich vorzuhalten, wie einen Schild, der ihn vor ihrer Aufsässigkeit schützte.“ (GHP 20 f.) 35 Ob diese Beschreibung die Sicht des Vaters charakterisieren soll, oder aber die typisierte Wahrnehmung junger Frauen in jener Zeit darzustellen meint, sei dahingestellt. 36 Als er die Himmelsrichtungen erkannte, hat sie ihn überredet, Blindekuh zu spielen, und verlegte den Stein an der Kreuzung, der den richtigen Weg markierte. Vgl. GHP 57 f. 37 „[...] nahm den Fuhrknecht beim Kragen, hob ihn vom Strohsacke und walkte ihn mit der flachen Klinge nach allen Kräften durch. Der Knecht aber, welcher ein Kassube war, spürte sogleich die ritterliche Faust und blickte nur treuherzig klagend zu ihm auf.“ (GHP 52 f.) Zwischen ‘Femme fragile‘ und ‘Femme fatale‘ ... 59 Zum Zeitpunkt, in dem die aktuelle Machtgewalt geschwächt ist38 und in dem die Eliten nicht imstande sind, Kompromisse und Handlungsstrategien auszuarbeiten39, ist eine neue Kraft notwendig. Diese kann der junge, unternehmerische und brave Ritter verkörpern – unter der Bedingung, dass er durch das weibliche Element gesteuert wird. In dieser Erzählung ist dieses Weibliche nebenbei bemerkt auch nicht mild und friedlich – Anna Maria übernimmt entschlossen die Initiative und handelt eigenständig. Sie macht das auf typisch pommersche, rohe Art: Sie machte das alles nicht gerade mit einer weichen Zierlichkeit der Bewegungen, die unter dem schweren Himmel der Ostseeküste nicht gedeiht, aber dafür mit einer stillen und doch behenden Kraft, die auch ihre Anmut hat. (GHP 30) Als sie Heydebreck in die Falle tappen lässt, ist er der Passive: Er erkennt seine Schuld und beichtet (vgl. GHP 60–63). Ihre Handlungsweise führt die Ereignisse und deren Konsequenzen herbei; er nutzt seine innere Kraft, um mitzumachen. Die vorletzte Erzählung im Band, Der Tribuliersoldat, lässt sich relativ kurz beschreiben und unter dem Aspekt des weiblichen Elements und seiner zukunftsweisenden Rolle für Pommern und seine Gesellschaft um 1900 analysieren, doch sind die Schlussfolgerungen am prägnantesten. Eine Geschichte aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges wird in den Kontext militärischer Unruhen und Plünderungswellen gesetzt (vgl. GHP 125 f.). In dem vom Autor geschilderten Moment, „als schon fast alles glatt ausgesogen schien, und die Silberstücke in den Händen der Bürger so selten geworden waren wie sonst kaum Diamanten“ (GHP 116), wurde eine wohlhabende Frau Käthe, „eine ansehnliche Witib“, bemerkt, die jedoch „leider sehr bockbeinig [sei] und durchaus nichts hingeben [wolle] von dem Ihren“. Mit einer besonderen Aufgabe wird ein „Wallensteiner“40, Loseke 38 Die Schwäche des Herrschers und so die Notwendigkeit eines neuen Aufbruchs ist möglicherweise auch im Text indirekt angemerkt oder sogar unterstrichen: Es scheint der Indiz wichtig zu sein, der Herzog selbst sei damals nicht wohlhabend gewesen: „Das blanke Geld war ein seltener Saft in seinen Truhen.“ (GHP 11) Auf der folgenden Seite wird ausgeführt, dass er die Gastfreundschaft der Klöster und anderer ähnlicher Stätten wahrnehmen musste (vgl. GHP 12), und sein Leben war durch mehrere Probleme gekennzeichnet (vgl. GHP 21 f.). 39 Es wird eine Szene geschildert, in der im Hause Frederick Schultes sich Landjunker und Städter betrunken und anschließend gestritten haben (vgl. GHP 32). 40 D. h. ein Söldner im Dienste Albrecht Wenzel Eusebius von Wallensteins (Valdštejn), eines umstrittenen böhmischen Feldherrn und Politikers. Seine Truppen, die im Dreißigjährigen Krieg an der Seite des Kaisers gegen die Schweden kämpften, fungieren in den Texten Hoffmanns als Verkörperung des imaginär schlechtesten Kriegsgeschehens, voll Raub, Mord und Gewalt. 60 Bartosz Wójcik Muckerwitz, in ihr Haus entsandt. Er, „ein Mordskerl“ (GHP 122), scheitert jedoch genauso wie seine Vorgänger.41 Durch Geschicktheit schafft sie es, seine latenten Minderwertigkeitskomplexe und die daraus resultierende Wut für sich zu gewinnen: Am ersten Abend wird er königlich bewirtet (vgl. GHP 125 f.), an einem anderen, als er seine Frustration mit Gewalt austoben will, legt sie ihm ihr kleines weinendes Kind auf die ausgestreckten Arme, so dass er es nolens volens schaukelt und ein Kinderlied summt, bis das Kind besänftigt wird (vgl. GHP 129). Unseligerweise für sich selbst verliebt sich Muckerwitz in die ansehnliche Dame. Sie weiß die Situation zu nutzen, indem sie ihn zu immer neuen Hausarbeiten heranzieht: [...] viel wunderlichere Dinge, die er von Haus aus nicht kannte: Kinderwiegen, Garnhalten, Stichezählen, Spinnrad treten, Leinwand falten, ja flechten und stricken ... bat nur mit ihren lockenden Augen, die sein Unglück waren. (GHP 132) Die Situation wird so weit getrieben, dass er sie zur Kirche begleitet, hinter ihr hergehend, was zu einer blutigen Auseinandersetzung mit seinen Kameraden führt.42 Als er die Witwe in seiner Ratlosigkeit endgültig vernichten will, schlägt sie ihm vor, in der kommenden Nacht gemeinsam mit ihm zu flüchten. Nach berauschenden intimen Momenten in der Kutsche stellte er am Morgen fest, dass die vom Kopf bis zu den Füßen verkleidete Frau die Kammermagd Bärbele war, längst in ihn verliebt. Der gedemütigte Loseke Muckerwitz schlug sie in Verzweiflung tot (vgl. GHP 139 f.). Für diese Tat wurde er zum Tode verurteilt und erhängt (vgl. GHP 143). In dieser Erzählung spinnt Hans Hoffmann jedoch keine erbauliche Geschichte mehr; die Warnung wird dem Happy End vorgezogen. Die pommersche Frau ist eigenständig, innerlich stark und entschlossen zur riskanten Handlung. Sie hilft dem Mann diesmal nicht – wie etwa Anna Maria dem falschen Bogislaw. Sein letzter Wunsch, das kleine Kind der „Tribulierwitib“ noch einmal auf den Armen zu halten (vgl. GHP 142), zeugt eindeutig von seinem friedlichen Traum, der nicht in der Kriegsrealität verwirklicht werden kann. Dazu mangelt 41 Muckerwitz war nicht der erste: „Man hat ihr einen Tribuliersoldaten um den andern ins Haus gelegt, dass ihrer schon zwei Dutzend geworden sind, und haben doch insgesamt nicht einen roten Dreier aus ihrer herausdrangsaliert; nicht einmal gut Essen und Wein haben sie gekriegt.“ (GHP 117) 42 Als andere Soldaten mit Musketen während des Gottesdienstes herumschossen, „ging er hin, prügelte die Störenfriede durch, das Blut floss, und schmiss sie hinaus“ (GHP 134). Zwischen ‘Femme fragile‘ und ‘Femme fatale‘ ... 61 es am weiblichen Element, das in dieser Erzählung die entscheidende, aber doch unerreichbar symbolische Rolle bis zum Ende spielt: Sie küsst ihn, so dass er sich glücklich auf den Galgen wirft (vgl. GHP 143). Sie kann ihn nicht retten, denn er vertritt Unruhe, Gewalt, die dunkle Seite. Nachdem Loseke Muckerwitz unter tragischen Umständen ums Leben gekommen ist, treibt Käthe ihr Spiel weiter: Sie heiratet den in sie verliebten Obristen und verursacht, dass er innerhalb von einigen Wochen alles Gut, dass er in Pommern gestohlen hat, wieder verliert. Zum Schluss zieht er symbolisch ab (vgl. GHP 144) – aus dem weiblich gekennzeichneten Pommern, über dessen Schicksal Käthe entschied. Düster und tragisch, soll die Aussage der Geschichte für die Pommern doch tröstend sein: Über das weibliche Element darf in Pommern nicht hinweggesehen werden, wenn die Zukunft glücklich sein soll. Die Geschichtserzählungen Hoffmanns sind ein Panorama der gesellschaftlichen Ordnung in Pommern. Es scheint, dass die von ihm dargestellten sozialen Beziehungen und Abläufe nicht gravierend von deren traditioneller Vorstellung um 1900 abweichen. Trost und zukunftsweisende Funktion der Gesellschaft wurden Ende des 19. Jahrhunderts häufig in Zweifel gezogen. Wegweisend für die Denker und Dichter der ausgehenden Epoche – gestärkt durch die Gefühle der Décadence und des Fin de siècle – waren die Worte Friedrich Nietzsches: „Die ‘Herren’ sind abgetan; die Moral des gemeinen Mannes hat gesiegt. Man mag diesen Sieg zugleich als eine Blutvergiftung nehmen.“43 Der Wandel an der Schwelle des 20. Jahrhunderts sei demnach als Epoche des Versagens alter Werte bei gleichzeitiger Ersetzung dieser durch neue auszulegen, die „minderwertig“ seien. Die Angst vor der kommenden Zukunft ließ Nihilismus in der Überzeugung blühen, die Triebkraft der Gesellschaft – der Mensch, historisch mit dem männlichen Geschlecht identifizierbar – habe endgültig versagt. Und dennoch sind die Ausführungen Hans Hoffmanns nicht durch mit düsterer Weltanschauung geprägtem Pessimismus gekennzeichnet, sondern mit einer Hoffnung auf die Möglichkeit ausgestattet, gesellschaftliche Prozesse im positiven Lichte zu sehen.44 Auf der anderen Seite sprechen die analysierten Texte 43 Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. Bd. 2. München 1955, S. 781. Wegen Platzmangel soll weiter weder die tröstende Idee Nietzsches vom „Übermenschen“ noch seine Überzeugung, die Dichter ließen sich allzu einfach trösten, ausgeführt werden. Vgl. Andrzej Skrendo: Die Poesie nach dem ‘Tod Gottes‘. Różewicz und Nietzsche. In: Andreas Lawaty, Marek Zybura (Hgg.): Tadeusz Różewicz und die Deutschen. Wiesbaden 2003, S. 173–187, besonders S. 175 f., 178; übers. v. Bartosz Wójcik. 44 Bartosz Wójcik 62 Hoffmanns auch nicht den damals geläufigen Glauben an den Menschen an, der sich zu „einem die Wirklichkeit beherrschenden Wesen“ etabliert haben soll, „als homo sapiens und als homo faber das Ganze des Seienden“45 begreifend. Viele der damals in der Literatur populären Themen – wie die wegweisende Rolle der Technik, die Entwicklung der Wissenschaft oder die kulturbezogene Erkundung der menschlichen Psyche – werden von ihm nicht diskutiert. Die Möglichkeit der Beobachtung gesellschaftlicher Prozesse im positiven Lichte wird in seiner „tragischen Dichterkunst“46 auch verhüllt vorgeführt. Zum einen, sie wird in das historische – und dadurch abstrakt wirkende – Gewand gehüllt. Zum zweiten, sie erscheint unterhaltsam ausgeschmückt – und dadurch weniger seriös. Zum dritten, sie scheint keineswegs als unabdingbar porträtiert zu sein. Der Nihilismus kann gewinnen – dies muss aber nicht der Fall sein. Auch wenn die Geschichtswahrnehmung und die Vorstellung über die anstehende Weltentwicklung unter den Denkern des 19. Jahrhunderts kein hoffnungsvolles Bild erscheinen ließ47, wurde die Geschichte nicht etwa als eine endlose Kette von Niederlagen verstanden. Wenn auch die pommersche Bevölkerung relativ wenig über die eigene Regionalgeschichte wusste48, durfte sie durch die Elite – hier durch Hoffmann verkörpert – auch als tröstend und zukunftsweisend begriffen werden. So gesehen, dürfen Hoffmanns Erzählungen sogar als solche angesehen werden, die einen Beitrag zum geschichtsorientierten Diskurs des 19. Jahrhunderts leisten. Die Geschichten aus Hinterpommern sind nicht als sozialpolitisch engagierte Literatur zu lesen; und dennoch lassen sie im – bei Autoren der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts häufig bemerkbaren – „Bewusstsein der ‘Zeitlichkeit’ allen Lebens, der historischen Bewegung zwischen dem Verfallenden und dem Werdenden, zwischen dem Alten und dem Neuen, zwischen 45 Jürgen Petersen: Der deutsche Roman der Moderne. Stuttgart 1991, S. 8 f. Um bei den Nietzscheanischen Begriffen zu bleiben, offenbart sich – wie in der GötzenDämmerung dargelegt – die Kunst des „tragischen Dichters“ im „Jasagen zum Leben selbst noch in seinen fremdesten und härtesten Problemen“. Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. Bd. 3. Köln 1994, S. 383. 47 Wolfram Krömer: Pessimismus und Ausweglosigkeit im 19. Jahrhundert. In: ders.: Dichtung und Weltsicht des 19. Jahrhunderts. Wiesbaden 1982, S. 5–48, besonders Geschichte und Weltentwicklung, S. 26–33. 48 Geschichte wurde an den Schulen in kleinem Ausmaß unterrichtet: an den Schulen für Jungs nur in höheren Klassen, sie befand sich nicht unter den Fächern, die die Abiturprüfung ausmachten. In den Mädchenschulen wurde der Geschichtsunterricht „in einem minimalen Umfang“ angeboten (Włodarczyk: Wielkomiejski rozwój Szczecina, S. 484, übers. von mir, B. W.). 46 Zwischen ‘Femme fragile‘ und ‘Femme fatale‘ ... 63 dem, was Vergangenheit und was ‘an der Zeit’ war“49, neue Ansätze feststellen. In der im rapiden Wandel begriffenen Welt war der Verfall der bisherigen Wertstellungen und der Aufstieg der neuen vor allem innerhalb der gesellschaftlichen Beziehungen sichtbar. Die soziale Umgebung der Menschen und die Rollen der einzelnen Vertreter der Gesellschaft wurden zum Messgerät der Veränderung. Die Wechselbeziehung zwischen Mann und Frau und die Ummodellierung ihrer sozialen Machtverhältnisse und Zuständigkeitsbereiche konnte gleichzeitig symbolisch für den gesellschaftlichen Umbruch in der Makroskala der Auseinandersetzung des Alten mit dem Neuen stehen. Bereits in der ersten Erzählung wird die pommersche Identität durch das Weibliche moduliert, sublimiert und schlussendlich determiniert. Der Prozess verläuft stufenweise. Allmählich rückt das weibliche Element beim gleichzeitig geschilderten Wandel des männlichen Hauptprotagonisten immer mehr in den Vordergrund. Dieser Prozess verläuft so fließend und mehrpolig, dass im Endeffekt Zweifel aufkommen mögen, ob die Veränderung Knuz’ von Poggendorf planmäßig Schritt für Schritt realisiert werden konnte, wobei nachfolgende Stationen noch vor der Ankunft am Kaiserhof sorgfältig vorbereitet worden waren, oder aber, ob der endgültige Ausklang der Geschichte nur durch die Person der jungen Kaisertochter Luitgart ihren Lauf zu nehmen vermochte. Die entscheidende Rolle der Frau wird jedoch zum Schluss bestätigt: Es steht fest, dass der literarisch ausdrucksstarke Effekt durch die Heirat erzielt wurde, die keinesfalls zuvor hätte geplant werden können. Ähnlich wird im ausklingenden Happy End noch mal betont, dass das männliche pommersche Element nicht endgültig mit dem – durch das kaiserliche Geschlecht verkörperte – globalisierenden Element assimiliert wird, wodurch seine Identität letztendlich gefährdet werden würde: In einem ersten Brief an den Kaiser, in dem das Paar gesteht, geheiratet zu haben, bemerkt die junge Dame, der lutherische Glaube sei „in manchem Betracht vielleicht sogar um eine Kleinigkeit besser“ als der Glaube des Kaiserhofs (GHP 110).50 Knuz von Poggendorf gewinnt eine Frau und überzeugt sie, seinen Glauben anzunehmen. Die 49 Fritz Martini: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus 1848–1898. Stuttgart 1964, S. 21. 50 Im ausgehenden Mittelalter war das Bekenntnis ein wesentliches Identitätsattribut. Dieses kann auch politisch ausgelegt werden: Nach der Spaltung der Kirche im 16. Jh. wurde die Konfession nach dem Prinzip cuius regio, eius religio angenommen. So gesehen, würde die Konversion Knuz’ bedeuten, in Abhängigkeit vom Kaiser gefallen zu sein. Und umgekehrt, die Überzeugung Luitgarts, ihre Konfession zu wechseln, hatte die Überlegenheit des pommerschen Landes gegenüber der deutschen Krone zur symbolischen Folge. 64 Bartosz Wójcik männlich-politische Beute ist gravierend, doch soll der nicht minder wichtige Ausgang der Geschichte nicht übersehen werden. Die Beziehung, die Liebe und die Heirat mit Luitgart haben für den pommerschen Mann weitreichende Folgen. Er erscheint am kaiserlichen Hofe, um das traditionelle, von den Männern geschaffene und gefestigte Bild über das modernisierungswidrige Pommerland zu bestätigen. Der Lauf der Dinge ist jedoch anders. Zum einen, Luitgart gönnt Poggendorf einen gesellschaftlichen Aufstieg – der so Anfang des 16. wie im ausgehenden 19. Jahrhundert ein Traum für viele – und eine Hürde für die meisten – war. Zum anderen, er wird zu einem anderen Menschen: aus einem provinziellen Vertreter des niederen Adels zu einem höfischen Kavalier, begabten Redner und gewagten Politiker, der mit dem Kaiser auf Augenhöhe diskutieren kann. Längerfristig gesehen bleibt die Bewährung der bloßen Geschicktheit Poggendorfs am Hof des Kaisers nicht entscheidend, sondern wird die zukunftsweisende Ehe mit dem Herrschaftshaus bei gleichzeitiger Bewahrung der Identität (durch Glauben) zum Merkmal von äußerster Bedeutung. So gesehen lautet die Aussage des Textes etwa folgendermaßen: Pommern kann und soll modern werden, und dieser Prozess muss nicht die Aufgabe seiner Identität zur Folge haben. Dazu benötigt es lediglich eines sensiblen weiblichen Elements. Die erbauliche Geschichte, von Hoffmann seinen Landsleuten erzählt, lässt männliche Träume durch weibliche Gestalten wahr werden. Dabei verschwindet die bisherige Weltordnung. Als Gegenpol zur altbürgerlichen Idyllenwelt, das „das Gepräge des Abseitigen, Lebensfremden, Verkapselten und Sonderlinghaften“ erhalten hatte, entwickelte sich der „neue Typus des Erwerbs, Besitz- und Bildungsbürgers, der [...] in überstürzter Expansion die alte Bürgerethik übersprang und sich vom Kleinbürger in den Typus der keiner Tradition mehr verpflichteten ‘Bourgeois’ verwandelte“51. Die sozialen Prozesse gingen mit der literarischen Entwicklung einher. Auf der einen Seite beeinflusste die Wirklichkeit das künstlerische Schaffen, wodurch die Autoren zu scharfsinnigen Beobachtern und Chronisten der Sozialgeschichte wurden. Auf der anderen Seite konnte das literarische Schaffen sich auf gesellschaftliche Prozesse auswirken, so zum Medium des öffentlichen Diskurses werdend. Diesen Glauben vertraten manche Schriftsteller des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Nicht anders scheint es im Falle Hans Hoffmanns 51 Beide Zitate: Martini: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus, S. 21 f., hier ohne Wirtschaftsgesinnung gemeint. Zwischen ‘Femme fragile‘ und ‘Femme fatale‘ ... 65 und seiner Geschichten aus Hinterpommern zu sein. Der Autor und die von ihm geschaffenen Gestalten der alten und neuen Elite – die Tochter des Kaisers bzw. des Bürgermeisters oder die wohlhabende alleinstehende (verwitwete) Frau52 – bringen die neue Funktion der Literatur zum Vorschein: „Literatur als Reservoir von Erwartungen, Hoffnungen und Befürchtungen der Schicht des Volkes, aus der Direktiven, Weisungen und Entscheidungen kommen“53, so dass sie – die Literatur! – dadurch „zur politischen und sozialen Geschichte beitragen“ kann. So ist es im Falle Anna Marias in der Erzählung Der falsche Bogislaw: Bald nach der Einführung ihrer Gestalt in die Handlung stellt sich heraus, dass sie zur entschlossenen, durch die Achtung gegenüber dem Herzog bedingten Handlung fähig ist. Diese Handlungsfähigkeit – und diese Achtung – kann sie sogar zum Ungehorsam gegenüber ihrem Vater treiben. Als sie beschließt, den Herzog aus den Händen ihres Vaters und der Kösliner zu befreien und ihm die Flucht zu ermöglichen, wird sie zu einer außergewöhnlichen Person. Bis zum Ende der Erzählung handelt sie eigenartig: Sie ist die Triebkraft des Plots, und ihre Entscheidungen, weit vom einfachen Mustertypus eines naiven Dorfmädels entfernt, haben weitreichende Konsequenzen. Dazu zählen sowohl die ergriffene Flucht mit dem vermeintlichen Herzog, die Flucht des Mädchens mit einem fremden Mann, das Arrangieren der Falle, um seine Festnahme zu bewerkstelligen. Obwohl sie eine Neigung zu Bernd Heydebreck – dem sie betrügenden herzoglichen Ritter – empfindet, und obwohl er auch von ihr fasziniert ist, weigert sie sich keinen Augenblick, ihn an den Bürgermeister von Köslin auszuliefern, nachdem sie seinen Betrug entdeckt hat. So handelt sie nach herzoglichen Prinzipien: Gerechtigkeit, Ehre und Treue.54 Die Übertragung solcher Tugenden auf eine Frauengestalt, verbunden mit der Darstellung ihrer Handlungsentschlossenheit, bedeutet die Anbahnung einer Diskussion über die Rolle der Frau in der pommerschen Gesellschaft mit gleichzeitigem Hinweis auf die zu erwartende Entwicklung der sozialen Prozesse in der nahen Zukunft. Auf der Folie der Typen-Gestaltung scheint bei Hoffmann gleichzeitig sein literarisch gesinnter Regionalismus von beträchtlicher Bedeutung zu sein. Das 52 Es dürfte sich um eine ein Gut verwaltende Witwe handeln. Vgl. Anm. 13. Herbert Lehnert: Alternative Orientierungen: Literatur als Quelle für die deutsche Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. In: Helmut Koopmann, Clark Muenzer (Hgg.): Wegbereiter der Moderne. Studien zu Schnitzler, Hauptmann, Th. Mann, Hesse, Kaiser, Traven, Kafka, Broch, von Unruh und Brecht. Festschrift für Klaus Jonas. Tübingen 1990, S. 1–16, hier S. 16. 54 Das ändert sich auch nicht in der Schlussszene, als sie im letzten Augenblick Heydebreck das Leben rettet, indem sie ihn heiratet. 53 Bartosz Wójcik 66 Stereotyp des „Pommerschen“, häufig in den Geschichten aus Hinterpommern aufgegriffen und bearbeitet, wirkt sich auf den literarischen Stoff maßgebend aus – darunter auch die sprachliche und dadurch ästhetische Konstruktion seiner Personengestalten. Sein Verhältnis zum pommerschen Element ist nicht leicht entzifferbar, da Hoffmann reichlich mit ironischer Distanz und sarkastischem Humor arbeitet. Das ist in der Verwendung des Begriffs des „Hinterpommerschen“ sichtbar, eines historisch relativ unpräzisen Begriffs55, der als administrativtechnische Einheit neben „Vorpommern“ erst 1815 – nach der Verwaltungsreform im preußischen Staat – entstand. So scheint Hoffmann, das traditionsbasierte Bild zu unterlaufen. Er tut dies jedoch auf gezielt distanzierte Art und Weise, die sein Vorhaben nicht zu bestätigen scheinen. Dadurch werden die Texte zusätzlich abgeschirmt – jeder Leser kann sie nach seinem Belieben verstehen: als Karikatur oder Bestätigung des „Pommerschen“. Ähnlich verhält sich die Sache mit den Frauenfiguren: Sie werden auf der einen Seite in die Handlung schemenhaft eingeführt und charakterisiert, auf der anderen Seite übernehmen sie im tradierten historischen Erzählen die zeitgenössische Führungsrolle – als Katalysator oder gar Movens der Handlung. Die Texte Hoffmanns bieten jedoch keine fertigen Rezepturen eines gesellschaftlichen Umbruchs. Die Neigung zur ‘dunklen Seite’ der menschlichen Psyche, deren negative Auswirkungen in den Katastrophen der ‘großen’ Geschichte beobachtet werden können, sind in ihnen als Memento und reale Gefahr zugleich enthalten. Über die Geschichte wird vorsichtig und indirekt erzählt – über das Mittelalter bzw. die Renaissance –, um das Risiko einer Auseinandersetzung mit dem preußischen Staat zu minimieren. Insofern sind auch Hoffmanns Frauen aus der pommerschen Geschichte stark in das Korsett der gesellschaftlichen Ordnung des (16., 17. und) 19. Jahrhunderts verwickelt und ihr emanzipatorischer Ansatz in die unterhaltsame Handlung gehüllt. Angeboten wird keine Revolution, sondern ein scharfsinniger und leise ausgesprochener Denkansatz.56 Der Mann wird bei Hoffmann zwar nicht endgültig – wie bei anderen Autoren des ausgehenden 19. Jahrhunderts – durch die neu gesellschaftlich etablierte Frau 55 Bis 16. Jh. bezeichnete man manchmal so das Gebiet östlich des Gollenbergs (heute: Góra Chełmska) bei Köslin, später den Teil Pommerns östlich der Oder. Eine scharfe Abgrenzung nach Westen – z. B. die Lage Stettins – erfolgte niemals. 56 In Anlehnung an die Parole Sigmund Freuds „Die Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör verschafft hat“. Zwischen ‘Femme fragile‘ und ‘Femme fatale‘ ... 67 „vom sexuellen Leistungszwang“ befreit, um dadurch „zum höheren Ich“57 zu gelangen. Nichtsdestoweniger offerieren die Elemente und Teileigenschaften der weiblichen Mustergestalten von ‘Femme fragile’ und ‘Femme fatale’ ein neues Vorbild einer entschlossenen, aber sensiblen, und eigensinnigen, aber nicht eigennützig agierenden Frau. Deswegen, von den drei Typen der „bejahenden Geschichtsbetrachtung“58, von Paul Bénichou in seinem Werk Le temps des prophètes 1977 dargestellt, wäre dementsprechend der Typus der liberalen Einstellung anzunehmen, nach dem an „eine mögliche, nicht notwendige, sondern in die Freiheit des Menschen gestellte Aufwärtsentwicklung der Menschheit“59 geglaubt wurde. Diese Möglichkeit, gesellschaftliche Prozesse im positiven Lichte zu sehen, und den Weg zur „bejahenden Geschichtsbetrachtung“ als zukunftsweisende Weisheit wahrzunehmen, scheint für Hofmann in der starken gesellschaftlichen Einbeziehung des „milden“ weiblichen Elements zu liegen. Die Erlösung kann – muss aber nicht – erfolgen. Was als sicher gelten kann: Soll sie kommen, wird dies nicht von der männlichen Seite geschehen. MIĘDZY ‘FEMME FRAGILE’ A ‘FEMME FATALE’: PIERWIASTEK ŻEŃSKI JAKO ZALĄŻEK PRZEMIAN SPOŁECZEŃSTWA POMORSKIEGO OKOŁO ROKU 1900 W OPOWIADANIACH Z POMORZA ZACHODNIEGO [GESCHICHTEN AUS HINTERPOMMERN] HANSA HOFFMANNA Streszczenie Niniejszy artykuł podejmuje wątek wizerunku społecznego kobiety u zarania XX wieku w regionie Pomorza Zachodniego w utworach literackich Hansa Hoffmanna, powstałych w owym czasie. Analizując trzy z czterech tekstów zawartych w Opowiadaniach z Pomorza Zachodniego, autor artykułu podkreśla rolę pierwiastka żeńskiego jako potencjalnej siły społecznej, zdolnej wpłynąć na dalszą historię regionu. Wskazuje na to analiza postaci kobiecych, przeprowadzona w kontekście ówczesnej sytuacji społecznej i pozwalająca na poznanie stanowiska Hansa Hoffmanna wobec potencjalnego społecznego oddziaływania pierwiastka żeńskiego. 57 Wolfgang Beutin, Klaus Ehlert: Deutsche Literaturgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart, Weimar 2008, S. 364 f. 58 Paul Bénichou: Le temps des prophètes. Paris 1977, zit. nach: Krömer: Dichtung und Weltsicht des 19. Jahrhunderts, S. 26. 59 Ebd. 68 Bartosz Wójcik BETWEEN ‘FEMME FRAGILE’ AND ‘FEMME FATALE’: THE FEMININE ELEMENT AS FUTURE INDICATOR FOR THE POMERANIAN SOCIETY AROUND 1900 IN HANS HOFFMANNS STORIES FROM FARTHER POMERANIA [GESCHICHTEN AUS HINTERPOMMERN] Summary This article tackles the topic of the social image of women at the turn of the 20th century in the Pomeranian region as found in literary works written by Hans Hoffmann at the time. By analyzing three of four short stories enclosed in Stories From Farther Pomerania, the author of the article states that the feminine element is a potential social power for future history of the region as the book‘s author seemed to believe. In the article, features of this element, personalized by female literary figures, are described and analyzed in the context of the stories and the social situation of that era.