Mireille Gros — Jedem Anfang wohnt
ein Zauber inne
Installation (aus dem Werkzyklus ‹The Fictional Plant Diversity›), 2020–2021, Ausstellungsansicht,
‹Pour un herbier – 7 expositions printanières›, CHUV, Lausanne, 2021
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Gleich einer Beschwörung der Artenvielfalt lässt Mireille Gros
seit einem Transzendenzerlebnis 1993 in einem afrikanischen
Primärwald beständig neue Pflanzen entstehen. Noch nie hat
sie diesen Werkzyklus monumentaler, kompakter und farblich
kühner aufgeschlagen als im Empfang des CHUV auf Einladung
der neuen Spitalkuratorin Karine Tissot. Katharina Holderegger
Die 3,5 x 15 m grosse Installation ist als Ganzes kaum zu erfassen. Zwei der massigen Doppelsäulen, die das Hauptgebäude des Centre hospitalier universitaire vaudois CHUV stützen, verstellen die Übersicht. Über einem Sockelfries aus zu Streifen
zerschnittenen und hochkant wieder zusammenmontierten Zeichnungen hat Mireille
Gros für den Empfang des Spitals ein Salonhängung von rund 200 Zeichnungen aus
den letzten zwei Jahren der Reihe ‹The Fictional Plant Diversity/TFPD› erarbeitet.
Die seit 28 Jahren wachsende Werkgruppe wird gerade so als Zusammenspiel unterschiedlicher bildsprachlicher Stadien und als einzigartiges Kontinuum erfahrbar.
Trotzdem beruht die Ausstrahlung des Werks auf den einzelnen Bildereignissen.
Da Mireille Gros beständig die Werkzeuge, die Farbstoffe und die Unterlagen verändert, geht jede Zeichnung, jedes Gemälde aus einem intimen, kaum vorhersehbaren
Dialog hervor. Sie strebt in ihrem Schaffen das Gegenteil einer Kontrolle des Verlaufs
und des Ergebnisses durch Wissen und Können an. Sie entdeckt und schwingt sich
ein, bis die «irreduktible Komplexität» eines Werks erreicht ist. Im Gegensatz zu den
Gemälden gibt es bei den Zeichnungen jedoch kein Zurückbuchstabieren. Gelingt
Mireille Gros eine ihrer Interventionen mit feuchtem und weichem Pinsel oder auch
sprödem Bleistift auf stets anderen Papieren und Kartons nicht, lässt sie sich auf
der Rückseite auf die besondere Schwierigkeit ein, aus dem versehrten Blatt doch
noch etwas «Atmendes» zu ziehen. Sonst wird die Zeichnung in Collagen rezykliert,
die in der CHUV-Installation wie Humus erscheinen, aus dem Neues spriesst. Wie Tod
und Zerfall in der Natur, findet sich in Gros’ Œuvre künstlerisches Scheitern zugleich
verschwenderisch und haushälterisch integriert.
Erblühendes und Versamendes
Obschon der Technikwechsel – kunsthistorisch spannend – in der Regel auch
einen Stilwandel nach sich zieht, weisen die Arbeiten von Mireille Gros einen hohen
Grad an Wiedererkennbarkeit auf. Die Linien und die Felder bewegen sich geschmeidig und verjüngend von unten nach oben zu einer Knospe oder einer Blüte, die sich
öffnend reckt oder neigt. Die Farben schieben sich gegenseitig von hinten nach vorne
bis zu dieser Kulmination, die da und dort bereits Samen ausfliegen lässt. Spielt auf
den Zeichnungen meist nur eine Pflanzenart in der Mitte die Hauptrolle, verweisen
die Gemälde mit ihren oft angeschnittenen und bildsprengenden Formen auf ganze Biotope unterschiedlichster Grössenordnung. Dabei haben ihr die ausgiebige Beschäftigung mit den Schriften und Tafeln von Farbforschern wie Johann Wolfgang
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Zeichnung (aus dem Werkzyklus ‹The Fictional Plant Diversity›), 2021, Aquarell und Tusche auf Papier,
30 x 20 cm (beidseitig, hinterlegt)
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Mireille Gros (*1954, Muri) lebt in Basel und Paris
1977–1980 Schule für Gestaltung Basel (Diplom Lehramt für bildende Kunst)
1980–1981 Cooper Union, New York (Professoren Vito Acconci und Hans Haacke)
Einzelausstellungen (Auswahl)
2020 ‹The Fictional Plant Biodiversity Project›, Affspace, Bern; ‹Seasons Fictional Plants›, Ronewa,
Berlin und Bangkok
2019 ‹Step into this river – you will see the past and the future›, Espace St. Michel, Paris (mit Yuan
Shengwen)
2017 ‹Archives intimes›, Kupferstichkabinett, KunstmuseumBasel
2016 ‹Paysage intérieurs lumières rasante›, Anton Meier Galerie, Genf; ‹Time Line›, Hauser Gallery,
Zürich
2014 ‹Ouvrir les archives›, Graphische Sammlung der ETH Zürich
2013 ‹bioDiversity›, Kunsthaus L6, Freiburg/Br
2010 ‹The use of the useless›, Kunsthaus Baselland
2008 ‹Tiden Wetter und anderes›, Museum Langmatt, Baden
2007 ‹La belle voisine›, MAPRA, Lyon, Groupe d’art contemporain d'Annonay und Centre d’art contemporain de Lacoux Hauteville Lompnes
2005 ‹La vie en guymauves›, Fondation Louis Moret, Martigny; ‹L’entre’2›, Alliance française Buenos
Aires und Alliance française Montevideo
2003 ‹hydrordyh›, Mira Suiza, Circolodebellasartes, Madrid
2001–2002 ‹e·émergence›, Kunstmuseum Bern und Musée Jenisch, Vevey
1994 ‹Réserves Naturelles›, Projekt Schweiz II, Kunsthalle Basel
Foto: Kathrin Siegrist
Goethe und Josef Albers die Gewissheit vermittelt, dass im Bereich der Farbtheorie
eine geschärfte Wahrnehmung durch ein geduldiges, vergleichendes Sehen und so
etwas wie Hören unabdingbar ist.
Für die Installation im CHUV hat Mireille Gros eine breite Palette an geradezu konträren Farbklängen erprobt. Um Frühlingsfrische in den stollenartigen Durchgangsraum zu bringen, hat sie in die Auswahl an Zeichnungen von 2019–2021 eine zweite
Serie in Leuchtfarben eingestreut. Die grellen Riesenkelche setzen nun zwischen den
in satten Fleischfarben, tiefen Wassertönen oder auch namenlosen Erdnuancen gehaltenen Blättern überraschende Akzente. Wider Erwarten bringt diese Kombiantion
das umfangreiche Spektrum der Kolorierung von Mireille Gros geradezu zum Tönen.
Figurative und metaphorische Sprache
Es ist deshalb nicht paradox, wenn die Künstlerin behauptet: «Es beruht alles
auf Beobachtung», und nur zwei Minuten später: «Meine Arbeit ist vollkommen abstrakt.» Es geht ihr um die Erzeugung einer zweiten Natur, die idealerweise die erste
Natur nicht nur vertritt, sondern erreicht – wie dies etwa Leonardo wiederholt formuliert hat, der ebenfalls in ihrer selektiven Bibliothek vertreten ist. Viele der Zeichnungen von Mireille Gros wären ausserhalb ihres Werkzyklus ‹TFPD› kaum mit Flora zu
verbinden. Man könnte sie etwa als Essais zu einer unerschöpflichen Vielfalt urtümlicher Gesten auf dem Weg zum Bild oder zur Schrift verstehen.
Mireille Gros stellt ihr Œuvre, ähnlich wie Kunstschaffende seit der Renaissance
und dann vor allem von der Art Nouveau bis zur Arte povera, in eine nicht nur äussere,
sondern innere Analogie zur Natur. Und zwar sowohl aus der eigenen bei ihr in die
Hügel und die Gewässer des Freiamts zurückführenden Erfahrung als auch auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse. Insofern bedeutete das ihr reifes Werk begründende Transzendenzerlebnis im Primärwald 1993 an der Elfenbeinküste nicht nur
Vertiefung, sondern auch Öffnung: Sie erhielt Einsicht in menschlich kaum berührte Lebensräume, in denen sich während Jahrmillionen eine unendlich dichte, nicht
zuletzt auch visuell überwältigende und bezaubernde Artenvielfalt entwickelt hatte,
während sich in unseren Kulturlandschaften oft nur noch einige wenige Pflanzen und
Tiere um die Dominanz streiten. Heute führende Evolutionsfachleute wie etwa Joan
Roughgarden betonen auf der Basis solcher Vergleiche die eigentliche Interdependenz zwischen den Arten und die Bedeutung multimorphologischer Anpassungsfähigkeit und ermessen dieses Prinzip generell als effizienteres, dauerhafteres Modell
als das darwinsche Konzept des «Survival of the Fittest».
Kopfgeburten und Naturbegegnung
Die Metaphern des Lebens und des Neubeginns im Werk von Mireille Gros bewogen Karine Tissot, Gros’ Ausstellung ins Zentrum der Reihe der Frühlingspräsentationen zu stellen. Hatte ihre Vorgängerin Caroline de Watteville Kunstausstellungen
im Empfangsbereich und Sammlungstätigkeit im Spital von 1990 bis 2018 pionierhaft
verankert, versucht die jetzige Spitalkuratorin, mit einem weiter ausgreifenden Pro-
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gramm dezidiert verschiedene Facetten der Institution zu beleuchten, in der 13’000
Mitarbeitende pro Jahr 50’000 Patientinnen und Patienten behandeln. Mireille Gros
ist nun zusätzlich zur Installation im Entrée mit zwei Gemälden im Patientenhotel
sowie mit ihren seit den 1980er-Jahren geführten Alben, den ‹Archives intimes›, in
der Medizinbibliothek präsent. Vier jüngere Kunstschaffende – Laura Thiong-Toye,
Anaëlle Clot, Pascal Aeschlimann und Julien Raboud – ziehen mit ihren Auftritten in
der Stadt, im Kinderspital sowie in zwei Psychiatriestationen mögliche Beziehungen
zum Vegetabilen weiter. Die Ausstellungen bilden gemeinsam ein Echo auf eine bewährte therapeutische Praxis im Spital. So werden psychiatrische wie auch aus dem
Koma erweckte Patienten in die artenreichen spitaleigenen Gärten geführt, die ihnen
das Heraustreten aus sich selbst erleichern.
Naturbegegnung ist für den Menschen unerlässlich, um den eigenen, oft bornierten, ja mitunter blindwütigen Kopfgeburten zu entrinnen. Mireille Gros versteht ihr
ganzes Werk als Antithese zu einer linearen Produktion von der Idee zur Form oder
von der Konzeption zur Realisation, die nur zu Sterilem führt. Leider unterliegt selbst
die Kultur aufgrund ihrer diversen Rechenschaftspflichten heute zunehmend solchen Zwängen. Dabei bräuchte sie Freiräume, in denen sich Leben und Arbeit täglich
von Neuem zu Philosophie und Poesie verbinden können.
Beständigkeit und Geburtlichkeit
Das Œuvre von Mireille Gros erscheint fast wie eine bildliche Erläuterung der
Philosophin und Politologin Hannah Arendt. Deren wohl wesentlichster Beitrag ist
die Befreiung aus dem westlichen Kreisen um Mortalität zugunsten eines Bewusstseins für die Natalität als «Neubeginn, der mit jeder Geburt in die Welt kommt». Dabei
weist Hannah Arendt den Kunstschaffenden eine entscheidende Rolle zu: «Die Einzigen, die noch an die Welt glauben, sind die Künstler. Die Beständigkeit des Werks
spiegelt den beständigen Charakter der Welt. Sie können es sich nicht leisten, der
Welt fremd zu sein. Die Gefahr liegt darin, die Welt zu vertreiben, d. h. die Oasen in
Wüste zu verwandeln.»
Aussagen der Künstlerin stammen aus Telefongesprächen im Vorfeld der Ausstellung und einem Besuch in
situ am 20.4.2021.
Katharina Holderegger, Kunsthistorikerin, Kritikerin und Kuratorin, lebt mit ihrer Familie am Genfersee.
kholderegger@hotmail.com
→ ‹Pour un herbier – 7 expositions printanières›, dreiteilige Ausstellung, mit Mireille Gros, Laura
Thiong-Toye, Anaëlle Clot, Pascal Aeschlimann, Julien Raboud, im Rahmen der Saison ‹En herbier› des
Programms VU.CH im CHUV – Centre hospitalier universitaire vaudois und weiteren Ausstellungsorten,
Lausanne, bis 25. 6. ↗ www.vu.ch
Zeichnung (aus dem Werkzyklus ‹The Fictional Plant Diversity›), 2019, Aquarell auf Papier, 55 x 41 cm
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