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Mireille Gros - Allem Anfang wohnt ein Zauber inne

2021, Kunstbulletin

Mireille Gros — Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne Installation (aus dem Werkzyklus ‹The Fictional Plant Diversity›), 2020–2021, Ausstellungsansicht, ‹Pour un herbier – 7 expositions printanières›, CHUV, Lausanne, 2021 48 Kunstbulletin 6/2021 FOKUS // MIREILLE GROS 49 Gleich einer Beschwörung der Artenvielfalt lässt Mireille Gros seit einem Transzendenzerlebnis 1993 in einem afrikanischen Primärwald beständig neue Pflanzen entstehen. Noch nie hat sie diesen Werkzyklus monumentaler, kompakter und farblich kühner aufgeschlagen als im Empfang des CHUV auf Einladung der neuen Spitalkuratorin Karine Tissot. Katharina Holderegger Die 3,5 x 15 m grosse Installation ist als Ganzes kaum zu erfassen. Zwei der massigen Doppelsäulen, die das Hauptgebäude des Centre hospitalier universitaire vaudois CHUV stützen, verstellen die Übersicht. Über einem Sockelfries aus zu Streifen zerschnittenen und hochkant wieder zusammenmontierten Zeichnungen hat Mireille Gros für den Empfang des Spitals ein Salonhängung von rund 200 Zeichnungen aus den letzten zwei Jahren der Reihe ‹The Fictional Plant Diversity/TFPD› erarbeitet. Die seit 28 Jahren wachsende Werkgruppe wird gerade so als Zusammenspiel unterschiedlicher bildsprachlicher Stadien und als einzigartiges Kontinuum erfahrbar. Trotzdem beruht die Ausstrahlung des Werks auf den einzelnen Bildereignissen. Da Mireille Gros beständig die Werkzeuge, die Farbstoffe und die Unterlagen verändert, geht jede Zeichnung, jedes Gemälde aus einem intimen, kaum vorhersehbaren Dialog hervor. Sie strebt in ihrem Schaffen das Gegenteil einer Kontrolle des Verlaufs und des Ergebnisses durch Wissen und Können an. Sie entdeckt und schwingt sich ein, bis die «irreduktible Komplexität» eines Werks erreicht ist. Im Gegensatz zu den Gemälden gibt es bei den Zeichnungen jedoch kein Zurückbuchstabieren. Gelingt Mireille Gros eine ihrer Interventionen mit feuchtem und weichem Pinsel oder auch sprödem Bleistift auf stets anderen Papieren und Kartons nicht, lässt sie sich auf der Rückseite auf die besondere Schwierigkeit ein, aus dem versehrten Blatt doch noch etwas «Atmendes» zu ziehen. Sonst wird die Zeichnung in Collagen rezykliert, die in der CHUV-Installation wie Humus erscheinen, aus dem Neues spriesst. Wie Tod und Zerfall in der Natur, findet sich in Gros’ Œuvre künstlerisches Scheitern zugleich verschwenderisch und haushälterisch integriert. Erblühendes und Versamendes Obschon der Technikwechsel – kunsthistorisch spannend – in der Regel auch einen Stilwandel nach sich zieht, weisen die Arbeiten von Mireille Gros einen hohen Grad an Wiedererkennbarkeit auf. Die Linien und die Felder bewegen sich geschmeidig und verjüngend von unten nach oben zu einer Knospe oder einer Blüte, die sich öffnend reckt oder neigt. Die Farben schieben sich gegenseitig von hinten nach vorne bis zu dieser Kulmination, die da und dort bereits Samen ausfliegen lässt. Spielt auf den Zeichnungen meist nur eine Pflanzenart in der Mitte die Hauptrolle, verweisen die Gemälde mit ihren oft angeschnittenen und bildsprengenden Formen auf ganze Biotope unterschiedlichster Grössenordnung. Dabei haben ihr die ausgiebige Beschäftigung mit den Schriften und Tafeln von Farbforschern wie Johann Wolfgang 50 Kunstbulletin 6/2021 Zeichnung (aus dem Werkzyklus ‹The Fictional Plant Diversity›), 2021, Aquarell und Tusche auf Papier, 30 x 20 cm (beidseitig, hinterlegt) FOKUS // MIREILLE GROS 51 Mireille Gros (*1954, Muri) lebt in Basel und Paris 1977–1980 Schule für Gestaltung Basel (Diplom Lehramt für bildende Kunst) 1980–1981 Cooper Union, New York (Professoren Vito Acconci und Hans Haacke) Einzelausstellungen (Auswahl) 2020 ‹The Fictional Plant Biodiversity Project›, Affspace, Bern; ‹Seasons Fictional Plants›, Ronewa, Berlin und Bangkok 2019 ‹Step into this river – you will see the past and the future›, Espace St. Michel, Paris (mit Yuan Shengwen) 2017 ‹Archives intimes›, Kupferstichkabinett, KunstmuseumBasel 2016 ‹Paysage intérieurs lumières rasante›, Anton Meier Galerie, Genf; ‹Time Line›, Hauser Gallery, Zürich 2014 ‹Ouvrir les archives›, Graphische Sammlung der ETH Zürich 2013 ‹bioDiversity›, Kunsthaus L6, Freiburg/Br 2010 ‹The use of the useless›, Kunsthaus Baselland 2008 ‹Tiden Wetter und anderes›, Museum Langmatt, Baden 2007 ‹La belle voisine›, MAPRA, Lyon, Groupe d’art contemporain d'Annonay und Centre d’art contemporain de Lacoux Hauteville Lompnes 2005 ‹La vie en guymauves›, Fondation Louis Moret, Martigny; ‹L’entre’2›, Alliance française Buenos Aires und Alliance française Montevideo 2003 ‹hydrordyh›, Mira Suiza, Circolodebellasartes, Madrid 2001–2002 ‹e·émergence›, Kunstmuseum Bern und Musée Jenisch, Vevey 1994 ‹Réserves Naturelles›, Projekt Schweiz II, Kunsthalle Basel Foto: Kathrin Siegrist Goethe und Josef Albers die Gewissheit vermittelt, dass im Bereich der Farbtheorie eine geschärfte Wahrnehmung durch ein geduldiges, vergleichendes Sehen und so etwas wie Hören unabdingbar ist. Für die Installation im CHUV hat Mireille Gros eine breite Palette an geradezu konträren Farbklängen erprobt. Um Frühlingsfrische in den stollenartigen Durchgangsraum zu bringen, hat sie in die Auswahl an Zeichnungen von 2019–2021 eine zweite Serie in Leuchtfarben eingestreut. Die grellen Riesenkelche setzen nun zwischen den in satten Fleischfarben, tiefen Wassertönen oder auch namenlosen Erdnuancen gehaltenen Blättern überraschende Akzente. Wider Erwarten bringt diese Kombiantion das umfangreiche Spektrum der Kolorierung von Mireille Gros geradezu zum Tönen. Figurative und metaphorische Sprache Es ist deshalb nicht paradox, wenn die Künstlerin behauptet: «Es beruht alles auf Beobachtung», und nur zwei Minuten später: «Meine Arbeit ist vollkommen abstrakt.» Es geht ihr um die Erzeugung einer zweiten Natur, die idealerweise die erste Natur nicht nur vertritt, sondern erreicht – wie dies etwa Leonardo wiederholt formuliert hat, der ebenfalls in ihrer selektiven Bibliothek vertreten ist. Viele der Zeichnungen von Mireille Gros wären ausserhalb ihres Werkzyklus ‹TFPD› kaum mit Flora zu verbinden. Man könnte sie etwa als Essais zu einer unerschöpflichen Vielfalt urtümlicher Gesten auf dem Weg zum Bild oder zur Schrift verstehen. Mireille Gros stellt ihr Œuvre, ähnlich wie Kunstschaffende seit der Renaissance und dann vor allem von der Art Nouveau bis zur Arte povera, in eine nicht nur äussere, sondern innere Analogie zur Natur. Und zwar sowohl aus der eigenen bei ihr in die Hügel und die Gewässer des Freiamts zurückführenden Erfahrung als auch auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse. Insofern bedeutete das ihr reifes Werk begründende Transzendenzerlebnis im Primärwald 1993 an der Elfenbeinküste nicht nur Vertiefung, sondern auch Öffnung: Sie erhielt Einsicht in menschlich kaum berührte Lebensräume, in denen sich während Jahrmillionen eine unendlich dichte, nicht zuletzt auch visuell überwältigende und bezaubernde Artenvielfalt entwickelt hatte, während sich in unseren Kulturlandschaften oft nur noch einige wenige Pflanzen und Tiere um die Dominanz streiten. Heute führende Evolutionsfachleute wie etwa Joan Roughgarden betonen auf der Basis solcher Vergleiche die eigentliche Interdependenz zwischen den Arten und die Bedeutung multimorphologischer Anpassungsfähigkeit und ermessen dieses Prinzip generell als effizienteres, dauerhafteres Modell als das darwinsche Konzept des «Survival of the Fittest». Kopfgeburten und Naturbegegnung Die Metaphern des Lebens und des Neubeginns im Werk von Mireille Gros bewogen Karine Tissot, Gros’ Ausstellung ins Zentrum der Reihe der Frühlingspräsentationen zu stellen. Hatte ihre Vorgängerin Caroline de Watteville Kunstausstellungen im Empfangsbereich und Sammlungstätigkeit im Spital von 1990 bis 2018 pionierhaft verankert, versucht die jetzige Spitalkuratorin, mit einem weiter ausgreifenden Pro- 52 Kunstbulletin 6/2021 FOKUS // MIREILLE GROS 53 gramm dezidiert verschiedene Facetten der Institution zu beleuchten, in der 13’000 Mitarbeitende pro Jahr 50’000 Patientinnen und Patienten behandeln. Mireille Gros ist nun zusätzlich zur Installation im Entrée mit zwei Gemälden im Patientenhotel sowie mit ihren seit den 1980er-Jahren geführten Alben, den ‹Archives intimes›, in der Medizinbibliothek präsent. Vier jüngere Kunstschaffende – Laura Thiong-Toye, Anaëlle Clot, Pascal Aeschlimann und Julien Raboud – ziehen mit ihren Auftritten in der Stadt, im Kinderspital sowie in zwei Psychiatriestationen mögliche Beziehungen zum Vegetabilen weiter. Die Ausstellungen bilden gemeinsam ein Echo auf eine bewährte therapeutische Praxis im Spital. So werden psychiatrische wie auch aus dem Koma erweckte Patienten in die artenreichen spitaleigenen Gärten geführt, die ihnen das Heraustreten aus sich selbst erleichern. Naturbegegnung ist für den Menschen unerlässlich, um den eigenen, oft bornierten, ja mitunter blindwütigen Kopfgeburten zu entrinnen. Mireille Gros versteht ihr ganzes Werk als Antithese zu einer linearen Produktion von der Idee zur Form oder von der Konzeption zur Realisation, die nur zu Sterilem führt. Leider unterliegt selbst die Kultur aufgrund ihrer diversen Rechenschaftspflichten heute zunehmend solchen Zwängen. Dabei bräuchte sie Freiräume, in denen sich Leben und Arbeit täglich von Neuem zu Philosophie und Poesie verbinden können. Beständigkeit und Geburtlichkeit Das Œuvre von Mireille Gros erscheint fast wie eine bildliche Erläuterung der Philosophin und Politologin Hannah Arendt. Deren wohl wesentlichster Beitrag ist die Befreiung aus dem westlichen Kreisen um Mortalität zugunsten eines Bewusstseins für die Natalität als «Neubeginn, der mit jeder Geburt in die Welt kommt». Dabei weist Hannah Arendt den Kunstschaffenden eine entscheidende Rolle zu: «Die Einzigen, die noch an die Welt glauben, sind die Künstler. Die Beständigkeit des Werks spiegelt den beständigen Charakter der Welt. Sie können es sich nicht leisten, der Welt fremd zu sein. Die Gefahr liegt darin, die Welt zu vertreiben, d. h. die Oasen in Wüste zu verwandeln.» Aussagen der Künstlerin stammen aus Telefongesprächen im Vorfeld der Ausstellung und einem Besuch in situ am 20.4.2021. Katharina Holderegger, Kunsthistorikerin, Kritikerin und Kuratorin, lebt mit ihrer Familie am Genfersee. kholderegger@hotmail.com → ‹Pour un herbier – 7 expositions printanières›, dreiteilige Ausstellung, mit Mireille Gros, Laura Thiong-Toye, Anaëlle Clot, Pascal Aeschlimann, Julien Raboud, im Rahmen der Saison ‹En herbier› des Programms VU.CH im CHUV – Centre hospitalier universitaire vaudois und weiteren Ausstellungsorten, Lausanne, bis 25. 6. ↗ www.vu.ch Zeichnung (aus dem Werkzyklus ‹The Fictional Plant Diversity›), 2019, Aquarell auf Papier, 55 x 41 cm 54 Kunstbulletin 6/2021 FOKUS // MIREILLE GROS 55