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Hans Thomas Hakl EINIGE ZUSÄTZLICHE BEMERKUNGEN ZUM FRAGENKOMPLEX JULIUS EVOLA UND ALEISTER CROWLEY Eine einfache Aufgabe ist es nicht, den ausgewogenen und detailreichen Angaben Marco Pasis zu den „Beziehungen“ zwischen Crowley und Evola noch etwas Interessantes hinzuzufügen. Es dürfte nun einmal wirklich feststehen, daß sie einander nicht kennengelernt haben. Und das, obwohl Crowley drei Jahre in Sizilien lebte und erst 1923 (Evola war damals bereits 25 Jahre alt) seine Abtei in Cefalù verlassen mußte. Eine Begegnung wäre also ohne weiteres im Bereich des Möglichen gewesen, vor allem wenn man Evolas elterliche Wurzeln in Sizilien sowie sein damals schon aufkeimendes Interesse an okkulten Fragen bedenkt. Daß Evola aber Crowleys Selbstbezeichnung als „Meister Therion“ im Juni 1928 noch nicht kannte und ihn vor allem in seiner 1932 erschienenen Untersuchung Maschera e volto dello spiritualismo contemporaneo in dem Kapitel über „Die ‚Magie‘ in der modernen Welt“ Julius Evola, Maschera e volto dello spiritualismo contemporaneo. Analisi critica delle principali correnti moderne verso il „sovrannaturale“, Torino: Bocca Editori, 1932. über die esoterischen Strömungen seiner Zeit nicht ansprach, scheint mir Beweis genug dafür, daß sie sich persönlich nicht gekannt haben. Nicht einmal in der zweiten überarbeiteten Auflage desselben Werkes aus dem Jahr 1949 spricht Evola über ihn. Aufnahme findet Crowley erst in der dritten wiederum überarbeiteten Auflage von 1971. Crowley erwähnt Evola in seinen Schriften bekanntlich überhaupt nie und keiner der Biographen Crowleys schreibt auch nur eine Zeile über den italienischen Autor. Ebensowenig ist in der weltgrößten Crowley-Sammlung im Warburg Institute in London etwas zum Thema zu finden. Auch wenn ich persönlich eher annehme, daß Evola mit dem Namen Crowleys schon in den späten 1920er Jahren in Berührung kam (auf diesen Punkt gehe ich noch genauer ein), bleibt bis jetzt die erste dokumentarische, wenn auch indirekte Bestätigung, daß Evola den Namen Crowleys kannte, der von Pasi erwähnte Brief René Guénons an Evola vom 29.10.1949, als Crowley also bereits zwei Jahre tot war. Der Grund für dieses eigentlich überraschende Nicht-Wissen oder vielleicht nur Nicht-Interesse könnte, wenn nicht andere noch zu besprechende Gründe vorliegen, auch bei Evolas eher mangelhaften Kenntnissen der englischen Sprache liegen. Der „Vater der italienischen Psychoanalyse“ Emilio Servadio erwähnt hierzu in einem Interview über seine Mitarbeit bei der magisch-initiatischen Gruppe von UR folgendes: „Ich unterstützte Evola ein wenig, weil ich Englisch besser beherrschte als er, und so war es mir auch möglich, ihm bei der Übersetzung einiger Artikel zu helfen.“ In Giovanni Errera, Emilio Servadio. Dall’ipnosi alla psicoanalisi, Firenze: Nardini Editore, 1990, S. 47 f. Pasi wirft in diesem Zusammenhang eine sehr interessante Frage auf, die auch schon anderen Forschern Rätsel aufgegeben hat. Wie war es möglich, daß Evola im erweiterten dritten Band von UR aus dem Jahre 1955 Er muß das Manuskript aber schon 1953 erhalten haben, denn in seiner Einleitung zu den Textauszügen des Liber Aleph „Prospettive magiche (secondo Aleister Crowley)“ in „Gruppo di UR“ (a cura di), Introduzione alla Magia, Vol. III, Roma: Fratelli Bocca 1955, S. 438, schreibt Evola, daß das Buch „bis anhin (1953) nur als Manuskript existiert“. bereits Auszüge aus Crowleys Liber Aleph bringen konnte, das offiziell erst 1961 erschien? Master Therion (Aleister Crowley), Liber Aleph vel CXI. The Book of Wisdom or Folly in the Form of an Epistle of 666 The Great Wild Beast to his Son 777 being the Equinox Volume III No. vi., West Point, California: Thelema Publishing Company, 1961, Copyright 1962 by Karl Germer. Das Buch wurde von Marcelo Ramos Motta und Karl Germer herausgegeben. Diese Frage ist bis jetzt ungeklärt und selbst ausgewiesene Evola-Experten haben keine Erklärung dafür. Aber wer schon kann Evola Kopien des Crowleyschen Manuskripts, das bereits im März 1918 vollendet war, übergeben haben, wenn nicht jemand aus dem engeren oder weiteren Umkreis des verstorbenen englischen Magiers? Leider hat nun Evola die Briefe, die er von seinen zahlreichen Korrespondenten erhielt, fast nie aufbewahrt. In den wenigen erhaltenen Briefen findet sich jedenfalls kein Hinweis. Eine Person, mit der Evola nachweislich in Verbindung stand und die auch Crowley persönlich kannte, war Gerald Gardner, der Begründer des modernen Hexenwesens (Wicca). Zum ersten Mal äußerte sich Evola zu Gardner, der ihn „vor etlichen Jahren“ in Rom besucht hatte, in einem Artikel vom 21. 11. 1971 in der neapolitanischen Zeitung Roma, der den Titel La congrega delle streghe trug. Nachdruck in Julius Evola, Ultimi scritti, Napoli: controcorrente 1977, S. 46–55 und in I testi del Roma (a cura di Vincenzo Campagna) Padova, Edizioni di Ar 2008, S. 487-489. In diesem Band sind sämtliche von Evola geschriebenen Aufsätze in Roma zusammengefasst. In einem Interview, das er im Dezember 1973 Gianfranco de Turris und Sebastiano Fusco gewährt hat, Wiedergabe in Gianfranco de Turris (Hrsg.), Testimonianze su Evola (seconda edizione riveduta e ampliata), Roma: Edizioni Mediterranee, 1985, S. 332–354 (hier S. 347). spricht er gleichfalls über Gardner, wenn auch nicht gerade in überschwenglichen Worten. Aber der Kontakt scheint ein einmaliger geblieben zu sein. Gardner wollte sich erkundigen, ob es in Italien noch Reste einer antiken Hexentradition gäbe, was Evola als absurd abtat. Es scheint also wenig wahrscheinlich, daß gerade Gardner eine Abschrift des Manuskripts von Crowley mitgebracht oder nachträglich gesandt hätte. Das würde auch voraussetzen, daß Gardner Evola bereits vor 1953 besucht haben müßte, was aber nicht anzunehmen ist. Warum hätte Evola mit seinem Artikel über Gardner und das Hexenwesen bis 1971 warten sollen? In den bisher erschienenen Biographien über Gerald Gardner wird Evola übrigens nirgends erwähnt. Grundsätzlich sind bei meinen Recherchen bis jetzt zwei Personen aufgetaucht, die Evola das Manuskript Crowley’s in Kopie übergeben haben könnten. Die erste, ein Dr. Heinrich Wendt, der in Heidelberg als Richter tätig war, ist als äußerst kenntnisreicher Fachmann für die „Geschichte des Einweihungswesens der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit“ bezeichnet worden. Dr. Herbert Fritsche in Merlin – Archiv für forschenden und praktischen Okkultismus, Grenzwissenschaften, Schicksalskunde und esoterische Tradition, Folge 3 (1950), S. 64. Er hatte 1949 Crowleys Book of the Law an Evola gesandt und ihn um seine Meinung dazu gebeten. In einem Brief vom 18.12.1949 an Dr. Herbert Fritsche, der nach dem Tode von Arnoldo Krumm-Heller im Jahr 1949 das Patriarchat der crowleyanischen Gnostisch-katholischen Kirche übernommen hatte, berichtete Wendt von Evolas Antwort wie folgt Gnostika Nr. 37 (11. Jgg., Dez. 2007), p. 57f. : „Über das ‚Book of the Law’ fällt der ‚Befund’ nicht so günstig aus. Ist seine Entstehungsgeschichte echt, dann handelt es sich sicher dabei nicht um eine bewusstes Eingreifen von ‚oben’ her; vielmehr um Einflüsse (wandernde und sogar ‚synkretistische’ Einflüsse) aus der Zwischenwelt. Der Text besteht zu 50% nicht aus ‚Mysterien’, sondern aus Schlacken, im Reste ist verschiedenes verwoben, und persönliche ‚Komplexe’ Crowleys dürften selbst teilgehabt haben.“ Dr. Heinrich Wendt könnte also theoretisch auch die Manuskripte des Liber Aleph gehabt haben und diese gleichfalls an Evola gesandt haben. Ebenso aber – und vielleicht sogar wahrscheinlicher - kommt eine andere Person dafür in Frage, nämlich Dr. Henri Clemens Birven. Ein kurzer Abriß zu Birvens Leben und seine zwiespältige Haltung zu Crowley findet sich in Peter R. König, Der O. T. O.-Phänomen-Remix, München: ARW 2001, S. 101–104. Siehe auch das „Nachwort“ in Oriflamme Sonderheft von Dr. Clemens Henri Birven, Aus dem Leben Aleister Crowley’s, Die Werke Aleister Crowley’s, Psychosophische Gesellschaft, Stein 2002, S. 156, 157. Dieses Sonderheft ist ein vergrößerter Nachdruck der gleichnamigen Artikelserie aus der Zeitschrift Oriflamme der Jahre 1971–1972. Er kannte Crowley sogar persönlich und hatte schon im Jahre 1930 einen Teil seines Werkes in deutscher Übersetzung veröffentlicht Auszüge aus Magie in Theorie und Praxis, Die Psychologie des Haschisch und aus Crowleys Bekenntnissen in Birvens eigener Zeitschrift Hain der Isis. Auch mit Evola stand er in Verbindung. Birven war anfänglich von Crowley sehr angetan gewesen und hatte ihn im Juli 1929 für drei Tage in London besucht. Crowley stattete ihm dann im April 1930 in Berlin einen Gegenbesuch ab. Birven wurde aber immer skeptischer – aus eigener „leidvoller“ Erfahrung mit Crowley und weil er aus Frankreich negative Berichte, so zum Beispiel von Joanny Bricaud, bekam. Und so brach er mit Crowley, wie auch Marco Pasi schreibt, Ende April, Anfang Mai 1930. Er schätzte jedoch weiterhin dessen Schriften oder wenigstens Teile davon. Siehe dazu die mit Brief vom 29.9.1963 an die Psychosophische Gesellschaft, Zürich, gesandte Ergänzung und Richtigstellung zum Nachruf auf Karl Germer sowie die „Vorbemerkung der Schriftleitung“ zu Birvens Artikelserie „Meine Begegnung mit dem ‚Meister Therion‘“ in Hain der Isis, August/September 1930, S. 258. Daß Birven den Liber Aleph kannte, darüber besteht kein Zweifel, da er in einer Aufsatzreihe in der Zeitschrift Oriflamme über Die Werke Aleister Crowley’s Auszüge aus dem Liber Aleph brachte. Oriflamme Sonderheft, a. a. O., S. 139–141. Ob er dieses Buch allerdings schon vor 1955 kannte, ist nicht nachzuweisen, obwohl es anzunehmen ist. Schließlich war er mindestens seit 1932, als sie ihn gemeinsam mit Gerald Yorke in Berlin besuchte, mit der begeisterten Crowley-Anhängerin und -Übersetzerin Martha Küntzel persönlich bekannt, die neben anderen Werken Crowleys auch den Liber Aleph ins Deutsche übertragen hatte. Er dürfte sie aber sogar schon 1928 gekannt haben, wie aus seinem Brief an Crowley vom 15.4.1928 Verkleinertes Faksimile in Peter R. König (Hrsg.), Noch mehr Materialien zum O. T. O., München: ARW, 2000, S. 178. hervorgeht, wo er dem englischen Magus vorschlägt, Frau Küntzel bei ihren Übersetzungen zu unterstützen. Wann und ob Henri Birven Julius Evola persönlich getroffen hat oder wann zumindest sie miteinander zu korrespondieren begannen, ist nicht bekannt. Auf jeden Fall bestand ein Kontakt Birvens zu Evola im Jahre 1960. Denn in seinem damals erschienenen Buch Pforte der Unsterblichkeit schreibt Birven: Henri Birven, Pforte der Unsterblichkeit. Yoga als Weg der geistigen Erneuerung, Gelnhausen: H. Schwab, 1960, S. 17. „Da aber inzwischen der italienische Schriftsteller Julius Evola im dritten Bande seiner ‚Introduzione alla Magia quale Scienza dell’Io“, Roma 1955 […] in einer umfassenden Abhandlung [zu C. G. Jung. Anm. HTH] […] das Notwendige gesagt hat, so beschränken wir uns im Folgenden auf eine wesentliche Wiedergabe der Ausführungen Evolas, dem wir eine Übersetzung seiner Abhandlung versprochen haben.“ Kursiv von mir. Dieser Kontakt dürfte aber höchstwahrscheinlich schon im Jahre 1953 bestanden haben. Denn in seinem Buch Lebenskunst in Yoga und Magie Zürich: Origo Verlag, 1953, S. 76. schreibt Birven folgendes: „In J. Evola besitzt Italien auf dem Gebiet der ‚Magie als metaphysische Haltung‘ einen Forscher und Schriftsteller von Rang. Er vertritt gleich uns den ‚Magischen Idealismus‘. In den Jahren 1927 bis 29 gab er drei Bände einer Zeitschrift Ur (später Krur) heraus, die eine ‚Einführung in die Magie als Wissenschaft des Ich‘ sind und deren Essays zu dem Wertvollsten gehören, was auf diesem Gebiet geleistet worden ist. Ein Neudruck dieser Jahrgänge ist in Vorbereitung.“ Kursiv von mir. Wer nun, wenn nicht Evola selbst, kann Birven bereits 1953 (oder früher) darüber informiert haben, daß ein Neudruck der UR-Hefte geplant war, der 1955 dann tatsächlich Wirklichkeit wurde? Und da Birven gerne mit seinem Wissen über Crowley prahlte, ist ein Gespräch oder wenigstens ein Briefverkehr über Crowley ohne weiteres denkbar. Dabei könnte nun auch der Liber Aleph angesprochen worden sein. Wir erinnern uns: Auch Evola spricht in seinem Vorwort zur Übersetzung des Crowley-Textes vom Jahr 1953. Sicherlich sind das alles nur Indizien und kein Beweis, aber es scheint zumindest nicht unplausibel, daß Evola seine Kopien des Crowley-Manuskripts von Birven erhalten hat. Gelöst ist damit die Frage allerdings noch nicht. Denn leider erwähnt Evola den Namen Birven überhaupt nur ein einziges Mal, und zwar in einem privaten Brief vom 3.8.1970, in dem er mitteilt, daß er von Dr. Birven schon seit einigen Jahren keine Nachricht mehr erhalten hätte. Er wußte auch Bescheid über die wertvolle Bibliothek Birvens. Brief an Hans Thomas Hakl. Der Brief ist nachgedruckt in Julius Evola, Lettere 1955–1974. L’Epistolario Evoliano raccolto, catalogato e annotato da Renato del Ponte, Finale Emilia (MO): La Terra degli Avi, 1996, S. 158. Birven hingegen erwähnt in seinen Büchern Evola sehr häufig – immer in überaus positiver Weise –, und er zitiert sogar längere Passagen aus mehreren seiner (oft auch bereits älteren) Werke. Z. B. in Henri Birven, Pforte der Unsterblichkeit, Gelnhausen-Gettenbach: Heinrich Schwab Verlag, 1960, auf S. 17, 28, 80, 97 und 113. Das könnte eventuell sogar auf eine länger zurückgehende Bekanntschaft schließen lassen, denn eine ganze Reihe von Werken Evolas aus den 1920er und 1930er Jahren waren in den 1950er Jahren nur noch sehr schwer auffindbar. Andererseits aber kannte Henri Birven als großer Bibliophiler sicherlich genug Wege und Mittel, und Evola könnte ihm bei der Suche behilflich gewesen sein. Ich glaube aber nicht, Birven erwähnt Evola erst in Schriften nach dem Zweiten Weltkrieg. daß ihre Bekanntschaft bereits auf die 1920er oder 1930er Jahre zurückgeht, obwohl Birven damals bereits René Guénons Zeitschrift Le Voile d’Isis las In einem Brief an Crowley vom 21.10.1929 erwähnt er nämlich diese Zeitschrift. und vielleicht sogar zu Guénonschen Kreisen Zugang gefunden hatte. Birven liebte nämlich Frankreich und beherrschte die französische Sprache sehr gut. Eine Vermittlung zu Evola über solche Kreise wäre also theoretisch durchaus denkbar. Etwas möchte ich noch hinzufügen, was zwar nicht bedeutend ist, aber bis heute nicht aufgefallen zu sein scheint: Die italienische Übersetzung in UR III entspricht nicht genau dem englischen Text des Liber Aleph, wie er 1961 bei der Thelema Publishing Company in West Point, Kalifornien, erschienen ist. Erstens ist die Reihenfolge der Texte – auch wenn es sich bei UR nur um Auszüge aus dem Buch handelt – eine völlig andere und zweitens unterscheiden sich die lateinischen Überschriften zu den einzelnen Abschnitten mehr oder weniger von der genannten Buchausgabe. So heißt es etwa im englischen Text „De arte mentis colendi“ (von der Pflege der Denkfähigkeit), im Italienischen jedoch „De arte mentis colligendae“ (vom Erwerb der Denkfähigkeit). Bei der „Ultima thesis de amore“ wiederum fehlt im Italienischen der letzte Satz und der dritte, vierte und fünfte Absatz vom italienischen „De motu vitae“ läuft im Englischen unter der Überschrift „De morbis sanguinis“. Entweder handelt es sich also um zwei leicht unterschiedliche Fassungen des Crowley-Textes, oder Evola hat diese Änderungen selbst vorgenommen. Aber warum sollte er das getan haben? In der erst 2003 veröffentlichten Buchausgabe der bereits erwähnten deutschen Übersetzung des Liber Aleph von Martha Küntzel München: Ansata, 2003. entsprechen sowohl Reihenfolge und Inhalt als auch die Überschriften der Kapitel jedoch sehr wohl dem Text der amerikanischen Ausgabe von 1961, was die Frage der Textvariante Evolas abermals aufwirft. Im Archiv des österreichischen Zweiges der Pansophischen Gesellschaft (Heinrich Tränker) gibt es übrigens eine Schreibmaschinenabschrift der Küntzelschen Übersetzung, die textlich zwar genau der Druckausgabe von 2003 entspricht, aber bei der Reihenfolge der Abschnitte ebenfalls leicht variiert. Vielleicht gibt Hymenaeus Beta, Frater Superior des O. T. O., Agape Großloge New York City, die Antwort in seinem „Prolegomenon zur zweiten Auflage“, die er dieser Ausgabe voranstellt. Aleister Crowley, Liber Aleph, München 2003, S. 46. Er teilt dort mit, Crowley habe beim Liber Aleph „im Laufe der Jahre bedeutende Änderungen vorgenommen“. Evolas Manuskript könnte damit also auch eine frühere Version des Textes sein, was zwar das Rätsel der Herkunft nicht leichter macht, aber der These, daß Birven der Überbringer der Manuskripte war, eher entgegenkommt. Birven hatte ja die Beziehung zu Crowley bereits 1930 abgebrochen. Interessant in diesem Zusammenhang ist, daß die bereits erwähnten Auszüge von Henri Birven aus dem Liber Aleph nicht die Küntzel-Übersetzung wiedergeben, sondern sprachlich viel schlechter ausgefallen sind. Auch die Reihenfolge seiner vier Auszüge stimmt nicht mit der amerikanischen (und somit auch der deutschen) Ausgabe überein. Wann und von wem nun wiederum diese Auszüge übersetzt worden sind, bleibt unklar, ja vielleicht war es gar Birven selbst – trotz seiner mangelhaften Englischkenntnisse. In seinem Brief vom 28.9.1963 an die Psychosophische Gesellschaft in Zürich schreibt er, daß er „mehrere Einzelessays über Schriften Crowley’s druckreif zur Hand“ habe und auch eine „erschöpfende Abhandlung“ über ihn verfaßt hätte. Veröffentlicht wurden diese Übersetzungen jedenfalls erst nach dem Tode des deutschen Esoterikers. Da die Auszüge Evolas in UR III und diejenigen Birvens in der Oriflamme leider unterschiedliche Kapitel betreffen, lassen sich auch keine Rückschlüsse ziehen, ob Evola dasselbe Manuskript verwendete wie Birven. Damit muß die Beantwortung der Herkunftsfrage weiterhin offen bleiben. Nur der Vollständigkeit halber möchte ich noch auf zwei Artikel Evolas über Crowley hinweisen, die Marco Pasi nicht nennt und die in den zahlreichen Sammlungen von Zeitschriftenaufsätzen Evolas bis jetzt auch noch nicht veröffentlicht worden sind: „L’uomo più perverso del mondo – Credevo di conoscere ogni malvagità disse un giudice al satanico Crowley“ in der neapolitanischen Zeitung Roma vom 17. April 1954 Wie mir Marco Pasi mitteilt, war das nicht der erste Pressebericht über Crowley in Italien. Im Warburg Institute wird ein Aufsatz über ihn aufbewahrt, der 1952 in der rechtsgerichteten Zeitschrift Il Borghese veröffentlicht worden ist. Evola könnte ihn gekannt haben, hat er doch wenig später, nämlich am 1.3.1953, dort selbst seinen ersten Artikel veröffentlicht. und „Parliamo di Crowley: La ‚Grande Bestia 666‘ – Maghi e streghe sono in mezzo a noi“ ebenfalls in Roma vom 14. Mai 1959. Im zweiten Artikel erwähnt Evola die Biographie von J. F. C. Fuller und die beiden ersten Crowley-Bücher von John Symonds, Vielleicht war es auch John Symonds, der Evola das Manuskript des Liber Aleph schickte. Schließlich ist 1972 Symonds’ Buch The Great Beast in der italienischen Übersetzung mit einer Vorrede Evolas erschienen. Selbst wenn er Symonds erst 1959 zum ersten Mal in einem Zeitungsartikel erwähnt, könnte er ihn doch schon vorher gekannt haben. Sehr wahrscheinlich ist dies allerdings nicht, da Symonds mit Manuskripten ganz und gar nicht freigebig war. die wahrscheinlich auch den Hintergrund für Evolas ziemlich umfangreichen Artikel bilden. * * * Wenn nun schon eine unmittelbare Bekanntschaft zwischen Evola und Crowley ausgeschlossen zu sein scheint, so gibt es doch einen Bericht von der politischen Abteilung der italienischen Polizei vom 7. April 1930, der wenigstens eine indirekte Beziehung behauptet. Darin heißt es Siehe das Faksimile des Berichtes in Politica Romana 4/1997, S. 296. : „Jules Evola ist in den okkultistischen Zentren von Paris als Mitglied des Ordens ‚Ordo Templi Orientis‘ bekannt, einer satanistischen Sekte, deren Großmeister Sir Aleister Crowley aus Italien, Amerika […] ausgewiesen wurde.“ Des Weiteren wird Evola vorgeworfen, sich als großer Faschist – ohne einer zu sein - zu gebärden, um unter den Faschisten leichter Mitglieder für seinen Geheimorden anwerben zu können. Aleister Crowley hatte tatsächlich 1923 nach dem Tode von Theodor Reuß, dem eigentlichen Begründer des O. T. O., dessen Orden de facto übernommen, auch wenn er kein Ernennungsdekret vorweisen konnte. Kennengelernt hatte er Reuß bereits zwischen 1910 und 1912. Im Jahre 1912 hatte er von Reuß dann die Leitung der britischen Sektion des Ordens übertragen bekommen. Ist nun diese von einem anonymen Informanten kommende Nachricht über die Mitgliedschaft Evolas im O. T. O. glaubhaft? Wenn ja, dann wäre es auch wiederum möglich, daß Evola Crowley sogar persönlich kennengelernt hätte, denn von 1926 bis 1929 hielt sich Crowley hauptsächlich in Paris auf. Nur gibt es keinerlei Beweis dafür, daß auch Evola zu jener Zeit in Paris war. Da Evola biographische Einzelheiten über sich selbst nur selten mitteilte, weil er sie gegenüber seinem geistigen Werk als unwichtig einstufte, sind wir auf Berichte von Zeitgenossen angewiesen, die an dieser Stelle aber fehlen. Erst seit 1930, als Evola von der politischen Polizei in Italien überwacht wurde, wissen wir über seine Reisen besser Bescheid. Piero Fenili, der vielleicht kenntnisreichste Kritiker Evolas, hält nun eine solche Mitgliedschaft Evolas im O. T. O. für ohne weiteres möglich. Das läßt sich zumindest aus seinem Artikel „Fu Evola affiliato all’ordine magico di Aleister Crowley?“ in Politica Romana 4/1997, S. 294–295, schließen. Ich persönlich würde das jedoch ausschließen. Als erstes ist da ein ganz gewichtiges Faktum zu nennen. Wie mir der sicherlich beste Kenner aller Umtriebe des O. T. O., Peter Robert König, dankenswerterweise mitteilte, ist in den ihm bekannten Mitgliederverzeichnissen des O. T. O. der Name Evolas nicht enthalten und in den Korrespondentenlisten nach Crowleys Tod ist sein Name ebenfalls nicht vorhanden, was insgesamt eine Verbindung Evolas zum O. T. O. mit größter Wahrscheinlichkeit ausschließt. Es fehlen zwar die Mitgliederlisten des O. T. O. unter Theodor Reuß, aber da dieser bereits 1923 verstarb und Evola in diesen Jahren noch hauptsächlich mit seinen künstlerischen und philosophischen Aktivitäten beschäftigt war, erscheint mir eine so frühe O. T. O.-Mitgliedschaft, noch dazu ohne jede spätere Erwähnung, kaum glaubhaft zu sein. Evola war auch gar nicht der Typus Mensch, sich Orden anzuschließen, die er nicht selbst leitete, Das schlagendste Beispiel dafür ist seine Nichtmitgliedschaft in einer der magischen Gruppierungen des von ihm hoch geschätzten Giuliano Kremmerz (Ciro Formisano). und er hätte höchstwahrscheinlich etwas über Crowley oder den O. T. O. geschrieben, wenn ihm entsprechende Informationen zur Verfügung gestanden wären. Das tat er aber erst 1954, wie wir bereits wissen. Will man nicht behaupten, daß Evola seine Unwissenheit über Crowley im UR-Heft vom Juni 1928 nur vorgetäuscht hat, bleibt bis zum Zeitpunkt des Polizeiberichts vom April 1930 auch nur wenig Zeit für eine Mitgliedschaft im O. T. O. Damit scheint auch diese „Beziehung“ zwischen Evola und Crowley historisch nicht nachweisbar zu sein. Ungeklärt bleibt jedoch noch, woher dieses Gerücht der Mitgliedschaft kam. Möglich oder vielleicht sogar wahrscheinlich ist, daß der Informant Hinweise aus Paris, und zwar aus dem Kreis um Mgr. Jouin und seiner Revue Internationale des Sociétés Secrètes (RISS) bekommen hat oder vielleicht auch nur Leser der Revue war. Diese Zeitschrift war auf Verschwörungstheorien spezialisiert, in denen Juden, Freimaurer und Illuminaten als „Anhänger Satans“ sozusagen die „Fäden der Weltgeschichte“ in der Hand halten. Zwar wird in keinem Heft direkt von einer Mitgliedschaft Evolas im O. T. O. gesprochen, aber in zwei Artikeln ist Evola die Hauptperson und wird – ebenso wie Crowley und ebenso wie in dem Polizeibericht – ausdrücklich als „Satanist“ bezeichnet. A. Tarannes „Un Sataniste italien“ in RISS XVII (4, 1928), S. 124–129, sowie A. Tarannes, „Le ‚Fasciste‘ Evola et la mission transcendante de l’Église“ in RISS XVIII (2, 1929), S. 43–68. Und in einem dritten Aufsatz, nämlich „L’O. T. O. – Expulsion de Sir Aleister Crowley“, der vom selben Autor A. Tarannes stammt, der die erwähnten zwei Artikel über Evola verfaßt hat, wird er sogar in einem Atemzug mit Crowley genannt, wobei es nach dem Vorwurf des Satanismus gegenüber dem englischen Magier A. Tarannes, „Expulsion de Sir Aleister Crowley“ in RISS XVIII (5, 1929), S. 133–137. Als nächster Artikel folgt in dieser Nummer der Zeitschrift übrigens eine französische Übersetzung des Manifests des O. T. O. heißt: „[…] denn, wie man im Falle Evola gesehen hat, geht das Regime Mussolinis mit einem gewissen Satanismus streng um […].“ Hinzu kommt, daß in diesem Aufsatz – verdächtig ähnlich wie im Polizeibericht – auf die zahlreichen Ausweisungen Crowleys hingewiesen wird. Auch noch ein zweites Mal wird Evola in diesem Artikel mit Crowley gemeinsam genannt. Dabei werden angebliche tantrische Einweihungsriten „des Satanisten Evola“ mit grausigen „schwarzen Messen“ in Zusammenhang gebracht, die Crowley abgehalten haben soll. Sollte nun tatsächlich die RISS die Hauptquelle des Polizeiberichtes sein, dann verliert dieser sicherlich noch mehr an Glaubwürdigkeit. Eine Frage muß sich hier jedoch ganz entschieden stellen: Ist es vorstellbar, daß Evola nichts, rein gar nichts von diesen negativen Berichten über ihn in der RISS gehört hat? Wenn aber doch, dann muß er auch den Namen Crowleys bereits um 1928/29 gekannt haben. Warum erwähnt er ihn also nicht? Ging es dabei nur, was ja sehr verständlich wäre, um seinen Ruf, den er keineswegs mit demjenigen Crowleys in Verbindung bringen wollte? Er hatte zu jener Zeit ja schon genügend Schwierigkeiten, wie wir noch sehen werden. Oder hatte er andere Beweggründe? Wollte er, wie manche sagen werden, gar etwas verbergen? Eine Antwort auf diese Fragen ist leider nicht möglich. Daß er allerdings von den Berichten in der RISS gehört hat, ist allein schon deswegen anzunehmen, weil er spätestens seit 1927 mit René Guénon persönlich in Beziehung stand. Renato del Ponte „Introduzione“ in René Guénon, Lettere a Julius Evola (1930–1950), a cura di Renato del Ponte, Borzano R.E.: SeaR Edizioni, 1996, S. 14. Und Guénon verfolgte diese Zeitschrift sehr genau und griff sie in seinen eigenen Aufsätzen auch immer wieder an. Sollte er oder jemand aus seinem Umkreis Evola gar nichts darüber mitgeteilt haben? Abgesehen davon sprach Evola ja selbst Französisch. Solange nicht neue Dokumente auftauchen, wird eine Antwort auf alle diese Unklarheiten ausbleiben müssen. Daraus allerdings ein Argument zu schmieden, daß Evola und Crowley doch in Verbindung miteinander gestanden hätten, schießt jedoch meiner Meinung nach weit über das Ziel hinaus und ist auch durch nichts belegbar. Es gibt aber noch einen Bericht der politischen Abteilung der italienischen Polizei, der als eine – allerdings noch weiter entfernte -– indirekte Beziehung Evolas zu Crowley gedeutet werden könnte. Dieser, datiert auf den 3. März 1930, spricht von Kontakten, die Evola zu den deutschen „llluminaten“ gehabt haben soll. Und hier kommt zumindest theoretisch wiederum Theodor Reuß mit seinen engen Beziehungen zu Crowley ins Spiel. In Deutschland gab es nämlich unter der Bezeichnung „Weltbund der Illuminaten“ eine Gruppierung, deren Anfänge zwar unklar sind, die aber von Theodor Reuß um 1895 begründet worden sein könnte. Dazu Peter R. König, Der O. T. O.-Phänomen-Remix, a. a. O., S. 208 f. Mit dem historischen Illuminatenorden unter Adam Weishaupt, der 1793 mit dem Tode von Johann Joachim Bode endgültig aufgehört hatte zu bestehen, stand dieser „Weltbund“ allerdings höchstens in einem ideellen, jedoch keinesfalls historischen Zusammenhang. Der bekannte deutsche Spiritist und esoterische Schriftsteller Leopold Engel soll sich dann 1896 diesem Weltbund angeschlossen und bald eine führende Stellung eingenommen haben. Reuß und Engel zerstritten sich jedoch sehr schnell, fanden zwar etwas später wieder zusammen, um seit 1902 endgültig getrennte Wege zu gehen. Seit diesem Zeitpunkt scheint sich Reuß nicht mehr um den Weltbund gekümmert zu haben. 1903 erließ Engel eine neue Satzung für einen Illuminatenorden in Dresden. 1924 mußte dieser Orden aus Mangel an Mitgliedern allerdings wieder geschlossen werden. 1926 findet sich jedoch eine neue Eintragung beim Amtsgericht Berlin-Tempelhof, die wiederum auf „Weltbund der Illuminaten“ lautet. 1931 stirbt Engel, und 1933 wird der Orden aufgelöst. Hinweise darauf, daß Evola zu Leopold Engel oder dessen Illuminatenorden Kontakt gehabt hätte, sind bis jetzt allerdings nicht gefunden worden. Aber auch Crowley war anscheinend nie in diesen Illuminatenorden eingeweiht worden, denn seine Beziehung zu Reuß wurde ja erst frühestens um 1910 geknüpft, als sich Reuß nicht mehr um diese Gruppierung kümmerte, die damals unter der alleinigen Führung von Leopold Engel stand. Und unabhängige Kontakte Crowleys zu Engels Illuminatenorden sind ebensowenig nachweisbar. Trotzdem bezeichnete sich Crowley seit 1918 als „Custos of the Illuminati“, was aber einen eher dekorativen und nicht auf reguläre Sukzession beruhenden Charakter gehabt haben dürfte. Was genau besagt nun der erwähnte (zweite) Polizeibericht, der sich ebenfalls bloß auf eine „vertrauliche Quelle“ beruft? Dieser Text ist entnommen dem dokumentarischen Anhang zu Dana Lloyd Thomas, „Il filogermanesimo di Julius Evola: le reazioni dello stato“ in Politica Romana 4/1997, S. 276. „Zu beachten ist die Haltung der vom Okkultisten und Philosophen Baron Julius Evola (Ex-Redakteur des Mondo und noch immer mit besten Beziehungen zu zahlreichen Antifaschisten) geleiteten Zeitschrift ‚La Torre‘. Evola hat nämlich begonnen, mit seinen Zeitschriften, zuerst ‚Krur‘ und jetzt ‚La Torre‘, eine Art Propaganda für den deutschen Imperialismus zu machen. Das hat mit einer Reise Evolas nach Österreich und Deutschland begonnen, die er im Geheimen getätigt zu haben behauptet In einem anderen Polizeibericht vom 11. Juli 1931, also 16 Monate später, heißt es dagegen: [Bei Evola] „handelt es sich um eine wenig ehrenhafte Person und einen Kokainsüchtigen, der bei anderen Gelegenheiten erklärte, ohne Paß Reisen ins Ausland unternommen zu haben, um sich mit politischen Persönlichkeiten zu treffen, und der auch andere ähnliche unwahre Prahlereien von sich gab.“ (Ministero dell’Interno, Direzione Generale Pubblica Sicurezza, Divisione Affari Generali e Riservati, Busta 33 (Evola): 1930–1943). … und während der er Gelegenheit gehabt hätte, viele Personen aus der politisch religiösen Sekte der ‚Illuminaten‘ zu treffen, einer imperialistischen Sekte, in deren Siebener-Rat der Kromprinz (sic!) und Frau Krupp sitzen sollen. Diese Sekte, die politische und intellektuelle Beziehungen zur schweizerischen Sekte der Steinerianer .... unterhält, bemühte sich, in Italien einen Generalagenten … zu Gunsten des deutschen Imperialismus zu finden, den zu verteidigen die ‚Illuminaten‘ in Deutschland den ,Stahlhelm‘ gegründet hätten. Evola sei über die Steinerianer mit dem ‚Stahlhelm‘ in Kontakt getreten und vielleicht zur gleichen Zeit mit dem Siebener-Rat und dem Rat der ‚Illuminaten‘...“. Des weiteren wird Evola als spionage- und propagandatreibender Agent der Illuminaten und Steinerianer in Italien bezeichnet. Was ist nun von diesem Dokument zu halten? Grundsätzlich muß festgestellt werden, daß sich Evola in jener Zeit politisch und persönlich in Bedrängnis befand. Wegen seiner Kritik an Mussolinis „Populismus“ in der Zeitschrift La Torre hatten sich fanatische und gewaltbereite Anhänger des Duce gegen ihn verschworen, so daß er sich eine Zeitlang nur mit einer kleinen Schutztruppe (ebenfalls aus Faschisten bestehend, die aber mit Evolas Kritik übereinstimmten) außer Haus wagte. La Torre wurde dann auch folgerichtig von Mussolini nach dem zehnten Heft verboten. Persönliche Feinde, die bereit waren, gegen Evola auszusagen, gab es also sicherlich in genügender Anzahl. Er selbst schreibt in seiner (leider die äußerlichen Ereignisse meist unerwähnt lassenden) intellektuellen Autobiographie Il cammino del cinabro von zusätzlichen „ganz gemeinen Verleumdungen, […] Streitigkeiten und persönlichen Aggressionen“ in jener Zeit. Julius Evola, Il cammino del cinabro, 2a edizione, Roma: Vanni Scheiwiller, 1972, S. 100 f. Als erstes muß in diesem Polizeibericht wohl die angebliche geheime Reise Evolas nach Deutschland untersucht werden. Legt man Evolas genannte Autobiographie zugrunde, fand nämlich seine erste Reise in den Norden erst im Jahre 1934 statt. Auch darf nicht vergessen werden, daß bereits im Jänner 1921 in der Berliner Galerie „Der Sturm“ eine Ausstellung von ungefähr sechzig Bildern Evolas stattfand. Ob er damals auch persönlich in Berlin anwesend war, konnte ich nicht herausfinden. Zwei seiner Hauptziele waren damals Berlin, wo er im Herrenklub und an der Lessing-Hochschule sprach, sowie Bremen, wohin er auf Einladung von Ludwig Roselius, dem Kaffeeindustriellen und „Erfinder“ des Kaffee Hag, zum Zweiten Nordischen Thing reiste. Ebd., S. 137. Dazu gibt es eine allerdings nicht wirklich befriedigende Bestätigung in einem anderen Dokument – ebenfalls von einer Polizeidienststelle – vom 4. Juni 1934, wo es heißt, Evola sei bis dahin noch nicht in Deutschland gewesen. Obwohl er zuerst voll Enthusiasmus abgereist sei, habe er nun völlig von den geistigen Positionen der Nationalsozialisten enttäuscht zurückkehren müssen. Diese würden sich nämlich nur an den tagtäglichen politischen Notwendigkeiten orientieren. Spirituelle Gesichtspunkte würden überhaupt nicht zählen. Die Abschrift ist ebenfalls im Anhang zu Dana Lloyd Thomas’ bereits erwähntem Aufsatz in Politica Romana 4/1997, S. 278, zu finden. Nicht befriedigend als Bestätigung ist dieser Bericht deshalb, weil er augenscheinlich auf Angaben von Evola selbst beruht, der ja kaum Interesse gehabt haben kann, seine „Geheimreise“ – falls er sie tatsächlich unternommen haben sollte – offiziell einzugestehen. 1934 kann aber trotzdem keinesfalls der Zeitpunkt seiner ersten Deutschlandreise gewesen sein, denn bereits am 8. Januar 1933 erschien im Corriere Padano Julius Evola, „Deutsche Treue“, Il Corriere Padano XI, 19.1.1933; jetzt in Julius Evola, I testi del Corriere Padano, Padova: Edizioni di Ar, 2002, S. 53–55. ein Interview Evolas mit Dr. Friedrich Everling, das nach den Angaben im Artikel selbst in einem „ultramodernen Café am Kurfürstendamm“ in Berlin stattfand und auch mit der Ortsbezeichnung Berlin überschrieben ist. Friedrich Everling war, was hier wichtig ist, Reichstagsabgeordneter der Gruppierung um Dr. Alfred Hugenberg, die wiederum mit dem „Stahlhelm“ eng verbunden war. Everlings Aussagen fanden übrigens die volle Zustimmung des italienischen Interviewers. Evola muß also in seiner Autobiographie die Reise des Jahres 1933 vergessen haben, denn 1934 war er mit Sicherheit nochmals in Deutschland, hat er doch nachweislich am Zweiten Nordischen Thing teilgenommen, das in eben jenem Jahr stattfand. Dieser Irrtum hat aber sicherlich nichts mit der kolportierten „geheimen“ Reise zu tun, die ja schon vor dem Datum des Polizeiberichtes, also vor Februar 1930, stattgefunden haben muß. Ob diese Reise nun eine Erfindung war oder doch angetreten worden ist, läßt sich leider nicht beantworten, denn hierfür gibt es weder Zeugenberichte noch andere Indizien. Im Polizeibericht werden dann Frau Krupp und der deutsche Kronprinz als Mitglieder des Siebener-Rates der Illuminaten genannt. Daß diese dem Reuß-Engelschen Illuminatenorden tatsächlich vorgestanden haben könnten, kann man definitiv ausschließen. Daß es aber zwischen diesem Illuminatenorden und „Steinerianern“ Kontakte gegeben haben könnte, ist nicht unwahrscheinlich. Rudolf Steiner selbst kannte jedenfalls Theodor Reuß und war auch kurzzeitig Mitglied in dessen Memphis Misraim Orden, nicht jedoch in dessen O. T. O., wie Peter R. König betont. Peter R. König, „Rudolf Steiner – niemals Mitglied irgendeines O. T. O.“ in Flensburger Hefte, Nr. 63 (IV/1998), S. 89–108. Der Reuß-Engelsche Illuminatenorden hat auch sicherlich nichts mit dem „Stahlhelm“ zu tun. Dieser war ein paramilitärisch organisierter Wehrverband, der 1918 vom Reserveoffizier Franz Seldte gegründet worden war und mit seiner Schlagkraft die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) unterstützte, in der es übrigens viele Mussolini-Bewunderer gab. Hans Mommsen, Aufstieg und Untergang der Republik von Weimar 1918–1933, Berlin: Ullstein, 1998, S. 317. Seine ideologische Haltung war national, häufig auch antijüdisch und pro-monarchistisch. Engste Kontakte bestanden zum Herrenklub, wo auch Evola bei seiner angeblich ersten Reise nach Deutschland gesprochen hatte und zu dessen Leiter Heinrich Baron von Gleichen er beste Beziehungen unterhielt H. T. Hansen, „Julius Evola und die deutsche konservative Revolution“ in Criticón, Nr. 158 (April/Mai/Juni 1998), S. 16–32., sowie zu den „Junkern“ (Großgrundbesitzern) östlich der Elbe. Daß Evola nun mit dem „Stahlhelm“ in Verbindung war, steht außer Zweifel, wie wir bereits aus dem Interview mit Friedrich Everling wissen. In Evolas damaligen Zeitschriften- und Zeitungsartikeln gibt es zahlreiche Hinweise darauf. Selbst in seiner Nachkriegsanalyse des Dritten Reichs: Julius Evola, Fascismo e Terzo Reich, Roma: Edizioni Mediterranee, 2001 (ich führe diese Ausgabe des Werkes an, da sie von einem kritisch-historischen Standpunkt aus die beste ist), S. 185, nennt er den „Stahlhelm“ und die DNVP als die für ihn bedeutsamsten Gruppierungen. Überhaupt sympathisierte Evola politisch am ehesten mit denjenigen Vorstellungen, die sich 1931 als sogenannte Harzburger Front gegen die Weimarer Republik politisch niederschlugen. Sie ging vor allem auf Initiativen des schon erwähnten „Pressezaren“ Zum weitverzweigten Einflußbereich des Presse- und Filmmagnaten vgl. Heidrun Holzbach, Das „System Hugenberg“. Die Organisation bürgerlicher Sammlungspolitik vor dem Aufstieg der NSDAP, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1981. Alfred Hugenberg zurück. Dort arbeiteten eben der „Stahlhelm“, der Alldeutsche Verband, die DNVP, aber auch die NSDAP zusammen. Die konservativen Kräfte um Hugenberg hatten sich dabei der Vorstellung hingegeben, Hitler beeinflussen und im Hintergrund die Fäden ziehen zu können, was sich jedoch bald als völlige Illusion herausstellte. Schon bei der Großveranstaltung anläßlich der Gründung der Harzburger Front demonstrierten Adolf Hitler und Joseph Goebbels ihre große Distanz zu den anderen teilnehmenden Organisationen, indem sie am gemeinsamen Mittagessen nicht teilnahmen und auch die Parade des „Stahlhelm“ nicht abwarteten, sondern die Ehrentribüne vorher verließen. Siehe John A. Leopold, Alfred. Hugenberg. The Radical Nationalist Campaign against the Weimar Republic, New Haven: Yale University Press, 1977, S. 102 f., und Theodor Duesterberg, Der Stahlhelm und Hitler, Wolfenbüttel: Wolfenbüttler Verlagsanstalt, 1949, S. 23. Duesterberg war 2. Bundesführer des „Stahlhelm“, und so hat seine Schrift zweifellos auch apologetischen Charakter. Aber die dort abgedruckten Briefe der Stahlhelmführer an Adolf Hitler sind doch von Interesse. Theodor Duesterberg ist übrigens auch ein von Evola in seinen Zeitungs- und Zeitschriftenaufsätzen häufig erwähnter Name, auch wenn er ihn „Düstenberg“ nennt. Ein weiterer Beweis für sein nicht immer verläßliches Gedächtnis. Hugenberg war von 1909 bis 1918 Direktoriumsvorsitzender der Friedrich Krupp AG gewesen und hatte überhaupt beste Beziehungen zur Großindustrie. Die Nennung von Frau Krupp in dem Geheimbericht der politischen Polizei würde damit eine annehmbare Erklärung finden, denn daß Hugenberg beste Beziehungen zur Familie Krupp pflegte, ist nicht zu leugnen. Aber auch der im Dokument erwähnte „Kronprinz“ findet eine Erklärung. Denn nach John A. Leopold, dem Hugenberg-Biographen, war auch Kronprinz Wilhelm, der erste Sohn Wilhelm II., bei der Gründungsveranstaltung der Harzburger Front anwesend; daneben noch zumindest zwei weitere Söhne von Wilhelm II., nämlich die Prinzen Eitel Friedrich und Oskar. John A. Leopold, Alfred Hugenberg, a. a. O., S. 103. Aber auch ein weiterer Prinz, nämlich August Wilhelm von Preußen, gehörte zu den führenden Persönlichkeiten der Harzburger Front. Zwar trat diese formell erst am 11. Oktober 1931 zusammen, und das italienische Dokument stammt bereits vom 3. März 1930, aber es ist ja anzunehmen, daß diese Front auf eine bereits seit längerem bestehende informelle Zusammenarbeit zurückging. Bis auf den Kronprinzen, der sich politisch nicht betätigen durfte, waren auch alle genannten Prinzen Mitglieder im „Stahlhelm“. Prinz Oskar von Preußen war ebenso Mitglied im „Bund der Aufrechten“, der auf eine Wiederherstellung der Monarchie hinarbeitete, und wo auch der schon erwähnte Dr. Friedrich Everling mitwirkte. Unbekannt und nach wie vor völlig unklar ist, wie und wann Evola mit Vertretern dieser politischen Strömung Verbindung aufgenommen hat Hier ist anzumerken, daß die Kontaktaufnahme bereits 1928 stattgefunden haben muß, denn aus diesem Jahr stammt der erste politische Aufsatz Evolas in der deutschen Zeitschrift Die Eiche. Sein Titel: „Der Faschismus als Wille zur Weltherrschaft und das Christentum“. . und ob das nun brieflich geschehen ist (Evola sprach deutsch) oder über eine „geheime“ Reise. Eine Hilfestellung von „Steinerianern“, wie im Dokument behauptet, ist dabei eine durchaus plausible Möglichkeit. In Evolas magischer Gruppe von UR gab es ja mehrere überzeugte Anthroposophen, wie den Dichter Arturo Onofri und insbesondere Giovanni Colazza, denen er sehr freundschaftlich verbunden war. Der Arzt Giovanni Colazza, der auf die Gruppe von UR und auch auf Evola selbst zweifellos einen großen Einfluß ausübte, war übrigens ein sehr enger Vertrauter Rudolf Steiners und sogar dessen persönlicher Schüler. Evolas lebenslanger Freund Massimo Scaligero (Pseudonym für Antonio Sgabelloni), der später ebenfalls Anthroposoph wurde, führt in seiner Autobiographie sogar eine Aussage der Mitbegründerin der Anthroposophischen Gesellschaft in Italien, Olga de Grünewald, an, wonach Rudolf Steiner eigens nach Rom fuhr, um dort Colazza kennenzulernen, weil ihm „die geistige Welt“ das angeraten hätte. Colazza sei nach Steiner der zweite in der anthroposophischen Hierarchie gewesen. Massimo Scaligero, Dallo Yoga alla Rosacroce, Roma: Perseo, 1972, S. 85–87. Auch soll er zum innersten Kreis der Zwölf (des Zwölferrats?) um Steiner gehört und an dessen Ritualen teilgenommen haben. Hinweise darauf, daß die Anthroposophische Gesellschaft besondere Verbindungen zum „Stahlhelm“ hatte, liegen mir jedoch nicht vor. Aber um Evola dort einzuführen, hätte ja auch ein bloßer persönlicher Kontakt zu einem der bedeutenderen Mitglieder genügt. Rudolf Steiner hatte zudem sicherlich einige deutschnationale Tendenzen – wie nach dem Ersten Weltkrieg sehr viele andere Deutsche und Österreicher auch. Die Alleinschuld Deutschlands lehnte er ab und den Friedensvertrag von Versailles sah er als aufgezwungenen Frieden an, der sogar den Untergang der Lebensmöglichkeiten Mitteleuropas herbeizuführen imstande sei. Siehe Lorenzo Ravagli, Unter Hammer und Hakenkreuz. Der völkisch-nationalsozialistische Kampf gegen die Anthroposophie, Stuttgart: Freies Geistesleben, 2004, S. 92 ff. Überhaupt auf einen „nationalen“ Rudolf Steiner verweist der Anthroposoph Werner G. Haverbeck in Rudolf Steiner, Anwalt für Deutschland, München: Langen Müller, 1989, selbst wenn dieses Buch insgesamt einseitig sein mag. Der Bericht der politischen Polizei könnte damit einen wahren Kern aufweisen, um den herum es dann jedoch zu größeren Verdrehungen und Fehldeutungen gekommen ist. Nur mit den „Illuminaten“ im engeren Sinne hat das Ganze nichts zu tun, sondern viel eher mit politischen Verbindungen, mit denen Evola wahrscheinlich schon seit Ende der 1920er Jahre sympathisierte. Und wenn man den ersten Polizeibericht bedenkt und als dessen mögliche Quelle die RISS annehmen darf, könnte man sehr wohl auch hier einen Zusammenhang mit dieser Zeitschrift sehen. Denn im Rahmen ihrer Verschwörungstheorien waren es ja gerade „Illuminaten“ und „Freimaurer“, die für die politische Entwicklung und insbesondere für die Expansionsgelüste in Deutschland verantwortlich waren. Damit wäre mit „Illuminaten“ im Polizeibericht nicht der Reuß-Engelsche Weltbund der Illuminaten gemeint gewesen, sondern die Bezeichnung „Illuminaten“ (ebenso wie „Freimaurer“) wurde als bloße Chiffre für eine angenommene Hintergrundmacht verwendet, die für eine Stärkung Deutschlands und den sogenannten „Pangermanismus“ eintrat. Dabei ist auch erwähnenswert, daß in einem nicht unterzeichneten Artikel der RISS Aleister Crowley als ein „Nachfolger der Illuminaten“ apostrophiert wird. „Une nouvelle Haute Loge en Allemagne“ in Revue Internationale des Sociétés Secrètes XVIII (12, 1929), S. 378. Die hier näher besprochenen polizeilichen Anschuldigungen sind übrigens bei weitem nicht die einzigen, die es gegen Evola gibt. Zur Illustration: In einem Polizeibericht vom 24. Februar 1930 Ministero dell’Interno, Direzione Generale della Pubblica Sicurezza, Divisione Polizia Politica, Fascicolo Personale, Pacco 467, Fascicolo 64: 1930–1943. wird er als „anarchischer Indologe“, mystischer Anarchist, Schüler und Agent von „Krisna Murthi“ (sic!) und sogar als „roter jüdischer Agent“ bezeichnet, der von der III. Internationale und der „Internationale von Zion“ abhänge. Er wird auch verdächtigt, ein amerikanischer Agent zu sein, der sich erst vor wenigen Monaten in den Faschismus eingeschlichen hätte. Insgesamt sei er eine „in jeder Hinsicht gefährliche Person“. Da zudem behauptet wird, er sei Päderast, lautet der unweigerliche Schluß des Dokuments: „Er ist sicherlich ein Degenerierter.“ Daß man bei einer solchen Vielfalt von Anklagen Zweifel an der Seriosität der polizeilichen Nachforschungen bekommt, ist wohl nur allzu verständlich. * * * Nachdem also eine persönliche Bekanntschaft zwischen Evola und Crowley oder auch nur eine Verbundenheit durch die Mitgliedschaft in der selben esoterischen Gruppierung historisch nicht nachweisbar, ja sogar äußerst unwahrscheinlich sind, komme ich zu guter Letzt noch auf eine mögliche geistige Verwandtschaft zu sprechen. Man tadelt ja Evola, etwa in Kreisen der pythagoreisch-italischen Tradition um die Zeitschrift Politica Romana, dafür, daß er Crowley viel zu positiv beurteilt hat – er nennt ihn ja geradezu einen „Eingeweihten“ Z. B. in Gianfranco de Turris (Hrsg.), Testimonianze su Evola, a. a. O., S. 337. – wobei gar befürchtet wird, diese Sympathien könnten für Evolas eindeutig deutschfreundlichen und damit gegen die italische Tradition gerichteten politischen Kurs verantwortlich sein. Siehe z. B. den Beitrag des Arturo Reghini-Experten Roberto Sestito, „Alcune considerazioni in margine al libro di Marco Pasi, Aleister Crowley e la tentazione politica“ in Politica Romana 6/2000–2004, S. 405–416. Da nun Evola, wie wir gehört haben, mehrmals als Satanist angegriffen worden war und immer Außenseiter blieb, ist eine gewisse Sympathie für einen anderen „Satanisten“ und Außenseiter psychologisch sogar ohne weiteres verständlich. Wirklich ausschlaggebend für diese positive Einschätzung war aber sicherlich etwas anderes, nämlich einzelne Aussagen Crowleys, in denen Evola zu Recht oder Unrecht genuine initiatische und magische Elemente erblickte. Einen effektiven Einfluß Crowleys auf Evola vermag ich jedoch nicht zu erkennen. Dazu beschäftigte er sich mit dem englischen Magier wahrscheinlich erst viel zu spät und überdies studierte er ihn auch nur viel zu oberflächlich (anscheinend vor allem über Sekundärquellen). Und nicht nur das Showmäßige und Theatralische im Auftreten Crowleys unterschied die beiden, sondern – so meine These – ebenso ihre Auffassungen. Hier kann zwar nicht der Ort für eine eingehende Analyse der weltanschaulichen, politischen und magietheoretischen Unterschiede zwischen beiden sein, aber einige Punkte sollen doch zumindest angesprochen werden. Die Kürze meiner Ausführungen geht dabei aber leider sicherlich zu Lasten feinerer Schattierungen. Ihrem Magieverständnis gemeinsam war die „Modernität“ in dem Sinne, daß sowohl für Evola wie auch für Crowley die Höherentwicklung des Individuums im Mittelpunkt stand und sie auf Selbsterfahrung einen viel größeren Wert legten als auf die bloße Weiterführung überlieferten Wissens. Hierarchische, theologische und moralische Aspekte zählten dabei nicht. Und beide gingen mit großer Intelligenz sowie weitreichender Bildung und nicht mit bloßem Glauben daran, ihre Weltanschauungen zu entwickeln. Aber allein schon ihre Prämissen waren meiner Meinung nach diametral entgegengesetzt. Evola sah sich als Traditionalisten, der eine im Transzendenten zeitlos vorgegebene Welt platonischer Ideen hier auf Erden zu verwirklichen suchte, und Crowley wähnte sich als Begründer und Missionar eines völlig neuen Gesetzes von Thelema. Evola sah pessimistisch die Entwicklung der Menschheit immer weiter abwärts gehen, wohingegen Crowley das Ende eines alten und den Anbruch eines neuen befreiten Zeitalters erwartete und verkündete. Evola kam zu seiner Weltanschauung hauptsächlich durch Analyse und Studium. Bei Crowley stand hingegen etwas am Anfang, was er als eine Offenbarung beschrieb, die er 1904 über seine erste Frau empfangen haben wollte. Nach Peter R. König hätten genauere Analysen des Textes des thelemischen Gesetzbuches Liber AL vel Legis aber ergeben, daß dieses Werk über einen längeren Zeitraum hinweg entstanden sei. Unterschiedliche Tinten und Schriften auf dem Originalmanuskript würden dies beweisen. Bei Evola war die Lehre der Tradition immer nur einer spirituellen Elite vorbehalten, während Crowley trotz seines elitären und oft menschenverachtenden Gehabes eher „demokratisch“ dachte und die ganze Welt mit seiner Lehre beglücken wollte und dafür von ihr Anerkennung erwartete. Evolas Magie beruhte hauptsächlich auf philosophischen Grundlagen aus der deutschen Romantik, des Solipsismus und französischen Personalismus sowie auf den Ideen eines Otto Weininger und Carlo Michelstaedter, die er mit fernöstlichen Lehren sowie seiner natürlichen magischen Begabung und Intuition in Übereinstimmung brachte. Hans Thomas Hakl, „Die Magie bei Julius Evola und ihre philosophischen Voraussetzungen“ in Richard Caron, Joscelyn Godwin, Wouter J. Hanegraaff & Jean-Louis Veillard-Baron (Hrsg.), Ésotérisme, Gnoses & Imaginaire symbolique: Mélanges offerts à Antoine Faivre, Leuven: Peeters, 2001, S. 415–436. Crowleys hauptsächliche magische Quellen waren hingegen Éliphas Lévi und der Orden der Golden Dawn, auch wenn philosophische Einflüsse zum Beispiel von Hume, Berkeley oder Nietzsche nicht fehlten. Die bisher eingehendste Analyse des Crowleyschen Magiebegriffs ist in Marco Pasi, La Notion de magie chez Aleister Crowley (1875–1947), Diplomarbeit in Religionswissenschaften an der École Pratique des Hautes Études in Paris 1996, zu finden. Prägnanter und leichter zugänglich ist allerdings sein Artikel „Aleister Crowley“ in Wouter J. Hanegraaff (Hrsg.), Dictionary of Gnosis & Western Esotericism, Leiden: Boston, Brill, 2005, Bd. I, S. 281–287, in dem die Analyse der Magie Crowleys breiten Raum einnimmt. Zwar arbeiteten wiederum beide sehr pragmatisch, aber Evola legte größten Wert auf die sogenannte Kontinuität des Bewußtseins und blieb, mit der einzigen Ausnahme jugendlicher Drogenerfahrungen, immer bei „aktivem“ Bewußtsein. Crowley hingegen hatte keine Schwierigkeiten, sich „passiv“ Ekstasen hinzugeben und sich von „Dämonen“ in Besitz nehmen zu lassen. Das Ziel der Magie bei Evola war grundsätzlich eine Eingliederung in die Transzendenz, um dem Menschen eine „höhere Würde“ zu verleihen. Auch bei Crowley diente die Magie zur „Erlangung der Kenntnis des Heiligen Schutzengels“, aber durchaus nicht ausschließlich. Ebenso konnte es um einen materiellen Vorteil oder die Beeinflussung eines anderen Menschen gehen. Beide wiederum sahen in der Sexualität die wirksamste Methode, um ihre Magie zum Ziele zu führen, und ließen sich stark vom Tantrismus inspirieren, wenn das bei Crowley auch durch einen abendländischen Filter geschah. Bei Evola stand aber die „Askese“ als spezielle Voraussetzung seiner Sexualmagie im Mittelpunkt. Den Orgasmus galt es für ihn ebenso zu verhindern wie die erotische Macht der Frau über den Mann zu brechen. Schließlich sollte auch die menschliche Sexualität überwunden und einer höheren Form von Dualität (Androgynie) zugeführt werden. Bei Crowley hingegen bildete der Orgasmus sozusagen die Triebkraft für die Umsetzung seiner magischen Vorstellungen, wobei allerdings auch bei ihm der Wille vor einer rückhaltlosen passiven Hingabe an die Lust stand. Einzig in der politisch-sozialen Haltung der beiden vermag ich gewisse äußere Gemeinsamkeiten zu sehen. Pasi hat im vorliegenden Buch Crowleys Standpunkte und vor allem sein Verhältnis zu Deutschland ausführlich behandelt. Das Bestreben beider, aktuelle politische Entwicklungen in ihrem Sinne zu beeinflussen, eint sie jedenfalls, und beide sind daran auch gescheitert. Auch der Ausgangspunkt einer christlich-strengen Jugenderziehung mit einer darauffolgenden „Rebellion“ sind so unterschiedlich nicht. Evola hat dann bekanntlich unter dem Einfluß von René Guénon zu seiner traditionalen Weltanschauung gefunden und schließlich einen „organischen“ Staat im Sinne Platons postuliert. Will man aber Crowleys Tagebucheintrag vom 29. Mai 1923 In Stephen Skinner (Hrsg.), The Magical Diaries of TO MEGA QRION, The Beast 666, Aleister Crowley LOGOS AIWNOS QELHMA, 93, 1923, Jersey: Neville Spearman, 1979, S. 32. einen über die Tagesaktualität hinausreichenden Wert beimessen, so zeigt sich Überraschendes. Der Eintrag lautet wie folgt: „Ich habe Äthyl um politische Weisheit gebeten. Wie der Herausgeber Stephen Skinner dazu bemerkt, will Crowley damit sagen, daß er über Politik nachgedacht und dabei Äther verwendet hat, um seine Aufmerksamkeit zu erhöhen. Ich bin sicherlich weder Anarchist, denn die Familie ist die kleinste und elendigste Einheit der Herrschaft, noch Sozialist, denn der Staat ist die größte und mithin am wenigsten menschliche Einheit. So würde ich denn annehmen, daß ich – mit Äthyl oder ohne – ein patriarchales Feudalsystem möchte, das von eingeweihten Königen geführt wird.“ Man darf allerdings Crowleys niedergelegte Meinungen nicht immer wortwörtlich nehmen. Sich mit ironischen, sarkastischen oder auch nur humorvollen Einlagen über seine Leser lustig zu machen, gehört zu seinen (mir eigentlich sympathischen) Spezialitäten. Wer darauf hereinfällt, hat, sobald er auf die Nase gefallen ist, wenigstens die Chance, etwas Neues zu lernen. Wie man sieht, ist es also auch mit der geistigen Verwandtschaft der beiden Esoteriker nicht so sonderlich weit her. Am Ende kann wohl nur folgendes Fazit stehen: Wenn man Evola und Crowley überhaupt in „Beziehung“ zueinander setzen kann, dann – so scheint es mir – nur in einem „Nebeneinander“ und nicht in einem „Miteinander“. Oder will man die viel gebrauchte Analogie der zwei Kreise verwenden, dann kann man zwar von Berührungspunkten sprechen, aber nur in geringem Maße von Überschneidungen. P. S. Für wertvolle Informationen und Unterlagen, aber auch Kritiken möchte ich folgenden Personen ganz herzlich danken, denn ohne sie hätte gerade dieser Aufsatz nie entstehen können: Annemarie Aeschbach, Dr. Piero Fenili, Peter Robert König, Dr. Marco Pasi, Prof. Renato del Ponte, Dr. Gianfranco de Turris und einer Person, die nicht genannt werden will. PAGE 16