Aura Heydenreich und Clemens Heydenreich
Evolution im Comic
Jens Harder im Dialog zu »Alpha . . . directions«
Heydenreich C.: An besonders prominenter Stelle in »Alpha«, nämlich über dem
»Nachwort/Vorwort«, zitieren Sie Stephen Hawking: »Im Grunde genommen bewegen nur zwei Fragen die Menschheit – Wie hat alles angefangen und wie wird alles enden?« (»Alpha . . . directions«, 338; im Folgenden: A). Das ist eine sicherlich
wahre, aber triviale Aussage. Sinngemäß hätte man eine ähnliche auch bei Woody
Allen finden können. Warum berufen Sie sich mit diesem Zitat auf die Autorität
ausgerechnet eines Physikers? Was bedeutet Ihnen die Physik?
Harder: Diese Aussage ist recht unkonkret, jedoch in ihrer Allgemeingültigkeit
unschlagbar. Gerade in Bezug auf meine Trilogie umarmt sie nun mal alle potentiellen Inhalte zwischen »Alpha« und »Gamma«. Warum ich einen Physiker
zitiere und nicht Woody Allen, Loriot oder etwa den Dalai Lama, liegt auf der
Hand. Gerade die ersten achtzig bis hundert Seiten in »Alpha« sind ja fast ausschließlich physikalischen Phänomenen gewidmet. Und Hawkings »Universum
in der Nussschale« war auch eine meiner Startlektüren zur Recherche an meinem
Buchprojekt (wenn auch zugegebenermaßen die einzige aus eines Physikers Feder
stammende). Zur Bedeutung der Physik kann ich Folgendes festhalten: Die Basis
von allem ist unangefochten die Mathematik in ihrer universellen Gültigkeit (ob
in irgendwelchen Teilen der Welt andere mathematische Gesetze gelten, wage ich
zumindest zu bezweifeln). Gleich danach folgt jedoch die Physik mit all ihren Ausprägungen: Elektro-, Astro-, Kernphysik etc. Auf der Physik gründet die Chemie,
auf der Chemie basiert die Biologie, auf der wiederum die Evolutionsbiologie, Paläontologie, Archäologie, Kunst- und Kulturgeschichte, Religionswissenschaften,
Philosophie, Psychologie . . .
Heydenreich A.: Physiker verbreiten ihre Erkenntnisse in drei verschiedenen
Modi: mathematisch formalisiert, als Texte und in Bildern. Welche Art von bildlichen Darstellungen physikalischer Phänomene waren für die Konzeption des
vorliegenden Comics wichtig?
Harder: Nun, klar habe ich im Vorfeld auch viel gelesen oder mir sogenannte
Lehrfilme oder populärwissenschaftliche DVDs angeschaut. Bildliche Darstellungen nutzte ich nur relativ wenige, abgesehen von einigen mechanischen
Versuchsanordnungen (Zahnradgetriebe, Kugelstoßpendel), Experimenten zu
elektromagnetischen Feldern und dem Foucault’schen Pendel als Nachweis der
Erdrotation, wenn man mal auf Physik im strengeren Sinne fokussiert. Ansonsten
Evolution im Comic | 131
kamen ja aus dem Bereich der Astronomie hunderte Aufnahmen und Illustrationen als Vor-Bilder in Betracht. Als Inspiration für die schwer vorstellbaren
Größenverhältnisse im Mikro- und Makrokosmos kam mir immer wieder der
grandiose Film »Powers of Ten« der Eames-Brüder in den Sinn. Und zu guter
Letzt hat mich die auf einem Zeitstrahl angelegte Darstellung der räumlichen Ausdehnung des jungen Universums als Bild stark angeregt. Überhaupt faszinieren
mich alle zeitbasierten Darstellungen wie Experimentieranleitungen, Zeitlupenund Zeitrafferaufnahmen und besonders Diagramme – diese sind ja auch stark
verwandt mit Bildern aus der Evolution wie Stammbäumen, Vererbungsschemata
oder Verbreitungskarten.
Heydenreich A.: Interessant ist die Anordnung der Panels auf den Seiten 24/25,
auf denen durch die Konkurrenz von simultanem und sequentiellem Erzählen metapoetologisch reflektiert wird, dass es nicht nur eine Erzählung von der Erdevolution
gibt, sondern ein ganzes Geflecht von mythischen, religiösen, wissenschaftlichen
Bildern und Theorien. Welchen Stellenwert haben dabei Physik, Astronomie und
Kosmologie aus Ihrer künstlerischen Perspektive? Welche Rolle spielen sie im Orchester der Disziplinen, in die Sie sich bei Ihrer Recherche eingearbeitet haben?
Harder: Die von mir unterstützte Rangordnung der Wissenschaften habe ich ja
schon skizziert. Am meisten begeistert hat mich seit jeher die Evolutionsbiologie – sie regt mich am stärksten zum Nachdenken über die Beschaffenheit unserer
Welt an und ist somit die absolute Haupttriebfeder für den Start und das Ausarbeiten meiner Trilogie. Inwieweit evolutionäre Aspekte auch in der Physik eine
Rolle spielen bzw. zu Beginn unseres jetzigen Universums spielten, kann ich nicht
beurteilen. Es gibt aber Theorien, die besagen, dass es bei der Selbsterschaffung
unseres Alls auch eine Auslese gegeben haben könnte – dass sich also in schneller
Folge Welten auffalteten und wieder in sich zusammenfielen. Und zwar so lange,
bis sich ausreichend stabile physikalische Verhältnisse eingefunden hatten (die
nicht nur für Sekundenbruchteile oder wenige Tage, sondern zumindest mehrere
dutzend Milliarden Jahre belastbar sind). Aber jenseits des Spekulativen sehe ich
die physikalischen Grundlagen für unsere Welt als ebenso verlässliches wie faszinierendes Grundgerüst für eine unglaubliche Vielzahl von Auswirkungen und Erscheinungen, die unser Dasein nicht nur ermöglichen, sondern bis ins winzigste
Detail definieren und ausrichten.
Heydenreich A.: Bei der Beobachtung des Zusammenhangs zwischen Wort und
Bild in manchen Panels des Bandes »Alpha«, die sich mit Physik beschäftigen, etwa
auf den Seiten 26/27, scheinen die Worte in erklärendem Zusammenhang zum Bild
zu stehen, wobei aber die Physik als intentionaler Handlungsaktant dargestellt
wird: »Physik greift ordnend ein in das elementare Wirbeln der Bausteine [ . . . ] und
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versucht Strukturen zu schaffen, wo zuvor nur haltlose Raserei herrschte.« (A, 27)
Ist hier die Wissenschaft gemeint oder ihr Gegenstand?
Harder: Das ist ein interessanter Brückenschlag zu unserem Bedürfnis nach
Ordnung, nach Ordnung schaffendem Wissen. Ich meine hier aber doch die
physikalischen Abläufe selbst, wenngleich sie erst durch die Wissenschaft als
Gesetze erkannt wurden; aber wirken werden sie ja auch ohne diese Erkenntnisse.
Enzyklopädische Wissensordnungen
Heydenreich A.: Etliche Seiten bzw. Doppelseiten, die sehr viel Unterschiedliches
und Asynchrones konstellieren, vermitteln trotzdem oder gerade deshalb einen Eindruck von Vollständigkeit, Gesamtüberblick, ja Sinngeschlossenheit. Ähnlich einer
Enzyklopädie. Nur dass die Ihre nicht alphabetisch oder thematisch angeordnet ist,
sondern nach ästhetischen Kriterien. Entspricht das Ihrer Idee des Projekts?
Harder: Nein, gar nicht. Statt ›Gesamtüberblick‹ würde ich eher ›lose Aufzählung‹ sagen. Sinngeschlossenheit existiert nur in religiösen Gedankengebäuden;
in der Natur scheint alles nur Sinn zu haben, weil es ein über Millionen und
Milliarden Jahre gewachsenes höchst komplexes System ist. Aber eigentlich ist
jeder Teil für sich genommen sinnlos. Von Vollständigkeit zu sprechen, wäre
hingegen vermessen, wenn nicht gar wahnsinnig. Dazu ist zu bemerken, dass
eines der größten Probleme im Erzählen (oder im Medium Comic auch allgemeiner
im Darstellen) ist, Nicht-Wissen zu thematisieren. Man kann zwar verschiedene
Sichtweisen anklingen lassen oder unklare Übergänge zwischen zwei Zuständen
irgendwie hervorheben oder thematisieren. Aber die ungeheure Menge dessen,
über das man gar keine Aussagen treffen kann – wie soll man das verdeutlichen?
Ein Panel zeichnen und dann zehn, zwanzig Seiten diffusen Nebel bringen,
bevor ein weiteres Panel sich aus der Unbestimmtheit herausschält, so wie
es der Fundlage in geologischen Schichten entspricht? Nein, ich kann mich –
zumindest zeichnerisch – nur an dem abarbeiten, was herausgefunden wurde
und in dem Zusammenhang auch erst in unserem Bewusstsein existiert. In
den Texten habe ich natürlich eher die Möglichkeit, auf all das Unentdeckte
oder zumindest Vage einzugehen, aber selbst dies wird nur selten genutzt. Ich
setze vielmehr voraus, dass dem Leser bekannt ist, dass wir bisher nur einen
winzigen Teil der ganzen Entwicklungsgeschichte aufdecken konnten, ähnlich,
wie wenn man mit einem kleinen U-Boot-Scheinwerfer den Tiefseeboden absucht;
die 99,x Prozent der noch auf sich warten lassenden Entdeckungen lassen sich
schwerlich konkretisieren, geschweige denn visualisieren. Man sollte sie beim
Lesen aber immer als relativierende Hintergrundfolie mit sich führen.
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Heydenreich C.: Hat Sie bei der Konzeption die These der postmodernen Kulturtheoretiker beschäftigt, der zufolge die großen zusammenhängenden Erzählungen,
denen ein einzelnes Narrativ zugrunde liegt, nicht mehr möglich sind? Ist Ihr Projekt
als mögliches Gegenprojekt konzipiert?
Harder: Mir ist völlig klar (und jedem Erzähler sollte klar sein), dass – egal
in welchem erzählerischen Rahmen man sich bewegt – immer nur wenige Teilmengen erzählt werden können. Und was heißt bei großen zusammenhängenden
Erzählungen ›nicht mehr‹? Wann war denn Komplexität noch so simpel, dass man
sie allumfassend beobachten und wiedergeben konnte? Zu Zeiten Trojas etwa, als
allein im Mittelmeerraum schon viele Millionen Menschen lebten und sich mehrere große Machtgefüge um die Vorherrschaft in der Ägäis stritten? Postmoderne
hin oder her – man kann sich immer konzentrieren, auf eine Art Kernaussage,
einen roten Faden, und damit logischerweise viel anderes ausblenden. Wenn ich
in »Beta II« an der Wende zum einundzwanzigsten Jahrhundert angekommen sein
werde, könnte der Übergang ins neue Jahrtausend doch ganz gut in folgenden
Zweizeiler gepackt werden: »Nach dem Zusammenbruch des sozialistischen
Blocks endete der ruinöse atomare Rüstungswettlauf zwischen Ost und West.
Instrumentalisierte Religionsstreitigkeiten wuchsen nun zur größten Bedrohung
der folgenden Jahrzehnte heran – vorrangig im Nahen Osten und unter starker
Zunahme terroristischer Aktivitäten und asymmetrischer Kriege.« Wie ich immer
wieder unterstreiche, ist meine Trilogie ja nicht wissenschaftlichen Charakters,
sondern essayistischer Natur. Ich arbeite also nur heraus, was meiner Erzählung
dient und was man überhaupt schon benennen oder zumindest umreißen kann;
alles andere bleibt vorerst im Ungewissen.
Heydenreich A.: Mit dem Beginn Ihres Comics markieren Sie zugleich eine dunkle
Stelle der wissenschaftlichen Theorienbildung: die Zeit vor und kurz nach dem Urknall. Es gibt darüber noch keine gesicherten Erkenntnisse, sodass in der kulturellen Imagination die Erklärungskraft von Schöpfungsmythen mit derjenigen wissenschaftlicher Theorien konkurriert. Sehen Sie hier einen gemeinsamen Ursprung für
die Notwendigkeit der wissenschaftlichen Erforschung und die des Erzählens?
Harder: Klar – wir alle wollen wissen, wie das Ganze abgelaufen sein mag,
ob nun wissenschaftlich begründet oder mit religiösen Vorstellungen verknüpft
(selbst rein narrativ gesehen – um einen plausiblen Einstieg zu haben statt des
märchenhaften »Es war einmal . . . «). Nur hört es dann doch recht schnell auf
mit den Gemeinsamkeiten zwischen Schöpfungsmythen und Weltentstehungstheorien. Und dass sie konkurrieren, würde ich auch stark in Zweifel ziehen
(abgesehen von der visuellen Kraft). Je nach Zielgruppe gibt es doch mehr oder
weniger klare Präferenzen.
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Heydenreich C.: Wie gelingt Ihnen die Vermittlung zwischen diesen beiden Bereichen? Sie stellen eine Synthese objektiver Ergebnisse naturwissenschaftlicher
Theorien dar, die den Anspruch auf allgemeine Gültigkeit haben, und müssen diese
Synthese zugleich aus individueller Perspektive darstellen. Welche Prinzipien liegen
Ihrer künstlerischen Darstellungsordnung zugrunde?
Harder: Nun, es gibt ein Prinzip, um das man gar nicht herumkommt (und das
ich immer wieder in den Statements anderer Künstler höre oder lese): Filter sein.
Zur Frage der Vermittlung ist festzuhalten, dass die Wissenschaft ja qua ihrer Existenz immer objektiv sein muss. Die individuelle Erzählung, auch die über Wissenschaft (oder über einige Aspekte derselben), wird hingegen immer subjektiv sein.
Ich finde, dass das ein sehr produktiver Widerspruch ist.
Und falls Ihre Frage auf das Verhältnis von wissenschaftlich fundierten zu religiös motivierten Darstellungen abzielt, muss ich passen. Es gibt hier keinen Masterplan, kein Prinzip, keine Quote. Beim Notieren der wichtigen Ereignisse und
Entwicklungen im Storyboard zu »Alpha« hatte ich von Anfang an zu jedem evolutionären Meilenstein äquivalente Motive aus dem visuellen Schatz der verschiedenen Religionen aufgelistet, ob naheliegend oder weit hergeholt war erst einmal
zweitrangig. Es ergaben sich aber im Nachhinein, spätestens beim Durchblättern
des fertigen Buches, noch mannigfaltige Querverbindungen und Bezüglichkeiten.
So stieß ich bei der Suche nach rein formellen Analogien zur aufblühenden Vielfalt des kambrischen Lebens auf Jim Woodrings seltsame, schwebenden »Seelen«.
Später fand ich heraus, dass er sich bei der Gestaltung dieser Wesen von den
gleichen Haeckel-Tableaus inspirieren ließ, die auch ich auf der betreffenden Seite
(A, 180) einarbeitete. Abhängig von persönlichen Abwägungen sowie inhaltlichen
Bezügen habe ich meistens mehrere Panels (oder Seiten) mit wissenschaftlichen
Abbildungen ›erweitert‹ oder ›gegengeschaltet‹ mit ein, zwei mythologischen Referenzen. Etwa bei der Bildung unseres Sonnensystems mittelalterliche PlanetenPersonifikationen und frühzeitliche Sonnenkult-Darstellungen zu zeichnen oder
am Ende der Kreidezeit zur Verdeutlichung des Dinosauriersterbens Siegfried den
Drachentöter, das war für mich absolut unvermeidbar und von Anfang an ›gesetzt‹. Andere Zitate hingegen schlichen sich erst beim Ausarbeiten der Seiten hinein, manche buchstäblich in der letzten Sekunde (so die Katastrophen-Postkarte
von 1910, als die Panik vor dem Halleyschen Kometen ihren Höhepunkt erreichte –
ich fand sie ganz beiläufig bei der Netzrecherche, während ich die Seiten zum
Asteroideneinschlag vor 65 Millionen Jahren komponierte).
Heydenreich A.: Der Leser Ihres Comics wird herausgefordert durch ein Projekt,
in dem, wie Sie selbst im Nachwort schreiben, eine Synthese der Erkenntnisse aus
Astronomie und Physik, Chemie und Biologie, Paläontologie und Archäologie zur
Entstehung und Evolution der Erde geboten wird. Es scheint wie das Projekt eines
Evolution im Comic | 135
Universalgelehrten der Renaissancezeit konzipiert zu sein, für den der Anspruch,
dass alle genannten Wissensordnungen konvergieren, noch Geltung hatte. Wie sind
Sie in Fällen widerspruchsvoller und an sich unvereinbarer Aussagen dieser Theorien vorgegangen?
Harder: Anspruch auf allgemeine Gültigkeit habe ich überhaupt nicht, sodass
ich recht unbefangen der individuellen Perspektive den Vorrang geben kann. Ich
habe mir eine Art Plausibilitätsindikator vorangestellt, eine milde Variante von
Ockhams Skalpell. Ich folge der meiner Meinung nach schlüssigsten oder naheliegendsten Erklärung oder stelle – wie bei der Frage nach der Herkunft des ersten
Lebens auf unserem Planeten – mehrere nachvollziehbare Ansätze nebeneinander, da sie alle eine gewisse Berechtigung haben und es reizvoll ist, ihnen gedanklich auf der Spur zu bleiben.
Wissenschaft und Religion
Heydenreich C.: Viele bedeutende Vorreiter der modernen Physik sahen trotz
oder wegen ihrer rationalen Erkenntnisse keinen Grund, von metaphysischen Axiomen abzurücken – siehe etwa Einstein und sein Diktum »Gott würfelt nicht.« Nimmt
das menschliche Bedürfnis nach Sinnstiftung durch die Metaphysik ab, je mehr
positives Faktenwissen die Physik samt ihrer Nachbardisziplinen anhäuft? Oder
wächst es womöglich sogar – in Korrelation mit der Unübersichtlichkeit dieser
Fakten? Dies bezogen auf die Sicht der Forscher. Auf die Sicht der Laien, im durchaus
klassisch-klerikalen Sinne dieses Wortes, spielen Sie im Paratext zu Ihrem Band
selbst an: »Mit ›Alpha‹ möchte ich den Versuch unternehmen, erstmals alle visuellen
Vorstellungen über die Entwicklungen ab dem angenommenen Nullpunkt zur Entstehung des uns bekannten Universums zu bündeln. Ähnlich einer Bilderbibel, wie
sie früher für Analphabeten herausgegeben wurden, nur hier nun für Alphabeten,
und anstelle konfessioneller Zwänge mit naturwissenschaftlichem Hintergrund.«
(A, 339)
Harder: Mir ging es immer um einen visuellen Zugang. Ich denke, so wie der katholische Priester in der Kirche früher anhand der Altartafelbilder den Kirchgängern von der Erschaffung der Welt oder von Jesu Leiden erzählen konnte, so kann
man anhand der Abfolge der vielen tausend Bildbeispiele, -referenzen und -zitate
in »Alpha«/»Beta«/»Gamma« zumindest in sehr groben Zügen die Geschehnisse
der letzten 14 Milliarden Jahre skizzieren. Ich habe gerade die Ehre, dies allabendlich mit meinen Kindern (drei und sechs Jahre alt) durchzuexerzieren. Und ehrlich – nur auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin! Ich habe das Ganze ja nie für
junge Leser oder zu explizit didaktischen Zwecken angelegt. Aber es funktioniert;
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und von verschiedenen Seiten (aus Frankreich, Deutschland und der Schweiz)
habe ich schon von vielversprechenden Ansätzen gehört, »Alpha« im Schulunterricht einzusetzen. Zu der Zunahme des menschlichen Bedürfnisses nach Sinnstiftung kann ich nur feststellen, dass allein die ausufernde Komplexität unseres Alltagslebens am Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts genügt, um
viele Menschen in die Arme der verschiedensten Glaubensgemeinschaften zu treiben. Wie viel unübersichtlicher muss die Situation sein, wenn man sich dann
noch als Quantenphysiker in einem Datendschungel von Wahrscheinlichkeitsinterpretationen und Unschärferelationen verstrickt hat? Aber keine Ahnung – ich
kann es nicht so richtig nachvollziehen. Es ist aus meiner Sicht eher ein Schutzreflex, eine Geste der Hilflosigkeit, eine Art Sehnsucht nach einer verantwortlichen höheren Instanz – eine Vorstellung, die vielen Zeitgenossen das heutige,
immer unübersichtlicher werdende Leben vermeintlich erträglicher macht. Aber
ist es denn nicht so, dass besonders Forscher mit religiösem Hintergrund eher an
der Nichtvereinbarkeit ihrer bahnbrechenden Entdeckungen mit dem überkommenen Glauben verzweifeln? So ganz extrem der vormals Theologie studierende
Darwin, aber auch der aus jüdischem Elternhaus stammende Einstein, dessen
»Gott würfelt nicht!« ja übrigens nicht für bare Münze genommen werden sollte,
sondern ironisch verpackt der Dominanz von Zufällen in der Physik eine Absage
erteilen wollte.
Heydenreich C.: Während jener fünf Jahre, in denen Sie an »Alpha . . . directions«
arbeiteten, schwappte aus den USA der George-W.-Bush-Ära die Debatte um den
Kreationismus nach Europa. Vielen Deutschen wurde erst damals bewusst, dass
auf der Welt überhaupt eine Bewegung von einigem Gewicht existiert, die Darwins
Evolutionstheorie infrage stellt. Hat diese Debatte Ihr Arbeiten verändert, Ihr Projekt
neu motiviert, vielleicht beflügelt?
Harder: Verändert nicht, aber sicher neu motiviert und teils auch beflügelt.
Heydenreich C.: Die zahlreichen mythischen Modelle, auf die Sie nebenbei in
schnellen Einzelbild-Prolepsen verweisen, stehen für verschiedenste Versuche
verschiedener Kulturen und Epochen, die Welt und den Weltraum ätiologisch herzuleiten. Indem sie so unvermittelt, punktuell und in chronologischem Durcheinander
dastehen, spiegeln sie insgesamt die Vielfalt gedanklicher Möglichkeiten wieder,
im Einzelnen aber relativieren sie einander. Die chronologisch durchlaufende Basiserzählung hingegen, in die sie eingebettet sind, also die Erzählung von der naturgesetzlichen Kosmogonie und Evolution, beansprucht Alleingültigkeit, schon allein
durch ihre Linearität. Wie sehen Sie als bekennender Agnostiker solche mythischen
Erklärungsansätze? Belächeln Sie sie, oder können Sie sie gönnerhaft und frei nach
Johann Gottfried Herder alle als »gleich unmittelbar zu Gott« ansehen? Oder haben
Sie unter ihnen vielleicht gar heimliche Lieblinge? Welche wären die und warum?
Evolution im Comic | 137
Harder: Ich bin kein Agnostiker, sondern Atheist – ein großer Unterschied, da
Letzterem das gedankliche bzw. argumentative Hintertürchen fehlt. Wie auch
immer – ich belächele mythische Erklärungsversuche nicht und sehe sie auch
nicht »gleich unmittelbar zu Gott«, eher gleich mittelbar. Sie hatten in ihrer
Entstehungszeit sicher ein hohes Maß an Berechtigung und halfen damals, eine
verwirrende Flut von Unabwägbarkeiten zu bündeln und auf eine (be)ruhige(nde)
Grundaussage zu pflanzen; nur wer sie heute noch für bare Münze nimmt und
ihnen folgt, der flüchtet sich in eine Phantasiewelt.
Dass meine Kernerzählung Allgemeingültigkeit hätte, bestreite ich. Es ist
jedoch der momentan naheliegendste Versuch, die Entstehung von allem hinreichend zu erklären. Das ist ja das Tolle an der wissenschaftlichen Sichtweise, dass
sie sich jeden Tag infrage stellt und ständig korrigiert und damit einer wie auch
immer gearteten Wahrheit ein wenig näher kommt.
Linearität lehne ich als Begriff ebenso ab! Das wäre ja fast schon das mechanistische, berechenbare, ja vorhersagbare Universum, das Isaac Newton noch
vorschwebte. Nein, meine Erzählung ist zumindest ein Schlängellauf, wenn nicht
ein Mäander . . .
Und zu den ›heimlichen Lieblingen‹: Unter den mythologischen Schöpfungsmythen finde ich die hinduistische Vorstellung sehr heraushebenswert, innerhalb
der der Schöpfer der Welt, Brahma, sich selbst aus einem goldenen Ei gebären
lässt. Ich antworte auch immer auf die Frage, was zuerst da war, Henne oder Ei:
das Ei! Aus einem Urzustand, einem Keimstadium, wird etwas Weiterführendes,
Komplexeres (bitte nicht mit Fortschrittsgläubigkeit verwechseln)!
Heydenreich C.: Halten Sie es für denkbar, dass in fünfhundert Jahren jemand
einen welt(all)historischen Comic schafft, in dem Denkbilder, die für uns Heutige
axiomatisch sind – etwa die Urknalltheorie – nur noch als wortlose Kurzanspielungen neben den Kosmogonien der Maya oder der Altägypter stehen?
Harder: Für denkbar halte ich erst mal absolut alles, nur ob es plausibel ist,
wage ich zu bezweifeln. Vielleicht wird dann etwas besser durchdrungen sein,
inwiefern dem Urknall eine Transitaufgabe zwischen einem Davor und einem
Danach zukommt. Aber ihn gleichzusetzen mit beispielsweise der altägyptischen
Schöpfungsgeschichte des Sonnengottes Atum, der aus der Urflut geboren wurde
und mit seinen acht Nachkommen die Neunheit von Heliopolis bildet – na, ich
weiß nicht . . .
138 | Jens Harder
Chronologie, Kosmogonie und Kontingenz
Heydenreich C.: Wie gehen Sie mit dem Problem der Kontingenz um? Bereits
an einem Tag im Leben eines Menschen ereignen sich ungezählte Dinge, die sich
auch gar nicht oder anders hätten ereignen können – und die dann aber so, wie
sie sich ereignet haben, seine Zukunft prägen. Zwischen jeweils zwei Panels von
»Alpha« nun aber verstreichen – rein rechnerisch – sieben Millionen Jahre. Wie
kann man solche immensen Zeiträume erzählerisch als finalistische, zwingende
Kausalketten behandeln, ohne über dem Gedanken zu verzweifeln, dass selbst
hinter 99 Prozent der uns bekannten Entwicklungen irgendwelche Zufälle stehen,
von denen die Nachwelt nichts wissen kann?
Harder: Ich denke überhaupt nicht in diese Richtung. Würde ich das, könnte ich
sofort aufhören zu arbeiten. Wie ich im Anhang von »Beta« formuliert habe, ist
Evolution (wie jeder komplexe Zusammenhang) nach vorn blind, also anders formuliert nur in der Rückschau erfassbar. Mit diesem – durch die Menge an Fakten
und Kausalitäten – angesammelten Wissen lässt sich dann auch einiges erklären.
Und manches davon mag scheinbar dem Zufall geschuldet sein, anderes zwingend Gesetzen folgen – aber eine ›finalistische‹ Sichtweise lehne ich komplett ab,
das kann man getrost Kreationisten und anderen Religiösen überlassen. Mir fällt
da ein schöner Satz ein: »Leben ist Vorwärtsstolpern, ohne hinzufallen« (die Evolutionsbiologin Lynn Margulis in ihrem Buch »What is Life?«). Das trifft es recht
gut, schaut man sich mal die vielen Anläufe des Lebens an, Fuß zu fassen auf der
Erde und sich gegen die mit schöner Regelmäßigkeit wiederkehrenden Megakatastrophen zu behaupten. Dieses Tasten und Tappen ins Dunkel der Zeit, all die Versuche, all die entstandenen und wieder ausgestorbenen Arten, Gattungen, Ordnungen etc., all die besetzten und wieder aufgegebenen ökologischen Nischen –
es steht ständig auf der Kippe, wo und mit wem es irgendwie weitergeht. Ich kann
ja nur zusammenfassen, was geschah. Es hätte aber auch – wenn schon nicht völlig, so doch wenigstens ziemlich – anders abgelaufen sein können. Nur eines ist
klar: Egal, was sich gerade wo unter welchen Bedingungen herausgebildet haben
mag, gehorcht es doch immer und immer wieder sehr strengen evolutionären Gesetzen. Man schaue sich nur die Konvergenz der Körperformen solch verschiedener Wesen wie Haie, Ichthyosaurier und Delphine an ein Leben im Wasser an. Somit ist der Zufall nur eine Art Katalysator für das Einschlagen neuer Richtungen,
die Entwicklung des Lebens selbst ist jedoch sehr stark reglementiert, auch wenn
das der landläufigen Meinung diametral entgegensteht, dass die Natur frei wäre.
Heydenreich A.: Und wie gestalten Sie diesen Gedanken künstlerisch?
Harder: Im Aufbau meines Comics gar nicht, höchstens in der Auswahl bestimmter Bilder. So werden ja viele schematische Darstellungen, wie Stamm-
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bäume oder Zeitstrahlen, der Lückenhaftigkeit recht gut gerecht, indem sie zum
Beispiel nur die wenigen nachgewiesenen Zwischenstufen sowie die rezenten
Erscheinungsformen zeigen und die Verbindung bzw. den Übergang zwischen
ihnen dann nur als Tendenzen andeutende Linien markieren, teils sogar nur
gestrichelt. Das sagt doch eine Menge aus über das gewaltige Nicht-Wissen –
genauso wie die Entscheidung, immer wieder Fossilienfunde (zum Beispiel
Abdrücke auf einem Stein oder nur einen Unterkiefer) statt des kompletten
Lebewesens abzubilden.
Heydenreich C.: Ist eine offenkundig ästhetische Anordnung bestimmter kulturhistorischer Daten schon ein sicheres Mittel, um zumindest nebenher die Kontingenz
und Nicht-Geschlossenheit unseres Wissens im Bewusstsein zu halten? Ich frage
das, weil ich bei manchen Tableaus auch so etwas wie Erhabenheitsgefühl, um
nicht zu sagen: metaphysischen Schauder empfand. Ich denke da etwa an die SplitSplashpage (A, 24/25) oder an die Seite »Magritte«/»Bebra«/»Verne«(A, 76). Ist so
etwas nicht gegen Ihre aufklärerische Wirkungsabsicht? Oder haben Sie solch einen
Schauder vielleicht selbst manchmal empfunden?
Harder: Ich kann auch als Atheist erhabene Gefühle haben! Wer sagt denn,
dass gottloses Denken kalt und emotionslos sein muss? Ich bewundere ja auch
Phänomene wie die Entstehung des Lebens, die jede Vorstellung sprengende
Größe unseres Universums oder die unfassbare Winzigkeit der Quarks als kleinste
angenommene Bausteine der Materie. Nur versuche ich dabei immer, Erklärungen
für das eine wie für das andere zu finden und zumindest ansatzweise zu verstehen. Und das ist ja zutiefst aufklärerisch. In einem metaphysischen Schauder zu
verharren und sich daraus resultierend in der wohligen Vorstellung von höheren
Mächten einzurichten – das wäre das lähmende Gegenteil davon. Aber natürlich ist unser Wissen nicht-geschlossen, in seiner Lückenhaftigkeit fast schon
chaotisch und teils sogar widersprüchlich. Wenn das durch all diese visuellen
Gegenüberstellungen, diese gezeichneten Assoziationsketten in meiner Trilogie
ein klein wenig angeritzt würde, wäre ich schon froh. Zumindest entbehrt es aber
nicht einer gewissen Poesie, die von Ihnen angemerkten Seiten zu betrachten,
das hoffe ich zumindest.
Poetik, Ästhetik und Metaphorik des Comic
Heydenreich C.: Sie gestalten den Urknall zugleich als den Urknall des Comic
bzw. seiner Darstellungsmittel: Aus den Speedlines der Inflation scheinen wie ein
Abfallprodukt gerade Linien herauszufallen, die sich dann zu Panels gruppieren –
sechs Seiten, bevor das erste Wort fällt. Das scheint den erzählerischen Primat des
140 | Jens Harder
Bild(panel)s vor dem Text zu betonen – eine äußerst selbstbewusste Autopoetologie
des Comic. Was hat dieses Medium anderen Medien voraus, wenn es um die
Erzählung solch schwer erzählbarer Dinge wie Kosmogonie und Evolution geht?
Harder: Am Anfang war eben nicht das Wort, sondern das Bild! Ganz allgemein,
da vor allen verbalen Zuordnungsversuchen durch uns Menschen die visuellen
Phänomene selbst da waren. Konkreter: da bei den ersten künstlerischen Versuchen der neolithischen Menschen Bilder entstanden – die dann später teilweise
zu Wörtern, Hieroglyphen und damit Schrift wurden . . . Somit hat der Comic den
großen Vorteil, die visuelle Welt gleichberechtigt (manchmal sogar erstrangig)
in seine Erzählstruktur einzuschließen – etwas, was Filme, DVDs und Webseiten
sicher auch leisten, aber auf völlig andere Art . . .
Und damit zum unschlagbaren Vorteil des Mediums Comic: Anders als
beim Betrachten anderer sequentieller Medien wie Film oder Animation ist der
Comicrezipient nämlich nicht dem Zeitdiktat des Erschaffers ausgeliefert. Obwohl
jede Comicgeschichte auch zeitbasiert ist, kann der Leser sie in seiner eigenen
Geschwindigkeit rezipieren. Er kann vor- und zurückblättern, vergleichen, recherchieren, verifizieren, dadurch Dinge besser durchdringen – gerade bei solch
vielschichtigen Abläufen wie den in meiner Trilogie angesprochenen ist das sehr
hilfreich.
Heydenreich A.: Im Text verwenden Sie für physikalische Vorgänge häufig Metaphern wie »Kraftwerk« (A, 60), »Mobile« (A, 78), »Riesendynamo« (A, 85),
»Treibhaus« (A, 86), »Karussell« (A, 97). Bildgebend bzw. sprachbildgebend sind
hier technische Artefakte, die der Mensch seinen naturwissenschaftlichen Forschungen abgewonnen hat. Ist es heuristisch oder didaktisch sinnvoll, sie nun auf
die Natur rückanzuwenden? Oder unterliegt man damit einem hermeneutischen
Zirkelschluss?
Harder: Meiner Meinung nach lassen sich mit Technik-Metaphern physikalische Prozesse sehr gut transportieren, weil sie extrem stark sind und recht gut
verankert in den Alltagserfahrungen der Leser, und dazu auch viel zusätzliches
Hintergrundwissen beisteuern. Es wäre wohl schwierig, alternativ dazu unmissverständliche Einwortmetaphern aus der Natur zu finden.
Heydenreich C.: Mitunter konkurrieren aber auch bei der Darstellung desselben
Vorgangs eine Text- und eine Bildmetapher – etwa wenn der Text von einem
»Treibhaus« spricht, das Bild aber einen Teekessel zeigt. (A, 86) Ist das ein Irritationsmoment, das Sie bewusst eingebaut haben, damit die Metaphern wechselseitig
auf ihren Metapherncharakter und somit auf ihre Kontingenz hinweisen?
Harder: Wenn man »Treibhaus« liest, erzeugt das präzise Vorstellungen von
einem abgeschlossenen System, in dem sich Druck und Temperatur stauen
und damit zum vielstrapazierten »Treibhauseffekt« führen. Ein Bild von einem
Evolution im Comic | 141
Gewächshaus würde etwas ganz anderes bewirken. Genauso beim ›Teekessel‹ –
lese ich das Wort, denke ich wohl eher an eine gemütliche Küche. Der Anblick
des fauchenden Gefäßes jedoch fokussiert eher auf die Bedingungen (Druck und
Temperatur) im Kessel und korrespondiert damit perfekt mit dem Treibhaus der
Textebene. Es geht also in diesem Fall nicht um Irritationsmomente, sondern eher
darum, was funktioniert und was nicht. Worte lassen sich durch Bilder verstärken,
Bilder auch durch Worte – je nachdem, was sie im Rezipienten hervorrufen. Aber
man kann sie auf jeden Fall nicht austauschen. Auf eine Kombination von einem
Gewächshaus auf der Bildebene und dem ›Teekessel‹ auf der Textebene würde
ich keinen Cent verwetten.
Physikalische und bildkünstlerische Zeitund Raumkonzeptionen
Heydenreich C.: Als Comicautor und -leser hatten Sie sich ja bereits vor »Alpha«
mit den Zeit-Raum-Konstellationen befasst, die für den Comic als sequentielle Bildkunst typisch sind. Was haben Sie bei der naturwissenschaftlichen Recherche bzw.
bei der künstlerischen Arbeit an »Alpha« über Zeit und Raum gelernt? Und hat es
Ihre Sicht auf das Medium Comic verändert?
Harder: Zeit lässt sich, mehr noch als Raum, perfekt im Comic darstellen – und
das sage ich jetzt nicht, weil es mir so perfekt gelungen wäre, ich meine damit eher
das Potential, das dem Medium innewohnt – siehe Chris Ware, Richard McGuire,
Marc-Antoine Mathieu, Tommi Musturi und viele andere. Was ich mit der Arbeit
an »Alpha« verwirklicht habe (bei »Leviathan« hatte ich mich das in solcher
Strenge und Konsequenz noch nicht getraut), ist die gleichberechtigte, fast
egalisierende Gegenüberstellung oder Aufreihung von Panels verschiedenster
zeitlicher, örtlicher, stilistischer oder kontextueller Herkunft. Während ich im
Fall von »Leviathan« noch eine Art farbliche Staffelung (oder Vorsortierung) für
notwendig erachtete, habe ich mittlerweile gelernt, dass man diese Einordnung
ruhigen Gewissens dem Leser überlassen kann. Formal gibt einem dieses Vorgehen eine enorme Freiheit, auf der anderen Seite lässt es genügend Raum für
eigene Verknüpfungen. Wie ich bei den zaghaften Versuchen, »Alpha« bewegt
auf die Leinwand zu bringen, erkennen durfte, hat der Film da zum Beispiel das
große Problem, sich der Überleitung stellen zu müssen. Der Panel-Zwischenraum
ist offen für verschiedenste Interpretationen; im Film muss man sich entscheiden:
Schnitt, Kameraschwenk, Überblendung oder gar ›Morphing‹? Nun, um den
Raum jetzt nicht zu kurz kommen zu lassen, will ich zumindest noch erwähnen,
dass man mit Comic-Panels nicht nur Raum abbilden, sondern auch Räume
142 | Jens Harder
bauen kann – siehe wieder Chris Ware, aber auch OuBaPo-Experimente, Marc
Beyer, Matti Hagelberg, Henning Wagenbreth und viele andere. Ich verglich mal
in einer Vorlesung vor Architektur-Studenten Comic mit Architektur und eine
Comic-Seite mit einer Hausfassade. Klingt zwar abstrus, ich kam aber dennoch
auf eine Reihe von Gemeinsamkeiten . . .
Heydenreich A.: Sie sprechen im Nachwort das Verhältnis zwischen Erzählzeit
und erzählter Zeit in Ihrem Comic an und kommen zu dem Schluss, dass es sich um
zeitraffendes Erzählen handeln muss – 14 Milliarden Jahre auf 350 Seiten. Doch es
gibt eine Ausnahme: Der Urknall wird in zeitdehnender, repetitiver Form erzählt. Inwiefern spielt dabei eine Rolle, dass schon die Geschichte vom Urknall als Ursprung
des Universums zwar das Standardmodell der Kosmologie ist, aber bisher weder
bestätigt noch falsifiziert wurde?
Harder: Nun ja, eine so bedeutsame Initialzündung wie den Urknall in mein
statistisches Zeitraster zu pressen, wäre schon ein Trauerspiel gewesen – ein Bild
maximal hätte es ergeben. Nur welches? Den Punkt? Die große Inflation kurz darauf? Nein, ich denke, es lohnt sich immer, gegenzusteuern, um gewisse Aspekte
zu verdeutlichen. Ein wenige hundertstel Sekunden andauerndes Ereignis kann
man als Erzähler doch wunderbar auf zwanzig Seiten stretchen (ähnlich dieser
neuen Methode, in Action-Filmen gewisse Sequenzen einzufrieren, damit dem
Zuschauer kein Detail entgeht). Im Gegenzug erweist es sich doch als sinnvoll
(und hat es neben einem ästhetischen auch einen kognitiven Mehrwert), einen
viele Millionen Jahre andauernden Prozess wie die Kontinentaldrift oder die Entwicklung einer neuen Tierklasse in einen Bilderstrip aus drei, vier Panels zu verdichten. Der Urknall ist in Sachen zeitlicher Dehnung auch gar nicht so allein in
»Alpha«. Es gibt da zumindest noch eine Szene mit einem pantoffeltierschluckenden Geißeltierchen oder einem schnappenden Archosaurier, bei denen die Erzählzeit langsamer abläuft als die erzählte Zeit, zumindest bei einer durchschnittlichen Bildbetrachtungsdauer.
Heydenreich C.: Jedes Kapitel der Evolution wird in »Alpha« auf genau 24 Seiten
erzählt. Damit unterwerfen Sie die Geschichte der Weltentstehung einem Prinzip
formaler Ordnung mit biblischen Anklängen, in dem sowohl Linearität als auch Zyklizität mitbedacht werden. Welche ästhetische Überlegung liegt diesem Darstellungsprinzip zugrunde?
Harder: Das mit den 24 Seiten pro Kapitel stimmt nicht, dieser Rhythmus dient
allein der Kolorierung, die je Druckbogen wechselt. Und dieses hat nur drucktechnische Ursachen (eigentlich schwebte mir sogar ein 16-Seiten-Takt vor). Da gibt
es keinerlei andere Beweggründe. Übrigens ist alles, was sich in den Farbwechseln abspielt, absolut zufällig. Ich wusste an keiner Stelle, welche Farbe die Seite
schlussendlich haben würde. Nur die Abfolge der Farben hatte ich eingangs defi-
Evolution im Comic | 143
niert – und auch die änderten sich stark von anfangs zehn Echt-Pantone-Tönen
auf am Ende sieben CMYK-Rasterfarben. Ich hätte mir noch feinere, unmerklichere Übergänge gewünscht – heute würde ich eher eine Lösung wählen, die graduell von Seite zu Seite die Farbe um ein, zwei Prozentpunkte ändert, obwohl ich
dann leider die schönen Farbschichten im Buchschnitt verlieren würde, die selbst
schon wie Sedimentablagerungen wirken.
Ich habe somit nur ein Farbkorsett, jedoch kein formales – das erschiene
mir auch höchst unpassend, da es ja eben keinen Schöpfungsplan (sechs Tage!)
gibt. Sondern Epochen und Zeitalter, die anhand bedeutender klimatischer (also
im weiteren Sinne physikalischer) und in der Folge paläontologischer (also
evolutionsbiologischer) Umwälzungen definiert wurden. Es gibt deshalb keine
erzählerische Ordnung, dem sich die zeitlichen Abläufe unterordnen müssten,
sondern eine Struktur aus sich selbst heraus, denn die geologischen Formationen,
der Rhythmus der Ablagerungen (zum Beispiel Silur, Devon, Karbon, Perm usw.),
diktieren von selbst deren Klassifizierung. Und genauso ging ich vor – ich ließ
die Ereignisse ablaufen (in Text und Bild) und gab ihnen den Raum, den sie
innerhalb des Buches brauchten. Erst dann, nach dem Abarbeiten der Seiten des
aktuellen Kapitels, suchte ich einen Schlussstrich zu ziehen, um am Ende jedes
Zeitalters eine kurze Zusammenfassung des soeben Miterlebten zu bieten. Einziger Wermutstropfen war gegen Ende des Buches die Knappheit an verbliebenen
Seiten, die mich zwang, Tertiär und Quartär trotz der überbordenden Fülle an zu
verarbeitendem Material in einem wahren Schweinsgalopp abzuhandeln, ähnlich
wie später Früh- und Hochantike am Ende von »Beta«. Schlussendlich war mir
das Ergebnis aber doch ganz recht, denn immerhin hatte ich diesen letzten
Kapiteln für die ungeheure Kürze (im Verhältnis zur Vorgeschichte) schon extrem
viel Platz geschaffen. Zum Beispiel in »Beta« der Antike ca. vierzig Seiten, der
rund hundertmal so langen Altsteinzeit hingegen auch nur hundert Seiten. Aber
auf solche Proportionalitäten konnte ich wirklich nur ganz marginal Rücksicht
nehmen.
Heydenreich C.: Die Farbgebung Ihrer Kapitel scheint, ebenso wie Ihre Titel, die
uns geläufige kanonische Erdalterzeiteinteilung zu bejahen. Haben Sie an diesem
Kanon der Epochenbildung im Zuge Ihrer Arbeit auch einmal gezweifelt? Sehen Sie
Gründe, ihn anders zu gestalten?
Harder: Die Farbgebung soll schlicht und einfach Veränderung symbolisieren.
Wie schon ausgeführt, würde ich – so technisch möglich – mittlerweile eine graduelle Änderung bevorzugen.
Zweifel am Kanon der Erdzeitalter ist der falsche Begriff. Warum sollte ich
auch ein gängiges Instrumentarium der Geologie und Paläontologie infrage stellen? Aber zumindest gezögert habe ich einmal – und zwar bei der Anlage der
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Zeitalter Tertiär und Quartär. Denn modernere Einteilungen sprechen statt dem
Tertiär von Paläogen und Neogen (offiziell seit 2004). Ich entschied mich dann
aber für die Beibehaltung der traditionellen, wenn auch inhaltlich mittlerweile
überholten Begriffe – vorrangig aus strukturellen, vielleicht sogar aus nostalgischen Beweggründen. Der Hickhack betreffs des Quartärs und seines exakten Beginns hingegen ging ja ohnehin noch über die gesamte Arbeitszeit an »Alpha«
munter weiter.
Heydenreich A.: Glauben Sie, dass es bei der Kanonisierung von Wissen Unterschiede zwischen den Natur- und den Kulturwissenschaften gibt?
Harder: Nun, zumindest sind die Kulturwissenschaften etwas leichter zu überblicken, da es nur um wenige Jahrtausende geht und alle Untersuchungsgegenstände menschengemacht sind. Dieses erleichtert jeden Ansatz von Kanonisierung schon mal enorm. Nur sind die Gefahren von Instrumentalisierung und
Wertung wiederum um vieles größer als in den weniger emotional agierenden
Naturwissenschaften.
Heydenreich A.: Dass Ihr Comic sich gegen eine teleologisch ausgerichtete lineare
Erzählung ausspricht, erkennt man an der Art, wie er die Wissensordnungen mosaikartig aneinander montiert, wie sie sich gegenseitig kommentieren und infrage
stellen. Das kann man unter anderem an der Seiten- und Panelarchitektur erkennen,
die manchmal, wie auf der bereits erwähnten Seite 27, durch vertikale Ensembles
über vier Zeilen die lineare Leserichtung stört und die Frage nach der richtigen,
möglichen Leserichtung erst stellt. Ist damit metapoetisch auch die Frage danach
verbunden, wie und ob überhaupt die Evolutionsgeschichte prinzipiell noch erzählt
werden kann?
Harder: Sie kann natürlich prinzipiell erzählt werden, nur nicht im Ganzen,
nicht mal ansatzweise. Man kann aber zumindest (Quer-)Verbindungen aufzeigen, Kausalketten verdeutlichen, Entwicklungsstränge verfolgen, Innovationsschübe beleuchten, Potentiale und Tendenzen herausarbeiten. Als roter
Faden galten mir dabei die zur heutigen Flora und Fauna und damit auch zu uns
Menschen führenden Linien.
Heydenreich C.: Im Nachwort zu »Alpha« danken Sie dem tschechischen Zeichner Zdeněk Burian, der sich intensiv mit der Paläontologie auseinandergesetzt hat.
Welche künstlerischen Vorbilder sind für Sie bei der Darstellung von physikalischem
Wissen wichtig gewesen?
Harder: Wenige, bis auf Leonardo da Vinci – der ist nach wie vor ein Gigant
(nicht nur hinsichtlich seiner unzähligen mechanischen Erfindungen und Zeichnungen, auch in Bezug auf seine Wasserforschung, die begleitet wurde von wundersamen Studien zu Wasserfällen, -fontänen und -wirbeln).
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Heydenreich A.: Wie schwer war es, die vielen verschiedenen losen Enden dieses
Projektes in eine Form zu gießen und einen ersten Band abzuschließen?
Harder: Wie soll ich bemessen, wie schwer es war? Einerseits war ich stets so
Feuer und Flamme für das Projekt, dass ich es kaum erwarten konnte, weiterzuarbeiten. Und das Komponieren der neuen Seiten kam mir auch immer wie ein
Spaziergang vor, ein Jonglieren mit Bezügen und Verweisen. Nur die Ausführung
mit ihren tausenden und abertausenden Details in der Reinzeichnung – das war
dann eher zähes Ringen mit dem Papier, eine Art zeichnerischer Marathonlauf
über Monate und Jahre. Aber es war ja alles selbstgewählt und -entschieden. Deshalb habe ich immer wieder neu Schwung nehmen können, das Werk zu Ende zu
bringen. Übrigens: Die Enden bleiben lose, immer.
Heydenreich A. und Heydenreich C.: Vielen Dank, Herr Harder.
Zum Autor
Der Comiczeichner Jens Harder wird 1970 in der sorbischen Kreisstadt Weißwasser – damals Bezirk Cottbus, heute Freistaat Sachsen – geboren. Nach der Wende verlässt Harder seine Heimatstadt und zieht nach Berlin.
Zunächst beschäftigt sich Harder mit Typographie, Graphikdesign, Fotografie. Erst in der
zweiten Hälfte der Neunzigerjahre – er studiert mittlerweile an der Kunsthochschule BerlinWeißensee – fängt er an, Comics für sich zu entdecken. 1999 gründet er zusammen mit Studienkollegen die Comicgruppe Monogatari, in deren Kollektivalben er in der Folgezeit veröffentlicht.
Sein erstes eigenes Album bringt er 2003 in Frankreich heraus: »Leviathan«, seine Meisterschüler-Arbeit im Fach Kommunikationsdesign, eine dramatisierte Geschichte um einen Pottwal,
gut 150 Seiten, außer Textstellen von Herman Melville oder Thomas Hobbes gänzlich ohne Text.
2004 erhält er dafür den Max-und-Moritz-Preis für die »beste deutschsprachige Comic-Publikation«.
Ein Preis, mit dem er 2010 – unter anderem – noch einmal ausgezeichnet werden wird.
Diesmal für »Alpha . . . directions«, den Auftakt einer auf vier Bände angelegten Evolutionsgeschichte. Fünf Jahre hat Harder allein am ersten Band »Alpha« gearbeitet, noch einmal vier weitere Jahre am zweiten Teil, »Beta . . . civilisations. Volume I«, der 2014 erscheint.
Zitierte Literatur
Alpha . . . directions. Hamburg: Carlsen, 2010 • Beta . . . civilisations. Volume 1. Hamburg:
Carlsen, 2014 • Leviathan. Angoulême: Éditions de’l An 2, 2003.
Das Interview mit Jens Harder wurde per E-Mail geführt. Die Fragen stellten die Literaturwissenschaftler Aura und Clemens Heydenreich.