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Evolution im Comic

2015, Physik und Poetik

Aura Heydenreich und Clemens Heydenreich Evolution im Comic Jens Harder im Dialog zu »Alpha . . . directions« Heydenreich C.: An besonders prominenter Stelle in »Alpha«, nämlich über dem »Nachwort/Vorwort«, zitieren Sie Stephen Hawking: »Im Grunde genommen bewegen nur zwei Fragen die Menschheit – Wie hat alles angefangen und wie wird alles enden?« (»Alpha . . . directions«, 338; im Folgenden: A). Das ist eine sicherlich wahre, aber triviale Aussage. Sinngemäß hätte man eine ähnliche auch bei Woody Allen finden können. Warum berufen Sie sich mit diesem Zitat auf die Autorität ausgerechnet eines Physikers? Was bedeutet Ihnen die Physik? Harder: Diese Aussage ist recht unkonkret, jedoch in ihrer Allgemeingültigkeit unschlagbar. Gerade in Bezug auf meine Trilogie umarmt sie nun mal alle potentiellen Inhalte zwischen »Alpha« und »Gamma«. Warum ich einen Physiker zitiere und nicht Woody Allen, Loriot oder etwa den Dalai Lama, liegt auf der Hand. Gerade die ersten achtzig bis hundert Seiten in »Alpha« sind ja fast ausschließlich physikalischen Phänomenen gewidmet. Und Hawkings »Universum in der Nussschale« war auch eine meiner Startlektüren zur Recherche an meinem Buchprojekt (wenn auch zugegebenermaßen die einzige aus eines Physikers Feder stammende). Zur Bedeutung der Physik kann ich Folgendes festhalten: Die Basis von allem ist unangefochten die Mathematik in ihrer universellen Gültigkeit (ob in irgendwelchen Teilen der Welt andere mathematische Gesetze gelten, wage ich zumindest zu bezweifeln). Gleich danach folgt jedoch die Physik mit all ihren Ausprägungen: Elektro-, Astro-, Kernphysik etc. Auf der Physik gründet die Chemie, auf der Chemie basiert die Biologie, auf der wiederum die Evolutionsbiologie, Paläontologie, Archäologie, Kunst- und Kulturgeschichte, Religionswissenschaften, Philosophie, Psychologie . . . Heydenreich A.: Physiker verbreiten ihre Erkenntnisse in drei verschiedenen Modi: mathematisch formalisiert, als Texte und in Bildern. Welche Art von bildlichen Darstellungen physikalischer Phänomene waren für die Konzeption des vorliegenden Comics wichtig? Harder: Nun, klar habe ich im Vorfeld auch viel gelesen oder mir sogenannte Lehrfilme oder populärwissenschaftliche DVDs angeschaut. Bildliche Darstellungen nutzte ich nur relativ wenige, abgesehen von einigen mechanischen Versuchsanordnungen (Zahnradgetriebe, Kugelstoßpendel), Experimenten zu elektromagnetischen Feldern und dem Foucault’schen Pendel als Nachweis der Erdrotation, wenn man mal auf Physik im strengeren Sinne fokussiert. Ansonsten Evolution im Comic | 131 kamen ja aus dem Bereich der Astronomie hunderte Aufnahmen und Illustrationen als Vor-Bilder in Betracht. Als Inspiration für die schwer vorstellbaren Größenverhältnisse im Mikro- und Makrokosmos kam mir immer wieder der grandiose Film »Powers of Ten« der Eames-Brüder in den Sinn. Und zu guter Letzt hat mich die auf einem Zeitstrahl angelegte Darstellung der räumlichen Ausdehnung des jungen Universums als Bild stark angeregt. Überhaupt faszinieren mich alle zeitbasierten Darstellungen wie Experimentieranleitungen, Zeitlupenund Zeitrafferaufnahmen und besonders Diagramme – diese sind ja auch stark verwandt mit Bildern aus der Evolution wie Stammbäumen, Vererbungsschemata oder Verbreitungskarten. Heydenreich A.: Interessant ist die Anordnung der Panels auf den Seiten 24/25, auf denen durch die Konkurrenz von simultanem und sequentiellem Erzählen metapoetologisch reflektiert wird, dass es nicht nur eine Erzählung von der Erdevolution gibt, sondern ein ganzes Geflecht von mythischen, religiösen, wissenschaftlichen Bildern und Theorien. Welchen Stellenwert haben dabei Physik, Astronomie und Kosmologie aus Ihrer künstlerischen Perspektive? Welche Rolle spielen sie im Orchester der Disziplinen, in die Sie sich bei Ihrer Recherche eingearbeitet haben? Harder: Die von mir unterstützte Rangordnung der Wissenschaften habe ich ja schon skizziert. Am meisten begeistert hat mich seit jeher die Evolutionsbiologie – sie regt mich am stärksten zum Nachdenken über die Beschaffenheit unserer Welt an und ist somit die absolute Haupttriebfeder für den Start und das Ausarbeiten meiner Trilogie. Inwieweit evolutionäre Aspekte auch in der Physik eine Rolle spielen bzw. zu Beginn unseres jetzigen Universums spielten, kann ich nicht beurteilen. Es gibt aber Theorien, die besagen, dass es bei der Selbsterschaffung unseres Alls auch eine Auslese gegeben haben könnte – dass sich also in schneller Folge Welten auffalteten und wieder in sich zusammenfielen. Und zwar so lange, bis sich ausreichend stabile physikalische Verhältnisse eingefunden hatten (die nicht nur für Sekundenbruchteile oder wenige Tage, sondern zumindest mehrere dutzend Milliarden Jahre belastbar sind). Aber jenseits des Spekulativen sehe ich die physikalischen Grundlagen für unsere Welt als ebenso verlässliches wie faszinierendes Grundgerüst für eine unglaubliche Vielzahl von Auswirkungen und Erscheinungen, die unser Dasein nicht nur ermöglichen, sondern bis ins winzigste Detail definieren und ausrichten. Heydenreich A.: Bei der Beobachtung des Zusammenhangs zwischen Wort und Bild in manchen Panels des Bandes »Alpha«, die sich mit Physik beschäftigen, etwa auf den Seiten 26/27, scheinen die Worte in erklärendem Zusammenhang zum Bild zu stehen, wobei aber die Physik als intentionaler Handlungsaktant dargestellt wird: »Physik greift ordnend ein in das elementare Wirbeln der Bausteine [ . . . ] und 132 | Jens Harder versucht Strukturen zu schaffen, wo zuvor nur haltlose Raserei herrschte.« (A, 27) Ist hier die Wissenschaft gemeint oder ihr Gegenstand? Harder: Das ist ein interessanter Brückenschlag zu unserem Bedürfnis nach Ordnung, nach Ordnung schaffendem Wissen. Ich meine hier aber doch die physikalischen Abläufe selbst, wenngleich sie erst durch die Wissenschaft als Gesetze erkannt wurden; aber wirken werden sie ja auch ohne diese Erkenntnisse. Enzyklopädische Wissensordnungen Heydenreich A.: Etliche Seiten bzw. Doppelseiten, die sehr viel Unterschiedliches und Asynchrones konstellieren, vermitteln trotzdem oder gerade deshalb einen Eindruck von Vollständigkeit, Gesamtüberblick, ja Sinngeschlossenheit. Ähnlich einer Enzyklopädie. Nur dass die Ihre nicht alphabetisch oder thematisch angeordnet ist, sondern nach ästhetischen Kriterien. Entspricht das Ihrer Idee des Projekts? Harder: Nein, gar nicht. Statt ›Gesamtüberblick‹ würde ich eher ›lose Aufzählung‹ sagen. Sinngeschlossenheit existiert nur in religiösen Gedankengebäuden; in der Natur scheint alles nur Sinn zu haben, weil es ein über Millionen und Milliarden Jahre gewachsenes höchst komplexes System ist. Aber eigentlich ist jeder Teil für sich genommen sinnlos. Von Vollständigkeit zu sprechen, wäre hingegen vermessen, wenn nicht gar wahnsinnig. Dazu ist zu bemerken, dass eines der größten Probleme im Erzählen (oder im Medium Comic auch allgemeiner im Darstellen) ist, Nicht-Wissen zu thematisieren. Man kann zwar verschiedene Sichtweisen anklingen lassen oder unklare Übergänge zwischen zwei Zuständen irgendwie hervorheben oder thematisieren. Aber die ungeheure Menge dessen, über das man gar keine Aussagen treffen kann – wie soll man das verdeutlichen? Ein Panel zeichnen und dann zehn, zwanzig Seiten diffusen Nebel bringen, bevor ein weiteres Panel sich aus der Unbestimmtheit herausschält, so wie es der Fundlage in geologischen Schichten entspricht? Nein, ich kann mich – zumindest zeichnerisch – nur an dem abarbeiten, was herausgefunden wurde und in dem Zusammenhang auch erst in unserem Bewusstsein existiert. In den Texten habe ich natürlich eher die Möglichkeit, auf all das Unentdeckte oder zumindest Vage einzugehen, aber selbst dies wird nur selten genutzt. Ich setze vielmehr voraus, dass dem Leser bekannt ist, dass wir bisher nur einen winzigen Teil der ganzen Entwicklungsgeschichte aufdecken konnten, ähnlich, wie wenn man mit einem kleinen U-Boot-Scheinwerfer den Tiefseeboden absucht; die 99,x Prozent der noch auf sich warten lassenden Entdeckungen lassen sich schwerlich konkretisieren, geschweige denn visualisieren. Man sollte sie beim Lesen aber immer als relativierende Hintergrundfolie mit sich führen. Evolution im Comic | 133 Heydenreich C.: Hat Sie bei der Konzeption die These der postmodernen Kulturtheoretiker beschäftigt, der zufolge die großen zusammenhängenden Erzählungen, denen ein einzelnes Narrativ zugrunde liegt, nicht mehr möglich sind? Ist Ihr Projekt als mögliches Gegenprojekt konzipiert? Harder: Mir ist völlig klar (und jedem Erzähler sollte klar sein), dass – egal in welchem erzählerischen Rahmen man sich bewegt – immer nur wenige Teilmengen erzählt werden können. Und was heißt bei großen zusammenhängenden Erzählungen ›nicht mehr‹? Wann war denn Komplexität noch so simpel, dass man sie allumfassend beobachten und wiedergeben konnte? Zu Zeiten Trojas etwa, als allein im Mittelmeerraum schon viele Millionen Menschen lebten und sich mehrere große Machtgefüge um die Vorherrschaft in der Ägäis stritten? Postmoderne hin oder her – man kann sich immer konzentrieren, auf eine Art Kernaussage, einen roten Faden, und damit logischerweise viel anderes ausblenden. Wenn ich in »Beta II« an der Wende zum einundzwanzigsten Jahrhundert angekommen sein werde, könnte der Übergang ins neue Jahrtausend doch ganz gut in folgenden Zweizeiler gepackt werden: »Nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Blocks endete der ruinöse atomare Rüstungswettlauf zwischen Ost und West. Instrumentalisierte Religionsstreitigkeiten wuchsen nun zur größten Bedrohung der folgenden Jahrzehnte heran – vorrangig im Nahen Osten und unter starker Zunahme terroristischer Aktivitäten und asymmetrischer Kriege.« Wie ich immer wieder unterstreiche, ist meine Trilogie ja nicht wissenschaftlichen Charakters, sondern essayistischer Natur. Ich arbeite also nur heraus, was meiner Erzählung dient und was man überhaupt schon benennen oder zumindest umreißen kann; alles andere bleibt vorerst im Ungewissen. Heydenreich A.: Mit dem Beginn Ihres Comics markieren Sie zugleich eine dunkle Stelle der wissenschaftlichen Theorienbildung: die Zeit vor und kurz nach dem Urknall. Es gibt darüber noch keine gesicherten Erkenntnisse, sodass in der kulturellen Imagination die Erklärungskraft von Schöpfungsmythen mit derjenigen wissenschaftlicher Theorien konkurriert. Sehen Sie hier einen gemeinsamen Ursprung für die Notwendigkeit der wissenschaftlichen Erforschung und die des Erzählens? Harder: Klar – wir alle wollen wissen, wie das Ganze abgelaufen sein mag, ob nun wissenschaftlich begründet oder mit religiösen Vorstellungen verknüpft (selbst rein narrativ gesehen – um einen plausiblen Einstieg zu haben statt des märchenhaften »Es war einmal . . . «). Nur hört es dann doch recht schnell auf mit den Gemeinsamkeiten zwischen Schöpfungsmythen und Weltentstehungstheorien. Und dass sie konkurrieren, würde ich auch stark in Zweifel ziehen (abgesehen von der visuellen Kraft). Je nach Zielgruppe gibt es doch mehr oder weniger klare Präferenzen. 134 | Jens Harder Heydenreich C.: Wie gelingt Ihnen die Vermittlung zwischen diesen beiden Bereichen? Sie stellen eine Synthese objektiver Ergebnisse naturwissenschaftlicher Theorien dar, die den Anspruch auf allgemeine Gültigkeit haben, und müssen diese Synthese zugleich aus individueller Perspektive darstellen. Welche Prinzipien liegen Ihrer künstlerischen Darstellungsordnung zugrunde? Harder: Nun, es gibt ein Prinzip, um das man gar nicht herumkommt (und das ich immer wieder in den Statements anderer Künstler höre oder lese): Filter sein. Zur Frage der Vermittlung ist festzuhalten, dass die Wissenschaft ja qua ihrer Existenz immer objektiv sein muss. Die individuelle Erzählung, auch die über Wissenschaft (oder über einige Aspekte derselben), wird hingegen immer subjektiv sein. Ich finde, dass das ein sehr produktiver Widerspruch ist. Und falls Ihre Frage auf das Verhältnis von wissenschaftlich fundierten zu religiös motivierten Darstellungen abzielt, muss ich passen. Es gibt hier keinen Masterplan, kein Prinzip, keine Quote. Beim Notieren der wichtigen Ereignisse und Entwicklungen im Storyboard zu »Alpha« hatte ich von Anfang an zu jedem evolutionären Meilenstein äquivalente Motive aus dem visuellen Schatz der verschiedenen Religionen aufgelistet, ob naheliegend oder weit hergeholt war erst einmal zweitrangig. Es ergaben sich aber im Nachhinein, spätestens beim Durchblättern des fertigen Buches, noch mannigfaltige Querverbindungen und Bezüglichkeiten. So stieß ich bei der Suche nach rein formellen Analogien zur aufblühenden Vielfalt des kambrischen Lebens auf Jim Woodrings seltsame, schwebenden »Seelen«. Später fand ich heraus, dass er sich bei der Gestaltung dieser Wesen von den gleichen Haeckel-Tableaus inspirieren ließ, die auch ich auf der betreffenden Seite (A, 180) einarbeitete. Abhängig von persönlichen Abwägungen sowie inhaltlichen Bezügen habe ich meistens mehrere Panels (oder Seiten) mit wissenschaftlichen Abbildungen ›erweitert‹ oder ›gegengeschaltet‹ mit ein, zwei mythologischen Referenzen. Etwa bei der Bildung unseres Sonnensystems mittelalterliche PlanetenPersonifikationen und frühzeitliche Sonnenkult-Darstellungen zu zeichnen oder am Ende der Kreidezeit zur Verdeutlichung des Dinosauriersterbens Siegfried den Drachentöter, das war für mich absolut unvermeidbar und von Anfang an ›gesetzt‹. Andere Zitate hingegen schlichen sich erst beim Ausarbeiten der Seiten hinein, manche buchstäblich in der letzten Sekunde (so die Katastrophen-Postkarte von 1910, als die Panik vor dem Halleyschen Kometen ihren Höhepunkt erreichte – ich fand sie ganz beiläufig bei der Netzrecherche, während ich die Seiten zum Asteroideneinschlag vor 65 Millionen Jahren komponierte). Heydenreich A.: Der Leser Ihres Comics wird herausgefordert durch ein Projekt, in dem, wie Sie selbst im Nachwort schreiben, eine Synthese der Erkenntnisse aus Astronomie und Physik, Chemie und Biologie, Paläontologie und Archäologie zur Entstehung und Evolution der Erde geboten wird. Es scheint wie das Projekt eines Evolution im Comic | 135 Universalgelehrten der Renaissancezeit konzipiert zu sein, für den der Anspruch, dass alle genannten Wissensordnungen konvergieren, noch Geltung hatte. Wie sind Sie in Fällen widerspruchsvoller und an sich unvereinbarer Aussagen dieser Theorien vorgegangen? Harder: Anspruch auf allgemeine Gültigkeit habe ich überhaupt nicht, sodass ich recht unbefangen der individuellen Perspektive den Vorrang geben kann. Ich habe mir eine Art Plausibilitätsindikator vorangestellt, eine milde Variante von Ockhams Skalpell. Ich folge der meiner Meinung nach schlüssigsten oder naheliegendsten Erklärung oder stelle – wie bei der Frage nach der Herkunft des ersten Lebens auf unserem Planeten – mehrere nachvollziehbare Ansätze nebeneinander, da sie alle eine gewisse Berechtigung haben und es reizvoll ist, ihnen gedanklich auf der Spur zu bleiben. Wissenschaft und Religion Heydenreich C.: Viele bedeutende Vorreiter der modernen Physik sahen trotz oder wegen ihrer rationalen Erkenntnisse keinen Grund, von metaphysischen Axiomen abzurücken – siehe etwa Einstein und sein Diktum »Gott würfelt nicht.« Nimmt das menschliche Bedürfnis nach Sinnstiftung durch die Metaphysik ab, je mehr positives Faktenwissen die Physik samt ihrer Nachbardisziplinen anhäuft? Oder wächst es womöglich sogar – in Korrelation mit der Unübersichtlichkeit dieser Fakten? Dies bezogen auf die Sicht der Forscher. Auf die Sicht der Laien, im durchaus klassisch-klerikalen Sinne dieses Wortes, spielen Sie im Paratext zu Ihrem Band selbst an: »Mit ›Alpha‹ möchte ich den Versuch unternehmen, erstmals alle visuellen Vorstellungen über die Entwicklungen ab dem angenommenen Nullpunkt zur Entstehung des uns bekannten Universums zu bündeln. Ähnlich einer Bilderbibel, wie sie früher für Analphabeten herausgegeben wurden, nur hier nun für Alphabeten, und anstelle konfessioneller Zwänge mit naturwissenschaftlichem Hintergrund.« (A, 339) Harder: Mir ging es immer um einen visuellen Zugang. Ich denke, so wie der katholische Priester in der Kirche früher anhand der Altartafelbilder den Kirchgängern von der Erschaffung der Welt oder von Jesu Leiden erzählen konnte, so kann man anhand der Abfolge der vielen tausend Bildbeispiele, -referenzen und -zitate in »Alpha«/»Beta«/»Gamma« zumindest in sehr groben Zügen die Geschehnisse der letzten 14 Milliarden Jahre skizzieren. Ich habe gerade die Ehre, dies allabendlich mit meinen Kindern (drei und sechs Jahre alt) durchzuexerzieren. Und ehrlich – nur auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin! Ich habe das Ganze ja nie für junge Leser oder zu explizit didaktischen Zwecken angelegt. Aber es funktioniert; 136 | Jens Harder und von verschiedenen Seiten (aus Frankreich, Deutschland und der Schweiz) habe ich schon von vielversprechenden Ansätzen gehört, »Alpha« im Schulunterricht einzusetzen. Zu der Zunahme des menschlichen Bedürfnisses nach Sinnstiftung kann ich nur feststellen, dass allein die ausufernde Komplexität unseres Alltagslebens am Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts genügt, um viele Menschen in die Arme der verschiedensten Glaubensgemeinschaften zu treiben. Wie viel unübersichtlicher muss die Situation sein, wenn man sich dann noch als Quantenphysiker in einem Datendschungel von Wahrscheinlichkeitsinterpretationen und Unschärferelationen verstrickt hat? Aber keine Ahnung – ich kann es nicht so richtig nachvollziehen. Es ist aus meiner Sicht eher ein Schutzreflex, eine Geste der Hilflosigkeit, eine Art Sehnsucht nach einer verantwortlichen höheren Instanz – eine Vorstellung, die vielen Zeitgenossen das heutige, immer unübersichtlicher werdende Leben vermeintlich erträglicher macht. Aber ist es denn nicht so, dass besonders Forscher mit religiösem Hintergrund eher an der Nichtvereinbarkeit ihrer bahnbrechenden Entdeckungen mit dem überkommenen Glauben verzweifeln? So ganz extrem der vormals Theologie studierende Darwin, aber auch der aus jüdischem Elternhaus stammende Einstein, dessen »Gott würfelt nicht!« ja übrigens nicht für bare Münze genommen werden sollte, sondern ironisch verpackt der Dominanz von Zufällen in der Physik eine Absage erteilen wollte. Heydenreich C.: Während jener fünf Jahre, in denen Sie an »Alpha . . . directions« arbeiteten, schwappte aus den USA der George-W.-Bush-Ära die Debatte um den Kreationismus nach Europa. Vielen Deutschen wurde erst damals bewusst, dass auf der Welt überhaupt eine Bewegung von einigem Gewicht existiert, die Darwins Evolutionstheorie infrage stellt. Hat diese Debatte Ihr Arbeiten verändert, Ihr Projekt neu motiviert, vielleicht beflügelt? Harder: Verändert nicht, aber sicher neu motiviert und teils auch beflügelt. Heydenreich C.: Die zahlreichen mythischen Modelle, auf die Sie nebenbei in schnellen Einzelbild-Prolepsen verweisen, stehen für verschiedenste Versuche verschiedener Kulturen und Epochen, die Welt und den Weltraum ätiologisch herzuleiten. Indem sie so unvermittelt, punktuell und in chronologischem Durcheinander dastehen, spiegeln sie insgesamt die Vielfalt gedanklicher Möglichkeiten wieder, im Einzelnen aber relativieren sie einander. Die chronologisch durchlaufende Basiserzählung hingegen, in die sie eingebettet sind, also die Erzählung von der naturgesetzlichen Kosmogonie und Evolution, beansprucht Alleingültigkeit, schon allein durch ihre Linearität. Wie sehen Sie als bekennender Agnostiker solche mythischen Erklärungsansätze? Belächeln Sie sie, oder können Sie sie gönnerhaft und frei nach Johann Gottfried Herder alle als »gleich unmittelbar zu Gott« ansehen? Oder haben Sie unter ihnen vielleicht gar heimliche Lieblinge? Welche wären die und warum? Evolution im Comic | 137 Harder: Ich bin kein Agnostiker, sondern Atheist – ein großer Unterschied, da Letzterem das gedankliche bzw. argumentative Hintertürchen fehlt. Wie auch immer – ich belächele mythische Erklärungsversuche nicht und sehe sie auch nicht »gleich unmittelbar zu Gott«, eher gleich mittelbar. Sie hatten in ihrer Entstehungszeit sicher ein hohes Maß an Berechtigung und halfen damals, eine verwirrende Flut von Unabwägbarkeiten zu bündeln und auf eine (be)ruhige(nde) Grundaussage zu pflanzen; nur wer sie heute noch für bare Münze nimmt und ihnen folgt, der flüchtet sich in eine Phantasiewelt. Dass meine Kernerzählung Allgemeingültigkeit hätte, bestreite ich. Es ist jedoch der momentan naheliegendste Versuch, die Entstehung von allem hinreichend zu erklären. Das ist ja das Tolle an der wissenschaftlichen Sichtweise, dass sie sich jeden Tag infrage stellt und ständig korrigiert und damit einer wie auch immer gearteten Wahrheit ein wenig näher kommt. Linearität lehne ich als Begriff ebenso ab! Das wäre ja fast schon das mechanistische, berechenbare, ja vorhersagbare Universum, das Isaac Newton noch vorschwebte. Nein, meine Erzählung ist zumindest ein Schlängellauf, wenn nicht ein Mäander . . . Und zu den ›heimlichen Lieblingen‹: Unter den mythologischen Schöpfungsmythen finde ich die hinduistische Vorstellung sehr heraushebenswert, innerhalb der der Schöpfer der Welt, Brahma, sich selbst aus einem goldenen Ei gebären lässt. Ich antworte auch immer auf die Frage, was zuerst da war, Henne oder Ei: das Ei! Aus einem Urzustand, einem Keimstadium, wird etwas Weiterführendes, Komplexeres (bitte nicht mit Fortschrittsgläubigkeit verwechseln)! Heydenreich C.: Halten Sie es für denkbar, dass in fünfhundert Jahren jemand einen welt(all)historischen Comic schafft, in dem Denkbilder, die für uns Heutige axiomatisch sind – etwa die Urknalltheorie – nur noch als wortlose Kurzanspielungen neben den Kosmogonien der Maya oder der Altägypter stehen? Harder: Für denkbar halte ich erst mal absolut alles, nur ob es plausibel ist, wage ich zu bezweifeln. Vielleicht wird dann etwas besser durchdrungen sein, inwiefern dem Urknall eine Transitaufgabe zwischen einem Davor und einem Danach zukommt. Aber ihn gleichzusetzen mit beispielsweise der altägyptischen Schöpfungsgeschichte des Sonnengottes Atum, der aus der Urflut geboren wurde und mit seinen acht Nachkommen die Neunheit von Heliopolis bildet – na, ich weiß nicht . . . 138 | Jens Harder Chronologie, Kosmogonie und Kontingenz Heydenreich C.: Wie gehen Sie mit dem Problem der Kontingenz um? Bereits an einem Tag im Leben eines Menschen ereignen sich ungezählte Dinge, die sich auch gar nicht oder anders hätten ereignen können – und die dann aber so, wie sie sich ereignet haben, seine Zukunft prägen. Zwischen jeweils zwei Panels von »Alpha« nun aber verstreichen – rein rechnerisch – sieben Millionen Jahre. Wie kann man solche immensen Zeiträume erzählerisch als finalistische, zwingende Kausalketten behandeln, ohne über dem Gedanken zu verzweifeln, dass selbst hinter 99 Prozent der uns bekannten Entwicklungen irgendwelche Zufälle stehen, von denen die Nachwelt nichts wissen kann? Harder: Ich denke überhaupt nicht in diese Richtung. Würde ich das, könnte ich sofort aufhören zu arbeiten. Wie ich im Anhang von »Beta« formuliert habe, ist Evolution (wie jeder komplexe Zusammenhang) nach vorn blind, also anders formuliert nur in der Rückschau erfassbar. Mit diesem – durch die Menge an Fakten und Kausalitäten – angesammelten Wissen lässt sich dann auch einiges erklären. Und manches davon mag scheinbar dem Zufall geschuldet sein, anderes zwingend Gesetzen folgen – aber eine ›finalistische‹ Sichtweise lehne ich komplett ab, das kann man getrost Kreationisten und anderen Religiösen überlassen. Mir fällt da ein schöner Satz ein: »Leben ist Vorwärtsstolpern, ohne hinzufallen« (die Evolutionsbiologin Lynn Margulis in ihrem Buch »What is Life?«). Das trifft es recht gut, schaut man sich mal die vielen Anläufe des Lebens an, Fuß zu fassen auf der Erde und sich gegen die mit schöner Regelmäßigkeit wiederkehrenden Megakatastrophen zu behaupten. Dieses Tasten und Tappen ins Dunkel der Zeit, all die Versuche, all die entstandenen und wieder ausgestorbenen Arten, Gattungen, Ordnungen etc., all die besetzten und wieder aufgegebenen ökologischen Nischen – es steht ständig auf der Kippe, wo und mit wem es irgendwie weitergeht. Ich kann ja nur zusammenfassen, was geschah. Es hätte aber auch – wenn schon nicht völlig, so doch wenigstens ziemlich – anders abgelaufen sein können. Nur eines ist klar: Egal, was sich gerade wo unter welchen Bedingungen herausgebildet haben mag, gehorcht es doch immer und immer wieder sehr strengen evolutionären Gesetzen. Man schaue sich nur die Konvergenz der Körperformen solch verschiedener Wesen wie Haie, Ichthyosaurier und Delphine an ein Leben im Wasser an. Somit ist der Zufall nur eine Art Katalysator für das Einschlagen neuer Richtungen, die Entwicklung des Lebens selbst ist jedoch sehr stark reglementiert, auch wenn das der landläufigen Meinung diametral entgegensteht, dass die Natur frei wäre. Heydenreich A.: Und wie gestalten Sie diesen Gedanken künstlerisch? Harder: Im Aufbau meines Comics gar nicht, höchstens in der Auswahl bestimmter Bilder. So werden ja viele schematische Darstellungen, wie Stamm- Evolution im Comic | 139 bäume oder Zeitstrahlen, der Lückenhaftigkeit recht gut gerecht, indem sie zum Beispiel nur die wenigen nachgewiesenen Zwischenstufen sowie die rezenten Erscheinungsformen zeigen und die Verbindung bzw. den Übergang zwischen ihnen dann nur als Tendenzen andeutende Linien markieren, teils sogar nur gestrichelt. Das sagt doch eine Menge aus über das gewaltige Nicht-Wissen – genauso wie die Entscheidung, immer wieder Fossilienfunde (zum Beispiel Abdrücke auf einem Stein oder nur einen Unterkiefer) statt des kompletten Lebewesens abzubilden. Heydenreich C.: Ist eine offenkundig ästhetische Anordnung bestimmter kulturhistorischer Daten schon ein sicheres Mittel, um zumindest nebenher die Kontingenz und Nicht-Geschlossenheit unseres Wissens im Bewusstsein zu halten? Ich frage das, weil ich bei manchen Tableaus auch so etwas wie Erhabenheitsgefühl, um nicht zu sagen: metaphysischen Schauder empfand. Ich denke da etwa an die SplitSplashpage (A, 24/25) oder an die Seite »Magritte«/»Bebra«/»Verne«(A, 76). Ist so etwas nicht gegen Ihre aufklärerische Wirkungsabsicht? Oder haben Sie solch einen Schauder vielleicht selbst manchmal empfunden? Harder: Ich kann auch als Atheist erhabene Gefühle haben! Wer sagt denn, dass gottloses Denken kalt und emotionslos sein muss? Ich bewundere ja auch Phänomene wie die Entstehung des Lebens, die jede Vorstellung sprengende Größe unseres Universums oder die unfassbare Winzigkeit der Quarks als kleinste angenommene Bausteine der Materie. Nur versuche ich dabei immer, Erklärungen für das eine wie für das andere zu finden und zumindest ansatzweise zu verstehen. Und das ist ja zutiefst aufklärerisch. In einem metaphysischen Schauder zu verharren und sich daraus resultierend in der wohligen Vorstellung von höheren Mächten einzurichten – das wäre das lähmende Gegenteil davon. Aber natürlich ist unser Wissen nicht-geschlossen, in seiner Lückenhaftigkeit fast schon chaotisch und teils sogar widersprüchlich. Wenn das durch all diese visuellen Gegenüberstellungen, diese gezeichneten Assoziationsketten in meiner Trilogie ein klein wenig angeritzt würde, wäre ich schon froh. Zumindest entbehrt es aber nicht einer gewissen Poesie, die von Ihnen angemerkten Seiten zu betrachten, das hoffe ich zumindest. Poetik, Ästhetik und Metaphorik des Comic Heydenreich C.: Sie gestalten den Urknall zugleich als den Urknall des Comic bzw. seiner Darstellungsmittel: Aus den Speedlines der Inflation scheinen wie ein Abfallprodukt gerade Linien herauszufallen, die sich dann zu Panels gruppieren – sechs Seiten, bevor das erste Wort fällt. Das scheint den erzählerischen Primat des 140 | Jens Harder Bild(panel)s vor dem Text zu betonen – eine äußerst selbstbewusste Autopoetologie des Comic. Was hat dieses Medium anderen Medien voraus, wenn es um die Erzählung solch schwer erzählbarer Dinge wie Kosmogonie und Evolution geht? Harder: Am Anfang war eben nicht das Wort, sondern das Bild! Ganz allgemein, da vor allen verbalen Zuordnungsversuchen durch uns Menschen die visuellen Phänomene selbst da waren. Konkreter: da bei den ersten künstlerischen Versuchen der neolithischen Menschen Bilder entstanden – die dann später teilweise zu Wörtern, Hieroglyphen und damit Schrift wurden . . . Somit hat der Comic den großen Vorteil, die visuelle Welt gleichberechtigt (manchmal sogar erstrangig) in seine Erzählstruktur einzuschließen – etwas, was Filme, DVDs und Webseiten sicher auch leisten, aber auf völlig andere Art . . . Und damit zum unschlagbaren Vorteil des Mediums Comic: Anders als beim Betrachten anderer sequentieller Medien wie Film oder Animation ist der Comicrezipient nämlich nicht dem Zeitdiktat des Erschaffers ausgeliefert. Obwohl jede Comicgeschichte auch zeitbasiert ist, kann der Leser sie in seiner eigenen Geschwindigkeit rezipieren. Er kann vor- und zurückblättern, vergleichen, recherchieren, verifizieren, dadurch Dinge besser durchdringen – gerade bei solch vielschichtigen Abläufen wie den in meiner Trilogie angesprochenen ist das sehr hilfreich. Heydenreich A.: Im Text verwenden Sie für physikalische Vorgänge häufig Metaphern wie »Kraftwerk« (A, 60), »Mobile« (A, 78), »Riesendynamo« (A, 85), »Treibhaus« (A, 86), »Karussell« (A, 97). Bildgebend bzw. sprachbildgebend sind hier technische Artefakte, die der Mensch seinen naturwissenschaftlichen Forschungen abgewonnen hat. Ist es heuristisch oder didaktisch sinnvoll, sie nun auf die Natur rückanzuwenden? Oder unterliegt man damit einem hermeneutischen Zirkelschluss? Harder: Meiner Meinung nach lassen sich mit Technik-Metaphern physikalische Prozesse sehr gut transportieren, weil sie extrem stark sind und recht gut verankert in den Alltagserfahrungen der Leser, und dazu auch viel zusätzliches Hintergrundwissen beisteuern. Es wäre wohl schwierig, alternativ dazu unmissverständliche Einwortmetaphern aus der Natur zu finden. Heydenreich C.: Mitunter konkurrieren aber auch bei der Darstellung desselben Vorgangs eine Text- und eine Bildmetapher – etwa wenn der Text von einem »Treibhaus« spricht, das Bild aber einen Teekessel zeigt. (A, 86) Ist das ein Irritationsmoment, das Sie bewusst eingebaut haben, damit die Metaphern wechselseitig auf ihren Metapherncharakter und somit auf ihre Kontingenz hinweisen? Harder: Wenn man »Treibhaus« liest, erzeugt das präzise Vorstellungen von einem abgeschlossenen System, in dem sich Druck und Temperatur stauen und damit zum vielstrapazierten »Treibhauseffekt« führen. Ein Bild von einem Evolution im Comic | 141 Gewächshaus würde etwas ganz anderes bewirken. Genauso beim ›Teekessel‹ – lese ich das Wort, denke ich wohl eher an eine gemütliche Küche. Der Anblick des fauchenden Gefäßes jedoch fokussiert eher auf die Bedingungen (Druck und Temperatur) im Kessel und korrespondiert damit perfekt mit dem Treibhaus der Textebene. Es geht also in diesem Fall nicht um Irritationsmomente, sondern eher darum, was funktioniert und was nicht. Worte lassen sich durch Bilder verstärken, Bilder auch durch Worte – je nachdem, was sie im Rezipienten hervorrufen. Aber man kann sie auf jeden Fall nicht austauschen. Auf eine Kombination von einem Gewächshaus auf der Bildebene und dem ›Teekessel‹ auf der Textebene würde ich keinen Cent verwetten. Physikalische und bildkünstlerische Zeitund Raumkonzeptionen Heydenreich C.: Als Comicautor und -leser hatten Sie sich ja bereits vor »Alpha« mit den Zeit-Raum-Konstellationen befasst, die für den Comic als sequentielle Bildkunst typisch sind. Was haben Sie bei der naturwissenschaftlichen Recherche bzw. bei der künstlerischen Arbeit an »Alpha« über Zeit und Raum gelernt? Und hat es Ihre Sicht auf das Medium Comic verändert? Harder: Zeit lässt sich, mehr noch als Raum, perfekt im Comic darstellen – und das sage ich jetzt nicht, weil es mir so perfekt gelungen wäre, ich meine damit eher das Potential, das dem Medium innewohnt – siehe Chris Ware, Richard McGuire, Marc-Antoine Mathieu, Tommi Musturi und viele andere. Was ich mit der Arbeit an »Alpha« verwirklicht habe (bei »Leviathan« hatte ich mich das in solcher Strenge und Konsequenz noch nicht getraut), ist die gleichberechtigte, fast egalisierende Gegenüberstellung oder Aufreihung von Panels verschiedenster zeitlicher, örtlicher, stilistischer oder kontextueller Herkunft. Während ich im Fall von »Leviathan« noch eine Art farbliche Staffelung (oder Vorsortierung) für notwendig erachtete, habe ich mittlerweile gelernt, dass man diese Einordnung ruhigen Gewissens dem Leser überlassen kann. Formal gibt einem dieses Vorgehen eine enorme Freiheit, auf der anderen Seite lässt es genügend Raum für eigene Verknüpfungen. Wie ich bei den zaghaften Versuchen, »Alpha« bewegt auf die Leinwand zu bringen, erkennen durfte, hat der Film da zum Beispiel das große Problem, sich der Überleitung stellen zu müssen. Der Panel-Zwischenraum ist offen für verschiedenste Interpretationen; im Film muss man sich entscheiden: Schnitt, Kameraschwenk, Überblendung oder gar ›Morphing‹? Nun, um den Raum jetzt nicht zu kurz kommen zu lassen, will ich zumindest noch erwähnen, dass man mit Comic-Panels nicht nur Raum abbilden, sondern auch Räume 142 | Jens Harder bauen kann – siehe wieder Chris Ware, aber auch OuBaPo-Experimente, Marc Beyer, Matti Hagelberg, Henning Wagenbreth und viele andere. Ich verglich mal in einer Vorlesung vor Architektur-Studenten Comic mit Architektur und eine Comic-Seite mit einer Hausfassade. Klingt zwar abstrus, ich kam aber dennoch auf eine Reihe von Gemeinsamkeiten . . . Heydenreich A.: Sie sprechen im Nachwort das Verhältnis zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit in Ihrem Comic an und kommen zu dem Schluss, dass es sich um zeitraffendes Erzählen handeln muss – 14 Milliarden Jahre auf 350 Seiten. Doch es gibt eine Ausnahme: Der Urknall wird in zeitdehnender, repetitiver Form erzählt. Inwiefern spielt dabei eine Rolle, dass schon die Geschichte vom Urknall als Ursprung des Universums zwar das Standardmodell der Kosmologie ist, aber bisher weder bestätigt noch falsifiziert wurde? Harder: Nun ja, eine so bedeutsame Initialzündung wie den Urknall in mein statistisches Zeitraster zu pressen, wäre schon ein Trauerspiel gewesen – ein Bild maximal hätte es ergeben. Nur welches? Den Punkt? Die große Inflation kurz darauf? Nein, ich denke, es lohnt sich immer, gegenzusteuern, um gewisse Aspekte zu verdeutlichen. Ein wenige hundertstel Sekunden andauerndes Ereignis kann man als Erzähler doch wunderbar auf zwanzig Seiten stretchen (ähnlich dieser neuen Methode, in Action-Filmen gewisse Sequenzen einzufrieren, damit dem Zuschauer kein Detail entgeht). Im Gegenzug erweist es sich doch als sinnvoll (und hat es neben einem ästhetischen auch einen kognitiven Mehrwert), einen viele Millionen Jahre andauernden Prozess wie die Kontinentaldrift oder die Entwicklung einer neuen Tierklasse in einen Bilderstrip aus drei, vier Panels zu verdichten. Der Urknall ist in Sachen zeitlicher Dehnung auch gar nicht so allein in »Alpha«. Es gibt da zumindest noch eine Szene mit einem pantoffeltierschluckenden Geißeltierchen oder einem schnappenden Archosaurier, bei denen die Erzählzeit langsamer abläuft als die erzählte Zeit, zumindest bei einer durchschnittlichen Bildbetrachtungsdauer. Heydenreich C.: Jedes Kapitel der Evolution wird in »Alpha« auf genau 24 Seiten erzählt. Damit unterwerfen Sie die Geschichte der Weltentstehung einem Prinzip formaler Ordnung mit biblischen Anklängen, in dem sowohl Linearität als auch Zyklizität mitbedacht werden. Welche ästhetische Überlegung liegt diesem Darstellungsprinzip zugrunde? Harder: Das mit den 24 Seiten pro Kapitel stimmt nicht, dieser Rhythmus dient allein der Kolorierung, die je Druckbogen wechselt. Und dieses hat nur drucktechnische Ursachen (eigentlich schwebte mir sogar ein 16-Seiten-Takt vor). Da gibt es keinerlei andere Beweggründe. Übrigens ist alles, was sich in den Farbwechseln abspielt, absolut zufällig. Ich wusste an keiner Stelle, welche Farbe die Seite schlussendlich haben würde. Nur die Abfolge der Farben hatte ich eingangs defi- Evolution im Comic | 143 niert – und auch die änderten sich stark von anfangs zehn Echt-Pantone-Tönen auf am Ende sieben CMYK-Rasterfarben. Ich hätte mir noch feinere, unmerklichere Übergänge gewünscht – heute würde ich eher eine Lösung wählen, die graduell von Seite zu Seite die Farbe um ein, zwei Prozentpunkte ändert, obwohl ich dann leider die schönen Farbschichten im Buchschnitt verlieren würde, die selbst schon wie Sedimentablagerungen wirken. Ich habe somit nur ein Farbkorsett, jedoch kein formales – das erschiene mir auch höchst unpassend, da es ja eben keinen Schöpfungsplan (sechs Tage!) gibt. Sondern Epochen und Zeitalter, die anhand bedeutender klimatischer (also im weiteren Sinne physikalischer) und in der Folge paläontologischer (also evolutionsbiologischer) Umwälzungen definiert wurden. Es gibt deshalb keine erzählerische Ordnung, dem sich die zeitlichen Abläufe unterordnen müssten, sondern eine Struktur aus sich selbst heraus, denn die geologischen Formationen, der Rhythmus der Ablagerungen (zum Beispiel Silur, Devon, Karbon, Perm usw.), diktieren von selbst deren Klassifizierung. Und genauso ging ich vor – ich ließ die Ereignisse ablaufen (in Text und Bild) und gab ihnen den Raum, den sie innerhalb des Buches brauchten. Erst dann, nach dem Abarbeiten der Seiten des aktuellen Kapitels, suchte ich einen Schlussstrich zu ziehen, um am Ende jedes Zeitalters eine kurze Zusammenfassung des soeben Miterlebten zu bieten. Einziger Wermutstropfen war gegen Ende des Buches die Knappheit an verbliebenen Seiten, die mich zwang, Tertiär und Quartär trotz der überbordenden Fülle an zu verarbeitendem Material in einem wahren Schweinsgalopp abzuhandeln, ähnlich wie später Früh- und Hochantike am Ende von »Beta«. Schlussendlich war mir das Ergebnis aber doch ganz recht, denn immerhin hatte ich diesen letzten Kapiteln für die ungeheure Kürze (im Verhältnis zur Vorgeschichte) schon extrem viel Platz geschaffen. Zum Beispiel in »Beta« der Antike ca. vierzig Seiten, der rund hundertmal so langen Altsteinzeit hingegen auch nur hundert Seiten. Aber auf solche Proportionalitäten konnte ich wirklich nur ganz marginal Rücksicht nehmen. Heydenreich C.: Die Farbgebung Ihrer Kapitel scheint, ebenso wie Ihre Titel, die uns geläufige kanonische Erdalterzeiteinteilung zu bejahen. Haben Sie an diesem Kanon der Epochenbildung im Zuge Ihrer Arbeit auch einmal gezweifelt? Sehen Sie Gründe, ihn anders zu gestalten? Harder: Die Farbgebung soll schlicht und einfach Veränderung symbolisieren. Wie schon ausgeführt, würde ich – so technisch möglich – mittlerweile eine graduelle Änderung bevorzugen. Zweifel am Kanon der Erdzeitalter ist der falsche Begriff. Warum sollte ich auch ein gängiges Instrumentarium der Geologie und Paläontologie infrage stellen? Aber zumindest gezögert habe ich einmal – und zwar bei der Anlage der 144 | Jens Harder Zeitalter Tertiär und Quartär. Denn modernere Einteilungen sprechen statt dem Tertiär von Paläogen und Neogen (offiziell seit 2004). Ich entschied mich dann aber für die Beibehaltung der traditionellen, wenn auch inhaltlich mittlerweile überholten Begriffe – vorrangig aus strukturellen, vielleicht sogar aus nostalgischen Beweggründen. Der Hickhack betreffs des Quartärs und seines exakten Beginns hingegen ging ja ohnehin noch über die gesamte Arbeitszeit an »Alpha« munter weiter. Heydenreich A.: Glauben Sie, dass es bei der Kanonisierung von Wissen Unterschiede zwischen den Natur- und den Kulturwissenschaften gibt? Harder: Nun, zumindest sind die Kulturwissenschaften etwas leichter zu überblicken, da es nur um wenige Jahrtausende geht und alle Untersuchungsgegenstände menschengemacht sind. Dieses erleichtert jeden Ansatz von Kanonisierung schon mal enorm. Nur sind die Gefahren von Instrumentalisierung und Wertung wiederum um vieles größer als in den weniger emotional agierenden Naturwissenschaften. Heydenreich A.: Dass Ihr Comic sich gegen eine teleologisch ausgerichtete lineare Erzählung ausspricht, erkennt man an der Art, wie er die Wissensordnungen mosaikartig aneinander montiert, wie sie sich gegenseitig kommentieren und infrage stellen. Das kann man unter anderem an der Seiten- und Panelarchitektur erkennen, die manchmal, wie auf der bereits erwähnten Seite 27, durch vertikale Ensembles über vier Zeilen die lineare Leserichtung stört und die Frage nach der richtigen, möglichen Leserichtung erst stellt. Ist damit metapoetisch auch die Frage danach verbunden, wie und ob überhaupt die Evolutionsgeschichte prinzipiell noch erzählt werden kann? Harder: Sie kann natürlich prinzipiell erzählt werden, nur nicht im Ganzen, nicht mal ansatzweise. Man kann aber zumindest (Quer-)Verbindungen aufzeigen, Kausalketten verdeutlichen, Entwicklungsstränge verfolgen, Innovationsschübe beleuchten, Potentiale und Tendenzen herausarbeiten. Als roter Faden galten mir dabei die zur heutigen Flora und Fauna und damit auch zu uns Menschen führenden Linien. Heydenreich C.: Im Nachwort zu »Alpha« danken Sie dem tschechischen Zeichner Zdeněk Burian, der sich intensiv mit der Paläontologie auseinandergesetzt hat. Welche künstlerischen Vorbilder sind für Sie bei der Darstellung von physikalischem Wissen wichtig gewesen? Harder: Wenige, bis auf Leonardo da Vinci – der ist nach wie vor ein Gigant (nicht nur hinsichtlich seiner unzähligen mechanischen Erfindungen und Zeichnungen, auch in Bezug auf seine Wasserforschung, die begleitet wurde von wundersamen Studien zu Wasserfällen, -fontänen und -wirbeln). Evolution im Comic | 145 Heydenreich A.: Wie schwer war es, die vielen verschiedenen losen Enden dieses Projektes in eine Form zu gießen und einen ersten Band abzuschließen? Harder: Wie soll ich bemessen, wie schwer es war? Einerseits war ich stets so Feuer und Flamme für das Projekt, dass ich es kaum erwarten konnte, weiterzuarbeiten. Und das Komponieren der neuen Seiten kam mir auch immer wie ein Spaziergang vor, ein Jonglieren mit Bezügen und Verweisen. Nur die Ausführung mit ihren tausenden und abertausenden Details in der Reinzeichnung – das war dann eher zähes Ringen mit dem Papier, eine Art zeichnerischer Marathonlauf über Monate und Jahre. Aber es war ja alles selbstgewählt und -entschieden. Deshalb habe ich immer wieder neu Schwung nehmen können, das Werk zu Ende zu bringen. Übrigens: Die Enden bleiben lose, immer. Heydenreich A. und Heydenreich C.: Vielen Dank, Herr Harder. Zum Autor Der Comiczeichner Jens Harder wird 1970 in der sorbischen Kreisstadt Weißwasser – damals Bezirk Cottbus, heute Freistaat Sachsen – geboren. Nach der Wende verlässt Harder seine Heimatstadt und zieht nach Berlin. Zunächst beschäftigt sich Harder mit Typographie, Graphikdesign, Fotografie. Erst in der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre – er studiert mittlerweile an der Kunsthochschule BerlinWeißensee – fängt er an, Comics für sich zu entdecken. 1999 gründet er zusammen mit Studienkollegen die Comicgruppe Monogatari, in deren Kollektivalben er in der Folgezeit veröffentlicht. Sein erstes eigenes Album bringt er 2003 in Frankreich heraus: »Leviathan«, seine Meisterschüler-Arbeit im Fach Kommunikationsdesign, eine dramatisierte Geschichte um einen Pottwal, gut 150 Seiten, außer Textstellen von Herman Melville oder Thomas Hobbes gänzlich ohne Text. 2004 erhält er dafür den Max-und-Moritz-Preis für die »beste deutschsprachige Comic-Publikation«. Ein Preis, mit dem er 2010 – unter anderem – noch einmal ausgezeichnet werden wird. Diesmal für »Alpha . . . directions«, den Auftakt einer auf vier Bände angelegten Evolutionsgeschichte. Fünf Jahre hat Harder allein am ersten Band »Alpha« gearbeitet, noch einmal vier weitere Jahre am zweiten Teil, »Beta . . . civilisations. Volume I«, der 2014 erscheint. Zitierte Literatur Alpha . . . directions. Hamburg: Carlsen, 2010 • Beta . . . civilisations. Volume 1. Hamburg: Carlsen, 2014 • Leviathan. Angoulême: Éditions de’l An 2, 2003. Das Interview mit Jens Harder wurde per E-Mail geführt. Die Fragen stellten die Literaturwissenschaftler Aura und Clemens Heydenreich.