Papst Franziskus, die Exegese und die Zukunft der Kirche
Joachim Kügler
Einleitung – Die Last der Vergangenheit
Die Exegese nimmt eigentlich nur sehr selten zu Päpsten und deren Äußerungen Stellung
und wenn doch einmal, dann meist in der Haltung beißender Kritik oder kalter Distanz. Das
darf nicht überraschen, denn unsere theologische Disziplin wurde ja von den römischen
Autoritäten lange Zeit regelrecht verfolgt, weil ihre Ergebnisse so gar nicht in das
restaurative Arbeitsprogramm Roms passen wollten.
Bis ins 20. Jahrhundert hinein hat die oberste Kirchenleitung in Rom die historisch-kritische
Exegese erbittert bekämpft. Besonders seit Ende des 19. Jahrhunderts standen die Exegeten
(damals wirklich nur Männer) unter strengster Kuratel des römischen Lehramts, das sich
zum Bruch mit der Moderne entschlossen hatte und deshalb die historisch-kritischen
Methoden, die Glauben und Vernunft zu vermitteln suchten,1 als „modernistisch“
verketzerte. Dies führte dann auch zur Gründung der päpstlichen Bibelkommission durch
Papst Leo XIII. im Jahr 1902, der mit dieser Spezialabteilung der Inquisition deren schärfste
Waffe schuf. Effektiv wurden in den folgenden Jahrzehnten historisch-kritisch arbeitende
Exegeten unter Druck gesetzt, zum Schweigen gebracht oder zur Lehre wider besseres
Wissen genötigt. Etliche Gelehrte wie etwa Alfred Loisy hat man so ganz zum Bruch mit der
Kirche getrieben. Erst 1943 läutete Papst Pius XII. mit seiner Enzyklika Divino afflante Spiritu2
eine Wende ein. Ohne den Antimodernismus offiziell zu beenden, stellte der wohl
intellektuellste unter den Pius-Päpsten in seinem Rundschreiben klar, dass es in der Bibel
verschiedene Gattungen mit unterschiedlichen Formen des Wahrheitsanspruches gibt.
Darauf und auf die kulturellen Rahmenbedingungen, so lehrte er, habe die Auslegung
Rücksicht zu nehmen. Damit war – nolens volens – der Grund gelegt für eine Exegese, die
mit den Methoden der Geschichts- und Literaturwissenschaft arbeitet.
Diese vorsichtige Hinwendung zur Moderne wurde dann vom Zweiten Vatikanischen Konzil
(11. Oktober 1962 bis zum 8. Dezember 1965) mit der Dogmatischen Konstitution über die
Göttliche Offenbarung „Dei Verbum“3 weitergeführt. Dei Verbum versteht die Exegese als
Grundlagenarbeit für die kirchliche Verkündigung. Sie ist „wissenschaftliche Vorarbeit“, auf
deren Basis „das Urteil der Kirche reift“ (DV 12). Damit schreibt das Konzil der
Bibelwissenschaft eine mächtige Mittlerrolle zwischen Bibel und Verkündigung zu. Zugleich
werden der Macht der Exegese aber auch Grenzen gesetzt. Was letztlich für den Glauben
der Kirche gelten soll, entscheidet nicht die Exegese, sondern die Kirche. In der Praxis
verstand man das nach dem Konzil so wie vorher, nämlich dass die Exegese dem Lehramt
unterworfen ist. Auffälligerweise spricht DV 12 aber gar nicht vom Lehramt, sondern
allgemein von der Kirche, und zur Kirche gehören ja bekanntlich nicht nur die
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Kügler, Papst Franziskus, die Exegese und die Zukunft der Kirche
Glaubenshüter, sondern alle Christusgläubigen, sogar diejenigen, die professionell Exegese
treiben.
Die Zeit direkt nach dem Konzil war für die Bibel im kirchlichen Leben eine Zeit der freudigen
Neuentdeckung. Es war sicher auch eine gute Zeit für die Exegese. Die katholische Exegese
nutzte die neue Freiheit und machte in kürzester Zeit enorme wissenschaftliche Fortschritte,
die auch außerhalb der katholischen Kirche anerkannt wurden. Große Gestalten wie die
Neutestamentler Rudolf Schnackenburg und Anton Vögtle oder die Alttestamentler Alfons
Deissler und Herbert Haag verschafften der katholischen Bibelwissenschaft internationales
Renommee. Ihre Ergebnisse wurden nun auch von der evangelischen Exegese
wahrgenommen und ernst genommen. So erfolgreich die Exegese in wissenschaftlicher
Hinsicht aber auch war, es ist ihr doch kaum gelungen, im Sinne von DV 12 „Vorarbeit“ für
die kirchliche Lehre zu sein. Das lag überwiegend am steigenden Unbehagen, das die
oberste Kirchenleitung gegenüber den Nachwirkungen des Konzils empfand. Karl Rahner
und andere sprachen bald von einer „winterlichen Kirche“, und der Wintereinbruch blieb
auch nicht ohne Folgen für den „Bibel-Frühling“. Die exegetischen Ergebnisse passten nicht
recht zu den Restaurationsbemühungen, die sich in Rom immer mehr durchsetzten. Anders
als früher ging man freilich kaum noch den Weg von Zensur und Strafe. Stattdessen
gewährte man der Exegese über weite Strecken so etwas wie „Narrenfreiheit“. Das führte
einerseits dazu, dass Exeget_innen nur in seltenen Fällen gemaßregelt wurden, aber
andererseits wurden exegetische Ergebnisse fast durchgängig ignoriert. Das zeigen etwa der
„Katechismus der Katholischen Kirche“ von 1992 und viele ähnliche römische Dokumente.
Insgesamt steht also die praktische Umsetzung der Lehre von Dei Verbum nach 50 Jahren
noch aus. Ob das römische Lehramt es noch wagen wird, sich auf die wissenschaftliche
Exegese (als Kind der oft verteufelten Aufklärung) einzulassen, kann man nicht sagen. Es gibt
(nicht erst seit Papst Franziskus) gewisse Hoffnungszeichen, aber ausgemacht ist es nicht.
Zu den Hoffnungszeichen gehört sicher das Dokument über Die Interpretation der Bibel in
der Kirche (1993), das in großer Breite verschiedenste Zugänge zur Bibel anerkennt, auch
feministische und kontextuelle Exegese. Die von Papst Johannes Paul II. bestätigte Botschaft
des Dokuments, dass eine fundamentalistische Exegese der einzige Zugang zur Bibel ist, der
kirchlicherseits nicht erlaubt ist, ist wichtig und erfreulich, hat aber leider keine erkennbaren
Folgen für den Bibelgebrauch in römischen Verlautbarungen. Auch nach diesem schönen
Bekenntnis bleibt es dabei, dass Rom sich dann, wenn es das für wichtig und richtig hält,
seine Exegese selbst macht, und zwar ganz ohne störende bibelwissenschaftliche
„Vorarbeit“. Als Konflikte mit hohem Symbolwert sind hier etwa Frauenordination und
Zölibatsgesetz zu nennen, bei denen es letztlich um nicht weniger geht als um die religiöse
Bedeutung der Frau (bzw. des Weiblichen) und der menschlichen Sexualität. Hier zeigt Rom
seit Jahrzehnten einen Willen zur Macht, der weder dem Glaubenssinn des Gottesvolkes,
noch den Notwendigkeiten der Pastoral noch der Exegese irgendeine lehramtliche
Bedeutung zugesteht.
Unter Benedikt XVI. hat sich das weitgehende Ignorieren der durch DV angestoßenen
Veränderung dann sogar noch einmal verschärft. Das zeigt sich zum Beispiel in der Tatsache,
dass der Papst meint, die Bibelwissenschaft dadurch überflüssig machen zu sollen, dass er
ihre Arbeit selbst erledigt. Inhaltlich ist sein dreibändiges Werk über Jesus von Nazareth
zudem der Versuch, eine „kirchliche“ Exegese wieder zu beleben, die sich durch absolute
doktrinäre Gewissheit gegen den Text imprägniert. Für solche Arbeit an der JesusGeschichte ist es letztlich nicht entscheidend, was dasteht. Wichtig ist zu wissen, was
dastehen sollte.
2
Diese Art der Bibelbenutzung entspricht der exegese-kritischen Haltung, die Ratzinger schon
als oberster Glaubenshüter zeigte. Ein Schlüsseltext ist hier die Rede über Die Beziehung
zwischen Lehramt der Kirche und Exegese, die Ratzinger zum hundertjährigen Bestehen der
Päpstlichen Bibelkommission gehalten hat. An entscheidender Stelle heißt es:
„Die Meinung, der Glaube wisse als solcher überhaupt nichts von geschichtlichen Fakten
und müsse dies ganz den Historikern überlassen, ist Gnostizismus: Sie [scil. die
Meinung!] entleiblicht den Glauben und macht ihn zur bloßen Idee. Aber für den
Glauben, der aus der Bibel kommt, ist gerade der Realismus des Geschehenseins von
innen her konstitutiv. Ein Gott, der nicht in die Geschichte eingreifen und sich nicht in
ihr zeigen kann, ist nicht der Gott der Bibel. Daher ist die Realität der Geburt Jesu aus
der Jungfrau Maria, die wirkliche Einsetzung des Letzten Abendmahles durch Jesus,
seine leibliche Auferstehung von den Toten – das heißt das Leersein des Grabes – ein
Element des Glaubens als solches, das er gegen vermeintliche bessere historische
Erkenntnis verteidigen darf und muß.“4
Hier ist (und vielleicht nicht ganz ohne Absicht) alles schief geraten, was schief geraten kann:
〉
Mit dem Schlagwort „Gnostizismus“ bezieht sich Ratzinger auf eine Religionsform,
die Theologie und Kirche einhellig ablehnen. Aber er verwendet den Begriff neu,
denn üblicherweise bezeichnet das Wort eine religiöse Haltung, die sich von der
Geschichte und der irdisch-materiellen Welt abkoppelt und Erlösung als etwas rein
Geistiges denkt. Ratzinger dagegen brandmarkt damit jene, die seine spezielle
Theorie, dass der Glaube eine Form des historischen Wissens sei, ablehnen. Bei ihm
werden also jene als Gnostiker etikettiert, die meinen, dass die Vergangenheit sich
nicht nach dem Glauben der Nachgeborenen richtet und man deshalb historische
Fakten der historischen Arbeit überlassen soll und nicht dem vermeintlichen Wissen
„des Glaubens“.
〉
Dass sich der Gott der Bibel in der Geschichte zeigt, stimmt selbstverständlich, aber
das begründet die Folgerung nicht, die Ratzinger zieht. Die Geschichtsmächtigkeit
Gottes muss sich nicht notwendigerweise in Jungfrauengeburt, Einsetzung der
Eucharistie und leerem Grab manifestieren. Sie könnte sich auch darin zeigen, dass
Jesus über das Wasser geht, ohne zu wissen, wo die Steine liegen.5
〉
Die Realität der Geburt Jesu aus einer vor, während und nach der Geburt – so die
dogmatische Tradition! – jungfräulichen Mutter kann aufgrund des Analogie-Rasters
ebenso wenig eine historische Realität sein wie die einer physischen Auferstehung,
die das Grab leert. Über die Wirklichkeit und Wahrheit solcher Glaubensgegenstände
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Kügler, Papst Franziskus, die Exegese und die Zukunft der Kirche
ist damit noch nichts gesagt. Auf welcher Ebene aber diese Wirklichkeit liegt, ist eine
Frage dogmatischer Klärung und nicht historischer Forschung.
〉
Die Gleichsetzung von leerem Grab und leiblicher Auferstehung ist von den
biblischen Quellen her Unsinn. Weder kann das leere Grab den Osterglauben
begründen (vgl. Mt 27,62 ff. und 28,12 ff.), noch erfordert der Glaube an die
Auferweckung Jesu notwendigerweise das leere Grab, da leibliche Auferweckung
nicht mit der physischen Wiederbelebung des Körpers zu verwechseln ist. Gerade in
der ältesten Ostertradition geht es nicht um eine Rückkehr des Toten in unsere Welt,
sondern um seine Befreiung aus der Totenwelt und Erhöhung zum Himmelsthron als
messianischer Gottessohn (vgl. z.B. Röm 1,4).6
〉
Die Frage, was Jesus im Abendmahlsaal gesagt oder getan hat, ist prinzipiell eine
historische Frage.7 Was das, was Jesus getan hat, bedeutet, ist dagegen die ureigene
Frage des Glaubens, die historisch nicht zu beantworten ist.
〉
Glaube und historisches Fragen dürfen sich immer (und auch ohne jede kirchliche
Erlaubnis) gegen „vermeintliche“ historische Ergebnisse zur Wehr setzen. Ob eine
historische Erkenntnis aber eine bloß vermeintliche oder eine stichhaltige ist, das
kann nur die historische Diskussion entscheiden und nicht „der Glaube“, es sei denn,
er wollte sich zum religiösen Vorurteil herabwürdigen.
Insgesamt ist diese Rede ein treffendes Beispiel für die kirchlichen Rahmenbedingungen,
welche die katholische Exegese über viele Jahrzehnte hinweg beeinflusst und hinsichtlich
ihrer Kirchenbindung schwer deformiert haben. Das „ungeliebte Kind“ antwortete
seinerseits mit heftigem Liebesentzug, der sich oft nicht nur gegen Rom richtete, sondern
auch gegen die Dogmatik oder die Theologie insgesamt. So konnte ein exegetischer
Doktorand in den 80er Jahren von seinem Doktorvater hören: „Lesen Sie keine Theologie!
Das verklebt nur das Gehirn.“ Je weniger es gelang, Einfluss auf die kirchliche Entwicklung zu
nehmen, desto mehr beschränkte man sich auf die Binnenwelt der Wissenschaft, wo man
Anerkennung und Bestätigung finden konnte, international und interkonfessionell.
Insgesamt ähnelte also das Verhältnis zwischen Exegese und Rom in den letzten Jahrzehnten
dem Kalten Krieg eines alten Paares, das die Liebe ebenso hinter sich gelassen hat wie den
Hass. Man schlägt sich nicht mehr, weil man sich einfach nicht mehr wahrnimmt.
Wird mit Franziskus jetzt alles anders?
Nun scheint aber mit Papst Franziskus ein Neuanfang möglich – vielleicht gerade deshalb,
weil er sich im Unterschied zu seinem glücklosen Vorgänger nicht für den besseren Exegeten
hält. Wichtiger ist aber eine grundsätzliche Orientierung der Zukunftsgestaltung an den
Anfängen, die der historischen Ausrichtung der Exegese sehr entgegenkommt.
„Für mich ist die entscheidende Revolution zurück zu den Wurzeln, sie anzuerkennen
und zu schauen, was diese Wurzeln uns heute zu sagen haben. Es gibt keinen
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Widerspruch zwischen revolutionär und zurück zu den Wurzeln. Vielmehr glaube ich,
dass echte Veränderungen nur durch Identität möglich werden.“8
Zwar ist die Formulierung „zurück zu den Wurzeln“ durchaus unspezifisch und muss nicht
einfach die biblischen Texte meinen, aber gerade in dieser Offenheit eröffnet sie einen
Spielraum für die Bibelwissenschaft, die sich zwar vorrangig als Textinterpretation versteht,
darüber hinaus aber auch immer hinter die Texte zurückfragt nach Ereignissen und
Kontexte, denen diese Texte ihre Entstehung verdanken. Diese Rückfrage, so unbequem
ihre Ergebnisse manchmal sein mögen, ist ja nichts anderes als die historische Spielart der
Unterscheidung von Offenbarungsereignis und Offenbarungszeugnis.9 Spannend für den
Exegeten ist auch die Verbindung von Ursprung und Identität, denn sie ist geeignet, einer
neokonservativen Identitätsbildung durch Abgrenzung von anderen Kirchen und Religionen
das Wasser abzugraben. Wenn die Identität der Kirche von ihrem Ursprung herrührt, also
letztlich von dem, was Gott in der Geschichte Israels und dem Wirken Jesu an den
Menschen tut, dann bleibt kein Raum für eine Absolutsetzung der Kirchenstruktur des
19. Jahrhunderts in neobarocker Ästhetik.
Außerdem formuliert Franziskus in seiner programmatischen Enzyklika Evangelii Gaudium
(„Die Freude der Frohbotschaft“) einige Perspektiven für die Neugestaltung der Kirche, die
in Ansatz und Ausrichtung den exegetischen Ergebnissen deutlich mehr entsprechen als
alles, was man bisher aus Rom zu hören bekam. Und er redet dabei nicht als dogmatischer
Supermann, der alles weiß und alles kann, sondern als ein nachdenklicher Kirchenlehrer, der
Vorschläge macht, Impulse gibt und zum Dialog auffordert.
Eine solche Einladung anzunehmen, fällt leichter, und wo dies geschieht,10 zeigt sich, dass
die katholische Bibelwissenschaft – quasi in „vorauseilendem Gehorsam“ – schon vor einiger
Zeit die Anliegen des Papstes vorwegnahm und nun den Papst in vielem unterstützen kann.
Dabei wird deutlich, dass die Bibelwissenschaftler_innen in ihren Ergebnissen und ihren
Schlussfolgerungen immer wieder über die Aussagen des Papstes hinausgehen. Da ist die
Exegese immer noch eher in der Rolle der drängelnden Wegbegleiterin, die dazu einlädt, die
nächsten Schritte zum gemeinsamen Ziel doch schneller zu gehen. Nur zwei der
Diskussionspunkte, bei denen eine Lösung überfällig ist, sollen im Folgenden skizziert
werden, nämlich die Frage nach der kirchlichen Rolle von Frauen und der Frage des
Klerikalismus.
Bei anderen Themen ist es dann aber eher umgekehrt. Der Papst ist uns voraus und
provoziert, vor allem beim Thema Armut, eine radikale Neuorientierung der
Bibelwissenschaft. Diese Provokation zu einer Option für die Armen sollte die Exegese mutig
aufnehmen, denn sie führt sie näher zur biblischen Botschaft hin und stellt gerade keinen
Eingriff in ihre wissenschaftliche Arbeit dar. Wissenschaft nämlich, die ihre Option offenlegt
und bearbeitet, ist weit wissenschaftlicher als eine, welche die Optionen, die sie faktisch
hat, leugnet und dem Götzen scheinbarer Objektivität huldigt, während sie sich von den
Optionen Karriere, Geld und Macht zur Hure machen lässt.
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Kügler, Papst Franziskus, die Exegese und die Zukunft der Kirche
Wie am Anfang so in Zukunft: Kirche ohne Frauenfeindlichkeit
Das Problem der mangelnden Geschlechtergerechtigkeit in der Kirche ist sattsam bekannt.
Wie die Kirche dieses Problem, das nicht nur für ihr Überleben als Institution, sondern für
ihr Leben als Kirche existentiell ist, lösen will, ist auch unter Papst Franziskus noch nicht
abzusehen.
Interessant ist allerdings, dass sich bei ihm ein neues Verständnis von Tradition als lebendige
Weitergabe des Glaubens andeutet. Was dieses Verständnis der Tradition angeht, so
schreibt Papst Franziskus sehr klar, dass es viele Dinge gibt, die eventuell früher ihren Sinn
hatten, jetzt aber die Verkündigung des Evangeliums behindern:
„In ihrem bewährten Unterscheidungsvermögen kann die Kirche auch dazu gelangen,
eigene, nicht direkt mit dem Kern des Evangeliums verbundene, zum Teil tief in der
Geschichte verwurzelte Bräuche zu erkennen, die heute nicht mehr in derselben Weise
interpretiert werden und deren Botschaft gewöhnlich nicht entsprechend
wahrgenommen wird. Sie mögen schön sein, leisten jedoch jetzt nicht denselben Dienst
im Hinblick auf die Weitergabe des Evangeliums. Haben wir keine Angst, sie zu
revidieren! In gleicher Weise gibt es kirchliche Normen oder Vorschriften, die zu
anderen Zeiten sehr wirksam gewesen sein mögen, aber nicht mehr die gleiche
erzieherische Kraft als Richtlinien des Lebens besitzen. Der heilige Thomas von Aquin
betonte, dass die Vorschriften, die dem Volk Gottes von Christus und den Aposteln
gegeben wurden, » ganz wenige « sind. Indem er den heiligen Augustinus zitierte,
schrieb er, dass die von der Kirche später hinzugefügten Vorschriften mit Maß
einzufordern sind, » um den Gläubigen das Leben nicht schwer zu machen « und unsere
Religion nicht in eine Sklaverei zu verwandeln, während » die Barmherzigkeit Gottes
wollte, dass sie frei sei «. Diese Warnung, die vor einigen Jahrhunderten gegeben
wurde, besitzt eine erschreckende Aktualität. Sie müsste eines der Kriterien sein, die in
Betracht zu ziehen sind, wenn über eine Reform der Kirche und ihrer Verkündigung
nachgedacht wird, die wirklich erlaubt, alle zu erreichen. (EG 43/ fett JK)
Dass der Papst die Meinung, Frauen seien aufgrund ihres Geschlechts unfähig zur
priesterlich-sakramentalen Vergegenwärtigung Christi, nicht zu diesen notwendigen
Korrekturen zählt, liegt wohl vor allem darin, dass er dieser Überlieferung die Autorität einer
bindenden Tradition zubilligt. Wenn man freilich die apostolische Zeit der ersten
Christengeneration in Blick nimmt, dann kommt man eher zu der Einschätzung, dass es sich
bei diesem Brauch um einen lang anhaltenden Fehler handelt, der die Kirche vom
Evangelium Jesu Christi weggeführt hat. Die apostolische Zeit, die sonst gerne als normative
Epoche herangezogen wird, ist ja durch eine genderneutrale Kirchenstruktur geprägt, in der
alle alles tun können, wozu sie der Geist begabt hat. Begabung11 ist das einzige Kriterium für
die Übernahme einer bestimmten Funktion in der Kirche, nicht Geschlecht, Herkunft oder
sozialer Status. Deswegen gibt es Prophetinnen, Apostelinnen, und Diakoninnen, und die
römische Gemeinde wird in der apostolischen Zeit von einem Frauenkollegium geleitet, das
wohl überwiegend aus Sklavinnen bestand.12 Dass es keine Priesterinnen gab, liegt einzig
daran, dass es auch (noch) keine Priester gab. Auf der Basis dieser – nicht mehr ganz
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neuen13 – exegetischen Einsichten kann man dann auch hier nur dazu aufrufen, angstfrei
das Richtige zu tun, und zwar schnell.
Ein anderer Aspekt bezieht sich auf das Verständnis der Taufgnade, die Franziskus stark von
der Amtsgnade trennt, um einerseits den Ausschluss der Frauen von der Ordination zu
verteidigen und gleichzeitig allen Getauften unabhängig vom Geschlecht die gleiche Würde
zuweisen zu können (vgl. EG 104). Diese im Wesentlichen von Johannes Paul II.
übernommene Argumentation übersieht freilich den grundlegenden Charakter der
Taufgnade, die jeder kirchlichen Strukturbildung vorausgeht und also diese bestimmt. Eine
Trennung leugnet entweder die Wirksamkeit von Erlösung und Taufe („Alle Getauften sind
gleich, aber das darf sich nicht auf die Geschlechterunterschiede im Amt auswirken!“) oder
sie trennt das Weiheamt von der Erlösung und behauptet eine zusätzliche, unabhängige
„Einsetzung“ durch Jesus. Eine solche ist bekanntlich historisch nicht nachweisbar und
theologisch mehr als fragwürdig, da ja das Amt der Kirche weder logisch noch zeitlich
vorausgehen kann. Losgelöst vom grundlegenden Erlösungssakrament der Taufe hinge das
Weiheamt daher völlig in der Luft und könnte konsequenterweise auch Männern nicht
gespendet werden.
Natürlich könnte man der Meinung sein, dass auch die Abschaffung der Weihe ein Weg
wäre, um Geschlechtergerechtigkeit in der Kirche zu erreichen, aber es bleibt doch zu
hoffen, dass sich Klerikalismus und Frauenfeindlichkeit auch anders beheben lassen. Paulus
und das ihm vorausgehende Glaubensbekenntnis der Kirche, das er in Gal 3,26-28
voraussetzt, sehen Taufe und Erlösung jedenfalls als die grundlegende Umgestaltung aller
Glaubenden an, die zu einer geschlechtsneutralen Kirchenstruktur führen muss. Weil alle
Getauften in Christus transformiert werden, sind auch Frauen „Söhne Gottes“ und damit
den Männern in jeder Weise gleichberechtigt. Sie sind erbberechtigte Kinder Abrahams und
können aufgrund ihrer Hineinverwandlung in den Leib Christi, Christus personal
repräsentieren.14 Wer dagegen behauptet, Frauen könnten aufgrund ihres Geschlechts
Christus im Sakrament nicht repräsentieren, dem würde Paulus sagen, dass er die Erlösung
leugnet und die Biologie wichtiger nimmt als das, was in der Taufe geschieht. Für Paulus ist
die entscheidende Realität nämlich gerade nicht das biologische Geschlecht, sondern das
Erlösungsgeschlecht. Da er Erlösung als In-Christus-Sein begreift, können (und sollen) alle
Glaubenden „in persona Christi“ handeln. Dieses Handeln umfasst die gesamte Existenz des
Menschen, nicht nur das sakramentale Tun, aber dieses gewiss auch. Deswegen liegt Paulus
weder bei der Taufe noch beim Herrenmahl, noch bei Lehre oder Prophetie etwas am
biologischen Geschlecht. Es geht dem Apostel nicht darum, die Glaubenden zu
geschlechtsneutralen Wesen zu machen, aber die in der patriarchalen Gesellschaft aus dem
Geschlecht resultierende Hierarchie wird aufgelöst und das biologische Geschlecht insofern
in seiner kirchlichen Bedeutung radikal neutralisiert. In der Kirche das biologische
Geschlecht wichtiger zu nehmen als das Erlösungsgeschlecht, wäre für Paulus nicht weniger
als die Selbstaufgabe der christlichen Erlösungsbotschaft. Wenn die Erlösung, die alle zu
„Söhnen Gottes“ macht, nicht einmal in entsprechenden kirchlichen Strukturen wirksam
wird, dann kann sie erst recht nicht in der Welt wirksam werden. Dann wäre Erlösung reine
Fiktion. Nicht Gnade, sondern nur Fata Morgana der Gnade.
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Kügler, Papst Franziskus, die Exegese und die Zukunft der Kirche
Aus dieser Zwickmühle kommt die Kirche auch nicht dadurch heraus, dass man den Frauen
einen breiten Zugang zu den Macht-Orten der Kirche, „an den verschiedenen Stellen, wo die
wichtigen Entscheidungen getroffen werden“ (EG 103), einräumen will. Eine solche
Trennung von Leitungsmacht und Sakramentenspendung ist theologisch höchst bedenklich.
Da nämlich der einzige Sinn der Kirche darin besteht, Sakrament der Menschenliebe Gottes
zu sein, darf es letztlich keine Macht in der Kirche geben, die vom sakramentalen Leben
getrennt ist, da das gesamte pastorale Handeln sakramentalen Charakter hat. Ohne
Amtsgnade kann es letztlich weder Macht noch Vollmacht in der Kirche geben. Die antike
Kirche hat dies dadurch ausgedrückt, dass sie alle Machtpositionen, die sie benötigte, bis hin
zum Türsteher, mit der Ordination ausgestattet hat. Das moderne Zusammenstreichen des
Weihesakraments auf das Amt von Diakon, Priester und Bischof muss daher als äußerst
bedenklich erscheinen und dürfte eine ungesunde Anpassung an die Verwaltungsideologie
des 19. Jahrhunderts sein.
Vermutlich braucht die Kirche der Zukunft wieder eine Ausweitung des Weihesakraments.
Im Moment mag es abwegig erscheinen, alle Männer und Frauen, die eine Funktion in der
Kirche haben, zu ordinieren. Wenn aber alle, die in und für die Kirche handeln, an Christi
statt handeln, weil die Kirche der Leib Christi ist, dann brauchen auch alle dazu den Segen
Christi und müssten letztlich in irgendeiner Form ordiniert werden, von der Ministrantin
über den Lektor bis zur Bischöfin. Auch durch eine solche Ausweitung der Ordination ließe
sich die klerikalistische Trennung von Klerus und Laien (siehe unten) bekämpfen.
Die Trennung von Macht und sakramentaler Vollmacht, die Papst Franziskus von seinen
Vorgängern übernimmt, um den Ausschluss der Frauen vom Weiheamt zu retten, ist aber
auch ganz unrealistisch. Notfalls könnte man sich einen völlig machtlosen männlichen
Sakramentenspender auf der untersten Ebene der Pastoral ja noch denken, aber spätestens
bei Bischof und Papst stellt sich die Frage, ob es einen Hirten geben kann, der nur
sakramental vergegenwärtigt, aber keinerlei Leitungsmacht hat. Der Gedanke, gerade den
Männern, also den (immer noch) Mächtigen in der Welt, in der Kirche als
Kontrastgesellschaft ein völlig machtloses Amt vorzubehalten, ist überaus apart. Aber leider
funktioniert er in der Wirklichkeit katholischer Ämtertradition nicht, außer man wäre bereit,
diese Tradition grundlegend umzugestalten. Für eine solche Bereitschaft gibt es aber
gegenwärtig keinerlei Anzeichen.
Das Problem des Klerikalismus
„Die Laien sind schlicht die riesige Mehrheit des Gottesvolkes. In ihrem Dienst steht eine
Minderheit: die geweihten Amtsträger. Das Bewusstsein der Identität und des Auftrags
der Laien in der Kirche ist gewachsen. Wir verfügen über ein zahlenmäßig starkes, wenn
auch nicht ausreichendes Laientum mit einem verwurzelten Gemeinschaftssinn und
einer großen Treue zum Einsatz in der Nächstenliebe, der Katechese, der Feier des
Glaubens. Doch die Bewusstwerdung der Verantwortung der Laien, die aus der Taufe
und der Firmung hervorgeht, zeigt sich nicht überall in gleicher Weise. In einigen Fällen,
weil sie nicht ausgebildet sind, um wichtige Verantwortungen zu übernehmen, in
anderen Fällen, weil sie in ihren Teilkirchen aufgrund eines übertriebenen Klerikalismus,
der sie nicht in die Entscheidungen einbezieht, keinen Raum gefunden haben, um sich
ausdrücken und handeln zu können. Auch wenn eine größere Teilnahme vieler an den
Laiendiensten zu beobachten ist, wirkt sich dieser Einsatz nicht im Eindringen
christlicher Werte in die soziale, politische und wirtschaftliche Welt aus. Er beschränkt
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sich vielmals auf innerkirchliche Aufgaben ohne ein wirkliches Engagement für die
Anwendung des Evangeliums zur Verwandlung der Gesellschaft. Die Bildung der Laien
und die Evangelisierung der beruflichen und intellektuellen Klassen stellen eine
bedeutende pastorale Herausforderung dar.“ (EG 102)
Papst Franziskus findet eindringliche Worte, um die Bedeutung der Laien in der Kirche
hervorzuheben. Immer wieder spricht er in seiner Enzyklika von der Berufung aller
Glaubenden, als Volk Gottes zu leben und zu wirken. Und an der zitierten Stelle kritisiert er
einen überbordenden Klerikalismus, der den Glaubenden nicht hilft, ihre Berufung zu
entdecken, sondern dieser Berufung hinderlich ist. Der Papst sieht also ganz realistisch, dass
es in der Kirche Strukturen gibt, die dem Evangelium nicht dienen, sondern als sündhafte
Fehlentwicklungen dem Wesen der Kirche als Heilssakrament entgegenstehen.
Solchen Überlegungen entsprechend muss man die grundsätzliche religionsgeschichtliche
Frage nach Sinn und Zweck des Klerus stellen und an die klerusfreien Anfänge der
christlichen Kirche erinnern.15
Im Hintergrund steht dabei zum einen die Frage, welche Strukturen heute nötig sind, um für
eine christliche Existenz hilfreich zu sein. Die apostolische Zeit gibt uns da jede Freiheit der
Gestaltung. Die Norm, die aus den ersten Kirchenkonzepten und Kirchenwirklichkeiten, die
uns die neutestamentlichen Texte bezeugen, ableiten können, ist im Grunde nur eine: Die
kirchlichen Strukturen müssen dem Auftrag der Kirchen entsprechen und sollen so gestaltet
sein, dass sie eine entsprechende Pastoral fördern und nicht behindern. Dabei sind zwei
Aspekte zentral: einerseits eine grundsätzliche Distanz zu patriarchalem Klerikalismus,
andererseits ein Bemühen um adäquate Strukturen.
Klerikalismus ist in der apostolischen Zeit etwas, was mit den Kulten der Heiden verbunden
ist, die als Ausdruck und religiöse Überhöhung einer patriarchalen Gesellschaftsstruktur
fungieren. Deshalb hält sich das frühe Christentum von priesterlichen Konzepten lange fern
und konzipiert die Heiligkeit aller Glaubenden als entscheidende Abgrenzung zur
Unheiligkeit der (noch) unerlösten Welt. In Analogie zur traditionellen Tempelkonzeption
markiert die „neue Schöpfung“ der Gemeinde die entscheidende Grenze zwischen Heiligem
und Profanem. Deshalb erübrigt es sich, innerhalb des Gottesvolkes eine solche Grenze zu
ziehen. Eine Kirchenstruktur, die die grundsätzliche Heiligkeit der Getauften ernst nimmt,
muss also darauf verzichten, die notwendigen Ämter und Funktionen in der Kirche, mit der
Differenz von Heiligem und Profanem, von Priestern und Laien zu unterlegen. Hier ist ein
ganz neuer Entwurf kirchlicher Strukturen gefragt, der sowohl dem apostolischen Vorbild als
auch den Erfordernissen der heutigen Zeit entspricht.
Angesichts der grundlegend freiheitlich-demokratischen Prägung der meisten Christ_innen,
nicht nur in den westlichen Gesellschaften der Gegenwart, muss es zukünftig wohl um
Strukturen gehen, die das Selbstbestimmungs- und Mitbestimmungsrecht der Menschen
ernst nehmen. Selbstredend gibt es gerade in der Postmoderne auch das Bedürfnis, eigene
Verantwortung an Experten abzugeben. Gruppierungen wie die Pius-Bruderschaft zeigen,
dass solche Erwartungen zu einem Revival klerikalistischer Traditionen führen können. Man
muss solche Bedürfnisse einer Minderheit natürlich ernst nehmen, kann sie aber nicht zum
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Kügler, Papst Franziskus, die Exegese und die Zukunft der Kirche
Strukturmodell einer zukunftsfähigen Weltkirche machen, wie dies der glücklose Vorgänger
von Papst Franziskus ansatzweise versuchte. Man darf solchen Neoklerikalismus nicht
einmal für traditionell halten, denn er ist in seinem radikalen Selbstbehauptungswillen
etwas zutiefst Protestantisch-Modernes. Gruppierungen, die sich „bedingungslos“ dem
Papst unterwerfen, insofern dieser das eigene Konzept von Glaube und Kirche annimmt,
sind radikal postmodern und gerade keine Fortschreibung vormoderner Christlichkeit.
Deshalb sind solche Strömungen eher ein Hinweis darauf, dass heutzutage sogar die
Neoklerikalen ein ausgeprägtes Bewusstsein ihrer Selbstbestimmungs- und
Mitwirkungsrechte haben. Sie definieren genau, wie der Klerus zu sein hat, an den sie die
Verantwortung für ihr Seelenheil abgeben wollen.
Zum anderen geht es darüber hinaus inzwischen aber auch schon um die Frage wie viel
Struktur das Volk Gottes heute überhaupt noch braucht, zumal in Ländern, wo das
Evangelium die gesamte Kultur so durchdrungen hat, dass es immer weniger nötig
erscheint, gegen und unabhängig vom Staat, eine kirchliche Struktur aufzubauen, und
ansatzweise sogar ein weitgehend unkirchliches Christsein denkbar wird. Zumindest in den
frei flottierenden Christentümern afrikanischer Gesellschaften wird – unabhängig von dem
bekannten Phänomen der „Mushroom-churches“ – inzwischen auch mit hoch individuellen
Formen des Christseins experimentiert, die keine festen kirchlichen Strukturen zu brauchen
scheinen.16 In solchen Entwicklungen wird die katholische Kirche ihr Ämtermodell noch
einmal grundlegend überdenken müssen. Die oben angesprochene Ausweitung des
Weihesakraments würde ja unweigerlich zur Feststellung führen, dass man nicht jedes Amt
in der Kirche lebenslang und hauptamtlich übernehmen muss. Den fluidalen postmodernen
Biographien könnte ein solch weites Ämtermodell eine wohltuende Balance von
struktureller Verbindlichkeit und freiheitsliebender Offenheit vermitteln.
Die Kirche der Zukunft als Kirche der Armen
Wie wir gesehen haben, ist die Exegese beim Thema der evangeliumsgemäßen
Umgestaltung der Kirche auf der strukturellen Ebene dem Papst sicher noch ein paar
Schritte voraus, auch wenn er selbst dafür in seinem programmatischen Schreiben immer
wieder Impulse gibt, welche schon seit längerem entwickelte Anliegen der Exegese
aufgreifen und verstärken. Der Grundtenor des päpstlichen Erneuerungsprogramms liegt
jedoch eindeutig in der Option für die Armen. Der Papst schreibt dazu:
„Für die Kirche ist die Option für die Armen in erster Linie eine theologische Kategorie
und erst an zweiter Stelle eine kulturelle, soziologische, politische oder philosophische
Frage. Gott gewährt ihnen » seine erste Barmherzigkeit «. Diese göttliche Vorliebe hat
Konsequenzen im Glaubensleben aller Christen, die ja dazu berufen sind, so gesinnt zu
sein wie Jesus (vgl. Phil 2,5). Von ihr inspiriert, hat die Kirche eine Option für die Armen
gefällt, die zu verstehen ist als » besonderer Vorrang in der Weise, wie die christliche
Liebe ausgeübt wird; eine solche Option wird von der ganzen Tradition der Kirche
bezeugt «. Diese Option, lehrte Benedikt XVI., ist » im christologischen Glauben an jenen
Gott implizit enthalten, der für uns arm geworden ist, um uns durch seine Armut reich
zu machen «. Aus diesem Grund wünsche ich mir eine arme Kirche für die Armen. Sie
haben uns vieles zu lehren. Sie haben nicht nur Teil am sensus fidei, sondern kennen
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außerdem dank ihrer eigenen Leiden den leidenden Christus. Es ist nötig, dass wir alle
uns von ihnen evangelisieren lassen. Die neue Evangelisierung ist eine Einladung, die
heilbringende Kraft ihrer Leben zu erkennen und sie in den Mittelpunkt des Weges der
Kirche zu stellen. Wir sind aufgerufen, Christus in ihnen zu entdecken, uns zu
Wortführern ihrer Interessen zu machen, aber auch ihre Freunde zu sein, sie anzuhören,
sie zu verstehen und die geheimnisvolle Weisheit anzunehmen, die Gott uns durch sie
mitteilen will.“ (EG 198)
Diese deutliche Akzentsetzung des Papstes nötigt sicher zu dem Eingeständnis, dass die
westliche Exegese die Option für die Armen weithin erst erlernen muss und hier den
kritischen Zukunftsimpuls des Papstes nur dankbar aufnehmen kann. Dass die
Armutsthematik in den letzten Jahrzehnten exegetisch nicht ausreichend bearbeitet wurde,
hängt natürlich daran, dass die Lebenssituation von Universitätstheolog_innen in westlichen
Ländern keine große Nähe zu den Leiderfahrungen der Armen aufweist. Auch hat die
oberste Kirchenleitung mit ihrem Kampf gegen die Theologie der Befreiung nicht dazu
beigetragen, globale Lernprozesse in Theologie und Kirche anzuregen. Deswegen ist der
wesentliche Beitrag, den die westliche Exegese im Kampf gegen Armut geleistet hat, ihr
Einsatz gegen die Geringschätzung und Benachteiligung der Frauen in Gesellschaft und
Kirche. Dieser entspricht ja in gewisser Weise der Option für die Armen, denn Papst
Franziskus schreibt ganz richtig: „Doppelt arm sind die Frauen, die Situationen der
Ausschließung, der Misshandlung und der Gewalt erleiden“ – leider Gottes auch in
sündhaften Strukturen der Kirche selbst. Das dispensiert die Bibelwissenschaft natürlich
nicht davon, sich in ganz grundsätzlicher Weise mit der Armutsfrage zu befassen. Dabei geht
es nicht einfach darum, nun noch ein paar Artikel und Bücher mehr über Armut in der Bibel
zu schreiben. Es geht darum, unsere gesamte Arbeit von der Option für die Armen her zu
rekonstruieren. Daraus kann dann eine Exegese der Zukunft entstehen, die ihren Beitrag zu
einer zukunftsfähigen Kirche im Dienste der Menschheitsfamilie leisten kann. Was es dazu
braucht, ist recht einfach zu skizzieren.
Zunächst geht es tatsächlich darum, das enorme Gewicht, das die Armutsthematik in der
biblischen Tradition hat, richtig wahrzunehmen und in der exegetischen Alltagsarbeit
entsprechend abzubilden. Des Weiteren muss die Grundstruktur der jesuanischen
Armutspastoral für die exegetische Arbeit leitend sein. Diese besteht ja darin, dass den
Armen zunächst und vor allem das Selbstbewusstsein ermöglicht wird, die Lieblinge Gottes
zu sein. Deshalb stellen die Seligpreisungen das Grunddokument jeder christlichen Pastoral
dar. Sie sind weder Handlungsauftrag noch Reformrezept oder Revolutionsaufruf. Sie sind
Einladung an die Armen, sich zu verstehen als Menschen mit Zukunft, die Gott auf ihrer
Seite haben.17
Jesu Seligpreisungen der Armen und Leidenden sind Teil seiner großen Erzählung von einer
neuen Weltordnung, die er „Königsherrschaft Gottes“ nennt. Diese eröffnet die Möglichkeit
einer neuen Sicht der Dinge und des Lebens. Das gilt zunächst für die Armen selbst. Sie
sollen sich selbst begreifen als Menschen mit Zukunft. Während die alte Welt des aus dem
Ruder laufenden Kapitalismus die Armen als Abfall behandelt und ihnen sagt, dass sie
Menschen ohne Perspektive sind, ausgeschlossen von den Segnungen des Kapitals,
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Kügler, Papst Franziskus, die Exegese und die Zukunft der Kirche
machtlose Opfer einer angeblich alternativlosen Globalisierung der Märkte, lautet die neue
Botschaft Jesu: Gott steht auf eurer Seite, seine Zukunft ist eure Zukunft.
In einer Zeit, in der bei der Armutsbekämpfung so sehr auf die Ermächtigung und Stärkung
der Armen gesetzt wird,18 darf die Bedeutung der Seligpreisungen nicht unterschätzt
werden. Sie behandeln die Armen nicht als Objekte, sondern laden sie ein, sich als
Handlungsträger zu begreifen. Wo Arme sich als Lieblinge Gottes, als Menschen mit Zukunft,
verstehen, können sie anfangen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und sich und ihr
Leben anders zu entwerfen. Gerade in den religiös geprägten Gesellschaften des globalen
Südens kann die Seligpreisung der Armen dann so etwas sein wie die religiöse Variante des
empowerment, ein neues Selbstbewusstsein der Armen als geistig-geistliche Ermächtigung,
als erster und entscheidender Schritt zur Veränderung.
Wenn Arme sich nicht mehr als Objekte verstehen, dann hat das auch Konsequenzen für
uns, die Reichen. Im Vergleich mit den Armen hierzulande (und erst recht im Vergleich mit
der globalen Armut) sind die durchschnittlichen Mitglieder westlicher Kirchen keine Armen
– und Theologieprofessoren erst recht nicht. Das heißt auch, dass westliche Exeget_innen
begreifen müssen, dass ihnen die Seligpreisung der Armen nicht gilt. Jesus hat uns nicht
gemeint. Diese Erkenntnis mag wehtun, aber sie ist heilsam. Nicht die Armen sind von Gott
abgeschnitten, sondern wir, die Reichen. Wenn wir trotzdem mit Gott in Kontakt kommen
wollen, führt unser Weg zu den Armen. In unserem Lebensstil und in unseren Arbeitsformen
geht es darum, Gott dort zu finden, wo die Armen sind.
Die Option für die Armen ist keine selbstlose Menschenfreundlichkeit, sondern eine gute
Portion Heilsegoismus. Hier kommt die Matthäusfassung der Seligpreisungen zu ihrem
Recht. Auch Reiche haben eine Chance, Gott zu finden, indem sie „arm im Geiste“ werden.
Das bedeutet, ein neues Denken und Leben zu wagen, solidarisch zu werden im Teilen und
im Kampf für Gerechtigkeit. Gott bei den Armen zu finden und von ihnen die neue
Weltordnung zu lernen, hieße dann für die Exegese das reine Verstehen zu übersteigen und
die pragmatische Dimension der biblischen Tradition in aller Radikalität wahrzunehmen.19
Ziel müsste eine pastorale Rekonstruktion der Bibelwissenschaft (und der gesamten
Theologie) sein, die es dem Thema der Exegese erlaubt, die exegetischen Arbeitsformen zu
gestalten. Im afrikanischen Kontext, gibt es dafür schon Modelle, die versuchen, die Armen
als Akteure der Schriftauslegung ernst zu nehmen und von ihnen/ mit ihnen zu lernen.20
Solche Modelle können natürlich nicht einfach in eine andere Kultur verpflanzt werden, aber
von ihnen zu lernen und ihre Impulse im Westen zu inkulturieren, dürfte ein ebenso
schmerzhafter wie heilsamer Lernprozess sein, der nicht nur der Bibelwissenschaft eine
Zukunftsperspektive eröffnet, sondern Umorientierungsprozesse in Theologie und Kirche
anstößt, die lebensnotwendig sind angesichts der globalen Krisen.
Ausblick
Im Hinblick auf die Leitfrage des theologischen Forums ist aus exegetischer Sicht
festzustellen, dass mit Papst Franziskus nicht automatisch „alles“ anders wird. In vielem ist
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er der konservativen Linie seiner Vorgänger verpflichtet, vor allem was die Diskriminierung
von Frauen in der Ämtertheologie angeht. Hier bleibt die Exegese aufgefordert, ihre
kritische Rolle als „wissenschaftliche Vorarbeit“ der kirchlichen Urteilsbildung energisch
auszuüben. Sie kann dies nun allerdings auch mit größerer Freiheit und Deutlichkeit, da der
Papst sich nicht als derjenige geriert, der immer schon alles weiß, sondern in neuer
Offenheit zum Dialog einlädt. Zudem misst er den Ursprüngen der Kirche in besonderer
Weise normative Bedeutung zu, was der exegetischen Argumentation größeres Gewicht
verleiht. Dies begründet die Hoffnung, dass auch in anderen Themenfeldern die exegetische
Arbeit ernster genommen wird als dies in der Vergangenheit normalerweise der Fall war.
Dies gilt vor allem für die Frage, welche Rolle die klerikale Tradition der Kirche in der Zukunft
noch spielen kann. Hier zeigt der Papst eine große Sensibilität für die Problematik, die
förmlich nach der kritischen Solidarität der Bibelwissenschaft ruft. Die
bibelwissenschaftliche Erinnerung an die Offenheit und Kreativität der apostolischen Zeit
dürfte hier hoch willkommen sein.
Wenn es um die Option für die Armen geht, ist dagegen der Papst der Exegese, zumindest
der westlichen, um einiges voraus. Sein Wunsch nach einer Armenkirche stellt einen
Weckruf dar, der die Exegese und die gesamte Theologie zu einer pastoralen
Transformation provozieren kann. Entsprechende Konzepte gab es schon einmal direkt nach
dem Zweiten Vatikanischen Konzil, aber vielleicht sind jetzt die Chancen für ihre
Realisierung besser. Hinsichtlich der Armutsproblematik geht es um nicht mehr und nicht
weniger als darum, die Arbeitsformen der Exegese an ihr Thema anzupassen. Leitidee sind
dabei die Seligpreisungen Jesu, die dazu einladen, die Armen nicht mehr als Objekte zu
betrachten, sondern mit ihnen zu arbeiten und von ihnen zu lernen. Eine solchermaßen
erneuerte Bibelwissenschaft, kann ihren bescheidenen Beitrag leisten, damit die Kirche als
Sakrament der Menschenliebe Gottes in den Krisen von heute fungieren und damit eine
Zukunft im Gottesdienst an den Menschen gewinnen kann.
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