QUAESTIONES DISPUTATAE
Begründet von
KARL RAHNER UND HEINRICH SCHLIER
Herausgegeben von
PETER HÜNERMANN UND THOMAS SÖDING
QD 266
GOTTES WORT IN MENSCHENWORT
Die eine Bibel als Fundament der Theologie
Internationaler Marken- und Titelschutz: Editiones Herder, Basel
GOTTES WORT IN MENSCHENWORT
Die eine Bibel als Fundament der
Theologie
Herausgegeben von
Karl Kardinal Lehmann und Ralf Rothenbusch
Norbert Lohfink SJ zum 85. Geburtstag gewidmet.
®
MIX
Papier aus verantwortungsvollen Quellen
www.fsc.org
FSC® C083411
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlagkonzeption: Finken & Bumiller, Stuttgart
Umschlagmotiv: Auszug aus dem Codex Aleppo
Satz: Barbara Herrmann, Freiburg
Herstellung: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-451-02266-1
5
Inhalt
Vorwort
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Einführung der Herausgeber
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Das unvollendete Konzil
Die bleibende Bedeutung des II. Vatikanischen Konzils
für die Katholische Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Jean-Claude Périsset, Apostolischer Nuntius in Deutschland
. . .
9
11
15
Die Heilige Schrift als Zeugnis der Offenbarung
Dei Verbum – Gottes Wort – eine Botschaft des Heils für die
ganze Welt
Erste Einführung in die Dogmatische Konstitution über die
göttliche Offenbarung des Zweiten Vatikanischen Konzils . .
Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz
.
25
. . .
51
. . . . . . . . .
79
Die Bibel als Akteur
Kanon, Inspiration und Wahrheit der Heiligen Schrift in
systemtheoretischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . .
Oliver Reis/Thomas Ruster
„Quelle“ oder „Steinbruch“?
Über den Umgang der Dogmatik mit der Bibel
Peter Walter
Die Auslegung der Heiligen Schrift
Historisch-kritische und kanonische Textinterpretation – ein
feindliches Paar? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Josef Wohlmuth
.
107
Vom bleibenden Recht des Textes vergangen zu sein
Wie tief gehen die Anfragen an die historisch-kritische Exegese? 130
Christian Frevel
6
Inhalt
„Damit die Bibel nicht ein Wort der Vergangenheit bleibt“
– Historische Kritik und geistige Schriftauslegung . . . . . .
Ludger Schwienhorst-Schönberger
Die doppelte Autorschaft der Bibel nach Dei Verbum 12.
Gotteswort in Menschenwort . . . . . . . . . . . . . . . .
Thomas Hieke
. .
177
. . . .
202
Die Bedeutung der Rückfrage nach dem historischen Jesus für
die Theologie an einem Beispiel
Die Johannestaufe als Indikator für ein Sündenbewusstsein
Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224
Angelika Strotmann
Normativität und Sinnpflege in der Tora
Zur hermeneutischen und theologischen Bedeutung der
Fortschreibung biblischer Texte . . . . . . . . . . . . . . .
Ralf Rothenbusch
. . . .
255
Die eine christliche Bibel in zwei Teilen –
zum Verhältnis von Altem und Neuem Testament
„Das Neue im Alten verborgen und das Alte im Neuen
erschlossen“ (Dei Verbum 16)
Paradigma oder Herausforderung für die Frage nach dem
Verhältnis von Altem und Neuem Testament? . . . . . . .
Konrad Huber
Vom Eigenwert des Alten Testaments als Wort Gottes
Zur wechselseitigen Befruchtung der christlichen und
jüdischen Exegese des Alten Testaments . . . . . . . . .
Manfred Oeming
. . .
289
. . . . .
305
Hebraica Veritas?
Jüdische Bibelauslegung, wissenschaftliche Bibelforschung und
die alt-neue Frage nach ihrer Kommunikation . . . . . . . . . . 337
Hanna Liss
Inhalt
7
Die Heilige Schrift im Leben der Kirche
Die Kirche liest das Alte Testament in mehreren Textgestalten
und Übersetzungen
Folgen für Schriftgebrauch, Exegese und Theologie . . . . . . . 359
Adrian Schenker OP
Translatio Dei
Der christliche Glaube in und als Übersetzung
Leonhard Hell
. . . . . . . . .
Die Bibel in der Liturgie
Sondierungen zu Dei Verbum 21 am Beispiel von Dan 3
Ansgar Franz
Autorenverzeichnis
367
. . . .
381
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
394
202
Die doppelte Autorschaft der Bibel nach Dei Verbum 12.
Gotteswort in Menschenwort
Thomas Hieke
1. Einstieg
„Wort des lebendigen Gottes – muss ich das nach dieser Lesung sagen?“ Diese Frage kommt selbst bei Lektorinnen und Lektoren1, die
schon länger im Dienst sind, immer wieder auf. Bei Lektorenschulungen wird sie diskutiert, und mancher Vorsteher der Liturgie rät
bisweilen dazu, diese Rahmenformulierung, die mit der Akklamation der Mitfeiernden – „Dank sei Gott“ – verbunden ist, ersatzlos
wegzulassen. Dass damit ein grundlegender liturgie- und bibelhermeneutischer Glaubensaspekt aufgegeben, zumindest aber in Frage
gestellt wird, möchten die folgenden Ausführungen zeigen und damit nicht nur für die Beibehaltung der liturgischen Akklamation,
sondern auch für ein erneuertes Bewusstsein der Rolle der Heiligen
Schrift in der Liturgie werben. Führt man sich die „doppelte Autorschaft der Bibel“ in recht verstandener Weise vor Augen, so ist die
Rahmenformel für die Lesungen zusammen mit der Akklamation
der an der Feier tätig Teilnehmenden ein geradezu genialer Ausdruck dessen, was tatsächlich geschieht; zugleich wird deutlich, welcher Anspruch damit verbunden ist. Im Blick auf das Jubiläum der
Verabschiedung der Dogmatischen Konstitution über die göttliche
Offenbarung „Dei Verbum“ des Zweiten Vatikanischen Konzils
(1965) ist es gut, diese bibel- und liturgiehermeneutischen Überlegungen zu aktualisieren.
1
Nicht immer wird es im Folgenden möglich sein, „männliche“ und „weibliche“
Formen (Jüdinnen und Juden, Christinnen und Christen etc.) zu verwenden. Der
Text würde sonst sehr überfrachtet wirken. Grundsätzlich sind daher immer
Frauen und Männer gemeint, sofern es nicht anders angezeigt wird. „Juden“,
„Christen“, „Israeliten“ etc. bezeichnen damit keine ausschließlich männlich besetzten Gruppen.
Die doppelte Autorschaft der Bibel nach Dei Verbum 12
203
Der Ruf „Wort des lebendigen Gottes“ ist Eigengut des deutschsprachigen Messbuchs seit 19752 und lautet auf Latein schlicht „Verbum Domini“. Während die lateinische Wendung missverstanden
werden könnte (wer ist der dominus?), trifft die deutschsprachige
Wendung eine wichtige biblische Aussage über Gott und entspricht
in ihrer Theozentrik der theologischen Hauptlinie der christlichen
Bibel Alten und Neuen Testaments: „Gott und sein zugewandtes
Wirken, das ist der tragende, durchgängige Inhalt der biblischen
Überlieferung“3. Dazu ist gleich noch mehr zu sagen.
Doch zunächst ist auf einen möglicherweise latenten Vorbehalt
gegen die Formel einzugehen. Manchmal ist es der Inhalt eines Lesungstextes, der, wenn es wieder einmal menschlich, allzu menschlich in den biblischen Geschichten zugeht, Anstoß erregt („Das soll
Gottes Wort sein?“), manchmal ist es die offenkundige oder aus der
Erwachsenenbildung erfahrene Autorschaft des jeweiligen Abschnittes: Das sagt doch „nur“ der Prophet Amos! Oder: Der Brief ist gar
nicht von Paulus selbst! Nicht, dass man keinen Respekt vor den
Propheten des Alten Bundes hätte, aber – ist das gleich „Wort des
lebendigen Gottes“?4
Die bisweilen plakativ geäußerte Frage „Wer schrieb die Bibel?“
zielt allermeist auf den historischen Autor und die mögliche Entstehungszeit einzelner biblischer Texte. Die historische Neugier der
heutigen Menschen ist dabei von der Bibelwissenschaft kaum zu befriedigen.
2
S. „Die Feier der Heiligen Messe. Messbuch“, Nr. 39 (Arbeitshilfen, S. 96); ferner die Pastorale Einführung in das Messlektionar (PEM), Nr. 18 (Arbeitshilfen,
S. 197); Gotteslob (2013), S. 653f. Für diese Auskunft und eine Reihe weiterer
liturgiewissenschaftlicher Hinweise danke ich Herrn Kollegen Alexander Zerfaß.
3
Vgl. O. H. Steck, Gott in der Zeit entdecken (Biblisch-Theologische Studien
42), Neukirchen-Vluyn, 2001, 71.
4
Ein anderer Vorbehalt, der in diesem Zusammenhang nur in der Fußnote erwähnt sei, ist eine falsche Bescheidenheit des/der Vortragenden: Wer bin ich,
dass ich „Gottes Wort“ vortrage? Ich lese doch „nur einen Abschnitt aus der Bibel“ vor. Hier ist in bibelpastoraler Weise für ein größeres Selbstbewusstsein, aber
mehr noch für ein größeres Bewusstsein dessen, was man als Lektor/in eigentlich
tut, zu werben – in Schulungsmaßnahmen und in Gesprächen der hauptamtlichen Theologen und Theologinnen mit den ehrenamtlichen Laien ist dies alles
immer wieder zu thematisieren.
204
Thomas Hieke
2. Komplexe Entstehungs- und Transmissionsprozesse
Die Bibelwissenschaft im Allgemeinen und die so genannte „historisch-kritische Exegese“ im Besonderen muss dabei zunächst diagnostizieren, dass „die Bibel“ (schon dieser Begriff ist zu problematisieren!) in sehr komplexen Prozessen entstanden und
überliefert worden ist. Es ist gerade nicht so, dass beim Aufschlagen
einer „Einheitsübersetzung“ unter der Rubrik „Das Buch Amos“ sofort das Originalwort des historischen Amos zugänglich ist – und es
ist auch nicht so, dass man durch Erlernen der althebräischen Sprache und der historisch-kritischen Methoden dieses Originalwort
detailgetreu rekonstruieren könnte. Vielmehr ist es ein wertvolles Ergebnis der historischen Forschung an „der Bibel“, dass jedes biblische Buch über einen längeren Zeitraum entstanden ist, dass es neben einem – oft kaum greifbaren – „Erstautor“ eine Zahl von
Tradenten gab, die das Werk fortgeschrieben, erweitert, korrigiert
und schließlich in einen größeren Zusammenhang eingebettet haben. Es ist gut und unerlässlich, dass Menschen, die sich beruflich
mit „der Bibel“ befassen und in Katechese, Verkündigung im Gottesdienst und in der Lehre tätig sind, grundlegende Kenntnisse dieser
Entstehungs- und Überlieferungsverhältnisse besitzen und diese bei
ihrer Auslegung der Bibel berücksichtigen. Dazu gehört auch das Bewusstsein, dass „die Bibel“ als „Kanon“ ein Konzept ist, das in den
sich auf sie berufenden Religionen und Konfessionen unterschiedliche Ausprägung erfährt: Juden und Christen besitzen unterschiedliche „Bibeln“ (Kanonausprägungen), die sich im Umfang und Arrangement unterscheiden, ebenso gibt es Unterschiede zwischen den
christlichen Konfessionen. Die vielfach gemeinsamen Texte sollten
nicht die Unterschiede im Arrangement und in der Lese- und Auslegungsweise verschleiern.
Damit ist nicht nur die Entstehung der „Bibel“, sondern auch
ihre heutige Verwendungsweise (ihre Auslegung) ein komplexer
Vorgang. Was aber bedeutet es nun, wenn die Bibelwissenschaft herausfindet, dass bestimmte Teile der Bibel nicht von dem vorgeblichen historischen Autor (Mose, Amos, Paulus) stammen? Boulevardmagazine versuchen in regelmäßigen Abständen, meist zu den
Feiertagen, ihre Auflage zu steigern, indem als Sensation dargestellt
wird, dass vieles, von dem in der Bibel die Rede ist, historisch gar
nicht so stattgefunden habe und auch die Bücher nicht von denen
Die doppelte Autorschaft der Bibel nach Dei Verbum 12
205
stammen, deren Namen sie tragen. Oft sind diese Artikel durchaus
seriös recherchiert und spiegeln den Stand heutiger Palästinaarchäologie und Bibelwissenschaft wider. Das Problem daran ist nur, dass
falsche Schlussfolgerungen daraus gezogen werden, der „Wahrheitsgehalt“ der Bibel und ihre Ernsthaftigkeit insgesamt in Frage gestellt
und glaubende Menschen als „rückschrittlich“ oder gar fundamentalistisch eingestuft werden.
Das funktioniert deswegen immer noch so gut, weil sich im Zuge
der Herausbildung der Moderne in den christlichen Kirchen, vor allem der katholischen, eine hermeneutische Sackgasse aufgetan hat,
die mittlerweile an sich überwunden, aber unterschwellig immer
noch wirksam ist. Lange Zeit insistierte v.a. die Katholische Kirche
auf den Begriffen der Irrtumslosigkeit der Bibel auch im naturwissenschaftlichen und der Wahrheit im historischen Sinne. Gegenüber
den umwälzenden Veränderungen und Erkenntnissen der Neuzeit
sollte „die Bibel“ ein Bollwerk des Althergebrachten (auch der alten
Machtverhältnisse) sein. Als die Bibelwissenschaft neue Methoden
der historischen und literaturwissenschaftlichen Forschung übernahm und zu Ergebnissen kam, die die traditionellen Auffassungen
über Entstehung und Autorschaft der Bibel sowie die Reichweite ihrer Aussagen über die Welt (den Kosmos) in Frage stellten, wurde
diese „moderne Exegese“ von den kirchlichen Autoritäten zunächst
vehement abgelehnt. Zeitversetzt über 100 bis 200 Jahre fanden relativ ähnliche Debatten in den protestantischen Kirchen wie in der katholischen Kirche statt. In letzterer hielt die Diskussion bis ins 20.
Jahrhundert an.
Es ist nie gut, die Augen vor der wissenschaftlich erhobenen
Wahrheit zu verschließen; das erkannte auch die Katholische Kirche.
Mit der Enzyklika Divino afflante Spiritu von Papst Pius XII. (1943)
und der Dogmatischen Konstitution des Zweiten Vatikanischen
Konzils über die göttliche Offenbarung Dei Verbum (DV) (1965)
hat die „historisch-kritische Methode“ auch in der Katholischen Kirche Heimatrecht gefunden5.
5
Vgl. R. Kühschelm, Nicht nur legitim, sondern unerlässlich … Die historischkritische Methode nach Dei Verbum 12 und den folgenden kirchlichen Dokumenten, in: J.-H. Tück (Hrsg.), Erinnerung an die Zukunft. Das Zweite Vatikanische Konzil, Freiburg i. Br. 2012, 462– 476, 466.
206
Thomas Hieke
Damit können sich katholische Bibelwissenschaftlerinnen und
-wissenschaftler an den internationalen Forschungen zur „Bibel“
(und ihren verschiedenen Ausprägungen in Judentum und Christentum) beteiligen. Auch wenn in Details noch vieles unklar ist und daher notwendigerweise weiter diskutiert wird, so gibt es doch auch
gewisse Konsenslinien in der historisch-kritischen Forschung über
die Entstehung wichtiger Teile der Bibel.
Der Pentateuch wird von einer Mehrheit in der Bibelwissenschaft
mittlerweile in seiner Endfassung ins 5. Jh. v. Chr. datiert (wobei noch
spätere Ergänzungen nicht ausgeschlossen sind). Die Psalmen sind so
wenig vom historischen David wie der Pentateuch vom historischen
Mose, wobei die genaue historische Ausprägung beider Persönlichkeiten weitgehend im Dunkel bleibt. Die meisten Psalmen sind nach dem
Babylonischen Exil des 6. Jh. v. Chr. anzusetzen. Auch die Prophetenbücher haben einen langen Entstehungsprozess über Jahrhunderte
durchlaufen, und nur wenige Worte sind mit gewisser Wahrscheinlichkeit auf historische Prophetenpersönlichkeiten zurückzuführen.
Bei den synoptischen Evangelien ist immer noch die so genannte
„Zwei-Quellen-Theorie“ die stichhaltigste Erklärung des Befundes,
was aber bedeutet, dass die Evangelien erst in den letzten Jahrzehnten
des ersten Jahrhunderts n. Chr. entstanden sind. Älter sind die Paulus-Briefe, aber nicht alle sind wirklich vom Apostel. Die „deuteropaulinischen“ Briefe sind in Namen und Autorität des Apostels
(ebenso wie die Petrus- und Johannesbriefe) Jahrzehnte nach dem
Wirken der historischen Persönlichkeiten entstanden, dabei jedoch
ohne Probleme diesen wichtigen Identifikationsfiguren zugeschrieben
worden. Wenn dem aber so ist – wie können sie dann als „Wort des
lebendigen Gottes“ tituliert werden?6
Die Wahrheit der Schrift und ihre Relevanz hängen nicht von der
historischen Autorschaft oder vom historischen Ereignis (von seiner
„Tatsächlichkeit“) ab. Anders, pointierter formuliert: Der Glaube bestimmt sich nicht durch hypothetische Ergebnisse der Bibelwissenschaft und ist damit nicht auf rekonstruierte „Originalworte“ (der
Propheten, des Mose, des Paulus oder Jesu) zu reduzieren, sondern
6
Vgl. T. Söding, Wort des lebendigen Gottes? Die neutestamentlichen Briefe im
Wortgottesdienst der Eucharistiefeier, in: B. Kranemann (Hrsg.), Wie das Wort
Gottes feiern? Der Wortgottesdienst als theologische Herausforderung (QD 194),
Freiburg i. Br., 2002, 41– 81, 41f.
Die doppelte Autorschaft der Bibel nach Dei Verbum 12
207
stützt sich auf das gesamte Zeugnis der „Heiligen Schrift“, die als
Glaubensurkunde aus der Vergangenheit ins heutige Leben hereinkommt. Das Ganze geschieht aber nicht in einem naiven Fundamentalismus unter Verzicht auf die Ergebnisse der Bibelwissenschaft, sondern in vernünftig reflektierter Form (insofern ist „Theologie“ eine
Wissenschaft), die Glauben auch unter den Fragestellungen und Bedingungen der Moderne ermöglicht. Das war letztlich auch das zentrale Anliegen des Zweiten Vatikanischen Konzils. Es hat mit seinem
Dokument „Dei Verbum“ (DV) zur angesprochenen Frage einen ganz
bemerkenswerten Lösungsvorschlag gemacht.
3. Die Doppelautorschaft der Bibel nach DV 12
Das im Vorfeld heftig umstrittene Dokument wurde 1965 dennoch
mit großer Mehrheit verabschiedet und publiziert. Der Text aus dem
Abschnitt 12 lautet in der zeitlich näher am originalen Konzilstext
stehenden deutschen Übersetzung7 wie folgt:
„(1) Da Gott in der Heiligen Schrift durch Menschen nach Menschenart gesprochen hat, muß der Schrifterklärer, um zu erfassen,
was Gott uns mitteilen wollte, sorgfältig erforschen, was die heiligen Schriftsteller wirklich zu sagen beabsichtigten und was Gott
mit ihren Worten kundtun wollte.
(2) Um die Aussageabsicht der Hagiographen zu ermitteln, ist
neben anderem auf die literarischen Gattungen zu achten.
(3) Denn die Wahrheit wird je anders dargelegt und ausgedrückt
in Texten von in verschiedenem Sinn geschichtlicher, prophetischer oder dichterischer Art, oder in anderen Redegattungen.
(4) Weiterhin hat der Erklärer nach dem Sinn zu forschen, wie
ihn aus einer gegebenen Situation heraus der Hagiograph den Bedingungen seiner Zeit und Kultur entsprechend – mit Hilfe der
7
Zitiert nach der Ausgabe im Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Auflage,
1967, Das Zweite Vatikanische Konzil, Dokumente und Kommentare, Teil II,
Freiburg i. Br. 1967 (Einleitung und Kommentar von Joseph Ratzinger:
498 –528.571–583; Kommentar von Aloys Grillmeier: 528 –557; Kommentar
von Béda Rigaux: 558 –570). Diese deutsche Textfassung findet sich auch im Internet auf der entsprechenden Seite des Heiligen Stuhls (2013).
208
Thomas Hieke
damals üblichen literarischen Gattungen – hat ausdrücken wollen
und wirklich zum Ausdruck gebracht hat. Will man richtig verstehen, was der heilige Verfasser in seiner Schrift aussagen wollte,
so muß man schließlich genau auf die vorgegebenen umweltbedingten Denk-, Sprach- und Erzählformen achten, die zur
Zeit des Verfassers herrschten, wie auf die Formen, die damals
im menschlichen Alltagsverkehr üblich waren.“
Neben dem zeitbedingten Stil ist in Rechnung zu stellen, dass das
Dokument eine Kompromissformulierung ist. Daher erklärt sich
die etwas dunkle oder – positiver ausgedrückt – offene Redeweise.
Fast wie bei der Bibel selbst ist es nicht ganz zweifelsfrei zu erheben,
was sich die Konzilsväter bei diesem Text wirklich gedacht haben.
Dennoch ist der Text versteh- und interpretierbar, und er muss wie
jeder literarische Text interpretiert werden. Zunächst ist für DV
grundsätzlich und als hermeneutisches Prinzip festzuhalten, dass
der theologische Begriff der Offenbarung fundamental geändert
wurde: „Offenbarung“ wird nicht mehr nach Art einer „Instruktionstheologie“ als Mitteilung Gottes von oben verstanden, also nicht
mehr als ein gleichsam vom Himmel gefallenes Buch, nach dem sich
die Menschheit zu richten habe. Vielmehr folgt „Offenbarung“ dem
Prinzip der Inkarnation: Wie Gott in Jesus Christus in die Niedrigkeit und Hinfälligkeit der Menschen hinabgestiegen ist, so ist – vorher und nachher – das Wort Gottes in Menschenzunge ergangen,
wie DV 13 formuliert:
„Denn Gottes Worte, durch Menschenzunge formuliert, sind
menschlicher Rede ähnlich geworden, wie einst des ewigen Vaters
Wort durch die Annahme menschlich-schwachen Fleisches den
Menschen ähnlich geworden ist.“
Dieses offenbarungstheologische Grundprinzip wird gerne auf die
Formel „Gotteswort in Menschenwort“ gebracht8. Damit aber ist bereits der Grundgedanke einer doppelten Autorschaft angedeutet, wie
8
Vgl. z. B. H. Hoping, Theologischer Kommentar zur Dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung, Dei Verbum, in: P. Hünermann/J. Hilberath
(Hrsg.), Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil,
Bd. 3, Freiburg i. Br. 2005, 695 – 831, 772. Zu den folgenden Ausführungen s. v.a.
auch C. Dohmen, Vom Umgang mit dem Alten Testament (NSK.AT 27), Stuttgart, 1995, 74 – 80.
Die doppelte Autorschaft der Bibel nach Dei Verbum 12
209
er in DV 12,1 fast beiläufig ausgedrückt wird. Der Schrifterklärer
(die maskuline Form ist zeitbedingt und schließt Bibelwissenschaftlerinnen nicht aus) muss aufgrund des inkarnatorischen Prinzips
(Gott hat „durch Menschen nach Menschenart gesprochen“) sorgfältig erforschen, (a) was die heiligen Schriftsteller wirklich zu sagen
beabsichtigten und (b) was Gott mit ihren Worten kundtun wollte.
Beide Aspekte sind durch ein einfaches „und“ (et) verbunden. Hinter der „Doppelaufgabe“ des Schrifterklärers steht mithin – nicht
ausgedrückt, aber wohl mitgemeint – eine doppelte Urheberschaft
(Autorschaft) der biblischen Texte, die jedoch untrennbar ineinander verwoben ist. Mein Lese- und Verstehensvorschlag für DV 12
sei im Folgenden skizziert.
Ad (a): Die Wendung „was die heiligen Schriftsteller wirklich zu
sagen beabsichtigten“ bezieht sich auf die menschliche Seite der Heiligen Schrift. Sie ist mit den geeigneten Methoden der Bibelwissenschaft zu analysieren, insbesondere im Blick auf die Entstehung und
Zeitbedingtheit der Texte. DV 12,2–3 hebt – dem exegetischen Trend
der 1960er Jahre geschuldet – vor allem die Forschung an den literarischen Gattungen heraus, betont aber auch die Umstände der biblischen Zeit und Kultur, die den menschlichen Verfasser geprägt haben und daher mit den Mitteln der Geschichts-, Sprach- und
Literaturwissenschaft, ferner auch der Archäologie, der Anthropologie sowie der Kultur- und Sozialwissenschaft zu erhellen sind. Damit
ist die Methodenvielfalt der Bibelwissenschaft nicht nur erlaubt,
sondern auch gefordert.
Ad (b): Die mit „und“ verbundene Wendung „was Gott damit
sagen wollte“ bezieht sich auf den göttlichen Urheber der Heiligen
Schrift. Dabei ist eine Begrifflichkeit, die mit dem Wort „Zweitoder Zweiter“ operiert, tunlichst zu vermeiden, um weder eine zeitliche noch eine bedeutungsmäßige Hierarchisierung zu insinuieren.
Wie in der Christologie bei den „Naturen“ darf auch hier nicht die
eine oder die andere Autorschaft zu Lasten der anderen überbetont
werden. Redet man von Gott als „Autor“ oder „Urheber“ der Schrift,
so ist damit die dynamische und lebendige Inspirationsquelle gemeint, die hinter den biblischen Texten steht9 und bis heute aktiv
wirksam ist („Wort des lebendigen Gottes“).
9
In den Worten von O. H. Steck, Gott in der Zeit (s. Anm. 3), 74: „Fragt Exegese
nach dem, was ihr als Gegenstand in der Bibel vorliegt, dann richtet sie sich – das
210
Thomas Hieke
Dabei handelt es sich nicht um ein geheimnisvoll-magisches Verständnis im Sinne einer Verbalinspiration, wie es bisweilen auf barocken Gemälden zu sehen ist (die „Taube“, die als „Heiliger Geist“
dem schreibenden Menschen, etwa dem Evangelisten, in die Feder
diktiert). Ein solches Verständnis degradiert den menschlichen
Schriftsteller zu einer Marionette und bleibt statisch in der Zeit verhaftet, in der die Verschriftung stattgefunden hat. Dieses instruktionstheologische Verständnis, nach dem die Menschen nur Werkzeuge der göttlichen Mitteilung sind, ist überwunden. Seine latent
vorhandenen Reste müssen in bibelpastoraler Anstrengung in Katechese und Verkündigung, in Schule und universitärer Theologie beseitigt werden. Die Gefahren eines solchen Verständnisses der Verbalinspiration bestehen nicht nur in einem Fundamentalismus, der
„Irrtumslosigkeit“ der Schrift unter Aufopferung jeder Vernunft
dreist behauptet, sondern auch in einem „Tod Gottes“, da dann
eben die göttliche Mitteilung zur Abfassungszeit der Schrift erging
und seither hoffnungslos überholt und irrelevant ist.
Die Rede vom lebendigen Gott als Autor der Schrift geht in eine
andere Richtung. Sie greift eine zutiefst biblische Redeweise auf10.
„Vom ‚lebendigen Gott‘ wird immer wieder dort gesprochen, wo in
besonders kräftiger oder feierlicher Weise die aktive Wirksamkeit
Gottes hervorgehoben werden soll. Dies geschieht zugleich häufig
mit der Absicht, verkehrte, nichtige Gottesvorstellungen oder daraus
resultierende menschliche Handlungen zu kontrastieren“11. Der lebendige Gott hat aus dem Feuer zum Volk geredet, so dass es Mose
als Mittler der Offenbarung vorgeschickt hat (Dtn 5,26). Im Moselied Dtn 32 stellt sich Gott mit dieser überwältigenden Dynamik
selbst vor: „Jetzt seht: Ich bin es, nur ich, und kein Gott tritt mir
entgegen. Ich bin es, der tötet und der lebendig macht. Ich habe verwundet; nur ich werde heilen. Niemand kann retten, wonach meine
zeigen … die Texte nach Inhalt und Überlieferungsmovens mit aller Deutlichkeit – im wesentlichen auf Gott in der dargestellten Wahrnehmung, also in zeitbezogener Kundgabe, in zeitbezogenem Wirken und insgesamt in Langzeitvorgängen seines Handelns und seiner Wahrnehmung als den direkten oder
indirekten Inhalt aller biblischen Aussagen.“
10
Vgl. T. Söding, Wort (s. Anm. 6), 66f., mit Verweis auf S. Kreuzer, Der lebendige Gott. Bedeutung, Herkunft und Entwicklung einer alttestamentlichen Gottesbezeichnung (BWANT 116), Stuttgart u. a., 1983.
11
S. Kreuzer, Der lebendige Gott (s. Anm. 10), 1.
Die doppelte Autorschaft der Bibel nach Dei Verbum 12
211
Hand gegriffen hat. 40Ich hebe meine Hand zum Himmel empor und
sage: So wahr ich ewig lebe“ (Dtn 32,39 – 40)12. Es ist der lebendige
Gott, der sein Volk Israel aus Ägypten herausgeführt und in das verheißene Land gebracht hat, und das Volk soll die Lebendigkeit Gottes
daran erkennen, dass am Jordan das Meerwunder wiederholt wird
und die Bundeslade zusammen mit dem ganzen Volk trockenen Fußes den Fluss durchschreitet (Jos 3,10). Später kämpft der lebendige
Gott auf der Seite Israels gegen die Philister (1 Sam 17,26.36), freilich
so, dass er den kleinen David befähigt, den Riesen Goliat zu besiegen
und damit jede menschliche Kriegslogik durchkreuzt. Der Psalmist
bekennt sich zum lebendigen Gott („Es lebt der Herr! Mein Fels sei
gepriesen“, Ps 18,47 par. 2 Sam 22,4713) und drückt seine Sehnsucht
nach Gott so aus: „Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Wann darf ich kommen und Gottes Antlitz schauen?“ (Ps
42,3; s. auch Ps 84,3). Mit diesem lebendigen Gott hadert Ijob und
wirft ihm vor, sein Leben verbittert zu haben (Ijob 27,3) – nur im
Glauben an einen wirksamen, relevanten Gott kann man so sprechen! Die Psalmen kennen auch die positive Erfahrung, die in der
Not beschwörend wachgerufen wird: „Bei Tag schenke der Herr seine
Huld; ich singe ihm nachts und flehe zum Gott meines Lebens“ (Ps
42,9). Im Buch des Propheten Hosea findet sich nach der verhängnisvollen Ansage „Ihr seid nicht mein Volk“, die sich im Namen eines
Kindes des Hosea spiegelt („Lo-Ammi“, Hos 1,9) der hoffnungsvolle
Ausblick, dass in einer fernen Zukunft das Gottesvolk wieder hergestellt wird und an die Stelle des „Nicht mein Volk“ die Anrede
„Kinder des lebendigen Gottes“ tritt (Hos 2,1; s. auch Jer 16,14 –15;
23,7– 8). Besonders Jeremia spricht vom lebendigen Gott (Jer 10,10)
und von den „Worten des lebendigen Gottes“ (Jer 23,36)14. Das Neue
Testament greift diese Redeweise auf (s. z. B. Apg 14,15 und 1 Thess
1,9; 2 Kor 3,3; 1 Tim 3,15; 4,10; Offb 7,2; 15,7). Paulus zitiert Hos 2,1
in Röm 9,26; mehrfach begegnet die Wendung im Hebräerbrief
(Hebr 3,12; 9,14; 10,31; 12,22). Jesus wird in Mt 16,16 von Petrus
als „Sohn des lebendigen Gottes“ bekannt.
12
Die Dynamik des lebendigen Gottes findet ihren Ausdruck v.a. auch in der
Schwurformel „so wahr JHWH lebt“ (s. dazu ebd., 37–145) sowie in der Gottesrede in erster Person „so wahr ich lebe“ [spricht JHWH] (s. dazu ebd., 162–235).
13
Vgl. ebd., 159.
14
Zu den Belegen der Rede vom „lebendigen Gott“ s. ebd., 259 –298.
212
Thomas Hieke
Dies sind nur einige Beispiele dafür, dass sowohl der Tanak (die
jüdische Bibel) als auch die christliche Bibel Alten und Neuen Testaments Gott als den „Lebendigen“ kennt und bekennt. Damit ist aber
der „lebendige Gott“ als Autor der Heiligen Schrift von grundsätzlich anderer Qualität als der menschliche Schriftsteller. Gott diktiert
nicht einfach einem menschlichen Griffel, der abwechselnd Mose,
Jesaja oder Paulus heißt. Vielmehr verschriften die Menschen der
biblischen Zeit, Israeliten, Juden, die ersten Christen, ihre mitreißenden Erfahrungen mit diesem lebendigen Gott auf vielfältige Weise und in vielfältigen Gattungen und Redeweisen. Sie reden (und
schreiben) durchweg eigenständig, nie jedoch aus eigenem Antrieb
und mit eigenen Interessen, sondern „vom Heiligen Geist getrieben“
und „im Auftrag Gottes“ (2 Petr 1,21). Auf diese geheimnisvolle –
lebendige und dynamische – Weise steht Gott als „Urheber“ (auctor)
hinter den Schriften, die eine glaubende Gemeinschaft als „heilig“,
maßgeblich normierend („kanonisch“) und autoritativ (göttlichen
Ursprungs), mithin als Kanonausprägung (Bibel) ansieht. Die Aussage des biblischen Textes ist damit nicht auf das beschränkt, was der
menschliche Schriftsteller „wirklich zu sagen beabsichtigte“, sondern
geht darüber hinaus. Das ist eine wesentliche Grundeinsicht der modernen Literaturwissenschaft, dass sich ein Text nicht in dem erschöpft, was ein (menschlicher) Autor in ihn hineingelegt hat: Insbesondere ein geschriebener Text entfaltet im Lektüreprozess
Sinndimensionen, an die der Autor ursprünglich nicht gedacht hat
oder überhaupt denken konnte. Das ist – in literaturwissenschaftlicher Beschreibung – der Weg, auf dem Gott als dynamischer Autor
bei der Erstellung und bei der Lektüre der biblischen Texte ins Spiel
kommt. Theologisch gesprochen ist dann nicht nur die Niederschrift vom Geist Gottes inspiriert, sondern auch die jeweilige Lektüre, sofern sie in rechter Absicht geschieht, also das biblische Wort
als „Wort des lebendigen Gottes“ wahrgenommen wird. Unter diesen Bedingungen ist es dann auch möglich, dass Gott nicht nur in
die Zeit der Entstehung der Schriften spricht (oder zur Zeit des verkündenden Propheten), sondern auch in die jeweilige Zeit hinein, in
der gläubige Menschen Orientierung in der Heiligen Schrift suchen.
Das meint wohl auch der zweite Timotheusbrief, wenn es da heißt:
„Jede von Gott eingegebene Schrift ist auch nützlich zur Belehrung,
zur Widerlegung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit;
17
so wird der Mensch Gottes zu jedem guten Werk bereit und gerüs-
Die doppelte Autorschaft der Bibel nach Dei Verbum 12
213
tet sein“ (2 Tim 3,16 –17)15. Solches ist nur möglich, wenn der Urheber nicht nur ein begrenzter und an seine Zeit und Kultur gebundener Mensch ist, sondern auch der lebendige Gott bei Abfassung und
Lektüre mitwirkt. Gewiss, man kann manche antike Schrift, etwa
von Platon und Aristoteles, zur Belehrung und Erziehung lesen,
doch bleibt dies ins freie Belieben der Menschen gestellt und ohne
wirklichen Anspruch. Hinter den biblischen Texten steht, insbesondere wenn sie in der gottesdienstlichen Gemeinschaft wahrgenommen werden, ein stärkerer Anspruch der Unmittelbarkeit und heutigen Gültigkeit. Eine Schrifthermeneutik, die den Formulierungen
von DV 12 und damit der Lehre der Katholischen Kirche entspricht
und ihre Korrelation in der gottesdienstlichen Praxis findet, beruht
also auf folgender Grundannahme: Gott wollte und will jeder Generation (und damit auch der heutigen), also jedem(jeder) Bibelleser(in) mit den Menschenworten der historischen Autoren und Redaktoren (vielleicht sogar auch der Übersetzer?) „etwas sagen“. Ein
gläubiges Annehmen der Heiligen Schrift bedeutet somit, dass über
das hinaus, was der „heilige Schriftsteller“ seiner Zeit mitteilen wollte, in den gelesenen und gehörten Worten ein unmittelbarer Anruf
Gottes in die Gegenwart hinein ergeht, der zugleich ein Anspruch,
eine Mahnung, Aufforderung und Ermutigung ist.
Das ist nicht mit einer platten Buchstabengläubigkeit, einer „Hermeneutik der Unmittelbarkeit“ oder der „Nachahmung“ zu verwechseln. Was Gott mit den „alten“ Worten heute kundtun will, ist
oft nicht auf den ersten Blick oder beim schnellen Hören deutlich.
Nicht jedes Bibelwort kann sofort 1:1 umgesetzt werden. Insbesondere wenn von Gewalt die Rede ist, legitimiert dies keinesfalls heutige Gewalttaten – wenn wir uns über manchen biblischen Text entsetzen, so kann gerade dies der heutige Anspruch Gottes sein: dass wir
es eben nicht so machen wie die biblischen Protagonisten. Ohne eine
Mühe des Verstehens und ohne ein intensives Gespräch über die
Auslegung der Texte – wie immer das aussehen kann – wird es nicht
funktionieren. Was nötig ist, ist die „Unterscheidung der Geister“:
Die Auslegungsgemeinschaft muss prüfen, ob eine bestimmte Leseweise und Exegese des Textes wirklich eine dynamische Herausforderung des lebendigen Gottes darstellt oder ob damit nur – wie lei15
Vgl. auch T. Söding, Wort (s. Anm. 6), 62. Im Übrigen zitiert diese Stelle auch
DV 11.
214
Thomas Hieke
der oft geschehen – persönliche, politische, militärische oder wirtschaftliche Interessen von Menschen dürftig mit einem Mantel religiöser Legitimation versehen werden. Somit gilt: „Wort des lebendigen Gottes“ – ja, aber nicht ohne die Leistung des Verstehens und
des Verständigens untereinander in der glaubenden Gemeinschaft.
4. Konsequenzen
Dieser Ansatz der doppelten Autorschaft bedeutet viel und bedarf
einer sorgfältigen (bibel-)theologischen Reflexion und Begleitung.
Einige Konsequenzen seien im Folgenden angedeutet.
Wenn aus der Tora vorgelesen wird, dann sind das nicht einfach
„Geschichten von den alten Israeliten“, sondern Grundaspekte des
Glaubens, eines Glaubens, den die Christen noch dazu mit den Juden gemeinsam haben. Juden wie Christen können Vieles aus der
Tora nicht mehr „wörtlich“ umsetzen (z. B. die Opfervorschriften).
Dennoch sind die Texte nicht obsolet. Keine der beiden Religionen
fand es im Laufe der Jahrhunderte für richtig, die biblischen Bücher
„durchzuforsten“ und nicht mehr praktikable Passagen zu eliminieren. Vielmehr wurde und wird alles weiterhin überliefert (als „Wort
des lebendigen Gottes“, an dem man sich tunlichst nicht vergreifen
soll). Beide Religionen haben in der Rezeptionsgeschichte Anstrengungen unternommen, die Texte für ihre eigene Zeit fruchtbar zu
machen – der Grund dafür ist die oben skizzierte Basisannahme,
nämlich dass Gott über dieses „heilige Wort“, die Heilige Schrift autoritativ (!) in die jeweilige Gegenwart spricht und dazu die alten
Texte der „heiligen Schriftsteller“ verwendet. Mithin ist danach zu
fragen, „was Gott mit ihnen kundtun wollte“ – und will! Es gilt
nach Impulsen für heutige Diskurse zu suchen. Dabei gibt es in der
Tora zum einen Sätze, die sind wie in Stein gemeißelt: Sie gelten immer und überall und sind (fast) unmittelbar anwendbar. Dazu gehören sicherlich die Sätze aus dem Dekalog, etwa „Ehre deinen Vater
und deine Mutter“ (Ex 20,12; Dtn 5,16), oder das Gebot der Nächstenliebe und der Liebe zum Fremden (Lev 19,18.33 –34). Das gilt
aber nicht für alle Sätze, und schon beginnt die Schwierigkeit der
Unterscheidung. Sicherlich sind die Vorschriften zum Jobeljahr in
Lev 25 völlig utopisch, zumal sie aller Wahrscheinlichkeit nach nie
Anwendung gefunden haben – dennoch steckt darin der bis heute
Die doppelte Autorschaft der Bibel nach Dei Verbum 12
215
dringende Impuls, dafür zu sorgen, dass in einer Gesellschaft die
Verarmung eingedämmt und zurückgedrängt wird. Das Auseinanderdriften von Arm und Reich ist zu jeder Zeit ein Problem – die
Texte der Tora drängen, auch wenn sie nicht „wörtlich“ umzusetzen
sind, darauf, hier steuernd einzugreifen.
Wenn aus den Propheten vorgelesen wird, dann ist das keine Verbeugung vor den großen Männern der Vergangenheit, sondern eine
aktualisierende Aufnahme: Ihr Wort gilt uns heute (auch noch). Es
fragt sich nur wie – da kommt heutige Auslegung, Biblische Auslegung, ins Spiel: eine wichtige und verantwortungsvolle Aufgabe,
die sich von der wissenschaftlichen Erarbeitung bis zur Verkündigung im Kindergottesdienst erstreckt. Im Übrigen ist dieser Prozess
bereits innerbiblisch greifbar: Prophetenworte, die sich in konkreten
geschichtlichen Ereignissen, wie etwa dem Untergang des Nordreichs 722 v. Chr. bewahrheitet haben, werden nicht als „erledigt“
abgehakt, sondern weiter überliefert, in neue geschichtliche Situationen hinein: Das einst in eine bestimmte Situation hinein wirksame
Wort wird aus seinem geschichtlichen Zusammenhang gelöst – und
„gilt“ in jeder Zeit. Die Leute im Südreich fanden es durchaus passend, die Warnungen des Propheten Amos vor der Ausbeutung der
Armen auch auf ihre Zeit zu beziehen. So blieben die Worte erhalten
und kamen schließlich in ein Buch, das Teil eines größeren Ganzen
(Kanon) wurde und nun als Teil einer Bibel (Kanonausprägung)
„Heilige Schrift“ einer Glaubens- und Auslegungsgemeinschaft ist.
Wenn aus den Briefen des Paulus und seiner Schüler vorgelesen
wird, dann ist das keine bloße dankbare Erinnerung an einen „großen Theologen“, sondern eine aktualisierende Aufnahme: Paulus
verhandelt in seinen Schriften Dinge, die uns heute und unseren
heutigen Glauben an Jesus Christus angehen. Diese „bleibende Bedeutung“ haben die ersten Christen sehr früh gespürt, deshalb
haben sie die Briefe des Paulus aufgehoben, gesammelt und untereinander ausgetauscht, auch wenn Paulus immer nur eine bestimmte Gemeinde angeschrieben hat. Was Paulus den Korinthern schrieb,
war und ist offenbar von bleibendem Anspruch. Dieser bleibende
Anspruch geht aber nicht allein auf die Autorität des Paulus oder
des Amos oder des Mose zurück – denn warum sollten die Worte
von Platon oder Aristoteles weniger Autorität haben? Für die Glaubensgemeinschaft ist entscheidend, dass sie hinter den als „kanonisch“ anerkannten Texten die Urheberschaft Gottes sieht und
216
Thomas Hieke
glaubt. Unter dieser Grundannahme gilt: Die Menschenworte aus
der grauen Vergangenheit der Entstehung der Bibel (2000 bis 2500
Jahre alt und vielleicht manches noch älter) sind das Vehikel, mit
dem der lebendige Gott uns heute noch etwas sagen will.
Zu dieser Auffassung gibt es keine Alternative: Eine UnmittelbarHermeneutik, die die geschichtliche Distanz und die menschliche
Autorschaft in der Weise überspringen will, so dass die Bibel als
vom Himmel gefallenes ewiges Wort Gottes gilt, wird zum Fundamentalismus. Das sogenannte „Wörtlich-Nehmen“ der Bibel
geht faktisch am Phänomen Bibel vorbei und nimmt sie nicht als
das wahr, was sie ist: Gotteswort in Menschenwort16.
Umgekehrt ist die Reduktion der Bibel auf ein historisches Dokument von hohem Alter eine (auch historisch gesehen) unzulässige
Einebnung. Man würde damit die Bibel in die Bibliothek des Antiken Vorderen Orients neben dem Gilgamesch-Epos und dem
Schriftsteller Flavius Josephus einreihen. Als ein solches „nur“ historisches Schriftwerk ist die Bibel aber weder im Judentum noch
im Christentum über Jahrhunderte hinweg überliefert worden – immer schon haben Menschen beider Religionen in den alten Worten
Gottes Anspruch an sie entdeckt. Die Reduktion von „Gotteswort in
Menschenwort“ auf das reine „Menschenwort“ ist ein modernes
Phänomen – und eine Einseitigkeit, die dem historischen Befund
nicht gerecht wird. Denn es ist eine historische Tatsache, dass die
Bibel von Anfang an als „Gottes Wort“ gelesen wurde und wird.
Auch eine rein religionswissenschaftliche (religionshistorische)
Sichtweise wird den sich aus der Rezeptionsgeschichte ergebenden
qualitativen Unterschied zwischen der „Bibel“ und der übrigen antiken Literatur zu berücksichtigen haben.
16
S. dazu die Position der Päpstlichen Bibelkommission im Dokument von
1993/1996, „Die Interpretation der Bibel in der Kirche“, Città del Vaticano 1993;
dt. Übersetzung in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Päpstliche Bibelkommission: Die Interpretation der Bibel in der Kirche (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 115), Bonn ²1996: Alle methodischen Zugänge zur
Bibel werden wohlwollend geprüft und für positiv befunden; abgelehnt wird mit
bemerkenswerter Prägnanz der fundamentalistische Zugang.
Die doppelte Autorschaft der Bibel nach Dei Verbum 12
217
5. Die liturgischen Rahmenformeln
Es dürfte mittlerweile deutlich geworden sein, dass die liturgischen
Rahmenformeln die vorstehenden Überlegungen zur Hermeneutik
der Heiligen Schrift und ihrer bleibenden Gültigkeit auf geradezu
ideale Weise zum Ausdruck bringen. Die doppelte Autorschaft der
Bibel wird so im liturgischen Vollzug beim Vortrag der Lesung hörbar gemacht.
a) Die Einleitung mit „Lesung aus dem Buch …“ bzw. „Lesung
aus dem Brief des …“ macht die menschliche Seite der Autorschaft
deutlich. Die Bibel ist eben kein vom Himmel gefallenes Buch, das
auf magisch-mysteriöse Weise zu unserer Kenntnis gelangte. Menschen waren es, die ihre Erfahrungen mit Gott und Gottes Anspruch
niedergeschrieben haben, oder, um noch einmal den zweiten Petrusbrief zu zitieren, „vom Heiligen Geist getrieben haben Menschen im
Auftrag Gottes geredet“ (2 Petr 1,21). Auch sei noch einmal an das
inkarnatorische Offenbarungsverständnis von DV erinnert: „Da Gott
in der Heiligen Schrift durch Menschen nach Menschenart gesprochen hat …“ (DV 12), „Gottes Worte, durch Menschenzunge formuliert“ (DV 13). Der schlagende Vorteil dieser Mitteilungsweise
besteht darin, dass die Menschen auf diese Weise die Rede Gottes
überhaupt erst verstehen können. Der Nachteil ist jedoch, dass geschriebene Texte, selbst wenn sie von „heiligen Schriftstellern“ stammen, der Auslegung bedürfen (was DV 12 in umfangreicher Weise
auch betont).
b) Am Ende jedoch wird der doppelten Autorschaft insofern
Rechnung getragen, als die Wendung „Wort des lebendigen Gottes“
zum Ausdruck bringt, dass hier nicht „nur“ irgendein Wort eines
ehrwürdigen alten Mannes (Mose, Amos, Paulus) vorgetragen wurde, sondern dass gerade in diesen Menschenworten der bleibende
und aktuelle Anspruch Gottes steckt. Paraphrasiert könnte man
auch sagen: „Das alte Wort, das ihr eben gehört habt, gilt heute immer noch; Gott spricht jetzt zu uns und rüttelt uns auf, ermahnt
uns, ermutigt uns usw.“ Vielleicht ist es manchen unangenehm,
dass sich Gott so direkt in unser Leben einmischt – auch dies könnte
ein Grund für die Aversion gegen die Formel sein, allerdings ein sehr
fadenscheiniger und unberechtigter. Die bisweilen vorgeschlagenen
Alternativen (etwa „Dies sind die Worte der Lesung“) sind an Banalität nicht zu überbieten: Sie leisten keinerlei Beitrag zum Verstehen
218
Thomas Hieke
des gehörten Textes oder zu seiner liturgisch-hermeneutischen Verortung. Die lateinische Formulierung „Verbum Domini“ ist mehrdeutig und damit problematisch17: Es ist nicht klar, wer der dominus
ist. Versteht man darunter den deus unus, den Jesus als Vater geglaubt und verkündet hat, mag das angehen. Aber dominus kann in
der Liturgie auch Jesus, der Herr, sein – dann wäre die Formel eine
unstatthafte christologische Vereinnahmung. Trotz der Präexistenz
des Messias Jesus Christus spricht im Alten Testament nicht der Kyrios Christus, sondern Gott Vater. Die insgesamt theozentrische Gesamtausrichtung der christlichen Bibel in ihren beiden Teilen sollte
nicht verschleiert werden. Der deutschsprachige Ruf „Wort des lebendigen Gottes“ liegt „sehr gut auf der Linie Biblischer Theologie,
wenn sie die Theozentrik akzentuiert“18. Freilich darf dies wiederum
nicht über Gebühr dramatisiert und mystifiziert werden, so als hätte
man plötzlich einen unmittelbaren Kontakt mit dem Göttlichen –
schließlich darf der Anfang, der die menschliche Autorschaft betont,
nicht vergessen werden: Das „Wort des lebendigen Gottes“ ist nicht
direkt, sondern „nur“ im „Buch Amos“, im „Brief des Apostels Paulus“ usw. zugänglich.
Auf den Ruf „Wort des lebendigen Gottes“ antwortet die Gemeinde zustimmend mit „Dank sei Gott“. Damit wird nicht nur
der göttliche Anspruch des Vorgetragenen anerkannt, sondern auch
dessen aktuelle Gültigkeit und Maßgeblichkeit: „Die Zustimmung
der Ekklesia zum Schriftwort aber macht einen wesentlichen Teil seiner Kanonizität aus“19. Kanon und Auslegungsgemeinschaft bestimmen sich gegenseitig: Die Heilige Schrift wird zu einer solchen, weil
die Glaubensgemeinschaft ihr diese Rolle zubilligt; die Glaubensgemeinschaft wiederum findet als Auslegungsgemeinschaft ihre
Identität in der gemeinsamen Heiligen Schrift, die zu hören und zu
befolgen sie sich versammelt. All dies wird in den wenigen Worten
der liturgischen Rahmenformeln ausgedrückt und bekannt – sollte
darauf ohne Not verzichtet werden?
17
18
19
S. dazu T. Söding, Wort (s. Anm. 6), 65f.
Ebd., 66.
Ebd., 64f.
Die doppelte Autorschaft der Bibel nach Dei Verbum 12
219
6. Herausforderungen und Aufgaben
Die doppelte Autorschaft der Bibel mit ihrem Anspruch, in den alten Menschenworten der Bibel das Wort des lebendigen Gottes zu
finden, bringt große Herausforderungen und Aufgaben mit sich.
Es gilt zunächst einmal, das historische Umfeld zu klären und nach
Möglichkeit und mit allen Methoden der Bibelwissenschaft (historisch-kritisch, literatur- und sozialwissenschaftlich etc.) herauszufinden, was der menschliche Autor zu sagen beabsichtigte, in welches soziale Umfeld er hinein sprach und schrieb, welche kulturellen
Voraussetzungen zum Verstehen nötig sind und dergleichen mehr. Es
ist dabei unerlässlich, die Zeitbedingtheit der Rede von Gott immer
mit zu bedenken und sich nicht auf (wenige, vielleicht so gar nicht
vorhandene) vermeintliche „ewige Wahrheiten“ zu beschränken.
Exegese richtet sich „auf lebensbezogene, lebensbreite Gotteswahrnehmungen, die sich auf Zeitliches und d. h. im Fluß, im Wandel Befindliches mit Vorher und Nachher, richten, die in der Zeit wahrgenommen wurden und die zeitlich übermittelt werden sollen, wenn
man die Texte beim Wort nimmt. … Solche mit der Zeit eingebrachten, zu ihrer Zeit oder auch weit darüber hinaus bewährten und darum für Verstehen, Handeln aus weitreichender Orientierung als fortan maßgebend bewahrten Gotteswahrnehmungen sind es, die in den
Texten überliefert werden. Sie sind eben wegen der lebendigen Gottesperson, der von ihr in Dienst genommenen Künder und den auf sie
bezogenen Zeiten und Konstellationen entsprechend alles andere als
uniform, sondern haben eigene Konturen. Exegese fragt diesen besonderen Konturen nach“20.
Die exegetische Aufgabe, wie sie DV 12 skizziert, geht aber noch
weiter: Es gilt auch zu fragen, welche Impulse diese „alten Worte“ als
„Wort des lebendigen Gottes“ in heutige Diskurse einbringen können
(DV 12: „was Gott damit sagen wollte“ – und will!). „Gott und sein
zugewandtes Wirken sind für die biblische Wahrnehmung nicht nur
mit damaliger Zeitlichkeit, sondern mit dem Zeitraum im Ganzen
bis in alle Ferne als dem Raum göttlichen und menschlichen Handelns korreliert. So betrifft die Bibel zeitlich schon in sich selbst auch
alles Spätere nach ihrer Formierung und vertritt den Anspruch, die
20
O. H. Steck, Gott in der Zeit (s. Anm. 3), 74f.
220
Thomas Hieke
grundlegende Kunde von dem Subjekt zu sein, das ohnehin auch vorausweisend künftig alles zu aller Zeit betrifft – Gott“21. Die Frage
nach dem, was die Bibel heute über Gott sagt und welche Impulse
sie in heutige Fragestellungen einspeist, ist nicht allein über eine intuitiv vorgenommene „Applikation“ (nach Art einer „Moral von der Geschicht‘“) am Ende einer Predigt zu erledigen, sondern muss ebenfalls
mit wissenschaftlicher Reflexion und hermeneutischer Verantwortung erfolgen. Dazu sind mittlerweile eine Reihe von Methoden entwickelt worden, für die es verschiedene Bezeichnungen gibt: „Kanonische Exegese“, „kanonisch-intertextuelle Lektüre“, „Biblische
Auslegung“. Hinweise und Hilfe für die Erhebung dessen, „was Gott
damit sagen wollte“, ergeben sich aus dem Gesamtkontext der Heiligen Schrift (Intertextualität) und aus der Auslegungsgemeinschaft
(Diskurs, Gespräch über das gelesene/gehörte Wort Gottes)22.
Der menschliche Autor eines biblischen Textes hatte nicht nur einen zeitlich und kulturell, sondern auch literarisch begrenzten Horizont. Durch die Einbettung seiner Schrift in einen größeren Zusammenhang, wenn aus dem griechischen „ta biblia“ („die Bücher“,
Mehrzahl) das lateinische „biblia“ („die Bibel“, Einzahl) wird und
sich so ein literarischer Großkontext ergibt, treten neue Sinndimensionen hervor23. Da solche Prozesse nicht einem willkürlichen Zufall
zugeschrieben werden müssen, kann hier das Wirken von Gottes
Geist und damit die göttliche Urheberschaft angesiedelt werden –
anders ausgedrückt: Durch die Lektüre eines bestimmten, von einem Menschen geschriebenen Textes in einem größeren Zusammen21
Ebd., 128.
Vgl. z. B. T. Hieke, Zum Verhältnis von Biblischer Auslegung und historischer
Rückfrage, in: Internationale Katholische Zeitschrift communio 39 (2010),
264 –274.
23
Das lässt sich exemplarisch zeigen, wenn man als Versuchsfeld etwa die
Schlussverse biblischer Schriften heranzieht und diese nicht nur als Einzelsätze,
sondern als Sätze am Ende eines größeren Zusammenhangs oder als Übergang
zu einem weiteren Teil wahrnimmt, etwa die alttestamentlichen Sätze am Übergang zum Neuen Testament. Die Abfolge Maleachi – Matthäus ist dabei ein Phänomen der Neuzeit seit der Lutherbibel; ältere Handschriften kennen andere
Übergänge vom Alten zum Neuen Testament. S. dazu insgesamt T. Hieke, Jedem
Ende wohnt ein Zauber inne … Schlussverse jüdischer und christlicher Kanonausprägungen, in: Ders. (Hrsg.), Formen des Kanons. Studien zu Ausprägungen
des biblischen Kanons von der Antike bis zum 19. Jahrhundert (SBS 228), Stuttgart, 2013, 225 –252.
22
Die doppelte Autorschaft der Bibel nach Dei Verbum 12
221
hang religiöser Texte (in der „Heiligen Schrift“) kann der glaubende
Mensch neue Hinweise und Impulse entdecken, an die der menschliche Autor in seiner Begrenztheit nie gedacht haben konnte. Der
Kontext ist zugleich aber auch eine Grenze der Interpretation: Willkürliche Vereinnahmung einzelner Sätze aus der Heiligen Schrift, die
aus dem Kontext gerissen sind, ist abzulehnen. Gerade durch den
weiteren und näheren Kontext werden solche Sätze oft „relativiert“,
also in die richtige Beziehung gesetzt.
Damit hier keine Willkür einkehrt und doch wieder interessengeleitete Ideologie aufkommt, ist das Gespräch in der Auslegungsgemeinschaft unerlässlich. Eine Auslegung, eine Kommentierung,
eine Predigt ist immer nur ein Lesevorschlag, dessen Beobachtungen
von den anderen Mitgliedern der Glaubensgemeinschaft nachvollzogen werden müssen. Kommt man zu dem Ergebnis, dass die vorgeschlagene Deutung und Aktualisierung des Schriftwortes vernünftig und hilfreich ist, also „zum Leben führt“ (vgl. Lev 18,5), dann hat
sie ihren Wert. Empfindet die Gemeinschaft jedoch eine Auslegung
als einseitig, abseitig, engstirnig, lebensfeindlich und lebensabträglich, dann wird sie den Vorschlag mit Recht zurückweisen. „Prüft
alles und behaltet das Gute“ (1 Thess 5,21) – diesen Ratschlag des
Apostels Paulus kann man hier sehr gut aktualisieren.
7. Fazit
Die doppelte Autorschaft der Bibel und die inkarnatorische Schrifthermeneutik nach dem Prinzip „Gotteswort in Menschenwort“
macht eine fundamentalistische „Hermeneutik der Unmittelbarkeit“
unmöglich: Die Bibel ist nicht vom Himmel gefallen, sondern als
von Menschen geschriebene Literatur nach den Methoden der Literaturwissenschaft in synchroner und diachroner Methodik zu analysieren. Weder ist eine bestimmte Methodik ausgeschlossen, noch
sind die Ergebnisse einer irgendwie gearteten systematischen „Zensur“ zu unterwerfen. Es ist mit Fug und Recht nach dem zu fragen,
was die menschlichen historischen Autoren sagen wollten, wann und
unter welchen Umständen sie geschrieben haben und in welchen literarischen Formen und Gattungen. Ferner ist zu berücksichtigen,
dass nicht jedes Schriftwort sofort und unmittelbar zur „Nachahmung“ aufgegeben oder „wörtlich“ zu nehmen ist. Auch wenn
222
Thomas Hieke
die Heilige Schrift als „Wort des lebendigen Gottes“ verkündet und
geglaubt wird, dispensiert dies nicht von der Notwendigkeit einer
vernunftgemäßen Auslegung innerhalb einer Auslegungsgemeinschaft und im Gesamtkontext der Bibel.
Die Bibel darf auf der anderen Seite aber auch nicht auf ein historisches Dokument des Alten Orients (von zweifelhaftem Quellenwert) reduziert und in die sonstige Literatur des Alten Orients oder
der hellenistisch-römischen Zeit einfach eingeordnet werden. Es gilt
vielmehr ernst zu nehmen, dass von Anfang an Generationen von
Menschen jüdischen und christlichen Glaubens in diesem Textkorpus, das sich in Umfang und Arrangement je nach Glaubensgemeinschaft unterscheidet, eine Orientierung für ihr Leben gesucht haben.
Das ist eine rezeptionsgeschichtliche Tatsache und wirkt sich auf die
Qualität des Gegenstandes aus24.
Auf die Notwendigkeit der Auslegung wurde bereits hingewiesen;
damit verbunden ist aber auch die Notwendigkeit der Aktualisierung25. Wenn die Rede vom „Wort des lebendigen (!) Gottes“ keine
leere Phrase bleiben soll, muss schon von der Exegese, dann aber
auch von den anderen theologischen Disziplinen, von der Katechese,
Verkündigung und Lehre die Frage gestellt werden, welche Impulse
diese „alten Worte“ in die heutige Zeit einbringen können. Das kann
eigentlich nur im Diskurs gelingen, im gegenseitigen Gespräch zwischen den verschiedenen Gruppen und Fachkompetenzen, aber
auch im Dialog mit anderen Wissenschaften.
24
Vgl. O H. Steck, Gott in der Zeit (s. Anm. 3), 128: „Die Bibel hat in dieser ihrer
Eigenart, über die Entstehungszeit selbst vorauszuweisen, Vorstufen in ihrer eigenen Entstehungsgeschichte. Schon die Bewegung des inneralttestamentlichen
Überlieferungsvorgangs und die frühe Rezeption in ältesten Handschriften zeigen dies. Dieser alte Text Bibel will demnach fortan Gültiges nicht in begrenzte
Zeitkonstellationen, sondern – diese auch unexpliziert einschließend – in offene
Zeit übermitteln. Der alte Text Bibel umschließt … die Lebenswelten als Zeit lebendigen Gotteshandelns auch noch weit über die Offenbarungszeit der Formierung biblischer Bücher hinaus.“
25
S. dazu auch ebd., 129: „Dieses alte Wort muß vielmehr bei Späteren auf eigene
Weise und in jeweils lebensnaher Fassung erst wieder ankommen.“ Steck optiert
für ein kreatives „Wachstum“ der Heiligen Schrift, für eine „geistige Aneignung“,
die entsprechende Veränderungen einschließt, die aber auf der Sachlinie der biblischen Aussagen liegt und im Sinne des Sach- und Zeitgefälles der Bibel im ganzen legitim ist.
Die doppelte Autorschaft der Bibel nach Dei Verbum 12
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Die Verkündigung der Heiligen Schrift und ihre Auslegung müssen in Liturgie und Pastoral, aber auch in der Schulung des „professionellen Personals“ höhere Priorität gewinnen. Es beginnt bei der
Bewusstseinsbildung: Bei welcher Gelegenheit auch immer mit biblischen Texten umgegangen wird, ist zu reflektieren, worum es sich
hier handelt, welche Qualität und welchen Stellenwert dieses besondere Textkonvolut hat. Dem Zweiten Vatikanischen Konzil gebührt
Dank dafür, dass es den Weg der Vernunft gewiesen hat, der vor
Fundamentalismus und Bibelvergessenheit bewahrt. Mit der doppelten Autorschaft der Bibel hat das Konzil eine theologische
Sprachform zur Beschreibung der göttlichen Offenbarung gefunden,
die der wissenschaftlichen Erforschung und Auslegung weiten Raum
lässt, zugleich aber in untrennbarer Verbindung dem Glauben an die
Nähe Gottes größere Tiefe verleiht.