„Die Reformation radikalisieren –
provoziert von Bibel und Krise“
Eine Einführung in fünf
Studienbände und 94 Thesen
Ulrich Duchrow
Texte der Vergangenheit im Kontext zu verstehen und im eigenen
Kontext sprechen zu lassen, ist der Ansatz des internationalen Projekts „Die
Reformation radikalisieren – provoziert von Bibel und Krise“. Freilich geht es hier
um drei Texte und Kontexte – in einer ersten Schicht um reformatorische
Texte im Kontext der beginnenden Moderne. Aber diese sind als Tradition
nach Luthers eigener Anweisung zu prüfen an der Schrift (sola scriptura).1
Und diese wiederum kann nur kontextuell verstanden werden. Drittens, aber
sachlich erstens geht es darum, was theologisch heute zu sagen (und zu tun)
ist angesichts des Kontextes der Krise von Menschheit und Erde.
Eine überraschende Entdeckung während der etwa vier Jahre Arbeit von
über vierzig WissenschaftlerInnen aus allen Kontinenten war, dass es einen
deutlichen Zusammenhang der drei Kontexte in biblischen, reformatorischen
und heutigen Zeiten gibt. Er besteht in der zunehmenden Rolle, die das Geld
und das Denken in Geldrationalität in allen Bereichen unserer Zivilisation seit
etwa dem 8. Jh. v.u.Z. spielt.2 Konkret: in Griechenland, Israel/Juda, Persien,
Indien und China dringen Geld und Privateigentum im Zusammenhang mit
der Professionalisierung des Militärs und der Entstehung von lokalen Märkten in das tägliche Leben ein. Verschuldung, Landverlust und Versklavung
von Bauern gehören zu den unmittelbaren Folgen. Der wichtigste Lohn für
die Soldaten ist die Beute: Frauenschmuck, Tempelschätze usw. So werden
zunächst Edelmetalle in kleinen Stücken und abgewogen als Geld benutzt.
1
2
Vgl. DUCHROW, Ulrich: „Nur die Schrift“. Hegemoniales Prinzip oder Gegenkultur? In:
Texte und Kontexte 37 (2014) Nr. 141-143, S. 104-119
Vgl. SEAFORD, Richard: Money and the Early Greek Mind. Homer, Philosophy, Tragedy.
Cambridge: Cambridge University Press, 2004; GRAEBER, David: Schulden: Die ersten
5000 Jahre. Stuttgart: Klett-Cotta, 2012/GRAEBER, David: Debt. The First 5,000 Years.
New York: Melville House, 2011; DUCHROW, Ulrich/Hinkelammert, Franz: Transcending
Greedy Money: Interreligious Solidarity for Just Relations. New York: Palgrave MacMillan, 2012/
DUCHROW, Ulrich: Gieriges Geld: Auswege aus der Kapitalismusfalle - Befreiungstheologische
Perspektiven. München: Kösel, 2013 (in Spanisch: DUCHROW, Ulrich: Más allá del dinero
y la avaricia. Alternativas para una cultura de la vida. Bogota: Universidad Distrital Francisco
José de Caldas/Jusititia y Vida, 2014); SCHEIDLER, Fabian: Das Ende der Megamaschine.
Geschichte einer scheiternden Zivilisation. Wien: Promedia, 2015.
2
Ulrich Duchrow
Aber Geld wirkt sich nicht nur sozial, politisch und ökonomisch aus, sondern
führt zu kalkulierendem, rechnendem Denken. Ja, Geld ist eine Denkform, die
gekennzeichnet ist durch Rechnen und Berechnen (analog und unterschieden
von Sprache, die relationales, d.h. hörendes und redendes Denken ist). So
entsteht auch der sich von der Gemeinschaft isolierende egozentrische Individualismus, der fragt: „Rechnet sich das für mich?“ Der lateinische Begriff
ratio bezeichnet ursprünglich die Geldrechnung. So beginnt mit dem Geld
das rationale Denken, was sich erstaunlich deutlich an der vorsokratischen
Philosophie nachweisen lässt. 3 Sie entsteht in der ersten monetarisierten
griechischen Polis Milet kurz nach 600 v.u.Z., kurz nachdem sich die Gelddynamik mit der Prägung von Münzen (in Lydien, durch Söldner verknüpft mit
Milet) verschärft. Der Expansionismus des Geldes verbindet sich außerdem
mit imperialer Eroberungspolitik. Insbesondere die Eroberung von Minen
und von Kriegssklaven, die in diesen Minen arbeiten müssen, spielen in dieser
Situation eine zentrale Rolle. Die frühe Phase der geldbestimmten Zivilisation
erreicht mit dem Römischen Reich ihren Höhepunkt.
Eine neue Phase entwickelt sich im Mittelalter und kommt im Reformationszeitalter zum Durchbruch: die (früh)kapitalistische Zivilisation, die
die Moderne eröffnet.Sie hatte schon zu Luthers Zeiten begonnen, alle
Lebensbereiche zu durchdringen – nicht zuletzt die Kirche. So ist es kein
Zufall, dass sich die Reformation an der Käuflichkeit des Heils entzündete.
Die Moderne ist gekennzeichnet durch die extreme Verschärfung der antiken
Geldwirtschaft in der Form des imperialen Kapitalismus. Hier wird nun die
Vermehrung des Geldes zum Sinn und Motor des Wirtschaftens überhaupt.
Kapital ist ja nicht einfach Geld, sondern in Geld gemessenes Vermögen, das
investiert wird, um mehr Geld zu erwirtschaften. Dazu trägt insbesondere die
Entwicklung der doppelten Buchführung bei, aus der sich der Funktionsmechanismus der Profitmaximierung aus input und output entwickelt, aber auch
die Privatisierung von immer mehr Gemeingütern, besonders des Landes.
Das Patriarchat verschärft sich durch das zur Herrschaft kommende männlich
rationale Denken in Philosophie, Wissenschaft und Technik, die Eigentumsordnung und den imperialen Militarismus. Vor allem aber verbindet sich das
expandierende Kapital mit territorialen, militärisch gerüsteten Mächten, um
Schritt für Schritt die ganze Welt zu erobern – beginnend mit dem Bündnis
zwischen dem Kapital von Genua und der Hegemonialmacht Spanien (und
Portugal), die den europäischen Kolonialismus gen Süden eröffnet. So ist es
kein Zufall, dass zur gleichen Zeit wie die Reformation auch die Conquista
beginnt. Diese kapital-imperialistische Entwicklung führt über Perioden unter
der Herrschaft der Hegemonialmächte Niederlande und Großbritannien und
3
Seaford, op.cit.
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den imperialistischen Kriegen hin zur Zeit der „Globalisierung“ unter USHegemonie.4 Durch die Industrialisierung werden außerdem die arbeitenden
Menschen zu reinen profiterwirtschaftenden Maschinenteilen, deren Wert
der Markt bestimmt. Diese profitorientierte Wirtschaftsmaschine treibt die
Einkommen und Vermögen in den Gesellschaft und zwischen verschiedenen
Gesellschaften systematisch auseinander.
Unser gegenwärtiger Kontext ist das Ende dieser Zivilisation, weil diese
mit ihrem kapitalgetriebenen Wachstumszwang das Leben auf unserem begrenzten Planeten zunehmend unmöglich macht. Denn weil Kapital dadurch
definiert ist, dass es grenzenlos mehr werden muss, muss auch die Wirtschaft
grenzenlos wachsen. Dies kann auf Dauer auf einem begrenzten Planeten
nicht funktionieren. Klimakatastrophe, Artensterben soziale Katastrophen,
die zu Kriegen und Zerfall der staatlichen Ordnungen führen, sind dafür
die deutlichsten Beweise. Inzwischen besitzen 62 Milliardäre so viel wie die
untere Hälfte der Weltbevölkerung, als ca. 3,7 Milliarden Menschen, während
jährlich mehr als 40 Millionen Menschen an den Folgen des Hungers sterben.
Wenn dieser hier grob skizzierte Zusammenhang zutrifft, hat die Frage
nach der Reformation aus der Perspektive der Bibel und der heutigen Krise
einen realen Sinn, nämlich: wie antworten der Glaube an den biblischen
Gott und die Theologie auf die verschiedenen Aspekte dieser Zivilisation in
ihren aufeinander folgenden Phasen – das heißt in biblischen Zeiten, in der
frühkapitalistischen Zeit der Reformation und heute unter der Herrschaft
des Finanzkapitals? Der ersten Phase der religiösen und philosophischen
Antworten hat der Philosoph Karl Jaspers den Namen „Achsenzeit“ gegeben.5 Ich rechne sie aber im Unterschied zu Jaspers nicht bis zum 2. Jh.
v.u.Z., sondern bis zum frühen 7. Jh. u.Z., das heißt unter Einschluss der
Entstehung des Islam.
Die Propheten seit Amos üben fundamentale Kritik an der neuen Zivilisation, die ökonomisch in die Verschuldung und die Versklavung führt,
politisch in den Imperialismus und anthropologisch in den unsolidarischen,
kalkulierenden, egozentrischen, profitorientierten Individualismus. Sie rufen
nach Gerechtigkeit und Recht als Alternative zum status quo, bleiben aber
zunächst eine Minderheit. Dann, nach der Katastrophe des Nordreichs Israel im Jahr 722 v.u.Z. und nach der Zerstörung des Königreichs Juda und
der Exilierung der Eliten nach Babylon, werden Rechtsreformen ins Auge
gefasst, die in der entstehenden Tora gesammelt und zur Zeit Nehemias im
4
5
Vgl. ARRIGHI, Giovanni: The Long Twentieth Century: Money, Power, and the Origins of Our
Times. London/New York: VERSO, 1994/DUCHROW, Ulrich: Europe in the World System
1492-1992. Geneva: WCC, 1992.
JASPERS, Karl: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. Zürich: Artemis, 1949.
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Ulrich Duchrow
5. Jh. v.u.Z. umgesetzt werden: Zinsverbot, Schuldenerlasse, Schuldsklavenbefreiung alle sieben Jahre, periodische egalitäre Landverteilung, Armensteuer
usw. Sie zielen darauf, Alternativen zur altorientalischen Normalität konkret
zu praktizieren durch Autonomie und Egalität (z.B. Dt 15). 6 Die theologische Grundlage dafür wird wird in Lev 25, 23 formuliert: „Das Land darf
nicht unwiderruflich verkauft werden, denn mir gehört das Land, und ihr
seid Fremde und Leute mit Bleiberecht bei mir.„ D.h. es gibt kein absolutes
Eigentumsrecht für Menschen, wie es später im römischen Recht auf den
Punkt gebracht wurde und bis heute in den Bürgerlichen Gesetzbüchern
wirksam ist. Menschen haben nur Nutzungsrechte, damit alle genug zum Leben haben. Das wiederum führt zu einer Ökonomie des Genug für alle, wie
sie in der Erzählung von Gottes Manna als Speise für die durch die Wüste
Wandernden klassisch zum Ausdruck gebracht wurde ( Ex 16):
“Mose klärte sie auf: Das ist das Brot, das Er euch zur Nahrung gibt.
16 Im Hinblick darauf gilt Ihre Anweisung: ‚sammelt, so viel ihr braucht,
einen Krug pro Kopf der Bevölkerung. Jede Zeltgemeinschaft soll sich versorgen.‘ 17 Die Israelitinnen und Israeliten taten das; die einen sammelten
mehr, die anderen weniger. 18 Als sie alles Gesammelte maßen, da hatten
die Vielsammler keinen Überschuss und die Wenigsammler keinen Mangel,
sie hatten gerade so viel heimgebracht, wie jede Person brauchte” (V. 15-18).
Als der Hellenismus im 4. Jh. v.u.Z. beginnt, die imperiale Geldzivilisation zu einem totalitären System zu machen, antwortet die entstehende
apokalyptische Literatur (besonders das Buch Daniel) mit der Hoffnung auf
das Ende der raubtiergleichen Weltreiche und das Kommen des messianischen
Reiches Gottes. Jesus spitzt diese Frage dann auf die Entscheidung zwischen
Gottes Reich und seiner Gerechtigkeit auf der einen und Mammon (Geldvermehrung als „Schätze sammeln“) auf der anderen Seite zu (vgl. Mt 6,19-34).
Seine Entscheidungsfrage „Gott oder Mammon“ ist nach den neuen Forschungen
zur Entstehung der Geldzivilisation nicht ein Wort neben anderen, sondern
fasst die entscheidende Frage des Glaubens in der damaligen Situation des
Imperium Romanum als Höhepunkt der ersten Phase dieser Zivilisation
zusammen. Umso mehr ist es später die Entscheidungsfrage für Luther im
Frühkapitalismus und für uns auf dem Höhepunkt des imperialen Kapitalismus und der mit ihm einhergehenden Mentalität der meisten Menschen.
Paulus sucht nach Befreiung aus dem System, das er von der Macht der
Sünde (Gier) und damit von Ungerechtigkeit und Idolatrie beherrscht sieht
(Rö 1, 18ff.). Er findet sie von den Rändern her (1 Kor 1,26ff.) in den vom
Geist inspirierten messianischen Gemeinschaften, die die Spaltungen zwischen
6
Vgl. VEERKAMP, Ton: Die Welt anders. Politische Geschichte der Großen Erzählung. Hamburg:
Argument/InkriT, 2012.
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Juden und Völkern, Herren und Sklaven sowie patriarchalischen Männern
und unterworfenen Frauen in gegenseitiger Solidarität überwinden (Gal 3,28).
Das heißt, es geht zentral um die kollektive und persönliche Befreiung aus
von der Sünde (Gier) beherrschten Machtstrukturen auf allen Ebenen.
Wie sehen nun die Ansätze der verschiedenen reformatorischen Bewegungen aus, wenn man sie von der so kontextuell gelesenen Bibel her in den
Blick nimmt – wohlgemerkt damit Luthers „sola scriptura“ folgend?
1. Befreiung zur Gerechtigkeit
Ein erster Komplex von Fragen betrifft die Gerechtigkeit Gottes – vor
allem behandelt in den Thesen 1-4 und 58-76 sowie in Band 1 der Reihe
„Die Reformation radikalisieren“. Wie kommt sie in die Welt, wie greift
sie in die Geschichte ein? Hier zeigt die neue Paulusforschung seit Krister
Stendahls „Der Jude Paulus und wir Heiden“ 7, dass seit Augustin in der
westlich-theologischen Tradition der gesamtzivilisatorische Ansatz des Paulus
auf die Frage des „westlichen Ich“ eingeschränkt wurde. Die Sünde wurde
als Erbsünde entgeschichtlicht und die Rechtfertigung auf das sündige „Ich“
oder gar nur auf die Seele bezogen. In dieser Tradition steht auch der augustinische Mönch Luther, obwohl er selbst keineswegs bereits dem späteren
Individualismus der Moderne verfallen ist.8 Für Luther gibt es Menschsein als
neutrales, beobachtendes und entscheidendes Individuum nicht. Entweder ist
ein Mensch von Gott bestimmt – dann lebt dieser Mensch mitfühlend und
gerecht von den Anderen her und zwar von den „Geringsten“ (Mt 25,31ff.),
den Armen, Niedrigen, Bedürftigen und Verachteten zuerst, und nimmt so
teil an der neuen, seit dem Messias Jesus offenbar werdenden Menschheit,
freilich mit dem Risiko des Verfolgt- und Gekreuzigtwerdens. Oder ein
Mensch ist von der Macht der Sünde bestimmt – dann lebt dieser Mensch
in sich selbst verkrümmt, ich-bezogen, die anderen Kreaturen zerstörend.
Nach Luther werden wir als Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Gottes geschaffen, erhalten und erneuert, um kooperativ in Wirtschaft, Politik und
Kirche für Gerechtigkeit und Frieden zu kämpfen – ausdrücklich gegen die
systemisch zerstörerische Logik und Praxis des kapitalistischen Zivilisation.
7
8
STENDAHL, Krister: Der Jude Paulus und wir Heiden. Anfragen an das abendländische Christentum. München 1978: Kaiser, 1978/STENDAHL, Krister: Paul Among Jews and Gentiles.
Philadelphia: Fortress, 1976..
Hierzu s. DUCHROW, Ulrich: Luthers Stellung zum Individualismus des modernen Geldsubjekts. In: DUCHROW, Ulrich/Ulrich, Hans G. (Hrsg.): Befreiung vom Mammon, Band 2
der Reihe „Die Reformation radikalisieren“. Münster: Lit, 2015, S. 142-86 (erscheint 2016 in
Spanisch bei Aurora/Argentinien und UBL/Costa Rica). Die abstracts aller im Folgenden
genannten Beiträge aus den 5 Studienbänden „Die Reformation radikalisieren“ finden sich
unter http://www.radicalizing-reformation.com/index.php/de/publikationen.html.
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Ulrich Duchrow
Die Reformation ist also neu auf ihre Wurzel (radix) zu beziehen, somit zu
radikalisieren, d.h. von Paulus her heißt Rechtfertigung umfassende Befreiung
zur Gerechtigkeit.9
Das hat verschiedene Implikationen. Sünde muss vor allem als durch
die Gier herrschende Macht verstanden werden, die Menschen zu MittäterInnen macht. 10 Das tötende Gesetz bei Paulus ist damit konkret als
das römische Gesetz des Privateigentums und der imperialen Gewalt zu
verstehen, insofern es von der Sünde kooptiert ist. Es darf nicht mit der
Tora identifiziert werden, wie Luther es vermittelt über das Naturrecht tut,
denn jene wird von Paulus als heilig bezeichnet. „Mose“ ist nicht einfach
„der Juden Sachsenspiegel“, wie Luther behauptet. Die Tora war eben der
Versuch, mitten unter den Völkern die alternative Grundordnung Jahwes zu
leben – ohne Sklaverei und ohne Gier und Akkumulation des Eigentums
(Präambel und 10. Gebot des Dekalogs). Aber die Tora kann unter römischen Bedingungen nicht getan werden, muss deshalb nach Paulus wie die
Menschen befreit werden. Das geschieht durch die Bildung messianischer
Gemeinschaften, inspiriert vom Geist der neuen Menschheit, die Gerechtigkeit und Solidarität (agape, Rö 13,10) verwirklicht. Luthers Auffassung,
dass das abstrakte Gesetz im theologischen Sinn nur der Sündenerkenntnis
dient und im übrigen dem Evangelium diametral entgegengesetzt ist, verfehlt die Auffassung des Paulus. Entsprechend fällt er vor allem in die Falle
des nachkonstantinischen Antijudaismus, verdammt aber auch seine übrigen
Gegner alle unter dieser Schablone der gesetzlichen Werkgerechtigkeit: Muslime, Täufer, Bauern usw. Im Kontrast dazu geht es Paulus gerade darum,
„die anderen“ einzubeziehen, statt die Identität der eigenen Gruppe und
Existenz gegen „die anderen“ zu definieren.11 Dies ist vielmehr genau die
Herrschaftsweise des römischen Imperiums, „divide et impera“, die eben
überwunden werden muss. Darum wurde Paulus von diesem Imperium
auch hingerichtet. Denn es spürte, dass eine Bewegung mit Menschen aus
allen Völkern, die sich im Namen eines von Rom hingerichteten Messias
verbündeten, subversiv und gefährlich war. Diese paulinische Pointe gegen
die anti-imperiale Lebensweise auf allen Ebenen hat Luther nicht erfasst.
2. Befreiung vom Mammon
An einem Punkt jedoch folgt er strikt dem befreienden Ansatz der
Bibel: der Absage an den Mammon. Dies wird ausführlich behandelt in den
Thesen 5-23 und den Studienbänden 2 und 3, „Befreiung vom Mammon“ und
9 Dies ist deshalb auch der Titel von Band 1.
10 Luise Schottroff in Bd. 2.
11 Dazu ausführlich Brigitte Kahl in Band 1.
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„Politik und Ökonomie der Befreiung“. Schon Luthers 95 Thesen kämpfen gegen die Käuflichkeit des Heils im Rahmen der Ökonomisierung der Kirche,
was in seiner systemischen Bedeutung normalerweise nicht beachtet wird.
Es geht bei Luthers Kampf gegen den Ablasshandel nicht einfach um ein
„religiöses“ Problem der einzelnen Glaubenden. Man muss sich das ganz
plastisch vorstellen, wie Ablassprediger wie z.B. Tetzel immer Seite an Seite
mit einem Bankangestellten der schon damals so genannten Monopolgesellschaft vor allem der Fugger aus Augsburg durch die Lande zogen. Das
Sprichwort des Volksmunds „wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele in
den Himmel springt“, das auch von Luther in Nr. 27 seiner 95 Thesen zitiert
wird, offenbart den religiösen Charakter des Kapitals. Das wird noch einmal
ganz deutlich in seiner Auslegung des 1. Gebots im Großen Katechismus,
wie schon F.-W. Marquardt herausgearbeitet hat.12 Zum 1. Gebot, speziell zu
dem Satz „Du sollst nicht andere Götter haben“, schreibt Luther:13
„Was heist ein Gott haben oder was ist Gott? ... Ein Gott heisset das, dazu
man sich versehen sol alles guten und zuflucht haben ynn allen noeten.
Also das ein Gott haben nichts anders ist denn yhm von hertzen trawen
und gleuben, ... das alleine das trawen und gleuben des hertzens machet
beide Gott und abeGott....Denn die zwey gehoeren zuhauffe, glaube und
Gott. Worauff du nu (sage ich) dein hertz hengest und verlessest, das ist
eygentlich dein Gott.“
Diese Sätze werden in unserer bürgerlichen Tradition normalerweise
individualistisch verstanden, auf die einzelne Person bezogen — und das
ist sicher auch ein Sinn. Luther fährt nun aber fort, diese Sätze dadurch zu
erläutern, dass er Beispiele von Göttern aufführt, denen die Mehrzahl der
Menschen verfallen sind. Und hier steht an erster Stelle Mammon:
„Es ist mancher der meinet, er habe Gott und alles gnug, wenn er gelt
und gut hat, verlest und bruuestet sich drauff so steiff und sicher, das er
auff niemand nichts gibt. Sihe dieser hat auch einen Gott, der heisset Mammon, das ist gelt und gut, darauff er alle sein hertz setzet, welchs auch der
aller gemeynest [allgemeinste] Abgott ist auff erden. Wer gelt und gut hat,
der weys sich sicher, ist froelich und unerschrocken, als sitze er mitten ym
Paradis, Und widderuemb wer keins hat, der zweyvelt und verzagt, als wisse
er von keinem Got. Denn man wird yhr gar wenig finden, die guts muts
seyen, nicht trawren noch klagen, wenn sie den Mammon nicht haben, Es
klebt und hengt der natur an bis ynn die gruben.“
12 Vgl. MARQUARDT, Friedrich-Wilhelm: Gott oder Mammon aber: Theologie und Ökonomie bei Martin Luther, in: Einwürfe I. München : Kaiser, 1983, 176-216.
13 WA 30I, 132ff.
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Ulrich Duchrow
Damit nimmt Luther, jedenfalls im Grundsätzlichen, die Fetischismustheorie von Karl Marx vorweg, der freilich die ökonomischen Implikationen
des Kapitalismus als Religion präzise herausarbeitet, indem er den Fetischismus der Ware, des Geldes und des Kapitals unterscheidet. 14 Eine weitere
Pointe entdeckt Walter Benjamin: Der Kapitalismus ist die einzige Religion,
die verschuldet statt zu entschulden wie die anderen.15
Luthers spezifische Schriften gegen die frühkapitalistische Finanzwirtschaft und den Handel enthalten dann aber nicht etwa ethische Allgemeinplätze, sondern analysieren konkret und systematisch die ökonomischen Prozesse
und beurteilen sie theologisch.16 Dass Luther mit seiner Auslegung des 1.
Gebots nicht nur einzelne Menschen mit besonders großen Lastern im Auge
hat, sondern das sich entwickelnde frühkapitalistische System, wird deutlich,
wenn er in der folgenden Auslegung des 7. Gebots „Du sollst nicht stehlen“ die
sozialethischen Konsequenzen aus der Abgötterei beschreibt:
„Denn es sol ... nicht allein gestolen heissen, das man kasten und taschen
reumet, sondern umb sich greiffen auff den marckt, yn alle kreme, scherren
(Fleischerbuden), wein und byr keller, werckstete und kuertzlich, wo man
hantieret, gelt umb wahre oder arbeit nimpt und gibt.... Summa das ist das
gemeinste handwerck und die groste zunfft auff erden, und wenn man die
welt itzt durch alle stende ansihet, so ist sie nicht anders denn ein grosser,
weitter stall vol grosser diebe. Daruemb heissen sie auch Stulreuber [Personen,
die Zins nehmen = Wucherer], land und strassen diebe, nicht Kastenreuber
noch meuchel diebe, die aus der barschafft zwacken, sondern die auff dem
stul sitzen, und heissen grosse Junckern und ersame, frome burger und mit
gutem schein rauben und stelen.... Ja hie were noch zuschweigen von geringen
eintzelen dieben, wenn man die grossen gewaltigen Ertzdiebe solt angreiffen
14 MEW, 23,
15 BENJAMIN, Walter: Kapitalismus als Religion, in: Gesammelte Schriften, Frankfurt am Main Bd.
IV. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1972.
16 S. „Von Kaufshandlung und Wucher, 1524, WA 15, 218ff.; „An die Pfarrherrn wider den
Wucher zu predigen, Vermahnung“, 1540, WA 51, 325ff. Aus der reichhaltigen Literatur vgl. FABIUNKE, G.: Luther als Nationalökonom. Berlin: Akademie-Verlag, 1963 (hier
auf S. 193ff. die “Vermahnung“ in heutigem Deutsch; BARGE, Hermann: Luther und
der Frühkapitalismus. Gütersloh: Bertelsmann, 1951; kritisch gegenüber beiden letzteren
LEHMANN, Hermann: Luthers Platz in der Geschichte der politischen Ökonomie. In:
VOGLER, Günter (Ed.): Martin Luther. Leben, Werk, Wirkung. Berlin: Akademie-Verlag,
1986, 279-294; DUCHROW, Ulrich: Weltwirtschaft heute - ein Feld für bekennende Kirche?. München: Kaiser (1986), 1987 2. Ed., 79ff.; ders.: Alternativen zur kapitalistischen Weltwirtschaft
- Biblische Erinnerung und politische Ansätze zur Überwindung einer lebensbedrohenden Ökonomie.
Gütersloh/Mainz: Gütersloher Verlagshaus/Matthias Grünewald-Verlag (1994), 1997 2.
Aufl. und PRIEN, Hans-Jürgen: Luthers Wirtschaftsethik. Neuendettelsau: Erlanger Verlag
für Mission und Ökumene, (1998) 2012 2. Aufl.
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[mit welchen herrn und Fursten geselschafft machen], die nicht eine stad
odder zwo sondern gantz deudschland [Grosse diebe bleiben ungestraffet]
teglich ausstelen.“ (164f.)
Nach den Wucherschriften Luthers kann gar kein Zweifel darüber
bestehen, wen er mit den Erzdieben meint: die großen Bank- und Handelsgesellschaften. Aber diese Institutionen sind nur die Spitze des Eisbergs, eines
Systems, das zunehmend die gesamte Wirklichkeit durchdringt — eines
Systems des „fressenden“ Kapitals:17
„Deudschland wird mit fursten, herrn, landen vnd leuten der Wucherer leib eigen werden, Hats doch ynn diesen zwentzig iaren ia zehen iaren
gefressen das einem das hertz dafur erschrecken mus, der es ein wenig
ansihet, Vnd steiget frisst schlingt on vnterlas yhe lenger yhe grewlicher …
Wer nu itzt zu Leyptzig hundert florin hat, der nimpt ierlich vierzig, das heisst
einen bauren oder burger ynn einem iar gefressen, Hat er tausent florin, so
nimpt er ierlich 400. das heisst einen ritter oder reichen edel man ynn einem
iar gefressen, Hat er zehen tausent, so nimpt er iherlich viertausent, das
heisst einen reichen grauen ynn einem iar gefressen Hat er hundert taüsent,
wie es sein mus bey den grossen hendelern so nimpt er iherlich vierzig tausent. das heisst einen grossen reichen fursten ynn einem iar gefressen. Hat
er zehen hundert tausent so nimpt er iherlich 4 hundert tausent, das heisst
einen grossen konig ynn einem iar gefressen, vnd leidet daruber keine fahr,
weder am leib noch an wahr erbeit nichts, sitzt hinder dem ofen vnd bret
epffel Also mocht ein stulreuber sitzen zu hause vnd eine gantze welt ynn
zehen iaren fressen.“
Hinter diesem System steht nicht nur insofern Götzendienst, als man
dem Mammon traut, sondern auch insofern, als man über andere Menschen
Gott sein möchte:18
„Solcher iamer vnd hertzeleid, das ein mensch gern des andern Gott
were kompt vom Apffel her ym paradis, Da Adam vnd Eua yns teuffels namen, wolten Goetter sein, Den selben apffel hat yderman noch ym magen …
ein wucherer vnd geitz wanst der wolt das alle wellt musse ynn hunger durst,
iamer vnd not verderben, so viel an yhm ist, auff das er alles allein mocht
17 An die Pfarrherrn, wider den Wucher zu predigen, Vermahnung (1540), WA
51, 364a f.
18 Ebd. 394a-397a. Zu den psychischen Wirkungen des neoliberalen Kapita-
lismus auf Verlierer, Gewinner und Mittelklasse vgl. DUCHROW, Ulrich/
Bianchi, Reinhold/Krüger, René/Petracca, Vincenzo: Solidarisch Mensch werden. Psychische und soziale Destruktion im Neoliberalismus - Wege zu ihrer Überwindung.
Hamburg/Oberursel: VSA in Kooperation mit Publik-Forum., 2006, (frei
verfügbar unter http://www.vsa-verlag.de/uploads/media/VSA_Duchrow_Ulrich_Solidarisch_Mensch_werden.pdf).
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Ulrich Duchrow
haben, vnd yderman von yhm als von einem Gott, empfahen vnd ewiglich
sein leibeigen sein… Also gar susse ist die gifft des Apfels ym Paradis, das
sie wollen Mammon zum Gott haben vnd durch seine macht Gotter werden
vber arme, verdorbene, elende leǔte nicht zu helffen noch zu retten, Sondern
noch tieffer vnd mehr zu verderben...“
Hier ist wie im Ersten Testament der Zusammenhang von Götzendienst
und Tod, Hunger und Elend ausgesprochen. Gleiches sagt Luther nicht nur
über die, die Zins nehmen, sondern über die Handelsgesellschaften, insofern
sie durch Monopolbildung die Preise manipulieren — „gerade als wären sie
Herren über Gottes Kreaturen und frei von allen Gesetzen des Glaubens
und der Liebe …“ Luther ist sich in seiner letzten Schrift zum Thema „An
die Pfarrherrn, wider den Wucher zu predigen“ klar, dass er gegen eine epochale Macht antritt, die gleichzeitig mit dem Schaden für alle Welt auch das
Bewusstsein manipuliert und die Realität verschleiert, so dass Kapitalbildung
durch Zinsnehmen „nun schon nicht mehr Laster, Sünde oder Schande sein
will, sondern sich für eitel Tugend und Ehre rühmen lässt“. Auch Kirche und
Theologie sind diesem Schein verfallen und die Theologie. Den römischen
Theologen Eck nennt er einen Plutologen (Reichtumswissenschaftler) statt
Theologen, und über die römische Kirche sagt er:
„Ist doch im Grunde nichts anders, das ganze geistliche Regiment, denn
Geld, Geld, Geld. Alle Dinge sind gerichtet dahin, dass sie Geld tragen…“19
Darum kann es für Luther — wegen der Wirkung auf die Gesellschaft
und die ganze Kirche — keinen Kompromiss der wahren Kirche gegenüber
denen geben, die Zins nehmen:
„Wer ettwas leyhet vnd druber oder bessers nimpt, der ist ein wucherer vnd verdampt, als ein dieb, reuber vnd morder, vt supra, Darnach wenn
du einen solchen gewis weissest vnd kennest das du yhm nicht reichest das
Sacrament noch die absolutio, so lange er nicht busset, sonst machstu dich
seines wuchers vnd sunden teilhafftig vnd ferest mit yhm zum teüffel …
Zum dritten das du yhn ym sterben lassest ligen wie einen heiden vnd nicht
vnter andern Christen begrabest noch mit zum grabe gehest, Wo er nicht
zuuor gebusset hat Thustǔ es aber, so machstu dich seiner sunde teilhafftig
wie droben gesagt ist. Denn weil er ein Wucherer vnd abgotter ist, der dem
Mammon dienet, so ist er vngleubig, vnd kan die vergebung der sunden, die
gnade Christi vnd gemeinschafft der heiligen nicht haben noch derselben
fehig sein, Sondern hat sich selbs verdampt abgesondert vnd verbannet, so
lange er sich nicht erkennet vnd busse thut“.20
19 Wider den falsch genannten geistlichen Stand des Papstes und der Bischöfe, 1522, WA10II,
125.
20 An die Pfarrherrn, wider den Wucher zu predigen, WA 51, 367a f.
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„Die Reformation radikalisieren – provoziert von Bibel und Krise“
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Dieser Text zeigt, dass Luther die Gemeinschaft der Kirche als Kontrastgesellschaft zur kapitalistischen Ordnung sieht. Das kommt auch zum Ausdruck
darin, dass er sie auffordert, sich nicht nur im Wort, sondern im eigenen
(institutionellen) Finanzgebaren von den Kapitalgesellschaften und ihren
Praktiken zu distanzieren, um den weltlichen Ständen ein „gut Exempel“, ein
gutes Beispiel zu geben. Die Kirche soll den Namen Kirche ablegen, wenn sie
wie alle anderen Zins nimmt.21 Gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass er
dem Problem nicht einfach über den individuellen Wucherer beikommen will,
sondern die Kirche als Kirche zur Bekämpfung des gesamtgesellschaftlichen
Übels aufruft. Ebenso ruft er die Obrigkeit zum Handeln gegen den um sich
greifenden Wucher auf. Aber er sieht realistisch: sie ist schon kooptiert („sie
haben Kopf und Teil dran“).22 Bestes Beispiel ist die Abhängigkeit Karls V.
von den Fuggern.23 Darum sucht Luther, die Gemeinden und das, was wir
heute Initiativgruppen nennen würden, zur Bekämpfung der Armut und ihrer
Ursachen aufzurufen, was sich auch in den evangelischen Kirchenordnungen
niederschlug.24
Die Frage Gott oder Abgott im Verhältnis zur Wirtschaft ist bei Luther
— wie in der Bibel — untrennbar verbunden mit der Frage der Wirkung
wirtschaftlicher Strukturen und Verhaltensweisen auf die Gemeinschaft der Menschen,
theologisch gesprochen: auf die Nächsten. Wie wir sahen, ist die 1. Tafel
auf die 2. Tafel der Gebote bezogen und umgekehrt (1. Gebot — 7. Gebot).
Luther nennt drei legitime wirtschaftliche Verhaltensweisen der Christen
(nach der Bergpredigt): sich nehmen lassen, geben und frei — ohne Aufschlag — zu leihen.
„Hierin kan kein ander mas gesetzt wer denn des nehesten notturfft
vnd die Christliche liebe so Gott gebotten hat dem nehesten zu erzeigen.“25
Die Wortverkündigung der Prediger im Verhältnis zu den ökonomischen und politischen Machtträgern formuliert Luther klassisch als prophetische
Aufgabe:
21 Vgl.
Von
Kaufshandlung
und
Wucher,
WA
6,
59:
„Hie faren sie dan aber daher und sagen ‚die kirchen und geystlichen thun das (Zins
nehmen) und habens macht, die weyll solchs gelt zu gottis dienst gelangt‘.... Thu den
namen der Kirchen ab und sprich, es thu der wuchersuchtige geytz odder der faulentzer
alter Adam, der nit gerne arbeytt, umb seyn brott zu erwerben, das er seynem mussig
gang unter der kirchen namen eynen deckell mache....Dan sie sollen leuchten und gutt
exempell geben den weltlichen“.
22 Von Kaufshandlung..., WA 15, 313.
23 Vgl. G. Ogger, 1978.
24 Vgl. SCHARFFENORTH, Gerta: Den Glauben ins Leben ziehen.Studien zu Luthers Theologie.
München: Kaiser, 1982, 331f.
25 An die Pfarrherrn, wider den Wucher zu predigen, WA 51, 393a.
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Ulrich Duchrow
“Fürsten und Mächtige können es zwar ertragen, dass man die ganze
Welt kritisiert, wenn nur sie unkritisiert bleiben. Aber doch muss man sie
auch kritisieren, und wer im Predigtamt ist, ist ihnen schuldig zu sagen, wo
sie Unrecht tun und verkehrt handeln, auch wenn sie vorgeben, es führe zu
Aufruhr, wenn man Mächtige kritisiert.“26
Der entscheidende Punkt in Luthers Analysen und Interpretationen
ist – ganz ungewohnt für das Neuluthertum – festzustellen, dass nach
eingehender Prüfung die ökonomische Institution der länderübergreifenden
Kapital- und Handelsgesellschaften an sich dem Willen Gottes widerstreitet, wie
er sich sowohl im natürlichen wie im offenbarten Gesetz Gottes ausdrückt.
Daher ist vom Gewissen her nicht nur der Gebrauch dieser Institutionen,
sondern sie selbst sind als Institutionen abzulehnen. Dazu ein Zitat aus „Von
Kaufshandlung und Wucher“:
“Von den Gesellschafften sollt ich wol viel sagen. Aber es ist alles
grundlos und bodelos mit eyttel geytz und unrecht, Das nichts dran zufinden
ist, das mit gutem gewissen zu handeln sey. Denn wer ist so grob, der nicht
sihet, wie die gesellschafften nicht anders sind denn eyttel rechte Monopolia?
Wilche auch die weltliche heydenische rechte verbieten als eyn offentlich
schedlich ding aller wellt, ich will des goetlichen rechts und Christlichs gesetz
schweygen. Denn sie haben alle wahr unter yhren henden, und machens damit wie sie wollen, und treyben on alle schew die obberuerten stuck, das sie
steygern odder nyddrigen nach yhrem gefallen, und drucken und verderben
alle geringe kauffleute, gleich wie der hecht die kleyne fisch ym wasser, gerade
alls weren sie Herrn uber Gottes Creaturen und frey von allen gesetzen des
glaubens und der liebe.... Konige und Fuersten sollten hie dreyn sehen und
nach gestrengem recht solchs weren. Aber ich hoere, sie haben kopff und teyl
dran....Darumb darff niemant fragen, wie er muge mit guetem gewissen ynn
den gesellschafften seyn. Keyn ander rad ist Denn: Las Abe, Da wird nicht
anders aus. Sollen die gesellschafften bleyben, so mus recht und redlickeyt
untergehen. Soll recht und redlickeyt bleyben, so mussen die gesellschafften
[Jes. 28, 20] unter gehen.“27
Das heißt, Luther fordert hier in systemkritischer Absicht die Abschaffung der länderübergreifenden Bank- und Handelsgesellschaften, das strenge
Eingreifen der Regierungen in den Markt, Boykott dieser Monopole usw.
Luthers Lehre von den zwei komplementären Regimenten (Strategien) der
Liebe Gottes gegen die Herrschaft des Bösen hat nichts mit dem späteren
Quietismus und angepassten Luthertum zu tun, sondern fordert Pfarrer
26 Wochenpredigten über Joh 16-20 (1528/29),WA 28; 362,11-14. 363,26-34 (im Zusammenhang „Jesus vor Pilatus“).
27 Von Kaufshandlung..., WA 15, 312f.
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„Die Reformation radikalisieren – provoziert von Bibel und Krise“
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und ChristInnen in ihren Berufen zu kritischer politischer Wachsamkeit und
Engagement für Gerechtigkeit und Frieden auf.28
Luthers Radikalität an dieser Stelle ist den heutigen Dokumenten des
reformierten Accrabekenntnisses (2004), der 10. Vollversammlung des ÖRK
in Busan (2013) und den Apostolischen Schreiben und Enzykliken von Papst
Franziskus (2013 und 2015) vergleichbar – die aber ebenso wenig wie Luthers
Schriften von den reformatorischen und römisch-katholischen Kirchen z.B.
in Deutschland ernst genommen und umgesetzt werden. Das Reformationsjubiläum wäre eine Chance zum Umdenken. Interessant ist es zu sehen, dass
zum Beispiel in der englischen Tradition Figuren wie John Wyclif und Gerrard
Winstanley prägend sind, die die sozialen, ökonomischen und politischen
Impulse der Bibel bereits in demokratischen Ansätzen aufgenommen haben.29
Durch solche Ansätze kann Luthers hierarchisch gefasster Kategorienrahmen
biblisch partizipatorisch umgestaltet und dadurch aktualisiert werden.
3. Befreiung von Gewalt zum Leben in Frieden
Ökologie, Frieden und andere Glaubensgemeinschaften sind die Themen in den Thesen 33-57 und Band 4 (Befreiung von Gewalt zum Leben in
Frieden). In These 34 heißt es: „Die reformatorische Erkenntnis, dass wir
durch das Vertrauen auf Gottes Gnade gerettet werden, sollte die Erkenntnis einschließen, dass Gott in der gesamten Schöpfung gegenwärtig ist und
auf deren Schrei hört (Röm 8,18-23).“ Hier lässt sich durchaus an Luthers
pralle Schöpfungstheologie anknüpfen. Was aber weniger bekannt ist:
Thomas Müntzer und der Täufer Hans Hut haben das aus der Schöpfung
wahrnehmbare Evangelium verbunden mit dem biblischen Ansatz bei den
Armen (dem „gemeinen Mann“30) – ganz wie es Papst Franziskus in seiner
Enzyklika Laudato si tut. Er weist auch erneut den Weg, einen grundsätzlich anderen kulturellen Weg einzuschlagen als die vom Geld beherrschte,
kalkulierende und objektivierende westliche Zivilisation: die Einsicht, dass
alles Leben miteinander verwoben ist und davon geistlich, epistemologisch,
wirtschaftlich und politisch primär ausgegangen werden muss. Das nimmt
biblische Ansätze wieder auf, die verschüttet waren, die noch bei Luther 31
und anderen Reformatoren anklingen, aber heute vor allem von asiatischen
Kulturen des Sangsaeng, afrikanischen des Ubuntu und indigenen Ansätzen
des Sumak kawsay gelernt werden müssen32, um eine gemeinsame Kultur des
28
29
30
31
32
Vgl. besonders die Beiträge von C. Nessan in Bd. 4 und W. Deifelt in Bd. 5.
Vgl. T. Gorringe in Band 3.
Vgl. den Artikel des Mennoniten J. Prieto in Bd. 4.
S.o. Duchrow in Anm. 8.
Vgl. Claudete Beise Ulrichs Beitrag zu “Buen Vivir” in Band 4.
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Ulrich Duchrow
Lebens zu entwickeln. Das rückt die Bedeutung der Kinder theologisch und
rechtlich in ein neues Licht.33
In der Friedensfrage folgen die Thesen und Band 4 weitgehend der
mennonitischen Position. 34 Gleichzeitig werden hier Luthers biblisch zu
verwerfende Schriften und Handlungsanweisungen gegen Juden, Muslime,
Täufer und Bauern detailliert und kritisch analysiert und widerlegt.35 Es gibt
zwar Ansätze zur Revision dieser Positionen im Luthertum – wie z.B. den
Versöhnungsprozess mit den Mennoniten – aber es fehlt bisher eine generelle
Zurücknahme dieser unfassbaren Fehltritte Luthers und ebenfalls Entschuldigungen bei den Betroffenen angesichts der schlimmen Wirkungsgeschichte
bis heute. Dies müsste die Revision der theologischen Grundlagen für diese
Fehltritte einschließen, wie sie in Band 1 der Reihe herausgearbeitet werden.
Gleichzeitig ist die Anpassung der lutherischen Reformation und späterer
Traditionen an imperiale und koloniale Grundmuster neu zu thematisieren. 36 Denn das konstantinische Muster, in das Luther aus Angst um die
militärische Zerstörung der Reformation vielfach zurückgefallen ist, ist bis
heute wirksam. Werfen wir einen kurzen Blick auf die einzelnen, von Luther
verteufelten Gruppen.
Seine Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ (1543) ist nicht nur an
sich ein theologisches Verbrechen, sondern hat in der Wirkungsgeschichte
zur Rechfertigung realer physischer Verbrechen gedient. Hitler und seine
Schergen haben sich ausdrücklich auf Luther berufen, als sie die Synagogen verbrannten, Thorarollen vernichteten und die Juden vertrieben. Deren
körperliche Vernichtung war das Einzige, was Luther noch nicht empfohlen
hatte (er dachte „nur“ an Vertreibung). Genau aber die gnadenlose Tötung
legte er den Fürsten bei der Niederschlagung des Bauernaufstandes nahe,
und auch bei der Verfolgung der Täufer war er nicht zimperlich. Es ist
kaum verständlich, wie er dies alles vor seiner eigenen Theologie verantworten konnte, nachdem er doch gegen die Machtkirche des Mittelalters
ausdrücklich herausgearbeitet hatte, dass in Glaubenssachen keine weltliche
Gewalt eingesetzt werden dürfe, sondern nur das Wort, das heißt Schrift- und
Vernunftargumente (non vi sed verbo).37 Eine gewisse Sonderrolle nehmen
seine Argumente gegen die Muslime ein. Diese sind damals ausschließlich
durch die Türken vertreten, die mit Militärmacht vor Wien standen und das
33 Vgl. K. Ulrich und K. Mtata in Bd. 1.
34 Mennonitische Beiträge finden sich in Bd. 4 von A. González Fernández, K. Koop, J. A.
Prieto Valladares und in Bd. 5 von F. Enns.
35 Vgl. bes. die Beiträge von C. Nessan und Ch. Amjad-Ali, ebenfalls Band 4.
36 Zu dieser Frage ist besonders zu verweisen auf Lauri Wirths Vergleich zwischen Luther
und Las Casas in Bd. 1.
37 Vgl. u.a. „Von weltlicher Oberkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei“, 1523.
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„Die Reformation radikalisieren – provoziert von Bibel und Krise“
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Reich bedrohten. Hier unterscheidet er ausdrücklich, dass man sie nicht im
Namen des christlichen Glaubens bekämpfen soll, sondern als solche, die
einen ungerechten Krieg gegen das Reich führten. Trotzdem bleibt auch hier
seine theologische Argumentation traditionell und von Unkenntnis geprägt.
An dieser Stelle muss heutige Theologie grundsätzlich andere Wege
beschreiten. Erstens ist klar nachgewiesen, dass die Bibel nicht gegen andere
Religionen steht, sondern gegen Götzendienst – und dies zuerst im Blick auf
die eigene „Religion“ (vgl. die Geschichte vom Goldenen Kalb, Ex 32). „Die
Wirklichkeit der Götter zeigt sich biblisch am Kriterium der Gerechtigkeit.
Götter, die den Armen nicht zum Recht verhelfen, sind sterbliche, zum
Tode verurteilte Götter (Ps. 82).38 Das trifft besonders auf die Göttlichkeit
des römischen Kaisers zu, wie es besonders deutlich in Offenbarung 12f.
Zu lesen ist.
Zweitens aber wird durch die neuen Forschungen zu der ersten Phase
der Geldzivilisation deutlich, dass alle Weltreligionen und Philosophien in den
Regionen vom Mittelmeer bis China ursprünglich je auf ihre eigene Weise
gegen deren soziale, mentale und psychologische Folgewirkungen Position
beziehen, also in ähnliche Richtung wie die Bibel:39
in Israel und Juda, wie wir sahen, fordern die machtkritischen Propheten
(seit Amos) und die Tora (bes. Deut 15 und Lev 25) Gerechtigkeit und Recht,
damit es keine Armen gibt;
in Indien sucht der Buddha die drei Gifte Gier, gewaltförmiger Hass und
Illusion des Ego durch die achtsame Einsicht in die gegenseitige Abhängigkeit alles Seienden und dem daraus folgenden neuen gemeinschaftlichen
Sein zu überwinden;
in China erklärt Laozi den Vorrang des Weichen gegenüber dem Harten
im Sinn des unaussprechlichen und darum nicht manipulierbarem Dao (Weg),
Konfuzius fordert die immer wieder nötige Eingliederung in die gesellschaftliche Ordnung bis hin zum Revolutionsrecht des Volkes bei ungerechter
Herrschaft (beide nach dem Prinzip sozialer Balance);
Sokrates zielt auf seelische Angemessenheit (arete) statt Reichtum und
Ruhm, Plato auf Gerechtigkeit im Gemeinwesen, Aristoteles versucht, die auf
Geldanhäufung reduzierte Wirtschaftsform („Chremastik“) durch die Ethik
und Politik der natürlichen Tauschwirtschaft zu überwinden;
38 EBACH, Jürgen: Art. Fremde Religionen, in: F. Crüsemann u.a. (Hg.), Sozialgeschichtliches
Wörterbuch zur Bibel. Gütersloh : Gütersloher Verlagshaus, 2009, S. 162-167.
39 Dies ist ausführlich dargestellt in DUCHROW, Ulrich/Hinkelammert, Franz: Transcending
Greedy Money, op.cit., 2012, und DUCHROW, Ulrich: Gieriges Geld, op.cit, 2013 (span. op.cit.,
2014).
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Ulrich Duchrow
Jesus spitzt die Frage zu auf die Entscheidung zwischen Gott (seinem
Reich und dessen Mitgefühl und Gerechtigkeit) und Mammon (dem Gott
des Schätzesammelns) sowie auf den Vorrang der Geringsten (Mt 6,19ff.
und 25, 31ff.) mit der Folge, dass seine Bewegung Eigentum teilt, damit es
keine Armen gibt (Apg 4,32ff.);
Muhammad verdammt die Illusion unbegrenzter Reichtumsanhäufung
und betont das Zinsverbot, verbunden mit der Armensteuer (Zakat) und
einer Beteiligungswirtschaft.
In allen Religionen entstehen heute befreiungstheologische Bewegungen, die auf die ursprünglichen kritischen Intentionen der grundlegenden
Texte zurückgreifen. Die darin enthaltene Herausforderung an alle christliche
Theologie heute – besonders aber für lutherische nach deren Geschichte
– formuliert am schärfsten der jesuitische Befreiungstheologe Aloysius Pieris. 40 Seine Bedeutung besteht darin, dass er nachweist, dass die asiatische
Befreiungstheologie nicht einfach die lateinamerikanische Form übernehmen
kann. Diese ist in seinen Augen noch zu sehr den früheren, vom Westen bestimmten Theologien verhaftet. In Asien hat das Christentum nur als winzige
Minorität Fuß gefasst. Pieris sieht den Grund darin, dass das Christentum
Asien bisher nur in nicht gemäßen Formen begegnet ist.
Dem stellt Pieris eine Christologie, d. h. eine Reflexion über die Bedeutung Jesu Christi, entgegen, die die zwei Taufen Jesu verbindet: In der
Taufe am Jordan durch Johannes den Täufer sieht Pieris den demütigen
Ausgangspunkt Jesu, sich den religiösen Ausdrucksformen der Armen zu
unterwerfen, bevor er seine Mission aufnimmt. Das würde für Asien bedeuten, den Ausgangspunkt bei den religiösen Formen der Armen zu nehmen,
wie sie besonders im Buddhismus Ausdruck finden. Dabei spielt das Bündnis
der freiwilligen Armut der Mönche mit den real Armen die zentrale Rolle.
Gleichzeitig kommt hier die Entscheidung für Gott gegen den Mammon
zum Ausdruck. Im Buddhismus ist die psychische Befreiung zentral mit der
Befreiung der Armen verbunden.
Die Taufe des Kreuzes, des Martyriums als Folge der Identifikation Jesu
mit den Armen, offenbart Gottes unverbrüchlichen Bund mit den Armen,
der sich im sozio-politischen Konflikt mit dem Römischen Reich zeigt. Der
spezifisch christliche Beitrag zur Befreiung liegt also an der Verbindungsstelle
der psychischen mit der sozio-politischen Befreiung – also genau das, was
nach unserer Analyse die Achsenzeit erforderte. Das kommt biblisch auch
40 PIERIS, Aloysius: A Liberation Christology of Religious Pluralism. In: Nhanduti Editora/
Sri Lanka (2009) S. 1-20. (http://www.nhanduti.com/Mangostao.English%20texts/
Aloy.Eng.pdf). Er ist Indologe, Theologe und Gründungsdirektor des Tulana Research
Center in Kelaniya, Sri Lanka.
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darin zum Ausdruck, dass im Endgericht die Opfer identisch mit dem Richter
über die Völker sind. Der „Menschensohn“ in Mt 25,31ff ist identisch mit
den Opfern der Geschichte, den Hungernden, Dürstenden usw.
Wie begründet Pieris diesen Ansatz im Einzelnen? Wenn es nach Mt
25,31ff geht, kann man Jesus nur in zweiter Linie in der kirchlichen Liturgie
begegnen, in erster Linie aber in der „Liturgie des Lebens“. Und der Ort
dafür sind die Basisgemeinschaften – nicht die rein christlichen Basisgemeinschaften wie in Lateinamerika, sondern die „menschlichen“ Basisgemeinschaften, in denen Christen mit Menschen anderen Glaubens zusammenwirken.
Der zentrale Bezugspunkt dabei ist der Gegensatz zwischen Gott und dem
Mammon, dem Götzen der Akkumulation, der seit der Antike die Gesellschaften regiert, aber in der westlich-kapitalistischen Welt zur scheinbar absoluten
Herrschaft gekommen ist. Er produziert Opfer unter den Menschen aller
Religionen, den Armen in allen Hinsichten. Nur in Zugehörigkeit zu diesen
Opfern kann man Jesus nachfolgen. Das bedeutet nicht nur, materiell arm zu
werden, sondern allen Versuchungen, Macht auszuüben, zu widerstehen – wie
Jesus selbst in der Wüste, als er von Satan versucht wurde (Mt 4).
Aber es geht nicht nur darum, diesem Götzen der Macht und des
Reichtums selbst abzusagen, wie es in den meisten Mönchsbewegungen geschah, sondern auch gemeinsam mit den Armen um umfassende Befreiung
vom Mammonsystem in der Gesellschaft zu kämpfen. Die Spiritualität, arm
zu werden, muss verbunden werden mit der Spiritualität, mit den Armen zu
kämpfen. Dies heißt der Bewegung Gottes zu folgen. Gott wurde um unseretwillen arm und kämpft Seite an Seite mit den Sklaven in Ägypten oder
den von Rom oder späteren Imperien unterworfenen Völkern um Befreiung
und den Aufbau einer neuen Gesellschaft.
Religionen sind ebenso wie Ideologien ambivalent. Sie können sowohl
befreien wie auch die Unterdrückung verschärfen. Neutralität gibt es nicht.
Das gilt sowohl psychologisch wie strukturell. Entweder regiert Gott oder
Mammon. Das untersucht Pieris im Blick auf die Religionen Asiens im Einzelnen. Es muss hier um eine ekklesiologische Revolution gehen: Sie sollen
nicht nur Kirchen in Asien sein, sondern Kirchen Asiens werden. Das aber
geht nur über die lokalen „menschlichen“ Basisgemeinschaften der Armen,
die für eine neue Gesellschaft kämpfen, in der es keine leidenden und passiv
gemachten Armen, sondern freie menschliche Subjekte gibt, die gemeinsam
immer neu eine Lebensform des gerechten Teilens gestalten. Hier kommt die
Religiosität der asiatischen Armen mit der Armut von Mönchen und Nonnen
zusammen. Gemeinsam bilden sie die prophetischen Basisgemeinschaften.
Diese Art von neuen interreligiösen Gemeinschaften entsteht überall in
Asien. Und mit ihnen eine neue asiatische befreiende Theologie und Kirche.
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Ulrich Duchrow
4. Kirche – befreit zu Widerstand und Transformation
Darum geht es auch zentral in den Thesen 77-94 und Band 5 unter
dem Titel Kirche – befreit zu Widerstand und Transformation. Dies zeigt zusammenfassend These 80:
„Im 16. Jahrhundert wurde die Kirche reformiert. Aber schon bald
verwickelten sich Kirchen in der reformatorischen Tradition in Strukturen
und Praktiken, die patriarchalisch und hierarchisch waren und in die Gefangenschaft von mächtigen wirtschaftlichen und politischen Interessen gerieten.
Ihre Verfolgung der Täufer, Juden und Muslime war nicht nur beklagenswert,
sondern unverzeihlich! Selbst hierfür Buße zu tun, ist nicht genug. Wir müssen
uns vom Geist Gottes dazu antreiben lassen, insgesamt von solchen konstantinischen Formen der Kirche Abschied zu nehmen. Es geht darum, sich
zur Gestaltung einer Kirche inspirieren zu lassen, in der angefangen von den
gesellschaftlich Ausgeschlossenen alle mitbestimmen können und Grenzen
überschritten werden, zu einer Kirche, die wirklich katholisch ist, das heißt,
die alle einschließt – über die Grenzen von Religionen, Volkszugehörigkeit,
Kontinenten und Eigeninteressen hinweg.“
Anders ausgedrückt: Es geht um einen grundsätzlich anderen Ansatz
von Gemeinde- und Kirchenaufbau als im konstantinischen Modell, das zumindest in den großen Volks- und Staatskirchen des Luthertums bis heute
grundlegend ist. Gerade angesichts des totalitären Systems des imperialen
Finanzkapitalismus ist neu zu buchstabieren, wie die Jesusbewegung und Urchristenheit im ebenfalls totalitären Römischen Reich sich von den Rändern
der Gesellschaft her aufbaute, Widerstand leistete und attraktive alternative
Gemeinschaftsformen und Lebensweisen entwickelte und was dies heute für
Gemeinden und Kirchen bedeutet. Für Paulus ist diese subversive Praxis nur
durch einen neuen Geist oder genauer den messianischen Geist der Neuschöpfung möglich (Rö 8).41 Angesichts des heute nötigen Engagements für
eine andere politisch-ökonomische und zivilisatorische Praxis bedeutet dies
eine grundlegende Entprivatisierung der Spiritualität.42
Das setzt aber auch voraus, dass die Bereitschaft zur Kreuzesnachfolge neu
entsteht. Dies wird in den Thesen 24-32 zusammenfassend angedeutet,
taucht dann aber bezeichnenderweise in allen 5 Bänden in den jeweiligen
Schwerpunktthemen wieder auf. Das Kreuz ist also kein abgrenzbares
Thema, sondern ein Strukturelement der gesamten Theologie (theologia
crucis) – freilich gekoppelt an die Auferstehung. Warum? Auch hier leitet
die Umdeutung des Kreuzes zum Erlösungsinstrument für das „westliche
41 Zum grundlegend subversiven Charakter von Kirche vgl. K. Bloomquist in Bd. 5.
42 Vgl. K. Butting in Bd. 4, U. Andreé und W. Altmann in Bd. 5.
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„Die Reformation radikalisieren – provoziert von Bibel und Krise“
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Ich“ in die Irre. 43 Vielmehr ist das Kreuz zu verstehen als die Folge von
Jesu umfassender Identifikation mit den Opfern des gesamten imperialen
Systems und der sie tragenden Zivilisation, in der alle Menschen MittäterInnen werden. Damit kann auch der theologische und kirchliche Ansatz
heute nur an der Seite dieser Opfer beginnen. Das deuten wir an, indem
wir in den Thesen Bilder des Campesino, der Schwangeren und des Gasmaskenträgers am Kreuz – und des am Dollar Gekreuzigten in den Thesen
abdrucken. Indem Jesus dem gewaltsamen System nicht mit den gleichen
Mitteln Widerstand leistet, bricht er die Logik des Systems. Darum ist die
Auferstehung Gottes Tat, die offenbart, dass die Macht des von der kollektiven und persönlichen Sünde beherrschten Systems nicht das letzte Wort
behält, sondern gebrochen werden kann. Eine andere Welt und ein anderer
Mensch sind möglich. Das ist die messianische Zukunft der Kirche, wenn
sie sich vom Geist Gottes und des Messias Jesus inspirieren lässt.
Dazu ist tägliche Umkehr nötig und möglich – womit erneut die 1. der
95 Thesen bestätigt ist, die deshalb die zentrale Botschaft des Reformationsjubiläums 2017 sein sollte. Darum beginnt die Einleitung in unsere 94 Thesen:
„Martin Luther begann seine 95 Thesen von 1517 mit der Umkehrforderung Jesu: „Kehrt um, die gerechte Welt Gottes ist nahe„. Fünfhundert
Jahre später leben wir in einer Zeit, die wie das biblische “Jobel-Jahr„ („Erlassjahr„, Lev/3. Mose 25) ebenfalls Umkehr und eine Veränderung hin zu
gerechteren Verhältnissen anmahnt.„
Und sie schließen:
„‚Die Reformation radikalisieren – provoziert von Bibel und Krise‘ ist für
Kirchen und Theologie keine beliebige Option, sondern notwendig. Luther
selbst machte die Schrift in ihrem historischen Wortsinn zum Kriterium aller
Tradition. Die kontextuelle Auslegung der Bibel hat diesen Sinn kritisch-prophetisch geschärft. Und Luther übte systemische Kritik schon am Beginn
der kapitalistischen Moderne – Wie sollten wir am Ende dieser immer mörderischeren und selbstmörderischen Menschheitsphase und ihrer Krise nicht
neu auf unsere Glaubensquellen hören und mit anderen gemeinsam ‚dem Rad
in die Speichen fallen‘? Lasst uns gemeinsam mit andren auf dem Weg der
Gerechtigkeit und des Friedens gehen.“
43 Eine ausführliche Widerlegung der Satisfaktionslehre des Anselm von Canterbury (Schulden
müssen bezahlt werden, ist das oberste Gesetz, darum muss Gott seinen Sohn opfern, um
für die Sünden der Menschen zu bezahlen), die bis heute in der populären Frömmigkeit
vorherrscht, bietet F. Hinkelammert in Bd. 1.
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Ulrich Duchrow
Gemeinsam – das heißt auch gesamtökumenisch und sogar darüber
hinaus mit allen Menschen guten Willens. Es ist eine gewisse Ironie der Geschichte, dass der letzte Band 5 der Reihe „Die Reformation radikalisieren“
mit einem Beitrag von Leonardo Boff zur Bedeutung des Papstes Franziskus
schließt. Die Fronten haben sich verkehrt: der heutige franziskanische Papst
ruft auch die protestantischen Kirchen dazu auf, zu den Wurzeln der biblischen Botschaft zurückzukehren und sich aus der kapitalistischen Zivilisation,
in die wir alle auch persönlich verstrickt sind, befreien zu lassen und gemeinsam mit den Armgemachten und der leidenden Kreatur eine neue Kultur des
Lebens zu bauen, in der Gerechtigkeit und Frieden möglich werden.
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