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Über Männlichkeit, Sexualität und Potenz in der Frühen Neuzeit

2003, Praxis der Männergesundheit. Prävention, Schulmedizinische Fakten, Ganzheitlicher Zugang

Über Männlichkeit, Sexualität und Potenz in der Frühen Neuzeit Erik O. Ründal [in: Günther H. Jacobi (Hg.): Praxis der Männergesundheit. Prävention, Schulmedizinische Fakten, Ganzheitlicher Zugang. Stuttgart: Thieme, 2003. S. 46-52.] Einleitung Als sich die Eheleute Anna Maria und Peter Seiz aus Schwäbisch Gmünd im Jahre 1770 scheiden lassen wollten, wurden beide vor das bischöfliche Ehegericht nach Augsburg geladen. In der Befragung gab er zunächst zu Protokoll, "wegen unfridlicher Haushaltung, und mehr nachfolgenden Ursachen könne Er mit diesem Weib nit mehr hausen". Darauf erwiderte sie, "der unfriedlichen Haushaltung seye Sie nit Ursach, und habe allzeit begehrt mit ihrem Ehemann in dem Frieden zu leben". Noch einige weitere gegenseitige Vorwürfe werden vorgebracht. Unter anderem sagt der Mann aus, seine Frau hätte vor Fremden "von Ihm schamloß und ärgerlich" geredet, "Ihr Mann habe kein rechtes mannlichs Glied" und bei einem Nachbarn "gegen Ihm ehrenschänderisch" gesagt, "daß seine Mannschaft gantz unvollkommen sey". Sie gibt zu, im Zorn diese Worte benutzt zu haben und bittet die Richter zum Schluß, ihren Mann "seinen Ehepflichten gemäß, zur gemeinschaftlichen Beywohnung" anzuweisen. Das Protokoll aus dem Rottenburger Diözesanarchiv umfaßt acht Folioseiten. Der Verlauf des gesamten Prozesses aus den Jahren 1770/71 soll hier trotz umfangreichen Materials von fast 30 Seiten - inklusive verschiedener Familien- und Traubücher -, nicht präzise beschrieben werden. Aus der Fülle der vorliegenden Fälle lässt sich jedoch schließen, wie in der Frühen Neuzeit über Impotenz gesprochen wurde. Insgesamt wird klar, dass der Vorwurf der Impotenz eines von vielen Argumenten im allgemeinen Streit um Ehe und Haushaltung sein konnte. Im rechtstheologischen Diskurs nahm Impotenz einen großen Raum ein, da sie neben 1 der Blutsverwandtschaft der wichtigste Grund für eine Eheauflösung war. "In causa divortii ex capite impotentia" - Ehescheidung aufgrund Impotenz - sind die Urteile für solche und ähnliche Fälle am Ende des 18. Jahrhunderts überschrieben. Allgemeine Geschichte Es scheint, als tauche das Problem der männlichen Impotenz in der Menschheitsgeschichte immer wieder auf. Rezepte für Potenzmittel lassen darauf schließen, dass Impotenz ein Thema war, andererseits sind es Gerüchte, Rechtsfälle und medizinische Beschreibungen, die real existierende Menschen betrafen - wie bei Peter Seiz aus Schwäbisch Gmünd. Schon in der antiken Mythologie, so beim ägyptischen Osiris oder beim phönizischen Adonis, und beim biblischen König David wird Impotenz thematisiert. Die wohl erste klinische Beschreibung männlicher Impotenz findet sich auf einer 4000 Jahre alten ägyptischen Papyrusrolle. In Mesopotamien wurden Mixturen und Pulver hergestellt, die bei Potenzproblemen Abhilfe schaffen sollten. Im 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung beschrieben sowohl Hippokrates (ca. 460-370) als auch Aristoteles (384-322), einige Jahrhunderte später auch der römische Mediziner Galen (129-199) die Impotenz. Sowohl bei Nero (37-68) als auch bei Martial (40-103) gab es Diskussionen um die männliche Potenz. Mittelalterliche Beispiele dafür sind Mohammed (um 570-632), die sogenannte "Josephsehe" von Heinrich II. (973-1024), Johann Heinrich von Luxemburgs (1322-1375) Ehe mit Margaretha Maultasch, die 1341 getrennt und 1349 kirchlich aufgelöst wurde, sowie Heinrich IV. König von Kastilien (1425-1474), der sogar "El impotente" genannt wurde. Dessen erste Ehe wurde 1453 annulliert. Es untersuchte ihn der deutsche Mediziner Hieronymus Münzer, der später schrieb, Heinrichs Penis sei dünn und schwach an der Wurzel aber riesig am Kopf, mit dem Ergebnis, dass er keine Erektion haben könne. Für die Neuzeit sind u.a. zu nennen: Paracelsus (1493-1541), Voltaire (1694-1778), Jean-Jacques Rousseau (1712-1778), Friedrich II. der Große (1712-1786), Immanuel Kant (1724-1804), Ludwig XVI. von Frankreich (1754-1793), Heinrich von 2 Kleist (1777-1811), Adolph von Menzel (1815-1905), Gustave Flaubert (1821-1880), Lewis Carroll (1832-1898), Johannes Brahms (1833-1897), George Bernard Shaw (1856-1950) und Marcel Proust (1871-1922). Betrachtet man in dieser Aufzählung die um 1770 lebenden Männer, ist Peter Seiz in durchaus guter Gesellschaft. Interessant ist hierbei nicht, ob die Personen wirklich impotent waren, sondern sowohl Inhalt wie auch Art und Weise der Diskussionen um das Thema. So basiert auch "The Women's Petition Against Coffee" in London aus dem Jahre 1674 auf der Angst der Frauen, ihre Ehemänner würden ihre sexuelle Potenz verlieren. Begriffsgeschichte Wir sollten weiterhin davon ausgehen, dass der Begriff "Impotenz" nicht zu jeder Zeit das bedeutet hat, was wir heute gemeinhin darunter verstehen. Darüber hinaus wurde auch nicht immer das Wort "Impotenz" verwendet. Im medizinischen Bereich spricht man heute hauptsächlich von " Erektiler Dysfunktion (ED)", was natürlich nicht die gesamte Definition von Impotenz umfaßt. Die heutigen allgemeinen Lexika beschreiben Impotenz mit "nicht mächtig, nicht fähig, Unvermögen des Mannes zu Fortpflanzung und Geschlechtsakt". Laut den medizinischen Fachlexika gibt es verschiedene Arten und Formen der Impotenz. Sie ist das "Unvermögen des Mannes, den Geschlechtsverkehr regelrecht und befriedigend zu vollziehen, Unvermögen, den Beischlaf überhaupt oder in physiologischer Weise auszuführen; Unmöglichkeit der Erektion und des Orgasmus". Als Ursachen kommen sowohl psychische wie auch physische Gründe in Betracht. In den antiken griechischen Quellen (z.B. bei Aristoteles) lesen wir von männlicher bzw. weiblicher Unfruchtbarkeit (agonos). Das Wort "Impotenz" kommt aus dem Lateinischen; laut Wörterbuch bedeutet impotentia Maßlosigkeit, Zügellosigkeit, Willkür; das Adjektiv impotens wird mit ohnmächtig, schwach (nicht mächtig), seiner nicht mächtig (ohne Selbstbeherrschung), maßlos, zügellos und despotisch übersetzt. Wenn die antiken lateinischen Autoren jedoch Unfruchtbarkeit meinten, schrieben sie über impotentia virilis und impotentia mulieris. Es wurde sowohl zwischen Zeugungs- (i. generandi) und Beischlafunfähigkeit (i. coeundi) 3 unterschieden wie auch z.B. zwischen permanenter und temporärer oder auch zwischen natürlicher (von Geburt) und durch Unfall hervorgerufener Impotenz. Es scheint, als wäre der Beischlafunfähigkeit zunächst mehr Beachtung geschenkt worden. Das hat manche Wissenschaftler dazu verleitet, dem Phallos als Sinnbild männlicher Macht noch größere Gewichtung beizumessen, als er wahrscheinlich in Wirklichkeit besaß. Spätestens ab Mitte des 12. Jahrhunderts wird jedoch auf jeden Fall der Zeugungsunfähigkeit mehr und mehr Beachtung geschenkt – auch Hildegard von Bingen schreibt in ihren "Rezepten gegen die Impotenz des Mannes" vom Samen, der "ohne zu befruchten zerfliesst" -, was mit der Rolle des sich entwickelnden kirchlichen Eherechts erklärt werden kann: die Impotenz wird Gegenstand kirchlicher Eheprozesse und kirchenrechtlicher Abhandlungen. In dieser Tradition steht auch der Scheidungprozess von Anna Maria und Peter Seiz. In der Sprache derjenigen Menschen, die des Lateinischen nicht (so) mächtig waren, wurde das Wort "Impotenz" nach und nach ebenfalls aufgenommen. Das englische impotence ist ab Mitte des 15. Jahrhunderts in John Lydgates (ca. 1370-1450) Werken verbürgt; das französische impuissance kommt in der Mitte des 16. Jahrhunderts auf. Im Deutschen gibt es zwar seit dem 15. Jahrhundert die alltagssprachlichen Formulierungen kalter, halber oder schlaffer Mann - noch 1870 erscheint eine Scherzpostkarte mit dem Aufdruck "Kalter Emil" -, das Wort "Impotenz" gibt es aber erst seit Mitte des 18. Jahrhunderts. So ist es auch wenig verwunderlich, dass man in Zedlers Universal-Lexikon von 1746 unter dem Begriff "Unvermögen (männliches)" nachschlagen muß. Es sei "diejenige üble Beschaffenheit der erwachsenen Manns-Personen, vermöge welcher sie nicht im Stande sind, den Beyschlaff zu treiben, mithin auch keine Kinder zu zeugen". Die Frühe Neuzeit Für viele ist die Frühe Neuzeit - ungefähr der Zeitraum zwischen 1500 und 1800 einfach nur die Übergangszeit vom "dunklen" Mittelalter zur "aufgeklärten" Moderne. Man darf jedoch nicht vergessen, dass gerade diese Zeit für viele Grundlagen unserer heutigen Denk- und Lebenswelt verantwortlich ist; so z.B. durch die 4 Ausbreitung des Buchdrucks und der damit einhergehenden Möglichkeit, neues Wissen über Entdeckungen (z.B. geographische, astronomische oder auch medizinische) schneller und weiträumiger zu verbreiten. So kommt der Frühen Neuzeit auch für eine Untersuchung über Männlichkeit und Impotenz eine besondere Bedeutung zu, da hier zum ersten Mal ein breiter gesellschaftlicher Diskurs über Impotenz in den Quellen dokumentiert ist, der auch die Unterschichten mit einschließt. Außerdem wächst das wissenschaftliche Interesse, das noch im Mittelalter mehrheitlich theologisch beeinflußt war und im Laufe der Zeit "rationalere" Züge der Medizin und des bürgerlichen Rechts annimmt. So gehören neben den Ehegerichtsakten die zeitgenössischen dissertationes und disputationes zu den wichtigsten Quellenkorpora. Es läßt sich zeigen, dass sich alltäglicher Umgang und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Problem "Impotenz" in der Frühen Neuzeit gegenseitig bedingten und auch wie dies geschah: nicht nur Gelehrte, Theologen und Richter handelten untereinander aus, was als "Impotenz" zu gelten hatte, sondern auch die Bevölkerung nahm in unterschiedlicher Weise an den Diskussionen teil. Betroffene Männer und deren Frauen sowie andere, potente Männer aus Ober- und Unterschichten konstruierten so gleichzeitig auch Männlichkeit. Wie in der allgemeinen Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts wurden auch in den Werken zur sogenannten Sittengeschichte hauptsächlich die "Großen und Mächtigen" als Beispiele herangezogen - und diese damit als einzig legitimen historischen Subjekte dargestellt. Ein Blick in die gedruckten frühneuzeitlichen Quellen, also vor allem die juristischen, medizinischen und theologischen Abhandlungen, zeigt jedoch, dass die größte Aufmerksamkeit der Autoren auf die sogenannten Unterschichten gerichtet war. Die Herrscher hatten zwar das Problem der dynastischen Thronfolge zu lösen, bei der "normalen" Bevölkerung ging es jedoch um das rechtmässige Führen einer Ehe. Wie unser Beispiel zeigt, war das "Leisten der ehelichen Pflicht" dabei ein wichtiger Aspekt. 5 Die Quellen Die frühneuzeitlichen wissenschaftlichen Arbeiten versuchten, die verschiedenen Standpunkte von Medizin, Theologie und Recht darzustellen. Die Mediziner beschrieben hauptsächlich, welche Arten von Impotenz existierten. Manchmal wird auch erläutert, bei welcher Art Impotenz welche Kräuter Heilung versprechen. Auch die Theologen und die Juristen betrachteten die verschiedenen Arten der Impotenz. Sie versuchten jedoch zu zeigen, ob - oder dass - Impotenz ein Ehehindernis war. Je nach dem konnte so eine Ehe erst gar nicht rechtmässig zustande gekommen sein. Sie wurde annuliert (im kanonischen Recht) oder getrennt (in reformierten Gebieten). Normalerweise mußten die Eheleute jedoch zunächst eine Übergangsfrist von ein bis drei Jahren abwarten und in dieser Zeit weiterhin versuchen, das Hindernis aus dem Weg zu räumen. Erst danach konnte eine Ehe geschieden werden. Dies galt auch für den Fall einer Be- oder Verhexung. Keine Scheidung wurde ausgesprochen, wenn die Impotenz erst auftrat, nachdem das debitum conjugale geleistet worden war oder schon Kinder gezeugt worden waren. Dann sollten die Eheleute wie "Bruder und Schwester" zusammenleben. Nach einer Ehescheidung durfte die Person, die nicht impotent war, wieder heiraten. Eine wichtige Grundlage für die Ehegesetzgebung wurde auf dem Konzil von Trient (1545-1563) beschlossen; danach sollte die landläufige Form der Eheschließung durch eine von der Kirche durchgeführte und schriftlich bestätigte Eheschließung ersetzt werden. Die landläufige Form war diejenige, in der Brautpaar, Eltern und Zeugen per Handschlag die Eheschließung besiegelten. Die Eheschließung vor der Kirche bzw. vor dem Altar und die schriftliche Aufzeichnung in den Ehebüchern setzte sich nach dem Concilium Tridentinum nur langsam durch; die Protokollierung von Eheanlegenheiten ist z.B. in Köln frühestens für die 1580er Jahre, im Stift Essen erst im 18. Jahrhundert überliefert. Allerdings gehörte nach kanonischen Recht außer dem kirchlichen Ritual, die Copula, auch die "fleischliche Vereinigung" zur rechtmässigen Eheschließung. Wurde die "eheliche Pflicht" nicht geleistet, galt auch die Ehe als nicht geschlossen. 6 In vielen kirchlichen und staatlichen Archiven finden sich Ehegerichtsakten, in denen die zu verhandelnde Sache eine Scheidung aufgrund von Impotenz ist. Dies gilt sowohl für katholische wie für reformierte Gebiete; Unterschiede liegen hier nur in der richterlichen Instanz. In der katholischen Kirche sind die bischöflichen Gerichte zuständig, in reformierten Gegenden die Konsistorien. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts nehmen bürgerliche Gesetzbücher die Ehescheidung in ihre Rechtsprechung mit auf, so z.B. das österreichische Ehepatent von 1783. Statistische Ergebnisse Für die gesamte Frühe Neuzeit kann zunächst festgestellt werden, dass 80% der der Impotenz angeklagten Personen Männer waren. Allerdings kommen die Fälle, in denen Frauen der Impotenz angeklagt werden, nur bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts vor; dann ändert sich der Sprachgebrauch. Im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts erhöht sich die Anzahl der Klagen vor den Ehegerichten - ebenso wie sich die Anzahl der Publikationen zwischen 1700 und 1725 vergrössert. Einige Abhandlungen wurden mehrfach aufgelegt und haben somit wohl den Diskurs mehr geprägt als andere. Allerdings gibt es auch Bücher mit nur einer Auflage, die von anderen Autoren öfter zitiert werden. Wichtige Autoren (mit Jahreszahl der Erstveröffentlichung) sind Antoine Hotman (Traicté de la dissolution du marriage par l'impuissance et froideur de l'homme ou de la femme, 1581), Tomas Sanchez (De sancto matrimonii sacramentum disputationum, 1607) und Johannes Simon, dessen "Dissertatio Iuridica. De impotentia coniugali" zwischen 1665 und 1734 sechs Auflagen erlebte. Oft zitiert werden die medizinischen Arbeiten von Ambroise Paré (Du rapport de l'impuissance de l'homme et de la femme, 1585), Paolo Zacchia (Quaestiones medico-legales, 1661), Nicholas Venette (La génération de l'homme ou Tableau de l'amour conjugal considéré dans l'état de mariage, 1685), Benjamin Ewaldt (Discursus medicus de impotentia virili theoretico-practicus, 1697) und Georg Stahl (Dissertatio medica de impotentia virili, 1697). 7 Auffallend ist, dass das Wort impotentia hauptsächlich bei medizinischen Arbeiten vorkommt, bei einigen juristischen und bei wenigen theologischen. Die meisten Traktake stammen aus den juristischen Fakultäten. Hier wie auch bei den theologischen und den medizinischen Werken halten sich katholischer und reformierter Ursprung die Waage. Wurde bis Anfang des 18. Jahrhunderts das Thema "Ehescheidung" nur in Arbeiten zur Ehe allgemein (z.B. De matrimonio et divortio) abgehandelt, so entstehen nun auch Werke, die laut Titel speziell auf die Ehetrennung (z.B. De jure divortii) eingehen. Die Reformation Eine weitere wichtige Änderung, die ebenfalls erst im 18. Jahrhundert zu beobachten ist, scheint die tatsächliche Praxis der Trennung von Ehen zu betreffen. So kann für das protestantische Württemberg wohl gesagt werden, dass es bis Anfang des 18. Jahrhunderts keine Unterschiede zur kanonischen Auffassung, eine Ehescheidung sei nur in Ausnahmefällen möglich, gab. Dies betraf zwar nicht alle rechtlichen und theologischen Abhandlungen, aber es zeigt sich vor allem in der praktischen Arbeit an den Ehegerichten. Heutige wissenschaftliche Arbeiten über schweizerische Gebiete zeigen ebenfalls, dass konfessionelle Unterschiede von Ehegerichten nicht zwangsweise dazu führten, dass von der Meinung der Reformatoren in bezug auf Ehescheidung - die sich ja nicht von der kanonischen Meinung unterschied abgewichen wurde bzw. sich die protestantische Einstellung zur Ehetrennung schnell in Richtung der heutigen Rechtsprechung weiterentwickelte. Immerhin schrieb Martin Luther: "Wenn Mann oder Weib untüchtig zur Ehe ist der Gliedmaßen oder Natur halber, das ist die einzige redliche Ursach, die Ehe zu reißen" (Vom ehelichen Leben, 1522). In katholischen Gebieten und Ländern galt das kanonische Recht teilweise bis weit ins 20. Jahrhundert (z.B. Italien, Irland), bevor eine säkularisierte, staatliche Rechtssprechung an dessen Stelle trat. Medizinische Untersuchung Im Fall Anna Maria und Peter Seiz wäre der Augsburger Bischof im Jahre 1770 natürlich auf dem festen Boden des kanonischen Rechts gewesen, falls er Peter Seiz 8 die Anweisung gegeben hatte, sich vom Medicus untersuchen zu lassen. Aufgrund der Untersuchungsbeschreibungen einiger medizinischen Abhandlungen kann man davon ausgehen, dass sich zwischen dem ausgehenden Mittelalter und dem Ende der Frühen Neuzeit hierbei kaum etwas geändert hat. So findet man den Aufbau eines Schriftstücks aus dem späten 15. Jahrhundert, das die medizinische Begutachtung eines Impotenten für das Ehegericht beschreibt, z.B. auch in dem Werk von Johann Christian Fritsch, der sich selbst "Fürstl. Sächs. Weimarischer Leib- und Hof-Medico" nennt, aus dem Jahr 1730. Er versammelte u.a. Abschriften von medizinischen Gutachten aus seiner Zeit. Einen ähnlichen Fragekatalog der Mediziner kann man aus Pierre Darmon, Le Tribunal de l'impuissance (Paris 1979), herauslesen. Dieses Schriftstück des späten 15. Jahrhunderts hatte Karl Sudhoff im Archiv entdeckt. Es trägt den Titel "Examen et processus impotentum et frigidorum" und beginnt mit dem Eid der ärztlichen Gutachter, größte Sorgfalt anzuwenden bei der Besichtigung und der Befragung nach den traditionellen Regeln der ärztlichen Kunst über "impotentia coeundi seu perpetua frigiditate". Sowohl die Ärzte als auch die zu untersuchende Person müßten unbedingt bei der Wahrheit bleiben, jede Art von Täuschung bei der Untersuchung soll ausgeschlossen werden. Nachdem diese beiden Eide geschworen sind, erklären die Ärzte ihre Bereitwilligkeit, die gewünschte Untersuchung vorzunehmen. Sie haben folgende Fragen an den zu Untersuchenden zu stellen: hat er eine Ehegattin; seit wann und wie verhält er sich geschlechtlich zu ihr; hatte er jemals Erektionen und Pollutionen; sind seine Hoden jemals mit Bilsenkrautsamen (iusquiamo = Hyoscyamus) bepflastert worden oder mit einem anderen, stark "kältenden" Pflaster; hatte er jemals mit oder ohne Erektion einen Samenerguss gehabt; leidet er an Blasenstein (lapidem); hat er eine Blasenfistel (calculum); ist sein Glied oder dessen Adern an- oder abgeschnitten, seine Hoden oder seine Samenkanäle an- oder ausgeschnitten; hat er ein zum Koitus reizendes Arzneimittel genommen und mit welchem Erfolg? Weiterhin haben die Ärzte sich davon zu überzeugen, dass die Venen hinter dem Ohr (vene post aures) nicht durchschnitten oder abgetrennt sind; dass der Ehegatte kein Kastrat ist, sondern Hoden hat und in der richtigen Anzahl; ob am Glied und am Hodensack Venenstränge sichtbar sind; ob Dichte und Fülle der Schamhaare und frühes 9 Auftreten derselben auf dem Promontorium besteht; ob sich das Skrotum in kaltem Wasser runzelt. Weitere Zeichen könne man bei Avicenna und anderen berühmten Autoren finden. Es folgen noch Anweisungen über die Formalien des Begutachtungsdokumentes, das zu untersiegeln und geschlossen zu überreichen sei unter der öffentlichen Betonung der Bereitwilligkeit, bei Bedarf eine sachgemässe ausführliche Auslegung mündlich geben zu wollen. Eine weitere schwer zu beantwortende Frage ist diejenige nach dem Preis solcher Untersuchungen. Peter Seiz hätte entsprechend einer Apotheker-Taxe von 1786 wahrscheinlich bezahlen müssen: "Taxa I. Was die Medici für ihre Bemühungen fordern dörfen [...] 5. Für PrivatInspection eines Impotentis, Leprosi cancrose &c. auf Requisition der Patienten, ... 1 fl. 30 kr. bis 2 fl. [...] Tax und MedicinalOrdnung. Stutgart, den 16. Octobris 1755." Laut Paul Münch, Lebensformen in der Frühen Neuzeit, belief sich das Jahresmindesteinkommen in Württemberg 1770 auf ungefähr 133 Gulden, wobei wohl drei Viertel davon für die Ernährung aufgewendet werden mußte. Somit sind eineinhalb bis zwei Gulden eine stattliche Summe. Auch Pierre Darmon kommt zu dem Urteil, dass ein Impotenzprozeß ein kleines Vermögen, "une petite fortune", kosten konnte. Darmon beschreibt in seinem Buch die v.a. in Frankreich zeitweise übliche Praxis, die Erektionsfähigkeit des Mannes zu testen. Dieser "manuelle" Test, ob und wie der Mann eine Erektion hat, wurde allerdings nur während der medizinischen Begutachtung vorgenommen. Darüber hatten sich schon die Zeitgenossen Antoine Hotman, Ambroise Paré und Vincent Tagereau abfällig geäußert. Es soll aber auch Fälle im ausgehenden Mittelalter und zu Beginn der Frühen Neuzeit gegeben haben, in denen Prostituierte für eine solche Art von Test hinzuzitiert wurden oder, wie Hans Peter Duerr in seinem Buch "Nacktheit und Scham" schreibt, "die betreffenden Männer in Anwesenheit des Arztes masturbieren mussten". Wir können jedoch davon ausgehen, dass dies kuriose Beispiele, also Ausnahmen sind, die Peter Seiz aus Schwäbisch Gmünd nicht betrafen. 10 Schadenzauber/Nestelknüpfen Peter Seiz unterlag wohl keinem magischen Zauber, dem maleficium. Die Hexenforschung hat zum Thema "Magie und Impotenz" bisher noch wenig herausgefunden. So ist z.B. eine noch zu klärende Frage, welchen Einfluß – direkt oder indirekt - Impotenzängste auf die seit dem späten Mittelalter stärker werdenden Hexenverfolgungen hatten. Daran anschließend könnte man fragen, ob solche Ängste Einfluß darauf hatten, warum die Verdächtigungen v.a. Frauen betrafen. Die Worte von Jakob Sprenger und Heinrich Insistoris im Hexenhammer (Malleus maleficarum) von 1487 sind ein gutes Beispiel: "Mögen auch die Frauen in grösserer Zahl Hexen sein als die Männer, wie es im ersten Teile des Werkes gezeigt worden ist, so werden doch mehr Männer behext; und der Grund dafür ist: einmal weil Gott mehr zulässt bezüglich des Liebesaktes, ..., als bezüglich der anderen menschlichen Handlungen, ..., dann auch, weil jener Liebesakt beim Manne als bei der Frau mehr und auf leichtere Art behext werden kann: deshalb." Der Schadenzauber ist eine Form der Hexerei, dessen Geschichte bis weit in die Antike zurückreicht. Er richtete sich vor allem gegen Vieh und Ernte aber auch gegen den menschlichen Körper. Wir sprechen heute noch vom "Hexenschuß". Der Impotenzzauber beinhaltete die Möglichkeiten des bösartigen Wegzauberns der sexuellen Potenz v.a. bei Männern, von der Funktionsuntüchtigkeit bis hin zum vollständigen Verschwinden des primären Geschlechtsmerkmals. Noch Anfang des 20. Jahrhunderts war der Glaube an das sogenannnte Nestelknüpfen weit verbreitet. Beim Trauakt wurde von der Person, die diesen Schadenzauber anwenden wollte, entweder Bänder in einen Ring gebunden oder auch ein Schloß mit dem Schlüssel zugeschlossen und danach versteckt, d.h. am besten in einen Brunnen oder ein tiefes Gewässer geworfen. Dies sollte verhindern, dass die Eheleute Kinder zeugen, also Impotenz bewirken. Eine Gegenmaßnahme war das Urinieren des Bräutigams durch den Ehering vor der Hochzeitsnacht oder das Wiederauffinden und Lösen der "Nestel" durch die Person, die den Zauber verhängt hatte. So beschreibt auch Johann Christian Fritsch einen Fall: 11 "Auf gleiche Weise soll ein gewisser Professor auf einer Teutschen Accademie, wie Ewaldus in seiner Disputation de Impotentia virili § 27 erzehlet, untüchtig gemacht worden seyn, dessen Famulus gleichsam aus Scherz, bey Trauung desselben mit seiner Braut, und zwar ipso actu copulationis, ein Schloß zugeschlossen, und solches in einen Brunnen geworfen, um zu sehen, ob dem Bräutigam hierdurch eine Untüchtigkeit zum Beyschlaff würde können zugefügt werden, welche auch würcklich darauf soll erfolget seyn, ob der Professor gleich mit allen zu Verrichtung des LiebesWerckes gehörigen Instrumentis von der Natur wohl versehen gewesen; daher auch der Mann vor Schaam und Gram fast in eine Melancholie gerathen, zumal, da er die Ursache seiner Untüchtigkeit nicht erforschen mögen, biß endlich der Famulus sich selbst verrathen, und seine That erzehlet hat; Da denn das Schloß gesuchet, gefunden, und wieder aufgeschlossen worden, so, daß der Professor nachgehends seiner Frau ehelich beywohnen können, und aus dieser Beywohnung mit derselben Kinder gezeuget habe." Bekannt war das Nestelknüpfen nicht nur in deutschsprachigen Ländern sondern auch in Griechenland, Italien, Russland, Ungarn, Indien und in Frankreich, wie z.B. bei Cyrano de Bergerac nachgelesen werden kann. Zwar argumentierten im "Zeitalter der Vernunft" die meisten "Aufklärer" gegen jeglichen Hexen-, Magie- und Zaubereiglauben, jedoch finden sich in vielen Hausbüchern Geschichten über das Nestelknüpfen. Fritsch beruft sich jedoch auch auf angesehene Mediziner, so u.a. auf Zacchia. Weiterhin erklärt er: "Die Urheber, oder diejenigen, welche dem Männlichen Geschlechte die Mannheit auf eine solche Art nehmen, heisset man Binder, und Nestel-Knüpffer." Die Nestelknüpfer kommen meist aus dem gleichen Stand wie die Behexten. Die Berichte erzählen von Bauern und Bürgern aber auch von Grafen. Große und Mächtige Die Sicherung der Thronfolge war bei Dynasten existentiell für das Überleben der eigenen Familie an der Macht. Der Vorwurf der Impotenz verstärkte das Gerede, das manchmal großen Einfluß auf das politische Ansehen, auf Macht und Ehre hatte. So wird Karl II. von Spanien, der letzte Habsburger, vor allem als "kindisch und debil" 12 beschrieben. Ludwig XVI. von Frankreich wurde, unter Einfluß seiner Frau Marie Antoinette, auf Flugblättern lächerlich gemacht. Ludwig XIII. stiftete mehrere Kirchen in Paris bevor seine Frau schwanger wurde. Napoleon Bonaparte war seit seinem 42. Lebensjahr impotent, Dwight D. Eisenhower wurde es erst nach seiner Amtszeit als Präsident der USA. Die Diskussion bei Friedrich II. von Preussen kam nach dessen Tod auf, als sich sein langjähriger Leibarzt, Johann Georg Zimmermann, mit drei Kollegen auseinandersetzen mußte. Zimmermann unterstellte dem König Impotenz aufgrund einer von einem Quacksalber durchgeführten Operation, wohingegen seine Kollegen im "Leichen-Besichtigungs-Protokoll" von 1790 angaben, keine Verletzungen des Penis feststellen zu können. Von den Zeitgenossen anderer, ebenfalls in der Öffentlichkeit stehenden Personen sind wenig Aussagen erhalten. Voltaire wurde in den Salons der Pariser Elite "Frost Liebender" genannt. Rousseau, Swift, aber auch Stendhal beschrieben ihre Impotenz in ihren Werken. Teilweise wurde und wird jedoch in geschichtlichen bzw. biographischen Abhandlungen einzelner Personen darüber gestritten, ob sie impotent waren und inwieweit dies Auswirkungen auf ihr Lebenswerk hatte. So werden z.B. Michail Bakunins anarchistische Ansichten auf seine "unmännliche Lebensart in sexuellen Dingen" zurückgeführt, wogegen Isaac Newton und Immanuel Kant ob ihrer immensen Schaffenskraft für ihre Enthaltsamkeit - und sei sie auch unfreiwillig gewesen - gelobt werden. Solche und ähnliche Vorwürfe mußte Peter Seiz wohl nie über sich ergehen lassen. Männlichkeit und Sexualität Eines der verbindenden Elemente zwischen Männlichkeit und Sexualität ist die sexuelle Potenz eines Mannes. Ist er impotent, so wird argumentiert, dann gilt entweder der Sexualakt als nicht befriedigend, oder zumindest sei die "Fortpflanzung der Menschheit" gefährdet. Beide Arten von Impotenz, Beischlafunfähigkeit und Zeugungsunfähigkeit, stellen damit sowohl Sexualität als auch Männlichkeit in Frage. Betrachtet man die Geschichte rückblickend mit der heutigen Definition von Impotenz, erhält man einen historischen Wandel der dominanten Betrachtungsarten. Sie wechseln von der Philosophie in der Antike über die Theologie im Mittelalter zu 13 Medizin und Psychologie in der Neuzeit. Ab dem 19. Jahrhundert sieht man einen Wandel von Fertilitäts- und Fortpflanzungsproblem über ein Problem der sexuellen Energie und körperlicher Leere zu einem psychologischen Komplex unterdrückter Begierde, der v.a. am Anfang des 20. Jahrhunderts eine große Rolle spielt. Dieser gesamte Wandel, von der Antike bis heute, liesse sich ganz traditionell im Sinne eines fortschrittsorientierten Zivilisationsprozesses erklären. Man könnte aber auch von einem sozialen Problembereich Impotenz ausgehen, den man in den einzelnen historischen Perioden untersucht. Selbst in diesem Artikel, der das Themengebiet ja nur anreißt, wird deutlich, dass in jedem Zeitabschnitt viele Definitionsversuche miteinander konkurrierten, die sich manchmal wegen größerer Glaubwürdigkeit, manchmal mit Hilfe politischer Macht, und manchmal einfach aus Zufall gegenseitig ausspielen konnten. Dies macht nicht nur Geschichte spannender; es erklärt auch besser große wie kleine historisch gewachsene Strukturen, auf denen unsere heutige Welt und unsere Weltanschauungen fußen. Ausblick? Selbst Viagra, das ja in allen relevanten Publikationen als historischer Quantensprung ("hat Geschichte geschrieben", "eine Revolution eingeleitet", "eine neue Kultur gegründet") bezeichnet wurde, erscheint dann eher als "Notwendigkeit" der historischen Epoche - so wie Aphrodisiaka und Kräutergärten mal mehr und mal weniger gesellschaftliche Aufmerksamkeit erfuhren. Der Zusammenhang zwischen Sexualität und Begierde wird nicht auf körperliche und psychische Vorgänge reduziert, sondern stellt sich als Diskussionsstoff unterschiedlicher wissenschaftlicher Ausprägung und damit als menschliche Konstruktion dar. So ist auch die männliche Rolle als "Beschützer, Ernährer und Erzeuger" - wie sie z.B. David Gilmore (Mythos Mann) beschreibt - weder historisch noch kulturell immer und überall das wichtigste oder gar einzige Wesensmerkmal "wahrer Männlichkeit". Wir sollten vermeiden, das bürgerliche (Allein-)Ernährermodell des 19. Jahrhunderts in andere Epochen - und natürlich auch auf andere Kulturen - zu übertragen. Die Konzepte Männlichkeit und Sexualität, aber auch Impotenz, Potenz oder männliche Sexualität, sind historisch gewachsen, ihre Definitionen sind vom Zeitgeist abhängig und damit wandelbar. 14 Und was passierte mit Anna Maria und Peter Seiz? Es kam nicht zur Ehetrennung. Am 25. Oktober 1774 kam ihr einziges Kind, Elisabeth, zur Welt. Literatur Pierre Darmon: Le Tribunal de l'impuissance Paris 1979 Hans Peter Duerr: Der Nachweis der Impotenz und die öffentliche Kopulation in: Ders.: Nacktheit und Scham. Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. Band 1 Frankfurt 1988 Johann Christian Fritsch: Seltsame jedoch wahrhafftige Theologische / Juritische / Medizinische und Physicalische Geschichte So wohl aus alten als neuen Zeiten Leipzig 1730 David D. Gilmore: Mythos Mann. Wie Männer gemacht werden: Rollen, Rituale, Leitbilder München 1993 Paul Münch: Lebensformen in der Frühen Neuzeit: 1500 bis 1800 Berlin 1998 Jakob Sprenger, Heinrich Insistoris: Der Hexenhammer (Malleus maleficarum) Strasburg 1487 (Nachdruck der ersten deutschen Übersetzung, München 1997) Karl Sudhoff: Ein Regulativ zur gerichtsärztlichen Begutachtung männlicher Impotenz bei Ehescheidungsklagen aus der Mitte des 15. Jahrhunderts Zeitschrift Archiv für die Geschichte der Medizin, Band 8, 89-97, 1914 15