Generation Setzlinge
Die Kieler Schriftstellerin Zara Zerbe bietet mit ihrem Debüt-Roman PHYTOPIA PLUS elegante und kluge Unterhaltung. Nebenher nimmt sie sich das Genre der ‚Climate Fiction‘ zur Brust.
Gastbeitrag von Frank Keil
Der Journalist lebt und arbeitet in Hamburg und Norddeutschland, Schwerpunkte Kunst und Kultur, Geschichte sowie Bildung und Soziales.
Das hätte auch schiefgehen können! Hätte ein Anklagestück werden können, schwer und düster, das man bald halbgelesen liegen lässt: wo wir doch alle wissen, das es nicht gut aussieht mit den Gletschern, den Polarkappen, den Regenmengen, die auf uns niederprasseln und den Südsee-Atollen, an denen der wachsende Meeresspiegel nagt – also mit dem Klima und der Zukunft, um mal zu untertreiben.
Doch das Gegenteil ist der Fall: Man liest Zara Zerbes dystopisches Roman-Debüt schnell ein wenig wie früher, als man erstens Bücher las, um sich zu unterhalten, zweitens um den Kopf weit hinaus in die Welt zu strecken und drittens um sie unbedingt weiterzuempfehlen. Was alles auch an dem präzisen und gleichzeitig so lockeren Erzählstil liegt und überhaupt an dem dramaturgischen Geschick, mit dem Zerbe zu Werke geht.
Der Clou und vielleicht auch der Trick: Zara Zerbe führt uns in eine durchweg vertraute Welt wie der von heute, nur ist sie einige Jahrzehnte in die Zukunft verlagert, so dass alles ein bisschen schief und verdreht ist und doch zugleich vertraut.
Die Stadt, in der wir nun eine Zeitlang lesen lebend, Hamburg nämlich, ist dabei in einem durchaus desolaten Zustand: Das Vorland hat sich in eine sumpfige Elbuferlandschaft zurückentwickelt, entsprechend drückt das Flusswasser beständig in die Straßen, unterhöhlt die Straßen und Gebäude, weshalb im Süden die Menschen leben, schon immer nicht zu den Gewinnern unseres Wirtschaftssystems gehörten. „Ich fand es sehr eindrücklich, als ich mir mal den Überschwemmungsstatus von Hamburg angeschaut habe; also was wäre, gäbe es all die Deiche nicht“, sagt Zara Zerbe. Längst gibt es dort mehr Waschbären als Menschen; die Waschbären randalieren des Nachts in den Hinterhöfen, holen sich aus den Mülltonnen, was zu holen ist; so sieht das also aus, wenn das, was wir Natur nennen, aus den Fugen geraten ist.
In den im doppelten Sinne höheren Norden der Stadt dagegen haben sich die der zurückgezogen, die genügend Geld und gesellschaftliche Kontakte und damit Beziehungen haben, um auch in schwierigen Lebenslagen nicht ganz verzagen zu müssen; leben hier hinter hohen Mauern in gut abgesicherten Wohnquartieren, wortkarges Wachpersonal sorgt für zusätzliche Sicherheit; an den Pforten kreiseln die Überwachungskameras.
Und wie eine Art Zwischenwelt, fast wie eine Schleuse fungiert der Gewächshäuserkomplex der Drosera AG, ein fiktives Biotech-Unternehmen, in dem es sprießt und wächst (und wer jetzt kurz an den Science Fiction Film „Lautlos im Weltall“ von 1972 denkt, der ist zumindest atmosphärisch auf keiner falschen Spur).
Doch es geht dem Unternehmen, dass wir anhand seiner MitarbeiterInnen nach und nach kennenlernen, nicht allein um die Pflege oder der Erhalt der Pflanzenwelt: Man vielmehr ein Verfahren entwickelt und erprobt es jetzt, um das menschliche Bewusstsein so zu digitalisieren, dass es sich in der DNA ausgewählter Pflanzen speichern lässt. „Länger bleiben mit Phytopia Plus“, lautet entsprechend der Werbespruch, der ein Weiterleben auf einer mehr als bedrohten Erde verspricht, denn wer weiß, was in den nächsten Jahrzehnten noch alles passiert. Und das mit dem Weiterleben funktioniert so: Noch zu Lebzeiten wird dem Speicherwilligen ein Bio-Chip in die Hirnrinde implantiert, der nach dem Ableben dann in den Gewebeteil einer Pflanze wechselt, der das Pflanzenwachstum steuert.
Heldin des Geschehens ist Aylin. Eine junge Frau, die bei der Drosera AG als Aushilfsgärtnerin arbeitet, sich um Setzlinge kümmert, deren Wurzeldichte scannt, sie vor Pilzbefall schützt, für den entsprechend kargen Mindestlohn, bis ihr etwas Besseres einfallen sollte. Ein bisschen verpeilt ist Alyin, wie wir Norddeutschen das nennen, wenn jemand sehr engagiert sein kann und es zuweilen auch ist, aber sich zugleich ständig verzettelt und daher nicht zu Potte kommt, auch das eine lokale Formel. Oft kommt sie zu spät und leicht zerzaust zum Arbeitsbeginn, ermahnt von der KI-Stimme Bella, die alles im Blick hat und entsprechend schwer auszutricksen ist. Und um all das gut auszuhalten, um zugleich wenigstens finanziell ein bisschen besser über die Runden zu kommen, hat sie sich eine Art Nebenerwerb ausgedacht: Sie knipst hier und da den einen und anderen Trieb ab, pflanzt ihn daheim ein, zieht das Gewächs groß und verkauft es unter der Hand weiter. Ist das streng verboten, könnte das Konsequenzen haben, wenn es auffliegt, stände der Rauswurf bevor oder würde sich der Ärger in Grenzen halten, so ganz genau weiß Aylin das nicht. Und diese diffuse Spannung wird uns bald durch die Seiten tragen.
Und weil ein Mensch eine Familie braucht, auch in der Zukunft wird das so sein, bleibt Aylin nicht ganz allein. Und Zara Zerbe lacht: „In einer meiner frühen Geschichte taucht gleich im ersten Satz meine Mutter gleich auf, aber ich wollte meine arme Mutter nicht noch mal nerven; also dachte ich, ich gönne es mir mal, die Elterngenerationen auszulassen.“ Dabei ist ihre Mutter Gärtnerin!
„Ich wollte den Stoff in der Zukunft ansiedeln, aber ich wollte auch gerne eine Figur aus der gegenwärtigen Generation haben; Elternbeziehungen sind ja immer so schwer, sind nicht mein Ding, mit einem Großvater kann ich ganz gut arbeiten, wobei der mit meinem tatsächlichen Großvater nichts zu tun hat“, setzt Zara Zerbe hinzu.
Und so muss den familiären Bindungsjob Aylins Großvater übernehmen, ein einstiger Gärtner, ursprünglich hat er Philosophie studiert, doch dann ist er vor langer Zeit aus Kroatien nach Norddeutschland eingewandert, hat hier sein Leben lang hart gearbeitet und muss sich nun Mühe geben, mit Aylins jugendlichem Tempo mitzuhalten. Jedenfalls mögen sich die beiden, und wieder einmal klappt das Spiel mit dem Aufeinandertreffen der jungen und übernächsten Generation, entwickelt sich aus dem Aufeinandertreffen von von Opa und Enkelin immer wieder ein munteres Geschehen.
Erst recht weil Aylin sich um ihren Großvater nicht nur sorgt, sie will auch sein durch Lebenszeit und -sinn gewonnenes Wissen nicht kampflos dem Vergessen übergeben, nur kostet es flotte 350.000 Euro, sein Bewusstsein in eine pflanzliche Form zu überführen – wobei Aylin als Mitarbeiterin der Drosera AG auf einen Rabatt von 50 Prozent zählen könnte, was immer noch 175.000 Euro wären! Und was nun passiert, wird facettenreich und spannend, wird so kunst- wie humorvoll erzählt, auf ein durchaus offenes Ende hin. Und Zara Zerbe sagt: „Oh, ob es eine Fortsetzung gibt, das werde ich immer wieder gefragt“, und wenn dem so ist, dann scheint es dafür ja gute, wenn nicht beste Gründe zu geben.
Zara Zerbe lebt und schreibt und arbeitet in Kiel, immerhin eine bundesdeutsche Landeshauptstadt, die Ostsee fast vor der Tür, davor verbreitert sich nur die Förde, gesegnet mit erstem Wind und Wellen; Kiel ist eine lebenswerte Stadt, die zugleich einen schlechten Ruf hat: verbaut und langweilig, ach wie provinziell und dergleichen mehr hört man, wenn man etwa in Hamburg oder Berlin bekennt, dass man gerne nach Kiel fährt und sich dort auch noch wohlfühlt. Mag alles sein, doch zugleich und vor allem ist Kiel ein Ort, von Fläche und Einwohnerzahl nicht zu klein und nicht zu groß und damit geradezu geschaffen, sich einigermaßen anstrengungsfrei durchzusetzen, wenn man ein junger Mensch ist, den es nun mal ins Kreative verschlagen hat. Und so sagt Zara Zerbe mit der ihr eigenen Lässigkeit: „Kiel als Literaturort, das passt schon.“ Und dass der Nachteil, dass man das, was man kulturell erleben möchte, selbst organisieren und auf die Beine stellen müsse, sofort durch den Vorteil ausgeglichen werde, dass man dieses in Kiel auch könne und wenn man das ein paar Jahre mache, dann kenne man alle interessanten Leute. Von daher gelte auch: „Die Leute, die meine Konkurrenten sein könnten, mit denen bin ich eh befreundet.“ Mithin: Die Wege sind kurz und vor allem sind sie nicht versperrt.
Also gehört sie auch zum Team der Kieler Literaturzeitschrift „Der Schnipsel“, auch das ein Name, der in Berlin, Hamburg oder München sofort Spott und Hohn auslösen würde, in Kiel geht er aber sowas von in Ordnung. 23 Nummern hat man so seit 2012 realisiert. Und nebenher hat sie in den vergangenen Jahren alle lokalen Literatur-Preise eingeheimst; für das Schreiben an ihrem Debüt etwa konnte sie zuletzt auf das Arbeitsstipendium der Kulturstiftung Schleswig-Holstein zurückgreifen.
Und so strahlt sie die gelassene Zufriedenheit einer jungen Autorin aus, die wichtige Schritte gegangen ist: Die Kritiken waren durchweg positiv, erste Lesungen hat sie hinter sich, nächste sind verabredet, auch wenn es sich noch immer ein wenig unwirklich anfühle, dass nach diversen einzelnen Erzählungen nun ihr erster Roman tatsächlich gedruckt und gebunden vorliege. Und der will ja auch verkauft werden, will unter die Leute, und so geht sie regelmäßig bei sich um die Ecke zum Buchladen ihres Herzens, schaut dort vorbei, signiert weitere Bücher und hilft gelegentlich auch dem Buchhändler, einem Herrn alter Schule, mit dem Genre der Online-Bestellung besser klarzukommen, auch das ist Kiel.
Zara Zerbe wurde 1989 in Hamburg-Harburg geboren, hat Literatur- und Medienwissenschaften studiert und lebt als freie Autorin in Kiel. Sie ist Mitherausgeberin des Literaturmagazins „Der Schnipsel“ und veranstaltet die „Lesebühne FederKiel“ in der Hansa48 in Kiel. Ihre Erzählung „Limbus“, für die sie mit dem Preis Neue Prosa Schleswig-Holstein 2018/2019 ausgezeichnet wurde, ist 2020 im Sukultur Verlag erschienen. 2021 erschien die Novelle „Das Orakel von Bad Meisenfeld“ im stirnholz Verlag. 2022 wurde sie mit dem Kunstförderpreis des Landes Schleswig-Holstein ausgezeichnet. „Phytopia Plus“ ist ihr Debütroman.
Beitragsbild © Corinna Haug