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Wölfflin, Heinrich - Die Klassische Kunst - Eine Einführung in Die Italienische Renaissance (1914)

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Presented to the

UBRhRY ofthe
UNIVERSITY OF TORONTO
from

the estate of

JULIE LANDMANN
DIE KLASSISCHE KUNST
Von demselben Verfasser erschien im Verlage
von F. Bruckmann A.-G. in München:
Die Kunst Albrecht Dürers.
2. Auflage. / Mit 150 Abbildungen.
Broschiert 10 Mark, gebunden 12 Mark.
DIE

KLASSISCHE KUNST
EINE EINFÜHRUNG IN DIE ITALIENISCHE
RENAISSANCE
VON

HEINRICH WÖLFFLIN

MIT 126 ERLÄUTERNDEN ABBILDUNGEN

SECHSTE AUFLAGE

t^

F. BRUCKMANN A.-G. / MÜNCHEN 1914


Alle Rechte vorbehalten

Druck von F. Biuckmann A.G., München


DEM ANDENKEN

JACOB BURCKHARDTS
GEWIDMET
Vorwort zur ersten Auflage

Das Interesse des modernen Publikums, soweit es überhaupt mit


bildender Kunst Fühlung nimmt, scheint sich heutzutage wieder mehr
den eigentlich künstlerischen Fragen zuwenden zu wollen. Man ver-

langt von einem kunstgeschichtlichen Buche nicht mehr bloss die bio-

graphische Anekdote oder die Schilderung der Zeitumstände, sondern


möchte etwas erfahren von dem, was Wert und Wesen des Kunstwerks
ausmacht; man greift begierig nach neuen Begriffen, denn die alten
Worte wollen den Dienst nicht mehr thun, und die gänzlich beiseite

geschobene Ästhetik fängt wieder an, die Aufmerksamkeit auf sich zu


ziehen. Ein Buch wie Adolf Hildebrands „Problem der Form" ist wie
ein erfrischender Regen auf dürres Erdreich gefallen. Endlich einmal
neue Handhaben, der Kunst beizukommen, eine Betrachtung, die nicht
nur in der Breite neuen Materials sich ausdehnt, sondern ein Stück weit
in die Tiefe führt.

Der Künstler, der diese jetzt viel citierte Schrift verfasste, hat unsern
kunstgeschichtlichen Bemühungen ein stachliges Kränzlein darin ge-

wunden. Die historische Betrachtungsweise, sagt er, hat dazu geführt,


mehr und mehr die Unterschiede und den Wechsel der Kunstäusserungen
in den Vordergrund zu bringen; sie behandelt die Kunst als Ausfluss
der verschiedenen Individuen als Persönlichkeiten, oder als Erzeugnis
der verschiedenen Zeitumstände und nationalen Eigentümlichkeiten. Daraus
erwächst die falsche Auffassung, als handle es sich bei der Kunst vor
allem um die Beziehung zum Persönlichen und zu den nicht künst-

lerischen Seiten des Menschen, und jedes Wertmass für die Kunst
an sich geht verloren. Die Nebenbeziehungen werden zur Hauptsache
VIII VORWORTE

und der künstlerische Inhalt, der unbekümmert um allen Zeitwechsel

seinen inneren Gesetzen folgt, wird ignoriert.


Es kommt mir das vor, fährt Hildebrand fort, wie wenn ein Gärtner

Pflanzen unter verschieden geformten Glasglocken wachsen lässt und

damit den Sträuchlein lauter verschiedene Formen zu geben weiss, und


man nachher sich nur mit diesen verschiedenen Formen abgeben wollte
und über all den Verschiedenheiten ganz vergässe, dass es die Pflanzen
sind mit ihrem Innern Lebenstrieb und ihren eigenen Naturgesetzen, um
die es sich handelt.

Diese Kritik ist einseitig und hart, aber vielleicht recht nützlich. i) Die

Charakteristik der Künstlerpersönlichkeiten, der individuellen Stile und


der Zeitstile wird immer eine Aufgabe der Kunstgeschichte bleiben und
ein starkes menschliches Interesse erwecken, aber das grössere Thema
der „Kunst" hat die historische Wissenschaft in der That fast ganz aus
den Händen gegeben und einer von ihr gesonderten Kunstphilosophie
überlassen, der sie doch andererseits schon so oft die Existenzberech-

tigung abgesprochen hat. Das Natürliche wäre, dass jede kunstgeschicht-

liche Monographie zugleich ein Stück Ästhetik enthielte.


Der Verfasser dieses Buches hat ein solches Ziel vor Augen gehabt.
Seine Absicht war, den künstlerischen Inhalt der italienischen Klassik

herauszuheben. Im Cinquecento ist die italienische Kunst reif geworden.

Wer sie verstehen will, vvird gut thun, den Stier bei den Hörnern zu
packen, d. h. mit dem vollcntwickelten Phänomen sich bekannt zu machen,
weil erst hier sich das ganze Wesen ausspricht und erst hier Massstäbe
des Urteils gewonnen werden können.
Die Untersuchung beschränkt sich auf die grossen mittelitalienischen
Meister. Venedig hat eine analoge Entwicklung, aber es würde die

Darstellung verwirrt haben, auf die venezianischen Sonderbedingungen


einzugehen.
Es ist selbstverständlich, dass nur Hauptwerke angezogen sind, und
auch hier muss man dem Autor noch eine gewisse Freiheit in der Aus-

wahl und in der Behandlung zugute halten, insofern sein Plan nicht auf

') Die eigentliche Analogie zu dem gerügten üebaliren der Kunsthistoriker


ist nicht in dieser Gärtnergeschichte gegeben,' sondern läge in einer Botanik, die
nur Pflanzengeographie sein wollte.
VORWORTE IX

die Schilderung der einzelnen Künstler, sondern auf die Fassung der
gemeinsamen Züge, des Gesamtstils, gerichtet war.

Um dieses Ziel sicherer zu erreichen, ist dem ersten, historischen

Teil zur Gegenprobe ein zweiter systematischer beigegeben, der nicht


nach Persönlichkeiten, sondern nach Begriffen den Stoff ordnet, und in

diesem zweiten Teil soll zugleich die Erklärung des Phänomens ent-

halten sein.

Das Buch will kein akademisches Buch sein, aber etwas Schul-

meisterliches mag man ihm wohl anmerken, und der Verfasser bekennt
gerne, dass die Erfahrungen im Verkehr mit den jungen Kunstliebhabern

der Universität, die Freude des Sehenlehrens und des Sehenlernens in

kunstgeschichtlichen Übungen ihn hauptsächlich zu dem verwegenen


Entschluss ermutigt haben, über ein so eminent künstlerisches Thema,
wie den klassischen Stil, als Nicht-Künstler seine Meinung laut werden
zu lassen.

Basel, im Herbst 1898

Heinrich Wölfflin

Aus dem Vorw^ort zur zweiten Auflage

. . . durch eine grössere Fülle im Stofflichen oder durch breitere


Darstellung, die wohl da und dort als wünschbar erachtet wurde, wäre
wenig für die Hauptabsicht des Verfassers gewonnen worden: die Kunst
einer ganzen Zeit einmal allseitig aufzunehmen und zu erklären. Zweifel-

los sollten die Fragestellungen, um das Phänomen wirklich zu fassen, noch


ergänzt und verschärft werden — von dem ganzen Gebiet der Farbe
ist von vornherein abgesehen worden — , einstweilen aber müssen wir ver-

suchen, überhaupt einmal Ordnung in die Beobachtungen zu bringen.


Die Begriffe „Gesinnung*', „Schönheit", „Bildform" geben die grossen
Richtungen an und ich gestehe, dass man mich kaum empfindlicher hat

missverstehen können als durch den Vorschlag, die Trennung der Kapitel
„Schönheit" und „Bildform" wieder aufzuheben. Die Kunstgeschichte
muss sich einmal auf ihre formalen Probleme besinnen, die nicht damit
X VORWORTE

erledigt sind, dass ein Schönheitsideal gegen das andere abgegrenzt, d. h.

dass Stil von Stil reinlich unterschieden wird, diese formalen Probleme
fangen schon viel weiter vorn an: beim Begriff der Darstellung als

solcher. Hier ist noch sehr viel zu thun. Über die Entwicklung der
Zeichnung, der Licht- und Schattenbehandlung, der Perspektive und
Raumdarstellung u. s. w. müssen zusammenhängende Untersuchungen
gemacht sein, wenn die Kunstgeschichte nicht nur Illustration der Kultur-

geschichte sein will, sondern auf eigenen Füssen stehen soll. Einst-

weilen sehen alle diese Versuche noch etwas fadenscheinig aus, aber

wenn die Zeichen nicht täuschen, so ist der Augenblick da, wo diese

wichtigen Ergänzungsarbeiten aufgenommen werden, als Beiträge zu

einer allgemeinen „Geschichte des künstlerischen Sehens".

Vorwort zur vierten Auflage

Das Unterscheidende dieser neuen Auflage liegt wesentlich in der

reichern Illustrierung, die textlichen Veränderungen beziehen sich nur auf

Einzel-Korrekturen. Neigung zu durchgreifenderer Umarbeitung wäre


wohl vorhanden gewesen, denn wenn auch der Verfasser seine Ansichten
noch vollkommen vertritt, so würde er doch von Darstellung und Be-

gründung jetzt mehr verlangen, allein es stellte sich bald heraus, dass

mit Flickwerk hier nichts erreicht wäre. So bildete sich der Plan, dem
empfundenen Mangel mit einem besonderen Buche, das ausgeführte

Analysen enthalten wird und gewissermassen als zweiter Band gelten

kann, nach Kräften abzuhelfen.

Berlin, im Herbst 1907.


H.W.

Die fünfte und sechste Auflage ist ein unveränderter Abdruck


der vierten.

Die Verlagsanstalt
.

Inhaltsübersicht

Seite

Vorworte.
Einleitung 1

Erster Teil.
I. Vorgeschichte 7
II. Lionardo 23
1. Das Abendmahl 26
2. Die Mona Lisa 32
3. Die Anna selbdritt ... 37
4. Die Schlacht von Anghiari 39
III. Michelangelo (bis 1520) 43
1 Frühwerke 44
2. Die Deckenmalereien in der sixtinischen Kapelle . . 54
Die Geschichten 57
Die Propheten und Sibyllen 61
Die Sklaven 65
3. Das Juliusgrab 69
IV. Raffael 74
1. Das Sposalizio und die Grablegung 76
2. Die florentinischen Madonnen 81

3. Die Camera della Segnatura 86


Die Disputa 87
Die Schule von Athen 92
Der Parnass 97
Die Jurisprudenz 99
4. Die Camera d'Eliodoro 101
Die Züchtigung Heliodors 101
Petri Befreiung 103
Die Messe von Bolsena 105
5. Die Teppichkartons 107
6. Die römischen Porträts 117
7. Die römischen Altarbilder 126
.

XII INHALTSÜBERSICHT

Seite

V. Fra Bartolommeo 139


VI. Andrea del Sarto 152
1. Die Fresken der Annunziata 153
2. Die Fresken des Scalzo 157
3. Madonnen und Heilige 164
4. Ein Bildnis Andreas 172
VII. Michelangelo (nach 1520) 177
1. Die Medicäerkapelle 177
2. Das Jüngste Gericht und die Capella Paolina ... 186
3. Der Verfall 187
Zweiter Teil.
I. Die neue Gesinnung 193
II. Die neue Schönheit 217
III. Die neue Bildform 238
1 Beruhigung, Räumigkeit, Masse und Grösse .... 239
2. Vereinfachung und Klärung 244
3. Bereicherung 255
4. Einheit und Notwendigkeit 267
Schluss 275
Verzeichnis der Abbildungen 278
VORGESCHICHTE 17

Botticelli. Die tanzenden ürazien

Atemzuge genannt. Die gleiche Atmosphäre verbindet zwei verschiedene


Individualitäten zu ähnlicher Erscheinung. Als Erbteil des Vaters besitzt
Filippino zunächst eine Dosis von koloristischem Talent, das Botticelli

nicht hatte. Die Oberfläche, die Haut der Dinge reizt ihn. Er behandelt
das Inkarnat delikater als irgend ein anderer. Er giebt dem Haar Weich-
heit und Glanz: was für Botticelli nur ein Linienspiel war, ihm ist es
ein malerisches Problem. Er ist sehr gewählt in der Farbe, namentlich
in den blauen und violetten Tönen. Seine Linie ist milder, welliger;
man kann sagen, er habe in der Empfindung etwas Weibliches. Es giebt
frühe Bilder Filippinos von entzückender Zartheit der Empfindung und
Durchführung. Manchmal erscheint er fast zu weich. Der Johannes auf
dem Bilde der Maria mit vier Heiligen von 1486 (in den Uffizien) ist nicht
der herbe Wüstenprediger, sondern ein gefühlvoller Schwärmer. Der
Dominikaner auf demselben Bilde fasst sein Buch nicht mehr mit ge-
schlossener Hand, sondern balanziert es nur noch auf dem Ballen mit
einem Stück Tuch dazwischen, und gleich höchst sensiblen Fühlhörnern
regen sich die beweglichen feinen Finger. Die spätere Entwicklung
entspricht nicht diesen Anfängen. Das innere Vibrieren wird zu einer
krausen äusseren Bewegung, die Bilder werden unruhig und wirr, und
WölHlin, Die klaäsisc'ne Kunst 2
18 DIE KLASSISCHE KUNST

der Maler, der ernsthaft und gehalten die Kapelle Masaccios bei den
Karmelitern zu vollenden wusste, ist in den späteren Fresken in S. M.Novella
nur schwer mehr wiederzuerkennen. Er ist unendlich reich in äusserem
Zierrat und was bei Botticelli nur angedeutet ist, das Phantastische und
Übermässige, ist bei ihm ein stark ausgeprägter Zug. Er stürzt sich aufs
Bewegte und wirkt manchmal durch die Fülle der Bewegung prachtvoll
— die Himmelfahrt der Maria in S. M. sopra Minerva (in Rom) mit den
bacchantisch schwärmenden Engeln ist eine rechte Jubelszene — , dann
gefällt er sich wieder in der blossen Unruhe und wird sogar roh und
trivial. Wenn er das Martyrium des Philippus malt, so muss es der
Moment sein, wo das Kreuz an Seilen emporgezogen, in der Luft herum-
baumelt. Von der fratzenhaften Kostümierung auf dem Bilde nicht zu
sprechen. Man hat den Eindruck, es sei ein sehr grosses Talent aus
Mangel an innerer Disziplin hier verlottert und es ist verständlich, dass
Leute von viel gröberer Organisation, wie Ghirlandajo, ihm den Rang
abgelaufen haben. In S. M. Novella, wo beide Wand an Wand zusammen-
stehen, hat man die zappeligen Geschichten Filippinos bald satt, während
Ghirlandajo, gediegen und bieder, sein PubHkum mit einem wahren
dauerhaften Behagen erfüllt.

An übermässiger Empfindsamkeit hat Ghirlandajo (1449 bis 1494)


nie gelitten, er hat ein massives Gemüt, aber sein offener munterer Sinn,
seine Freude am Festlich-Lebendigen gewinnt ihm gleich die Sympathie.
Er ist sehr unterhaltend und man ihm weitaus am meisten
erfährt bei
vom Leben in Florenz. Das Inhaltliche der Geschichten nimmt er leicht.
Im Chor von S. M. Novella hätte er das Leben der Maria und des
Täufers zu erzählen gehabt, er hat es auch erzählt, aber wer die Ge-
schichte nicht kennt, wird sie bei ihm kaum begreifen. Was hat Giotto
gemacht aus dem Tempelgang der Maria! Wie eindringlich führt er
uns die Szene vor: Die kleine Maria, die aus eigenem Willen die Treppen
des Tempels hinaufschreitet, der Priester, der sich ihr entgegenbeugt, die
Eltern, die mit Blick und landen das Kind begleiten.
I Bei Ghirlandajo
ein geputztes Schulmädchen, kokett seitwärts blickend trotz der Eile des
Laufes; der Priester kaum sichtbar, weil er von einem Pfeiler über-
schnitten wird und die Eltern in gleichgültiger Pose das Schauspiel hin-
nehmend. Bei der Vermählung kommt Maria in unwürdiger Hast zum
Ringwechsel und die Fleimsuchung ist nichts anderes als eine hübsche,
aber ganz profane Begrüssung von Damen auf der Promenade.
zwei
Dass im Bilde der Verkündigung des Engels an Zacharias der eigent-
liche Vorgang völlig überwuchert ist von den vielen Porträtfiguren im
Vordergrund, die teilnahmlos assistieren, ist fürGhirlandajo nicht anstössig.
Er ist ein Schilderer, kein Erzähler. Das Objekt an sich macht ihm
VORGESCHICHTE 19

Freude. Er hat vortrefflich lebendige Köpfe, aber wenn Vasari den Aus-
druck von Gemütsbewegungen bei ihm lobt, so ist das ein Urteil, das
nicht zutrifft. Er ist besser im Ruhigen als im Bewegten. Szenen wie
den Kindermord möchte man von Botticelli lieber sehen als von ihm.
Für gewöhnlich hält er sich an die einfach ruhige Präsentation und zahlt
dem Zeitgeschmack für Bewegung seinen Tribut nur etwa in einer
eilenden Magd oder dgl. Figuren. Seine Beobachtung ist nirgends intim.
Während damals in Florenz eine Reihe von Leuten höchst eindringlich
die Probleme der Modellierung und der Anatomie, der Farbentechnik
und der Luftperspektive behandelten, begnügt er sich mit den allgemeinen
Errungenschaften. Er ist kein Experimentierer, kein Entdecker in maler-
ischen Dingen, aber ein Künstler, der die Durchschnittsbildung seiner
Zeit besitzt und damit auf neue monumentale Wirkungen losgeht. Er
führt seine Kunst aus dem kleinen Stil heraus zu grösseren Massen-
wirkungen. Er ist reich und doch klar, festlich und manchmal sogar
gross. Der Zug der fünf Frauen bei der Geburt Maria hat seines gleichen
nicht mehr im 15. Jahrhundert. Und was er an Kompositionsmotiven
versucht, die Zentralisierung der Geschichten und die Behandlung der
Eckfiguren ist von einer Art, dass die Meister des Cinquecento direkt hier
anknüpfen konnten.
Man hüte sich indessen, den Wert der Leistung zu überschätzen.
Ghirlandajos Malereien in S. M. Novella sind vollendet worden um 1490,
inden unmittelbar folgenden Jahren entstand Lionardos Abendmahl, und
würde dieses in Florenz zur Vergleichung offenstehen, so würde der
„monumentale" Ghirlandajo auf einmal gar ärmlich und beschränkt aus-
sehen. Das Abendmahl ist ein Bild, unendlich viel grossartiger in der
Form, und Form und Inhalt gehen hier vollkommen ineinander auf.
Was fälschlich von Ghirlandajo behauptet wird, er fasse die Leistungen
des florentinischen QuattrocentoKunst zusammen, gilt von
in seiner
Lionardo (geb. 1452) in höchstem Grad. Er ist fein in der Einzel-
beobachtung und grossartig in der Auffassung des Ganzen; er ist ein
eminenter Zeichner und ebenso grosser Maler; es giebt keinen Künstler,
der nicht seine besonderen Probleme von ihm behandelt und weiter ent-
wickelt gefunden hätte, und er übertrifft sie alle in der Tiefe und Fülle
der Persönlichkeit.
Da Lionardo mit den Cinquecentisten zusammen besprochen zu
werden pflegt, so vergisst man leicht, dass er nur wenig jünger als
Ghirlandajo und sogar älter als Filippino gewesen ist. Er arbeitete in
der Werkstätte des Verrocchio und hatte dort zu Mitschülern den P e r u-

g i n und Lorenzo di Credi. Der letztere ist ein Stern, der nicht
selbst leuchtet, sondern sein Licht von einer anderen Sonne erhält, seine Bilder
!

20 DIE KLASSISCHE KUNST

sehen aus wie fleissige Schulaus-


führungen einer gestellten Auf-
gabe; Perugino dagegen brachte
Eigenes und bedeutet im Zu-
sammenhang der florentinischen
Kunst sehr viel, wovon später zu
reden sein wird. Die Schüler
haben Verrocchios Unterricht be-
rühmt gemacht. Es war offen-
bar die vielseitigste Werkstätte in
Florenz. Die Verbindung von
Malerei und Bildhauerei war um
so förderlicher, als gerade die
Bildhauer geneigt waren, der
Natur methodisch zu Leibe zu
gehen und die Gefahr hier ferner
laiz;, in die Sackgasse eines will-
kürlich-persönlichen Stils zu ge-
raten. Zwischen Lionardo und
Vcrrocchio scheint aber auch eine
innerliche Verwandtschaft bestan-
den zu haben. Wir erfahren bei
Vasari, wie nahe sich die Inter-
Lionardo. Madonna in der Felsgrotte. Paris, Louvre
essen berührten und wie viele
Fäden Lionardo aufnahm, die Verrocchio angesponnen hatte. Und trotz-
dem ist es eine Überraschuni^^ zu sehen.
Jugendbilder des Schülers
Wenn schon der Engel auf Verrocchios Taufbild Akademie) (Florenz,
uns berührt wie die Stimme aus einer andern Welt, wie ganz unver-
gleichlich erscheint ein Bild wie die Madonna in der Felsgrotte im
Zusammenhang florentinisch-quattroccntistischer Madonnen
Maria knieend, sich vorbeugend, nicht im Profil, sondern von vorn
gesehen. Sie legt die rechte Hand um den kleinen Johannes, der neben
ihr mit angelegentlichem Beten gegen Christus sich vorschiebt, indessen
ihre Linke flach schwebend, in eigentümlicher Verkürzung, die Beweg-
ung begleitet. Das Christuskind, auf dem Boden sitzend, antwortet mit
segnender Gebärde. Ein grosser schöner Engel hält es, auch er knieend.
Es ist die einzige Figur im Bild, die auswärts blickt, gegen den Be-
schauer hin, und die weisende Rechte führt diese Beziehung deutlicher
fort: eine reine Profilhand, einfach und klar wie ein Wegweiser. Das
ganze in seltsam geheimnisvoller Felswildnis, mit vereinzelten Ausblicken
ins Offene und Lichte.
VORGESCHICHTE 21

Alles bedeutend und neu.


ist hier Das Motiv an sich wie die
formale Behandlung. Die Freiheit der Bewegung im einzelnen und die
Gesetzlichkeit der Gruppenführung im ganzen. Die unendlich feine Be-
lebung der Form und die neue malerische Lichtrechnung, wo es offen-
bar darauf abgesehen war, den Figuren durch den dunkeln Grund eine
starke plastische Wirkung zu geben und zugleich die Phantasie in un-
geahnter Weise in die Tiefe zu ziehen. ^) Der durchschlagende Eindruck
für den Fernanblick ist die körperhafte Wirklichkeit und die klare Absicht,
mit der Dreieckgruppierung gesetzmässig zu wirken. Das Bild hat einen
tektonischen Rückgrat, was etwas ganz anderes bedeuten will als die
blosse Symmetrie, wie sie die früheren auch haben. Hier ist mehr Frei-
heit und zugleich mehr Gesetzlichkeit und das Einzelne ist schon wesent-
lich aufgefasst in seinem Zusammenhang Eben das
mit dem Ganzen.
ist Cinquecento-Art.
Lionardo zeigt früh die Spuren davon. Es giebt
im Vatican einen knieenden Hieronymus von ihm, mit dem Löwen. Die
Figur ist als Bewegungsmotiv merkwürdig und von jeher gewürdigt
worden, man darf aber auch fragen, wer ausser Lionardo den Löwen in
der Linie so mit dem Heiligen zusammen empfunden haben würde. Ich
wüsste keinen.
Das einflussreichste unter Lionardos Frühbildern ist die Untermalung
zu einer Anbetung der Könige gewesen (Uffizien). Das Werk ist um
1480 entstanden und berührt noch altertümlich durch die Vielheit der
Gegenstände. Man
merkt da noch den Quattrocentisten, den das Mannig-
neue Empfindung spricht doch aus der Art, wie
faltige ergötzt, aber eine
die Hauptsache hervorgehoben ist. Auch Botticelli und Ghirlandajo haben
die Anbetung der Könige so gemalt, dass Maria zentral in einem Kreise
von Menschen sitzt; regelmässig aber kommt sie dabei zu kurz. Lionardo
ist der der das Hauptmotiv dominierend herauszuarbeiten versteht.
erste,

Wie die äusseren Figuren als starke, schliessende Coulissen an den Rand
gesetzt sind, ist wieder ein folgewichtiges Motiv und der Gegensatz der
gedrängten Menge und der ganz frei und leicht sitzenden Madonna ist
von der allerwirksamsten Art, die man nur Lionardo zutrauen kann. Hätte

') Das Louvrebild der Madonna in der Felsgrotte ist dem Londoner Exem-
plar so weit überlegen, dass es unbegreiflich erscheint, wie man an seiner Origi-
nalität hat zweifeln können. Gewiss hat der zeigende Finger des Engels für uns
etwas Unangenehmes und die Weglassung der Hand im Londoner Bild ist im Sinne
des späteren Schönheitsgefühls sehr begreiflich, indessen würde Lionardo, wenn er
die neue Redaktion besorgt hätte, die dadurch entstehende Lücke jedenfalls
zu
füllengewusst haben: jetzt ist dort trotz der vorgeschobenen Schulter des Engels
ein Loch im Bild. Zeichnung und Modellierung sind cinquecentistisch verstärkt
und vereinfacht worden, wobei viel Feinheit verloren gegangen ist, so seelenvoll
der neue Ausdruck des Engels wirken mag.
22 DIE KLASSISCHE KUNST

man aber auch nichts als die Linien der jMaria allein, so müsste man
auf ihn als Urheber raten, so unerhört fein ist das Sitzen und die Zu-
sammenordnung mit dem Knaben. Die andern haben die Maria breit
und grätschig auf dem Thron Platz nehmen lassen, er giebt das feinere
weibliche Sitzen mit zusammengeschobenen Knieen. Das haben dann
später alle von ihm aufgenommen und das höchst reizvolle Motiv der
Drehung der Figur mit dem seitwärts sich wendenden Knaben ist von
Raffael in der Madonna di Foligno sogar wörtlich wiederholt worden.

RaKaels Madonna di Foligno


Nacii dem Stich des Marc Anton
II. Lionardo
1452 1519

Unter allen Künstlern der Renaissance ist Lionardo derjenige ge-


wesen, der am meisten Freude an der Welt gehabt hat. Alle Erschei-
nungen fesseln ihn. Das körperliche Leben und die menschlichen Affekte.
Die Formen der Pflanzen und Tiere und der Anblick des krystallhellen
Bächleins mit den Kieseln am Grunde. Die Einseitigkeit der blossen
Figurenmaler ihm etwas Unbegreifliches. „Siehst du nicht, wie viel
ist

verschiedenerlei Getier es giebt, und so Bäume, Kräuter, Blumen, welche


Mannigfaltigkeit gebirgiger und ebener Gegenden, Quellen, Flüsse, Städte,
wie verschiedene Trachten, Schmuck und Künste?"^)
Er ist der geborene vornehme Maler, sensibel für das Delikate. Er
hat Gefühl für feine Hände, für den Reiz durchsichtiger Gewebe, für
zarte Haut. Er liebte im besonderen das schöne weiche, wellige Haar.
Auf Verrocchios Taufbild hat er ein paar Grasbüschel gemalt, man sieht
sofort, dass er sie gemacht hat: Keiner besitzt ein gleiches Gefühl für

die natürliche Zierlichkeit der Gewächse.


Das Starke und das Weiche ist ihm gleichmässig vertraut. Wenn
er eine Schlacht malt, so überbietet er alle im Ausdruck der entfesselten
Leidenschaft und ungeheurer Bewegung und daneben weiss er die zar-
testen Empfindungen zu beschleichen und den eben verschwebenden
Ausdruck festzuhalten. In einzelne Charakterköpfe scheint er sich ver-
bissen zu haben mit dem Ungestüm eines geschworenen Wirklichkeits-
malers, und dann plötzlich wirft er das wieder ganz weg und überlässt
sich den Visionen idealer Bildungen von einer fast überirdischen Schön-
heit und träumt jenes leise, süsse Lächeln, das wie der Wiederschein
eines Innern Glanzes aussieht.
Er empfindet den malerischen Reiz der Oberfläche der Dinge und
denkt dabei als Physiker und Anatom. Eigenschaften, die sich auszu-
schliessen scheinen, sind bei ihm vereinigt: das unermüdliche Beobachten
und Sammeln des Forschers und die subtilste künstlerische Empfindsam-
') Lionardo, das Buch von der Malerei (ed. Ludwig): italienisch-deutsche
Ausgabe No. 73, deutsche Ausgabe No. 80.
24 DIE KLASSISCHE KUNST

keit. Er begnügt sich nie, den Dingen nach ihrer äusseren Erscheinung
als Maler gerecht zu werden mit dem gleichen leidenschaftlichen Interesse
:

wirft er sich auf die Ergründung des inneren Baues und der Lebens-
bedingungen aller Wesen. Er ist der erste Künstler, der systematisch
die Proportionen des menschlichen und tierischen Körpers untersucht
und von den mechanischen Verhältnissen beim Gehen, Heben, Steigen
Tragen sich Rechenschaft gegeben hat, und er ist derselbe, der zugleich
die umfassendsten physiognomischen Beobachtungen angestellt und über
den Ausdruck der Gemütsbewegungen zusammenhängend nachgedacht hat.
Der Maler ist für ihn das klare Weltauge, das alle sichtbaren Dinge
beherrscht. Auf einmal erschliesst sich die Welt in ihrer ganzen Fülle
und Unerschöpflichkeit und Lionardo scheint sich mit allem Lebendigen
durch eine grosse Liebe verbunden gefühlt zu haben. Einen bezeichnenden
Zug der Art teilt Vasari mit, dass man ihn gelegentlich auf dem Markt
Vögel habe kaufen sehen, um sie der Freiheit zurückzugeben. Die That-
sache scheint den Florentinern Eindruck gemacht zu haben.
In einer so universellen Kunst giebt es keine oberen und unteren
Probleme, die letzten Feinheiten der Lichtführung sind nicht interessanter
als die elementarste Aufgabe, das Dreidimensionale überhaupt auf der
Fläche körperlich erscheinen zu lassen, und der Künstler, der das mensch-
liche Antlitz zu einem Spiegel der Seele gemacht hat, wie kein anderer,
kann wieder sagen: „die Rundung ist die Hauptsache und die Seele in

der Malerei."
Lionardo hatte so viel neue Sensationen von den Dingen, dass er
nach neuen technischen Ausdrucksmitteln suchen musste. Er wurde ein
Experimentierer, der sich kaum je genug thun konnte. Die Mona Lisa
soll er als unvollendet aus der Hand gegeben haben. Sie ist technisch
ein Geheimnis. Wo aber die Arbeit ganz durchsichtig ist, wie in den
einfachen Silberstiftzeichnungen, da wirkt er nicht weniger überraschend.
Man kann sagen, er sei der erste, der die Linie gefühlvoll behandelte.
Wie den Strich an- und abschwellen lässt, im Kontur, das findet sich
er
bei Die Modellierung bewerkstelligt er mit lauter gleich-
keinem sonst.
laufenden geraden Strichen; es ist, als ob er die Flächen nur zu streicheln
brauchte, um die Rundung der Form herauszubringen. Nie ist mit ein-
facheren Mitteln Grösseres erreicht worden und der Parallelismus der
Linien, wie ihn ja auch der ältere italienische Kupferstich hat, giebt den
Blättern eine unschätzbare Geschlossenheit der Wirkung. ^)

Ausgeführte Werke haben wir nur wenige von Lionardo. Er war

') Buch von der Malerei 51 (70): dass die Liciiter und Schatten ineinander
übergehen sollen ,,wie ein Rauch" (übrigens ein alter Ausdruck). Ebenda der Hin-
weis: die Linien zu beobachten, ,,wo sie breit und wo sie fein sind".
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26 DIE KLASSISCHE KUNST

unermüdlich in der Beobachtung und unersättlich im Lernen, er stellt

sich immer neue Aufgaben, allein es scheint, als habe er sie nur für
sich lösen wollen. Das Abschliessen und Fertig-Hinstellen war nicht
seine Sache und bei den ungeheuren Ansprüchen, die er machte, mag
ihm überhaupt jeder Abschluss nur als ein provisorischer vorgekom-
men sein.

1. Das Abendmahl
Neben Raffaels sixtinischer iMadonna ist das Abendmahl Lionardos
das populärste Bild der ganzen italienischen Kunst. Es ist so einfach
und ausdrucksvoll, dass jedem einprägt. Christus in der Mitte
es sich
eines langen Tisches, die jünger gleichmässig zu seinen Seiten; er hat
es gesagt: einer ist unter euch, der mich verrät! und diese unerwartete
Rede bringt die Versammlung in Aufruhr. Er allein bleibt still, un.d

hält das Auge gesenkt und in dem Schweigen liegt die wiederholte
Erklärung: Ja, es ist nicht anders, einer ist unter euch, der mich ver-
raten wird. Man meint, dass die Geschichte überhaupt nie anders habe
erzählt werden können und dennoch, es ist alles neu in dem Bilde
Lionardos und gerade das Einfache ist erst der Gewinn der höchsten
Kunst.
Wenn wir uns nach der quattrocentistischen Vorstufe umsehen, so
finden wir sie gut repräsentiert in dem Abendmahle Ghirlandajos in

Ognissanti, das das Datum 1480 trägt und also etwa 15 Jahre vorher
gemacht wurde (s. Abbildung). Das Bild, eine der solidesten Arbeiten
des Meisters, enthält die alten typischen Elemente der Komposition, das
Schema, wie es Lionardo überkommen hat: der Tisch mit umgebrochenen
Enden; Judas isoliert vorn sitzend: die Reihe der zwölf andern hinten,
wobei Johannes zur Seite des Herrn eingeschlafen ist, die Arme auf dem
Tisch. Christus hat die Rechte erhoben: er spricht. Die Ankündigung
des Verrates muss aber schon geschehen sein, denn sieht die Jünger man
voll Bekümmernis, einzelne beteuern ihre Unschuld und Judas wird von
Petrus zur Rede gestellt.
Lionardo hat zunächst in zwei Punkten mit der Tradition gebrochen.
Er nimmt den Judas aus seiner Isolierung heraus und setzt ihn in die
Reihe der andern und dann emanzipiert er sich von dem Motiv, dass
Johannes an seines Herrn Brust lag (schlafend, wie man ergänzte), was
bei moderner Art zu sitzen immer unerträglich herauskommen musste.
Er gewann so eine höhere Gleichartigkeit der Szene und die Jünger
LIONARDO. DAS ABENDMAHL

konnten symmetrisch zu beiden Seiten des Herrn verteilt werden. Es ist

das Bedürfnis nach einer tektonischen Disposition, dem er nachgiebt.


Er geht aber gleich weiter und formiert Gruppen, je zwei Dreiergruppen
rechtsund links. Dadurch wird Christus zur dominierenden Mittelperson,
der keine andere gleicht.
Bei Ghirlandajo ist es eine Versammlung ohne Zentrum, ein Neben-
einander von mehr oder weniger selbständigen Halbfiguren, eingespannt
zwischen die zwei grossen Horizontalen des Tisches und der Rückwand,
deren Gesims hart über den Köpfen hinläuft. Unglücklicherweise sitzt

sogar eine Konsole des Deckengewölbes gerade in der Mitte der Wand.
Was thut Ghirlandajo? Er rückt mit seinem Christus ruhig zur Seite, er
empfand das Lionardo, dem es von erster
nicht als eine Verlegenheit.
Wichtigkeit war, die Hauptfigur herauszuheben, würde mit einer solchen
Konsole nie paktiert haben. Er sucht im Gegenteil in der Gestaltung
des Hintergrundes neue Hilfsmittel für seinen Zweck: es ist kein Zufall,
dass Christus gerade im Lichten der rückwärtigen Thür sitzt. Dann
durchbricht er den Bann der zwei Horizontalen, er behält natürlich die
Tischlinie, nach oben aber sollen die Gruppensilhuetten frei sein. Ganz
neue Wirkungsrechnungen treten in Kraft. Die Perspektive des Raumes,
Gestalt und Dekoration der Wände werden der Figurenwirkung dienstbar
gemacht. Alles ist daraufhin angelegt, die Körper plastisch und gross
erscheinen zu lassen. Daher die Tiefe des Zimmers, daher die Teilung
der Wand durch einzelne Teppiche. Die Überschneidungen befördern
die plastische Illusion und die wiederholte Vertikale accentuiert die diver-
gierenden Richtungen. Man wird bemerken, dass es lauter kleine Flächen
und Linien sind, die den Figuren nirgends ernsthafte Konkurrenz machen,
während ein Maler der älteren Generation wie Ghirlandajo mit seinen
grossen Bögen im Hintergrund von vornherein einen Massstab giebt,
neben dem die Figuren klein erscheinen müssen. ^)
Lionardo hat, wie gesagt, nur eine einzige grosse Linie behalten,
die unvermeidliche Tischlinie. ist etwas Neues ge-
Allein auch hieraus
worden. Ich meine Weglassung der umgebrochenen Ecken,
nicht die
wo er übrigens nicht der erste ist, das Neue ist der Mut, einer höheren
Wirkung wegen das Unmögliche zu geben der Tisch Lionardos ist viel
:

zu klein! man zähle die Gedecke nach, die Leute könnten unmöglich

') Die Randlinien des Bildes entsprechen bei Lionardo nicht dem Durchschnitt
des Zimmers, der Raum geht vielmehr hinter dem oberen Bildrand noch weiter
hinauf. Diese Überschneidung ist eines von den Motiven, die es möglich machen,
auf kleinem Raum grossfigurig zu komponieren, ohne eng zu wirken. Das Quattro-
cento pflegt bei Innenräumen mit dargestellten Seitenwänden die vollständige Decke
zu geben. Vgl. Ghirlandajos Johannesgeburt oder Castagnos cenacolo.
28 DIF. KLASSISCHE KUNST

Ghirlandajo, Abendmahl

sitzen. Lionardo will vermeiden, dass die Jünger an der langen Tafel
sich verlieren und der nun gewonnene Figureneindruck hat so viel Kraft,
dass niemand das Defizit an Platz bemerkt. So erst ist es möglich ge-
worden, die Figuren zu geschlossenen Gruppen zusammenzuschieben
und in Kontakt mit der Hauptfigur zu erhalten.
Und was Gruppen! und was für Bewegungen! Wie
sind das für
ein Blitz hat das Wort des Herrn eingeschlagen. Ein Sturm von Em-
pfindungen bricht ringsum los. Nicht unwürdig, aber so wie Männer,
denen ihr Heiligstes genommen werden soll, gebahren sich die Apostel.
Eine gewaltige Summe vollkommen neuen Ausdrucks tritt hier in die
Kunst ein und wenn Lionardo mit Vorgängern sich berührt, so ist es

die unerhörte Intensität des Ausdrucks, die seine Figuren doch wieder
ohnegleichen erscheinen lässt. Wo solche Kräfte in Aktion treten, da
ist es selbstverständlich, dass das viele unterhaltende Beiwerk der her-
gebrachten Kunst wegbleibt. Ghirlandajo rechnet noch auf ein Publikum,
das sich beschaulich in allen Winkeln des Bildes ergehen will, dem man
mit seltenen Gartengewächsen, mit Vögeln und anderm Getier aufwarten
muss, er verwendet viel Sorgfalt auf das Gedeck des Tisches und zählt
jedem der Tischgenossen so und so viele Kirschen zu. Lionardo be-
schränkt sich auf das Notwendige. Er darf erwarten, dass die dramatische
Spannung des Bildes den Beschauer nicht nach solcher Nebcnunter-
haltung begehren lasse. Später ist man in der Vereinfachung noch weiter
gegangen.
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30 DIE KLASSISCHE KUNST

Es gehört nicht hierher, die Figuren nach den Motiven durchzube-


schreiben, doch muss von der Ökonomie die Rede sein, die bei der
Verteilung der Rollen gewaltet hat.
Die Randfiguren sind still. Zwei Profile fassen das Ganze ein, in
reiner Vertikale. Die ruhige Linie wird noch festgehalten im zweiten
Glied. Dann kommt die Bewegung und schwillt nun mächtig an in
den Gruppen zu Seiten des Heilands, wo sein linker Nachbar die Arme
weit auseinanderschlägt „als ob er den Abgrund plötzlich vor sich offen
sähe" und wo rechts, in seiner nächsten Nähe, Judas mit jäher Be-
wegung zurückfährt. ^) Die grössten Kontraste sind zusammengestellt:
mit Judas in der gleichen Gruppe sitzt Johannes.
Wie dann die Gruppen kontrastierend gebaut und wie sie unter
sich in Beziehung gesetzt sind, wie auf der einen Seite die Verbindung
vorn, auf der andern hintenherum sich vollzieht, diese Betrachtungen
wird der Kunstfreund von selbst immer wieder zu machen aufgefordert,
je mehr die Rechnung hinter der scheinbaren Selbstverständlichkeit sich
versteckt hält. Indessen sind das Momente von sekundärer Wichtigkeit
gegenüber der einen grossen Wirkung, die der Hauptfigur vorbehalten
ist. In Mitten des Tumultes Christus ganz still. Die Hände lässig aus-
gebreitet, wie einer, der alles gesagt hat, was zu sagen ist. Er redet
nicht, wie auf allen altern Bildern, er sieht nicht einmal auf, aber das
Schweigen ist beredter als das Wort. Es ist das furchtbare Schweigen,
das keine Hoffnung übrig lässt.
Gebärde Christi und seiner Gestalt liegt etwas Ruhiges und
In der
Grosses, was wir adelig nennen, insofern adelig und edel als gleichen
Sinnes empfunden werden. Bei keinem Quattrocentisten stellt sich einem
das Wort ein. Es könnte scheinen, dass Lionardo in eine andere Klasse
von Menschen gegriffen hätte, wenn wir eben nicht wüssten, dass er den
Typus geschaffen hat. Das Beste aus seiner eigenen Natur hat er hier
herausgearbeitet und allerdings wird diese Vornehmheit Gemeingut der
italienischen Rasse im 16. Jahrhundert. Wie haben sich die Deutschen
von Holbein an abgemüht, dem Zauber einer solchen Handbewegung
beizukommen
Indessen möge man sich inmier wieder sagen, dass das, was
Christus hier den älteren Darstellungen gegenüber so ganz anders
erscheinen lässt, durch Gestalt und Gebärde nicht völlig sich erklärt,
dass das Wesentliche vielmehr in seiner Rolle innerhalb des Gesamt-
bildes liegt. Die Einheit der Szene fehlt bei den Früheren : Die Jünger

') In der Beschreibung ist der Irrtum Goethes zu korrigieren, der seitdem
wiederholt worden ist, dass Petrus mit dem Messer dem Judas an die Seite ge-
stossen habe, und dadurch seine Bewegung sich erkläre.
LIONARDO. DAS ABENDMAHL 31

Das Abendmahl. Such des Marc Aiiluu

sprechen unter sich und Christus spricht und es ist fraglich, ob man
immer zwischen der Ankündigung des Verrates und der Einsetzung des
Abendmahles unterschieden hat. In jedem Falle liegt es völlig ausserhalb
des quattrocentistischen Gesichtskreises, das Gesprochen haben zum
Motiv der Hauptfigur zu machen. Lionardo wagt es als der erste und er
gewinnt dadurch den unendlichen Vorteil, dass er nun den Grundton fest-
halten kann durch beliebig viele Takte hindurch. Was den Anstoss der
Erregung gegeben hat, klingt immer weiter. Die Szene ist eine ganz
momentane und doch bleibend und erschöpfend.
Der einzige Raffael hat Lionardo hier verstanden. Es giebt aus
seinem Kreise ein Abendmahl, das Marc Anton gestochen hat, wo Christus
in einer psychologisch ähnlichen Situation genommen ist, unbeweglich
vor sich hinstarrend. Mit grossgeöffneten Augen sieht er ins Leere, der
einzige Facekopf im Bild, in reiner Vertikale (s. Abbildung). ^)
Wie weit bleibt schon Andrea del Sarto zurück, der in einer
malerisch schönen Komposition den Moment der Kenntlichmachung des
Verräters gewählt hat, mit dem Eintauchen des Bissens, und dabei
Christus zu Johannes sich wenden lässt, dessen Hand er beruhigend in

')Die Federzeichnung der Albertina (Fischel, Raffaels Zeichnungen, 387), die


man jetztmit Recht dem Giov. F. Penni zuschreibt, darf nicht als Vorzeichnung zu
diesem Stich Marc Antons genannt werden; sie ist ganz anders in der Komposition.
32 DIE KLASSISCHE KUNST

die seine nimmt (Florenz, S. Salvi). Ein sehr hübscher Gedanke, allein
mit diesem Einzelzug geht die Herrschaft der Hauptfigur und die Einheit
der Stimmung verloren. mochte sich Andrea sagen,
Freilich es sei un-
möglich, mit Lionardo den Wettkampf aufzunehmen.
Andere haben versucht, etwas Neues zu bringen, indem sie bei der
Trivialität ein Anleihen machten. Bei Baroccios grosser Einsetzung des
Abendmahles (Urbino) rufen einige Jünger während der Rede des Heilands
dem Wirt im Vordergrund, er solle frischen Wein bringen; als ob es
gälte, anzustossen.
Endlich noch eine Bemerkung zu machen über das Verhältnis
ist

von Lionardos Bild zu dem Raum, in dem es gemalt wurde. Bekanntlich


bildet es den Schmuck der Kopfseite eines langen schmalen Refek-
toriums. Der Saal hat nur von einer Seite Licht und Lionardo nahm
auf dieses vorhandene Licht Bezug, indem er es als massgebend auch
im Gemälde anerkannte, was kein vereinzelter Fall ist. Es kommt hoch
von links, und erhellt die gegenüberliegende Wand im Bild nicht voll-
ständig. Die Tonunterschiede zwischen Licht und Schatten sind so be-
trächtlich, dass Ghirlandajo daneben gleichtönig und flach erscheint.
Hell hebt sich das Tischtuch heraus und die vom Licht gestreiften Köpfe
gewinnen vor der dunkeln Wand eine grosse plastische Wirkung. Und
noch ein Resultat ergab sich aus diesem Festhalten der gegebenen Licht-
quelle. Judas, der hier von seiner früheren Abseitsstellung befreit und in
die Reihe der übrigen Jünger aufgenommen wurde, ist doch isoliert: er
ist der einzige, der ganz gegen das Licht sitzt und dessen Gesicht daher

dunkel ist. Ein einfaches und wirksames Mittel der Charakteristik, an


das vielleicht der junge Rubens gedacht hat, als er sein Abendmahl malte,
das jetzt in der Brera hängt.

2. Die Mona Lisa


Das Quattrocento hatte schon hie und da versucht, im Porträt über
das Modellmässige hinauszukommen; man wollte mehr geben als die
Summe der Einzelzüge, die die Ähnlichkeit ausmachen, mehr als die
bleibenden festen Formen, in denen sich der Charakter ausprägt, es sollte
von dem Geist der Stunde, von momentaner seelischer Bewegung auf
dem Gesicht sich etwas spiegeln. Es giebt Mädchenbüsten des Desiderio,
die durchaus so wirken. Sie lächeln und das Lächeln ist nicht ein
stereotypes, sondern wirkt als Reflex des guten Augenblicks. Wer kennt
sie nicht diese jungen Florentinerinnen mit dem lustigen Munde und
LIONARDO. DIE MONA LISA 33

den emporgezogenen Brauen über den Augen, die selbst im Marmor zu


glänzen scheinen.
Ein Lächeln istes denn auch, was über das Antlitz der Mona Lisa
geht, aber nur ein ganz leises Lächeln; es sitzt in den Mundwinkeln
und fast unmerklich bloss verschieben sich
die Züge. Wie ein Windhauch, der über
das Wasser streift, so geht eine Bewegung
über die weichen Flächen dieses Gesichtes.
Es entsteht ein Spiel von Lichtern und
Schatten, ein flüsterndes Zwiegespräch, dem
man nicht müde wird zu lauschen. „Sie
glänzte von einem süssen Lächeln", sagt
Polizian einmal. ^) Ich zweifle, ob Begriff
und Ausdruck im eigentlichen Cinquecento
noch vorkommen. Das Lächeln ist dieser
Zeit nicht mehr eigen oder doch nur in der
Dämpfung, wie es etwa die Dorothea des
Desiderio
Sebastiano zeigt (vgl. Abbildung im Ab-
Büste einer jungen Florentinerin
schnitt Raffael, römische Porträts).
Die braunen Augen blicken aus schmaler Lidöffnung. Es sind
nicht die quattrocentistischen Augen mit herausspringendem Glanzlicht,
der Blick ist Die Unterlider laufen fast horizontal, man
verschleiert.
wird erinnert an gotische Augenbildungen, wo durch dasselbe Motiv
der Eindruck des Feuchten, Schwimmenden gegeben ist. Die ganze
Partie unter den Augen spricht von grosser Sensibilität, von feinen Nerven
unter der Haut.
Auffällig ist das Fehlen der Augenbrauen. Die Wölbungsflächen
der Augenhöhle gehen ohne Markierung in die (überhohe) Stirn über.
Ist das eine individuelle Eigentümlichkeit? Nein. Man kann aus einer
Stelle des Cortigiano entnehmen, dass es bei den Frauen Mode war, sich
die Brauen auszureissen.-) Und ebenso galt es für schön, eine aus-
gedehnte Stirnfläche zeigen zu können, weshalb auch die vorderen Haupt-
haare geopfert wurden. Daher die ungeheure Stirn auch bei den
Mädchenbüsten des Mino und Desiderio. Die Freude an den Hebungen
und Senkungen der weissen Flächen, die der Meissel im Marmor so
zart wiedergab, überwog alles, man eliminierte die natürlichen Teilungen
und erweiterte das Gebiet nach oben übermässig. Der Geschmack der

') Polizian, giostra I. 50: —


lampeggiö d'un dolce e vago riso.
2) Baldassare Castiglione, (1516). Es heisst dort (im ersten
il cortigiano
Buch), die Männer machten es den Frauen nach mit dem .A.usreissen der Haare
(pelarsi le ciglia e la fronte.)

Wölfflin, Die klassische Kunst 3


34 DIE KLASSISCHE KUNST

Mona Lisa ist hier also noch ganz quattrocentistisch. Unmittelbar nach-
her änderte sich die Mode. Die Stirn wird erniedrigt und in den kräftig
begrenzenden Augenbrauen sieht man einen wesentlichen Vorzug. Die Kopie
der Mona Lisa in Madrid hat aus eigenem Willen die Brauen hinzugefügt.
Das Haar, kastanienbraun wie die Augen, fällt in leichten Wellen an
den Wangen herunter, zusammen mit einem lockern Schleiertuch, das über
den Kopf gelegt ist.
Die Dame sitzt in einem Stuhl mit Armlehnen, und man ist er-
staunt, bei so viel Weichheit der Ausführung den Kopf in starrer, senk-
rechter Haltung zu finden. Offenbar trägt sie sich nach modischer Art.
Vornehmheit hiess Sichgeradehalten. Man sieht das an den Damen
Tornabuoni in Ghirlandajos Fresken wenn sie Besuch machen, halten
:

sie sich bolzengrade. Später urteilte man in diesem I^unkt anders und
die veränderte Auffassung hat dann auch unmittelbar auf die Porträt-
haltung zurückgewirkt.^)
Im übrigen ist das Bild nicht arm an Bewegung. Lionardo ist
hier zum erstenmal vom Bruststück mitknappem Leibesabschnitt zur
Dreiviertelfigur übergegangen. Und nun lässt er das Modell in Seiten-
ansicht sitzen, nimmt den Oberkörper in halber Drehung und das Gesicht
fast völlig en face. Dazu kommt die Bewegung der Arme. Der eine liegt
auf der Stuhllehne, der andere kommt verkürzt aus der Tiefe und die
zweite Hand legt sich über die erste. Es ist keine äusserliche Bereicherung
des Porträts, wenn Lionardo die Hände dazunimmt. In ihrer lässig-
wohligen Bewegung tragen sie ungemein viel zur Charakteristik bei. Man
spürt die Feinheit des Tastgefühls in diesen wahrhaft beseelten Fingern.
Verrocchio wäre vorangegangen, wenn die berühmte Büste im Bargello
von ihm und nicht etwa vom jungen Lionardo selbst herrührt.
Das Kostüm ist einfach-zierlich, fast spröde. Die Linie des Brust-
saumes muss einem reiferen Cinqueccntisten hart vorgekommen sein. Der
gefaltete Rock ist grün, von dem Grün, das Luini festhält. Die Ärmel
gelbbraun. Nicht mehr wie früher kurz und eng, sondern bis an die
Handwurzel heranreichend und zu vielen Querfältchen sich zusammen-
schiebend, bildenwirksame Begleitung für die rundlichen ge-
sie eine
schlossenen Flächen der Hände. Die feingeformten Finger durch keine
Ringe beschwert. Auch der Hals ohne Schmuck.
Den Hintergrund bildet eine Landschaft, wie sich das auch bei
älteren Malern findet. Nicht wie sonst aber schliesst sie unmittelbar an

') Als die Lucrezia Tornabuoiii iiei Medici, die iWutter des Lorenzo magnifico, für
diesen ihren Sohn eine Frau unter den römischen Adelsfamilien suchte, rügt sie in dem
Brief an ihren Gatten, dass die Mädchen in Rom sich nicht so gerade hielten wie die
florentinischen. (Das Schreiben mitgeteilt von Reumont, Lorenzo magnifico I. 272.)
LIONARDO
PORTRÄT DER MONA LISA
36 DIE KLASSISCHE KUNST

die Figur an, vielmehr Brüstungsmauer vorgebaut und der Aus-


ist eine
blick Man muss genau zusehen, um
wird eingefasst von zwei Säulen.
das in seinen Konsequenzen wichtige Motiv hier wahrzunehmen, denn
ausser den Postamenten kommen die Säulen nur als geringe Streifen zur
Erscheinung. Der spätere Stil begnügt sich mit solch andeutender Zeich-
nung nie mehr.^)
Die Landschaft selbst, die weit hinauf, bis über die Augenhöhe
des Modells reicht, ist von merkwürdiger Art: phantastisch-zackige Berg-
labyrinthe, dazwischen Seen und Ströme. Was aber das sonderbarste
ist: sie wirkt in ihrer unbestimmten Ausführung wie ein Traum. Sie hat
einen andern Grad von Realität als die Figur und das ist keine Laune,
sondern ein Mittel, den Eindruck des Körperhaften zu gewinnen. Lionardo
verwertet hier theoretische Einsichten über die Erscheinung ferner Gegen-
stände, worüber er sich auch im Traktat ausgelassen hat.-) Der Erfolg
ist der, dass im Salon carre des Louvre, wo die Mona Lisa hängt, alles
andere neben ihr flach erscheint, selbst Bilder des 17. Jahrhunderts. Die
Farbenstufen der Landschaft sind: braun, grünblau und blaugrün, worauf
sich der blaue Himmel anschliesst. Genau dieselbe Folge, wie sie Perugino
hat in dem ebenfalls dem Louvre gehörenden Bildchen mit Apollo und
Marsyas.
Lionardo nannte die Modellierung die Seele der Malerei. Wenn
irgendwo, so kann man vor der Mona Lisa die Bedeutung des Wortes
ahnen lernen. Die delikaten Hebungen und Senkungen der Oberfläche
werden zum Erlebnis, als ob man selbst mit Geisterhand darüber hin-
glitte. Die Absicht geht noch nicht auf das Einfache, sondern auf das
Viele. Wer länger mit dem Bilde verkehrt hat, wird die Erfahrung
bestätigen, dass es die nahe Betrachtung verlangt. Auf die Ferne verliert
es bald seine eigentliche Wirkung. (Das gilt noch mehr von Photo-
graphieen, die sich darum nicht zum Wandschmuck eignen.) Es unter-
scheidet sich darin prinzipiell von den späteren Bildnissen des Cinquecento
und gewissem Sinne haben wir hier in der That den Abschluss einer
in

Richtung, die ihre Wurzeln im 15. Jahrhundert hat, die Vollendung des
„feinen" Stils, dem die Plastiker vor allem ihre Bemühungen widmeten.
Die jung-florentinische Schule ist nicht darauf eingegangen, einzig in

der Lombardei wurden die zarten Fäden weitergesponnen. ^)

') Vgl. die Ratfaelsche sog. ,,Zeiclinung zur Maddaleiia Doiii" im Louvre.
2) Buch von der Malerei, No. 128 (201).
^) Dass die ,, belle ferroniiiere" (Louvre) nicht in das Werk Lionardos hinein-
passt, ist schon mehrfach empfunden worden. Das schöne Bild ist neuerdings versuchs-
weise dem Boltraffio zugeschrieben worden, was allerdings wenig Überzeugendes hat.
LIONARDO. DIE ANNA SELBDRITT 37

3. Die Anna selbdritt

Neben der Mona Lisa geniesst das andere Bild Lionardos im Louvre,
die hl. Anna selbdritt, die Sympathieen des Publikums in geringerem
Masse. Das Bild, das wohl nicht ganz eigenhändig ausgeführt wurde,
ist in der Farbe entstellt, und was den Wert der Zeichnung ausmacht,

wird von modernen Augen wenig geschätzt, kaum wahrgenommen. Und


doch erregte der blosse Karton seiner Zeit (1501) in Florenz ein ge-
waltiges Staunen, so dass es ein allgemeines Wallfahrten nach dem Kloster
der Annunziata gab, wo man das neue Wunderwerk Lionardos sehen
konnte. ^) Das Thema mochte immer im Geruch der Sterilität gestanden
haben. Man an die spröden Zusammenstellungen der drei
erinnert sich
Figuren bei älteren Meistern, eine auf dem Schoss der andern und alle
nach vorn gerichtet. Aus dieser trockenen Ineinanderfügung war hier
eine Gruppe von höchstem Reichtum geworden und das leblose Gestell
war aufgelöst in lauter Bewegung.
Maria sitzt quer auf dem Schoss ihrer Mutter; lächelnd beugt sie
sich und fasst mit beiden Händen den Knaben, der vor ihren Füssen
sich rittlings auf ein Schäfchen setzen möchte. Der Kleine sieht sich
fragend um, indessen er das arme zusammengeknickte Tier fest am Kopf
gepackt und schon ein Bein über den Rücken gebracht hat. Lächelnd
schaut auch die (jugendliche) Grossmutter dem muntern Spiele zu.
Die Gruppenprobleme des Abendmahles sind hier weitergeführt.
Die Komposition ist unendlich anregend; auf knappem Raum ist viel

gesagt: alle Figuren sind kontrastierend bewegt und die widerstreitenden


Richtungen zur geschlossenen Form zusammengeballt. Man wird be-
merken, dass sich das Ganze einem gleichschenkligen Dreieck ein-
schreiben lässt. Das ist die Frucht von Bemühungen, die man schon in
der Madonna in der Felsgrotte wahrnimmt, die Komposition nach ein-
fachen geometrischen Formen zu ordnen. Aber wie zerstreut wirkt das
ältere Werk neben dem gedrängten Reichtum des Annabildes. Es sind
keine Künsteleien, wenn Lionardo auf immer kleinerem Raum immer
mehr Bewegungsinhalt unterzubringen versucht: die Stärke des Eindruckes
nimmt in gleichem Masse zu. Die Schwierigkeit war nur die, dass die
Klarheit und Ruhe der Erscheinung keinen Schaden nahm. Das ist der
Stein,an dem die schwächeren Nachahmer strauchelten. Lionardo ist zu
einer vollkommenen Abklärung gekommen und das Hauptmotiv, die
Neigung der Maria, ist von einer hinreissenden Schönheit und Wärme.
All die gleichgültige Zierlichkeit, in der das Quattrocento so leicht

') Der Karton existiert nicht mehr. Die Bildausführung dürfte beträclitlich
später fallen. Vgl. Gazette des beaux-arts 1897 (Cook).
!

38 DIEKLASSISCHE KUNST

steckeil ist hier weg-


blieb,
geschmolzen vor einer uner-
hörten Ausdruckskraft. Man
vergegenwärtige sich ja im
einzelnen die Umstände,
unter denen sich hier — hell
vor dunkel — die Linien
der Schulter und des Kopfes
mit ihrem wunderbaren
Schmelz herausentwickeln.
Wie ruhig und wie drängend
In der zurückhaltendenAnna
ist ein vorteilhafter Kontrast
gegeben und von unten her
schliesst der umblickende
Knabe mit seinem Schäf-
chen die Gruppe aufs glück-
lichste.

ts giebt ein kleines


Bild Raffaels in Madrid, das
den Eindruck dieser Kom-
Lionardo. Die Anna selbdritt position wiederspiegelt. Als
junger Mensch in Florenz
versucht er ein ähnliches Problem —
er nimmt statt der Anna den Joseph
— zu bearbeiten, aber mit nur schwachem Erfolg. Wie hölzern ist allein
schon das Schäfchen! Raffael ist nie ein Tiermaler geworden, während
Lionardo alles kann, was er angreift. Ein stärkerer als Raffael aber trat
damals gegen Lionardo in die Schranken: Michelangelo. Wir haben
davon später zu reden.
Von den Gräsern und Blumen und kleinen Wasserspiegeln der
„Madonna in der Felsgrotte" sieht man nichts mehr hier. Die Figuren
sind alles. Sie sind lebensgross. Was für den Eindruck aber bedeut-
samer ist als der absolute Massstab, ist ihr Verhältnis zum Raum. Sie
füllen die Fläche viel mächtiger als früher, oder anders ausgedrückt; die
Fläche ist hier kleiner im Verhältnis zur Füllung. Es ist die Grössen-
relation, die für das Cinquecento typisch wird. ^)

') Der Eindruck auf die Zeitgenossen spiegelt sich deutlich in einem Bericht
des Fra Piero di Novellara an die Markgräfin von Mantua vom 3. April 1501,
wo vom Karton gerade in dieser Hinsicht gesprochen wird: —
e sono queste Hgure
LIONARDO. DIE SCHLACHT VON ANGHIARI 39

4. Die Schlacht von Anghiari


Von dem Schlachtbild, das für das Florentiner Rathaus bestimmt
war, können wir nur wenig sagen, weil die Komposition nicht einmal
mehr im Karton, sondern nur in einer unvollständigen Wiederholung
von späterer Hand existiert. Dennoch kann es nicht übergangen werden,
die Fragestellung ist zu interessant.
Lionardo hat sich viel mit Pferden abgegeben, am meisten von

allen Cinquecentisten. Er kannte das Tier aus vertrautem Umgang. ^)


In Mailand war er jahrelang beschäftigt, ein Reiterstandbild des Herzog
Francesco Sforza zu formen, eine Figur, die nie gegossen wurde, für
die aber ein fertiges Modell existierte, dessen Untergang zu den grössten
Verlusten der Kunst zu zählen ist. Was das Motiv betrifft, so scheint
er anfänglich beabsichtigt zu haben, Verrocchios Colleoni an Bewegung
noch zu überbieten: er ist bis zu dem Typus des galoppierenden Pferdes
durchgedrungen, das einen gefallenen Feind zu Füssen hat, der gleiche
Gedanke, auf den auch Antonio PoUaiuolo gekommen war. -) Die Be-
fürchtung, die man hie und da aussprechen hört, Lionardos Figur möchte
zu malerisch geworden sein, kann sich, wenn sie überhaupt berechtigt
ist, nur auf Entwürfe dieser Art beziehen; indessen darf in dem Motiv

des sprengenden Pferdes überhaupt nicht das Definitivum gesehen werden;


es hat sich vielmehr im Verlauf der Arbeit eine ähnliche Entwicklung
zum Beruhigten und Vereinfachten abgespielt, wie man sie in den Skizzen
zum Abendmahl beobachten kann, und Lionardo endigte bei dem einfach
schreitenden Pferd, bei dem dann auch die anfänglich projektierten
starken Richtungsdifferenzen in der Kopfwendung von Tier und Reiter
ganz bedeutend gemildert worden sind. Man findet nur etwa noch den
Arm mit dem Kommandostab nach rückwärts gebogen, wodurch Lionardo
die Silhuette bereichern und den leeren rechten Winkel am Rücken des
Reiters ausfüllen wollte. ")

grandi al naturale, ma stanno in piccolo cartone, perche tutte o sedono o stanno


curve, et una sta alquanto dinanzi all' altra. (Archivio storico delF arte I.)

Der Londoner Karton (Royal Academy) einer Gruppe von zwei Frauen mit
zwei Kindern besitzt nicht die gleiche Schönheit und möchte wohl eine etwas frühere,
noch weniger flüssige Komposition sein. In der Schule (Luini, Ambrosiana) spielt
sie noch einmal eine Rolle.
') Vasari IV. 21.

-) Vasari III. 297. Vgl. Zeichnung in München (Berenson No. 1908).


3) Über die Mailänder Denkmalsfrage und über ein zweites, späteres Reiter-

projekt mit Grabunterbau für den General Trivulzio vgl. Müller-Walde im Jahr-
buch der preussischen Kunstsammlungen, 1897 und 1899. Seitdem ist auch das
grosse Buch von Müntz erschienen Lionard de Vinci (Paris 1899), das in allen
sachlichen Fragen ausführliche Auskunft giebt.
40 DIE KLASSISCHE KUNST

Was nun das grosse Schlachtbild des Florentiner Rathauses an-


betrifft, indem Lionardo seine Mailänder Studien verwerten wollte, so
ist eine dem Rubens zugeschriebene Zeichnung im Louvre die einzige
Urkunde, die uns eine wirkliche Vorstellung vermittelt,und bekanntlich
hat Edelingk ein vorzügliches Blatt darnach gestochen.^) Dass die
Zeichnung alles giebt, was das Bild enthielt, ist kaum anzunehmen, im
allgemeinen aber stimmt sie mit der Beschreibung bei Vasari überein.
Lionardo gedachte den Florentinern einmal zu zeigen, was es heisse,
Pferde zu zeichnen. Fr nahm eine Reiterepisode als Hauptmotiv der
Schlacht heraus: der Kampf um
die Fahne. Vier Pferde und vier Reiter
und im engsten Kontakt. Das Problem
in leidenschaftlichster Frretiung
der plastisch-reichen Gruppcnbildung ist hier auf eine Höhe gesteigert,
wo man fast an die Grenzen der Unklarheit stösst. Der nordische
Stecher hat das Bild nach der malerischen Seite so interpretiert, dass
um eine zentrale Dunkelheit ein Kranz von Lichtern sich gruppiert haben
würde, eine Anordnung, die man prinzipiell dem Lionardo wohl auch
schon zutrauen könnte.
Das Masscnknäuelbild war die eigcntlicn „moderne" Aufgabe da-
mals. Man wundert sich, dem Schlachtbild nicht öfter zu begegnen.
Die Raffaelschule ist die einzige, aus der ein grosses Werk der Art her-
vorgegangen ist und die „Constantinsschlacht" vertritt in der Vorstellung
des Abendlandes wohl überhaupt das klassische Schlachtgemälde. Die
Kunst ist hier von der blossen Fpisode zur Darstellung einer wirklichen
Massenaktion vorgeschritten, allein, wenn auch das berühmte Bild dadurch
sehr viel mehr giebt als Lionardo, so ist es doch andrerseits mit einer so
empfüidlichen Unklarheit behaltet, dass man die Verrohung des Auges
und den Verfall der Kunst schon deutlich kommen sieht. Raffael hat
mit dieser Komposition uewiss nichts zu thun gehabt.

Lionardo hat keine Schule in Florenz hinterlassen. Fs haben alle

von ihm gelernt, aber sein Eindruck wurde doch gelöscht durch den
Michelangelos. Es ist nicht zu verkennen, dass Lionardo eine Entwick-
lung ins Grossfigurige durchgemacht hat und dass die Figur auch für
ihn schliesslich alles bedeutet. Immerhin würde Florenz eine andere
Physiognomie haben, wenn es lionardesker hätte sein können. Was von
Lionardo in Andrea del Sarto oder in Franciabigio und Bugiardini fort-

') über Zeichnung im Louvre wage ich nicht ein


die Rubens'sciie Autorscliaft der
Urteil abzugeben. Rooses tritt Jedenfalls hat Rubens die Kom-
entschieden dafür ein.
position gekannt. Seine Münchner Löwenjagd u. a. spricht deutlich genug dafür.
LIONARDO 41

lebt, bedeutet im ganzen nicht viel. Eine direkte Fortsetzung seiner


Kunst findet man nur in der Lombardei. Allerdings eine einseitige. Die
Lombarden sind malerisch begabt, aber es fehlt ihnen durchaus der Sinn
für das Architektonische. Den Bau des Abendmahles hat keiner je ver-
standen. Die Gruppenbildung und die Bewegungsknäuel Lionardos
waren hier ebenfalls fremdartige Probleme. Die lebhafteren Temperamente
werden in der Bewegung gleich wirr und wüst, die andern sind von einer
ermüdenden Einförmigkeit.
Man hielt sich in der Lombardei an die weibliche Seite in Lio-
nardos Kunst, an die passiven Affekte und an die feine, fast nur ge-
hauchte Modellierung jugendlicher, namentlich weiblicher Körper. Lio-

nardo war für die Schönheit des weiblichen Körpers in hohem Grade
disponiert. Man könnte sagen, er zuerst habe die Weichheit der Haut
empfunden. Seine florentinischen Zeitgenossen behandeln das Weiblich-
Nackte auch, aber gerade dieser Reiz fehlt ihnen. Selbst bei denen, die
am meisten Maler gewesen sind, wie Piero di Cosimo, heftet sich das
mehr an die Form als an die Qualität der Oberfläche.
Interesse noch viel
Mit dem Erwachen eines feineren Tastgefühls, wie es sich in der lio-
nardesken Modellierunii; bekundet, bekommt der weibliche Körper eine
neue künstlerische Bedeutung und man dürfte aus den psychologischen
Prämissen folgern, dass Lionardo
sich mit diesem Thema abge-
geben haben müsse, auch wenn
wir nicht zufällig wüsstcn, dass
solche Bilder von ihm existiert

haben.
Eine Leda scheint das
Hauptmotiv gewesen zu sein.

Wir kennen sie nur aus Nach-


bildungen, namentlich in der
Gestalt der schönen, leisbeweg-
ten nackten Frau, die stehend
und die zusammenge-
Kniee
drückt den Schwan mehr lieb-
kost als abwehrt. In ihren pla-
stischen Contrasten mit der
Drehung des Oberleibes, der
Wendung des Kopfes, dem
übergreifenden Arm und der
gesenkten Schulter hat die Fi-
gur eine weithin reichende Wir- Lionardo. Leda (Copie)
42 DIE KLASSISCHE KUNST

kung ausgeübt. (Bekanntestes Exemplar in der Galerie Borghese in Rom,


einst dem Scdoma zugeschrieben, s. Abbildung). ^)

Bei den lombardischen Nachfolgern Lionardos ist dann der weib-


liche Akt als Thema üblich geblieben, aber da sie für die durchgehende
Bewegung in einem Körper nur wenig Sinn hatten, so muss man sich
nicht wundern, wenn sie auf die grossen Figuren verzichten und sich

Ginnpictrino. Abundantia

gern mit dem Schema des Halbfigurenbildes begnügen. Auch ein Stoff

wie die Susanna im Bade, wo man unter allen Umständen eine plastisch-
reiche Figur erwarten zu dürfen glaubt, wird in dieses öde Schema ein-
gespannt (Bild des Luini in Mailand, Borromeo). Als Muster der Gattung
sei hier die anspruchslose I lalbfigur einer Abundantia des Gianpietriiia
mitgeteilt. -)

') Vgl. Jalirhiicli der preiissisclieii Kiiiistsamiiihingeii 18<)7: Müller-Walde,


Beiträge zur Kenntnis des Lionardo da Vinci. Müller-Walde hat im Codex atlanticus-
die Figur als minutiöse Federzeichnung entdeckt. Vgl. Müntz a. a. O. 426 ff.

-) Das Bild befindet sich in der Galerie Borromeo in Mailand. Es muss


mit Lionardos Mona Lisa zusammengestellt werden, die schon zu seinen Lebzeiten
(und vielleicht von ihm selbst) ins Nackte transponiert worden ist. Vgl. Münlz^
a.a.O. S. 511.
III. Michelangelo (bis 1520)
1475—1564

Wie ein mächtiger Bergstrom, befruchtend und verwüstend zu-


gleich, hat die Erscheinung Michelangelos auf die italienische Kunst
gewirkt. Unwiderstehlich im Eindruck, alle mit sich fortreissend, ist er

wenigen ein Befreier, vielen ein Verderber geworden.


Vom ersten Augenblick an ist Michelangelo eine fertige Persönlich-
keit, in ihrer Einseitigkeit fast furchtbar. Er fasst die Welt als Plastikcr
und nur als Plastiker. Was ihn interessiert, ist die feste Form, und der
menschliche Körper allein ist ihm darstellungswürdig. Die Mannigfaltig-
keit der Dinge existiert für ihn nicht. Seine Menschheit ist nicht die
in tausend Individuen differenzierte Menschheit dieser Erde, sondern ein
Geschlecht für sich, von einer ins Gewaltige gesteigerten Art.
Neben der Freudigkeit Lionardos steht er da als der Einsame, als
der Verächter, dem die Welt, wie sie ist, nichts giebt. Er hat wohl ein-

mal eine Eva, ein Pracht einer üppigen Natur gezeichnet,


Weib in aller

auf einen Augenblick das Bild der lässigen, weichen Schönheit fest-
gehalten, aber das sind nur Augenblicke. Er mag wollen oder nicht,
was er bildet, ist getränkt mit Bitterkeit.
Sein Stil geht auf das Zusammengehaltene, das Massig-Geschlossene.
Der weitausladende, flüchtige Umriss widerspricht ihm. Die gedrängte
Art der Anordnung, das Verhaltene im Gebahren ist bei ihm Tempera-
mentssache.
Völlig ausser Vergleich steht die Kraft seiner Formauffassung und
die Klarheit des inneren Vorstellens. Kein Tasten und Suchen; mit dem
ersten Strich giebt er den bestimmten Ausdruck. Zeichnungen von ihm
haben etwas Durchdringendes. Sie sind ganz gesättigt mit Form; die
innere Struktur, die Mechanik der Bewegung scheint sich bis auf den
letzten Rest in Ausdruck umgesetzt zu haben. Darum zwingt er den
Beschauer unmittelbar zum Miterleben.
Und nun ist merkwürdig: jede Wendung, jede Biegung des Ge-
lenkes hat eine heimliche Gewalt. Ganz geringe Verschiebungen wirken
44 DIE KLASSISCHE KUNST

mit einer unbegreiflichen Wucht und dieser Eindruck kann so gross sein,
dass man nach der Motivierung der Bewegung gar nicht fragt.
Es Michelangelos Art, die Mittel rücksichtslos bis zu den
liegt in

letzten möglichen Wirkungen anzuspannen. Er hat die Kunst mit unge-


ahnten neuen Effekten bereichert, aber er hat sie arm gemacht, indem
er ihr die Freudeam Einfachen und Alltäglichen nahm. Und er ist es,
durch den das Disharmonische in die Renaissance hineingekommen ist.

Mit der bewussten Verwendung der Dissonanz im grossen hat er einem


neuen Stil, dem Barock, den Boden bereitet. Doch davon soll erst in
einem späteren Abschnitt die Rede sein. Die Werke aus der ersten
Hälfte seines Lebens (bis 1520) sprechen noch eine andere Sprache.

1. Frühwerke
Die P i e t ä ist das erste grosse Werk, nach dem wir Michelangelos
Absichten beurteilen können. Es ist jetzt barbarisch aufgestellt in einer
Kapelle von St. wo weder die Feinheit der Einzelbehandlung noch
Peter,
der Reiz der Bewegung zur Wirkung kommt. Die Gruppe verliert sich
in dem weiten Raum und ist so hoch hinaufgeschoben, dass der Maupt-
anblick gar nicht zu gewinnen ist.

Zwei lebcnsgrosse Körper in Marmor zurOruppe zusammenzubinden,


war an sich etwas Neues und die Aufgabe, der sitzenden Trau einen
erwachsenen männlichen Körper auf den Schoss zu legen, von der
schwierigsten Art. Man erwartet eine harte durchschneidende Horizon-
tale und trockene rechte Winkel; Michelangelo hat gemacht, was keiner
damals hätte machen können: alles ist Wendung und Drehung, die
Körper fügen sich mühelos zusammen, Maria hält und wird doch nicht
erdrückt von der Last, der Leichnam entwickelt sich klar nach allen Seiten
und ist dabei ausdrucksvoll in jeder Linie. Die emporgedrückte Schulter
und das zurückgesunkene Haupt geben dem Toten einen Leidensaccent
von unübertrefflicher Kraft. Noch überraschender ist die Gebärde
Marias. Das verweinte Gesicht, die Verzerrung des Schmerzes, das ohn-
mächtige Umsinken hatten Frühere gegeben Michelangelo sagt: die ;

Mutter Gottes soll nicht weinen wie eine irdische Mutter. Ganz still

neigt sie das Haupt, die Züge sind regungslos und nur in der gesenkten
linken Lland ist Sprache: halbgeöffnet begleitet sie den stummen Monolog

des Schmerzes.
Das ist Auch Christus zeigt keinen
cinquecentistische Empfindung.
Zug des Schmerzes. Nach der formalen Seite verleugnet sich die Her-
kunft aus Florenz und dem Stil des 15. Jahrhunderts weniger. Der Kopf
MICHELANGELO. FRÜHWERKE 45

der Maria gleicht zwar kei-

nem andern, aber es ist der


schmale feine Typus, wie
ihn die älteren Florentiner
liebten. Die Körper sind
von gleicher Art. Michel-
angelo wird bald nachher
und auch die
breiter, völliger

Fügung der Gruppe, so wie


sie ist, würde er später als
zu gracil, zu durchsichtig, zu
locker empfunden haben. Der
schwerer gebildete Leichnam
müsste wuchtiger lasten, die
Linien dürften nicht so weit
auseinandergehn, er würde
die zwei Figuren zu einer
gedrängteren Masse zu-
sammengeballt haben.
In den Gewandpartien
herrscht ein etwas aufdring-
Alichelangelo. Pietii
licher Reichtum. Helle Fal-
tengräte und tiefe, schattige Unterschneidungen, die sich die Bildhauer
im Cinquecento gern zum Muster nahmen. Der Marmor ist, wie später
auch, stark poliert, so dass intensive Glanzhchter entstehen. Dafür keine
Spur mehr von Vergoldung.
Nah verwandt mit der Pietä ist die Sitzfigur der Madonna von
Brügge, ein Werk, das alsbald nach seiner Vollendung ) ausser Landes ^

kam und darum keine deutlichen Spuren in Italien hinterlassen hat, ob-
wohl das hier völlig neu behandelte Problem den grössten Eindruck
hätte machen müssen.
Die sitzende Madonna mit dem Kinde, das hundertfach variierte
Thema des Altarbildes, ist Gruppe den Florentinern nicht
als plastische
geläufig. In Thon wird man als in Marmor, wobei
ihr eher begegnen
dann dem an sich reizlosen Material eine ausführliche Bemalung gewährt
zu werden pflegte. Mit dem 16. Jahrhundert tritt aber der Thon über-
haupt zurück. Gesteigerte Ansprüche an Monumentalität Hessen sich
nur noch in Stein befriedigen und wo der Thon fortdauert, wie in der
') Die Figur zeigt an untergeordneten Partien eine zweite schwächere Hand.

Michelangelo scheint sie bei seiner zweiten Reise nach Rom 1 505 unvollendet zurück-
gelassen zu haben.
46 DIE KLASSISCHE KUNST

Lombardei, wird ihm gern die bunte


Farbe entzogen.
Über alle älteren Bildungen geht
Michelangelo dadurch gleich hinaus,
dass er der Mutter das Kind vom
Schoss nimmt und es, in ansehnlicher
Grösse und Stärke gebildet, zwischen
ihre Kniee stellt: es klettert da vorn
herum. Mit diesem Motiv des stehend-
bewegten Kindes konnte er der Gruppe
einen neuen Forminhalt geben und
eswar eine naheliegende Konsequenz,
den Reichtum der Erscheinung auch
noch durch ungleiche Fusshöhe bei
der Sitzenden zu steigern.
Das Kind ergeht sich in kind-
lichem Spiel, aber es ist ernst, viel
ernster als es früher selbst da ge-
wesen war, wo es zum Segnen sich
anschickte. Und so ist die Madonna,
gedankenvoll, stumm; man wagt nicht,
zu ihr zu sprechen. Ein schwerer, fast
feierlicher Ernst lagert über den beiden.
Man muss dies Bild einer neuen An-
Scheu vor dem Heiligen
dacht und
Michelangelo. Madonna von Brügge
zusammenhalten mit Figuren, die so
voll die Stimmung des Quattrocento ausströmen wie die Thongruppe

Bcnedetto da Majanos im Berliner Museum (s. Abbildung). Das ist


die gute Frau so und so, man ist überzeugt, sie irgendwo schon gesehen
zu haben, freundlich im Hause waltend, und das Kind ist ein vortreff-
licher kleiner Lustigmacher, der hier wohl einmal das Händchen zum
Segnen erhebt, ohne dass man es deswegen ernst zu nehmen braucht.
Die Fröhlichkeit, die hier auf den Gesichtern glänzt und aus den ge-
schwätzigen Augen herauslacht, ist bei Michelangelo ganz ausgelöscht.
Der Kopf gleicht auch nicht mehr einer bürgerlichen Frau, so wenig
wie die Kleidung an weltliche Pracht und Köstlichkeit zu denken
verleitet.

Stark und vernehmlich, in gehaltenen Accorden, spricht aus der


Madonna von Brügge der Geist einer neuen Kunst. Ja, man kann sagen,
die Vertikale des Hauptes allein sei ein Motiv, das in seiner Grossartig-
keit über alles Quattrocentistische hinausgehe.
MICHELANGELO. FRÜHWERKE 47

In einer allerersten Arbeit, dem


kleinen Relief mit der Madonna an
der Treppe, hatte Michelangelo eine
ähnliche Intuition festzuhalten ver-
sucht. Er wollte die Madonna geben,
wie sie hinausstarrt ins Leere, wäh-
rend das Kind an ihrer Brust ein-
geschlafen ist. Aus der noch be-
fangenen Zeichnung leuchtet doch
die ganz ungewöhnliche Absicht
heraus. Jetzt im vollen Besitz des
Ausdrucks, greift er noch einmal in
einem Relief auf das Motiv zurück.
Es ist das (unvollendete) T o n d o
im B a r g e 1 das Kind müde
1 :

und ernst an die Mutter gelehnt und


Maria wie eine Seherin hinaus-
schauend aus der Bildfläche aufrecht
in voller Face. Das Relief ist auch
nach anderer Seite merkwürdig. Ein
neues Ideal weiblicher Form bildet
sich heraus, ein mächtiger Typus,
der mit der alttlorentinischen Zier-
lichkeit vollständig bricht. Grosse
Augen, breite Wangenflächen, ein mit Kind
Benedetto da Majaiio. Madonna
starkes Kinn. Neue Motive der Be-
kleidung sekundieren. Der Hals ist blossgelegt, man soll die tektonisch
wichtigen Ansätze sehen. (S. Abbildung S. 48.)
Der Eindruck des Mächtigen wird unterstützt durch eine neue Art
der Raumfüllung, wo die Körper knapp an den Rand anstossen. Nicht
mehr der flimmernde Reichtum eines Antonio Rossellino, wo es unauf-
hörlich wogt mit hell und dunkel, von den grossen Erhebungen bis
hinunter zu den letzten Schwingungen der Grundfläche, sondern wenige
fernwirkende Accente. Wieder tönt die strenge Vertikale des Kopfes
als die Hauptstimme aus dem Bilde heraus.
Die Florentiner Tafel hat ein Geschwister in London, eine Szene
von der reizendsten Erfindung und von einer gesättigten Schönheit, wie
sie bei Michelangelo nur in ganz seltenen Fällen auf Augenblicke auf-

leuchtet.
Wie seltsam erscheint daneben die freudlose heilige Familie der
Tribuna und wie ganz unvereinbar mit der langen Reihe quattrocen-
48 DIE KLASSISCHE KUNST

tistischer Familienbilder ! Die


Madonna ein Mannweib mit
gewaltigen Knochen, die
Arme und Füsse entblösst.
Mit untergeschlagenen Bei-
nen hockt sie am Boden und
greift über die Schulter, wo
ihr der rückwärts sitzende
Joseph das Kind herüber-
reicht. Ein Knäuel von Fi-
guren, mit merkwürdig ge-
drängter Bewegung. Weder
die mütterliche Maria (die
Michelangelo überhaupt
nicht hat) noch die feier-

liche Maria ist hier gemalt,


sondern nur die Heroine.
Der Widerspruch zu dem,
Michelangelo. Alndonnentoiido (unvollendcl
was der Gegenstand ver-
langte, ist zu stark, als dass der Beschauer nicht sofort merkte, es sei

Bewegung und auf die


hier auf eine blosse Schaustellung interessanter
Lösung eines bestimmten Problems der Komposition abgesehen. Das Bild
war von einem Privatmann bestellt; etwas Wahres mag an der Anekdote
Vasaris sein, dass der Besteller (Angelo Doni) bei der Entgegennahme
Schwierigkeiten machte. Auf dem Porträt wenigstens, das man im
Palazzo Pitti von ihm sehen kann, sieht er so aus, als ob er für das
Ideal „Part pour Part" nicht so leicht zu haben gewesen wäre.
Das künstlerische Problem lautete nun hier offenbar so: wie kann
man auf dem engsten Raum den grösstmöglichen Bewegungsinhalt ent-
wickeln? Der konzentrierte plastische Reichtum ist der eigentliche Sinn
des Bildes und vielleicht hat man es als eine Art von Konkurrenzarbeit
anzusehen, mit der Lionardo übertrumpft werden sollte. Es entstand zu
jener Zeit als Lionardos Karton der heiligen Anna selbdritt Aufsehen
machte, wo Weise eng ineinander geschoben waren.
die Figuren in neuer
Michelangelo setzt an Stelle der Anna den Joseph, im übrigen bleibt
sich die Aufgabe gleich, es waren eben zwei erwachsene Personen und
ein Kind zusammenzufügen, so nah wie möglich, ohn«, unklar zu werden
und ohne gepresst zu wirken. Zweifellos ist Michelangelo dem Lionardo
an Achsenreichtum überlegen, aber um welchen Preis?
Lineamcnt und Modellierung sind von metallischer Präzision. Es
ist eigentlich kein Bild mehr, sondern gemalte Plastik. Das plastische
MICHELANGELO. FRÜHWERKE 49

Vorstellen ist von jeher die


Stärke der Florentiner ge-
wesen, sie sind ein Volk der
Plastik, nicht der Malerei;
hier aber steigert sich das na-
tionale Talent zu einer Höhe,
die ganz neue Begriffe über
das Wesen der „guten Zeich-
nung" erschliesst. Auch Lio-
nardo hat nichts, was sich
mit dem übergreifenden
Arm der Maria vergleichen
Hesse. Wie da alles leben-
dig und für die Vorstellung
bedeutend wird, alle Gelenke
und jeder Muskel. Nicht
umsonst ist der Arm bis an Michelangelo. Heilige Familie

den Schulteransatz entblösst.


Der Eindruck dieser Malerei mit ihren scharfbestimmten Konturen
und hellen Schatten ist in Florenz nicht untergegangen. Immer wieder
taucht in Lande der Zeichnung die Opposition gegen die
diesem
malerischen Dunkelmänner auf und Bronzino und Vasari zum Beispiel
sind darin die direkten Nachfolger Michelangelos, wenn gleich keiner die
ausdrucksvolle Kraft seiner Formgebung auch nur von weitem erreicht hat.

Neben der Pietä und der sitzenden Madonna von Brügge, neben
den Madonnenreliefs und dem Tondo der heiligen Familie sieht man
sich erwartungsvoll um nach den Arbeiten aus Michelangelos Jugend,
wo er am persönlichsten herausgehen musste: nach den männlichen
nackten Figuren. Mit einem grossen, nackten Herakles hatte er an-
gefangen, er ist uns verloren gegangen; dann machte er in Rom gleich-
zeitig mit der Pietä einen trunkenen Bacchus (die Figur im Bargello)
und kurz darauf das Werk, das an Ruhm alle überglänzt, den floren-
tinischen David. ^)

^) Der Giovannino des Berliner Museums (s. Abbildung im letzten Abschnitt:


die neue Bildform), der dem Michelangelo zugeschrieben und zeitlich um 1495 d.h.
vor den Bacchus gesetzt wird, darf hier nicht ganz mit Stillschweigen übergangen
werden, doch möchte ich über diese Figur, die ich weder mit Michelangelo noch
überhaupt mit dem Quattrocento in Verbindung bringen kann, nicht mehr schon
Gesagtes wiederholen. (Vgl. Wölfflin, Die Jugendwerke des Michelangelo, 1891.)
Das sehr künstliche Bewegungsmotiv und die allgemeine, glättende Formbehand-
lung weisen sie m. E. in das vorgeschrittene 16. Jahrhundert. Die Gelenkbehand-
Wölfflin, Die klassische Kunst 4
50 DIE KLASSISCHE KUNST

Im Bacchus und im David


hat man den abschUessenden Ausdruck
des florentinischen Naturalismus im
Sinnedes 15. Jahrhunderts zuerkennen.
Es war noch im Geiste Donatellos
gedacht, das trunkene Taumeln darzu-
stellen, wie es beim Bacchus geschehen
ist. Michelangelo f^^iebt den Moment,
wo sein Trinker, der Füsse nicht mehr
ganz sicher, die gehobene volle Schale
anblinzelt und dabei die Hilfe eines
kleinen Begleiters als Stütze suchen
muss. Er wählte als Modell einen
fetten jungen Kerl und bildete mit
grösster Freude an dem individuellen
Fall und dem weibisch-weichen Ge-
wächs den Körper durch. Diese
Freude hat er später nie mehr ge-
habt. Motiv und Behandlung sind
hier ausgesprochen quattrocentistisch.
Es ist keine lustige Figur, dieser
Bacchus, niemand wird lachen dabei,
aber es steckt doch ein Stück Jugend-
laune darin, — so weit Michelangelo
jemals jung sein konnte.
AticlR'l;iiigclo. David
Noch frappierender durch die
Herbheit der Erscheinung ist der
David. Ein David sollte nichts anderes sein als das Bild eines schönen,
jungen Sie;L^ers. So hat ihn Donatello gebildet, als starken Knaben, so
iung stammt aus der Schule Michelangelos, aber nicht des jungen; das Motiv mit
dem frei übergreifenden Arm wäre selbst bei dem Meister kaum vor 1520 möglich
und die weiche Formauffassung, die bei dem Knaben weder auf die Andeutung
einer Rippe, noch auf die Hautlalten an der Achselhölile sich einlässt, würde bei
den weichlichsten der Quattrocentisten keine Analogie haben. Wer ist nun aber
der Autor dieser rätselhaften I igur? Es müsste ein Mensch gewesen sein, der ganz
jung ins Meer sprang, hat man gesagt, sonst wäre es unmöglich, dass wir nicht
mehr von ihm wüssten. Ich glaube ihn in der Person des Neapolitaners Girolamo
Santacroce (geb. ca. 1502, gest. 1537) suchen zu müssen, dessen Vita bei Vasari
zu lesen ist. (Vgl. de Dominici, vite dei pittori, scultori ed architetti napolitani.
II. 1843.) Er ist früh gestorben und noch früher verdorben, indem er in den Ge-
wässern des Manierismus unterging. Die kommende Manier möchte übrigens schon in
dem Giovannino nicht zu verkennen sein. Man nannte ihn den zweiten Michelangelo
und erwartete das Größte von ihm. Ein Werk, das dem Giovannino ganz nahe steht.
MICHELANGELO. FRÜHWERKE 51

— mit verändertem Geschmack —


Verrocchio als schlankes, zierlich-
eckiges Bürschchen. Was giebt
Michelangelo als sein Ideal jugend-
licher Schönheit? Ein riesenmässiger
Kerl in den Flegeljahren, kein Knabe
mehr und doch noch kein Mann, das
Alter, wo der Körper sich streckt,
wo die Gliedmassen den unge- mit
heuren Händen und Füssen nicht zu-
sammenzugehören scheinen. Michel-
angelos Wirklichkeitssinn musste sich
einmal gründlich ersättigen. Er
schreckt vor keinen Konsequenzen
zurück, er wagt es sogar, dieses un-
geschlachte Modell ins Kolossale zu
Dazu der herbe Rhythmus
vergrössern.
der Bewegung, und zwischen den
Beinen das ungeheure leere Dreieck.
An die schöne Linie ist nirgends
eine Konzession gemacht. Die Fi-
gur zeigt eine Wiedergabe der Na-
tur, die bei diesem Masstab ans
Wunderbare grenzt, sie ist erstaunlich
Michelangelo. Apollo (oder David)
in jedem Detail und immer wieder
überraschend durch die Schnellkraft
des Leibes im ganzen, allein offen gestanden — — sie ist grundhässlich. ^)

Dabei ist nun merkwürdig: der David ist in Florenz das populärste
Bildwerk geworden. Es lebt in dieser Bevölkerung neben der spezifisch-
toscanischen Grazie — die etwas anderes ist als die römische Gravität
ist der schöne Altar der Familie Pezzo (1 524) in Montoliveto in Neapel, nach dem man
die hohe Begabung des frühreifen Künstlers vollkommen Er steht
beurteilen kann.
neben einem ähnlich komponierten des Giovanni da Nola, der gewöhnlich als Vertreter
der neapolitanischen Plastik in Cinquecento genannt wird, aber viel geringer ist.
(Eine gegenteilige Beurteilung des Giovannino findet man bei Bode, florentinische
Bildhauer 1903.)
') dem schwer verständlichen Motiv der Arme möchten bildhauerisch-
Bei
technische Notwendigkeiten mitgesprochen haben. Man erwartet etwas anderes.
Jedenfalls als Lionardo den Typus in einer bekannten Zeichnung wiederholte, gab
er seinem David eine gewöhnlich hängende Schleuder in die rechte Hand. Hier
läuft ein breites Band über den Rücken, dessen eines Ende in der rechten, dessen
anderes (sackartig verdichtet) in der linken Hand liegt; für den Hauptanblick bleibt
es aber ganz ausser Betracht.

4'
52 DIE KLASSISCHE KUNST

— ein Sinn für die ausdrucksvolle Hässlichkeit, der mit dem Quattro-
cento nicht untergegangen ist. Als man den David vor einiger Zeit von
seinem öffentlichen Standort am Palazzo Vecchio weg in den Schutz
eines geschlossenen Museums da musste man dem Volk
verbrachte,
seinen „Giganten" wenigstens im Bronzeabguss sichtbar lassen. Dabei
ist man denn freilich auf eine unglückliche Art der Aufstellung gekommen,

die für die moderne Stillosigkeit bezeichnend ist. Man hat die Bronze
in der Mitte einer grossen, freien Terrasse aufgestellt, wo die ungeheuer-
lichsten Ansichten zu schlucken sind, bevor man den Mann nur zu
Gesicht bekommt. Die Frage der Aufstellung ist seiner Zeit, gleich
nach Vollendung der Figur, in einer Versammlung von Künstlern er-
örtert worden, wir haben noch das Protokoll der Sitzung: jedermann
war damals der Ansicht, dass das Werk zu irgend einer Wandflucht in
ein Verhältnis gebracht werden müsse, sei es in der Loggia dei Lanzi
oder neben der Tür des Signorienpalastes. Die Figur verlangt darnach,
denn sie ist durchaus flächenmässig gearbeitet und nicht für den Anblick
von allen Seiten. Bei der jetzigen zentralen Aufstellung ist nur das eine
erreicht, dass sich die Hässlichkeit noch vervielfacht hat.
Waswohl Michelangelo selbst über seinen David später gedacht
hat? Abgesehen davon, dass ihm ein ähnlich detailliertes Studium nach
dem Modell ganz und gar nicht mehr zu Sinne stand, würde er auch
das Motiv als zu leer empfunden haben. Seine gereifte Meinung über
die Vorzüglichkeit einer Statue kann man vernehmen, wenn man etwa
den sogenannten Apollo des Bargello vergleicht, der 25 Jahre nach dem
David entstand. Fs ist ein Jüngling, der im Begriff ist, einen Pfeil aus
dem Köcher zu ziehen. Ganz einfach im Detail, wirkt die Figur un-
endlich reich durch ihre Bewegung. Es giebt da gar keinen besonderen
Kraftaufwand, keine ausladenden Gebärden; als Volumen ist der Körper
streng zusammengehalten, besitzt aber dabei eine Durchbildung nach der
Tiefe, eine Belebung und Bewegung auch in den rückwärtigen Rauni-
schichten, dass der David ganz arm daneben aussieht und wie eine blosse
Scheibe. Und vom Bacchus gilt dasselbe. Die Ausbreitung in der Fläche,
die abgestellten Gliedmassen, die Durchlöcherung des Steines, das ist bei
Michelangelo nur Jugendstil. Später suchte er die Wirkung im Zu-
sammengenommenen und Verhaltenen. Er muss bald zur Einsicht in
den Wert einer solchen Behandlung gekommen sein, denn in der un-
mittelbar nach dem David entworfenen Figur des Evangelisten Matthäus
(Florenz, Hof der Kunstakademie) ist sie schon da. ')

') Der Matthäus gehört in eine Folge von zwölf Aposteln, die für den Florentiner

Dom bestimmt waren, aber nicht einmal in dieser ersten Figur fertig geworden ist.
MICHELANGELO. FRÜHWERKE 53

Nackte Körper und Bewegung —


darnach drängte die Kunst Michel-
angelos. Damit hatte er angefangen
als er, ein Knabe noch, den Cen-
taurenkampf meisselte,
jetzt beim
Eintritt in die Mannesjahre wieder-
holte sich die Aufgabe und er löste
sie so, dass eine ganze Künstler-
generation sich daran grosszog. Der
Karton der Badenden ist zweifel-
los das wichtigste Monument der
ersten Florentiner Zeit, die vielseitig-
ste Offenbarung der neuen Art, den
menschlichen Körper aufzufassen.
Die wenigen Proben, die uns der Sti-

chel Marc Antons^) von dem verlore-


Michelangelo. Bruchstück aus dem Karton der
nen Karton erhalten hat, genügen,
badenden Soldaten
um eine Vorstellung von dem Begriff Nach dem Stich des Marc Anton)

des „gran disegno" zu geben.


Man darf glauben, dass Michelangelo bei der Fixierung des Themas
nicht unbeteiligt war. Statt einer Schlachtszene, wie sie als Pendant zu
Lionardos Fresko im Ratssaal offenbar projektiert war, und wo es auf
Waffen und Rüstungen angekommen wäre, durfte der Künstler den
Moment geben, wo eine Rotte badender Soldaten durch das Alarmsignal
aus dem Wasser gerufen wird. Das war in den pisanischen Kriegen
vorgekommen. Dass aber gerade diese Szene als monumentales Wand-
bild ausgeführt werden sollte, spricht lauter als irgend etwas anderes
für die Höhe des allgemeinen künstlerischen Bedürfnisses in Florenz.
Das Emporklettern am steilen Ufer, das Knieen und Herabgreifen, das
reckenhafte Stehen und Sich- Rüsten, das Sitzen und eilige Anziehen, das
Rufen und Rennen —
es gab eine Fülle verschiedenartiger Bewegung
und man hatte nackte Körper nach Herzenslust, ohne unhistorisch zu
werden. Die spätere ideale Geschichtsmalerei würde die nackten Körper
gewiss gerne aufgenommen, aber das Thema als zu klein, zu genrehaft
empfunden haben.
Die Anatomiker unter den Florentiner Künstlern hatten Kämpfe
nackter Männer schon immer behandelt. Man kennt von Antonio Pol-
laiuolo zwei gestochene Blätter der Art und von Verrocchio hören wir,
dass er eine Zeichnung mit nackten Kämpfern gemacht habe, die auf
») Bartsch 487. 488. 472. Dazu Ag. Veneziano, B. 423.
^) Der landschaftliche Hintergrund ist einem Blatt des Lucas van Leyden entlehnt.
54 DIE KLASSISCHE KUNST

eine Hausfa^ade übertragen werden sollte. Mit solchen Stücken wäre


Michelangelos Arbeit zusammenzuhalten. Man sähe dann nicht nur, dass
er sozusagen alle Bewegung neu erfunden hat, sondern auch, dass bei
ihm erst der Körper einen wirklichen Zusammenhang besitzt.

Die älteren Szenen mögen noch so aufgeregte Streiter zeigen, es


ist als ob die Geschöpfe zwischen unsichtbaren Schranken befangen
blieben. Michelangelo entwickelt den Körper zuerst nach seiner ganzen
Bewegungsfähigkeit. Alle zusammen gleichen sie sich früher mehr als
bei Michelangelo eine Figur der andern. Die dritte Dimension und die
Verkürzung scheint erst von ihm entdeckt zu sein, trotzdem so ernsthafte
Versuche früher nach dieser Richtung gemacht worden waren.
Dass er so reich sein konnte in der Bewegung, geht nun freilich
darauf zurück, dass er eben den Körper von innen heraus verstand.
Er ist nicht der erste, der anatomische Studien gemacht hat, allein der
organische Zusammenhang des Körpers hat sich doch ihm zuerst offen-
bart. Und dann das Wichtigere: er weiss, worauf der Eindruck der
Bewegung beruht, überall sind die ausdrucksvollen Eormen hervorgeholt,
die Gelenke zum Sprechen gebracht.

2. Die Deckenmalerei in der sixtinischen Kapelle


Man beklagt sich mit Recht, dass die sixtinische Decke für den
Betrachter eine Tortur sei. Den Kopf im Nacken, ist man gezwungen,
eine Reihe von Geschichten abzuschreiten; überall regt sich's mit Eeibcrn,
die gesehen werden wollen, man wird dahin und dorthin gezogen und
hat schliesslich keine Wahl, als vor der Überfülle zu kapitulieren und
auf den erschöpfenden Anblick zu verzichten.
Michelangelo hat es selbst so gewollt. Ursprünglich war es auf
etwas viel Einfacheres abgesehen. In die Zwickel sollten die zwölf
Apostel kommen und die Mittelfläche wäre einer blossen ornamental-
geometrischen Füllung anheimgegeben worden. Wie das Ganze aus-
gesehen hätte, lehrt eine Zeichnung Michelangelos in London. ^) Es
giebt Leute von Urteil, welche meinen, es sei schade, dass es nicht bei
diesem Projekt geblieben sei, es wäre „organischer" gewesen. Jedenfalls
hätte die Decke den Vorteil der leichteren Sehbarkeit vor, der jetzigen
vorausgehabt. Die Apostel an den Seiten entlang hätten bequem genug

') Publiziertim Jahrbucii der preussisclieii Kunslsammlungen, 1892. (Wölffliii.)


Neuerdings auch in dem grosfen Werk von Ernst Steinmann, Die Jixtinische Ka-

pelle, Band II.


MICHELANGELO. DIE SIXTINISCHE KAPELLE 55

sich präsentiert und die ornamentalen Muster der Mittelfläche würden


dem Beschauer auch keine Mühe gemacht
haben.
Michelangelo hat sich wohl lange gesträubt, den Auftrag überhaupt
zu übernehmen; dass er aber dann die Decke so ausgiebig bemalte, ist
sein Wille gewesen. Er war es, der dem Papste Vorstellungen machte,
mit den blossen Aposteln würde es doch eine ärmliche Sache werden,
bis man ihm schliesslich freie Hand gab, er solle malen was er wolle.
Würden Decke nicht so deutlich den Jubel der Schöpfer-
die Gestalten der
freude verraten, so möchte man sagen, der Künstler habe seinen üblen
Humor auslassen und für den unliebsamen Auftrag sich rächen wollen:
die Herrn im Vatikan sollten die Decke haben, dafür aber auch den Hals
sich ausrecken müssen.
In der sixtinischen Kapelle hat Michelangelo zuerst das Wort aus-
gesprochen, das für das ganze Jahrhundert bedeutungsvoll geworden ist,

dass neben der menschlichen Form eine andere Schönheit nicht mehr
existiere. Die vegetabilisch-lineare Flächendekoration ist hier prinzipiell
negiert und wo man eine Rankenschlingung erwartet, bekommt man
menschliche Leiber und nichts als menschliche Leiber. Nirgends ein
Fleck ornamentaler Füllung, wo das Auge ausruhen könnte. Michel-
angelo hat wohl abgestuft und gewisse Figurenklassen untergeordnet
behandelt, auch koloristisch durch Stein- oder Bronzefarbe unterschieden,
allein das ist kein Äquivalent und man mag die Sache ansehen wie man
will: in der durchgängigen Besetzung der Fläche mit menschlicher Figur
liegt eine Art von Rücksichtslosigkeit, die nachdenklich machen muss.
Daneben bleibt freilich sixtinische Decke eine Überraschung,
die
der in Italien kaum eine zweitean die Seite zu stellen ist. Wie die
donnernde Offenbarung einer neuen Gewalt, wirkt diese Malerei über
den befangenen Bildern, die die Meister der letzten Generation unten
an die Wände gemalt haben. Man sollte immer mit diesen quattro-
centistischen Fresken die Betrachtung anfangen und erst, wenn man sich
etwas in sie hineingesehen, den Blick emporrichten. Dann wird das
gewaltig wogende Leben des Gewölbes erst seine ganze Wirkung thun
und man wird den grandiosen Rhythmus empfinden, der hier ungeheure
Massen gliedert und bindet. Jedenfalls aber empfiehlt es sich, das
„Jüngste Gericht" an der Altarwand beim ersten Eintritt in die Kapelle
zu ignorieren, d. h. in den Rücken zu nehmen. Michelangelo hat mit
diesem Werk seines Alters den Eindruck der Decke schwer geschädigt.
Mit dem Kolossalbild ist in dem Raum alles aus der Proportion ge-
bracht und ein Orössenmassstab gegeben, neben dem auch die Decke
zusammenschrumpft.
Versucht man, sich die Momente klar zu machen, auf denen die
56 DIE KLASSISCHE KUNST

System der Eixünischeii Decke

Wirkung dieser Gewölbemalerei beruht, so trifft man schon in der An-


ordnung auf lauter Gedanken, die Michelangelo als Erster hatte.
Zunächst geht er darauf aus, die ganze Fläche des Gewölbes als
etwas Einheitliches zusammenzunehmen. Jeder andere hätte die Zwickel-
dreiecke abgetrennt (wie das z. B. auch Raflael in der Villa Earnesina
gethan hat). Michelangelo will den Raum nicht zerstückeln, er ersinnt ein
zusammenfassendes tektonisches System und die Prophetenthrone, die
aus den Zwickeln aufwachsen, greifen in die Glieder der Mittelfüllung so
ein, dass man nichts Einzelnes herauslösen kann.

Die Einteilung nimmt nur wenig Bezug auf die vorhandene For-
mation der Decke. Es liegt dem Künstler fern, die gegebenen Struktur-
und Raumverhältnisse aufzunehmen und auszudeuten. Wohl führt er das
Hauptgesimse in ungefährem Anschluss über Gewölbe-
die Scheitel der
klappcn hin, aber wie die Prophetcrithrone in den Zwickeln die Dreieck-
form dieser Teile nicht achten, so bringt er in das ganze System einen
MICHELANGELO. DIE SIXTINISCHE KAPELLE 57

Rhythmus, der von der wirklichen Struktur ganz unabhängig ist. Die
Verengung und Erweiterung der Intervalle in der Mittelachse, der Wechsel
von grossen und kleinen Feldern zwischen den Gurten giebt im Verein
mit den jeweilen auf die unbetonten Stellen einfallenden Zwickelgruppen
eine so prachtvolle Bewegung, dass Michelangelo damit allein das frühere
überbietet. Er hilft nach mit dunklerer Färbung der ausgeschiedenen
Nebenräume — die Medaillonfelder sind violett, die Dreieckausschnitte
neben den Thronsesseln grün, —
wodurch die hellen Hauptstücke mehr
herauskommen und das Umspringen des Accentes, von der Mitte auf die
Seiten und wieder zurück in die Mitte, um so eindrücklicher wird.
Dazu kommt ein neuer Grössenmassstab und eine neue Grössen-
differenzierung der Figuren. In kolossalen Verhältnissen sind die sitzenden
Propheten und Sibyllen gebildet, daneben existieren kleinere und kleine
Figuren, man merkt nicht gleich, in wie viel Stufen es abwärts geht,
man siehtnur die Fülle der Gestalten und hält sie für unerschöpflich.
Ein weiterer Faktor der Komposition ist die Unterscheidung von
Figuren, die plastisch wirken sollen und von Geschichten, die nur als
Bilder erscheinen. Propheten und Sibyllen und ihr ganzes Gefolge
existieren sozusagen in dem wirklichen Raum und besitzen einen anderen
Grad von Realität als die Figuren der Geschichten. Es kommt vor,
dass die Bildfläche überschnitten wird von den Gestalten, die am Rahmen
sitzen (Sklaven).
Dieser Unterschied verbindet sich mit einem Richtungskontrast, in-

dem die Figurensysteme der Zwickel im rechten Winkel zu den Historien


stehen. Mankann nicht beide zusammen sehen, aber man kann sie auch
nicht völlig trennen; es mischt sich immer ein Stück der anderen Gruppe
der Erscheinung bei und hält die Phantasie in Spannung.
Ein Wunder, dass eine so vielgestaltige laute Versammlung über-
haupt noch zu einheitlicher Wirkung zusammengeschlossen werden konnte.
Ohne die grösste Einfachheit der stark accentuierten architektonischen
Gliederungen wäre es nicht möglich gewesen. Bänder und Gesimse und
Thronsessel sind denn auch von schlichtem Weiss und es ist das der
erste grosse Fall von Monochromie. Die bunten zierlichen Muster des
Quattrocento hätten hier in der That keinen Sinn gehabt, während die
sich immer wiederholende weisse Farbe und die einfachen Formen den
Zweck vortrefflich erfüllen, die erregten Wogen zu beruhigen.

Die Geschichten
Michelangelo nimmt von vornherein das Recht in Anspruch, die
Geschichten in nackten Figuren erzählen zu dürfen. Das Opfer Noahs,
die Schande Noahs sind Kompositionen mit wesentlich nackten Leibern.
58 DIE KLASSISCHE KUNST

Gebäulichkeiten, Kostüme, Kleingerät, all die Herrlichkeiten, die uns


Benozzo Gozzoli in seinen alttestamentlichen Bildern vorsetzt, fehlen oder
sind auf den notwendigsten Ausdruck beschränkt. Landschaftlich kommt
gar nichts vor. Kein Grashalm, wenn er entbehrlich ist. Irgendwo findet
man in einer Ecke ein hingewischtes Gewächs wie ein Farnkraut —
es ist der Ausdruck für die Entstehung der Vegetation auf Erden. Ein
Baum bedeutet das Paradies. Alle Ausdrucksmittel sind in diesen Bildern
zusammengehalten, Linienführung und Raumfüllung sind mit zum Aus-
druck herangezogen und die Erzählung wird zu unerhörter Prägnanz
zusammengepresst. Es gilt das noch nicht für die Anfangsbilder, sondern
erst für die vorgerücktere Arbeit. Wir folgen mit unseren Anmerkungen
dem Gang der Entwicklung.
man der Schande Noahs
Unter den ersten drei Bildern wird
den Vorzug geben, was die Geschlossenheit der Komposition anlangt.
Das Opfer steht trotz guter Motive, die die spätere Kunst sich zu
nutze gemacht hat, nicht auf gleicher Höhe und die S ü n d f 1 u t, die
dem nach an die badenden Soldaten anknüpfen konnte und über-
Stoffe
reich ist an bedeutenden Figuren, erscheint als Ganzes doch etwas
bröckelig. Bemerkenswert ist der Raumgedanke, dass die Leute hinter
dem Berg herauf dem Beschauer entgegen kommen. Man sieht nicht,
wie viele es sind und kann sich das Gedränge gross vorstellen. Diese
Wirkungseinsicht wäre manchem Maler zu wünschen gewesen, der den
Übergang über das Rote Meer oder dergleichen Massenszenen zu malen
hatte.Die sixtinische Kapelle selbst enthält unten in den Wandbildern
ein Beispiel des älteren, ärmlichen Stils.

Sobald Michelangelo mehr Raum gewinnt, wächst seine Kraft. Im


Bilde des Sündenfalls und der Vertreibung breitet er seine Schwinj:!;en
schon in ganzer Grösse aus und nimmt dann in den folgenden Bildern
einen Flug in Höhen, wohin ihm keiner nachgefolgt ist.

Der Sünden fall ist in der älteren Kunst bekannt als eine Gruppe
von zwei stehenden Figuren, kaum sich zugewandt und nur lässig ver-
bunden durch das Anbieten des Apfels. Der Baum steht in der Mitte.
Michelangelo schafft eine neue Konfiguration. Eva, römisch-faul daliegend,
mit dem Rücken gegen den Baum, wendet sich momentan nach der
Schlange zurück und nimmt scheinbar gleichgültig von ihr den Apfel
entgejj^en. Adam, der steht, greift über das Weib hinweg in das Geäste.
Seine Bewegung ist nicht recht verständlich und die Figur ist nicht in
allen Gliedern klar. Aus der Eva aber ersieht man, dass die Geschichte
hier in die Hände eines Künstlers gekommen ist, der mehr als neue
Formgedanken hat im faulen Herumliegen des Weibes, will er sagen,
:

erwachsen die sündlichen Gedanken.


MICHELANGELO. DIE SIXTINISCHE KAPELLE 59

Der Garten des Paradieses bietet nichts als ein paar Blätter. Michel-
angelo hat den Ort nicht stofflich charakterisieren wollen, wohl aber giebt
er in der Bewegung der Bodenlinien und in der Füllung des Luftraums
einen Eindruck von Reichtum und Belebtheit, der sehr stark kontrastiert
mit der einen öden Horizontale nebenan, wo das Elend der Verbannung
geschildert Die Figuren der unglücklichen Sünder sind hinaus-
ist.

geschoben an den äussersten Rand des Bildes und es entsteht ein


bis
leerer, gähnender Zwischenraum, grossartig wie eine Pause bei Beethoven.

Das Weib eilt mit gekrümmtem Rücken und eingezogenem Kopf zeternd
voraus, nicht ohne noch einen verstohlenen Blick zurückzuwerfen, Adam
schreitet mit mehr Würde und Gelassenheit dahin und sucht nur das
drängende Schwert des Engels von sich abzuhalten, eine bedeutende Ge-
bärde, die schon Jacopo della Quercia gefunden hat.
Die Erschaffungder Eva. Zum erstenmal tritt Gott Vater
auf in einem Schöpfungsakt. Er wirkt nur mit dem Wort. Was frühere
Meister gaben, das Fassen des Weibes am Unterarm, das mehr oder weniger
derbe Hervorzerren, bleibt weg. Der Schöpfer berührt das Weib nicht.
Ohne Kraftaufwand, mit ruhiger Gebärde, spricht er das: Stehe auf! Eva
folgt so, dass man merkt, wie sie abhängig ist von der Bewegung ihres
Schöpfers und es ist unendlich schön, wie das staunende Sichaufrichten
zur Anbetung wird. Michelangelo hat hier gezeigt, was er sich unter
dem sinnlich-schönen Körper vorstelle. Es ist römisches Geblüt. Adam
liegt schlafend gegen einen Felsen, ganz gebrochen wie ein Leichnam

mit vorfallender linker Schulter. Ein Pflock im Boden, an dem die Hand
gewissermassen aufgehängt ist, giebt noch weitere Verschiebungen in
den Gelenken. Die Linie des Hügels deckt den Schlafenden und hält
ihn fest. Ein kurzer Ast korrespondiert in der Richtung mit Eva. Alles
ist ganz knapp beisammen und der Rand so nah herumgeführt, dass
Gott Vater sich nicht einmal völlig aufrichten könnte.^)
Und nun wiederholt sich die Schöpfergebärde noch viermal, immer
neu, immer gesteigert in der Macht der Bewegung. Zunächst die Er-
schaffung des Mannes. Gott steht nicht vor dem liegenden Adam,
sondern er kommt schwebend zu ihm, mit einem ganzen Chor von Engeln,
die alle der gewaltig sich blähende Mantel umfasst. Die Schöpfung
') Der geistige Inhalt der Szene ist in verschiedener Weise erklärt worden
und es giebt zu allerhand Erwägungen Anlass, wenn man die dissonierenden Stimmen
der Interpreten vernimmt. Klaczko (Jules II, Paris 1890) nennt Eva toute ravie
et ravissante . . eile temoigne de la joie de vivre et en rend gräce a Dieu Justi ;

(Michelangelo, Leipzig 1901) findet den Blick leer und kalt, sie ist das Weib, das
sich gleich in die Lage findet. ,
»Schnell gefasst, anstellig, weiss sie gleich, was sich
gehört in so hoher Gegenwart, in einer ebenso unterwürfigen und devoten, wie ge-
fälligen und sicheren Gebärde leistet sie die schuldige Adoralion."
60 DIE KLASSISCHE KUNST

geschieht durch Berührung: mit der Spitze des Fingers rührt der Gott
die entgegengestreckte Hand des Menschen an. Der am Berghang
liegende Adam gehört zu den berühmtesten Erfindunoen Michelangelos.
Er giebt hier beides vereint, die latente Kraft und die völlige Hilflosig-
keit. Das Liegen ist derart, dass man weiss, der Mensch kann von sich
aus nicht aufstehen, in den matten Fingern der ausgestreckten Hand ist
alles gesagt, nur den Kopf ist er im stände Gott entgegenzuwenden. Und
daneben was für eine kolossale Bewegung in dem bewegungslosen Körper!
Das emporgezogene Bein und die Drehung in den Hüften! Der Torso in
voller Vorderansicht und die unteren Extremitäten im Profil!
Gott über den Wassern. Das unübertroffene Bild des all-
durchwaltenden Segnens. Aus der Tiefe hervorrauschend breitet der Schö-
pfer die segenschweren Hände über die Wasserfläche. Der rechte Arm ist
stark verkürzt. Der Anschluss an den Rahmen von der knappsten Art.
Und dann Sonne und Mond. Die Dynamik steigert sich. Man
denkt an Goethes Vorstellung: „ein ungeheures Getöse verkündet das
Kommen der Sonne''. Herandonnernd reckt Gott Vater die Arme, wo-
bei er den Oberkörper mit jähem Ruck zurückwirft und kurz dreht. Es
ist nur ein augenblickliches Innehalten im Flug und Sonne und Mond
stehen da. Beide Schöpferarme sind gleichzeitig bewegt. Der rechte hat
den stärkeren Accent, nicht nur, weil der Blick ihm folgt, sondern weil
er sich stärker verkürzt. Die verkürzte Bewegung wirkt immer energischer
als die unverkürzte. Die Figur ist noch grösser in der Fläche als vorher.
Kein fingerbreit überflüssiger Raum.
I Her begegnen wir der merkwürdigen Licenz, dass Gott Vater
im gleichen Bilde noch einmal erscheint, von rückwärts gesehen, wie
ein Sturmwind, in die Tiefe des Bildes zurückeilend. Man nimmt
ihn zuerst für den entweichenden Dämon der Finsternis, allein es ist

die Schöpfung der Vegetation gemeint. Michelangelo hielt bei


diesem Akt nur eine flüchtige Handbewegung für nötig. Das Antlitz des
Schöpfers ist bereits wieder neuen Zielen zugewandt. Das doppelte Vor-
kommen der gleichen Figur im Bild hat etwas Altertümliches, allein man
kann durch Zudecken der einen Bildhälfte überzeugen, wie vorteil-
sich
haft die doppelte Flugerscheinung für den Bewegungseindruck ist.
Auf dem letzten Bild, wo Gott Vater im Chaos wallender Wolken
sich wälzt — der übliche Name „Scheidung von Licht und Finsternis"
ist doch wohl nicht aufrecht zu halten — , können wjr dem Künstler
nicht mehr ganz andächtig folgen, doch ist gerade dieses Fresko geeignet,
die erstaunliche Technik Michelangelos vor Augen zu stellen. Man sieht
hier deutlich, wie er im letzten Augenblick, d. h. während des Malens

die flüchtig eingeritzten Linien der Vorzeichnung vcrlässt und etwas


MICHELANGELO. DIE SIXTINISCHE KAPELLE 61

anderes probiert. Und


das geschah bei kolossalen Verhältnissen und
ohne dass der Maler, der auf dem Rücken lag, eine Übersicht über das
Ganze hätte nehmen können. —
Wenn man von Michelangelo gesagt hat, er habe sich immer nur
für das Formmotiv als solches interessiert und es nicht als den not-
wendigen Ausdruck eines gegebenen Inhalts verstehen Vk'ollen, so mag
das für manche seiner Einzelfiguren zutreffen; wo er Geschichten erzählt,

da hat er ihren Sinn immer respektiert. Die sixtinische Decke spricht


dafür so gut, wie die allerspätesten Historien in der Capella Paolina.
An den Ecken der Decke gab es noch vier sphärische Dreiecke, dort
findet sich u. a. die J u d i t h, die der Sklavin das Haupt des Holofernes
übergiebt. Das Motiv ist oft behandelt worden, immer ist es ein mehr
oder weniger gleichgültiger Akt des Hinübergebens und Inempfang-
nehmens. Michelangelo lässt seine Judith in dem Augenblick, wo die

Dienerin sich bückt, um das Haupt in der hochgetragenen Schüssel auf-


zunehmen, umblicken nach dem Bette, wo Holofernes liegt: es ist als ob
der Leichnam sich noch einmal geregt hätte. Dadurch kommt eine un-
vergleichliche Spannung in die Szene und wüsste man sonst nichts von
Michelangelo, so würde man nach dieser Probe auf einen dramatischen
Maler ersten Ranges als Autor raten müssen.

Die Propheten und Sibyllen


In Florenz hatte Michelangelo den Auftrag auf zwölf stehende
Apostelfiguren für den Dom bekommen; zwölf Apostel — sitzend —
waren im ersten Plan für die sixtinische Decke vorgesehen. Später
traten an deren Stelle Propheten und Sibyllen. Der unvollendete Matthäus
zeigt, wie Michelangelo bei einem Apostel die innere und äussere Be-
wegung zu erhöhen gewillt war, was durfte man erwarten, wenn er Seher-
typen bildete! An irgendwelche Vorschriften über Abzeichen hat er sich
Über eine
nicht gehalten, sogar die typische Schriftrolle lässt er bald fallen.
Darstellung, wo die Namen Hauptsache waren und die Figuren nur mit
lautem Gestikulieren bekunden soUten, dass sie im Leben etwas gesagt
hatten, schreitet er hinaus und giebt Momente des geistigen Lebens, die
Inspiration selbst, den leidenschaftlichen Monolog und das tiefe stumme
Sinnen, das ruhige Lesen und das erregte Blättern und Suchen. Da-
zwischen kommt aber auch einmal ein ganz gleichgültiges Motiv vor,

wie das Herabholen eines Buches vom Gestell, wobei das ganze Interesse
auf der körperlichen Bewegung sich sammelt.
Alte und Junge stehen in der Reihe. Den Ausdruck des prophe-
tischen Schauens aber hat er den Jungen vorbehalten. Er fasst es nicht
als ein sehnend-verzücktes Aufblicken, mit peruginischem Sentimento,
62 DIE KLASSISCHE KUNST

oder als eine Auflösung, ein


passives Empfangen wie
Guido Reni, wo man oft
nicht weiss, ob man eine
Danae vor sich hat oder
eine Sibylle, es ist bei ihm
ein aktiver Zustand, ein Ent-
gegengehen.
Die Typen entfernen
sich fast sämtlich vom In-
dividuellen. Die Kostüme
sind ganz ideal. Was ist
es nun, was die Delphica
voraus hat vor allen Figuren
des Quattrocento ? Was
macht Bewegung
die so
gross und was giebt hier
der Erscheinung^ den Cha-
rakter der Notwendigkeit?
Das plötzliche Aufhorchen
der Seherin, wobei sie den
Michelangelo. Die delphische Sibylle
Kopf wendet und den Arm
mit der Rolle einen Augenblick hochnimmt,
ist das Motiv. Der Kopf
erscheint in der einfachsten Ansicht, ganz gerade, in reiner Face.
Diese Haltung ist gewonnen aus schwierigen Umständen. Der Ober-
körper ist seitlich gewendet und vorgebeugt, und der übergreifende
Arm bedeutet noch einmal einen Widerstand, den der Kopf mit seiner
Drehung zu überwinden hatte. Gerade das giebt ihm seine Kraft, dass
er nicht mühelos in die Faceansicht sich eingestellt und dass die Vertikale
aus widersprechenden Verhältnissen sich herausgearbeitet hat. Und weiter-
hin ist einleuchtend, dass gerade die scharfe Begegnung mit der Hori-
zontallinie des Armes die Kopfrichtuiig energisch macht. Die Licht-
führung thut ein übriges: der Schatten scheidet genau das Gesiciit in
zwei Hälften und accentuiert die Mittellinie, und mit dem emporgespitzten
Kopftuch ist die Vertikale nochmals betont.
Die Augen der Prophetin folgen der Kopfdrehung nach rechts mit
eigener Bewegung.Es sind die gewaltigen weitgeöffneten Augen, die
auf alle Ferne wirken. Allein die Wirkung wäre nicht so entschieden,
würde nicht von den begleitenden Linien die Aui^en- und Kopfbeweg-
ung aufgenommen und weitergeführt. Die Haare flattern nach der-
selben Richtung und ebenso der grosse Mantelbausch, der die ganze
MICHELANGELO. DIE SIXTINISCHE KAPELLE 63

Figur wie ein Segel zu-


sammenfasst.
Mit diesem Gewand-
motiv kommt ein Kontrast
der Silhiuette rechts und links
zu Stande, den Michelangelo
oftbringt. Auf der einen Seite
die geschlossene Linie, auf
der andern die zackig be-
wegte. Und dasselbe Prinzip
der Kontrastierung wieder-
holt sich in einzelnen Glie-
dern. Neben dem energisch
hochgenommenen Arm
bleibt der andere völlig tot,

nur lastend. Das 15. Jahr-


hundert glaubte alles gleich-
massig beleben zu müssen,
das 16. findet eine stärkere
Wirkung darin, den Accent
nur auf einzelne Punkte zu Michelangelo. Die erythräische Sibylle
werfen.
Bei der E r y t h r ä a das Sitzen mit übergeschlagenem Bein. Stellen-
weis reine Profilansicht. Der eine Arm vorgreifend, der andere hängend
und dem geschlossenen Umriss sich einfügend. Das Kostüm hier ganz
besonders monumental. Ein interessanter Vergleich ergiebt sich beim
Rückblick auf die Figur der Rhetorik an Pollaiuolos Sixtusgrab (S. Peter),
wo ein sehr ähnliches Motiv durch die kapriziösen Künste eines Quattro-
centisten zu einer sehr unähnlichen Wirkung gebracht ist.

Die alten Sibyllen giebt Michelangelo zusammengekauert, mit ge-


bogenem Rücken. Die P e r s i c a mit dem Buch vor den blöden Augen.
Die C u maea mit beiden Händen ein Buch fassend, das ihr zur Seite
liegt, wobei Beine und Oberkörper kontrastierend bewegt sind.
Bei der L y b i c a ein höchst kompliziertes Herunterholen des Buches
von der Wand hinter dem Sessel, eine Operation, bei der die Frau
nicht aufsteht, sondern nur mit beiden Armen zurückgreift und indessen
mitdem Blick noch einmal nach einer anderen Richtung geht. Viel
Lärm um nichts.
Die Entwicklungslinie bei den Männern geht von E s a i a s und
J e 1 (nicht von Z a ch a r i a's) zu dem schon ungleich grossartiger con-
cipierten Schreiber Daniel und über den ergreifend einfachen J e r e -
64 DIE KLASSISCHE KUNST

Michelangelo. Sklavenfigureii (Aus der ersten Gruppe)

m i a s ZU J n a s, der mit kolossaler Bewegung alle tektoiiischcn Schranken


einreisst.

Man wird diesen Figuren nicht gerecht werden, wenn man nicht
die Motive genau analysiert, sich in jedem Fall aufs neue Rechenschaft
giebt über die Schiebung des Körpers im ganzen und die Bewegung
der Glieder im einzelnen. Wie wenig unser Auge gewöhnt ist, derartige
räumlich-körperliche Verhältnisse aufzufassen, geht daraus hervor, dass
selten jemand im stände ist, eines der Motive in der Erinnerung sich
zu wiederholen und selbst nicht unmittelbar nach dem Anblick. Jede
Beschreibung wird aber pedantisch aussehen und zugleich die falsche
Vorstellung erwecken, als seien nach bestimmten Rezepten die Glieder
geordnet worden, während das Besondere i^erade in dem Ineinander-
greifen der formalen Absichten mit dem zwingenden Ausdruck eines
psychischen Momentes besteht. Nicht überall ist das gleichmässig der
Fall. Die Lybica, eine der letzten Figuren an der Decke, ist zwar von
grösstem Reichtum an Wendungen, aber ganz äusserlich concipiert, in
derselben Gruppe der späten Figuren befindet sich aber auch der in
sich versunkene Jeremias, der einfacher als alle anderen uns am meisten
ans Herz greift.
MICHELANGELO. DIE SIXTINISCHE KAPELLE 65

Michelangelo. Sklaveiifiguren (Aus der drillen Gruppe)

Die Sklaven
Über den Pfeilern der Prophetenthrone sitzen nackte junge Männer;
paarweise sich zugekehrt, haben sie je eines der Bronzemedaillons
zwischen sich und scheinen es mit Fruchtkränzen umwinden zu sollen.
Es sind die sogenannten Sklaven. Kleiner gebildet als die Propheten,
ist ihr tektonischer Sinn das freie Ausklingen der Pfeiler nach oben.

Als Krönungsfiguren haben sie die weiteste Freiheit der Gebärde.


Also noch einmal zwanzig Sitzfiguren! Sie bieten neue Möglich-
keiten, weil sie nicht frontal sitzen, sondern im Profil und weil der Sitz

sehr niedrig ist. Ausserdem aber —


die Hauptsache es sind nackte —
Figuren. Michelangelo wollte sich einmal ersättigen am Nackten. Er kommt
wieder in das Gebiet, das er mit dem Karton der badenden Soldaten be-
treten hatte, und man darf glauben, wenn irgendwo bei der Deckenarbeit,
so war er hier mit Leib und Seele bei der Sache. Knaben mit Fruchtkränzen
waren keine ungewöhnliche Vorstellung. Michelangelo aber verlangte
nach mächtigeren Körpern. Wie die Tätigkeit in jedem einzelnen Fall
gemeint sei, möge man nicht allzu genau zu erfahren wünschen. Das
Motiv ist gewählt, weil es die verschiedensten Bewegungen des Zerrens,
Tragens, Haltens rechtfertigt, zu einer genauen sachlichen Motivierung der
einzelnen Aktionen sollte man den Künstler nicht verpflichten wollen.
Wölfflin, Die klassische Kunst
66 DIE KLASSISCHE KUNST

Es sind keine besonders starken Muskelanspannungen, aber diese


Reihen von nackten Körpern haben in Wahrheit die Fähigkeit, Ströme
von Kraft in den Beschauer überzuleiten (a life-communicating art
nennt sie B. Berenson). Das Gewächs ist so mächtig und die Glieder
in ihren Richtungskontrasten wirken so wuchtig, dass man sofort fühlt,
einem neuen Phänomen gegenüberzustehen. Was hat das ganze
15. Jahrhundert an Machtfiguren gleich diesen? Die Abweichung vom
Normalen in der Körperbildung ist unbedeutend gegenüber den Um-
ständen, in die Michelangelo Er entdeckt ganz
die Glieder bringt.
neue Wirkungsverhältnisse. Da bringt er den einen Arm und die
Unterschenkel als drei Parallelen hart zusammen, da kreuzt er den
Oberschenkel mit dem heruntergreifenden Arm beinahe unter einem
rechten Winkel, da fasst er die Figur vom Fuss bis zum Scheitel
fast mit einem gleichen Linienzug. Und nun sind das nicht mathe-
matische Variationsaufgaben, die er sich stellte, auch die seltsame Be-
wegung wirkt überzeugend. Er hat die Körper in der Gewalt, weil
er die Gelenke besitzt. Das ist die Kraft seiner Zeichnung. Wer
den rechten Arm der Delphica gesehen hat, der weiss, dass da noch
vielkommen musste. Ein einfaches Problem wie das Aufstützen eines
Armes giebt er so, dass man eine vollkommen neue Empfindung da-
von bekommt. Man kann sich davon überzeugen, wenn man den
nackten Jüngling auf Signorellis Mosesbild in der sixtinischcn Kapelle
mit Michelangelos Sklaven über dem Propheten Joel vergleicht. Und
diese Sklaven gehören noch zu den frühesten und zahmsten. Nachher
giebt er dazu die Effekte der Verkürzung, stärker und stärker, bis zu
den rapiden scorzi in den Schlussfiguren. Der Bewegungsreichtum
steigert sich kontinuierlich und wenn anfangs noch die zusammen-
geordneten Figuren sich symmetrisch ungefähr entsprechen, so treten
sie gegen Ende zu immer vollstiindigcreii Kontrasten auseinander. Weit
entfernt, bei der zehnmal wiederholten gleichen Aufgabe schliesslich
zu ermüden, erlebt Michelangelo, dass sich ihm die Gedanken in immer
grösserer Fülle zud rängen.
Zur Beurteilung des Entwicklungsganges vergleiche man ein Paar
des Anfangs und ein Paar des Endes, die Sklaven über Joel und Jeremias.
Dort das schlichte Sitzen im Profil, massige Differenzierung der Glieder,
annähernd symmetrische Entsprechung der Figuren. Hier zwei Körper,
die weder im Gewächs noch in der Bewegung (und Beleuchtung) etwas
Verwandtes mehr haben, die aber mit ihren Kontrasten sich gegenseitig
in der Wirkung steigern.
Der Lässigsitzende in diesem Paare darf wohl als der schönste von
allen angesprochen werden, und nicht nur darum, weil er die edelste
MICHELANGELO. DIE SIXTINISCHE KAPELLE 67

Physiognomie hat. Die Figur ist ganz


ruhig, aber sie enthält grandiose
Richtungskontraste und die einzehie
Bewegung, bis auf das Vorschieben
des Kopfes, wirkt mit wunderbarem
Nachdruck. Die schroffste Ver-
kürzung steht unmittelbar neben der
völlig klaren Breitansicht. Erwägt
man noch, wie reiche Effekte dem
Licht hier zugestanden sind, so
wundert man sich immer wieder,
dass die Figur doch so still aussehen
kann. Wäre sie nicht so reliefmässig

klar ausgebreitet, so würde diese


Wirkung sich nicht einstellen. Zu-
dem ist sie als Masse fest zusammen-
genommen und sogar einer regulären
geometrischen Figur einzuschreiben.
Der Schwerpunkt liegt hoch oben, Michelangelo. Sklavenfigur

daher das Federleichte trotz den


herkulischen Gliedern. Die neuere Kunst hat diesen Typus des lässig-
leichten Sitzens wohl nie überboten und merkwürdig, aus einer fernen
fremden Welt, der griechischen Kunst, stellt sich die Gestalt des soge-
nannten Theseus vom Parthenon ganz von selber in der Erinnerung ein.
Was sonst noch an Dekorationsfiguren an der Decke vorkommt,
muss hier ausser Betracht bleiben. Die kleinen Felder mit leicht hin-
gewischten Figuren sehen aus wie ein Skizzenbuch Michelangelos und
enthalten noch genug- interessante Motive, wie denn bereits die Möglich-
keit der mediceischen Grabfiguren hier aufdämmert. Weit wichtiger
aber sind die Füllungen der Kappenfelder, gelagerte Gruppen von Volk,
in breiten Dreiecken entwickelt, wie sie die Kunst später massenhaft
verlangte, und dann in den Lünetten jene bei Michelangelo doppelt
merkwürdigen Genreszenen, die überraschendsten Einfälle, alles impro-
visiert. Der Künstler selbst scheint das Bedürfnis gehabt zu haben,
nach dem starken physischen und psychischen Leben der oberen Decken-
flächen hier die Erregung ausklingen zu lassen. Es ist in diesen „Vor-
fahren Christi" die ruhige gleichmässige Existenz dargestellt, das gemeine
menschliche Dasein.^)

*) über den sachlichen Zusammenhang der Vorfahren Christi mit den Pro-

pheten vgL P. Weber, Geistliches Schauspiel und Kirchliche Kunst 1894, S. 54. Nach
5*
68 DIE KLASSISCHE KUNST

Zum Schluss noch ein Wort über den Gang der Arbeit.
Die Decke ist nicht aus einem Guss. Es sind Nähte darin. Was
jedermann sieht, ist, dass die Historie der Sündflut und ihre zwei Be-
gleitbilder, die Schande Noahs und das Opfer, in viel kleineren Figuren
gemalt sind als die anderen Historien. Hier liegt der Anfang der Arbeit
und man hat Grund, anzunehmen, dass Michelangelo die Figurengrösse
für den Anblick von unten ungenügend fand. Allein es ist schade, dass
die Grössenproportion geändert werden musste, denn offenbar war es
darauf abgesehen, die Grösse der verschiedenen Figurenklassen konti-
nuierlich abnehmen zu lassen: von den Propheten zu den nackten Sklaven
und von hier zu den Historien führt anfänglich eine gleichmässige Pro-
gression und das wirkt angenehm ruhig. Später wachsen die inneren
Figuren den Sklaven weit über den Kopf, die Rechnung wird unklar.
Mit den anfänglichen Proportionen konnte man den kleinen Feldern
in

so gut auskommen wie in den grossen : die Grösse blieb konstant. Nach-
her kommt es auch hier zu einem notwendigen, aber nicht günstigen
Wechsel: bei der Erschaffung Adams ist Gott Vater gross und bei der
Erschaffung Evas finden wir dieselbe Figur beträchtlich verkleinert. ^)

Die zweite Naht findet sich in der Mitte der Decke. Plötzlich ge-
wahrt man eine nochmalige Steigerung der Grösse und diesmal auf allen
Punkten. Die Propheten und die Sklaven wachsen so, dass das archi-
tektonische System nicht mehr gleichmässig weitergeführt werden konnte.
Die Kupferstecher haben diese Unregelmässigkeiten zwar verheimlicht,
allein man kann sich an Photographien genügend davon überzeugen.
Gleichzeitig ändert sich der Farbcnstil. Die frühen Geschichten sind
bunt gehalten, blauer Himmel, grüne Wiesen, lauter helle Farben und
lichte Schatten. Später wird alles gedämpft, der Himmel weisslich-grau,
die Kleider stumpf. Die Farbe verliert das körperliche, sie wird wässriger.
Das Gold verschwindet. Die Schatten gewinnen mehr Gewicht.
Von Anfang an hat Michelangelo die Decke in der ganzen Breite
vorgenommen, also Geschichten und Prophetenfiguren gleichzeitig ge-

neuerer Meinung (Steinniann und Ihode) wären in den Kappenbildern die Juden im
Exil dargestellt, im Anschluss an die Lamentationen des Jeremias.
') Ob nicht mit dem neuen Masstab auch
ein Wechsel in der Idee eingetreten
und eine neue Folge von Geschichten zurBehandlung gekommen ist? Es lässt sich
nicht vorstellen, wie mit dem Masstab der ,,Sündnut" die wenig figurenreichen Ge-
schichten der Schöpfung in den Raum hätten komponiert werden können, und dass
Michelangelo von vornherein auf die Gleiclunässigkeit verzichtet hätie, scheint mir un-
wahrscheinlich. Einen solchen Wechsel in der Generalidee dürfte man auch deswegen
vermuten, weil das ,, Opfer Noahs" bekanntlich an seinen Ort gar nicht passt, sodass
schon ältere Erklärer (Condivi) statt dessen das Opfer Kains und Abels sehen wollten,
um den chronologischen Faden nicht zerreissen zu müssen. Doch geht das nicht.
MICHELANGELO. DAS JULIUSGRAB 69

fördert und erst zuletzt dann nach einer grossen Unterbrechung die unteren
Figuren (in den Gewölbekappen und Lünetten) in einem Zuge rasch
hinzugemalt. ^)

3. Das Juliusgrab
Die sixtinische Decke ist ein Denkmal jenes reinen Stiles der Hoch-
renaissance, der das Dissonierende noch nicht kennt oder noch nicht an-
erkennt. Das plastische Gegenstück dazu würde das Grab für den Papst
Julius sein, wenn worden wäre, wie die Projekte damals
es so ausgeführt

lauteten. Bekanntlich ist es aber erst spät in sehr reduzierter Grösse


und in einem anderen Stil ausgeführt worden und von den alten bereits
vorhandenen Figuren hat nur der Moses Platz gefunden, während die
sogenannten sterbenden Sklaven ihre eigenen Wege gegangen sind und
schliesslich im Louvre eine Unterkunft gefunden haben. Es ist somit

nicht nur zu beklagen, dass ein grossartig entworfenes Monument ver-

kümmerte, es fehlt uns überhaupt ein Denkmal von Michelangelos


„reinem" Stil, denn die —
weitem Abstand anschliessende
in nächste —
Arbeit, die Lorenzo- Kapelle, geht schon in ganz anderen Stilgeleisen.

Es ist hier der Ort, von Grabmälern etwas Allgemeines zu sagen.


Die Florentiner hatten einen Typus des prunkvollen Wandgrabes ent-
wickelt, den man sich am besten vergegenwärtigt mit der Erinnerung
an das Grab des Kardinals von Portugal auf San Miniato von A n t o n i o
R s s e 1 1 i n 0. Das Charakteristische ist die flache Nische, in die der

Sarkophag eingestellt wird, mit dem Toten auf dem Paradebett darüber.
Oben im Rund die Madonna, die lächelnd auf den Daliegenden herab-
sieht, und muntere Engel, die das kranzumwundene Medaillon
im Fluge
gefasst halten. An der Bahre sitzen zwei nackte kleine Buben und ver-
suchen ein weinerliches Gesicht zu machen und darüber erscheint, als
Pilasterkrönung, noch ein Paar ernsthafter grosser Engel, Krone und
Palme heranbringend. Die Nische ist eingerahmt von einem zurück-
geschlagenen steinernen Vorhang.
Um Wirkung des Denkmals zu vergegenwärtigen,
sich die originale
ist ein wichtiger Faktor zu ergänzen: die Farbigkeit.
Der violette Mar-
morhintergrund, die grünen Felder zwischen den Pilastern und die
Mosaikmusterung des Bodens unter dem Sarkophag sind zwar noch
sichtbar, weil der Stein sich nicht entfärbt, alle aufgemalte Farbe ist
aber er-
Zeitalter getilgt worden. Indessen ge-
loschen, von einem farbenfeindlichen

') Vgl. Repertorium für Kunstwissenschaft XIII: Die sixtinisclie KapeUe


Michelangelos (Wölfflin).
70 DIE KLASSISCHE KUNST

nügen die Spuren doch noch,


um für die Phantasie den
alten Schein wiederherzu-
stellen. Alles war farbig.
Der Ornat des Kardinals,
das Kissen, der Brokat des
Bahrtuchs, wo die Muster-
ung in leichtem Relief an-
gedeutet ist : es leuchtete von
Gold und Purpur. Der
Sarkophagdeckel hatte ein
buntes Schuppenmuster und
die wie
Pilasterornamente
die einrahmenden Profile
waren goldig. Ebenso die
Rosetten der Leibung: Gold
auf dunklem Grund. Gold
findet sich auch am Frucht-
kranz und an den Engeln.
Die Spielerei eines steiner-
Antonius Rosselliuo. Grabmal des Kardinals von Portugal nen Vorhanges wird über-
haupt erst erträglich, wenn
man Farbe dazudenkt: man sieht noch deutlich das Brokatmuster
die
der Ausscnfläche und das Gitterwerk des Futters.
Diese Farbigkeit hört mit dem 16. Jahrhundert plötzlich auf. Die
pompösen Grabmäler A n d r e a S a n s o v i n o s in S. M.del Popolo haben
keine Spur mehr davon. Die Farbe wird ersetzt durch die Wirkung
von Licht und Schatten. Aus dunkeln tiefen Nischen springen die Körper
weiss hervor.
Ein zweites kommt im 16. Jahrhundert dazu: das architektonische
Gewissen. Die Frührenaissance hat in ihren Bauten noch etwas Spiele-
risches und in der Verbindung von Figuren und Architektur ist für
unser Gefühl der Eindruck des Zufälligen nicht ganz überwunden. Ge-
rade das Grab Rossellinos ist ein Hauptbeispiel für das Unorganische
im Stil des 15. Jahrhunderts. Man nehme die knieenden Engelfiguren.
Sie besitzen keinen oder doch nur einen sehr lockeren tektonischen
Zusammenhang. Wie sie auf den Pilasterköpfen mit einem Fuss auf-
stehen, den anderen frei in der Geschmack
Luft, ist für einen späteren
an sich anstössig, noch mehr aber die Überschneidung der Einrahmungs-
profile durch den rückwärts gerichteten Fuss und das Fehlen einer Ein-
gliederung der Figur in die Wandfläche. So schwimmen auch die oberen
MICHELANGELO. DAS JULIUSGRAB 71

Engel im Raum herum


ohne Fassung und Form.
Das in die Nische einge-
stellte Pilastersystem hat
keinen rationalen Bezug zur
Gesamtform und wie un-
entwickelt das architekto-
nische Gefühl überhaupt ist,

sieht man an der Behand-


lung der Leibungsflächen,
die von unten bis oben mit
(übergrossen) Kassetten aus-
gesetzt sind, ohne Unter-
scheidung des Bogens und
der Pfosten. Das Motiv des
steinernenVorhangs kann
im selben Sinne namhaft
gemacht werden.
Bei Sansovino hat eine
organisch erfundene Archi-
tektur die Führung über-
Andrea Sansovino. Prälatengrab
nommen. Jede Figur hat (Ohne den oberen Abschluss)
ihren notwendigen Platz und
die Einteilungen bilden zusammen ein rationales System. Eine grosse
Nische mit flachem Grund, kleinere Nebennischen, gewölbt, alle drei

einbezogen in eine gleichmässige Ordnung von Halbsäulen mit vollstän-


digem, durchlaufendem Gebälk.
Ein architektonisch-plastisches Ensemble der Art wäre Michelangelos
Julius-Grab geworden. Kein Wandgrab, sondern ein freier Bau mit
mehreren Geschossen, ein vielgliederiges Marmorgebilde, wo Plastik und
Architektur etwa so zusammenwirken sollten wie an der Santa casa in
Loreto. Der Reichtum der plastischen Erscheinung würde alles Existierende
überboten haben und der Schöpfer der sixtinischen Decke wäre der Mann
gewesen, einen mächtigen rhythmischen Zug in das Werk hineinzubringen.
Für die Grabfigur Jahrhundert ein flaches Liegen das
war im 15.
Übliche, ein Schlafen mit gleichmässig gestreckten Beinen und schlicht
übereinander gelegten Händen. Sansovino giebt auch noch das Schlafen,
aber die herkömmliche Art des Liegens war ihm zu einfach und zu
gewöhnlich: der Tote legt sich auf die Seite, die Beine kreuzen sich,

ein Arm wird dem Kopf untergeschoben und die Hand hängt frei vom
Kissen herab. Später wird die Figur immer unruhiger, es ist als ob
72 DIE KLASSISCHE KUNST

böse Träume den Schlafenden quälten, bis endlich das Erwachen kommt
und dann ein Lesen oder Beten dargestellt wird. Michelangelo hatte
einen ganz originellen Gedanken. Er wollte eine Gruppe machen, wie
der Papst von zwei Engeln gebettet wird. Noch ist er halb aufgerichtet
— und somit gut sichtbar —
dann wird er niedergelegt wie ein Christus-
leichnam. ^)

Allein das wäre Nebensache gewesen neben der Fülle anderer


Figuren, die vorgesehen waren. Wir haben, wie gesagt, nur drei davon,
die zwei Sklaven aus dem Erdgeschoss des Baues und den Moses aus
dem Obergeschoss.
Die Sklaven sind gebundene Figuren, weniger durch ihre wirk-
lichen Bande als durch ihre tektonische Bestimmung. Sie waren Pfeilern
vorgestellt und sie nehmen mit teil an der Gebundenheit der architek-
tonischen Form. Sie stehen in einem
Banne, der ihnen keine eigene
Bewegung gestattet. Was schon in dem (unvollendeten) Matthäus von
Florenz vorkommt, das Zusammenhalten des Körpers, als ob die Glieder
aus einem bestimmten Bezirk nicht heraus könnten, wiederholt sich hier
mit deutlicher Beziehung auf die Funktion der Figur. Unvergleichlich
ist nun wie die Bewegung in dem Körper emporschleicht; der Schlafende
reckt sich, während der Kopf noch lahm zurückliegt; mechanisch streicht
die Hand an der Brust hinauf und die Schenkelflächen reiben sich
aneinander: das tiefe Atemholen vor dem völligen Bewusstwerden im
Erwachen. Das übrig gebliebene Stück Stein ergänzt den Eindruck des
Sichloswindens so gut, dass man es nicht missen möchte.
Der zweite Sklave ist nicht frontal gearbeitet, sondern hat seine
Hauptansicht seitlich.

Auch im Moses giebt Michelangelo die gehemmte Bewegung. Der


Hemmungsgrund liegt hier im Willen der Person selbst, es ist der letzte
Moment des Ansichhaltens vor dem Losbrechen, d. h. vor dem Auf-
springen. Es ist interessant, den Moses in die Reihe jener älteren
kolossalen Sitzfiguren einzustellen, die von Donatello und seinen Zeit-
genossen für den Dom von Florenz gemacht wurden. Auch damals
suchte Donatello das repräsentative Sitzbild mit momentanem Leben zu
erfüllen, aber wie anders versteht Michelangelo den Begriff der Be-
wegung. Der Zusammenhang mit den Prophetenfiguren der sixtinischen
Decke sprinjüjt in die Augen. Für das plastische Bild verlangte er im
Gegensatz zum malerischen die völlig kompakte Masse. D^s macht seine
Stärke. Man muss weit zurückgehen, um einem gleichen Gefühl für
') Vgl. Jalirb. d. preuss. Kuiistsaniiiiliiiigen 1884 (Schmarsow), wo die Zeich-
nung der ehemaligen Sammlung von Beckerath (Berlin) publiziert ist, die Haupt-
urkunde für uns, trotzdem das Blatt kaum mehr als eine Nachzeichnung ist.
MICHELANGELO. DAS JULIUSGRAB 73

das zusammengehaltene Volumen zu begegnen. Die quattrocentistische


Plastik,auch wo sie mächtig sein will, sieht leicht fragil aus. Innerhalb
des Werkes von Michelangelo trägt der Moses indessen noch die deut-
lichen Spuren der Frühzeit. Die Vielheit der Faltenzüge und die tiefen
Unterhöhlungen würde er später kaum mehr gebilligt haben. Auch hier
wie z. B. bei der Pietä ist bei starker Politur auf die Wirkung der Glanz-
lichter gerechnet.
Ob bei der jetzigen Aufstellung die Figur ihre richtige Wirkung
mehr als zweifelhaft, trotzdem es Michelangelo
entfalten kann, scheint mir
selbst an diesen Platz brachte. Er hatte keine andere Wahl.
war, der sie

Der Beschauer aber wird wünschen, mehr von der linken Seite zu sehen.
Das Motiv des zurückgestellten Beines, das die Bewegung enthält, muss
sofort in aller Deutlichkeit sich offenbaren. Und man wird finden, dass
in einer halbseitlichcn Ansicht erst die Hauptrichtungen alle mit mäch-
tiger Klarheit hervortreten: der Winkel des Armes und des Beines und
der abgetreppte Umriss der darüber dominierend das
linken Seite,

herumgeworfene Haupt mit seiner Vertikale. Die abgewandte Seite ist


lässig ausgeführt und der Arm mit der Hand, die in den Bart greift,
kann nie interessant wirken.
Jetzt hat man Mühe, sich die Wirkung der Schrägansicht heraus-
zuholen. Der Koloss ist in eine Nische geschoben und aus dem projek-
tierten Freibau ist ein Wandgrab geworden, und zwar von bescheidenen
Verhältnissen. Vierzijj; Jahre nach dem Anfang kam die Arbeit mit
diesem traurigen Kompromiss zu Ende. Das Stilgefühl des Künstlers hat
sich indessen völlig geändert. Der Moses steht ganz niedrig und ist
absichtlich in eine Umgebung gebracht worden, die für ihn zu eng
erscheint, er ist in einen Rahmen eingestellt worden, den er zu sprengen
droht. Die notwendige Auflösung der Dissonanz liegt erst in den Neben-
figuren. Das ist barocke Empfindung.
IV. Raffael
1483—1520

Raffael ist in Umbrien aufgewachsen. In der Schule Peruginos


hatte er sich vor anderen ausgezeichnet und war auf die gefühlvolle
Weise des Meisters vollkommen eingegangen, dass nach Vasaris
so
Urteil Bilder von Lehrer und Schüler nicht zu unterscheiden seien. Viel-
leicht hat überhaupt nie mehr ein genialer Schüler so ganz mit der Art
des Lehrers sich erfüllt wie Raffael. Der Engel, den Lionardo auf Ver-
rocchios Taufbild malte, fällt sofort als etwas Eigenes auf, Michelangelos
Knabenarbeiten vergleichen sich mit üar nichts anderem, Raffael dagegen
ist Anfängen von Perugino nicht abzulösen. Nun kommt er
in seinen
nach Florenz. Es war der Moment, als Michelangelo die grossen Thaten
seiner Jugend schon alle vollbracht, den David hingestellt hatte und an
den badenden Soldaten arbeitete, während Lionardo indessen seinen
Schlachtkarton entwarf und in der Mona Lisa das nie gesehene Wunder
wirklich machte, er bereits auf der Höhe des Lebens und im Besitze
eines ganzen glänzenden Ruhmes, jener der designierte Mann der Zu-
kunft, am Eingange der Mannesjahre. Raffael war kaum über die zwanzig
hinaus. Was für ein Schicksal durfte er neben diesen Grossen für sich
erwarten ?
Perugino war am Arno ein geschätzter Maler; man konnte dem
Jüngling sagen, er werde mit seiner Weise immer ein Publikum finden;
man durfte ihn ermuntern, er könne ein zweiter, vielleicht ein besserer
Perugino werden: nach einer höheren Selbständigkeit sahen seine Bilder
nicht aus.
Ohne Spur von dem florcntinischcn Wirklichkeitssinn, einseitig
eine
in der Empfindung, befangen in der Manier der schönen Linie trat er

jedenfalls mit der geringsten Aussicht in den Wettbewi^rb der grossen


Meister ein. Aber er brachte ein Talent mit, das ihm eigentümlich war:
das Talent, aufzunehmen, die innere Wandlungsfähigkeit. Er legte
eine erste grosse Probe davon ab, indem er den umbrischcn Schulbesitz
beiseite legte und sich i::anz den florcntinischcn Aufgaben hingab. Das
RAFFAEL 75

zu thun, wären schon nur wenige imstande gewesen, überblickt man


aber das ganze kurze Leben Raffaels, so wird man sagen müssen, dass
überhaupt kein einziger sonst eine ähnliche Entwicklung in einer so
kleinen Zeitspanne durchgemacht hat. Der umbrische Schwärmer wird
zum Maler der grossen dramatischen Szenen; der Jüngling, der mit der
Erde nur scheue Fühlung zu nehmen wagte, wird ein Menschenmaler,
der die Erscheinung mit kräftigen Händen anfasst; der zeichnende Stil
Peruginos wandelt sich in einen malerischen und der einseitige Geschmack
an der stillen Schönheit weicht dem Bedürfnis nach starken Massen-
bewegungen. Das ist der römische, männliche Meister.
Raffael hat nicht die feinen Nerven, das Delikate Lionardos, noch
weniger die Gewalt Michelangelos; man möchte sagen, er habe ein
Mittelmass, das Allgemeinverständliche, wenn der Begriff nicht als Ge-
ringschätzung missdeutet werden könnte. Jene glückliche, mittlere
Stimmung ist gerade für uns etwas so seltenes, dass es heutzutage den
meisten viel leichter sein wird, zu Michelangelo einen Zugang zu finden,
als zu der offenen, heiteren, freundlichen Persönlichkeit Raffaels. Was
aber denen, die mit ihm lebten, sich vor allem eingeprägt hat, die hin-
reissende Liebenswürdigkeit seines Wesens, strahlt auch heute noch
überzeugend aus seinen Werken zurück.
Es kann, wie gesagt, von Raffaels Kunst nicht gesprochen werden,
ohne dass zuvor von P e r u g i n o die Rede gewesen sei. Perugino zu
loben, galt einmal als das unfehlbare Rezept, wenn man in den Ruf
eines Kunstkenners kommen wollte, ^) heutzutage möchte es eher an-
gezeigt sein, das Gegenteil zu empfehlen. Man weiss, dass er seine ge-
fühlvollen Köpfe handwerklich wiederholt hat, und weicht ihnen aus,
wenn man sie nur von weitem sieht. Aber wenn von seinen Köpfen
auch nur ein einziger echt empfunden wäre, müsste es die Menschen
immer wieder zwingen, nachzufragen, wer der Mann gewesen sei, der
dem Quattrocento diesen merkwürdig vertieften, seelenvollen Blick ab-
gewonnen hat. Giovanni Santi wusste, warum er in seiner Reimchronik
Perugino und Lionardo zusammenstellte: par d'etade e par d'amori.
Perugino besitzt daneben eine Cantilene der Linie, die er niemandem
abgelernt hat. Er ist nicht nur viel einfacher als die Florentiner, er
hat eine Empfindung für das Beruhigte, Stillfliessende, die gerade zu
dem beweglichen Wesen der Toskaner und dem zierlichen Gekräusel
des spät-quattrocentistischen Stils sich auffallend in Gegensatz stellt. Man
muss zwei Bilder zusammenhalten, wie Filippinos Erscheinung der
Madonna vor dem heiligen Bernhard in der Florentiner Badia und die

*) Goldshniith, Vicar of Wakefield.


76 DIE KLASSISCHE KUNST

gleiche Darstellung Perugi-


nos in der Münchener Pina-
kothek. Dort alles zappelig
in der Linie und ein wirres
Durcheinander der vielen
Sachen im Bild, hier die
vollkommene Ruhe, lauter
stille Linien, eine edle
Architektur mit weitem Aus-
blick in die Ferne, eine
schön verklingende Berglinie
am Horizont, der Himmel
ganz rein, ein allerfüllendes

Schweigen, dass man glaubt,


man würde es lispeln hören,
wenn der Abendhauch an
dem schlanken Bäumchen
Perugino. M.ndoiiiia mit Selj;istiaii und Joliannes d. T. ]iQ3
die Blätter bewegte. Peru-
gino hat Gefühl für die
Stimmung der Landschaft und für die Stimmung der Architektur. Er
baut seine einfachen, räumigen I lallen nicht als beliebige Verzierung
der Bilder, wie etwa Ghirlandajo, sondern als wirkungsvolle Resonanz.
Keiner vor ihm hat Figurales und Architektonisches so zusammen-
empfunden (vgl. die Abbildung der Madonna von 1493 aus den Uffizien).
Er ist Tektoniker von Hause aus. Wo er mehrere Figuren zusammen
zu behandeln hat, da baut er eine Gruppe nach einem geometrischen
Schema. Seine Komposition der Pietä von 1495 (Pitti) würde zwar
von Lionardo als leer und matt kritisiert worden sein, allein in Florenz
bedeutete sie damals noch etwas Einzigartiges. Mit seinem Prinzip der
Vereinfachung und Gesetzlichkeit ist Perugino ein wichtiges Element
am Vorabend der klassischen Kunst und man begreift, wie sehr durch
ihn der Weg für Raffael abgekürzt worden ist.

1. Das Sposalizio und die Grablegung


Das Datum 1504. Es ist das
Sposalizio (Mailand, Brera) trägt das
Werk des einundzwanzigjährigen Künstlers. Der Schüler Peruginos zeigt
hier, was er bei dem Meister gelernt und wir können Eigenes und Über-
nommenes um so besser unterscheiden, als Perugino denselben Gegen-
RAFFAEL. DAS SPOSALIZIO UND DIE GRABLEGUNG 77

Raffael. Sposalizio

Stand behandelt hat (Bild in Caen). Die Komposition ist fast gleich,

nur hat Raffael die zwei Seiten umgestellt, die Männer rechts, die Weiber
links genommen. Sonst scheinen die Abweichungen unbedeutend. Und
dennoch trennt die zwei Bilder der ganze Unterschied zwischen einem
Maler, der mit der Schablone arbeitet und einem feinfühligen, überlegenen
Schüler, der, noch gebunden im Stil, die überkommenen Motive doch
einem neuen Leben zu erfüllen sucht.
bis in jede Partikel mit
Es ist notwendig, zunächst das Motiv sich zu vergegenwärtigen.
Die Zeremonie der Vermählung vollzieht sich hier etwas anders als wir
es gewöhnt sind. Es werden nicht zwei Ringe ausgetauscht, sondern
nur der Bräutigam reicht der Braut einen Ring, in den sie den Finger
hineinsteckt. Der Priester leitet die Operation, indem er die beiden am
Handgelenk gefasst hält. Was das Thema für den Maler schwierig
macht, ist das Minutiöse des Vorgangs. Man muss denn auch ganz
genau hinsehen, wenn man auf Peruginos Bild erkennen will, worum
es sich eigentlich handelt. Hier setzt Raffaels selbständige Arbeit ein.
78 DIE KLASSISCHE KUNST

Er schiebt Maria und Joseph weiter auseinander, er differenziert ihre


Stellungen, Joseph hat seinen Zug gemacht, der Ring ist bis in die
Bildmitte gebracht, an Maria ist es nun, vorzugehen und die Auf-
merksamkeit sammelt sich auf die Bewegung ihres rechten Armes.
Dieser ist der eigentliche Knotenpunkt in der Aktion und man begreift
nun, warum Raffael die Umstellung der Gruppen vorgenommen hat: er
musste das wichtige Glied vorne haben und unverdeckt zeigen können.
Nicht genug: die Bewegungsrichtung wird nun aufgenommen vom
Priester, der ihre Hand führt und nicht als steife Mittellinie dasteht —
wie bei Perugino — sondern mit seiner ganzen Person die Aktion be-
gleitet. Durch die Bewegung seines Oberkörpers wird das „Hinüber"
auf alle Ferne deutlich gemacht. Das ist der geborene Maler, der den
Geschichten ihre bildmässige Erscheinung abzugewinnen weiss. Die
Stehmotive bei Maria und bei Joseph sind Allgemeingut der Schule,
aber Raffael sucht doch überall innerhalb des Typischen persönlich zu
unterscheiden. Und wie fein ist das Fassen der beiden Hände bei dem
Priester differenziert.
Die Begleitfiguren sind so umgeordnet, dass sie nicht zerstreuend,
sondern konzentrierend wirken. Fast kühn ist die Durchbrechung der
Symmetrie mit dem Stabbrecher in der rechten Ecke, den Perugino als
Figur auch hat, aber mehr rückwärts unterbringt.
Das allerliebste Tempelchcn im Hintergrund ist weit hinaufge-
schoben, so hoch, dass es mit den Figuren in keinen Linienkonflikt
kommen soll. Hier spricht wieder Peruginos reinlicher Stil. Er hat das
auch auf dem grossen Fresko der Schlüsselverleihung in Rom so gehalten.
Figürliches und Architektonisches treten auseinander wie Wasser und öl.
Die Menschen sollen auf der ebenmässigen Folie eines Fliesenbodens in

reiner Silhuette sich abzeichnen.


Wie anders lautet die Geschichte der Vermählung Maria, wenn ein
Florentiner sie erzählt. Da geht es laut her, man will bunte modische
Kleider sehen, das Publikum steht und gafft und statt der weichmütig
resignierten Freier findet man eine Bande fester Kerle, die mit Fäusten
auf den Bräutigam einhauen. Wahrhaftig, es scheint eine tüchtige Keilerei
loszugehen, und man wundert sich, dass Joseph stille hält. Was soll das?
Das Motiv kommt schon im 14. Jahrhundert vor') und erklärt sich
juristisch: die Schläge sollen das Eheversprechen eindrücklich machen.
Vielleicht erinnert sich jemand dabei an die gleiche Szene in Immermanns
Oberhof, wo das Motiv aber schon rationalistisch dahin umgedeutet ist,

dass der künftige Eheherr wissen solle, wie Schläge thun.


') Vgl. Taddeo Gaddi (S. Croce). Dazu Ohirlandajo (S. M. Novclla) und
Franciabigio (S. Aniiunziata).
RAFFAEL. DAS SPOSALIZIO UND DIE GRABLEGUNG 79

In dieses Florenz kommt Raffael, um eine zweite Schule durch-


zumachen. Man erkennt ihn kaum mehr, wenn
nach drei bis vier er
Jahren die Grablegung der Galerie Borghese bringt. Er hat alles auf-
gegeben, was er besass, die sanfte Linie, die klare Anordnung, die milde
Empfindsamkeit; Florenz hat ihn ganz aufgewühlt: die Probleme des
Nackten und der Bewegung stehen im Vordergrund. Lebendiges Ge-
schehen, mechanische Kraftleistungen, starke Kontraste möchte er geben.
Der Eindruck Michelangelos und Lionardos arbeitet in ihm. Wie ärmlich
musste er sich vorkommen mit seiner umbrischen Weise gegenüber solchen
Leistungen.
Das Bild der Grable^^ung ist eine Bestellung aus Perugia gewesen.
Sicher aber lautete der Auftrag nicht auf diese Szene, sondern auf eine
Beweinung Christi, so wie sie Perugino gemalt hat. Man kennt sein
Bild im Palazzo Er vermeidet das Bewegte und giebt nur das
Pitti. ^)

klagende Herumstehen um den Toten, eine Sammlung von Wehmuts-


gesichtern und schönlinigen Posen. Raffael hat in der That zuerst an
eine blosse Beweinung gedacht. Es existieren Zeichnungen der Art.
Dann erst bricht er durch zu der Darstellung des Tragens. Er malt zwei
Männer, die die Last dem Grabhügel zuschleppen. Er unterscheidet sie
im Alter und Charakter und kompliziert das Motiv noch dadurch, dass
einer rückwärts geht und ein paar Stufen mit den Fersen hinauftasten muss.
Dilettanten begreifen nur zögernd den Wert derartig rein körper-
licher Motive, sie hätten gern möglichst viel seelischen Ausdruck. Allein
jedermann wird doch zugeben, dass es unter allen Umständen von
Vorteil sein musste, Kontraste in das Bild zu bringen, dass die Ruhe
neben der Bewegung stärker wirkt und die Teilnahme der Angehörigen
ergreifender neben der Teilnahmslosigkeit derer, die nur an ihre mecha-
nische Arbeit zu denken haben. Während Perugino mit der ganz gleich-
massigen Stimmung der Köpfe den Beschauer stumpf macht, möchte Raffael
durch starke Kontraste die Wirkung zur höchsten Intensität steigern.
Die Hauptschönheit des Bildes ist der Körper Christi mit der
emporgedrückten Schulter und dem zurückfallenden Haupte. Es ist das
gleiche Motiv wie bei Michelangelos Pietä. Die Kenntnis des Körpers
ist noch eine oberflächliche, wie auch die Köpfe der individuellen Kraft ent-
behren. Die Gelenke wirken matt. Von den Trägern steht der jugendliche
nicht fest auf den Beinen und die Unklarheit der rechten Hand ist pein-
lich. Beim Älteren stört, dass er die gleiche Kopfrichtung hat wie

^) Bei dieser Gelegenheit sei erwähnt, dass die jugendliche Randfigur rechts
mit dem ,,AIess. Braccesi" der Uffizien, den man früher dem Lorenzo die Credi zu-
schrieb, bis auf die einzelne Linie übereinstimmt.
so DIE KLASSISCHE KUNST

Christus; in den vorberei-


tenden Zeichnungen war das
vermieden. Dann verwirrt
sich das Bild überhaupt.
Das schrille Durcheinander
der Beine ist immer gerügt
worden, weiter aber: was
will der zweite Alte, Nico-
demus? Auch hier scheint
eine ursprünglich klare In-
tention sich verdunkelt zu
haben : er sah auf die zu-
eilende Magdalena herunter;
jetzt blickt er unverständ-
lich in die Luft und ver-
mehrt mit der völligen Un-
klarheit seiner übrigen Be-
wegung das Unbehagen, das
Pcruyiiiü. an dem Bouquet der vier
liiueinung Christi

Köpfe da oben so wie so


haftet. Das schöne Motiv, wie Magdalena dem Zuge folgend die Hand
des Herrn aufnimmt, möchte auf ein antikes Vorbild zurückgehen. ^)

Unerklärt bleibt die Aktion ihres rechten Armes. Die Gruppe der ohn-
mächtigen Mutter geht als Motiv wieder über alles peruginische hinaus.
Die knieende Figur vorn wird mit Recht auf die Anregung von Michel-
angelos Madonna in der heiligen Familie zurückgeführt. Merkwürdig,
was für harte Überschneidungen Armen wir von dem sonst
bei den
so feinfühligen Raffael uns gefallen lassen müssen! Die Gruppe als
Ganzes sitzt unglücklich verdrückt im Bild. Es war sehr viel richtiger
gedacht, was Raffael ursprünglich vorhatte, die Frauen in den Beweg-
ungszug der Hauptgruppe aufzunehmen, sie in einem kleinen Abstand
folgen zu lassen. Jetzt fällt das Bild auseinander. Und noch etwas muss
gesagt werden, das quadratische Format des Gemäldes ist an sich der
Wirkung hinderlich. Um den Eindruck eines Zuges zu geben, muss
die Bildfläche im ganzen schon eine bestimmte Richtung haben. Wie
viel verdankt Tizians Grablegung den blossen Proportionen der Bildtafel!
Was nun in der Grablegung einer zweiten Hand, die die Voll-
endung besorgte, zugeschrieben werden muss, ist strittig. Sicher ist es

*) Relief im Capitolinischeii A\useuiii (Hector?) Righetti, Campidoglio tom. I.

tav. 171. Schon von H. Grimm an dieser Stelle angezogen.


RAFFAEL. DIE FLORENTINISCHEN MADONNEN 81

Raffael. Grablegung Christi

eine Aufgabe gewesen, für die Raffael einstweilen noch keine reine
Lösung geben konnte. Er hat mit bewunderungswürdiger Fähigkeit, um-
zulernen, die florentinischen Probleme aufgegriffen, über der Arbeit aber
momentan sich selbst verloren.

2. Die florentinischen Madonnen


Reiner als in der Grablegung stimmen Absicht und Mittel in den
Madonnenbildern zusammen. Als Madonnenmaler ist Raffael populär
geworden und es mag überhaupt überflüssig erscheinen, mit den groben
Werkzeugen einer formalen Analyse dem Zauber dieser Bilder bei-
kommen zu wollen. Durch eine Fülle von Nachbildungen, wie sie
keinem anderen Künstler der Welt zu teil geworden, sind sie uns von
Jugend an vertraut und was sie an Zügen mütterlicher Innigkeit und
kindlicher Anmut oder an feierlicher Würde und seltsam übernatürlichem
Wesen enthalten, spricht so stark zu uns, dass wir hier nicht nach weiteren
WölHIin Die klassische Kunst 6
82 DIE KLASSISCHE KUNST

künstlerischen Absichten fragen. Und


doch könnte schon ein Blick auf die
Zeichnungen Raffaels lehren, dass
das Problem für den Künstler nicht
da lag, wo es das Publikum sucht,
dass nicht der einzelne hübsche Kopf,
diese oder jene kindliche Wendung
die Arbeit ausmachte, sondern dass
es auf die Schiebung der Gruppe
im ganzen abgesehen war, auf das
Zusammenstimmen der Richtungen
verschieden bewegter und
Glieder
Körper. Es soll niemandem verwehrt
sein, sich Raffael von der Gemüts-
seite her zu nähern, allein ein wesent-
licher Teil der künstlerischen Absicht
entdeckt sich erst dem Beschauer,
der über das gemütvolle Nachemp-
finden hinaus in eine formale Be-
Rafficl. Madonna del Oranduca
trachtung einzutreten vermag.
Es empfiehlt sich, die Bilder mit gleichem Thema zu Entwicklungs-
reihen zusammenzustellen. Ob die Madonna ein Buch hält oder einen
Apfel, ob sie im Freien sitzt oder nicht, ist dabei gleichgültig. Nicht
diese stofflichen Merkmale, sondern die formalen müssen den Einteilungs-
grund abgeben : ob die Madonna in Halbfigur genommen ist oder in

ganzer Figur, ob sie mit einem oder mit zwei Kindern zusammen-
gruppiert ist, ob weitere Erwachsene dazutreten, das sind die künstlerisch
wichtigen Fragen. Beginnen wir mit dem einfachsten Falle, der Madonna
in Halbfigur, und lassen wir die G r a n d u c a (Pitti) vorangehen. Ganz
schlicht in der Vertikallinie der stehenden Hauptfigur und in dem noch
etwas befangen sitzenden Kinde lebt sie wesentlich von der ausserordent-
lichen Wirkung der einen Neigung im Kopf. Das Oval dieses Kopfes
könnte noch so vollkommen sein und der Ausdruck wunderbar empfunden,
die Wirkung wäre nicht zu erreichen ohne dies ganz einfache Richtungs-
system, wo die Schräglinie des geneigten, aber in voller Face gesehenen
Kopfes die einzige Abweichung bedeutet. Es weht noch peruginische
Luft aus dem In Florenz verlangte man anderes, mehr
stillen Bilde.
Freiheit, mehr Das rechtwinkelig gebrochene Sitzen des
Bewegung.
Kindes hört schon auf in der Madonna Tempi in München, dann wird
es überhaupt ersetzt durch ein halbes Liegen, der Knabe dreht sich und
wirft sich ungebärdig herum (Madonna Orleans, Madonna
RAFFAEL. DIE FLORENTINISCHEN MADONNEN 83

Bridge water) und die


Mutter steht nicht mehr, son-
dern sitzt,und indem sie
sich vorbeugt und wieder
seitlich wendet, wird das
Bild auf einmal reich an
Richtungsachsen. Von der
Granduca und Tempi geht
die Entwicklung in ganz
regelmässigem Lauf bis zur
Sedia (Pitti), wo nun noch
der kleine Johannes dazu-
tritt und so ein Höchstes
an plastischem Reichtum
gewonnen wird, tief und
vielgliedrig, und um so
Raffael. Madonna della Sedia
wirksamer Gruppe
als die
fest zusammengeballt und einem eng umschliessenden Rahmen einge-
fügt ist.

Und ganz analog die Entwicklung bei einem zweiten Thema, der
Madonna in ganzer Figur mit Jesus und Johannes. Zaghaft baut Raffael
zuerst die saubere feinlinige Pyramide der Madonna del Cardellino
(Uffizien), wo die Kinder gleichmässig zu Seiten der sitzenden Maria
stehen. Es ist eine Komposition nach dem Schema des gleichseitigen
Dreieckes. Mit einem in Florenz unbekannten Zartgefühl sind die Linien
geführt und die Massen auf der Goldwage gegeneinander abgewogen.
Warum fällt der Mantel Maria an der Schulter herunter?
Es soll das
Ausspringen der Silhuette beim Buche vorbereitet werden, so dass die
Linie in gleichmässigem Rhythmus herunterzugleiten scheint. Nach und
nach entsteht dann das Bedürfnis nach mehr Bewegung. Die Kinder
werden stärker differenziert: Johannes muss niederknien (belle a r d i- j

n i e r e des Louvre) oder es werden beide Kinder auf eine Seite genommen
(Madonna im Grünen in Wien). Gleichzeitig kommt die Madonna
tiefer zu sitzen, damit die Gruppe mehr zusammengeschlossen werden
kann und die Richtungskontraste lebhafter gegeneinander wirken, und so
entsteht schliesslich ein Bild von dem wunderbar konzentrierten Reich-
tum der Madonna aus dem Hause Alba (Petersburg), das gleich
der Sedia den römischen Meisterjahren angehört. ^) Ein Nachklang von

') Die Madonna mit dem Diadem (Louvre), die eine merkwürdige Popu-
larität geniesst (Stich von F. Weber), zeigt, wie wenig von dieser Kunst auf die
6*
84 DIE KLASSISCHE KUNST

Lionardos Madonna mit


der heiligen Anna (im
Louvre) wird nicht zu ver-
kennen sein.
Ein noch reicheres
Thema enthalten die heili-

gen Familien in der Art


Madonna
der Münchener
ausdem HauseCani-
g a n i, wo Maria und Jo-
i

seph und die Mutter des Jo-


hannes um die zwei Kinder
sich vereinigen, d. h. eine
Gruppe von fünf Figuren ge-
formt werden muss. Die an-
fängliche Lösung lautet
auch hier auf die reinlich
gebaute Pyramide mit den
zwei knieenden Frauen, die
die Kinder zwischen sich
halten, als Basis und dem
Rr.Kael. Madonna del Cardellino stehenden Joseph als Spitze.
Die Madonna Canigiani
ist ein Kunstwerk der Formfügung, wie es schon über das Vermögen
eines Perugino hinausgeht: umbrisch durchsichtig und klar und doch
gesättigt mit dem Bewegungsreichtum der Florentiner. Die römische (je-
schmacksentwicklung drängt dann weiter aufs Massige und auf die starken
Kontraste. Das lehrreiche Gegenbeispiel aus der späteren römischen Periode
wäre zu suchen in der Madonna del divin amore (Neapel),
die, in der Ausführung nicht original, über die neuen Intentionen doch

vollkommene Rechenschaft giebt.^) Wie das alte gleichseitige Dreieck


ungleichseitig wird, wie die alte steile Gruppe sich senkt und das ehemals
leichte Gebilde massig und schwer wird, das sind die typischen Ver-
änderungen. Die zwei Frauen sitzen jetzt nebeneinander auf einer Seite
und zur Ausgleichung erscheint Joseph auf der andern, eine isolierte

Figur, tief in den Raum zurückgeschoben.

nächste Umgebung Raffaels überging. Das grobe Motiv der Madonna, die Plump-
heit des Sitzens und der Handbewegung lassen nicht an eine Originalkomposition
denken (Nach Dollmayr von G. F. Penni).
') Dollmayr (Jahrbuch der Sammlungen des allerhöchsten Kaiserhauses ISOS)

giebt das Bild nach Ausführung und Entwurf dem G. F. Penni (Fattore).
RAFFAEL. DIE FLORENTINISCHEN rMADONNEN 85

In der vielfigurigen Madonna


Franz I. (Lotivre) ist der Gruppen-
bau dann völlig negiert und statt
dessen haben wir das malerische
Massenknäuelbild, das sich aller

Vergleichung mit den älteren Kom-


positionen entzieht. ^)

Über die thronende Madonna


endlich, im Kreise von Heiligen, hat
der tlorentinische Raffael in dem gross
angelegten Bilde der Madonna
del baldacchino seine Ansicht
ausgesprochen. Peruginische Einfach-
RuHael. Madonna aus dem Hause Alba
heit mischt sich hier mit Motiven aus
dem Kreise jener machtvollen Persön-
lichkeit, der Raffael in Florenz am nächsten trat, des Fra Bartolommeo.
Die Schlichtheit des Thrones ist ganz in der Art des Perugino, die

Prachtfigur des Petrus andererseits, mit dem geschlossenen Umriss, wäre


ohne Fra Bartolommeo nicht denkbar. Eine vollkommene Abrechnung
aber hätte neben diesen zwei Potenzen auch noch zu berücksichtigen,
was erst beträchtlich später, in Rom, zu dem Bilde hinzugekommen ist,
die Engel oben und wohl die ganze Hintergrundsarchitektur und jeden-
falls auch die Erhöhung der Tafel nach oben um ein beträchtliches

Stück. -) Der römische Geschmack verlangte mehr Raum. Hätte er frei


schalten können, so würde er auch die Paare der Heiligen zu engeren
Gruppen zusammengeschlossen haben, er würde die Madonna weiter
heruntergezogen und der Versammlung einen massigem Aspekt gegeben
haben. Man kann sich an Ort und Stelle, im Palazzo Pitti nämlich, aufs
beste klarmachen, wie der Geschmack zehn Jahre später entschieden
hätte: man braucht nur Fra Bartolommeos Auferstandenen mit den vier
Evangelisten damit zu vergleichen. Das Bild ist einfacher und doch reicher,

differenzierter und doch einheitlicher. Bei dem Vergleiche wird man


auch inne werden, dass der reifere Raffael die zwei nackten Engelknaben,
die vor dem Throne stehen, so reizvoll sie erfunden sind, in diesem

') Dollmayr (a. a. O.) leugnet wenigstens für die Gruppe der Maria nicht die
raffaelsche Herkunft. In die Ausführung würden sich Penni und Giulio Romano
geteilt haben.
-) Von einer besonders schwachen Hand scheint der heilige Augustin hinzu-
gefügt. Dagegen gehören die Engelknaben sicher zum alten Bestand des Bildes
(entgegen anderweitigen Behauptungen, z. B. im Cicerone'^').
86 DIE KLASSISCHE KUNST

Zusammenhang doch nicht mehr gebracht hätte: es sind schon genug


man braucht hier Kontrastlinien und darum sitzen
Vertikalen im Bild,
die Knaben bei Bartolommeo.

3. Die Camera della Segnatura


Es war ein Glück für Raffael, dass ihm in Rom zunächst keine
Aufgaben dramatischer Art gestellt wurden. Er sollte stille Versamm-
lungen ideal gestimmter Menschen malen, Bilder ruhigen Zusammen-
seins, wo alles darauf ankam, erfinderisch in einfachen Bewegungen und
feinfühlig in der Zusammenordnung zu sein. Das war gerade sein Talent.
Jene Empfindung für harmonische Linienführung und Massenabwägung,
die er in den Madonnenkompositionen ausgebildet hatte, durfte er nun
im grossen bewähren. In der Disputa und der Schule von Athen ent-
wickelte er jetzt seine Kunst der Raumfüllung und Gruppenverbindung,
die dann die Basis der späteren dramatischen Bilder abgiebt.
Das moderne Publikum hat Mühe, diesem künstlerischen Inhalt der
Bilder gerecht zu werden. Es sucht den Wert der Darstellungen anders-
wo, in dem Ausdruck der Köpfe, in der gedankenhaften Beziehung
zwischen den einzelnen Figuren. Es will vor allem wissen, was die
Figuren bedeuten und ist beunruhigt, so lange es sie nicht mit Namen
benennen kann. Dankbar horcht der Reisende den Belehrungen des
Führers, der genau zu sagen weiss, wie jede Person heisst, und ist über-
zeugt, nach solcher Aufklärung das Bild besser zu verstehen. Für die
meisten ist die Sache damit überhaupt erledigt, einige Gewissenhafte
aber suchen sich nun in den Ausdruck der Köpfe „hineinzuleben" und
saugen sich an den Gesichtern fest. Wenige kommen dazu, neben den
Gesichtern die Bewegung der Körper im ganzen aufzufassen, für die
Motive des schönen Lehnens, Stehens oder Sitzens sich empfänglich zu
machen und nur ganz wenige ahnen, dass der eigentliche Wert dieser
Bilder gar nicht im einzelnen, sondern in der Zusammenfügung, in der
rhythmischen Belebung des Raumes zu suchen ist. Es sind dekorative
Arbeiten grössten Stils, dekorativ in einem Sinne genommen, der freilich
nicht geläufig ist; ich meine Gemälde, wo der Hauptacccnt nicht auf
dem einzelnen Kopf, nicht auf dem psychologischen Zusammenhang liegt,

sondern in der Disposition der Figuren innerhalb der Fläche und in


dem Verhältnis ihres räumlichen Nebeneinander. ^) Raffael besass ein

') Schon Böcklin hat das Wort. Man liest in den Tagebuchaufzeichnungen
Rudolf Schicks (Berlin 1900), dass bei seinem zweiten römischen Aufenthalt die
Stanzen (es ist im besonderen von Heliodor die Rede) von grosser Wirkung auf ihn
RAFFAEL. DIE CAMERA DELLA SEGNATURA 87

Gefühl für das, was dem menschlichen Auge angenehm ist, wie keiner
vor ihm.
Historisches Wissen ist zum Verständnis nicht erforderlich. ^) Es
sind allgemein bekannte Vorstellungen, um die es sich handelt, und man
hat sehr mit Unrecht den Ausdruck tiefsinniger philosophisch-geschicht-
licher Beziehungen in der Schule von Athen oder ein Resume der
Kirchengeschichte in der Disputa finden wollen. Wo Raffael bestimmt
verstanden zu werden wünscht, hat er durch Beischrift dafür gesorgt. Es
sind nicht viele Fälle, selbst bei Hauptfiguren, bei Trägern der Kompo-
sition, bleiben wir ohne Aufklärung. Die Zeitgenossen des Künstlers
haben sie nicht verlangt. Das körperlich-geistige Bewegungsmotiv schien
alles, der Name gleichgültig. Man fragte nicht, was die Figuren be-
deuten, sondern hielt sich an das, was sie sind.

Um diesen Standpunkt zu teilen, braucht es eine Art von Augen-


sinnlichkeit, die heutzutage selten sein mag, und dem Germanen ist es
überhaupt schwer, den Wert ganz nachzuempfinden, den der Romane
dem leiblichen Sichhaben und -tragen beimisst. Man darf daher nicht
allzu rasch ungeduldig werden, wenn der nordische Reisende an diesem
Orte, wo er die Darstellung der höchsten geistigen Potenzen erwartet,
eine Enttäuschung erst überwinden muss. Rembrandt würde die Philo-
sophie freilich anders gemalt haben.
Wer den guten Willen hat, den Bildern näher zu kommen, wird
kein anderes Mittel finden als Figur um Figur zu analysieren und aus-
wendig zu lernen und dann auf die Verbindungen zu achten, wie ein
Glied das andere voraussetzt und bedingt. Das ist der Rat, den schon
der Cicerone giebt. Ich weiss nicht, ob ihn viele befolgt haben. Man
darf die Zeit nicht sparen. Es braucht viel Übung, um nur einmal festen
Boden zu gewinnen. Unser Sehen ist so oberflächlich geworden durch
die Masse der illustrierenden Tagesmalerei, wo es nur auf einen un-
gefähren Gesamteindruck ankommt, dass wir solchen alten Bildern gegen-
über wieder mit dem Buchstabieren anfangen müssen.

Die Disputa
Um einen Altar mit der Monstranz sitzen die vier Kirchenlehrer,
auf die die Feststellung des Dogmas zurückgeht: Hieronymus, Gregorius,
Ambrosius und Augustin. Rings herum Gläubige; würdevolle Gottes-

waren. ihm klar, dass es das Gross-Dekorati ve in den Bildern ist,


,,Es schien
was den rohesten und ungebildesten Menschen Eindruck macht und das
selbst auf
suchte er auch in seinen nachherigen Bildern mehr anzustreben" (S. 171).
') Vgl. den befreienden Aufsatz von Wickhoff (Jahrbuch der preussischen
Kunstsammlungen, 1903).
88 DIE KLASSISCHE KUNST

gelehrte, beschaulich ruhig dastehend; feurige Jünglinge, inAndacht und


Anbetung zudrängend; da wird gelesen, dort wird gewiesen; es
sich
sind namenlose Typen und berühmte Figuren nebeneinander gestellt
in dieser Versammlung. Ein Ehrenplatz ist vorbehalten für den Papst
Sixtus IV., den Onkel des regierenden Papstes.
Das ist die irdische Szene. Darüber aber thronen die Personen der
Dreieinigkeit und mit ihnen, in flachem Bogen entwickelt, ein Kranz von
Heiligen. Ganz oben, gleichlaufend, schwebende Engel. Christus, der
sitzend seine Wundmale weist, dominiert das Ganze. Maria und Johannes
begleiten ihn.Über ihm der segnende Gottvater, unter ihm die Taube.
Ihr Kopf genaue Mitte der Höhenachse des Bildes.
ist die
Disputa del santissimo sacramento nennt Vasari das Bild und der
Name ist ihm bis heute geblieben; er passt aber nicht. Es wird nicht
disputiert in diesem Kreise, kaum
gesprochen. Das Allergewisseste sollte
dargestellt sein, die Gegenwart des höchsten Geheimnisses der
sichere
Kirche, bekräftigt durch die Erscheinung der Himmlischen selbst.
Man versuche sich klar zu machen, wie die Aufgabe im Sinne der
älteren Schule gelöst worden wäre. Verlangt war im Grunde nichts
anderes als was den Inhalt so vieler Altarbilder ausmacht: eine Anzahl
frommer Männer in ruhiger Coexistenz und darüber die Himmlischen,
still, wie der Mond über dem Walde steht. Raffael sah von Anfang an
ein, dass hier mit blossen Steh- oder Sitzmotiven nicht auszukommen
war. Die ruhige Gemeinsamkeit musste ersetzt werden durch eine Ver-
sammlung mit Bewegung, mit lebhafterer Bethätigung. Er differenziert
zunächst die vier Figuren der Hauptgruppe (die Kirchenlehrer) nach den
Momenten des Lesens, des Meditierens, des visionären Aufblickens und
des Diktiercns. Er erfindet die schöne Gruppe der zudrängenden Jüng-
linge und bekommt so einen Gegensatz zu der ruhigen Präsentation
von stehenden Kirchenmännern. Der Affekt erscheint gedämpfter noch
einmal in der pathetischen Rückfigur vorn an den Altarstufen. Als Kon-
trast dazu auf der anderen Seite der Papst Sixtus, ruhig und sicher mit
hochgehobenem Haupte vorwärts blickend, der Kirchenfürst. Hinter ihm
ein rein profanes Motiv: ein junger Bursche, der sich über die Brüstung
lehnt und dem ein Mann den Papst zeigt, ^) und gegenüber in der
anderen Ecke des Bildes das Umgekehrte, ein Jüngling, der einen Alten
weist. Der Alte steht über ein Buch gebeugt an einer Balustrade, andere
sehen mit hinein, er scheint zu erklären, der Jüngling aber ladet ihn ein,

nach dem Altar in der Mitte zu gehen, wohin alles drängt. Man kann
sagen, Raffael habe hier die eigensinnige Meinung, den Sektierer, malen
') Wie schon mehrfach beobachtet wurde, stammt der weisende Mann aus Lio-

nardos Anbetung der Könige, wo er an der gleichen Stelle vorUoninit.


RAFFAEL. DIE DISPUTA 89

wollen, ^) auf eine bestimmte Person war es aber gewiss nicht abgesehen
und das Motiv an sich hat kaum in dem vorgeschriebenen Programm
Raffaels gestanden. Er sollte die Kirchenlehrer bringen, den Papst Sixtus
und dann noch die eine oder die andere Persönlichkeit, für die man
sich gerade interessierte: Raffael hat das gethan, im übrigen behielt er
seine vollkommene Freiheit und konnte in namenlosen Figuren die
Motive entwickeln, die er brauchte. Und damit treffen wir auf den
Nerv der Sache: Bedeutung des Bildes besteht nicht in seinen Einzel-
die
heiten, sondern in der Gesamtfügung und man wird ihm erst dann ge-
recht werden, wenn man erkennt, wie alles Einzelne im Dienst der Ge-
samtwirkung steht und im Hinblick auf das Ganze erfunden ist.
Es soll sich doch niemand darüber täuschen lassen, dass das Psycho-
logische hier nicht das Interessanteste ist. Ein Ghirlandajo wäre über-
zeugender gewesen in den Köpfen und Botticelli ergreifender im Aus-
druck des religiösen Gefühles. Es ist keine Figur da, die sich mit dem
Augustin in Ognissanti (Florenz) messen könnte. Die Leistung Raffaels
liegt auf einer anderen Seite: ein Bild von diesen Dimensionen, mit so viel

Tiefe, reich in den Bewegungsmotiven, ganz klar entwickelt und rhyth-


misch gegliedert, das war etwas ohnegleichen.
Die erste Kompositionsfrage bezog sich auf die Kirchenlehrer. Sie
waren die Hauptgruppe und mussten als solche zur Geltung gebracht
werden. Sollten sie gross sein, so durften sie nicht weit auf der Bühne
zurückgeschoben werden, das Bild entwickelte sich dann aber als ein
blosser Streifen; um ihm Tiefe zu geben, wagte Raffael nach anfäng-
lichem Schwanken die Zurückschiebung der Kirchenväter und baute
ihnen einen Stufenuntersatz. Damit kam die Komposition in die glück-
lichste Bahn. Das Stufenmotiv erwies sich als ausserordentlich fruchtbar,
alle Figuren reichen sich gewissermassen die Hände und führen auf
die Mitte zu. Ein Übriges geschah noch durch Zufügung der lebhaft
gestikulierenden Männer
jenseits des Altars, die nur dazu da sind, den
hinten Hieronymus und Ambrosius für das Auge herauszu-
sitzenden
holen. Sie sind erst ein Gedanke der letzten Stunde gewesen.
Eine entschiedene Strömung führt von links her der Mitte zu. Der
weisende Jüngling, die Anbetenden und die pathetische Rückfigur geben
eine Summe gleichlautender Bewegung, der das Auge gerne folgt. Raffael
hat auch später immer auf diese Führung des Auges Bedacht genommen.
Wenn nun hier die letzte der Zentralfiguren, der diktierende Augustin,
sich umwendet, so begreift man den Zweck der Gebärde: es soll die
Vermittlung mit der rechten Seite hergestellt werden, wo die Bewegung
') Vgl. die ähnliche Gruppe in dem Bilde Filippinos ,,Der Triumph des Tho-
mas" (Rom, S. M. sopra Minerva).
90 DIE KLASSISCHE KUNST

Raffael, Dispu(a
Teilstück mit Gregor und Hieronymus

zum Stillstand gebracht ist. Formale Erwägungen der Art sind völlige
Neuerungen dem 15. Jahrhundert gegenüber.
Raffael hat die Kirchenvater sonst in lauter ganz einfachen Ansichten
gegeben. Gesenktes Profil, erhobenes Profil bei den zwei ersten, wenig
abweichend der dritte. Und auch das Sitzen so einfach wie möglich.
Das ist seine Ökonomie. Die entfernten Figuren, wenn sie gross wirken
sollen, vertragen keine andere Behandlung. Ein quattrocentistisches Bild,
wie Filippinos Triumph des Thomas, fehlt gerade in diesem Punkt.
Je weiter nach dem Vordergrund, um so reicher werden die Be-
wegungen. Das Reichste geben die Beugefiguren mit ihren Nachbarn
in den Ecken. Diese Eckgruppen sind ganz symmetrisch angeordnet
und in gleicher Art —
durch Weisende —
an die inneren Figuren an-
geschlossen. ') Symmetrie durchwaltet das ganze Bild, ist aber im ein-

') Das Motiv der Brüstung ergab sich auf der einen Seite dyrcli die einsclinei-

dende Tür, die Raffael durch Oberbauung mit einem Mäuerchen unschädHch zu
machen suchte. Er wiederholt dann das Motiv als Balustrade auf der anderen Seile.
Der fortgeschrittene cinquecentistische Stil kann aber solche Eingriffe im Bild nicht
dulden. Im Heliodorzimmer wird darum die Grundlinie des Bildes in der Höhe
RAFFAEL. DIE DISPUTA 91

Raffael, Disputa
Teilstück mit Ambrosius und Augustin

zelnen überall mehr oder weniger verdeckt. Die grösste Ausweichung


findet sich in der mittleren Zone. Indessen handelt es sich auch hier
nicht um starke Verschiebungen. Raffael geht noch zage vor, er will
binden und beruhigen, nicht aufwühlen und auseinanderreissen. Mit
einer Feinfühligkeit, die man fromm nennen möchte, sind die Linien so
geführt, dass keine der anderen wehe thut und bei aller Fülle der Ein-
druck der Ruhe vorwaltend bleiben soll. Im gleichen Sinne sind die
zwei Hälften der Versammlung jeweilen durch die (landschaftliche) Hinter-
grundlinie geeinigt und mit dem oberen Figurenkranz in Konsonanz
gebracht.
Bei solcher Art der ruhigen Linienfügung ist aber der höhere Ge-
sichtspunkt die Klarheit der Erscheinung, die Raffael jedem Wesen gönnt.
Wo die älteren Maler zusammenpressen, Kopf hinter Kopf schieben, da
nimmt der in peruginischer Einfachheit grossgezogene Meister die Figuren
auseinander, so dass jede sich in völliger Anschaulichkeif entwickeln

des Thürsturzes genommen. Dass Tizian noch in seinem „Tempelgang der Maria"
einer Tliür die Beine einiger Figuren ruliig opfert, ist für Venedig sehr bezeichnend.

In Rom würde man eine solche Crudität nicht hingenommen haben.


92 DIL KLASSISCHE KUNST

kann. Auch hier sind neue Rücksichten auf das Auge massgebend. Die
Behandlung von Menschenhaufen bei Botticelli oder Filippino fordert
ein angespanntes Sehen aus der Nähe, wenn man in dem Gewimmel
wirklich des einzelnen habhaft werden will. Die Kunst des 16. Jahr-
hunderts, die den Blick aufs Ganze gerichtet hält, fordert die Verein-
fachung prinzipiell.
Es sind Qualitäten solcher Art, die den Wert des Bildes bestimmen,
nicht die Zeichnung im einzelnen. Dass das Bild schon eine beträcht-
liche Summe von wesentlich neuer Bewegung enthält, wird man nicht
leugnen können, indessen ist hier doch noch manches befangen und
unsicher. Sixtus IV. wirkt unklar, man weiss nicht recht, ob er geht
oder stille steht, und entdeckt erst allmählich, dass er ein Buch gegen
das Knie stemmt. Ganz unglücklich ist der weisende Jüngling gegen-
über, der auf ein (in Zeichnung erhaltenes) Motiv Lionardos zurückgeht,
die sogenannte Beatrice. In den Köpfen berührt die Leerheit fast un-
angenehm, sobald sie nicht Porträt sind. Man darf garnicht daran denken,
wie das Bild aussähe, wenn Lionardo mit seinen Menschen die Ge-
meinschaft der Gläubigen dargestellt hätte!
Allein, wie gesagt, die grossen Eigenschaften der Raffaelschen
Disputa und die eigentlichen Bedingungen ihrer Wirkung sind die all-

gemeinen Momente. Die Einteilung der Wandfläche im ganzen, die


Führung der unteren Figuren, der Schwung der oberen Kurve mit den
Heiligen, der Gegensatz zwischen der Bewegung und dem feierlichen
Thronen, die Verbindung von Reichtum und Ruhe ergeben hier ein Bild,
das schon oft als vollkommenes Beispiel eines religiösen Monumentalstils
gepriesen worden ist. Der besondere Charakter kommt ihm aber von
der höchst reizvollen Ausgleichung zwischen der Befangenheit jugendlich
zarter Empfindung und keimender Kraft.

Die Schule von Athen


Der Theologie gegenüber findet man die Philosophie, die weltliche
Forschung. Das Bild heisst „Schule von Athen", doch ist der Name
fast so willkürlich wie der der Disputa. Wenn man wollte, könnte man
eher hier von einer Disputa sprechen, denn das Zentralmotiv sind die
zwei disputierenden Häupter der Philosophie, Plato und Aristoteles. Da-
neben die Reihen der Hörer. In der Nähe Sokrates mit seinem eigenen
Kreis. Er treibt seinFragespiel und zählt an den Fingern die Voraus-
setzungen ab. Im Kostüm der Bedürfnislosen liegt dann Diogenes auf
der Treppe. Ein schreibender, älterer Mann, dem die Tafel mit den
harmonischen Accorden vorgehalten wird, mag Pythagoras sein. Nimmt
RAFFAEL. DIE SCHULE VON ATHEN. 93

man noch die Astronomen, Ptolomaeus und Zoroaster, und den Geo-
meter Euclid, so ist das historische Material des Bildes erledigt.
Die Schwierigkeit der Komposition war hier eine gesteigerte, weil
der der Himmlischen wegfiel.
Kreis Raffael hatte keinen anderen Aus-
weg, als die Architektur zu Hilfe zu rufen: er baute ein gewaltiges
Hallengebäude und legte davor vier (sehr hohe) Stufen, die das Bild nach
seiner ganzen Breite durchlaufen. So gewann er eine doppelte Bühne den :

Raum unterhalb der Treppe und die Plattform oben.


Im Gegensatz zur Disputa, wo alle Teile nach dem Zentrum streben,
löst sich das Ganze hier auf in eine Summe einzelner Gruppen, ja ein-
zelner Figuren: der natürliche Ausdruck der vielgliederigen, wissenschaft-
lichen Forschung. Ein Suchen nach bestimmten historischen Anspielungen
ist hier so wenig angebracht wie dort. Einleuchtend ist der Gedanke,
die physischen Wissenschaften unten zu gruppieren und den oberen Raum
den spekulativen Denkern frei zu lassen, doch geht vielleicht auch diese
Interpretation schon über das Ziel hinaus.
Die körperlich -geistigen Motive sind hier viel reicher als bei der
Disputa. Der Stoff bedingte an sich eine grössere Mannigfaltigkeit, man
merkt aber wohl, Raffael selbst war weiter gekommen und innerlich reicher
geworden. Die Situationen sind schärfer charakterisiert. Die Gebärden
sind sprechender. Man behält die Figuren besser im Kopf.
Es ist vor allem merkwürdig, was Raffael aus der Gruppe des
Plato und Aristoteles gemacht hat. Das Thema war alt. Will man
etwas vergleichen, so nehmeman das Philosophenrelief des Luca della
Robbia vom Florentiner Campanile: zwei Italiener fahren mit südlicher
Lebhaftigkeit aufeinander los, der eine beharrt auf dem Wortlaut seines
Buches, der andere macht ihm mit allen zehn Fingern klar, dass das
Unsinn sei. Andere Disputationen findet man auf Donatellos Bronze-
thüren in S. Lorenzo. Allein alle diese Motive musste Raffael verwerfen:
der Geschmack des 16. Jahrhunderts fordert die Dämpfung der Gebärde.
Vornehm-ruhig stehen die Philosophenfürsten nebeneinander; der eine
mit vorgestrecktem Arm die Fland flach über den Boden breitend, es ist
Aristoteles, der „baumeisterliche" Mann ; der andere, Plato, mit erhobenem
Finger nach oben weisend. Woher Raffael die Möglichkeit gekommen
ist, die Persönlichkeiten in ihrem Gegensatz so zu charakterisieren, dass
sie uns als glaubhafte Bilder der zwei Philosophen erscheinen, wissen
wir nicht.
Eindrucksvolle Figuren sind es weiterhin, die rechts gegen den
Rand zu stehen. Der Einsame mit weissem Bart, in den Mantel gehüllt,
ganz einfach in der Silhuette, eine grosse stille Erscheinung. Daneben
der andere, der, auf dem Gesims sich vorlehnend, einem schreibenden
94 DIE KLASSISCHE KUNST

Knaben zusieht, der gebückt mit übergeschlagenem Bein dasitzt und ganz
von vorn genommen ist. An Figuren der Art muss man sich halten,
um den Fortschritt zu ermessen.
Ganz neu ist das Motiv des Liegens bei Diogenes. Es ist der
Kirchenbettler, der sich's auf den Treppenstufen bequem macht.
Und nun steigert sich der Reichtum immer mehr. Die Szene der
geometrischen Demonstration ist nicht nur nach der psychologischen
Seite vortrefflich erfunden, wie das Begreifen in verschiedenen Stadien
auseinandergelegt ist, sondern auch die Bewegungen des Kniens und
Beugens den einzelnen Durchführungen verdienen genau aufgefasst
in

und dem Gedächtnis eingeprägt zu werden.


Noch interessanter ist die Gruppe des Pythagoras. Ein Schreibender
im Profil, niedrig sitzend, den einen Fuss auf einen Schemel gestellt,
und hinter ihm vordrängend, sich überbeugend andere Figuren ein ganzer :

Kranz von Kurven. Dann ein zweiter Schreiber, auch sitzend, aber en face
gesehen und komplizierter in der Gliederstellung, und zwischen beiden
ein Stehender, der ein offenes Buch auf dem Schenkel festhält und daraus
eine Stelle beizubringen scheint. Man zerbreche sich nun den Kopf nicht,
was damit gemeint sein soll. Die Figur ist nicht aus dem geistigen
Zusammenhang heraus entstanden, sie lebt nur von ihrem körperlichen
Motiv. Der hochgesetzte Fuss, der übergreifende Arm, die Wendung
des Oberkörpers und die damit kontrastierende Neigung des Kopfes
geben ihr einen bedeutenden plastischen Inhalt. Und wenn es dem
nordländischen Betrachter scheinen will, das reiche Motiv sei auf allzu
künstliche Weise hervorgebracht, so ist vor dem voreiligen Urteil doch
zu warnen. Der Italicner hat eine soviel grössere Bewegungsfähigkeit
als wir, dass für ihn die Grenzen des Natürlichen ganz andere sind.
Raffael betritt hier aber deutlich die Wege des Michelangelo und in der
Nachfolge dieses stärkeren Willens hat er in der That zeitweise seine
natürliche Empfindung verloren. ')

Die Betrachtung darf indessen nicht stehen bleiben vor der Einzel-
figur. Was Raffael da und dort an Bewegungsmotiven giebt, ist die
kleinere Leistung gegenüber der Kunst, die in der Zusammenfügung der
Figuren zur Gruppe liegt. Die ganze ältere Kunst hat nichts, was sich

') Es ist übrigens gerade bei dieser Figur das Vorbild nicht bei Michelangelo,

sondern bei Lionardo zu suchen sie ist entwickelt aus dem Motiv der Leda, die vorn
:

S. 41 in Abbildung mitgeteilt wurde, und nach der auch eine Nachftichnung Raffaels
erhalten ist. —
Die Entlehnungen aus den Paduaner Reliefs Donatellos (vgl. Vöge,
Raffael und Donatello, 18<»0) beziehen sich auf so untergeordnete Figuren, dass man
glauben möchte, sie seien scherzweise in die Komposition aufgenommen worden.
Jedenfalls darf man nicht an Entlehnungen der yVrmut oder der Verlegenheit denken.
RAFFAEL. DIE SCHULE VON ATHEN 95

RaHael, Schule von Athen


Die Gruppe des Pythagoras

mit den vielgiiedrigen Systemen hier irgend vergleichen Hesse. Die


Gruppe der Geometer löst ein Problem, das überhaupt wenige auf-
genommen haben: fünf Personen auf einen Punkt gerichtet, ganz klar
entwickelt, ganz „rein" in der Linie und mit welchem Reichtum an
Wendungen! Und so die gegenüberliegende, noch grösser angelegte
Gruppe: wie die mannigfaltigen Bewegungen sich ergänzen, wie die
vielen Figuren in einen notwendigen Zusammenhang gebracht sind, zu
einem vielstimmigen Gesang sich einigen, wo alles wie selbstverständlich
erscheint, ist von der höchsten Art. Wenn man das Ganze des Gefüges
ansieht, so wird man dann auch verstehen, was der Jüngling zuhinterst
in dieser Gesellschaft soll: man hat ein fürstliches Porträt in ihm ver-
mutet, meinetwegen, — seine formale Funktion ist jedenfalls keine andere,
als in dem Knäuel von Kurvenlinien die notwendige Vertikale darzustellen.
Wie in der Disputa, auch hier der Reichtum nach vorn
so ist

geschoben. Wald von Senkrechten, vorn,


Hinten auf der Plattform ein
wo die Figuren gross sind, die gebogenen Linien und die komplizierten
Verknüpfungen.
Um die Mittelfiguren herum ist alles symmetrisch, dann lockert
Q6 '
DIE KLASSISCHE KUNST

sich die Gebundenheit und unsymmetrisch strömt auf einer Seite die
obere Masse über Treppe herunter, eine Gleichgewichtsstörung, die
die
dann durch die Asymmetrie der V^ordergrundsgruppen wieder aufge-
hoben wird.
Dass in der grossen Menge die weit zurückstehenden Figuren des
Plato und Aristoteles noch als Hauptfiguren wirken können, ist gewiss
merkwürdig, und doppelt wenn man auf den Grössen-
unbegreiflich,
masstab Acht hat, der nach einer idealen Rechnung nach hinten zu rapid
abnimmt Diogenes auf der Treppe hat plötzlich ganz andere Verhältnisse
:

als die benachbarten Figuren des Vordergrundes. Das Wunder erklärt


sich aus der Art, wie die Architektur benutzt ist: die disputierenden
Philosophen stehen gerade im Lichten des letzten Bogens. Ohne diesen
Heiligenschein, der in den konzentrischen Linien der vorderen Gewölbe
mächtig nachklingt, wären die Leute verloren. Ich erinnere an die Ver-
wendung Abendmahl. Man nehme
eines ähnlichen Motivs in Lionardos
das Architektonische weg und die ganze Komposition fällt zusammen.
Das Verhältnis der Figuren zum Raum ist hier aber überhaupt in
einem ganz neuen Sinne empfunden. Hoch über den Häuptern der
Menschen gehen die gewaltigen Wölbungen hin und der ruhige, tiefe
Atem dieser Hallen teilt sich dem Beschauer mit. Aus solchem Geiste
heraus war der neue Sankt Peter Bramantes konzipiert und nach der
Behauptung Vasaris würde Bramante auch als Urheber der Architektur
dieses Freskos zu gelten haben. —
Disputa und Schule von Athen sind vornehmlich durch Stiche in

Deutschland bekannt geworden und den gewaltigen Raumeindruck der


Fresken wird selbst ein oberflächlicher Stich noch immer besser geben
als jede Photographie. Im vorigen Jahrhundert hat Volpato in einer
Folge von sieben Blättern die Stanzen gestochen, sie sind generationen-
lang das Andenken gewesen, was sich der Reisende von Rom nach
Hause brachte und man darf über diese Blätter auch heute noch nicht
gering denken, wo Keller und Jacoby die Aufgabe mit anderen Augen
und mit anderen Mitteln angegriffen haben. Jos. K e e r 's „Disputa'' 1 1

die 1841 — 1856 entstand, drängt schon durch die Grösse der Platte alles
Ältere zurück, und während Volpato nur die Konfiguration im ganzen
wiederzugeben suchte und dabei die malerische Erscheinung willkürlich
verstärkte, möchte der Deutsche wortgetreu sein und mit seinem Stift in
alle Tiefen raffaelischer Charakteristik hinabdringen. Klar, fest, stark-
schattig, aber ohne malerisches Gefühl, stellt er seine Gestalten auf die
Fläche, er will vor allem in der Form deutlich sein und kümmert sich
nicht darum, die farbige Harmonie und im besonderen den lichten Ton
des Fresko seinem Bilde zu erhalten. Gerade hier setzt Jacoby mit der
RAFFAEL. DER PARNASS 97

Arbeit ein. Seine „Schule von Athen" ist das Resultat zehnjähriger
Arbeit (1872—1882). Der Laie macht sich keine Vorstellung, wie viel
Überlegung es kostete, für jeden Farbenwert des Originals den ent-
sprechenden Ton auf der Kupferplatte zu finden, das Weiche der Malerei
wiederzugeben und innerhalb der hellen Freskoskala räumlich klar zu
bleiben. Der Stich erschien als eine Leistung ohne gleichen. Vielleicht
geht er aber mit seinen Intentionen überhaupt über die Grenzen hinaus,
die den graphischen Künsten in diesem Falle gesetzt sind und es giebt
noch immer Liebhaber, die bei einer so bedeutenden Verkleinerung des
Originals den abgekürzten Ausdruck eines Volpato mit seinen verhältnis-
mässig einfachen Linienmitteln begehrenswerter finden, weil es so eher
möglich ist, von der Monumentalität des Eindruckes etwas zu bewahren.

Der Parnass
Man darf glauben, das Raffael froh war, bei der dritten Aufgabe,
dem Bilde der Dichter, nicht noch einmal einer gleichen Wand sich
gegenüber zu finden. Die schmalere Fläche hier mit dem Fenster in
der Mitte brachte von selbst neue Gedanken. Raffael überbaute das
Fenster mit einem Hügel, dem leibhaftigen Parnass, und bekam so unten
zwei kleine Vordergrundsräume und oben Das ein breiteres Podium.
ist der Ort, wo Apoll Auch Homer darf da
mit seinen Musen sitzt.

weilen und im Hintergrund sind weiterhin noch Dante und Virgil ^) zu


erkennen. Das übrige Volk der Dichter drängt sich an den Hängen des
Hügels herum, einzeln dahinwandelnd oder zusammenstehend in Gruppen,
wo dann ein lässiges Gespräch geführt wird, oder wo ein lebhafter Er-
zähler die Aufmerksamkeit bannt. Da das Dichten keine gesellschaftliche
Arbeit ist, so war es schwer, die Dichter in einem Gruppenbild psycho-
logisch zu charakterisieren. Raffael beschränkte sich, den Ausdruck der
Inspiration zweimal zu geben, bei dem geigenspielenden Gott, der ent-
zückt aufwärts schaut, und bei Homer, der begeistert vor sich hinspricht,
und ebenfalls aufwärts schaut, aber mit toten Augen. Für die anderen
Gruppen verlangte die künstlerische Ökonomie die verminderte Erregung:
der heilige Wahnsinn hat nur in der Nähe des Gottes seinen Platz, unten
befinden wir uns unter Unseresgleichen. Zu bestimmter Namengebung
werden wir auch hier nicht aufgefordert. Durch Beischrift ist Sappho
kenntlich gemacht, weil sonst niemand gewusst hätte, was das für ein
Frauenzimmer sei. Raffael war es offenbar darum zu thun, eine weibliche
Kontrastfigur zu bekommen. Dante ist klein und fast nebensächlich bloss
') Virgil nicht mehr phantastisch kostümiert, mit spitzer Krone, wie noch bei
Botticelli , sondern schon antik, der römische Dichter. So zuerst bei Signorelli
(Orvieto). Vgl. Volkmann, iconografia Dantesca S. 72.

WölHlin, Die kl.Tssisclie Kunst 7


98 DIE KLASSISCHE KUNST

angeschoben. Die eigentlich augenfälligen Figuren sind namenlose Typen.


Zwei Porträtköpfe nur sehen uns aus dem Gewühl in die Augen: der
eine, ganz am Rande rechts, ist wahrscheinlich Sannazaro; für den an-
deren, dem Raffael die Haltung seines Selbstporträts gegeben hat, ist eine
glaubhafte Bestimmung noch nicht geiunden.
Apollo sitzt und zwei Musen, ihm zur Seite, sitzen ebenfalls; er
in Face-, die Musen in Profilstellung. Das giebt zunächst ein breites
Dreieck, das Zentrum der Komposition. Die übrigen Musen stehen
hinten herum. Die Kette schliesst rechts mit einer majestätischen Rück-
figur, und darauf antwortet, von der anderen Seite her, die Frontfigur
Homers. Diese zwei Gestalten sind die Eckpfeiler der parnassischen
Gesellschaft. Die gross konstruierte Gruppe klingt dann aus in dem
Knaben zu Füssen Flomers, der seine Worte mit dem Griffel auffängt;
drüben aber nimmt die Komposition eine unerwartete Wendung, indem
sie sich in die Tiefe hineinzieht: der nächste neben der weiblichen Rück-
figur ist nur noch zu drei Vierteln sichtbar, er schreitet jenseits der Höhe
bildeinwärts.
Diese Bewegung verstärkt sich für den Eindruck durch die Lorbeer-
stämmchen, die hinten hervorkommen, und geht man der Disposition
der Bäume im Bilde überhaupt nach, so wird man sehen, wie sehr auf
ihre Komposition gerechnet ist. Sie bringen eine Diagonalbewegung
in die Komposition und lösen die Starrheit der symmetrischen Ordnung.
Ohne die mittleren Stämme aber würde Apollo unter seinen Musen über-
haupt versinken.
Für die Vordergrundgruppen wurde ein gegenseitiger Kontrast
dem Baum als Kern, ganz isoliert
insofern erreicht, als die linke, mit
erscheint,während rechts der Zusammenhang mit den oberen Figuren
gewahrt ist. Es ist derselbe Bewegungszug wie in der Schule von
Athen.
Der Parnass besitzt eine geringere Raunischönlieit als die anderen
Bilder. Es geht eng und gedrängt zu auf dem Berge und unter den
Figurenmotiven sind wenige, die überzeugend wirken. AUzuviele sind
von einer gewissen Kleinlichkeit angekränkelt. Am allerunglücklichsten
sind die Musen, leere Bildungen, die nicht interessanter werden durch
einzelne „antikische'' Kunststückchen. Von den sitzenden ahmt eine in
der Draperie die Ariadne nach, die andere möchte in der Bewegung auf
eine Figur wie die sogenannte Schutzflehende zurückzuführen sein. Die
Entblössung der Schulter, ein Motiv, das sich aufdringlich wiederholt,
ist ebenfalls aus der Antike zu erklären. Wenn Raffael nur lebendigere
Schultern zu zeigen hätte! Trotz aller Rundlichkeit der Formen denkt
man mit Sehnsucht an die eckigen Grazien Botticellis zurück. Ein ein-
RAFFAEL. DIE JURISPRUDENZ 99

ziges Stück Naturanschauung fällt auf: das ist der Nacken der stehenden
Rückfigur, der echte Nacken einer Römerin.
Die besten Figuren sind die ganz schlichten. Zu welch ungeheuer-
lichen Erfindungen aber die Sucht führt, interessant in der Bewegung
zu sein, zeigt die verdrehte Sappho. Hier
hat Raffael die Richtung
momentan ganz verloren und Konkurrenz mit Michelangelo
sich in eine
eingelassen, ohne ihn eigentlich zu verstehen. Es genügt, eine der six-
tinischen Sibyllen mit dieser unglücklichen Dichterin zusammenzuhalten,
um des Unterschiedes gewahr zu werden.
Ein anderes Bravourstück, das wir nicht tadeln wollen, ist die starke
Verkürzung des Armes bei dem vorwärtsweisenden Manne. Derartige
Probleme musste damals jeder lösen. Michelangelo hat in seinem Gott
Vater, der die Sonne schafft, seine Meinung hierüber gesagt.
Von Raumrechnung des Bildes muss
einer Eigentümlichkeit in der
noch die Rede sein. Es fällt Sappho und ihr Gegenüber
auf, dass die
den Rahmen des Fensters überschneiden. Das ist unangenehm, weil die
Figuren so die Fläche zu verlassen scheinen und man kann sich nicht
vorstellen, wie Raffael eine solche Brutalität sich zu schulden kommen
Hess. That rechnete er ganz anders: er glaubte mit dem per-
In der
spektivisch gemalten Thorbogen, der das Bild umschliesst, das Fenster
zurückdrängen zu können, so dass man meinen sollte, es liege schon ein
Stück weit im Bilde zurück. Das ist eine falsche Rechnung gewesen und
Raffael hat später nie wieder etwas derartiges versucht; neuere Kupfer-
stecher aber haben den Fehler vervielfacht, indem sie unter Weglassung
des äusseren Rahmens, der allein die Raumerklärung giebt, das Bild ge-
stochen haben. ^)

Die Jurisprudenz
Eine Versammlung von Juristen zu malen, ist Raffael erspart ge-
blieben. Für die vierte Wand waren nur zwei kleinere Zeremonienbilder
aus der Rechtsgeschichte zu Seiten des Fensters vorgesehen und darüber
in dem Schildbogen die sitzenden Figuren der Stärke, Vorsicht und Mässi-
gung, wie sie bei der Rechtspflege von nöten sind.

') Die Grisaillen unterhalb des Parnasses kann ich nicht für gleichzeitig mit den

übrigen Malereien des Zimmers halten. Der von WickhofF (Jahrbuch der preussischen
Kunstsammlungen 1893) versuchten Erklärung gegenüber scheint mir doch die ältere
Interpretation, die hier Augustus sah, wie er das Verbrennen der Aeneide hindert, und
Alexander, der die Gedichte Homers in einem Schrein birgt, ihre Vorzüge immer noch
zu haben, insofern die Gebärden kaum anders verstanden werden können. Es ist kein
Verbrennenlassen von Büchern dargestellt, sondern die Hemmung des Aktes und nicht
ein Herausgeben von Schriften aus einem Sarkophag, sondern ein Hineinlegen. Ich
glaube, jeder unbefangene Betrachter wird in diesem Sinne entscheiden.
100 DIE KLASSISCHE KUNST

Diese Tugendgestalten werden als Ausdruck dessen, was sie vor-


stellen sollen, niemanden entzücken. Es sind gleichgültige Frauenfiguren,
die zwei äusseren stark bewegt, die mittlere beruhigter. Alle sitzen tief»

dem Bewegungsmotiv zuliebe.


reicheren Mit schwer begreiflicher Um-
ständlichkeit sieht man die „Mässigung" ihr Zaumzeug hoch heben. Sie
schliesst sich in der Gesamtbewegung an die Sappho im Parnass an.
Die Wendung des Oberkörpers, der übergreifende Arm, die Lage der
Beine sind ähnlich. Allein sie ist doch besser, grösser entworfen und
nicht so zerrissen. Das Wachsen des Stiles ist hier gut zu beobachten.
Die „Vorsicht", die schon durch ihre Ruhe sympathisch wirkt, besitzt
eine sehr schöne Linie und zeigt in der Zeichnung gegenüber dem Par-
nass schon höhere Begriffe von Klarheit, man braucht nur den auf-
gestützten Arm mit dem gleichen Motiv bei der Muse zur Linken Apollos
zu vergleichen, wo das Wesentliche der Bewegung gar nicht herauskommt.
Von hier geht dann die Entwicklung weiter zu den Sibyllen in
S. M. della pace: eine ungeheuere Steigerung des Bewegungsreichtums
und ein gleicher Fortschritt in der Klarmachung des Motivs. Die dritte
der Sibyllen müsste hier im besonderen angezogen werden. Wie über-
zeugend das Struktive herausgearbeitet ist in Kopf und Hals und Ellen-
bogcngelenk! Die Sibyllen sind vor einen dunkeln Teppichgrund gesetzt,
während Tugenden der Jurisprudenz vor hellem blauen Flimmel
die
stehen; auch das ein wesentliches Merkmal des Stilunterschieds.
Die zwei Szenen aus der Rechtsgeschichte, die Übergabe des welt-
lichen und geistlichen Gesetzbuches, interessieren zunächst als Formu-
lierungen eines zeremoniösen Vorganges im Geiste des beginnenden
16. Jahrhunderts, dann aber ist gerade da, wo die Disputa anschliesst,
in überraschendster Weise zu sehen, wie Raffael am Ende der Arbeiten
in der Camera della Segnatura breit und ruhig zu werden anfängt und

auch in der Figurcngrösse ist er schon weit über den anfänglichen Mass-
stab hinausgewachsen. —
Schade, dass der Raum nicht mehr seine alte Holzvertäfelung be-
sitzt. Er würde jedenfalls ruhiger wirken als jetzt mit den weissen Steh-
figuren (in Malerei) an der Brüstung. Es möchte an sich immer etwas
Bedenkliches haben, Figuren unter Figuren zu stellen. Das Motiv wieder-
holt sich in den folgenden Stanzen; man verträgt es aber dort (wo es
auf eine gleichzeitige Anordnung zurückgeht) viel besser, weil diese
Karyatiden in ihrer plastisch-wirkenden Behandlung den ganz malerisch
behandelten Bildern in entschiedenem Kontrast sich gegenüberstellen ; man
kann sagen, sie machen das Bild erst zum Bild, indem sie es in die
Fläche zurückdrängen. Dieses Verhältnis existiert aber in der ersten
Stanze mit ihrem noch wenig malerischen Stile nicht.
RAFFAEL. DIE CAMERA D'ELIODORO 101

4. Die Camera d'Eliodoro


Nach den Repräsentationsbildeni der Camera della Segnatura be-
treten wir im zweiten Raum den Saal der Geschichten. Mehr als das:
den Saal des neuen, grossen, malerischen Stils. Die Figuren sind grösser
in der Dimension und wuchtiger in der plastischen Erscheinung. Es
sieht aus, als ob ein Loch in die Mauer geschlagen sei; aus tiefer dunkler
Höhlung kommen die Figuren hervor und die einrahmenden Bogen-
leibungen sind mit plastisch-illusionären Schatten behandelt. Blickt man
auf die Disputa zurück, so erscheint sie wie ein Teppich, ganz flächen-
mässig und licht. Die Bilder geben jetzt weniger, aber das Wenige
wirkt gewaltiger. Keine künstlichen, fein gefügten Configurationen, son-
dern mächtige Massen, die in starken Kontrasten gegeneinander wirken.
Nichts mehr von der halbwahren Zierlichkeit, keine Schaustellung posie-
render Philosophen und Dichter, dafür viel Leidenschaft und ausdrucks-

volleBewegung. Als Raumdekoration mag die erste Stanze höher stehen,


im Heliodorzimmer aber hat Raffael die Muster monumentaler Erzählung
für alle Zeiten geliefert.

Die Züchtigung Heliodors


Im 2. Buch der Maccabäer wird erzählt, wie der syrische Feldherr
Heliodor nach Jerusalem gezogen sei, um dort, im Auftrage seines
Königs, die Gelder der Witwen und Waisen aus dem Tempel zu rauben.
Klagend liefen die Frauen und die Kinder, die um ihr Gut kommen
sollten, in den Strassen herum. Schreckensbleich betete der Hohepriester
am Altar. Durch keine V^orstellungen und Bitten war Heliodor von
seinem Vorhaben abzubringen, er bricht in die Schatzkammer ein, leert

die Kisten — da aber erscheint plötzlich ein himmlischer Reiter in gol-


dener Rüstung, der den Räuber niederwirft und mit den Hufen seines
Pferdes treten lässt, während zwei Jünglinge ihn mit Ruten schlagen.
Das ist der Text.
Was an successiven Momenten enthält, hat Raffael in einem Bilde
er
gesammelt, nicht nach Weise der alten Maler, die ruhig verschiedene
Szenen neben- und übereinander stellten, sondern unter Wahrung der
Einheit von Ort und Zeit. Er giebt nicht die Szene in der Schatz-
kammer, sondern zeigt, wie Heliodor den Tempel mit den geraubten
Schätzen eben verlassen will die Weiber und Kinder, von denen es
;

heisst, sie seien heulend auf den Gassen herumgelaufen, bringt er an

den gleichen Ort und lässt sie zu Zeugen des göttlichen Eingreifens
werden, und der Hohepriester, der Gott um Hilfe anfleht, hat so auch
seinen natürlichen Platz im Bilde.
102 DIE KLASSISCHE KUNST

Nun lag für das Publikum damals die grösste Überraschung in der
Art, wie Raffael die Szenen disponierte. Man war an nichts anderes
gewöhnt als in der Mitte des Bildes die Hauptaktion zu finden: hier
stiess man
auf eine grosse Leere im Zentrum und die entscheidende
Szene ganz an den Rand geschoben. Wir können uns den Eindruck
ist

einer solchen Komposition kaum mehr in genügender Stärke vorstellen,


da wir seither in ganz anderen „Formlosigkeiten" grossgezogen worden
sind, die Leute damals aber mussten in der That glauben, die Geschichte
mit der Plötzlichkeit des Wunders vor ihren Augen sich vollziehen zu sehen.
Dazu kommt, dass die Szene der Bestrafung ebenfalls nach neuen
dramatischen Gesetzen entwickelt ist. Es lässt sich genau sagen, wie das
Quattrocento den Vorgang erzählt haben würde: Heliodor läge blutend
unter den Hufen des Pferdes und von beiden Seiten würden die Geissel-
jünglinge auf ihn einschlagen. Raffael giebt den Moment der Erwar-
tung. Der Missethäter ist eben niedergeworfen worden, der Reiter nimmt
sein Pferd herum, um ihn mit seinen Hufen zu treffen, die Jünglinge mit
den Ruten aber stürmen überhaupt erst heran. So hat Giulio Romano
später die schöne Steinigung des Stephanus (in Genua) komponiert: die
Steine sind erhoben, aber der Heilige ist noch unverletzt. ^) Hier hat
die Bewegung der Jünglinge noch den besonderen Vorteil, dass die Wucht
ihres Laufes nachträglich auch dem Pferde zu gute kommt, indem
die Vorstellung auch da unwillkürlich dasselbe blitzschnelle Erscheinen
ergänzt. Die Eile der Bewegung, wobei die Füsse den Boden nicht be-
rühren, ist bewunderungswürdig gegeben. Das Pferd ist weniger gut.
Raffaelwar kein Tiermaler.
Den gestürzten Heliodor, über den das Strafgericht hereinbricht,
würde das Quattrocento als den gemeinen Bösewicht charakterisiert und
nach dem Geschmack der Kinder kein gutes Haar an ihm gelassen
haben. Das 16. Jahrhundert denkt anders. Raffael hat ihn nicht unedel
gebildet. Seine Begleiter brüllen, er selbst behält auch in der Erniedrig-
ung Ruhe und Würde. Der Kopf an sich ist ein Musterbeispiel cinque-
centistischer Ausdrucksenergie. Das schmerzvolle Emporrichten des
Kopfes, wobei in wenigen Formen das Wesentliche gegeben ist, hat
vorher nicht seines gleichen, wie denn auch das Motiv des Körpers als
neu und folgewichtig aufgefasst sein will. -)
Der Reitergruppe gegenüber findet man die Weiber und Kinder:
zusammengepresst, stockend in der Bewegung, gebunden in der Um-

') Derselbe Gedanke, wie er schon bei der Steinigung des Stephanus in den
Sixtinischen Teppichen zur Ausführung gebracht worden ist.

2) Die Herleitung aus der Antike (Motiv eines Flussgottes), wie sie von Zeit
zu Zeit vorgeschlagen wird, möchte ich nicht befürworten.
RAFFAEL. PETRI BEFREIUNG 103

risslinie. Mit einfachen Mitteln ist der Eindruck der Menge gegeben.
Man zähle die Figuren und man wird erstaunen, wie wenige es sind,
aber alle Bewegungen, das fragende Aufsehen und das Hinweisen, das
Zurückfahren und Sichbergenwollen sind in stark sprechenden Linien
und höchst wirksamen Kontrasten entwickelt.
Über der Menge thront in der Sänfte, ganz ruhig, der Papst
Julius II. Er blickt bildeinwärts, nach der Tiefe. Seine Begleitung,
ebenfalls Porträtfiguren, nimmt gar keinen Anteil an dem, was geschieht,
und wir begreifen nicht, wie Raffael die geistige Einheit des Bildes
preisgeben mochte. Vermutlich handelte es sich hier um eine Konzession
an den Geschmack des Papstes, der im Sinne des 15. Jahrhunderts die
persönliche Assistenz wünschte. Die Kunsttraktate mochten wohl fordern,
dass alle Personen im Bilde teilnehmend dargestellt seien, in Wirklich-
keit ging man immer wieder davon ab. In diesem Falle zog Raffael
den Vorteil aus der päpstlichen Laune, dass er zu so viel Aufregung in

seiner Geschichte einen Kontrast der Ruhe bekam.


An dem Pfeiler nach der Tiefe zu sieht man zwei Knaben empor-
klettern. Was sollen sie? Man darf glauben, dass ein so auffallendes
Motiv keine blosse Zuthat ist, die auch fehlen könnte. Sie sind in der
Komposition notwendig, als Ausgleichung zu dem gefallenen Heliodor.
Die Schale der Wage, auf einer Seite niedergedrückt, springt auf der
andern empor. Das „Unten" wird überhaupt erst wirksam durch diesen
Gegensatz. ^)

So wie die Kletterer behandelt sind, üben sie aber auch noch eine
andere Funktion aus: sie leiten das Auge in das Bild hinein, der Mitte
zu, wo wir nun schliesslich den betenden Priester finden. Er kniet am
Altar und weiss nicht, dass sein Gebet schon erhört ist. Der Grundton
der flehenden Hilflosigkeit wird zentral festgehalten.

Petri Befreiung

Wie Petrus im Kerker und nachts von einem Engel auf-


liegt

gerufen wird; wie er, noch immer ein Träumender, mit dem Engel
hinausschreitet; wie die Wachen alarmiert werden, als die Flucht bemerkt
worden ist, — das hat Raffael in drei Bildern erzählt, die sich scheinbar
ganz von selbst auf der knappen Fläche einer fensterdurchbrochenen
Wand disponiert haben. In der Mitte der Gefängnisraum, dessen vordere
Wand ganz in ein Gitter aufgelöst ist und so den Einblick frei giebt;
rechts und links Treppen, die vom Vordergrund aus emporführen und

•) Der Hinweis auf ein ähnliches Motiv auf Donatellos Relief mit dem Wunder
des Esels ist für Raffael nicht belastend. Wer wollte hier von Entlehnungen sprechen?
104 DIE KLASSISCHE KUNST

für den Eindruck der Tiefen-


distanz wichtig sind: es
durfte nicht die Vorstellung
entstehen, als liege der Hohl-
raum des Kerkers unmittelbar
über dem Hohlraum der
Fensternische.
Petrus sitzt schlafend
am Boden, die Hände wie
betend über den Knien zu-
sammengelegt, den Kopf um
ein weniges geneigt. Der
Engel in lichter Glorie beugt
sich zu ihm, rührt ihn mit
einer Hand an der Schulter
und weist mit der anderen
hinaus. Zwei Wächter in
starrer Rüstung stehen schlaf-
befangen an der Mauer zu
beiden Seiten. Kann man
die Szene einfacher geben?
Und doch hat es eines
Domenichino. Befreiung Petri
Raffaels bedurft, um sie so
zu sehen. Die Geschichte
ist auch später nie mehr so schlicht und so eindrücklich erzählt worden.
Es giebt von Domeiiichino ein Bild von Petri Befreiung, welt-
bekannt, weil es in der Kirche hängt, wo man die heiligen Ketten auf-
bewahrt, in S. Pietro in Vincoli (s. Abbildung). Auch da der Engel,
der sich herabneigt und Petrus an der Schulter fasst, der alte Mann
erwacht und fährt erschrocken zurück vor der Erscheinung. Warum hat
Raffael ihn schlafend gegeben? Weil er nur so die fromme Ergebenheit
des Gefangenen ausdrücken konnte, während das Erschrecken ein Affekt
ist, wo die Bösen und die Guten Domenichino
sich nicht unterscheiden.
sucht die Verkürzung und wirkt unruhig. ganz schlichte
Raffael giebt die
Längsansicht und wirkt friedlich und still. Auch dort sind zwei Wächter
im Kerker, der eine liegt am Boden, der andere lehnt sich an die Wand;
mit ihren aufdringlichen Bewegungen und den ganz ausgeführten Köpfen
nehmen sie die Aufmerksamkeit ebenso in Anspruch wie die Hauptfiguren.
Wie fein hat da Raffael unterschieden! Seine Wächter gehen ganz zu-
sammen mit der Wand, sie sind nur die lebendige Mauer und wir
brauchen auch die gemeinen Gesichter nicht zu sehen, für die wir uns
RAFFAEL. DIE MESSE VON BOLSENA 105

garnicht interessieren.Dass Raffael auf eine Detailschilderung der Kerker-


mauern sich auch nicht eingelassen hat, ist selbstverständlich.
Beim Herausführen aus dem Gefängnis, was die ältere Kunst als
den Kern der Geschichte zu geben pflegt, wird man Petrus immer redend
finden: er unterhält sich mit dem Engel. Raffael dachte an die Worte
der Schrift: er ging hinaus wie im Traum. Er wird vom Engel an der
Hand geführt, aber er sieht den Engel nicht an, er sieht auch nicht auf
den Weg: mit gross geöffneten Augen ins Leere bliclcend, schreitet er
in der That dahin wie ein Träumender. Der Eindruck wird nun wesentHch
verstärkt durch die Art, wie die Figur aus der Finsternis hervorkommt,
verdeckt zum Teil durch das strahlende Licht des Engels. Hier spricht
der Maler in Raffael, der schon in dem Dämmerschein des Kerkers etwas
ganz Neues gegeben hatte. Und was soll man von dem Engel sagen ? Er ist
das unvergessbare BÜd des leicht hinschreitenden, wegeöffnenden Führers.
Die Treppen hüben und drüben sind besetzt von schlafenden
Soldaten. Die Alarmierung ist in der Bibel ebenfalls erwähnt. Sie soll
am Morgen stattgefunden haben. Raffael behält hier die einheitliche Zeit,
und um der Lichterscheinung rechts ein Gegengewicht zu geben, lässt
er eine Viertelscheibe des Mondes am Himmel stehen, während es im
Osten anfängt zu dämmern. Dazu kommt noch ein malerisches Bravour-
stück: das flackernde Licht einer Fackel, das auf den Steinen und den
blanken Rüstungen einen roten Widerschein giebt.
Vielleicht ist die Befreiung Petri mehr als irgend ein anderes Bild
geeignet, den Zögernden der Bewunderung Raffaels zuzuführen.

Die Messe von Bolsena


Die „Messe von Bolsena" ist die Geschichte eines ungläubigen
Priesters, dem am Altare die Hostie unter den Händen zu bluten anfängt.
Man sollte denken, das gäbe ein höchst effektvolles Bild: der Priester
erschrocken, auffahrend, die Zuschauer überwältigt von dem Anblick
des Wunders. Die Szene ist auch von andern so gemalt worden, Raffael
aber nimmt nicht diesen Weg. Der Priester, der da vor dem Altar
kniet und im Profil gesehen wird, sprrngt nicht auf, sondern regungslos
hält er die rotgezeichnete Scheibe der Hostie vor sich hin. Es kämpft
in ihm und das ist psychologisch tiefer als wenn er plötzlich in Ver-
zückung käme. Durch die Regungslosigkeit der Hauptperson gewinnt
nun aber Raffael ausserdem den Ausgangspunkt für eine wundervolle
Steigerung, wie das Geschehene auf die gläubige Menge wirkt. Die
Chorknaben, die die nächsten sind, flüstern untereinander, die Kerzen
kommen in Bewegung, der vorderste neigt sich unwillkürlich in Anbetung.
Auf der Treppe aber entsteht ein Drücken und Drängen, bis die Wallung
106 DIE KLASSISCHE KUNST

ihren Höhepunkt erreicht in der Frau ganz vorn, die aufgesprungen ist
und mit und Gebärde, ja mit der ganzen Gestalt emporverlangend
Blick
als eine Verkörperung des Glaubens überhaupt gedeutet werden könnte.
So wenigstens haben ältere Künstler die Fides sich vorgestellt und es
giebt ein Relief des Civitale, das in dem zurückgeworfenen Kopf mit
dem halbverlorenen Profil die grösste Ähnlichkeit besitzt. (Florenz, Museo
Nazionale.) Den Schluss der Kette bilden hockende Frauen mit Kindern
unten an der Treppenwange gelagert, die stumpfe Menge, die noch nichts
von dem Vorgang ahnt.
Auch hier wollte der Papst mit Gefolge dabei sein. Raffael räumte
ihm die ganze eine Hälfte des Bildes ein, er brachte ihn sogar nach —
anfänglichem Zögern —
auf gleiche Höhe mit der Hauptfigur, so dass
die Zweie Profil gegen Profil sich gegenüberknieen, der staunende junge
Priester und der alte Papst in seiner rituellen Gebetshaltung, ganz un-
bewegt wie das Prinzip der Kirche. Beträchtlich tiefer eine Gruppe von
Kardinälen, feine Porträtköpfe, von denen aber keiner gegen den Herren
aufkommt. Im Vordergrund die Schweizer mit der päpstlichen Sänfte,
auch sie knieend, klar ausgesprochene Existenzen, ohne geistige Spannung.
Der Reflex des Wunders ist hier nichts als ein profanes Aufhorchen bei
dem einen oder anderen, was denn los sei.

Die Komposition ist also auf ein grosses Kontrastmotiv aufgebaut,


wie es durch die der Wandfläche nahegelegt war.
Beschaffenheit An
einen Innenraum war nicht zu denken.
kirchlichen Wieder sass ein
Fenster in der Mauer, auf das man Bezug nehmen musste. Raffael baute
eine Terrasse mit seitlich abwärts führenden Treppen und stellte den
Altar so darauf, dass er in die Bildmitte kam. Fr umzog die Terrasse
mit einer flachrunden Brüstung und erst im Hintergrund kommt etwas
von kirchlicher Architektur. Da das Fenster nicht in der Mitte der Wand
sitzt, so ergab sich eine Ungleichwertigkeit der zwei Bildhälften, der da-
durch abgeholfen ist, dass die linke (schmalere) Seite höher emporgeführt

ist. Darin beruht die Legitimation der Männer, die hinter dem Priester
über der Brüstung erscheinen und die des blossen verdeutlichenden
Weisens wegen nicht nötig gewesen wären. ')

Das letzte Bild des Saales, die Begegnung Leos I. mit Attila,
ist eine Enttäuschung. Man merkt wohl, worauf es abgesehen war, dass
der Papst mit seinem Gefolge in ruhiger Würde der erregten Horde
') Raffael hält an der Annahme fest, der Beschauer stehe genau in der Mittel-
achse dem Bild gegenüber, daher überschneidet der linke Fensterrahmen ein Stück
des dargestellten Raumes.
RAFFAEL. DIE TEPPICHKARTONS 107

des Hunnenkönigs die Spitze bieten sollte, obwohl er räumlich die


schwächere Partei ist, allein der Effekt kommt Man kann
nicht zustande.
nicht sagen, die Erscheinung der himmlischen Helfer, Petrus und Paulus,
die von oben auf Attila drohend einsprechen, zerstöre die Wirkung: der
Kontrast an sich ist nicht gut entwickelt. Man hat Mühe, Attila über-
haupt zu finden. Nebenfiguren drängen sich irreführend vor, es giebt
Dissonanzen in der Linienführung und Unklarheiten der widrigsten Art,
so dass Raffaels Autorschaft bei diesem Bilde, das auch im Ton aus der
Reihe der anderen herausfällt, jedenfalls nur als eine bedingte anzunehmen
ist. Für unsere Fragestellungen fällt es ausser Betracht. ^)
Und ebenso können wir der Raffaelschule nicht mehr in das dritte
Zimmer folgen, mit dem Borgobrand. Das Hauptbild, nach dem der
Raum benannt wird, hat zwar sehr schöne Einzelmotive, aber das Gute
mischt sich mit Minderwertigem und das Ganze entbehrt der Geschlossen-
heit einer originalen Komposition. Die wassertragende Frau, die Löschen-
den und die Gruppe der Fliehenden wird man gerne als Raffaelsche
Erfindungen anerkennen und für die Bildung des Einzelschönen in seinen
letzten Lebensjahren sind sie sehr aufschlussreich, die Linie der grossen
Erzählung aber geht weiter in den Kartons zu den Teppichen der six-

tinischen Kapelle.

5. Die Teppichkartons
Kartons im Kensington-Museum, die sich allein aus
Die sieben
einer Serievon zehn erhalten haben, sind die Parthenonskulpturen der
neueren Kunst genannt worden. An Ruhm und weitgreifender Wirkung
übertreffen sie jedenfalls die grossen vatikanischen Fresken. Brauchbar
als Kompositionen von wenigen Figuren sind sie als Vorlagen in Holz-
schnitt und Stich weit herumgekommen. Sie waren die Schatzkammer,
aus der man die Ausdrucksformen der menschlichen Gemütsbewegungen

') Ich mache auf einige Unklarheiten der Zeichnung, wie sie sich mit RafFaels
Meisterstil nicht vertragen, im einzelnen aufmerksam.
a) Attilas Pferd.Die Hinterbeine sind angegeben, aber in geradezu lächer-
Weise zerstückelt, bis auf die Hufe.
licher
b) Der weisende Mann zwischen dem Rappen und dem Schimmel. Sein zweites
Bein ist nur in einem Rest vorhanden.
c) Von den zwei Lanzenträgern im Vordergrund ist der eine in seiner Er-
scheinung unleidlich geschädigt.
Der Boden und die Landschaft sind auch unraffaelisch. Es hat hier eine fremde
Hand mitgearbeitet, talentvoll, aber noch roh. Die guten Partien liegen links.
:

108 DIE KLASSISCHE KUNST

holte und der Ruhm RaKaels als Zeichner wurzelt vornehmlich in diesen
Leistungen. Das Abendland hat sich stellenweise die Gebärden des Er-
staunens, Erschreckens, die Verzerrungen des Schmerzes und das Bild
der Hoheit und Würde gar nicht anders vorstellen können. Es ist auf-
fallend, wie viel Ausdrucksköpfe in diesen Kompositionen vorkommen,
wie viele Figuren irgend etwas sagen müssen. Daher das Laute,
Gellende, das einzelne der Bilder haben. An Wert sind sie ungleich
und Raffaels Originalzeichnung giebt überhaupt kein einziges. ^) Einige
aber sind von einer Vollkommenheit, dass man die unmittelbare Nähe von
Raffaels Genius empfindet.
Der wunderbare Fischzug. Jesus war hinausgefahren auf
den See mit Petrus und dessen Bruder; auf sein Geheiss waren die Netze
noch einmal gesenkt worden, nachdem die Fischer die ganze Nacht um-
sonst sich gemüht hatten, und jetzt that man einen gewaltigen Fang, so
gross, dass ein zweites Schiff herbeigerufen wurde, um die Beute zu
heben. Da packt den Petrus die Gegenwart des offenbaren Wunders
— stupefactus est, sagt die Vulgata , er stürzt dem Herrn zu Füssen
„Herr, gehe weg von mir, ich bin ein Sünder", worauf Christus milde
den Erregten beruhigt; „Fürchte dich nicht."
Das ist die Geschichte. — Zwei Schiffe also auf offenem Wasser.
Der Zug ist gethan, alles voll von den Fischen und in diesem Gedränge
die Szene zwischen Petrus und Christus.
Es war eine erste grosse Schwierigkeit, bei so vielen Menschen und
Material den Hauptfiguren Geltung zu verschaffen, zumal Christus kaum
anders als sitzend gedacht werden konnte. Raffael machte die Schiffe
klein, unnatürlich klein, um den Figuren die Herrschaft zu sichern. So
hatte Lionardo beim Abendmahl den Tisch behandelt. Der klassische
Stil opfert das Wirkliche den Rücksichten auf das Wesentliche.
Die flachen Boote stehen nahe zusammen und werden beide fast
völlig in der Längsansicht gesehen, das zweite vom ersten nur wenig
überschnitten. Alle mechanische Arbeit ist diesem zweiten, zurück-
stehenden zugewiesen. Dort sieht man zwei junge Männer die Netze
emporziehen — der Zug vollendet sich erst bei Raffael — , dort sitzt der
Ruderer, der alle Mühe hat, das Fahrzeug im Gleichgewicht zu erhalten.
Diese Figuren bedeuten aber nichts Selbständiges in der Komposition,
sie dienen nur als Anlauf, als Vorstufe zu der Gruppe im vorderen
Schiffchen, wo Petrus vor Christus hingesunken ist. Mit erstaunlicher
Kunst sind die Insassen der Boote alle unter eine grosse Linie gebracht,

') Vgl. H. Dollmayr, Raffaels WerUstätte (Jahrbuch der kuiisthistor. Samm-


lungen des allerhöciisten Kaiserhauses 18Q5). ,,In Hauptsache ist nur eine
der
einzige Hand an den Kartons tliätig gewesen, die des Penni" (S. 253).
RAFFAEL. DIE TEPPICHKARTONS 109

^^^eS
-

RafiaL-1. Der wuiidi-rbare Fischzug. Nach dem Stich von N. Dorigny

die bei dem Ruderer anhebt, über die Gebückten emporsteigt, in der
Stehfigur ihren Höhepunkt findet, dann jäh abstürzt und zum Schluss
in Christus sich noch einmal hebt. Auf ihn führt alles zu, er setzt der
Bewegung ihr Ziel und obwohl als Masse gering und ganz an den
Rand des Bildes gestellt, beherrscht er alle. So hatte man noch niemals
komponiert.
Ausschlaggebend für den Eindruck im ganzen ist die Haltung der
zentralen Stehfigur und merkwürdig, sie ist erst ein Gedanke des letzten
Moments gewesen. Dass an dieser Stelle im Bilde einer aufrecht stehen
sollte, lag schon lange im Plan, es war aber ein Ruderer vorgesehen,
der an dem Vorgang keinen näheren Anteil nimmt, wie er aber für das
Schiff notwendig ist. Nun aber hatte Raffael das Bedürfnis, die geistige
Strömung zu verstärken, er zieht den Mann (man wird ihn Andreas
nennen müssen) in die Bewegung des Petrus mithinein und das giebt der
Adoration den ungemeinen Nachdruck. Das Niederknien ist gewissermassen
entwickelt in zwei Momenten, der bildende Künstler giebt mit simul-
tanen Bildern, was er sonst nicht geben kann: die Succession. Raffael
hat dieses Motiv mehrfach verwendet. Auch an den Reiter im Heliodor
mit seinen Begleitern ist hier zu erinnern.
Die Gruppe ist ganz frei-rhythmisch entwickelt, aber so notwendig
wie eine architektonische Komposition. Bis ins Einzelne herunter nimmt
110 DIE KLASSISCHE KUNST

alles Bezug unter sich. Man sehe, wie sich die Linien gegenseitig acco-
modieren und jeder Flächenausschnitt gerade für die Füllung da zu sein
scheint, die er bekommen hat. Darum sieht das Ganze so ruhig aus.
Auch die Landschaftslinien sind in bestimmter Absicht geführt.
Der Uferrand genau dem aufsteigenden Gruppencontour, dann wird
folgt
der Horizont frei und erst über Christus hebt sich wieder ein Hügelzug.
Die Landschaft bezeichnet die wichtige Cäsur in der Komposition. Früher
gab man Bäume und Hügel und Thäler, und glaubte, je mehr, desto
besser, jetzt übernimmt die Landschaft die gleiche Verpflichtung wie auch
die Architektur, sie wird den Figuren dienstbar.
Sogar die Vögel, die sonst willkürlich in der Luft herumschiessen,
nehmen sekundierend die Hauptbewegung auf: der Zug, der aus der
Tiefe kommt, senkt sich gerade da, wo die Cäsur liegt, und selbst der
Wind muss die Gesamtbewegung verstärken helfen.
Der hohe Horizont hat etwas Befremdendes. Offenbar wünschte
Raffael, seinen Figuren in der Wasserfläche einen gleichmässigen stillen
Hintergrund zu geben und er handelt dabei nicht anders, als wie er
es bei Perugino schon gelernt hatte, auf dessen „Schlüsselverleihung"
mit den weit zurückgeschobenen Gebäulichkeiten eine ganz gleiche
Absicht zu beobachten ist. Im Gegensatz zu dem einheitlichen Wasser-
spiegel ist dann der Vordergrund vielteilig und bewegt. Fin Stück Ufer-
rand ist sichtbar, trotzdem die Szene auf dem offenen See spielen soll. ^)

Ein paar Reiher stehen da, vorzügliche Tiere, zu auffallend vielleicht,

wenn man das Bild nur in einer Schwarz-Weiss- Reproduktion kennt,

im Teppich gehen sie in ihren braunen Tönen mit dem Wasser nah zu-
sammen und kommen neben den leuchtenden Mensclienkörpern wenig in
Betracht.
Raffaels wunderbarer Fischzug gehört mit Lionardos Abendmahl zu
den Darstellungen, die gar nicht mehr anders gedacht werden können.
Wie tief steht schon Rubens unter Raffael! Durch das eine Motiv allein,
dass Christus aufgesprungen ist, hat die Szene ihren Adel verloren.
„W eide meine Lamme r." Raffael behandelt hier ein Thema,
wie es ähnlich an dem Orte, wofür der Teppich bestimmt war, in der
Sixtinischen Kapelle, schon einmal von Perugino gemalt worden war.
Bei Perugino ist es die Schlüsselverleihung (Matth. 16, 19), hier sind es
die Worte des Herrn: „Weide meine Lämmer!" (Joh. 21, 15). Das Motiv
ist im Grunde dasselbe und es ist dabei gleichgültig, ob Petrus die

') Ist es Stilgefühl, dass Raffael vorn etwas Festes verlangte? Auch Botticelli

(Geburt der Venus) das Wasser nicht bis an den Rand. Man kann die Ga-
füiirt

latea entgegenhalten, doch ist ein Wandbild nicht an gleiche Bedingungen gebunden.
RAFFAEL. DIE TEPPICHKARTONS 111

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Raffael. „Weide meine Lämmer!" Nach dem Stich von N. Dorigny

Schlüssel schon in den Armen hält oder nicht. ^) Um den Sinn der
Rede anzudeuten, musste eine wirkliche Herde ins Bild aufgenommen
werden und mit energischer Doppelbewegung der Arme giebt Christus
dem Befehl Ausdruck. Was bei Perugino nur gefühlvolle Pose ist, ist

hier wirkliche Aktion. iWit historischem Ernst ist der Moment gefasst.

Und so der kniende Petrus, dringlich in dem Emporblicken, voll momen-


tanen Lebens. Und die übrigen? Perugino giebt eine Reihe von
schönen Stehmotiven und Kopfneigungen. Wie sollte er anders? Die
Jünger haben ja bei der Sache nichts zu thun; fatal, dass es so viele
sind, die Szene wird ein wenig einförmig. Raffael bringt etwas Neues
und Unerwartetes. In gedrängter Masse stehen zusammen, kaum
sie

dass Petrus sich wesentlich loslöst; aber in diesem Haufen welch —


eine Fülle verschiedenartigen Ausdruckes! Die Nächsten angezogen von
der Lichtgestalt Christi, mit den Augen ihn verzehrend, bereit, dem Knie-
fall Petri zu folgen; dann ein Stocken; ein Bedenklichwerden, ein fragendes
Sichumsehen und endlich das erklärte missgünstige Zurückhalten. Das
Thema in Behandlung verlangte viel psychologische Ausdrucks-
dieser
kraft und lag jedenfalls ganz ausserhalb des Kreises der älteren Generation.-)
') Das letztere ist jedenfalls die ursprüngliche Meinung
Raffaels gewesen.
-) Man der Zweifel über die Person
könnte auch anders interpretieren: es sei

des Auferstandenen dargestellt, der hier den Jüngern erschienen ist, ob er's auch
112 DIE KLASSISCHE KUNST

Bei Perugino steht Christus mit Petrus in der Mitte des Bildes und
die Assistierenden verteilen sich symmetrisch auf die Seiten, hier steht
Christus allein allen anderen gegenüber. Er ist ihnen nicht zugekehrt,
sondern wandelt an ihnen vorbei. Nur von der Seite sehen ihn die
Jünger. Im nächsten Augenblick wird er nicht mehr da sein. Er ist

die einzige Figur, die das Licht in breiten Flächen widerstrahlt. Die
anderen haben das Licht gegen sich.

Die Heilung des Lahmen. Vor diesem Bilde ist immer die
erste Frage, was die grossen gewundenen Säulen sollen? Man hat die
Hallen des Quattrocento im Kopf, durchsichtige Gebilde, und man be-
greift nicht, wie Raffael zu den Elefantenformen kam, die sich hier breit
machen. Woher er das Motiv der gewundenen Säule hat, lässt sich
nachweisen; es giebt eine solche in St. Peter, die der Tradition nach
vom Tempel in Jerusalem stammen sollte, und die „schöne Halle'' eben
diesesTempels war der Schauplatz der Heilung des Lahmen. Allein
das Auffällige ist hier viel weniger die Einzelform als die Verbindung
der Menschen mit der Architektur. Raffael giebt die Säulen nicht als
Coulissen oder als Hintergrund, er zeigt die Leute in der Halle drin,
ein Gewühl von Menschen, und er kommt dabei mit verhältnismässig
wenig Mitteln aus, weil eben die Säulen selbst füllen.
Nun ist weiter leicht zu sehen, dass die Säulen als trennende und
einrahmende Motive sehr erwünscht waren; es ging nicht mehr an, das
Publikum, zu Reihen geordnet, herumstehen zu lassen, wie es die Quattro-
centisten thaten; sollte aber ein wirkliches Volksgedränge gegeben werden,
so lag die Gefahr nahe, dass die Hauptfiguren darin verloren gingen.
Das ist hier vermieden und der Beschauer merkt die Wohlthat einer
solchen Disposition lange bevor er sich über die Mittel Rechenschaft giebt.
Die Heilungsszene selbst ist ein schönes Beispiel der männlich
starken Art, mit der Raffael einen solciicn Vorgang jetzt zu geben wusste.
Der Heilende stellt sich nicht in Positur, er ist nicht der Beschwörer,
der Zauberformeln spricht, sondern der tüchtige Mann, der Arzt, der
ganz einfach die Hand des Krüppels aufnimmt und mit der Rechten
den Segen dazu giebt. Das geschieht mit dem mindesten Aufwand von
Bewegung. Er bleibt aufrecht stehen und beugt nur den mächtigen
Nacken ein wenig. Ältere Künstler lassen ihn sich niederneigen zu dem
Kranken, allein das Wunder des Emporrichtens erscheint so glaubhafter.
Er sieht den Krüppel fest an und dieser hängt mit gierigem, erwartungs-
vollem Blick an seinem Auge. Profil steht gegen Profil und man spürt

wirklich sei oder ob nur ein Trugbild dastehe? Die Jünger kämen bei dieser Auf-
fassung besser weg, allein sie ist nicht die kirchliche.
RAFFAEL. DIE TEPPICHKARTONS 113

die Spannung zwischen den zwei Figuren. Es ist eine psychische Durch-
leuchtung der Szene ohne gleichen.
Petrus hat eine Begleitfigur in Johannes, der mit weicher Kopf-
neigung und freundlich aufmunternder Gebärde dabeisteht. Der Krüppel
hat seinen Kontrast in einem Kollegen, der stumpf und hämisch zusieht.
Das Publikum, zweiflerisch oder neugierig-zudringlich, stellt eine Menge
verschiedenartigen Ausdrucks vor, wobei auch für die neutrale Folie ge-
sorgt ist in völlig unbeteiligten Passantenfiguren. Als einen Gegensatz
anderer Art hat Raffael in dieses Gemälde von menschlichem Elend zwei
nackte Kindergestalten hineingestellt, ideale Körperbildungen, die mit
glänzendem Fleisch aus dem Bilde herausleuchten.
DerTod des Ananias ist eine undankbare Bildszene, weil es

unmöglich ist, sein Sterben als Folge eines übertretenen Gebotes dar-
zustellen. Man kann das Zusammenstürzen malen, die Umstehenden
werden erschrecken, aber wie soll dem Vorgang sein sittlicher Inhalt
gegeben werden, wie soll gesagt werden, dass hier ein Ungerechter stirbt?
Raffael hat das Mögliche gethan, um diese Beziehung wenigstens
äusserlich zum Ausdruck zu bringen. Es ist ein ganz streng kompo-
niertes Bild. Auf einem Podium in der Mitte steht der gesamte Chorus
der Apostel, vor dunkler Rückwand, eine geschlossene, höchst eindring-
liche Masse. Links bringt man die Gaben, rechts werden sie verteilt,
das ist sehr einfach und anschaulich. Nun im Vordergrund der dra-
matische Vorfall. Ananias liegt wie in Krämpfen am Boden. Die nächsten
um ihn fahren erschrocken zurück. Der Kreis dieser Vordergrunds-
figuren ist so gebaut, dass der rückwärtsstürzende Ananias ein Loch in

die Komposition reisst, das man schon von weitem sieht. Man versteht
nun, warum alles übrige so streng geordnet ist: es geschah, um diese
eine Asymmetrie mit allem Nachdruck wirksam zu machen. Wie der
Blitz hat das Strafgericht in die Reihen eingeschlagen und das Opfer
gefällt. Und nun ist es unmöglich, die Beziehung zu der oberen Gruppe
der Apostel zu übersehen, die hier das Schicksal vertreten. Unmittelbar
wird der Blick nach der Mitte geführt, wo Petrus steht und den Arm
sprechend gegen den Gestürzten ausgestreckt hält. Es ist keine laute
Bewegung, er donnert nicht, er will nur sagen: dich hat Gott gerichtet.
Keiner unter den Aposteln ist eigentlich erschüttert von dem Geschehnis,
sie und nur das Volk, das den Zusammenhang der
bleiben alle ruhig
Dinge nicht übersieht, fährt in heftiger Bewegung auseinander. Es sind
wenige Figuren, die Raffael vorführt, aber es sind die Typen des grossen
staunenden Erschreckens, wie Kunst der nächsten Jahrhunderte
sie die
zu ungezählten Malen wiederholt hat. Sie sind akademische Ausdrucks-
schemata geworden. Man hat unendlich viel Unfug getrieben durch
WölHlin, Die klassische Kunst 8
114 DIE KLASSISCHE KUNST

-Raffael. Der Tod Ananias. Nach dem Stiche von N. Dorigny

Übertragung dieser Gebärdensprache auf nordischen Boden.


italienischen
Auch haben das Gefühl für den natürlichen Ausdruck
die Italiener aber
zeitweise völlig verloren und sind ins Konstruieren verfallen. Wie weit
die Bewegungen hier noch natürliche sind, wollen wir als Ausländer nicht
beurteilen. Etwas nur soll gesagt werden : man kann hier ganz besonders
deutlich beobachten, wie der Charakterkopf dem Ausdruckskopf gewichen
ist. Das Interesse für den Ausdruck leidenschaftlicher Gemütsbewegungen
an sichwar so stark, dass man auf individuelle Köpfe gern verzichtete.
Die B 1 e n d u n g d e s E 1 y m a s.
Der Zauberer Elymas wird mit
plötzlicher FMindheit geschlagen, als er dem Apostel Paulus vor dem
Prokonsul von Cypern entgegentreten will. Es ist die alte Geschichte,
wie der christliche Heilige angesichts des heidnischen Herrschers den
Widersacher besiegt, und das Kompositionsschema, das Raffael benutzte,
ist denn auch dasselbe, das schon Giotto kannte, als er in S. Croce den
heiligen Franz in der Szene vor dem Sultan mit den muhammedanischen
Priestern malte. Der Prokonsul zentral und davor, rechts und links, die
zwei Parteien sich gegenübergestellt, wie bei Giotto, nur sind die Momente
des Bildes energischer konzentriert. Elymas ist bis gegen die Mitte vor-
gedrungen und fährt nun plötzlich, da es dunkel vor seinen Augen wird,
mit dem Körper zurück, die Hände beide vorstreckend und den Kopf
hochhaltend, das unübertreffliche Bild des Erblindeten. Paulus hat sich
ganz ruhig gehalten, er steht völlig am Rande, zu drei Viertel Rückfigur.
RAFFAEL. DIE TEPPICHKARTONS 115

Das Gesicht ist beschattet (während auf Elynias das Licht voll auffällt)
und erscheint im verlorenen Profil. Er spricht mit der Gebärde, mit
dem Arm, der dem Zauberer entgegengeht. Es ist auch hier keine
leidenschaftliche Gebärde, aber die Einfachheit der Horizontale, die sich
mit der mächtigen Vertii^ale der ruhig hochgerichteten Gestalt trifft,

wirkt sehr bedeutend. Das ist der an dem das Böse abprallen
Fels,
muss. Neben diesen Protagonisten hätten die anderen Figuren kaum
mehr auf Interesse zu rechnen, selbst wenn sie weniger gleichgültig
ausgeführt wären. Sergius, der Prokonsul, der bei diesem Schauspiel
nur Zuschauer ist, breitet die Arme zurück, die charakteristische Wen-
dung des Cinquecento. Er mag so im originalen Entwurf konzipiert
gewesen sein, die übrigen Personen aber sind mehr oder weniger über-
flüssigeund zerstreuende Füllfiguren, die in Verbindung mit einer un-
sauberen Architektur und gewissen kleinlichen malerischen Effekten dem
Bilde etwas Unruhiges geben. Raffaels Auge scheint nicht mehr über
seiner Vollendung gewacht zu haben.
In höherem Grade noch hat man diesen Eindruck vor dem Opfer
von Lystra. Das so sehr gerühmte Bild ist eine völlige Unverständ-
lichkeit. Kein Mensch kann erraten, dass hier ein Mann geheilt wurde,
dass das Volk dem Wunderthäter als einem Gott opfern will und dass
dieser — der Apostel Paulus —
ergrimmt darüber sich das Gewand
zerreisst. Der Hauptaccent liegt auf der Vorführung einer antiken Opfer-
szene, die einem antiken Sarkophagrelief nachgebildet ist, und dem
archäologischen Interesse hat das andere weichen müssen. Die aus-
giebige Benutzung des Vorbildes lässt an sich schon den Gedanken an
Raffael zurücktreten, ausserdem aber ist jede Veränderung der Vorlage
eine Verschlechterung geworden. Die Komposition ist unbehaglich im
Raum und wirr in den Richtungen.
Das Bild der Predigt Pauli in Athen enthält dagegen eine
grosse und originale Erfindung. Der Prediger mit den gleichmässig erhobe-
nen Armen, ohne schöne Pose und ohne die Deklamationen eines bewegten
Faltenwurfes, ist von grandiosem Ernst. Man sieht ihn nur von der
Seite, fast mehr von hinten: er steht erhöht und predigt ins Bild hinein

und dabei ist er weit vorgetreten, bis an den Rand der Stufen. Das
giebt ihm etwas Dringliches bei aller Ruhe. Sein Gesicht ist beschattet.
Aller Ausdruck ist konzentriert in der grossen schlichten Linie der Figur,
die das Bild siegreich durchtönt. Neben diesem Redner sind alle die
predigenden Heiligen des 15. Jahrhunderts dünnklingende Schellen.
Nach idealer Rechnung sind die Hörer unten viel kleiner gebildet.
Der Reflex der Rede auf soviel Gesichtern, das war nun wohl eine
Aufgabe im Sinne des damaligen Raffael. Einzelne Figuren sind seiner
116 DIE KLASSISCHE KUNST

würdig, bei anderen wird man sich des Eindrucks nicht erwehren können,
dass auch hier fremde Erfindungen sich beigemischt haben. (So vor
allem in den groben Köpfen vorn.)
Die Architektur aufdringlich: der Hintergrund des
wirkt etwas
Paulus ist gut an seiner
den Rundtempel (des Bramante) möchte
Stelle,

man lieber durch etwas anderes ersetzt sehen. Dem christlichen Redner
entspricht in der Diogonale die Statue des Mars, ein wirksames Motiv,
die Richtung zu verstärken.
Wir übergehen die Kompositionen, die nicht mehr im Karton,
sondern nur in der Ausführung vorhanden sind, doch muss noch eine
prinzipielle Bemerkung über das Verhältnis der Zeichnung zum gewirkten
Teppich hier vorgebracht werden. Die Prodezur der Wirkerei lässt be-
kanntlich das Bild gegensinnig erscheinen und man erwartet, dass die
Vorlagen darauf Rücksicht nehmen. Merkwürdigerweise verhalten sich
die Kartons in diesem Punkte nicht gleich. Der Fischzug, die Rede an
Petrus, die Heilung des Lahmen und der Tod des Ananias sind so ge-
zeichnet, dass die richtige Erscheinung erst im Teppich herauskommen
kann, während das Opfer von Lystra und die Blendung des Elymas in
der Umkehrung verlieren. (Die Predigt in Athen ist indifferent.) ^) Es
handelt sich nicht nur darum, dass die linke Hand zur rechten wird, und
dass z. B. Segnen mit der Linken stören könnte: eine Raffaelsche
ein
Komposition dieses Stils kann man nicht beliebig umkehren, ohne einen

Teil ihrer Schönheit zu zerstören. Raffael führt das Auge von links nach
rechts, nach der ihm anerzogenen Neigung. Selbst in stille gestellten
Kompositionen, wie der Disputa, geht die Strömung in diesem Sinne,
Im grossen Bewegungsbild aber wird man nichts anderes finden Heliodor :

muss in die rechte Bildecke hinausgedrängt werden, die Bewegung


erscheint so überzeugender. Und wenn Raffael in dem „wunderbaren
Fischzug" uns über die Kurve der Fischer zu Christus hinführen will,
so ist es ihm wieder natürlich, von links nach rechts zu gehen; wo er
aber das jähe Rückwärtsstürzen des Ananias eindrücklich zu machen
versucht, da lässt er ihn im Widerspruch zu dieser Richtung zusammen-
brechen.
Unsere Abbildungen, die nach den Stichen des N. Dorigny her-
gestellt sind, geben die richtigen Ansichten, weil sich dem Stecher, der
noch ohne Spiegel arbeitete, das Bild im Druck wie in der Weberei
verkehrt hat.

') Doch scheint auch sie die Umkehrung zu verlangen, indem erst dann die
MarsHgur Schild und Speer richtig zu fassen bekommt.
RAFFAEL. DIE RÖMISCHEN PORTRÄTS 117

6. Die römischen Porträts


überleitend vom Historienbilde zum Porirät kann man nichts Besseres
sagen, als dass auch das Porträt nun zum Historienbild zu werden be-
stimmt war.
Quattrocentistische Bildnisse haben etwas Naiv-Modellmässiges. Sie
geben die Person, ohne einen bestimmten Ausdruck von ihr zu verlangen.
Gleichgültig, mit einer fast verblüffenden Selbstverständlichkeit sehen die
Leute aus dem Bilde heraus. Auf die schlagende Ähnlichkeit war es

abgesehen, nicht auf eine Stimmung. Ausnahmen kommen


besondere
vor, im allgemeinen aber begnügte man sich, den Darzustellenden nach
seinen bleibenden Formen festzunageln, und dem Eindruck der Lebendig-
keit schien es auch keinen Abbruch zu thun, wenn in der Haltung kon-

ventionelle Anordnungen beibehalten wurden.


Es ist die Forderung der neuen Kunst, dass im Porträt die per-
sönlich bezeichnende Situation zu geben sei, ein bestimmter Moment
des frei bewegten Lebens. Man will sich nicht darauf verlassen, dass
die Formen des Kopfes für sich sprächen, auch die Bewegung und Gebärde
soll jetzt ausdrucksvoll sein. Aus dem beschreibenden Stil geht man über
zum dramatischen.
Die Köpfe besitzen aber auch eine neue Energie des Ausdrucks.
Man wird bald bemerken, dass diese Kunst über reichere Mittel der
und Schattengebung, Linienführung, Massen-
Charakteristik verfügt. Licht-
verteilung im Raum sind in den Dienst der Charakteristik gestellt. Von
allen Seiten wird auf einen bestimmten Ausdruck hingearbeitet. Und in
derselben Absicht, das persönliche Wesen ganz stark wirken zu lassen,
werden gewisse Formen nun besonders herausgehoben, andere zurück-
gedrängt, während das Quattrocento jeden Teil ungefähr gleichwertig
durchbildete.
Man darf diesen Stil noch nicht in Raffaels florentinischen Porträts
suchen, erst in Rom ist zum Menschenmaler geworden.
er überhaupt
Der jugendliche Künstler flatterte an der Erscheinung herum wie ein
Schmetterling, und es fehlt ihm noch völlig das feste Anpacken, das
Pressen der Form auf ihren individuellen Gehalt. Die Maddalena Doni
ist ein oberflächliches Porträt und es scheint mir unmöglich, demselben

Maler das vorzügliche Frauenbildnis der Tribuna (die sog. Schwester


Doni) zuzuschreiben: Raffael besass damals offenbar nicht die Organe,
sich an das Sichtbare so anzusaugen.^) Seine Entwicklung bietet das

') Nach den Ausführungen Davidsons (Repertorium 1900. XXIII, 211 ff.) wird
man sich übrigens entschliessen müssen, den Namen Maddalena Doni fallen zu lassen,
wenn man nicht auf die Autorschaft Raffaels verzichten will. Das Frauenbildnis der Tri-
118 DIE KLASSISCHE KUNST

merkwürdige Schauspiel, dass, je grösser der Stil wird, desto mehr auch
die Kraft des Individuellen zunimmt.
Als die erste grosse That wird man immer das Bildnis Julius II.
zu nennen haben (Uffizien). ^) Es verdient wohl den Namen eines
Historienbildes. Wie der Papst dasitzt, mit festgeschlossenem Munde,
den Kopf etwas geneigt, im Moment des Überlegens, so ist er nicht
das zur Aufnahme zurechtgesetzte Modell, das ist vielmehr ein Stück
Geschichte, der Papst in einer typischen Situation. Die Augen blicken
den Beschauer nicht mehr an. Die Höhlen sind beschattet, dafür kommt
mächtig hervor die felsenmässige Stirn und die starke Nase, Hauptträger
des Ausdrucks, auf denen ein gleichmässiges hohes Licht liegt. Das
sind die Accentuierungen des neuen Stils; sie würden später noch ver-
schärft worden sein. Gerade diesen Kopf möchte man gerne von Seba-
stiane del Piombo behandelt sehen.
Bei L e X. (Pitti) lag das Problem anders. Der Papst hatte ein
dickes, fett-überwuchertes Gesicht. Man musste mit dem Reiz der Licht-
bewegung versuchen, über die wüsten gelblichen Flächen hinwegzu-
kommen und das Geistige in dem Kopfe aufleuchten zu lassen, die
Feinheit in den Nasenflügeln und den Witz in dem sinnlichen, beredten
Munde. Esmerkwürdig, wie das blöde kurzsichtige Auge Kraft be-
ist

kommen hat, ohne seine Natur zu verändern. Der Papst ist dargestellt,
wie er einen Codex mit Miniaturen ansieht und nun plötzlich aufblickt.
Es liegt in der Art des Blickens etwas, was den Herrscher charakterisiert,
besser als wenn er sich thronend mit der Tiara hätte abbilden lassen.
Die Art, wie die Hände gegeben sind, möchte noch individueller sein
als bei Julius. Die Begleitfigurcn, an sich sehr bedeutend behandelt,
dienen hier doch nur zur Folie und sind in jeder Beziehung der Haupt-
wirkung unterthan.2) Bei keinem der drei Köpfe hat Raffael eine Neigung
haben wollen und man wird zugestehen, dass diese dreimal wiederholte
Vertikale eine Art von feierlicher Stille im Bilde verbreitet. Während
das Juliusbild einen gleichfarbigen (grünen) Hintergrund hat, ist hier eine
verkürzt gesehene Wand mit Pfeilern gegeben, die den doppelten Vorzug
besitzt, die plastische Illusion zu verstärken und den Haupttönen ab-

wechselnd hellere und dunklere Folien zu bieten. In der Farbe aber

hat eine wichtige Abtönung ins Neutrale stattgefunden; der alte bunte

buna halte ich für einen Feriigino. Die grosse Verwandtschaft mit dem ,,timeteDeum"-
Kopf der Uffizien (Francesco deil'Opera) lässt mir diese Bestimmung als unabweislich
erscheinen.
') Das Pitti-Exemplar sicher später. Ob eigenhändig?
2) Ist es künstlerische Licenz, dass sie so tief stehen, oder hat man anzu-
nehmen, der Papst sitze auf einem Podium?
RAFFAEL
GRAF CASTIGLIONE
120 DIE KLASSISCHE KUNST

Grund wird und man sucht nur den Vordergrundsfarben Kraft


verlassen
zu geben, wie denn der päpstliche Purpur auf der grünlichgrauen
liier

Hintertläche so prachtvoll wie möglich zur Erscheinung kommt.


Eine andere Art von momentaner Belebung hat Raffael einem
schielenden Gelehrten, dem I n g h r a m i, zu teil werden lassen. (Original
i

ursprünglich in Volterra, jetzt in Boston; alte Kopie in der Galerie Pitti.)

Ohne den Naturfehler zu unterdrücken oder zu verheimlichen, wusste er


das Unangenehme ausser Wirkung zu setzen, indem er es durch den
Ernst des geistigen Ausdrucks überbot. Ein gleichgültiges Blicken wäre
hier unerträglich, vor dem Bilde geistiger Spannung in diesem aufwärts ge-
richteten Gelehrtenkopf kommt der Beschauer bald auf andere Gedanken.
Das Bild gehört zu den frühesten römischen Porträts. Irre ich
mich nicht, sowürde Raffael späterhin doch diese starke Betonung einer
momentanen Tätigkeit vermieden haben und dem Porträt, das auf lange
und wiederholte Besichtigung berechnet ist, ein ruhigeres Motiv unter-
gelegt haben. Die vollendete Kunst weiss auch im Beharren den Zauber
des Momentanen zu geben. So ist der C a s t g 1 o n e (Louvre, s. Abb.)
i i

in der Bewegung sehr einfach, aber die kleine Neigung des Kopfes und
das Ineinanderlegen der Hände sprechen unendlich momentan und per-
sönlich an. Der Mann sieht aus dem Bilde heraus mit ruhigem, seelen-
vollem Blick, aber ohne aufdringliches Sentimento. Es ist der vornehm
geborene Hofmann, den Raffael hier zu malen hatte, die Verkörperung
des vollkommenen Kavaliers, wie ihn Castiglione selbst in seinem Büch-
lein vom „Cortigiano" gefordert hat. Die modestia ist der Grund-
zug seines Charakters. Ohne vornehme Pose kennzeichnet sich der
Adelige durch das anspruchslose, zurückhaltende, stille Wesen. Was das
Bild reich macht, ist die Drehung der Figur — nach dem Schema der
Mona Lisa —
und das in prächtig grossen Motiven disponierte Kostüm.
Und wie grandios die Silhuette sich entwickelt! Nimmt man dann etwa
das männliche Porträt Peruginos (Uffizien, s. Abb.)
ein älteres Bild, wie
zur Vergleichung heran, so wird man auch entdecken, dass die Figur ein
ganz neues Verhältnis zum Raum bekommen hat und wird die Wirkung
der räumlichen Weite, der grossen stillen Hintergrundsflächen im Sinne
der mächtigen Erscheinung empfinden lernen. Die I lande beginnen
hier schon zu verschwinden. Es scheint, dass man beim Brustbild die
Konkurrenz dieser Teile für den Kopf fürchtete; wo sie eine bedeutendere
Rolle spielen sollen, geht man zum Format des Kniestücks über. Der
Grund ist hier ein neutrales Grau mit Schatten. Auch dfe Kleidung ist

grau (und schwarz), so dass die Karnation der einzige warme Ton bleibt.
Das Weiss (des Hemdes) haben auch Koloristen wie Andrea del Sarto
oder Tizian gern in diesen Zusammenhang aufgenommen.
RAFFAEL. DIE RÖMISCHEN PORTRÄTS 121

Perugino. Francesco dell' Opera

Ihren höchsten Grad hat Abklärung der Zeichnung vielleicht


die
erreicht in dem Kardinalsporträt von Madrid (s. Abb. S. 123). In
was für einfachen Linien das Ganze sich hier darstellt, gross und still wie
eine Architektur! Es ist der Typus des vornehmen italienischen Prälaten
und man stellt sich diese Gestalt gern aufgerichtet vor, lautlos hin-
schreitend durch hohe gewölbte Gänge. ^)

') Der Abbildung zu Liebe sei hier noch das ausführliche Urteil eines modernen

Malers hergesetzt. Israels (Spanien, Berlin 1900) sagt von diesem ,, modernen Meister-
werk": ,, Keine Farbenschönheit, keine Kunstfertigkeit, nur der Gedanke, die Seele, der
Charakter des Mannes trifft, fesselt und verführt uns. Eine seltene Sparsamkeit mit
Licht und Farben, es ist der Triumph des Formenadels. Es ist eine hohe Gestalt; das
Gesicht spricht von Enthaltung und Frieden. Die Augen sind tief und durchdringend,
und die fahle Blässe der magern Wange kennzeichnet den Mann des Klosters und der
Kirche. Die fein gebogene Nase verrät die adelige italienische Abstammung und die
122 DIE KLASSISCHE KUNST

Die zwei venezianischen Litteraten Navagero und Beazzano


(in der Galerie Doria) sind als Originale Raffaels nicht ganz gesichert,
doch sind es immerhin Prachtexemplare des neuen Stiles und ganz gesättigt
mit charakteristischem Leben. Bei Navagero die energische Vertikale,
der Kopf mit jäher Drehung über die Schulter blickend, auf dem Stier-
nacken ein breites Licht und im übrigen überall die Kraft des knochigen
Gefüges betont, alles hinarbeitend auf den Eindruck des Aktiven, und
im Gegensatz dazu Beazzano, die weibliche geniessende Natur mit weicher
Kopfneigung und milder Lichtführung.
Man hat früher auch den Violinspieler (ehemals Sciarra, Rom;
jetzt Alphons Rothschild, Paris) dem Raffael gegeben, während er jetzt

wohl allgemein als Sebastiano gilt. Der höchst anziehende Kopf mit
dem fragenden Blick und dem entschlossenen Munde, der von einem
Lebensschicksal redet, ist als cinquecentistisches Künstlerporträt schon im
Vergleich mit Raffaels jugendlichem Selbstbildnis merkwürdig. Es handelt
sich hier nicht nur um Unterschiede des Modells, sondern um Unter-
schiede der Auffassung, um die neue Zurückhaltung im Ausdruck und
die unglaubliche Kraft und Sicherheit der Wirkung. Den Kopf im Bilde
seitlich zu schieben, hat schon Raffael versucht, Sebastiano geht darin
noch Auch bei
weiter. ihm
ist eine leise Neigung angegeben, aber
fast
unmerklich. Dazu die einfache Lichtdisposition, die eine Seite ganz
dunkel; die Formen sehr energisch accentuiert. Und dann der grosse
Kontrast in der Wendung: das Blicken über die Schulter. Der vordere
Arm ist dabei soweit aufgenommen, dass auch die Steillinie des Kopfes
eine entschiedene Gegenrichtung findet.
Weibliche Bildnisse hat Raffael wenig gemalt und vor allem hat
er die Neugier der Nachwelt unbefriedigt gelassen, wie seine Fornarina
ausgesehen habe. Früher hat man auch hier bei Sebastiano Anleihen
gemacht und beliebige schöne Frauen auf Raffael getauft und als seine
Geliebte in Anspruch genommen, wie es der jungen Venezianerin in der
Tribuna und der sog. Dorothea aus Blenheim (Berlin) gegangen ist:
neuerdings sucht man sich wenigstens insofern schadlos zu halten, als
man die Donna Velata (Pitti), die als gesicherter Raffael gilt, nicht nur
für das Modell zur Sixtinischen Madonna, sondern auch für das ideali-

leicht aufeinander gepressten Lippen den Mann der Überlegung und Sanftmut.
Dieses eine Porträt entiiält mehr Poesie als manches dort (im Prado) hängende Ge-
mälde von Heiligen und Engehi." Die Benennung ist noch immer IragUch. Auch der
Vorschlag von Müntz (archivio storico dell'arte 18^0) leuchtet mir nicht ein. Ent-
schieden unrichtig ist, was der Cicerone (wohl im Vertrauen auf Passavants Urteil)
sagt, dass der Kardinal Bibbiena im Pal. Pitti eine „schadhafte Kopie" nach dem Madri-
der Kardinalporträt sei. Die zwei Bilder stehen ausser aller Beziehung zueinander.
RAFFAEL
EIN KARDINAL
124 DIE KLASSISCHE KUNST

Scbastiano del I'iombo. Der Violinspieler

sierte Porträt eben der gesuchten Fornarhui erklärt. Die erstere Beziehung
ist offenbar, die zweite hat wenigstens eine alte Tradition für sich.
Die „Fornarina" der Tribuna von 1512 ist eine etwas gleichgültige
venezianische Schönheit und wird jedenfalls weit übertroffen von der
Berliner Dorothea, die später entstanden, schon ganz die vornehm
gelassene Art, den grossen Rhythmus und die geräumige Bewegung
der Hochrenaissance besitzt. Man denkt unwillkürlich an die schöne
Frau Andrea del Sartos in der Mariengeburt von 1514. Im Gegensatz
zu diesen höchst genussfähigen Wesen Sebastianos giebt Raffael in seiner
D n n a V e 1 a t a die hehre Weiblichkeit. Die Haltung majestätisch auf-
recht; das Kostüm reich, aber beruhigt durch das feierlich zusammen-
fassende, einfache Kopftuch; der Blick nicht suchend, sondern fest und
SEßASTIANO DEL PIOMBO
WEIBLICHES BILDNIS (DOROTHEA)
126 DIE KLASSISCHE KUNST

klar. Auf dem neutralen Grunde ge-


winnt das Fleisch eine grosse Wärme
und leuchtet selbst siegreich über
den weissen Atlas. Vergleicht man
damit ein früheres Frauenbild wie die
Maddalena Doni, so wird die grosse
Formauffassung dieses Stils, die
Sicherheit im Zusammenschliessen
der Wirkungen ohne weiteres klar
werden. Es liegt hier aber über-
haupt eine Vorstellung von mensch-
licher Würde zu Grunde, die der
junge Raffael noch nicht kannte.
Die Donna Velata hat mit der
Dorothea eine auffallende Ähnlich-

Raffael. Donna Velata keit in der Anordnung, so dass man


immer wieder auf den Gedanken
kommt, es möchten die beiden Bilder in einer Art von Konkurrenz
entstanden sein. Als drittes Stück möchte man dann gerne noch die
Bella aus der ehemaligen Sammlung Sciarra (jetzt bei A. Rothschild,
Paris) heranrufen, die sicher ein junger Tizian ist ^) und ebenfalls in
dieser Zeit entstanden sein muss. Es wäre ein merkwürdiges Schauspiel,
die neugeborene Schönheit des Cinquecento in drei so ganz verschiedenen
Entfaltungen nebeneinander zu sehen.
Indessen eilen wir, von diesem Vorbild der Sixtinischen Madonna
zum Bilde selbst zu kommen. Der Weg führt über einige Vorstufen
und unter den römischen Altarbildern hat die heilige Cäcilia das Recht,
zuerst genannt zu werden.

7. Römische Altarbilder
DieCäcilie (Bologna, Pinakothek). Die Heilige ist mit vier anderen
zusammengeordnet, mit Paulus und Magdalena, einem Bischof (Augustin)
und dem Evangelisten Johannes, nicht als eine bevorzugte, sondern wie
eine Schwester. Es stehen alle. Sie hat ihre Orgel fallen lassen und
lauscht dem Engelgesang, der über ihren Häupten hörbar wird. Un-
') Sie gilt jetzt allgemein als Palma, aber die Übereinstimmung mit der sog.

Maitresse de Titien im Salon Carre des Loiivre ist evident, so dass es angezeigt
wäre, den alten Namen wieder aufzunehmen.
RAFFAEL. RÖMISCHE ALTARBILDER 127

verkennbar tönen in dieser gefühlvollen Figur umbrische Weisen fort.

Und wenn man Perugino vergleicht, so erstaunt man über Raffaels


doch,
Zurückhaltung. Das Absetzen des Spielfusses und das Zurücklehnen des
Kopfes, es ist anders, einfacher als Perugino es gegeben hätte. Es ist

nicht mehr der Sehnsuchtskopf mit geöffneten Lippen, jenes Sentimento,


in dem Raffael selbst noch in der Catharina von London geschwelgt
hatte: Der männliche Künstler giebt weniger, aber er macht das Wenige
intensiver wirksam durch Kontraste. Er berechnet Bildwirkungen, die
Dauer haben. Die ausladende Schwärmerei eines Einzelkopfes verleidet.
Was dem Bild Frische giebt, ist der zurückgehaltene Ausdruck, der
immer noch eine Steigerung offen und der Kontrast von anders
lässt,

gestimmten Figuren, in diesem Sinne sind Paulus und Magdalena zu


fassen, Paulus männlich, gesammelt, vor sich hinblickend, Magdalena ganz
gleichgültig im Ausdruck, die neutrale Folie. Die zwei übrigen sind
ausser Spiel gesetzt, sie flüstern unter sich.
Man thut dem Künstler keinen Dienst, wenn man die Hauptfigur
allein herausnimmt, wie das von modernen Kupferstechern geschehen
ist. Der Gefühlston verlangt eine Ergänzung, so gut wie die Linie der
Kopfhaltung nach einem Widerpart ruft. Zu dem Aufwärts der Cäcilie
gehört das Abwärts des Paulus und die unbeteiligte Magdalena giebt
dazu die reine Vertikale, an der die Abweichungen vom Lot gemessen
werden können.
Die weitere Durchführung der Kontrastkomposition in Stellung und
Ansicht der Figuren soll hier nicht weiter verfolgt werden. Raffael ist

noch bescheiden, ein Späterer würde überhaupt nicht mehr fünf Steh-
figuren ohne einen stärkeren Bewegungsgegensatz zusammengestellt haben.
Der zugehörige Stich des Marc Anton (B. 116) ist kompositioneil
eine interessante Variante. Will man Raffael als Autor annehmen — und
man darf wohl nicht anders —
so muss es ein früherer Entwurf sein,
,

denn die Ökonomie ist noch mangelhaft. Gerade das, was das Gemälde
interessant macht, fehlt. Auch Magdalena blickt hier gefühlvoll aufwärts
und macht so der Hauptfigur Konkurrenz, und die zwei zurückstehenden
Heiligen drängen sich lauter vor. In der Bildredaktion hat sich erst
vollzogen, was überall das Merkmal des Fortschrittes ist: Subordination
statt Coordination, Auswahl der Motive, dass jedes nur einmal vorkommt,
dann aber an seiner Stelle einen integrierenden Bestandteil der Kompo-
sition ausmacht.
Die Madonna vonFoligno( Rom, Vatikan) muss in der Ent-
stehungszeit der Cäcilie nahe stehen, sie wird um 1512 gemalt sein. Es
ist das Thema der Madonna in der Glorie, ein altes Motiv, allein ge-
wissermassen doch neu, da das Quattrocento sich nur selten darauf ein-
:

128 DIE KLASSISCHE KUNST

gelassen hat. Das kirch-


lich unbefangene Jahr-
hundert hat die Madonna
lieber auf einen festen
Thronstuhl gesetzt als in
die Luft gehoben, wäh-
rend eine veränderte Ge-
sinnung, die die nahe
Berührung des Irdischen
und Himmlischen ver-
meiden will, im 16. und
17. Jahrhundert dieses
ideale Schema des Altar-
bildes bevorzugt. Zur
Vergleichung bietet sich
indessen gerade noch
aus dem Ausgang des
Quattrocento ein Bild an
Ghirlandajos Madonna in
Ohirlandajo. Madonna in der Glorie der Glorie in München,
das einstige Hochaltar-
bild von M. Novella. Auch da sind es vier Männer, die unten auf
S.

der Erde stehen, und schon Ghirlandajo hatte das Bedürfnis, die Beweg-
ung zu differenzieren; zwei davon knien wie bei Raffael auch. Der
überbietet nun freilich den Vorgänger sofort durch die Vielseitigkeit und
Tiefe der leiblich-geistigen Kontraste in einer Weise, die die Vergleich-
barkeit aufhebt, und zugleich giebt er das andere dazu: die Bindung der
Kontraste. Die Figuren sollen auch geistig zu einer einheitlichen Hand-
lung zusammengreifen, während das ältere Altarbild an dem beziehungs-
losen Herumstehen der Heiligen nie Anstoss genommen hatte. Der eine
der Knieenden ist der Stifter, ein ungewöhnlich hässlicher Kopf, aber die
Hässlichkeit überwunden durch den grandiosen Ernst der Behandlung.
ist

Er betet. Sein Patron, der heilige Hicronymus, legt ihm die Hand an
das Haupt und empfiehlt ihn. Das rituelle Beten erhält den schönsten
Gegensatz in der glühend emporblickenden Figur eines Franziskus gegen-
über, der, mit einer hinausdeutenden Handbewegung die ganze gläubige
Gemeinde in seine Fürbitte einschliessend, zeigen soll, wie Heilige beten.
Und sein Aufwärts wird dann aufgenommen und kräffig weitergeführt
von dem emporweisenden Johannes hinter ihm.
Die Glorie der Madonna ist malerisch aufgelöst, noch nicht voll-
kommen, die alte starre Scheibe besteht wenigstens noch teilweise als
RAFFAEL. RÖMISCHE ALTARBILDER 129

Hintergrund, aber rings-


herum quellen schon
Wolken und die Putten
der Begleitung, denen das
Quattrocento höchstens
ein kleines Wolkenfetz-
chen oder Wolkenbänk-
chen für einen Fuss zu-
gestehen wollte, können
sich jetzt tummeln in

ihrem Elemente wie der


Fisch im Wasser.
In dem Sitzen der
Madonna trägt RaKael
ein besonders schönes
und reiches Motiv vor.
Es ist schon früher ge-
sagt worden, dass er
hier nicht Erfinder ist:

Wie die Füsse differen-


ziert sind, der Ober-
körper sich dreht und
der Kopf sich neigt, geht
Raffael. Madonna von Foligno
zurück auf die Madonna
Lionardos in der Anbet-
ung der Könige. Der Christusknabe ist sehr preziös in der Wendung,
aber es ist allerliebst gedacht, dass er nicht auf den betenden Stifter
heruntersieht wie die Mutter, sondern auf das Bübchen, das zwischen
den Männern unten in der Mitte steht und seinerseits ebenfalls hinaufblickt.
Was soll dieser nackte Knabe da mit seinem Täfelchen? Man wird
sagen, dass es in jedem Falle erwünscht sei, unter all den schweren
ernsten Männertypen einige kindliche Harmlosigkeit zu finden. Der
Knabe ist aber auch ausserdem unentbehrlich als formales Bindeglied.
Das Bild hat hier ein Loch. Ghirlandajo machte sich nichts daraus. Der
cinquecentistische Stil verlangt aber Fühlung der Massen untereinander
und es gehört hier im besonderen etwas Horizontales hinein. Raffael
darf der Forderung begegnen mit einem Knabenengel, der ein (unbe-
schriebenes) Täfelchen hält. Das ist der Idealismus der grossen Kunst.
Raffael wirkt weiter und doch massiger alsGhirlandajo. Die Madonna
ist so weit heruntergenommen, dass ihr Fuss bis in die Schulterhöhe der
Stehfiguren kommt. Andererseits schliessen die unteren Figuren fest an
Wölfflin, Die klassische Kunst
130 DIE KLASSISCHE KUNST

den Rand an: der Blick soll


nicht noch einmal hinter
ihrem Rücken in die Land-
schaft hinausgeführt werden,
wodurch eben die älteren
Bilder etwas Lockeres und
Dünnes bekommen haben. ^)
Die Madonna mit
dem Fisch (Madrid,
Prado). In dieser Madonna
del Pesce haben wir Raffaels
römische Redaktion des The-
mas der Maria „in trono".
Verlangt war eine Maria mit
zwei Begleitfiguren, dem hei-
ligen Hieronymus und dem
Erzengel Raphael. Dem
letzteren pflegte als unter-
scheidendes Attribut der
Tobiasknabe mit dem Fisch

Raffael. Die Madonna mit dem Fisch


in der Hand beigegeben zu
werden. Während dieser
Knabe nun sonst verloren
beiseite steht und nur als Störung empfunden wird, ist er hier zum

Mittelpunkt einer Handlung gemacht und das alte repräsentative Gnaden-


bild ist ganz in eine „Geschichte" umgesetzt: der Engel bringt
Tobias der Madonna. Man braucht darin keine besondere Anspiel-
ung zu suchen, es ist die Konsequenz der Raffaelschcn Kunst, alles
in lebendige Beziehung aufzulösen. Hieronymus kniet auf der anderen
Seite des Thrones und sieht vom Lesen einen Augenblick auf und hin-
über auf die Gruppe des Engels. Der Christusknabe scheint ihm vorher
zugewendet gewesen zu sein, nun hat er sich den neu Ankommenden
zugedreht, kindlich ihnen cntgegenlangcnd, während die andere Hand
noch im Buch des Alten liegt. Maria, sehr streng und vornehm,
blickt auf Tobias herab, ohne den Kopf zu neigen. Sie giebt die reine
Vertikale in der Komposition. Der zögernd sich nahende Knabe und

') Die Landschaft ist schon von Crowc und Cavalcaselle als'ferraresisch in der
Mache erkannt worden (Dnsso Dossi). auch die vielberufene Kugel-
Vielleicht ist

erscheinung im Hintergrunde nur einer von den bekannten ferraresichen 1 euerwerks-


witzen, dem keine weitere Bedeutung beizulegen ist. Selbstverständlich gehören auch
die ausführlich behandelten Grabsbüschel im Vordergrunde dieser zweiten Hand.
RAFFAEL. RÖMISCHE ALTARBILDER 131

der hinreissend schöne Engel, von wahrhaft lionardeskem Schmelz,


geben zusammen eine Gruppe, die einzig ist auf der Welt. Das Auf-
wärtsblicken des fürbittenden Empfehlens wird wesentlich verstärkt durch
die in gleicher Linie laufende Diagonale des grünen Vorhangs, der, vom
hellen Himmel scharf sich abhebend, den einzigen Schmuck in dieser
höchst vereinfachten bildet. Der Thron ist von perugi-
Komposition
nischer Schlichtheit des Baues. Der Reichtum kommt dem Bilde einzig
durch das Ineinandergreifen aller Bewegung und das nahe Beisammen-
sein der Figuren. Wie Frizzoni neuerdings bestätigt, ist die Ausführung
nicht original, indessen die vollendete Geschlossenheit der Komposition
lässt keinen Zweifel zu, dass Raffael bis ans Ende dem Werke zur Seite
gestanden hat.
Die Sixtinische Madonna (Dresden). Nicht mehr sitzend
auf Wolken, wie in der Madonna di Foligno, sondern hoch aufgerichtet,
über Wolken hinwandelnd, als eine Erscheinung, die nur für Augenblicke
sichtbar ist, hat Raffael in dem Bilde für die Karthäuser von Piacenza
die Madonna gemalt, zusammen mit Barbara und Papst Sixtus IL, nach
dem sie eben die Sixtinische genannt wird. Da dieVorzüge dieser Kom-
position schon von so vielen Seiten her erörtert worden sind, mögen hier
nur einige Punkte zur Sprache gebracht werden.
Das direkte Herauskommen aus dem Bilde, das Losgehen auf den
Beschauer muss immer mit einem unangenehmen Eindruck verbunden
sein. Es giebt zwar moderne Gemälde, die diese brutale Wirkung
suchen. Raffael hat mit allen Mitteln dahin gearbeitet, die Bewegung
zu sistieren, sie in bestimmten Schranken zu halten. Es ist nicht schwer,
zu erkennen, welches diese Mittel gewesen sind.
Das Bewegungsmotiv ist ein wunderbar leichtes, schwebendes
Gehen. Die Analyse der besonderen Gleichgewichtsverhältnisse in diesem
Körper und der Linienführung in dem weit geblähten Mantel und dem
rückwärtsrauschenden Gewandende werden das Wunder immer nur zum
ist von Wichtigkeit, dass die Heiligen rechts und links
Teil erklären, es
nicht auf den Wolken knien, sondern einsinken und dass die Füsse der
Wandelnden im Dunkel bleiben, während das Licht nur das Gewoge
des weissen Wolkenbodens bescheint, was den Eindruck des Getragen-
werdens verstärkt.
In allem ist es so gehalten, dass die Zentralfigur gar nichts Gleich-
artiges, sondern lauter günstige Kontraste findet. Sie allein steht, die
anderen knien, und zwar auf tieferem Plan;^) sie allein erscheint in

') Es ist dazu zu vergleichen die Anordnung Albertinellis auf seinem Bilde
von 1506 im Louvre, in jeder Beziehung eine lehrreiche Parallele zu Sixtina (s. die
Abbildung).
9'
132 DIE KLASSISCHE KUNST

voller Breitansicht, in reiner


Vertikale, als ganz einfache
Masse, mit vollständiger
Silhuettegegen den hellen
Grund, die anderen sind an
die Wand gebunden, sind
vielteilig im Kostüm und
zerstückt als Masse und
haben keinen Halt in sich
selber, sondern existieren
nur in Bezug auf die Ge-
stalt der Mittelachse, der die
Erscheinung der grössten
Klarheit und Macht vorbe-
halten ist. Sie giebt die
Norm, die anderen die Ab-
weicliungen, aber so, dass
Albertinelli. Madonna mit zwei knienden Heiligen auch diese nach einem ge-
heimen Gesetz geregelt er-
scheinen. Offenkundig ist die Ergänzung der Richtungen: dass dem Auf-
wärts des Papstes ein Abwärts bei der Barbara entsprechen muss, dem
Auswärtsweisen dort, ein Einwärtsgreifen hier. ') Nichts ist in diesem
Bilde dem Zufall überlassen. Der Papst sieht zur Madonna empor, die
Barbara auf die Kinder am Rand herab und so ist auch dafür gesorgt,
dass der Blick des Beschauers sofort in sichere Geleise geführt wird.
Wie merkwürdig nun bei Maria, der eine fast architektonische Kraft
der Erscheinung zugeleitet Spur von Befangenheit im Ausdruck
ist, jene
wirkt, braucht nicht gesagt Sie ist nur die Trägerin, der
zu werden.
Gott ist das Kind auf ihren Armen. Es wird getragen, nicht weil es
nicht gehen könnte, sondern wie ein Prinz. Sein Körper geht über
menschliches Mass und die Art des Liegens hat etwas Heroisches. Der
Knabe segnet nicht, aber er sieht die Leute vor ihm an mit einem über-
kindlichen, festen Blick. Er fixiert, was Kinder nicht thun. Die Haare
sind wirr und gesträubt, wie bei einem Propheten.
Zwei Engelkinder am untern Rande geben dem Wunderbaren die
Folie der gewöhnlichen Natur. Hat man bemerkt, dass der grössere nur
einen Flügel hat? Raffael scheute die Überschneidung, er wollte nicht zu
massig da unten schliessen. Die Licenz geht mit andern des klassischen
Stiles zusammen.
') Eine Vorstufe repräsentieren die zwei weiblichen Heiligen auf Fra Barto-
lonnneos Qottvater-Bilde von 1 509 in Lucca.
RAFFAEL. RÖMISCHE ALTARBILDER 133

Das Bild muss hoch


hängen, die Madonna soll

herabkommen. Stellt man


es tief, so verliert es die
besteWirkung. Die Ein-
rahmung, die man ihm
in Dresden gegeben hat,
möchte etwas zu schwer
ausgefallen sein : ohne die
grossen Pilaster würden
die Figuren viel bedeuten-
der aussehen. ^)

Die Transfigu-
ration (Vatikan). Das
Bild der Transfiguration
stehtuns vor Augen als die
Doppelszene der Verklär-
ung oben und der Vor-
führung des besessenen
Knaben unten. Bekannt-
lich ist diese Verbindung
keine normale. Sie ist

nur einmal von Raffael


Raffael. Die Sixtinische Madonna
gewählt worden. Er hat
damit sein letztes Wort
über den grossen Stil in der erzählenden Malerei uns hinterlassen.
Die Verklärungsszene ist immer ein heikles Thema gewesen. Drei
Männer aufrecht nebeneinander, und drei andere halbliegend zu ihren
Füssen. Mit allem Reiz der Farbe und des Details kann ein so ehrlich

') Die SixtinischeMadonna ist bekanntlich mehrfach und gut gestochen worden.
Zuerst von F. Müller (1815) in einem vielbewunderten Hauptwerk aller Stecherei, dem
manche noch heute unter sämtlichen Nachbildungen die Palme reichen. Der Ausdruck
der Köpfe kommt dem Original sehr nahe und das Blatt besitzt einen unvergleichlich
schönen, weichen Glanz. (Kopie darnach von Nordheim.) Dann hat Steinia die Auf-
gabe angefasst (1848). Er ist der erste, der den richtigen oberen Abschluss des Bildes
giebt (die Vorhangstange). Bei einzelnen Verbesserungen im Detail hat er aber doch
die Vorzüge F. Müllers nicht erreicht. Wenn sich diesem überhaupt ein Stich vergleichen
lässt, so ist es der von J. Keller (1 871 ). Höchst discret in den Mitteln gelingt es ihm,
das Flimmernde der visionären Erscheinung überzeugend wiederzugeben. Spätere
mochten finden, es habe die Formbestimmtheit des Originals dabei zu sehr verloren,
und so machte sich Mandel ans Werk und versuchte mit gewaltiger Anstrengung die
ausdrucksvolle Zeichnung Raffaels zu gewinnen. Er hat aus dem Bild eine unerwartete
134 DIE KLASSISCHE KUNST

Giovanni liellini. Transfiguration

gemeintes Bild wie das Bellinis in Neapel (s. Abb.) uns über die Ver-
legenheit nicht hinwegtäuschen, die der Künstler selber empfand, als er
dem leuchtenden Verklärten mit seinen Begleitern noch die drei Menschen-
häuflein der geblendeten Jünger vor die Füsse legen musste. Nun gab
es aber ein älteres, ideales Schema, demgemäss Christus gar nicht auf
dem Boden zu stehen brauchte, sondern in einer Glorie über die Erde
erhoben dargestellt wurde. So hatte auch Perugino im Cambio zu
Perugia die Szene gemalt. Offenbar war damit formal schon viel ge-
wonnen, für Raffael aber konnte es von vornherein keine Frage sein,

welchen Typus er wählen sollte: die erhöhte Empfindung verlangte


nach dem Wunderbaren. Den Gestus der ausgebreiteten Arme fand er vor,

aber das Schweben und den Ausdruck der Beseeligung hat er nirgends

Fülle von Foriiiinhalt herausgezogen, allein der Zauber des Ganzen hat darunter
gelitten, und stellenweise ist er aus lauter Gewissenhaftigkeit hässlicli geworden.
Statt der duftigen Wolken giebt er ein verschmiertes Regengewölk. Kohl seh ein
endlich nahm neuerdings nochmals einen anderen Ausgang: er forciert die Licht-
erscheinung und setzt an Stelle des Flimmernden das Flackernde, wodurch er sich
von der Wirkung, die Raffael beabsichtigte, willkürlich entfernt.
RAFFAEL. RÖMISCHE ALTARBILDER 135

R,-\ffael. Trnnsfiguratioii (oberer Teil)

hernehmen können. Angezogen von der Flugbewegung Christi folgen


nun auch Moses und Elias, ihm zugekehrt und von ihm abhängig. Er ist
die Quelle der Kraft und das Zentrum des Lichtes. Die anderen kommen
nur an den Rand der Helle, die den Herrn umgiebt. Die Jünger
unten daran schliessen den Kreis. Raffael hat sie im Massstab viel kleiner
gebildet, um sie so ganz mit dem Boden zusammenbinden zu können.
Es sind keine zerstreuenden, eigenherrlichen Einzelexistenzen mehr, son-
dern sie erscheinen als notwendig in dem Kreise, den der Verklärte um
sich gebildet hat und erst durch den Gegensatz des Befangenen gewinnt
die Schwebefigur den ganzen Eindruck von Freiheit und Entlassen-
heit. Wenn Raffael der Welt nichts anderes hinterlassen hätte als diese
Gruppe, so wäre es ein vollkommenes Denkmal der Kunst, wie er sie
verstand.
Wie völlig ist das Gefühl für Mass und Ökonomie schon abge-
stumpft bei den bolognesischen Akademikern, die die Traditionen der
klassischen Zeit fortführen wollten. Christus aus den Lüften herab auf
die Jünger einredend, eingeklemmt zwischen die gespreizten Sitzfiguren
des Moses und Elias, und die Jünger unten in herkulischer Grösse, mit
136 DIE KLASSISCHE KUNST

gemeiner Übertreibung in Gebärde


und Stellung, das ist das Bild Ludo-
vico Carraccis in der Pinakothek von
Bologna (s. die Abbildung).
Aber nun wollte Raffael mit der
Verklärungsgruppe nicht schliessen,
er verlangtenach einem Kontrast, nach
einem starken Widerspiel und er fand
es in der Geschichte mit dem be-
sessenen Knaben, die das Matthäus-
evangelium in unmittelbarem An-
schluss an die Transfiguration vor-
bringt. Es ist die konsequente Ent-
wicklung der Kompositionsprinzipien,
die Raffael im Heliodorzimmer ange-
wendet hatte. Oben das Stille, das
Feierliche, die himmlische Beseelig-
ung, unten das laute Gedränge, der
irdische Jammer.
Dicht zusammengedrängt stehen
die Apostel da; wirre Gruppen,
L. Carracci. Transfiguration (nacli Stich) schrille Linienbewegungen ; das Haupt-
motiv einer diagonalen Gasse, die
durch die Menge durchgebrochen ist. Die Figuren sind hier im Mass-
stab viel beträchtlicher als die oberen, aber es ist keine Gefahr, dass
sie die Verklärungsszene erdrücken könnten: das klare geometrische
Schema triumphiert über alles Lärmen der Masse.
Raffael hat das Bild unvollendet hinterlassen : vieles Einzelne ist un-
erträglich in Ganze widrig in der Farbe, aber die
der Form, und das
grosse Kontrastökonomie muss sein originaler Gedanke gewesen sein.
In Venedig war zur selben Zeit Tizians Assunta entstanden (1518).
Hier ist die Rechnung anders, aber prinzipiell doch verwandt. Die
Apostel unten bilden für sich eine geschlossene Mauer, wo der Einzelne
nichts bedeutet, eine Art Sockelgeschoss und darüber steht Maria, in

einem grossen Kreise, dessen oberer Umriss mit dem halbrundschliessen-


den Bildrahmen zusammenfällt. Man kann fragen, warum nicht auch
Raffael den halbrunden Abschluss gewählt habe? Vielleicht fürchtete er
für Christus ein allzustarkes Indiehöhegehcn.
Die Schülerhände, die die Transfiguration vollendeten, haben noch
an andern Orten unter dem Namen des Meisters ihr Handwerk geübt.
Erst in neuester Zeit hat man Raffael aus dieser Verbindung herauszu-
RAFFAEL. RÖMISCHE ALTARBILDER 137

lösen versucht. Schreiend in der Farbe, unedel in der Auffassung, un-


wahr in der Gebärde und überall masslos, gehören die Produkte der
Werkstatt Raffaels — dem grösseren Teile nach — zum Unangenehmsten,
was je gemalt wurde.
Man begreift den Grimm Sebastianos, dass ihm durch solche Leute
in Rom der Weg versperrt sein sollte. S e b a s t i a n o ist zeitlebens ein
gehässiger Nebenbuhler Raffaels gewesen, allein sein Talent gab ihm das
Recht, auf die erstenAufgaben Anspruch zu machen. Einige venezianische
Befangenheiten ist er nie ganz los geworden. Mitten im monumentalen
Rom hält er noch fest an dem Schema des Halbfigurenbildes und zu
einer vollkommenen Herrschaft über den Körper mag er nicht gekommen
sein. Es fehlt ihm auch das höhere Raumgefühl, er verwirrt sich leicht
und wirkt dann eng und unklar. Allein er besitzt eine wahrhaft grosse
Auffassung. Als Bildnismaler steht er in der allerersten Linie und in
den historischen Bildern erreicht er hie und da einen so gewaltigen Aus-
druck, dass man ihn nur mit Michelangelo vergleichen kann. Freilich
weiss man nicht, wie viel er von dieser Seite empfangen hat. Seine
Geisselung in S. Pietro in Montorio in Rom und die Pietä in Viterbo
gehören zu den grossartigsten Schöpfungen der goldenen Zeit. Die
Auferweckung des Lazarus, wo er mit Raffaels Transfiguration konkur-
rieren wollte, würde ich nicht ebenso hoch stellen: Sebastiano ist besser
bei wenigen Figuren als bei der Darstellung der Menge und das Halb-
figurenbild möchte überhaupt der Boden gewesen sein, wo er sich am
sichersten gefühlt hat. In der „Heimsuchung" des Louvre kommt seine
ganze vornehme Art zum Ausdruck ^) und das Raffaelsche Schulbild der
Visitation im Prado sieht trotz seiner grossen Figuren daneben gewöhn-
lich aus. -) Und auch die Kreuztragung Sebastianos in Madrid (Wieder-
holung in Dresden) möchte im Ausdruck der Hauptfigur dem leidenden
Helden des Spasimo Raffaels (Prado) überlegen sein. ^')
Wenn einer neben den zwei Grossen in Rom als dritter genannt
werden dürfte, so ist er es. Man hat bei Sebastiano den Eindruck, dass

') Abbildung hinten, im Abschnitt „Die neue Gesinnung".


2) Die sehr ärmliche Komposition kann unmöglich auf Raffaels Entwurf zu-
rückgehen. Vgl. Dollmayr (a. a. O. S. 344: von Penni). Auch der Geist in den
Köpfen ist der Art, dass die hohe Wertschätzung J. Burckhardts (Beiträge S. 110)
mir unbegreiflich bleibt.
^) Dieses berühmte Bild ist nicht nur in der Ausführung nicht von Raffael, son-

dern es muss auch die Redaktion überhaupt in fremden Händen gelegen haben. Das
Hauptmotiv des über die Schulter umblickenden Christus ist ergreifend und jedenfalls
echt wie die Entwicklung des Zuges im grossen, allein daneben finden sich Schwächen
der Zeichnung und Gruppierung und wüste Unklarheiten, die eine persönliche Be-
teiligung des Meisters an der Gesamtkomposition als ausgeschlossen erscheinen lassen.
138 DIE KLASSISCHE KUNST

eine Persönlichkeit, die zum Höchsten bestimmt gewesen wäre, sich nicht
voll ausgewirkt hat; dass er aus seinem Talent nicht das gemacht hat,
was er daraus hätte machen können. Es fehlt ihm die heilige Begeister-
ung für die Arbeit und darin ist er der Gegensatz zu Raffael, als dessen
wesentliche Eigenschaft Michelangelo gerade den Fleiss gerühmt hat.
Was er damit meinte, ist offenbar jene Fähigkeit, aus jeder neuen Aufgabe
neue Kraft zu gewinnen.

Weinlese. Stich des Marc Atiton (Kopie)


V. Fra Bartolommeo
1475 — 1517
In Fra Bartolommeo besitzt die Hochrenaissance den Typus des
mönchischen Malers.
Die grosse Erfahrung seiner Jugend war gewesen, Savonarola zu
hören und ihn sterben zu sehen. Darauf hatte er sich ins Kloster zurück-
gezogen und eine Zeitlang gar nicht gemalt. Es muss ein schwerer
Entschluss gewesen sein, denn mehr als bei anderen fühlt man
bei ihm
das Bedürfnis, in Bildern zu reden. Er hatte nicht vieles zu sagen, aber
der Gedanke, der ihn belebte, war ein grosser Gedanke. Der Jünger
Savonarolas trug in sich ein Ideal des Einfach-Mächtigen, mit dessen
Wucht er den weltlichen Tand und die kleine Zierlichkeit der floren-
tinischen Kirchenbilder niederschlagen wollte. Er ist kein Fanatiker,
kein verbissener Asket, er singt jubelnde Triumphlieder. Man muss ihn
sehen in seinen Gnadenbildern, wo um die thronende Madonna die
Heiligen in dichten Schaaren herumstehen. Er spricht da laut und pa-
thetisch. Wuchtige Massen, durch ein strenges Gesetz zusammengehalten,
grandiose Richtungskontraste und ein mächtiger Schwung der Gesamt-
bewegung, das sind seine Elemente. Es ist der Stil, der in den weiten
hallenden Kirchenräumen der Hochrenaissance lebt.
Die Natur hat ihm den Sinn für das Bedeutende gegeben, für die
grosse Gebärde, die feierliche Gewandung, die prächtig wallende Linie,
Was kann an schwungvoller Schönheit
sich seinem Sebastian vergleichen
und wo hat die Gebärde seines Auferstandenen ihresgleichen in Florenz?
Eine starke Sinnlichkeit schützt ihn davor, dass sein Pathos hohl wird.
Seine Evangelisten sind Männer mit einem Stiernacken. Wer steht, steht
unerschütterlich und wer fasst, fasst mit Gewalt. Er fordert das Kolossale
als die normale Grösse und in dem Willen, seinen Bildern die stärkste
plastische Wirkung zu geben, steigert er die Dunkelheit der Schatten
und der Gründe so, dass viele Bilder infolge des unausbleiblichen Nach-
dunkeins heute nur schwer mehr zu geniessen sind.
140 DIE KLASSISCHE KUNST

Die Wirklichkeit und das Individuelle haben ihm nur ein halbes
Interesse abgewonnen. Er ist ein Mann des Ganzen, nicht des Einzelnen.
Das Nackte nur oberflächlich behandelt, weil er auf den Eindruck
ist

des Bewegungs- und Linienmotives im grossen rechnet. Die Charaktere


sind immer bedeutend durch den Ernst der Empfindung, allein auch
kaum über die allgemeinen Züge hinaus. Man erträgt diese
hier geht er
man eben doch von seiner Gebärde fortgerissen wird
Allgemeinheit, weil
und aus dem Rhythmus der Komposition seine Persönlichkeit heraus-
fühlt. Nur in ein paar Fällen hat er sich selbst verloren, wie in den
sitzenden heroischen Prophetenfiguren. Der Eindruck Michelangelos
hat auch ihn momentan verwirrt und wo er mit der Bewegung dieses
Gewaltigen konkurrieren will, da wird er leer und unwahr.
Es ist verständlich, dass unter den älteren Künstlern Perugino ihm
mit seiner Einfachheit am nächsten stehen musste. Bei ihm fand er,was
er suchte,den Verzicht auf das unterhaltende Detail, die stillen Räume,
den gesammelten Ausdruck. Selbst in der schönen Bewegung knüpft
er an diesen an, aber er bringt dazu sein individuelles Gefühl für Kraft
und Masse und geschlossenen Umriss. Perugino erscheint neben ihm
und geziert.
sofort kleinlich
Was dann auf Lionardo zurückgeht von seinem breiten malerischen
Stil, wie weit er zu jener Rechnung mit hell und dunkel im grossen

verholfen hat und zu den reichen Abstufungen, das muss die mono-
grapische Betrachtung erörtern. wird auch von dem Eindruck
Sie
Venedigs, wohin den Frate im Jahre 1508 führte, im einzelnen
eine Reise
Rechenschaft zu geben haben. Er sah dort eine grossflächige Manier
schon in voller Blüte und traf in Bellini eine Empfindung und ein Schön-

heitsgefühl, die ihn wie eine Offenbarung berühren mussten. Wir werden
gelegentlich darauf zurückkommen.

Aus dem J ü n g s t e n G e r c h t (einst S. M. Nuova, jetzt Uffizien),


i

das noch im alten Jahrhundert entstand, ist es nicht leicht, die künftige
Entwicklung Bartolommeos vorauszusagen. Es leidet namentlich die obere
Gruppe, die allein von ihm ausgeführt wurde, an Zerstreutheit; die
Hauptfigur des Heilandes ist viel zu klein und in den Reihen der sitzenden
Heiligen, die in die Tiefe leiten, wirkt die enge Schichtung, das knappe
Nebeneinander der Köpfe noch altertümlich und trocken. Wenn man
sei für Raffaels bisputa ein an-
mit Recht gesagt hat, die Komposition
regendes Vorbild gewesen, so zeigt eine Vergleichung auch sehr gut,
was Raffael eigentlich geleistet und was für Widerstände er überwunden
hat. Die Zerstreuung des Ganzen und das Zurücktreten der Hauptfigur
FRA BARTOLOMMEO 141

sind Schwächen, die genau so in den anfänglichen Entwürfen zur Disputa


vorhanden sind und die erst allmählich beseitigt wurden. Die klare
Entwicklung der sitzenden Heiligen dagegen machte Raffael von Anfang
an keine Schwierigkeit. Er teilte den Geschmack für das Übersichtliche
und das bequeme Nebeneinander mit Perugino, während die Florentiner
alle dem Beschauer zumuten, eng zusammengeschobene Kopfreihen aus-
einanderzuklauben.
Anders schon sich angesprochen von der Erscheinung
fühlt man
d e r Mar i a vor dem
Bernhard (1 506; Florenz, Akademie) das erste
hl. :

Bild, das der Mönch Bartolommeo malte. Es ist kein angenehmes Bild
und die Erhaltung lässt viel zu wünschen übrig, aber ein Bild, das Ein-
druck macht. Die Erscheinung ist in unerwarteter Weise gegeben. Nicht
mehr die feine, scheue Frau Filippinos, die an das Pult des frommen
Mannes herantritt und ihm die Hand aufs Buch legt, sondern die über-
irdische Erscheinung, die herab schwebt, in feierlich wallendem Mantel,
begleitet von einem Chor von Engeln, gedrängt und massenhaft, alle

erfüllt von Andacht und Anbetung. Filippino hatte Mädchen gemalt,


die halb scheu und halb neugierig den Besuch mitmachen; Bartolommeo
will nicht, dass der Beschauer lächle, sondern dass er andächtig werde.
Leider ist die Hässlichkeit seiner Engel gross, so dass die Andacht doch
nicht ganz zustande kommt. Der Heilige empfängt das Wunder mit
frommem Staunen und dieser Eindruck ist so schön gegeben, dass
Filippino daneben gewöhnlich und selbst Perugino in seinem Münchener
Bild gleichgültig aussieht. Das weisse Gewand, schleppend, massig, hat
ebenfalls eine neue Grösse in der Linie und die zwei assistierenden Figuren
sind mit in die Stimmung hineingezogen. Landschaftliche und architek-
tonische Begleitung wirken dagegen noch jugendlich unsicher. Der Raum
im ganzen eng, so dass die Erscheinung drückt.
Drei Jahre später leuchtet die Inspiration, aus der der Bernhard
hervorgegangen, noch einmal mit mächtigen Flammen auf in dem Bilde
Gottvaters mit zwei knienden weiblichen Heiligen (1 509 Lucca, ;

Akademie), wo die in Anbetung hingenommene Katharina von Siena


das alte Motiv in grösserer, leidenschaftlicherer Form wiederholt. Die
Wendung des Kopfes (im verlorenen Profil) und das Vorschieben des
Körpers verstärken dabei den Eindruck im selben Sinne wie die Be-
wegung des emporgeblähten dunkeln Ordenskleides eine höchst wirksame
Umsetzung der inneren Erregung in bewegte äussere Form ist. Die
andere Heilige, Magdalena, bleibt ganz still. Sie hält rituell das Salb-
gefäss vor sich hin und nimmt
Mantelende vor der Brust hoch,
ein
indes der gesenkte Blick auf der Gemeinde ruht. Es ist das eine Kon-
trastökonomie von der gleichen Art, wie sie Raffael nachher in der
142 DIE KLASSISCHE KUNST

Fra Bartolommeo. Erscheinung der Maria vor dem hl. Bernhard

Sixtinischen Madonna wiederholt. Beide Figuren i<nicn, aber nicht auf


dem Erdboden, sondern auf Wolken. Dazu giebt Bartolommeo eine
architektonische Einrahmung mit zwei Pfeilern. Nach der Tiefe geht
der Blick weit hinaus über eine flache, stille Landschaft. Die leise Linie

des Horizontes und der grosse Luftraum machen eine wunderbar feier-

liche Wirkung. Man erinnert sich, ähnlichen Intentionen bei Perugino


begegnet zu mehr noch venezianische Ein-
sein, indessen sind es vielleicht
drücke, die hier nachklingen. Gegenüber der florentinischen zappelnden
Fülle spricht das Bild merkwürdig genug von einer neuen Idealität.
M
Wo Bartolommeo das gewöhnliche a r e n b d m t H e i 1 g e n i i 1 i i

in die Hand nimmt, wie in dem wundervoll gemalten Bilde von 1508 im

Dom von L u c c a, ) da sorgt er wieder ganz im Sinne Peruginos, zu-


'

nächst für die vereinfachte Erscheinung: schlichte Gewänder, stille Gründe


und ein einfacher Würfel als Thronsitz. In der kräftigeren Bewegung,
den völligeren Körpern und dem geschlossenem Umriss geht er über
Perugino hinaus. Seine Linie ist rundlich, wallend und jeder harten

') Der florentiiiischen Kunst hat er liier als Reisegesclienk von Venedig den
laiitenspielenden Putto mitgebracht.
FRA BARTOLOMMEO 143

Begegnung abhold. Wie wohlig fügen sich die Silhuetten der Maria
und des Stephanus zusammen!^) Altertümlich wirkt noch die gleich-
massige Füllung der Fläche, aber mit neuem Gefühl für Masse sind die
stehenden Figuren schon ganz nah an dem Rand gerückt und das Bild
ist von den zwei seitlichen Pfeilern wirklich eingerahmt, während die

Früheren in solchem Fall den Blick zwischen Pfeiler und Rand noch
einmal ins Freie hinauslassen.
Und nun schwillt das Altarbild zu immer mächtigeren Accorden
an und in der Figurenfügung findet Bartolommeo immer schwungvollere
Rhythmen. Er weiss seine Scharen einem grossen, führenden Motiv zu
unterstellen, mächtige Gruppen von hell und dunkel wirken gegeneinander,
bei aller Fülle bleiben die Bilder weit und räumig. Den vollkommensten
Ausdruck hat diese Kunst in der „Vermählung der Katharina" (Pitti) und
in dem Karton der Schutzheiligen von Florenz mit der Anna selbstdritt
(Uffizien) gefunden, beide um 1512 entstanden.
Der Raum in diesen Bildern ist geschlossen. Bartolommeo sucht
den dunkeln Grund. Die Stimmung vertrüge nicht die geöffnete, zer-
streuende Landschaft. Er verlangt die Begleitung einer schweren, ernsten
Architektur. Häufig ist eine grosse, leere, halbrunde Nische das Motiv,
eine Form, deren Wirkung er in Venedig empfunden haben mag. Ihr
Reichtum liegt in dem Wölbungsschatten. Auf Farbigkeit ist ganz Ver-
zicht gethan, wie die Venezianer selbst mit dem 16. Jahrhundert aus dem
Bunten übergegangen sind.
ins Neutraltönige
Um für die Figuren eine bewegte Linie zu gewinnen, baut Barto-
lommeo vom Vordergrund aus ein paar Stufen empor zu dem zweiten
Plan. Es ist das Treppenmotiv, das, von Raffael in der Schule von
Athen im grössten Stil verwendet, auch dem vielfigurigen repräsentierenden
Altarbild unentbehrlich wird.
Dabei ist der Augenpunkt durchgängig tief genommen, so dass die
hinteren Figuren sinken.Es mag ungefähr der für den Beschauer in der
Kirche natürliche Augenpunkt gemeint sein. Die stark accentuierende
Komposition Bartolommeos zieht aus dieser Perspektive einen besonderen
Vorteil. Die Hebungen und die Senkungen des rhythmischen Themas
kommen sehr markiert heraus. In allem Reichtum wirkt Bartolommeo
nie beunruhigend oder verwirrend, er baut seine Bilder nach einem
klaren Gesetz und die eigentlichen Träger der Komposition springen
sofort ins Auge.

') Gefühllose Stecher wie Jesi haben aus willkürlicher Verschönerungssucht


die Madonna höher hinaufgeschoben, wodurch das ganze Lineament aus der Har-
monie kommt. Nach dem Stich ist auch der Holzschnitt in Wollmann-Wörmanns
,, Malerei" hergestellt. Ein Beispiel für viele.
144 DIE KLASSISCHE KUNST

In dieser „Vermählung
der Katharin a^'^) ist die
rechte Eckfigur ein besonders
charakteristischer Typus, ein
Motiv im Sinne der reichen
Bewegung des 16. Jahrhun-
derts, das Pontormo und
Andrea del Sarto sich an-
geeignet haben. Ein Fuss
hochgesetzt, übergreifender
Arm, kontrastierende Wen-
dung des Kopfes. Alles
Greifen und alle Wendung
ist von grosser Energie. Man
zeigt gerne die Muskulatur
und die Gelenke, daher wird
der Arm bis zum Ellenbogen
entblösst. Michelangelo hatte
damit angefangen. Er würde
freilich diesen Arm anders ge-
zeichnet haben. Das Handge-
ilolonimeo. Vermählung der KatlKirin.i
lenk ist wenig ausdrucksvoll.
Der heilige Georg auf der linken Seite ist in seiner Einfachheit
ein glücklicher Kontrast. Für Florenz war es ein neues Schauspiel,
wie hier der Glanz einer Rüstung aus dem dunkeln Grunde heraus
entwickelt ist.

Von der grössten Süsse und ganz bartolommeisch in der weich


fliessenden Linie ist endlich die inhaltsreiche Gruppe der Maria mit dem
Kinde, das, die Bewegung nach unten leitend, der knienden Katharina
den Vermählungsring giebt.
Bilder der Art mit ihrem reichen rhythmischen Leben, ernst in dem
gesetzmässig-tektonischcn Bau und überall erfüllt von freier Bewegung,
machten den Florentinern einen grossen Eindruck. Hier war in einer
höheren Form gegeben, was man einst in Peruginos geometrisch ge-
ordneter Beweinung Christi (1494) bewundert hatte. Pontormo hat in
seinem Fresko der Heimsuchung (Vorhalle der Annunziata) nicht ohne
Glück versucht, die Komposition des Frate nachzuahmen. Er stellt die
Hauptgruppe erhöht vor eine Nische, er setzt vorn kräftig kontrastierende
Eckfiguren an die Ränder, er sorgt für eine lebendige Zwischenfüllung
') Die Verniälilung der Katharina mit dem Jesuskiiaben ist nicht das Haupt-
motiv des Bildes, der Name mag aber der Unterscheidung wegen geduldet werden.
FRA BARTOLOMMEO 145

die stufen hinan und erreicht einen wahrhaft monumentalen Eindruck.


In dem Zusammenhang eines so bedeutenden Ganzen erscheint der Wert
jeder Einzelfigur erhöht. (Vgl. Abbildung S. 149.)
Eine besondere Erwähnung beansprucht noch die M
ad o n n a v o n
B e s a n 9 n, schon darum, weil sie den schönsten Sebastian enthält. Das
Bewegungsmotiv von prächtigstem Fluss und die Malerei venezianisch
breit. Man merkt den vermischten Eindruck Peruginos und Bellinis.
Das Licht fällt nur auf die rechte Seite des Körpers, die bewegtere,
und hebt so, zum grössten Vorteil der Figur, gerade den wesentlichen
Inhalt des Motives heraus. Das Bild ist aber auch merkwürdig hin-
sichtlich des Stoffes: die Madonna auf Wolken und diese Wolken hinein-
genommen in einen geschlossenen architektonischen Binnenraum, der
nur durch eine Thür im Hintergrund den Blick ins Freie hinauslässt.
Das ist ein Idealismus neuer Art. Bartolommeo mag den dunkeln
Grund, die dämmerige Tiefe gewünscht haben; er gewann damit auch
für die Heiligen, die dastehen, neue Erscheinungskontraste. Der Raum-
eindruck ist indessen kein günstiger und die offene Thür verengt mehr
als dass sie erweitert. Das Bild schloss übrigens ursprünglich anders
nach oben; es folgte im Halbrund eine himmlische Krönung. Möglich,
dass dadurch die Wirkung im ganzen eine bessere war. Das Bild scheint
auch um 1512 entstanden zu sein.
In rascher Steigerung erhebt sich nun die Empfindung des Frate
bis zu dem grossen Pathos in der fürbittenden Mutter des Er-
barmens vom Jahre 1515 in Lucca (Akademie). Man kennt die Miseri-
cordienbilder als lange Breitbilder: die Maria steht in der Mitte und
hält die Hände betend zusammen und rechts und links knien unter
ihrem Mantel die Andächtigen, die sich ihrem Schutze anheimstellen.
Bei Bartolommeo ist es ein mächtiges Hochbild mit halbrundem Ab-
schluss. Maria steht erhoben über dem Erdboden, Engel breiten ihren
Mantel hoch aus und so fleht sie empor mit prachtvoll triumphierender
Bewegung, und drängend, die Arme nach unten und oben ausein-
laut
andergebreitet und vom Himmel her antwortet der gewährende Christus,
auch er umflattert vom rauschenden Mantel. Um die Bewegung Marias
flüssig zu machen, musste Bartolommeo ihren einen Fuss etwas höher
stellen als den anderen. Wie sollte er diese ungleiche Fusshöhe moti-
vieren? Er besinnt sich keinen Augenblick und schiebt, dem Motiv
zuliebe, ruhig einen kleinen Block unter. Das klassische Zeitalter nahm
an solchen Hilfsmitteln, über die das moderne Publikum zetern würde,
keinen Anstoss.
Von dem Podium ist Gemeinde über Stufen nach dem Vorder-
die
grund herunter entwickelt und es entstehen Gruppen von Müttern und
WölHlin, Die klassische Kunst 10
146 DIE KLASSISCHE KUNST

Kindern, von Betenden und Weisenden, die sich in der formalen Absicht
mit denen des Der Vergleich ist freilich
Heliodor vergleichen lassen.
gefährlich, denn nun kommt auch gleich heraus, was dem Bilde eigentlich
fehlt: die zusammenhängende Bewegung, die Bewegung, die von Glied
zu Glied fortgetragen wird. Bartolommeo hat immer erneute Anläufe
gemacht, solche Massenbewegungen darzustellen, allein hier scheint er
an eine Grenze seines Talentes gekommen zu sein. ^)
Wenige Jahre nach der Mater misericordiae entstand Tizians Assunta
(1518). Der Hinweis auf diese einzigartige Schöpfung ist kaum zu um-
gehen, weil die Motive sich zu nahe berühren, allein es wäre Unrecht,
den Wert Bartolommeos an Tizian zu messen. Für Florenz bedeutet
er doch etwas Ungeheueres und das Bild von Lucca ist ein unmittelbar
überzeugender Ausdruck der hochgehenden Stimmung jener Zeit. Wie
rasch die Auffassung sinkt, zeigt am besten das populär gewordene Bild,
das Baroccio über das gleiche Thema gemalt hat und das unter dem
Namen der Madonna del Popolo bekannt ist (Uffizien) in dem male- :

rischen Wurf beneidenswert keck und munter, ist es inhaltlich doch schon
völlig trivial.
An die Mater misericordiae reiht sich der Auferstandene des
Pitti (1517). Was dort noch unsicher und unrein geklungen haben mag,
ist hier getilgt. Man darf das Bild wohl als das vollkommenste des
Frate ansehen. Er ist stiller geworden. Aber gerade das gehaltene
Pathos in diesem segnenden, milden Christus wirkt eindringlicher und
überzeugender als die laute Gebärde. „Sehet, ich lebe und ihr sollt auch
leben."
Bartolommeo war kurz zuvor in Rom gewesen und mochte dort
die Sixtinische Madonna gesehen haben. Die grandiose Einfachheit der
Gewandfaltcn ist von ganz verwandter Art. In die Silhuette nimmt er
eine sich steigernde dreifache Welle auf, ein Prachtmotiv, das auch für
Madonnenbilder bestimmt war. Die Zeichnung des erhobenen Armes
und die Aufklärung der Gelenkfunktionen würde auch Michelangelo
gebilligt haben. Im Hintergrunde wieder die grosse Nische. Christus
überschneidet sie, was seine Erscheinung verstärkt. Über die Evangelisten
ist er erhoben durch einen Sockel, ein scheinbar selbstverständliches Motiv,
was doch dem ganzen florentinischen Quattrocento fremd ist. Die ersten
Beispiele hat Venedig.
Die vier Evangelisten sind Kernnaturen, von felsenmässig sicherer
Präsentation. Nur zwei haben den Accent, die Zurückstehenden sind
den Vordermännern, mit denen sie als Masse zusammenschliessen, durch-
') Bei dem Raub der Diiia in Wien, wo die Zeichnung auf Bartolommeo zu-
rückgeht, ist die Beziehung zu Heliodor noch deutlicher.
FRA BARTOLOMMEO 147

aus untergeordnet. Das ist

Bartolommeos Massengefühl.
Mit völlig reifer Wirkungs-
rechnung sind die Profil- und
Faceansichten, die aufrechte
und die geneigte Haltung
ausgeteilt. Die Vertikale des
Facekopfes rechts wirkt nicht
aus sich selbst so durch-
schlagend, sondern bekommt
ihre wesentliche Kraft aus
dem Zusammenhang und der
architektonischen Begleitung.
Alles hält und steigert sich
gegenseitig in diesem Bilde.
Man fühlt die Notwendigkeit.
Die Gruppe des Schmer-
zes endlich, die P i e t ä, hat
auch Bartolommeo mit dem
ganzen Adel des zurückgehal-
tenen Ausdrucks behandelt,
wie es die Besten seiner Zeit Fra Bartolommeo. Der Auferstandene mit den vier Evangelisten
gethan haben (Bild im Pal.
Pitti). Die Klage wird nicht laut. Eine gelinde Begegnung zweier Profile:
die Mutter, die die tote Hand aufgenommen hat und zum letzten Kusse auf
die Stirn sich neigt, das ist alles. Christus ohne eine Spur des Aus-
gestandenen. Der Kopf hält sich in einer Lage, die nicht die eines
Leichnams ist; auch hier lässt man
eine ideale Rechnung walten.
Magdalena, die mit leidenschaftlichem Gefühl sich über des Herrn Füsse
geworfen, bleibt als Kopf fast unsichtbar, dem Ausdruck des Johannes
aber sind, nach Jakob Burckhardts Bemerkung, mit untrüglicher drama-
tischer Sicherheit Spuren der Anstrengung des Tragens beigemischt. ^)
So sind in dem Bilde die Stimmungen stark differenziert und der parallele
Ausdruck, wie ihn Perugino hat, ist ersetzt durch lauter Kontraste, die

') Diese Beobachtung bleibt zu Recht bestehen, auch wenn man sich sagen muss,

dass eine Mischung psychischen und physischen Unbehagens undarstellbar ist. Es ist
schlechterdings unmöglich, zu sagen, was in dem Ausdruck auf die eine und was auf
die andere Ursache zurückgeht. Aber das ist hier auch nicht nötig. Indessen wäre es
vielleicht doch angezeigt, im allgemeinen an die Kritik zu erinnern, die der Maler Rey-
nolds an dilettantischen Kunstschriftstellern seines Jahrhunderts geübt hat: ,,Weil sie
nicht vom Berufe sind und daher nicht wissen, was geleistet v/erden kann und was nicht,

10*
148 DIE KLASSISCHE KUNST

sich gegenseitig steigern.


Eine gleiche Ökonomie be-
herrscht die physischen Be-
wegungen. Übrigens fehlen
jetzt in der Komposition
zwei Figuren : es war noch
ein Petrus und ein Paulus
sichtbar. Man hat sie sich

jedenfalls gebückt zu denken,


über der Magdalena, deren
hässliche Silhuette dadurch
gemildert wäre. ^) Durch
Fr;i Bartolommeo. Pietä
das Fehlen dieser Figuren
hat sich der Accent des Ganzen überhaupt verschoben. Es war zwar
niemals auf eine symmetrische Massenverteilung abgesehen, sondern auf
eine frei-rhythmische, aber die drei Köpfe verlangen unbedingt ein
Gegengewicht. Offenbar fälschlich wurde später ein Kreuzstamm in
der Mitte der Tafel zugefügt: gerade diese Stelle musste unbetont
bleiben.
Gegenüber Perugino, der unter seinen Zeitgenossen so still aussah
(vgl. Abb. S. 76), wirkt Bartolommeo noch gehaltener und feierlicher in
der Linie. Die grossen parallelen Horizontalen am vorderen Rande sind
nur ein Ausdruck für die ganz reliefmässig-einfache Fügung der Figuren
mit den zwei dominierenden Profilansichten. Bartolommeo muss das Wohl-
thuende der in solcher Weise beruhigten Erscheinung empfunden haben.
Er gewinnt auf anderem Weg einen gleichen Eindruck von Beruhigung,
indem er die Gruppe niedrig macht: aus dem steilen Dreieck Pcruginos
ist eine stumpfwinkelige Gruppe von geringer Höhe geworden. Und viel-

leicht ist auch das Breitformat in diesem Sinne gewählt worden.


Bartolommeo hätte noch lange fortarbeiten und die ganze Reihe
der christlichen Stoffe mit ruhiger Hand ihrer klassischen Gestaltung
entgegenführen können. Man gewinnt aus seinen Zeichnungen den
Eindruck, dass seine Phantasie sich rasch zu deutlichen Bildvorstellungcn
erhitzte. Mit vollkommener Sicherheit handhabte er die Wirkungs-

sind sie sehr freigebig mit iingereimteni Lobe. Sie' finden immer das, was sie finden
wollen, sie loben Vorzüge, die kaum nebeneinander bestehen können und beschreiben vor
allem gerne mit grosser Genauigkeit den Ausdruck einer gemischten Gemüts-
bewegung, welche mir ganz besonders ausser dem Bereich unserer Kunst zu liegen
scheint." (Akademisciie ReJen, übers, von Leisching. Leipzig 18^»3. S. 64.)
') Die Figuren waren schon da, wurden aber wieder entfernt. Zur Ergänzung
vgl. die Pietä Albertineliis in der Akademie.
FRA BARTOLOMMEO 149

gesetze. Aber es ist nie die ange-


wandte Regel, die bei ihm die Wirkung
entscheidet, sondern die Persönlich-
keit, die sich ihre Regeln selbst er-

funden hat. Wie wenig aus seiner


Werkstätte sich schulmässig über-
tragen liess, zeigt das Beispiel Alber-
tinellis, der zu seiner allernächsten
Umgebung gehörte.
Den Mariotto Albertinelli
(1474—1515) hat Vasari „un altro
Bartolommeo" genannt; er ist lange
dessen Mitarbeiter gewesen, allein im
Grunde eine ganz andere Natur. Es
fehlt ihm vor allem die Überzeugung

des Frate. Sehr begabt nimmt er da


und dort Probleme auf, allein es
kommt zu keiner konsequenten Ent-
wicklung und zeitweise hing er auch Albertinel Heimsuchung
die Malerei ganz an den Nagel und
machte den Tavernenwirt.
Das frühe Bild der Heimsuchung (von 1 503) zeigt ihn von der
besten Seite: die und rein empfunden und mit dem
Gruppe schön
Hintergrunde gut zusammengestimmt. Das Thema der gegenseitigen
Begrüssung ist nicht so ganz leicht zu bewältigen; bis nur die vier
Hände an ihre Stelle gebracht sind! Nicht lange vorher hatte noch
Ghirlandajo sich damit abgegeben (Bild im Louvre, datiert 1491), er
lässt Elisabeth kniend die Arme erheben, worauf Maria beruhigend ihr
die Hände auf die Schulter legt. Allein eine von den vier Händen ist
dabei schon verloren gegangen und die parallele Armbewegung der
Maria würde man auch nicht gern noch einmal gesehen haben. Alberti-
neli ist reicher und klarer zugleich. Die Frauen drücken sich die
Rechte und der freibleibende linke Arm ist dann so differenziert, dass
Elisabeth die Besuchende umfasst, während Maria die Hand demütig
vor die Brust nimmt. Das Kniemotiv ist aufgegeben. Albertinelli wollte
die zwei Profile ganz nah zusammenführen, dafür hat er noch deutlich
genug in dem eiligen Zuschreiten der älteren Frau und in der Schief-
legung ihres Kopfes die Subordination der Maria gegenüber angedeutet
und indem er einen breiten Schatten auf ihr Gesicht fallen lässt, thut
er ein übriges. Ein Quattrocentist hätte noch nicht daran gedacht, so
zu unterscheiden. Die Gruppe steht vor einer Hallenarchitektur, die
150 DIE KLASSISCHE KUNST

ihre Herkunft von Perugino


nicht verleugnen kann, auch
die Wirkung des grossen
ruhigen Luftgrundes ist ganz
in seinem Sinne empfunden.
Spätere würden die äussere
Durchsicht (an den Rän-
dern) vermieden haben; auch
im Gewand und dem Pflan-
zenreichen Boden stecken
noch Spuren quattrocentisti-
schen Stils.

Von Perugino abhängig


ist auch der grosse C r u c i-

fixus inderCertosa (1506),


vier Jahre später aber findet
er eine neue, die klassische
Redaktion des Gekreuzigten
in dem Bilde der Trinität
(Florenz, Akademie). Alle
Früheren sperren die Beine
bei den Knien auseinander,
es giebt aber ein schöneres
Bild, wenn statt der Ko-
ordination die Subordination
eintritt, d. h. wenn ein Bein
sich über das andere schiebt.
Albertinelli. Die heilige Trinität
Und nun ging man noch
weiter und liess dieser Be-
wegung der Beine Gegenbewegung im Kopfe entsprechen. Deutet
eine
die Richtung unten nach rechts, so neigt sich der Kopf nach links und
so kommt in das starre und jeder Schönheit scheinbar unzugängliche
Gebilde ein Rhythmus, der von da an nicht mehr verloren geht.
Aus demselben Jahre 1510 ist noch die interessante Verkündigung
(in der Akademie) zu neiniL'ii, ein Bild, bei dem er sich viel Mühe ge-
geben hat und das auch für die allgemeine Entwicklungsgeschichte
wichtig ist. Man wohl an die dürftige Rolle, die Gott Vater
erinnert sich
bei den Annunziationen zugewiesen wurde: als eine kleine' Halbfigur er-
scheint er irgendwo oben in der Ecke und lässt die Taube von sich aus-
gehen. Hier ist er in ganzer Figur genommen, zentral aufgestellt und ein
Kranz von grossen Engeln um ihn herum geführt. In diesen fliegenden,
FRA BARTOLOMMEO 151

musizierenden Engeln steckt


Arbeit und der Künstler,
der missmutig die Malerei
mit dem Schenkgewerbe
vertauschte, um von dem
ewigen Gerede von Ver-
kürzung nichts mehr hören
zu müssen, hat sich hier zu
einem respektablen Versuch
bequemt. In dem Himmels-
motiv überhaupt aber spürt
man schon etwas von den
Gloriendes 1 T.Jahrhunderts,
nur ist hier alles noch sym-
metrisch und in einer Fläche
gehalten, während jene
späteren Himmelsevolutio-
nen einen diagonalen Zug
aus der Tiefe zu haben
pflegen.
Der erhöhten Feier-
lichkeit entspricht die vor-
nehm-ruhige Maria, die mit
elegantem Stehmotiv, dem
Engel nicht entgegengerich-
tet, sondern nur über die
Albertinelli. Verkündigung
Schulter ihn anblickend, den
ehrfürchtigen Gruss ent-
gegennimmt. Ohne dieses Bild hätte Andrea del Sarto seine Annunziata
von 1512 nicht finden können.
Auch malerisch ist das Stück interessant, weil es einen grossen
dunkeln Innenraum als Hintergrund in grünlicher Färbung giebt. Es
war für die Aufstellung an einem hohen Ort gearbeitet und die Per-
spektive nimmt darauf Rücksicht, doch ist die jäh-herabeilende Gesims-
linie im Verhältnis zur Figur von harter Wirkung.
VI. Andrea del Sarto
1486—1531

Man hat Andrea del Sarto oberflächlich und seelenlos genannt und
es ist wahr, es giebt gleichgültige Bilder von ihm und er hat in seinen
späteren Jahren sich gern auf die blosse Routine verlassen; unter den
Talenten erster Ordnung ist er der einzige, der in seiner moralischen
Konstitution einen Defekt gehabt zu haben scheint. Aber von Hause
aus ist er der feine Florentiner aus dem Geschlechte der Filippinos und
Lionardos, höchst wählerisch in seinem Geschmack, ein Maler des Vor-
nehmen, der lässig-weichen Haltung und der edeln Handbewegung. Er
ist ein Weltkind, auch seine Madonnen haben eine weltliche Eleganz.

Die starke Bewegung und der Affekt sind nicht seine Sache, über das
ruhige Stehen und Wandeln geht er kaum hinaus. Hier aber entwickelt
er ein entzückendes Schönheitsgefühl. Vasari macht ihm den Vorwurf,
er sei zu zahm und schüchtern gewesen, es habe ihm die rechte Keck-
heit gefehlt und man braucht allerdings von den grossen „Maschinen",
wie sie Vasari nur eine gesehen zu haben, um das
zu malen pflegte,
Aber auch neben den mächtigen Konstruktionen Fra
Urteil zu verstehen.
Bartolommeos oder der römischen Schule sieht er still und schlicht aus.
Und doch war er vielseitig und glänzend begabt. In der Bewun-
derung Michelangelos aufgewachsen, konnte er eine Zeitlang als der
beste Zeichner in Florenz gelten.Er behandelt die Gelenke mit einer
Schneidigkeit (man verzeihe das triviale Wort) und bringt die Funktionen
mit einer Energie und Klarheit zur Erscheinung, die seinen Bildern eine
volle Bewunderung sichern müsste, auch wenn das florentinische Erbteil
der guten Zeichnung sich hier nicht mit einer malerischen Begabung
verbunden hätte, wie sie in Toskana kaum mehr vorgekommen ist. Er
beobachtet nicht viele malerische Phänomene und lässt sich z. B. in die
stoffliche Charakteristik verschiedener Dinge nicht ein, aber das milde
Flimmern seiner Karnation und die weiche Atmosphäre, in die seine
Figuren eingebettet sind, haben einen grossen Reiz. In seiner koloristi-
ANDREA DEL SARTO. DIE FRESKEN DER ANNUNZIATA 153

sehen Empfindung hat er wie in seiner Linienempfindung dieselbe weiche,


fast müde Schönheit, die ihn moderner als irgend einen anderen er-
scheinen lässt.
Ohne Andrea würde das cinquecentistische Florenz seines
del Sarto
Festmalers entbehren. Das grosse Fresko der Geburt Maria im Vorhof
der Annunziata giebt uns etwas, was uns Raffael und Bartolommeo nicht
geben: das schöne geniessende Dasein der Menschen im Augenblick,
da die Renaissance ihre Sonnenhöhe erreicht hatte. Man möchte von
Andrea noch viel mehr derartige Existenzbilder haben, er hätte nichts
anderes malen sollen. Dass er nicht der Paolo Veronese von Florenz ge-
worden ist, lag freilich nicht an ihm allein.

1. Die Fresken der Annunziata


In der Vorhalle der Annunziata pflegt der Reisende gewöhnlich
den ersten grossen Eindruck von Andrea zu bekommen. Es sind lauter
frühe und ernsthafte Sachen. Fünf Szenen aus dem Leben des heiligen
Filippo Benizzi mit dem Schlussdatum 1511 und dann die Geburt der
Maria und der Zug der drei Könige von 1514. Die Bilder sind in einem
schönen lichten Ton gehalten, anfänglich noch etwas trocken in dem
Nebeneinander der Farben, in dem Geburtsbild aber ist die reiche har-
monische Modulierung Andreas schon vollkommen vorhanden. In der
Komposition sind die ersten zwei Bilder noch locker und lose behan-
delt, mit dem dritten aber wird er streng und giebt eine Fügung mit

accentuierter Mitte und symmetrisch entwickelten Seitengliedern. Er treibt


einen Keil in die Menge hinein, dass die Zentralfiguren zurücktreten
müssen und das Bild Tiefe bekommt, im Gegensatz zu der Linien-Auf-
stellung dem vorderen Bildrand entlang, wie sie noch Ghirlandajo fast
ausschliesslich hat. Das Zentralschema an sich ist im Historienbild nicht
neu, aber neu ist es, wie sich die Figuren die Hände reichen. Es sind
nicht einzelne Reihen hintereinander aufgestellt, sondern es entwickeln
sich die Glieder in und ununterbrochener Verbindung
übersichtlicher
aus der Tiefe heraus. Es ist das gleiche Problem, was zur selben Zeit,
nur in viel grösserem Massstabe, Raffael in der Disputa und der Schule
von Athen sich stellte.

Mit dem letzten Bilde, der Geburt Maria, geht dann Sarto aus dem
tektonisch-strengen in den frei-rhythmischen Stil über. In prachtvoller
Kurve schwillt die Komposition an: von links her, mit den Weibern am
Kamin beginnend, gewinnt die Bewegung in den wandelnden Frauen
ihren Höhepunkt und verklingt in der Gruppe am Bette der Wöchnerin.
154 DIE KLASSISCHE KUNST

Andrea del Sarto. Geburt der Maria


(Ohne den oberen Abschluss)

Die Freiheit dieser rhythmischen Anordnung ist freilich etwas ganz


anderes als die Regellosigkeit des älteren ungebundenen Stils: hier ist

Gesetz, und wie die stehenden Frauen das Ganze beherrschen und zusam-
menfassen, ist als Motiv erst im 16. Jahrhundert denkbar.
Sobald Sarto von dem anfänglichen lockeren Nebeneinander zur
strengen Komposition überging, hatte er das Bedürfnis, die Architektur
zur Mithilfe heranzuziehen. Sie soll sammelnd wirken und den Figuren
Halt geben. Fs beginnt jenes Zusammenempfinden von Raum und
Menschen, das dem Quattrocento, wo das Bauliche mehr die Rolle
einer zufälligen Begleitung und Bereicherung spielte, im ganzen noch
fremd gewesen war. Sarto ist noch Anfänger und man wird nirgends
sagen können, dass das Verhältnis zur Architektur ein glückliches sei.
Man merkt seine Verlegenheit, mit dem übergrossen Raum zurecht-
zukommen. Der architektonische Hintergrund ist wohl durchweg zu
schwer; wo eine Öffnung in der Mitte giebt, wirkt sie mehr ver-
er
engend als erweiternd und wo er den Blick seitlich in die Landschaft ent-
lässt, zerstreut er den Beschauer. Überall sehen die Figuren noch etwas
verloren aus. Erst das Interieur des Geburtsbildes bringt auch hier die
reine Lösung des Problems.
Wie wenig Andrea dem dramatischen Gehalt der Szenen gewachsen
war, macht jeder Vergleich mit Raffael klar. Die Gebärde des wunder-
ANDREA DEL SARTO. DIE FRESKEN DER ANNUNZIATA 155

wirkenden Heiligen ist weder gross noch überzeugend und das Publikum

gefällt durchweg in einem blossen lässigen Dabeistehen mit ganz


sich
leisen Äusserungen des Erstaunens. Wo es sich einmal um eine starke
Bewegung handelt, wo der Blitz die Spieler und Spötter auseinander-
schreckt, da zeigt er diese Figuren nur klein im Mittelgrunde, obwohl
gerade das ein Anlass gewesen wäre, von den Studien vor Michelangelos
Karton der badenden Soldaten eine Probe abzulegen. Die Hauptmotive
sind alle von ruhiger Art, aber es lohnt sich doch der Mühe, den Ge-
danken des Künstlers im einzelnen nachzugehen und gerade da, wo er
dreimal hintereinander die Aufgabe hatte, mit stehenden, kommenden,
sitzenden Figuren die Glieder von der Mitte aus im ganzen symmetrisch,
im einzelnen unsymmetrisch zu entwickeln, wird man auf sehr schöne,
jugendlich-weich empfundene Motive treffen. Die Schlichtheit wirkt ja
manchmal fast als Befangenheit, allein man verzichtet so gerne einen
Augenblick auf die durch Kontraposto interessant gemachten Körper.
Völlig frei ist Andrea im Geburtsbilde. Die vornehme Nonchalance,
das lässige Sich-Geben hat keinen berufeneren Interpreten gefunden als
ihn. In den zwei wandelnden Frauen lebt der volle Rhythmus des
Cinquecento. Die Wöchnerin in ihrem Bett wird gleichzeitig auch zu
reicherer Präsentation aufgerufen. Das flache Liegen und der steife

Rücken bei Ghirlandajo erschien jetzt wohl ebenso philiströs-altertümlich


wie das Liegen auf dem Bauch bei Masaccio ^) den vornehmen Floren-
tinern gemein vorkommen musste. Die Wöchnerin im Bett macht eine
ähnliche Entwicklung durch wie die liegende Grabfigur: beiderseits giebt
Drehung und Differenzierung der Glieder.
es jetzt viel
Das dankbarste Motiv einer Wochenstube im Sinne der reichen
Bewegung ist der Kreis der Frauen, die sich mit dem Kinde abgeben.
Hier kann man prachtvoll sein in vielfältigen Kurven und aus Sitz- und
Beugefiguren einen dichten Bewegungs- Knäuel bilden. Sarto ist noch
zurückhaltend in der Ausbeutung des Themas, spätere aber machen daraus
überhaupt den Inhalt eines Geburtsbildes. Man nimmt die Frauengruppe
ganz in den Vordergrund und schiebt das Bett mit der Wöchnerin
zurück, wodurch dann von selbst das Besuch- Motiv in Wegfall kommt.
Sebastiano del Piombo giebt in einem grossartigen Bild in S. M. del

Popolo (Rom) die Szene zum erstenmal in dieser Art, die für das
17. Jahrhundert allgemein gültig wird.
Im des Bildes sieht man einen Engel das Weihrauchfass
Oberteil
schwingen. So sehr die Wolkenentfaltung an dieser Stelle aus seicen-
tistischen Beispielen bekannt ist, so sehr ist man überrascht, das Motiv

1) Rundbild in der Berliner Galerie.


156 DIE KLASSISCHE KUNST

Poiilormo. Heimsuchung
(Ohne den oberen Abschluss)

hier bei Sarto zu finden. Man ist noch zu sehr an die helle klare

Wiri<lichkeit des Quattrocento gewöhnt, um solche WundererscheinungtMi


als etwas Selbstverständliches hinzunehmen. Offenbar ist ein Wechsel
der Stimmung vor sich gegangen man denkt wieder ideal und giebt
:

dem Wunder Raum. Bei der Verkündigung werden wir auf ein gleiches
Symptom treffen. ')
Unbeschadet dieser Idealität verlässt Andrea im Kostüm der Frauen
und in der Ausstattung des Raumes nicht die florcntinische Gegenwart:
es ist ein florentinisches Zimmer des modernen Stiles und die Kostüme
sind —
wie Vasari ausdrücklich angiebt —
die damals (1514) getragenen.
Wenn Sarto in diesem Geburtsbilde zu dem frei-rhythmischen Stil
gegriffen hat, so will das nicht heisscn, dass er die strengere, tektonische

Andrea liat Dürer gekannt und benutzt. Man weiss das aus anderen Fällen.
')

Es möglich, dass auch hier der Engel auf die Anregung von Dürers „Marien-
ist

leben" zurückgeht. An sich musste der Künstler froh sein, überhaupt irgendwie
den überflüssigen Oberraum füllen zu können.
ANDREA DEL SARTO. DIE FRESKEN DES SCALZO 157

Komposition als eine überwundene Vorstufe betrachtete; er kommt an


anderer Stelle, im Kreuzgang des Scalzo, wieder darauf zurück. Der
Vorhof der Annunziata selbst aber enthält noch ein Prachtbeispiel der Art,
die unmittelbar nachher entstandene Heimsuchung des Pontormo.
Vasari hat wohl recht: wer neben Andrea del Sarto hier sich zeigen
wollte, musste schon etwas aussergewöhnlich Schönes machen. Pontormo
hat es gethan. Die Heimsuchung wirkt nicht nur imposant durch die
gesteigerte Grösse der Figuren, es ist eine innerlich grosse Komposition.
Das Zentralschema, wie es Andrea fünf Jahre früher durchprobiert hatte,
ist hier erst auf die Höhe einer architektonischen Wirkung gebracht.
Die Umarmung der Frauen geschieht auf einer stufenerhöhten Plattform,
vor einer Nische. Durch die (weitvorgezogenen) Stufen ist für die
Begleitfiguren eine ausgiebige Höhendifferenz und es giebt
erreicht
ein lebhaftes Gewoge der Linien. Aus all dieser Bewegung tönen aber
siegreich die grossen gliedernden Accente heraus: die Vertikalen am
Rand und dazwischen eine und fallende Linie, ein Dreieck,
steigende
dessen Spitze durch die geneigten Figuren der Maria und Elisabeth ge-
bildet wird und das in der sitzenden Frau links und dem Knaben rechts
seine Basis hat. Das Dreieck ist nicht gleichschenkelig, die steilere Linie
liegt auf der Seite der Maria, die flachere bei Elisabeth und der nackte

Bube unten dran hat sein Bein nicht zufällig so ausgestreckt: er muss
eben diese Linie in ihrer Richtung weiterleiten. Alles greift hier zu-
sammen und jede Einzelfigur an der Würde und Feierlichkeit
nimmt Teil
des grossen durchgehenden rhythmischen Themas. Die Abhängigkeit von
den Altarkompositionen Fra Bartolommeos ist offenkundig. Ein Künstler
zweiten Ranges hat hier, getragen durch die grosse Zeit, ein wirklich be-
deutend wirkendes Bild hingesetzt.
Franciabigios Sposalizio nebendran sieht im Vergleich dazu etwas
dünn und ärmlich aus, so fein die Einzelheiten sein mögen. Wir über-
schlagen es.

2. Die Fresken des Scalzo


In bescheidenen Dimensionen, nicht farbig, sondern grau in grau,
hat Andrea del Sarto bei den Barfüssern (Scalzi) ein kleines Säulen-
höfchen mit der Geschichte Johannes des Täufers ausgemalt. Zwei
Bilder nur sind von Franciabigio, die andern zehn und die vier alle-
gorischen Figuren sind ganz von seiner Hand. Aber doch nicht in

einheitlichem Stil, denn die Arbeit schleppte sich mit vielen Unter-
brechungen durch fünfzehn Jahre hindurch, so dass man fast die ganze
Entwicklung des Künstlers hier verfolgen kann.
158 DIE KLASSISCHE KUNST

Andrea del S.irto. Predigt Johannis

Das Grau-in-graumalen war lange üblich. Cciinino Cennini sagt,


man wende es an Orten an, die dem Wetter ausgesetzt seien. Auch
an Stellen von minderer Wichtigkeit, an Brüstungen, dunkeln Fenster-
wänden kommt es neben der farbigen Malerei vor. Im 16. Jahrhundert
aber wird es mit einer gewissen Liebhaberei gepflegt, was man im Zu-
sammenhang des neuen Stiles verstehen kann.
Das Höfchen macht einen höchst angenehmen Eindruck von Ruhe.
Die Einheit der Farbe, der Zusammenhang mit der Architektur, die
Art der Einrahmung, alles wirkt zusammen, die Bilder als besonders
wohl gebettet erscheinen zu lassen. Wer Sarto kennt, wird die Be-
deutung der Fresken nicht in den psychischen Momenten suchen. Jo-
hannes ist ein matter Bussprediger, die Schreckensszenen sind massig
im dramatischen Effekt, Charaktere darf man nicht erwarten, aber er ist
immer klar und voll schöner Bewegung und man lernt hier sehr gut
verstehen, wie das Interesse der Zeit mehr und mehr auf die formalen
Qualitäten übersprang und der Wert einer Historie nach der blossen
räumlichen Anordnung abgeschätzt wurde.
Wir besprechen die Bilder nach der Folge ihrer Entstehung.
1 . D i e T a u f e C h r i s t i ( 1 51 1
). Das Bild lässt sich gleich als
ANDREA DEL SARTO. DIE FRESKEN DES SCALZO 159

Ghirlandajo. Predigt Johannes des Täufers

frühestes erkennen durch die Art, wie die Figuren den Raum nicht füllen,
sondern zerstreut herumstehen. Es ist zu viel Platz vorhanden. Das
feinste ist die Figur Christi, ausserordentlich zart empfunden in der Be-
wegung und von leichtester Wirkung. Das rechte Bein ist das entlastete,

aber bescheiden bleibt Ferse an Ferse. Die Beine decken sich teilweise
und das Einziehen der Silhuette in der Kniegegend wirkt ungemein
elastisch. Beachtenswert ist, dass die Füsse nicht ins Wasser tauchen,
sondern sichtbar bleiben. Einige ideale Nebenschulen hatten es immer
so gehalten, jetzt geschah es im Interesse der plastischen Klarheit.
Gleicherweise dient die Entblössung der Hüfte dem Bedürfnis einer
klareren Vorstellung. Das alte horizontal gebundene Schamtuch unter-
brach den Körper gerade an der Stelle, wo die wichtigsten Aufklärungen
zu geben sind. Hier ist mit dem schrägfallenden Schurz nicht nur die
Deutlichkeit gewahrt, sondern es ergiebt sich von selbst auch noch eine
angenehme Kontrastlinie. Die Hände des Täuflings sind über der Brust
gekreuzt, nicht betend zusammengelegt wie früher.
Nicht die gleiche Feinheit wird man bei Johannes finden. Der
eckig gebrochenen Figur haftet noch einige Ängstlichkeit an. Ein
Fortschritt ist nur das Stillestehen, Ghirlandajo und Verrocchio gaben
160 DIE KLASSISCHE KUNST

ihn im Moment des Hinzutretens. Die Engel sind die kenntlichen


Geschwister des noch schöneren Paares auf dem Verkündigungsbilde
von 1512.
2. Die Predigt Johann is (ca. 1515). Die Figuren besitzen
hier einen beträchtlicheren Grössenwert innerhalb des Rahmens und die
massigere Füllung der Fläche giebt dem Bilde von vornherein ein an-
deres Aussehen. Das Kompositionsschema weist auf Ghirlandajos Fresko
in S. M. Novella. Die erhöhte Figur in der Mitte, die Disposition des
Hörerkreises mit den stehenden Randfiguren stimmt überein. Auch die
Wendung des Predigers nach rechts ist identisch. Umsomehr wird sich
eine Untersuchung der Abweichungen im einzelnen rechtfertigen.
Ghirlandajo sucht seinem Redner mit einer Schrittbewegung
Dringlichkeit zu geben, Sarto legt die ganze Bewegung in eine Drehung
der Figur um ihre eigene Achse. Sie ist ruhiger und doch reicher an
Bewegungsinhalt. Ganz besonders wirksam ist auch hier die starke
Einziehung der Silhuette bei den Knien. Die altertümliche Redegebärde
mit dem einzeln hochgestreckten Zeigefinger erscheint jetzt kleinlich

und dünn, man sucht die Hand als Masse wirken zu lassen, und während
dort der Arm Ebene gehalten ist^ gewinnt er hier, freier
steif in einer
ausgreifend, schon durch die Verkürzung ein anderes Leben. Wie die
Gelenke ausdrucksvoll gemacht sind und die ganze Figur klar sich gliedert,
ist ein schönes Beispiel der cinquecentistischcn Zeichnung.
Raum, sein Publikum zu entfalten; er weiss aber
Sarto hat weniger
den Eindruck der Menge überzeugender zu geben als Ghirlandajo, der
mit zwei Dutzend Köpfen, wo jeder einzeln gesehen sein will, doch nur
zerstreut. Die festschliessenden Randfiguren wirken an sich massig. ')

Es ist auch vorteilhaft, dass der Redner zu denen spricht, die nicht im
Bilde sichtbar sind.
Dass die Hauptfigur bei Sarto so gross wirkt, möge man nicht
nur aus dem relativen Grösscnverhältnis erklären, von allen Seiten ist

darauf hingearbeitet, ihr den Hauptaccent zuzuleiten. Auch die Land-


schaft Bezug darauf erfunden.
ist in Sie giebt dem Redner Halt im
Rücken und Luft nach vorn und er erhebt sich als freie fassbare Sil-
huette, während er bei Ghirlandajo nicht nur in der Menge drinsteckt,
sondern auch mit den Hintergrundlinicn in üblen Konflikt kommt.
3. DieTaufedesVolkes (1517). Der Stil fängt an, unruhig
zu werden. Die Gewänder sind zackig und zerrissen, die Bewegungen
überlaut. Die sekundären Figuren, die das strenge Schema mit dem

') Bekanntlich ist der Mann mit der Kutte rechts ebenso wie die sitzende

Frau, die ihr Kind hochnimmt, eine Entlehnung von Dürer.


ANDREA DEL SARTO. DIE FRESKEN DES SCALZO 161

Reiz des Zufälligen umkleiden sollen, thun das im Unmass. Ein echter
Sarto ist noch die schöne Rückenfigur eines nackten Jünglings, der lässig
niederblickt.
4. Die Gefangennahme (1517). Auch diese Szene, die so
wenig dazu sich eignet, ist als Zentralkomposition gegeben. Es sind nicht
Herodes und Johannes einander gegenübergestellt, Profil gegen Profil,
sondern der Eürst sitzt in der Mitte, schräg vor ihm rechts der Täufer
und zur Herstellung der Symmetrie links die gewichtige Rückfigur eines
Zuschauers. Da nun aber Johannes von zwei Schergen umringt ist, so
verlangt das Bild noch eine Ausgleichung und diese erfolgt in der (un-
symmetrisch) links aus der Tiefe kommenden Figur des Hauptmannes der
Wache. Die reiche Gruppe der Gefangennahme wirkt sehr lebhaft gegen-
über der ruhigen Masse der einen, stehenden Rückfigur. Dass diese
nicht mehr als ein Kleiderstock ist, kann man zugeben nichtsdestoweniger ;

sind solche Kontrastrechnungen für Elorenz ein Fortschritt. Früher pflegte


man alles gleichmässig zu füllen und gleichmässig in Bewegung zu
setzen. Ausserdem ist die Figur des Johannes, der Mühe hat, mit dem
Blick den Fürsten zu treffen, sehr schön und wenn die Schergen in der
Bewegung vielleicht noch kräftiger sein könnten, so ist doch der Fehler
vermieden, in den andere verfallen sind, dass neben ihrer Ungebärdig-
keit die Hauptfigur gar nicht mehr zu Worte kommt.
5. DerTanzderSalome (1 522 ) . Die Tanzszene, die sonst in

ungehöriger Weise mit der Überreichung des Johanneskopfes zusammen-


genommen wurde, ist hier in einem gesonderten Bilde behandelt. Andrea
mochte an dem Stoffe seine besondere Freude gehabt haben und die
tanzende Salome ist in der That eine seiner schönsten Erfindungen, von
einem hinreissenden Wohllaut der Bewegung. Die Figur ist sehr ruhig
gehalten, die Bewegung liegt hauptsächlich im Oberkörper. Der Tänzerin
ist als Kontrast eine Rückfigur gegenübergestellt, der Diener, der eine
Platte hereinbringt. Man wird genötigt, die zwei Figuren aufeinander
zu beziehen, sie ergänzen sich und erst dadurch, dass der Diener räum-
lich weiter vorgeschoben ist, kommt
momentane Zurückhaltung der
die
Salome, die so spannend wirkt, zur Geltung. Der Stil hat sich wieder
beruhigt, die Linien sind fliessender behandelt. Für die ideale Verein-
fachung der Szenerie und das Weglassen aller irgendwie entbehrlichen
Details ist das Bild ein Hauptbeispiel.
6. Die Enthauptung (1523). Man sollte meinen, hier wenig-
stens sei es für Sarto unmöglich, der Darstellung einer starken physischen
Aktion aus dem Wege zu gehen: der schwertschwingende Henker ist

eine Lieblingsfigur der Künstler, die die Bewegung um ihrer selbst-

willen aufgesucht haben. Allein Sarto ist der Verpflichtung doch ent-

Wölfflin, Die klassische Kunst 11


162 DIE KLASSISCHE KUNST

Andrea del Sarlo. Der Tanz der Salonic

kommen. Er giebt nicht die Enthauptung, sondern den ruhigen Moment,


wie der Scherge der Salome den Kopf in die hingehaltene Schüssel
legt. Er als Rückfigur mit gespreizten Beinen in der Mitte, sie links
und auf der anderen Seite ein lauptmann, also wieder eine Zentralkom-
1

position. Das Opfer ist dem Blicke gütig verdeckt.


7. Die Darreichung (1523). Noch einmal die Tischgesell-
schaft. Diesmal die Figuren mehr zusammengerückt, es ist ein engeres
Bild. Die Trägerin des Hauptes ist so anmutig wie im Tanz, den Gegen-
satz zu ihrer eleganten Wendung bildet das starre Dastehen der Zuschauer
gegenüber. Alle lebhaftere Bewegung ist in die Mitte geschoben. Die
Ränder sind mit doppelten Eiguren besetzt.
8. D i e V
g u n g a n Z a c h a r a s ( 1 323 j Der Künst-
e r k ü n d i i .

ler ist nun seiner Sache sicher. Er hat seine Rezepte, mit denen er eine
gewisse Wirkung unter allen Umständen erreicht und erlaubt sich im
Vertrauen darauf immer grössere Flüchtigkeit. Die Schablone der
Randfiguren wird wieder aulgelegt; die Erscheinung des Engels geht
hinten vor sich, er neigt sich stumm mit gekreuzten Armen vor dem
zurückstaunenden Priester. Alles ist nur oberflächlich angedeutet, aber
die absolut sichere Ökonomie der Wirkungen und die stille Feierlichkeit
der architektonischen Disposition giebt der Darstellung doch eine Würde,
ANDREA DEL SARTO. DIE FRESKEN DES SCALZO 163

neben der selbst Giotto, der es soviel ernster meint, Mühe hat, sich zu
behaupten.
9. DieHeimsuchung (1 524) . Die symmetrischen Randfiguren
sind aufgegeben. Die Hauptgruppe der sich umarmenden Frauen ist

diagonal gestellt und diese Diagonale wird massgebend für die ganze
Komposition. Die Figuren stehen in der quincunx, d. h. nach Art der
fünf Augen des Würfels. Beruhigend tritt eine gerade orientierte Hinter-
grundarchiteictur dazu.
10. Namengebung (1526). Noch einmal ein neues Schema. Die
Magd mit dem Neugeborenen steht zentral in der ersten Zone, dem
am Rande sitzenden Joachim zugewandt. In genauer Entsprechung am
anderen Rand eine sitzende Frau. Die Mutter im Bett und eine Dienerin
schieben sich in der zweiten Zone symmetrisch zwischen die Vorder-
grundfiguren ein. Vasari spricht hier von einem ringrandimento della
maniera und lobt das Bild sehr. Soviel ich sehe, ist kein besonderer
neuer Stil da, es ist alles vorbereitet und das besonders schlecht er-
haltene Fresko lässt nicht einmal den Wunsch aufkommen, mehr zu
sehen. Man sieht alles, was Sarto in dieser späten Zeit noch zu geben
für gut fand.
Die zwei Bilder, die F a b g o zu diesem Cyklus beigesteuert
r a n c i i i

hat, tragen Neben Sarto kommt er wieder als das


beide frühe Daten.
kleinere Talent nicht günstig zum Vorschein. Um nur von dem einen zu
reden, wo der kleine Johannes den väterlichen Segen empfängt (1518)
so wirkt in der Figur des segnenden Vaters die Heftigkeit der Bewegung
noch ganz altertümlich. Nebenfiguren, die an sich sehr hübsch sind,
wie die Knaben am Treppengeländer, treten zu stark vor und ein feinerer
Künstler hätte die grosse Treppe überhaupt nicht in diesen Zusammen-
hang gebracht. Sie ist das einzige Motiv in dem Scalzo-Höfchen, wo
das Auge stutzt. Das Fresko stösst unmittelbar an die früheste Arbeit
Andreas, die Taufe Christi; es überbietet sie an Grösse, aber nicht an
Schönheit.
Die Reihe der Historienbilder unterbrechen — wie gesagt — vier
allegorische Figuren, die alle Sarto gemalt hat. Sie sollen Statuen
imitieren, die in Nischen stehen. Die Künste fangen wieder an zu-
sammenzugreifen. Man wird in dieser Zeit kaum mehr ein grösseres
malerisches Ensemble ohne Zuziehung wirklicher oder imitierter Plastik
finden. Die beste unter den Figuren hier mag die Caritas sein, die,

ein Kind auf dem Arm, nach einem zweiten am Boden greift, wobei
sie zweckmässig ohne den Rücken zu beugen sich nur im Knie
niederlässt, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren (ähnliche Gruppe
an der Decke des Heliodorzimmers in dem Noahbilde). Die Justitia ist
164 DIE KLASSISCHE KUNST

eine offenbare Anlefinung an die


gleiche Figur des Sansovino in Rom
(S. M. del Popolo). Nur ist der eine
Fuss hochgesetzt, um mehr Bewegung
zu gewinnen. ^) Die Figur lebt dann
noch einmal auf in der Madonna
delle arpie.

3. Madonnen und Heilige


Das Nachlassen im Ernst der
Auffassung und Durchführung, das
sich in den Scalzofresken etwa vom

Jahre 1523 an fühlbar macht, be-


deutet nicht, dass dem Künstler diese
besondere Aufgabe verleidet ge-
wesen wäre: in den Tafelbildern

A. Sansovino. Die Oereclitigkeil stellen sich zur selben Zeit dieselben


Symptome ein. Andrea wird gleich-
gültig, ein Routinier, der auf seine glänzenden Kunstmittel sich verlässt.
Selbst da, wo er sich offenbar zusammennimmt, spürt man in dem
Werk nicht mehr die seelische Wärme. Der Biograph wird sagen,
warum die Dinge so kamen. Die Jugend werke lassen die Wendung
nicht ahnen und man kann an keinem besseren Beispiel erkennen, was
ursprünglich in dieser Seele beschlossen lag, als in dem grossen V e r-
k ü n d g u n gs b
i d des Palazzo Pitti, das Andrea in seinem 25, oder
i 1

26. Jahre gemalt haben muss.


Maria vornehm und streng wie bei Albertinelli, aber in der Be-
wegung feiner durchgefühlt, und der Engel so schön wie ihn nur
Lionardo hätte machen können mit allem Reiz jugendlicher Schwärmerei
in dem vorgebeugten und leise geneigten Kopfe. Er spricht seinen Gruss
und streckt den Arm gegen die Erstaunende, indem er das Knie beugt.
Es ist eine ehrfurchtsvolle Begrüssung von ferne, nicht mehr das stür-
mische Hereinrennen eines Schulmädchens wie bei Ghirlandajo oder
Lorenzo di Credi. Und zum erstenmal wieder seit dem gotischen Jahr-

') Nach quatlrocentistischem Geschmack wird das Schwert-aufwärts gehalten,

nach cinquecentistischem gesenkt. Sansovino vertritt hier den alten Stil, Sarto den
neuen. Auch von Paulus mit seinem Schwert ist das gleiche zu sagen. Eine grosse
Skulptur, wie der Paulus des P. Romano an der hngelsbrücke, repräsentiert noch
den altertümlichen Typus.
ANDREA DEL SARTO. MADONNA UND HEILIGE 165

hundert kommt der Engel auf


Wolken. Das Wunderbare ist

im heiligen Bilde wieder zu-


gelassen. In zwei begleitenden
Engelfiguren mit lockigem
Haar und weich beschattetem
Auge ist der angeschlagene
schwärmerische Ton aufge-
nommen und weitergeführt.
Der herkömmlichen An-
ordnung entgegen steht Maria
links und der Engel kommt
von rechts. Vielleicht wollte
Andrea, dass der vorge-
streckte (rechte) Arm den Kör-
per nicht decke. Die Figur
bekommt dadurch erst ihre
Andrea del Sarto. Verkündigung
ganze ausdrucksvolle Klar-
heit. Der Arm ist nackt —
ebenso wie die Beine der begleitenden Engel —
und die Zeichnung verrät wohl den Schüler des Michelangelo. Wie
die linke Hand den Lilienstengel fasst, ist ganz michelangelesk.
Das Bild ist noch nicht völlig frei von zerstreuendem Detail, allein
die Hintergrundarchitektur ist in ihrer Art vortrefflich und neu. Sie
festigt die Figuren und verbindet sie. Auch die landschaftlichen Linien
gehen mit der Hauptbewegung zusammen.
Der Palazzo Pitti enthält noch eine zweite Verkündigung aus der
Spätzeit Andreas (1528), ursprünglich in eine Lünette gemalt und jetzt
zum Rechteck ergänzt. Sie giebt den Gegensatz von Anfang und Ende
in erschöpfender Deutlichkeit. An malerischer Bravour der ersten weit
überlegen^ zeigt diese zweite Darstellung doch eine Leere des Ausdrucks,
über die uns aller Zauber der Luft- und Gewandbehandlung nicht hin-
wegtäuschen kann.
In der Madonna dellearpie erscheint Maria als die reife

Frau und Andrea als der reife Künstler. Es ist die vornehmste Madonna
in Florenz, königlich in ihrer Präsentation und selbstbewusst^ und dadurch
ganz anders als Raffaels Sixtina, die nicht an sich denkt.
Statuengleich steht sie auf einem Postament und blickt herab. Der
Knabe hängt an ihrem Hals, und sie trägt mühelos die grosse Last auf
einem Arm. Der andere greift abwärts und hält ein Buch gegen den
Schenkel gestemmt. Auch das ein Motiv des monumentalen Stils. Nichts
Mütterliches und Intimes, kein genrehaftes Spielen mit dem Buche,
166 DIE KLASSISCHE KUNST

sondern die ideale Pose.


Sie kann so gar nicht ge-
lesen haben oder lesen
wollen. Wie die Hand sich
breit über die Kante des
Buches legt, ist ein beson-
ders schönes Beispiel der
cinquecentistischen grossen
Gebärde. ^)

Die beigeordneten Hei-


ligen, Franz und Johannes
der Evangelist, beide reich
ausgestattet mit Bewegung,
sind der Madonna doch
untergeordnet schon da-
durch, dass sie nur in Pro-
filstellung erscheinen. Eng
zusammengeschoben bilden
die Figuren einen einheit-
Andrea del Sarto. Madonna delle arpie
lichen Komplex und die in-
haltreiche Gruppe gewinnt
noch an Kraft durch ihr räumliches V^erhältnis: kein Stückchen über-
flüssigen Raumes, überall rühren die Körper an den Bildrand. Merk-
würdig, dass trotzdem kein Gefühl von Enge entsteht. Eines der gegen-
wirkenden Mittel ist das nach oben weiterführende Pilasterpaar.
Zu dem plastischen Reichtum kommt der malerische Reichtum der
Erscheinung. Andrea sucht dem Auge die Silhuetten, an denen es ent-
lang gehen kann, zu nehmen, und statt der zusammenhängenden Linie
ihm nur einzelne helle Wölbungsflächen zu bieten. Da und dort taucht
ein beleuchteter Teil aus dem Dämmerlicht auf, um gleich wieder im
Schatten zu verschwinden. Die gleichmässig klare Ausbreitung der
Formen im Licht hört auf. Das Auge wird in beständiger reizvoller Be-
wegung erhalten und es resultiert eine räumlich leibhaftige Wirkung der
Körper, die dann natürlich über allen früheren Reichtum des Flächenstils
triumphiert.
Eine malerisch noch höhere Stufe ist bezeichnet durch das Bild der
D i s p u t a im Palazzo Pitti. Vier Männer, stehend, in Wechselrede. Man
denkt unwillkürlich an die Gruppe des Nanni di Banco, a'n Orsanmichele.

') Nach dem Vorbild des Petrus auf Raffaels Madonna del baldaccliino.
ANDREA DEL SARTO. MADONNEN UND HEILIGE 167
168 DIE KLASSISCHE KUNST

reich in der malerischen Entwicklung und Zusammenstellung der Fi-


guren. ^) Man meriit, wie leicht es ihm gewesen ist, solche reichwirkende
Kompositionen hervorzubringen, aber der Eindruck bleibt denn auch ein
äusserlicher.
Auch die Madonna delle arpie hat keine vollkommene Nachfolge
mehr gefunden.
Das neuerdings modisch gewordene Thema der Madonna in der
Glorie oder vielmehr in Wolken musste Andreas Geschmack besonders
gut gelegen sein. Er öffnet den Himmel und lässt eine grosse Hellig-
keit erscheinen und, wie es der Zeitstil mit sich brachte, zieht er die
Madonna mit ihren Wolken tief herunter, mitten hinein in die Versamm-
lung der sie kreisförmig umstehenden Heiligen. Die Abwechslung von
Steh- und Kniefiguren ist schon selbstverständlich, ebenso wie das syste-
matische Wirtschaften mit den Kontrasten der Auswärts- und Einwärts-
wendung, des Hinauf- und Hinabblickens u. s. w. Sarto fügt noch hinzu
die Kontraste ganz heller und ganz dunkler Köpfe und bei der Aus-
teilung dieser Accente wird gar keine Rücksicht auf das Woher von
Licht und Schatten genommen. Es ist auf ein allgemeines starkes Auf-
und Abwogen im Bilde abgesehen. Dass bestimmte Rezepte äusserlich
angewendet sind, merkt man sehr bald, aber eine gewisse Notwendig-
keit, die aus dem Temperament Andreas stammt, ist dem Eindruck dieser

Bilder doch nicht abzusprechen.


Als Beispiel möge hier die Madonna v o n 1524 (Pitti, s. Abb.)
figurieren. Nach Charakteren darf man nicht fragen, die Madonna ist

sogar schon recht trivial. Die zwei Knienden sind Wiederholungen aus
dem Bilde der Disputa, mit den charakteristischen Verschärfungen der
routinierteren Hand. Der Sebastian möchte auf das gleiche Modell
zurückgehen wie die bekannte Halbfigur des jugendlichen Johannes (siehe
unten), in malerischem Geschmack ist er hier so behandelt, dass der
Kontur fast gar nichts zu sagen hat, sondern nur die helle Fläche der
offenen Brust zu Worte kommt.
Alle Register sind schliesslich gezogen in dem grossen Berliner
Bilde von 1528. Wie es bei Bartolommeo schon vorkommt, sind hier
die Wolken in einen geschlossenen architektonischen Raum hereinge-
nommen. Dazu eine Nische, vom Rahmen überschnitten; das Treppen-
motiv und auf den Stufen die Heiligen, die so nun auch räumlich stark
differenziert werden können. Die vordersten Figuren erscheinen nur als
Halbfiguren, ein Motiv, das die hohe Kunst bisher absichtlich vermieden
hatte.

') Ursprünglicli standen zwei Putten in der Mitte, die jetzt herausgenommen
und einzeln aufgehängt sind.
ANDREA DEL SARTO. MADONNA UND HEILIGE 169

Von den heiligen


Familien wäre dasselbe
zu sagen, was schon bei Raf-
fael zu dem Thema gesagt
wurde. Es war auch für An-
drea das künstlerische Ziel,

auf kleiner Fläche reich zu


sein. Er bringt darum seine
Figuren als hockende und
kniende nah an den Boden
und ballt dann drei, vier
bis fünf Personen zu einem
Knäuel zusammen. Der
Grund pflegtschwarz zu
sein. Es giebt eine Reihe
von Bildern dieser Art. Die
guten werden die sein, wo
man zuerst unter den Ein-
druck der natürlichen Ge-
bärde kommt und erst
Andrea del Sarto. Madonna mit sechs Heiligen (1524)
nachher an das Formpro-
blem denkt.
Raffael gegenüber, behauptet die Ma-
Eine Sonderstellung, auch
donna del Sacco von 1525 (Kreuzgang der Annunziata, s. Abb.). Ein
Hauptbeispiel für den vollendet weichen Freskovortrag im allgemeinen
und die malerische Faltengebung im besonderen, besitzt das Bild vor
allem den Vorzug eines nicht wieder erreichten kecken Wurfes in der
Anordnung der Figuren. Maria sitzt nicht zentral, sondern seitlich, die
Gleichgewichtsstörung wird aber aufgehoben durch den gegenüber ge-
lagerten Joseph, der, tiefer in denRaum hineingerückt, als Masse zwar
kleiner erscheint, aberwegen der grösseren Entfernung von der Mittel-
achse in der Gewichtsabrechnung ebensoviel bedeutet. Wenige klare
Hauptrichtungen sorgen für die monumentale Fernwirkung. Sehr ein-
facher Kontur bei grossem Reichtum im Innern. Das pompöse breite
Motiv der Madonna ist gewonnen durch den tiefen Sitz. Der auf-
blickende Kopf wird seine Wirkung nie versagen, auch wenn man sich
eingesteht, dass es ein äusserlicher Effekt ist. Der Augenpunkt liegt
tief, entsprechend der wirklichen Situation: das Fresko befindet sich über
einer Thür.
Unter den Einzelheiligen Andreas hat der jugendliche Johannes der
Taufe r (Pitti, s. Abb.) einen Weltruhm. Er gehört zu dem halben Dutzend
170 DIE KLASSISCHE KUNST

Andrea di.' na del Saccu

von Bildern, die während der Reisesaison Italien im Schaufenster


in

keiner Photographiehandlnng fehlen dürfen. wäre nicht uninteressant,


F:s

zu fragen, seit wann er diese Stellung besitzt und welchen Modeströ-


mungen auch diese erklärten Lieblinge des Publikums unterworfen sind.
Die strenge leidenschaftliche Schönheit, die man ihm nachrühmt (Cicerone),
verflüchtigt sich sofort, wenn man Raffaels Johannesknaben in der Tri-
buna vergleicht, aber es bleibt immer ein hübscher Bursche. ^) Leider
hat das Bild sehr gelitten, so dass die beabsichtigte malerische Wirkung,
wie das helle Fleisch aus dem Dunkel herauskommt, nur noch erraten
werden kann. Die fassende Hand mit der Drehung im Gelenk ist von
der guten Art Andreas. Charakteristisch ist, wie er überall für Über-
schneidungen der Silhuette sorgt und die eine Seite des Körpers ganz
verschwinden Der Gewandschwall, der die Gegenrichtung zu der
lässt.

dominierenden Vertikale abgeben soll, erinnert schon an die Extravaganzen

des 17. Jahrhunderts. Zu der seitlichen Schiebung der Figur (mit dem
leeren Raum rechts) wäre der Violinspieler Sebastianos zu vergleichen.
Eine Schwester besitzt dieser Johannes in der sitzenden Agnes des
Domes von Pisa, eines der reizendsten Bilder des Meisters, wo er auch
einmal an den ekstatischen Ausdruck zu streifen scheint. Doch bleibt

') liat dasselbe Modell benutzt


Sarto in dem Isaak der Opferung (Dresden),
die bald nach 1520 gemalt wurde. Auch in der Madonna von 1524 habe ich es
noch einmal zu erkennen geglaubt.
ANDREA DEL SARTO. MADONNEN UND HEILIGE 171

es bei einem halbscheueii Empor-


blicken der Heiligen. Jene höchsten
Zustände der Empfindung waren
ihm ganz unzugänglich und es war
ein Fehler, ihm die A s s u n t a in
Auftrag zu geben. Er hat sie zwei-
mal gemalt. Die Bilder hängen im
Palazzo Pitti. Weder im Ausdruck
ist er hier zureichend, noch in der
Bewegung und auch das war
vorauszusehen. Was soll man
sagen, wenn man hier —
nach
1520 — bei einer Himmelfahrt der
Maria noch die blosse Sitzfigur
findet! Freilich wäre auch so immer
noch eine würdigere Lösung zu
finden gewesen. Das Beten bei
Andrea del Santo. Johannes der Täufer
Sarto ist aber ebenso nichtssagend
wie die lächerliche Verlegenheits-
gebärde, dass Maria den Mantel auf dem Schoss festnimmt. Bei den
Aposteln am Grabe hat er beidemal Johannes als Hauptfigur herausge-
nommen und ihm die feine Bewegung der Hände gegeben, wie man sie
auf Jugendbildern findet. Doch wird man den Eindruck bewusster Eleganz
nicht völlig los und die Empfindung bei den überraschten Aposteln hat über-
haupt keine hohe Temperatur. Immerhin, wie viel angenehmer ist diese
Stille als das Lärmen der römischen Schule in der Gefolgschaft Raffaels.

Die Lichtrechnung geht dahin, dass der Glanz des Himmels in der
dunklen irdischen Szene seinen Kontrast haben soll. Bei dem zweiten,
späteren Bilde hat er dann aber doch schon von unten an einen hellen
Schlitz offen gelassen und ein grösserer Maler der Bev/egung, Rubens,
ist ihm darin nachgefolgt, weil es nicht gut ist, mit einer so stark be-
tonten Horizontale das Bild einer Himmelfahrt auseinanderzulegen.
Die zwei knienden Heiligen in der ersten Assunta stammen von
Fra Bartolommeo; bei der zweiten Redaktion wurde das Motiv der Knie-
figuren im Vordergrunde beibehalten und dem Kontrast zuliebe ist auch
die Trivialität nicht vermieden, dass der eine der Männer und hier —
ist es ein Apostel —
während des feierlichen Aktes aus dem Bilde heraus
den Beschauer ansieht. Hier liegt der Anfang zu den gleichgültigen
Vordergrundfiguren des 17. Jahrhunderts; die Formen der Kunst sind
schon deutlich als ausdruckslose Formeln gemissbraucht.
Von der Pietä im Palazzo Pitti wollen wir ganz schweigen.
172 DIE KLASSISCHE KUNST

4. Ein Bildnis Andreas


Andrea hat nicht viele Porträts gemalt und man wird ihm von
vornherein keine besondere Disposition zum Porträtmaler zutrauen; allein
es giebt einige jugendliche Bildnisse von ihm, Männerbildnisse, die mit
einem geheimnisvollen Reiz den Beschauer fesseln. Es sind die be-
kannten zwei Köpfe in den Uffizien und im Pitti und die Halbfigur in
der Nationalgalerie in London. Sie besitzen die ganze Noblesse von
Andreas bester Art und man fühlt, der Maler habe hier etwas Besonderes
sagen wollen. Es ist nicht zu verwundern, dass sie als Selbstbildnisse
aufgefasst worden sind. Und doch lässt sich mit Bestimmtheit sagen,
dass sie das nicht sein können.
Wir haben hier den gleichen Fall wie bei Hans Holbein d. J., wo
sich zu Gunsten des schönen Anonymen schon früh ein Vorurteil ge-
bildet hat, das schwer auszurotten ist; man hat das echte Bildnis Holbeins
(Zeichnung in der Sammlung der Malerbildnisse in Florenz), aber man
will nicht die Konsequenz ziehen, dass es andere ausschliesse, weil sich
die Vorstellung ungern von dem schöneren Typus trennt.
Das echte Porträt des jungen Andrea findet sich auf dem Fresko
des Zuges der Könige im Hofe der Annunziata und das des älteren
Mannes in der Sammlung der Malerbildnisse (Uffizien). Sie sind voll-
kommen sicher zu bestimmen, Vasari spricht von beiden. Die erstge-
nannten Bilder lassen sich mit diesen Zügen nicht vereinigen, ja, selbst
unter sich scheinen sie sich nicht zu vertragen, das Londoner Bild möchte
doch einen anderen Mann darstellen als die Florentiner. Diese zwei
aber reduzieren sich auf eines, insofern sie sich Linie für Linie ent-
sprechen bis in die Details der Falten. Das Exemplar der Uffizien ist

offenbar die Kopie, und das Urbild ist das Gemälde im Pitti, das, ob-
wohl nicht intakt, noch immer die feinere Hand offenbart. Von ihm
allein soll hier die Rede sein.

Der Kopf taucht aus dunkelm Grunde hervor. Er ist nicht knallig
auf schwarzer Folie herausmodelliert, wie man das etwa bei Perugino
findet, sondern er bleibt wie befangen in der grünlichen Dämmerung.
Das höchste Licht liegt nicht auf dem Gesicht, sondern auf einem zu-
fällig sichtbar werdenden Stückchen des Hemdes am Halse. Kutte und
Kragen sind stumpf farbig, grau und braun. Die Augen blicken gross
und ruhig aus ihren Höhlen hervor. Bei allem malerisch-lebendigen
Vibrieren besitzt die Erscheinung die höchste Festigkeit' durch die Ver-
tikale der Kopfhaltung, die reine Faceansicht und die ganz ruhige Licht-
führung, die gerade die Hälfte des Kopfes hervorholt und gerade die
notwendigen Punkte aufhellt. Mit einer plötzlichen Wendung scheint
ANDREA DEL SARTO
SOG. SELBSTPORTRÄT
174 DIE KLASSISCHE KUNST

sich der Kopf für einen Moment in diese Ansicht eingestellt zu haben,
wo die Vertikal- und Horizontalachsen in absoluter Reinheit erscheinen.
Die Vertikale geht durch bis in die Spitze des Baretts. Die Einfalt der
Linien und
Ruhe der grossen Licht- und Schattenmassen verbindet
die
sich mit der klaren Formenbezeichnung von Andreas Meisterstil. Überall
ist das Feste durchzuspüren. Wie der Augen-Nasenwinkel herauskommt,
wie das Kinn sich modelliert oder ein Backenknochen angegeben ist,
erinnert durchaus an den Stil des Disputabiides, das offenbar ungefähr
gleichzeitig entstanden ist. ^)

Man darf diesen feinen und


Kopf wohl als einen
geistvollen
Idealtypus im Sinne des 16. Jahrhunderts auffassen. Gerne möchte man
ihn mit dem Violinspieler zusammen, dem er innerlich und äusserlich
verwandt ist, in die Reihe der Künstlerbildnisse stellen. In jedem Falle
ist es eines der schönsten Beispiele der hochaufgefassten Menschenform

des Cinquecento, deren gemeinsame Grundlage bei Michelangelo zu


suchen sein möchte. Den Eindruck des Geistes, der die Delphica ge-
schaffen, wird man auch hier nicht verkennen können.
Als ein mehr lionardeskes Gegenstück zu diesem Bildnis des Andrea
darfmanden sinnenden Jüngling im Salon Carre imLouvre nennen (s. Abb.),
ein vorzügliches Bild, das schon die verschiedensten Namen gehabt hat,
jetzt aber, wie mir scheint mit Recht, dem Franciabigio zugeschrieben
wird, ebenso wie jener ganz beschattete Jünglingskopf von 1514 im
Palazzo Pitti, wo die linke Hand auf der Brüstung mit einer noch etwas
altertümlich-steifen Gebärde des Sprechens sich aufrichtet. -) Das Pariser
Bild ist später gemalt als dieses (um 1520) und die letzten Spuren von
Steifheit oder Befangenheit sind getilgt. Der Jüngling, dem etwas
Schmerzliches die Seele bewegt, sieht mit gesenktem Blick vor sich hin,
wobei die leichte Wendung und Neigung des Kopfes ausserordentlich
charakteristisch wirkt. Der eine .Xrm liegt auf einer Brüstung und die
rechte Hand legt sich darüber, und auch diese Bewegung hat in ihrer
Weichheit etwas ganz Persönliches. Das Motiv ist nicht ungleich dem
der Mona Lisa, aber wie sehr ist hier doch alles aufgelöst in momentanen
Ausdruck und das anspruchsvolle Präsentationsbild in ein Stimmungsbild
von genrehaftem Reiz umgewandelt. Man fragt nicht gleich: wer ist das?
sondern interessiert sich zunächst für den dargestellten Moment. Die tiefe
Beschattung der Augen dient hier im besonderen dazu, den trübblickenden

Schon darum kann das Bild unmöglich Selbsporträt sein: als Andrea so
')

malte, warer nicht mehr der junge Mensch, der hier sich zeigt.
') Die Handbewegung konmit genau so wieder vor bei der Hauptfigur auf

Franciabigios Abendmahl (Calza, Elorenz) und möchte in letzter Instanz auf den Chri-
stus in Lionardos Cenacolo zurückgehen, das Franciabigio gekannt und benutzt hat.
FRANCIABIGIO
BILDNIS EINES JÜNGLINGS
176 DIE KLASSISCHE KUNST

Melancholiker zu charakterisieren. Auch der Horizont in seiner besonderen


Art wird ein Ausdrucksfaktor. Falsch wirkt nur der Raum, der beim
Original nach allen Seiten vergrössert worden ist. Unsere Abbildung
versucht die ursprüngliche Ansicht herzustellen.

Eigentümlich moderne Töne klingen in diesem träumerischen Bildnis


viel feiner ist es empfunden als etwa Raffaels
jugendliches
an. Wie
Selbstporträt in den Uffizien.Das Sentimento des 15. Jahrhunderts hat
immer etwas Aufdringliches gegenüber dem mehr verhaltenen Stimmungs-
ausdruck des klassischen Zeitalters.
VII. Michelangelo (nach 1520)
1475—1564

Keiner der grossen Künstler hat in gleicher Weise wie Michel-


angelo von allem Anfang an bestimmend auf seine Umgebung gewirkt
und nun ist es des Schicksals Wille gewesen, dass dieser stärkste und
eigenmächtigste Genius auch noch die längste Lebensdauer haben sollte.

Als alle anderen zu Grabe gegangen sind, bleibt er noch am Werke,


mehr als ein Menschenalter. Raffael ist 1520 gestorben. Lionardo und
Bartolommeo schon vorher. Sarto lebte zwar bis 1531, allein das letzte
Jahrzehnt bedeutet am wenigsten bei ihm und man sieht nicht ab, dass
er noch eine Entwicklung vor sich gehabt hätte. Michelangelo aber
ist keinen Augenblick stille gestanden und in der zweiten Hälfte seines
Lebens scheint sich die Summe seiner Kräfte erst zusammenzuschliessen.
Es entstanden die Medicäergräber, das Jüngste Gericht und Sankt Peter.
Für Mittelitalien gab es jetzt nur noch eine Kunst und über den neuen
Offenbarungen Michelangelos sind Lionardo und Raffael vollständig ver-
gessen worden.

1. Die Medicäerkapelle
Die Grabkapelle von S. Lorenzo ist eines der wenigen Beispiele
der Kunstgeschichte, wo Raum und Figuren nicht nur gleichzeitig, sondern
mit bestimmter Absicht für einander geschaffen worden sind. Das ganze
15.Jahrhundert hat den isolierenden Blick gehabt und das einzelne Schöne
an jeder Stelle schön gefunden. In einem Prachtraum wie der Grabkapelle
des Kardinals von Portugal auf S. Miniato ist der Grabbau ein Stück,
das man eben da hineingestellt hat, das aber ebensogut anderswo sich
befinden könnte, ohne an Wirkung zu verlieren. Auch bei dem Julius-
grab hätte Michelangelo die Räumlichkeit nicht in der Hand gehabt, es
hätte ein Gebäude im Gebäude werden sollen. Erst das Projekt der
WölHlin, Die klassische Kunst 12
178 DIE KLASSISCHE KUNST

Lorenzofassade, die er als


architektonisch-plastisches
Schaustück an der medi-
cäischen Familienkirche in
Florenz aufführen sollte,

enthielt die Möglichkeit,


Figuren und Bauformen mit
bestimmter Wirkungsrech-
nung im grossen zusammen-
zukomponieren. Das Pro-
jekt hat sich zerschlagen.
Wenn aber hier die Archi-
tektur doch nur Rahmen
hätte sein können, so war
es künstlerisch noch dank-
barer, in der neuen Auf-
gabe der Grabkapelle einen
Raum zu bekommen, der
Michelangelo. Grab des Loreiizo .Mcdici mit den 1 i^^urcii nicht nur eine freiere Aus-
Morgen und Abend dehnung für die Plastik zu-
liess, sondern der auch das
Licht völlig in die Hände des Künstlers gab. Michelangelo hat denn auch
damit als mit einem wesentlichen Faktor gerechnet. Für die Figur der
Nacht und für die Figur des „Penseroso" hat er die vollkommene Be-
schattung des Antlitzes vorgesehen, ein Fall, der in der Plastik keine
Antecedcnzien besitzt.

Die Grabkapelle enthält die Denkmäler von zwei jung verstorbenen


Familiengliedern, des Flerzogs Lorenzo von Urbino und des Giuliano,
Herzog von Nemours. Fin älterer Plan, der auf eine viel umfassendere
Repräsentation des Geschlechtes ausging, war fallen gelassen worden.
Das Schema der Gräber ist eine Gruppierung von drei Figuren:
der Verstorbene, nicht schlafend, sondern lebendig als Sitzfigur, und
dazu auf den abschüssigen Deckeln eines Sarkophags zwei Liege-
figuren als Begleitung. Es sind hier die Tageszeiten gewählt statt der
Tugenden aus denen man sonst die Ehrenwache der Toten zu for-
mieren pflegte.
Nun macht sich bei dieser Disposition gleich ein Sonderbares be-
merklich. Das Grab besteht nicht aus einer selbständigen- Architektur mit
Figuren, die derWand vorgestellt wäre, —
nur der Sarkophag mit seiner
Bekrönung steht vor der Mauer, der Held aber sitzt in der Mauer drin.
Es greifen also zwei räumlich ganz verschiedene Elemente zu vereinter
MICHELANGELO. DIE MEDICÄERKAPELLE 179

Wirkung zusammen, und zwar so, daß die Sitzfigur tief herabreicht bis
zwischen die Köpfe der liegenden Figuren.
Diese selbst haben das merkwürdigste Verhältnis zu ihrer Unter-
lage: die Sarkophagdeckel sind so knapp und die Flächen so abschüssig,
dass sie eigentlich herunterrutschen müssten. Man hat gemeint, die
Deckel seien vielleicht mit einer aufwärts gerichteten Schlussvolute am
unteren Ende zu vervollständigen, die den Figuren Halt und Sicherheit
gäbe und so ist es in der Tat gehalten an dem (von Michelangelo
abhängigen) Grab Paul III. in S. Peter; andererseits aber wird versichert,
dass die Figuren dabei Schaden nähmen, dass sie weichlich würden und
die Elastizität verlören, die sie jetzt haben. Jedenfalls ist es wahrschein-
lich, dass eine so abnorme Anordnung, die jeden Laien sofort zur Kritik
auffordert, einen Autor haben muss, der viel riskieren durfte. Ich glaube
daher auch, dass nur auf Michelangelos Verantwortung hin die Sache so
gemacht wurde wie sie ist.^)

Das Verletzende liegt nicht in der Unterlage allein, auch nach oben
ergeben sich Dissonanzen, die anfänglich kaum begreiflich scheinen. Es
ist unerhört, wie rücksichtslos die Figuren das Brüstungsgesimse über-
schneiden dürfen. Die Plastik setzt sich hier offenbar in Widerspruch
mitdem Hausherrn, der Architektur. Der Widerspruch wäre unerträglich,
wenn er nicht eine Lösung fände. Sie ist gegeben in der abschliessenden
dritten Figur, insofern diese mit ihrer Nische sich vollkommen einigt.

Es ist also nicht nur auf einen dreieckigen Figurenaufbau abgesehen,


sondern es haben die Figuren in ihrem Verhältnis zur Architektur eine
Entwicklung. Während bei Sansovino alles gleichmässig innerhalb der
Nischenräume geborgen und beruhigt erscheint, haben wir hier eine
Dissonanz, die erst gelöst werden muss. Es ist das gleiche Prinzip, das
Michelangelo beim Juliusgrab in seiner letzten Redaktion verfolgt, wo
die Pressung der Mittelfigur in den schönräumigen Nebenfeldern sich
auflöst. In grösstem Massstab aber hat er diese neuen künstlerischen
Wirkungen in dem äusseren Aufbau von S. Peter zur Geltung kommen
lassen.-)
Die Nische schliesst sich ganz eng um die Feldherrn, kein schwächen-
der, überflüssiger Raum. Sie ist sehr flach, so dass die Plastik heraus-
drängt. Wie der weitere Gedankengang lautet, warum gerade die Mittel-
nische keine Giebelkrönung hat und der Accent auf die Seiten umspringt,
kann hier nicht ausgeführt werden: Der Hauptgesichtspunkt bei der

') Es giebt auch einen direkten Beweis hiefür. Auf der von Symonds publizierten

Zeichnung des British Museum (Hfe of Michelangelo I. 384) kommt eine Figur auf
analog gebildetem Deckel vor, nebensächlich hingeworfen, aber vollkommen deutlich.
2) Vgl. Wölfflin, Renaissance und Barock.^* S. 43.

12*
180 DIE KLASSISCHE KUNST

war jedenfalls der, durch lauter kleine Glieder


architektonischen Einteilung
den Figuren eine günstige Folie zu geben. Und von hier aus kann
man vielleicht auch eine Legitimation für die kurzen Sarkophagdeckel
finden. Es sind Kolossalfiguren, die darauf liegen, aber sie sollen auch
als solche wirken. Auf der ganzen Welt
wohl kein zweiter existiert
Raum mehr, wo die Plastik gleich gewaltig spricht.
Die ganze Archi-
tektur mit ihren schlanken Feldern und ihrer Zurückhaltung in den Tiefen-
maassen steht hier im Dienste der Figurenwirkung.
Ja, es scheint eigentlich darauf abgesehen zu sein, dass die Figuren
in dem Raum als übergross erscheinen sollen. Man erinnert sich wohl,
wie schwer es Abstand zu nehmen, wie man förmlich beengt ist,
ist,

und was soll man sagen, wenn man hört, dass noch vier weitere Figuren
— am Boden liegende Flüsse —
hier hätten untergebracht werden
sollen. Der Eindruck müsste erdrückend gewesen sein. Es sind die
Wirkungen, die mit der befreienden Schönheit der Renaissance nichts
mehr gemein haben. ^)
Es ist Michelangelo versagt geblieben, das Werk eigenhändig zu
Ende zu redigieren —
die Kapelle hat bekanntlich durch Vasari ihre
jetzige Gestalt erhalten —
allein man darf annehmen, dass wir das
,

Wesentliche seiner Gedanken doch bekommen haben.


Die Kapelle ist in einzelnen Gliederungen dunkel gebeizt, sonst
völligmonochrom, Weiss in Weiss. Es ist das erste grosse Beispiel der
modernen Farblosigkeit.
Die liegenden Figuren der „Tageszeiten" versehen, wie gesagt, die
Rolle der sonst üblichen Tugenden. Spätere haben den Typus in diesem
Sinne benutzt, allein die Möglichkeit, im Bewegungsmotiv charakteristisch
zu sein, war bei den verschiedenen Tageszeiten so viel grösser, dass
man schon daraus den Entschluss Michelangelos erklären könnte. Der
Ausgangspunkt war aber wohl überhaupt die Forderung des Liegemotivs,
wobei er die völlig neue Konfiguration mit der Vertikale der Sitzfigur
gewinnen konnte.^)

') Das Modell zu einer dieser Flussgestalten ist neuerdings von Gottschewski

in Florenz aufgefunden worden und jetzt in der Akademie aufgestellt. Vgl. den
zusammenhängenden Bericht über den Fund im Münchener Jahrbuch der bildenden
Kunst I {n>ü6). Im jetzigen Figurensystem hätten diese Bodenfiguren allerdings
keinen Platz mehr; als sie konzipiert wurden, war die (iruppe der oberen Gestalten
noch lichter und höher hinaufgesclioben.
-) Von spezielleren Deutungsversuchen der Tageszeitungen werden diejenigen am

meisten Aussicht auf Erfolg haben, die die Grundlagen in kirchlichen Texten suchen,
wie das neuerdings Brockhaus getan hat, ohne mich einstweilen zu überzeugen. Man
möge doch nicht übersehen, wo die Figuren angebracht sind: auf dem Sarkophag, der
den Leib enthält. Giebt es einen mächtigeren Ausdruck dafür, dass der Leib dem Ver-
MICHELANGELO. DIE MEDICÄERKAPELLE 181

Die Alten haben ihre Flussgötter gehabt und der Vergleich mit den
zwei prachtvollen antiken Figuren, denen iMichelangelo selbst auf dem
Kapitol einen Ehrenplatz eingeräumt hat, ist für die Erkenntnis seines
Stiles sehr lehrreich. Er stattet das plastische Motiv mit einem Reich-
tum aus, der alles frühere weit überbietet. Das Umdrehen des Körpers
bei der Aurora, die sich uns entgegenwälzt, die Überschneidungen, wie
sie bei dem emporgestellten Knie der Nacht sich ergeben, haben nicht
ihresgleichen. Die Figuren besitzen eine ungeheuere Anregungskraft,
weil sie voll sind von Flächendivergenzen und Richtungskontrasten im
grossen. Und bei diesem Reichtum wirken Der
sie noch immer ruhig.
starke Drang zum
Formlosen begegnet einem stärkeren Willen zur Form.
Die Figuren find nicht nur klar in dem Sinne, dass der Vorstellung alle
wesentlichen Anhaltspunkte geboten werden und die Hauptrichtungen
sofort mächtig heraustreten,^) sie leben auch innerhalb ganz einfacher
Raumgrenzen; sie und geschichtet und können als reine
sind gefasst
Es ist erstaunlich, wie die Aurora bei all ihrer
Reliefs aufgefasst werden.
Bewegung scheibenhaft in diesem Sinne bleibt. Der aufgehobene linke
Arm giebt eine ruhige Grundfläche ab und vorn liegt alles in einer
parallelen Ebene. Spätere haben dem Michelangelo wohl die Bewegung
abgesehen und ihn darin noch zu überbieten versucht, aber die Ruhe ist

nicht von ihnen verstanden worden. Am allerwenigsten von Bernini.


Liegefiguren gestatten die höchste Steigerung der Kontrapost-
wirkungen, weil sich die Glieder Bewegung
mit ihrer gegensätzlichen
ganz nahe zusammenschieben Das formale Problem erschöpft
lassen.
hier aber nicht den Inhalt der Figuren, der Naturmoment spricht aufs
stärkste mit. Der müde Mann, dem die Gelenke sich lösen, ist eine
rührende Darstellung des Abends, der zugleich der Lebensabend zu sein
scheint,und wo ist je das schwere Aufwachen am Morgen überzeugender
gegeben worden als hier?
Ein verändertes Gefühl lebt freilich in all diesen Figuren. Michel-
angelo erhebt sich nicht mehr zu dem freien freudigen Atemzug der
Sixtina. Alle Bewegung ist zäher, schwerer; die Leiber lasten wie Berg-
massen und der Wille scheint nur mühsam und ungleich sie durchdringen
zu können.
Die Verstorbenen erscheinen als Sitzfiguren. Das Grab will nicht

gehen überliefert ist, als diese Darstellung der wechselnden Erscheinung der Zeit,
Kolossalfiguren, die auf den Gräbern lasten, niedergehalten durch das starke Brü-
stungsgesims, ganz der Horizontale unterworfen! Und darüber dann frei empor-
gehend das Vertikalsystem mit dem lebendigen Bilde des ,, Verewigten".
') Bei der Nacht scheint der rechte Arm für den Anblick verloren gegangen zu

sein, allein es scheint nur so: er steckt in dem unbearbeiteten Stück Stein über der Larve.
182 DIE KLASSISCHE KUNST

das ruhende Bild des Toten geben,


sondern Denkmal des Lebenden
ein
sein. Einen Vorgänger hat diese Auf-
fassung in dem Grab Innocenz VIII.
von Pollaiuolo in S. Peter, doch ist
dort immerhin die segnende Papst-
figur nicht allein, sondern nur neben
dem liegenden Toten angebracht.
Bei Michelangelo sind es zwei
Feldherrn-Figuren. Es kann auf-
fallen, dass er trotzdem das Sitzen als
Motiv gewählt hat, und zwar ein
lässiges dem viel persön-
Sitzen, in
liche Art dem einen das ver-
ist: bei

_^^ sunkene Nachdenken, bei dem andern


ganz momentanes
i
" V/^r
^^ /^"^
^"^ Seitwärts-
- blicken. Keiner ist in repräsentierende
Pose gebracht. Die Begriffe von Vor-
nehmheit haben sich geändert seit den
Zeiten, als Verrocchio seinen Colleoni
machte, und der Typus des sitzenden
Feldhcrrn ist späterhin sogar festge-

>,?'
halten worden für einen so grossen

^ Heerführer wie Giovanni delle bände


^> jj
nere (Florenz, vor S. Lorenzo).

Aliclitldiigelo. MaJuiiiia MtJiti


Die Behandlung der Sitzfiguren
als solche ist interessant im Hinblick
auf die vielen früheren Lösungen der Aufgabe, die Michelangelo schon
gegeben hat. Die eine nähert sich dem Jcremias von der sixtinischen
Decke, die andere dem Moses. Bei beiden aber sind charakteristische
Veränderungen im Sinne der Bereicherung vorgenommen worden. Man
beachte bei Giuliano (mit dem Feldhcrrnstab) die Differenzierung der
Kniee und die ungleiche Stellung der Schultern. wurden An diesen Mustern
künftighin alle Sitzfiguren auf ihren plastischen Inhalt hin gemessen und
bald ist kein Ende mehr abzusehen in den angelegentlichsten Bemühungen,
mit herumgeworfenen Schultern, hochgesetztem Fuss und verdrehtem
Kopf interessant zu erscheinen, wobei der innere Gehalt notwendig ver-
loren gehen musste.
Michelangelo hat die Verstorbenen nicht persönlich charakterisieren
wollen und auf Porträtzüge sich nicht eingelassen. Auch das Kostüm
ist ideal. Nicht einmal eine Inschrift erklärt das Denkmal. Es mag hier
.

MICHELANGELO. DIE MEDICÄERKAPELLE 183

ein bestimmter Wille vorhanden ge-


wesen sein, denn auch das Juliusgrab
trägt keine Bezeichnung.
Die Medicäerkapelle enthält noch
eine Sitzfigur anderer Art, eine Ma -

donnamitdemKinde (s. Abb. )


Sie zeigt den reifen Stil Michelangelos
in der vollkommensten Form und ist

uns umso wertvoller, als die Vergleich-


ung mit der analogen Jugendarbeit
der Madonna von Brügge seine künst-
lerische Entwicklung ganz klar machen
und über seine Intentionen gar keinen
Zweifel mehr lassen wird. Soll man
jemanden in die Kunst Michelangelos
Michelangelo. Der Petersburger Knabe
einführen, so wäre es eine passende
Aufgabe, gerade mit der Frage an-
Madonna Medici aus der Brügger
zufangen, wie sich die Madonna heraus-
gebildet habe. Man müsste sich bei der Gelegenheit klar werden, wie
überall die einfachen Möglichkeiten durch die komplizierten ersetzt sind:
wie die Kniee nicht mehr nebeneinanderstehen, sondern ein Bein über-
geschlagen ist; wie die Arme differenziert sind, dass einer vorgreift und
der andere zurückgestellt ist, wobei die Schultern nach allen Dimen-
sionen sich unterscheiden; wie der Oberkörper sich vorbeugt und der
Kopf sich seitwärts wendet; wie das Kind rittlings auf dem Knie der
Mutter sitzt, nach vorn gerichtet, dabei aber sich zurückdreht und mit
den Händen nach ihrer Brust greift. Und hat man sich des Motivs voll-
kommen bemächtigt, so käme dann die zweite Überlegung, warum die
Figur trotz allem so ruhig wirken könne. Das erste, das Vielerlei, lässt

sich leicht nachahmen, aber das zweite, die Erscheinung als Einerlei,

ist sehr schwer. Die Gruppe erscheint einfach, weil sie klar ist und
mit einem Blick sich fassen lässt, und sie wirkt ruhig, weil der ganze Inhalt
zu einer kompakten Gesamtform sich einigt. Der ursprüngliche Block
scheint nur wenig modifiziert zu sein.
Vielleicht das allerhöchste der Art hat Michelangelo in dem Peters-
burger Knaben geliefert, der zusammengekauert sich die Füsse
putzt. ^) Das Werk sieht aus wie die Lösung einer bestimmten Aufgabe;
als ob es ihm wirklich darum zu thun gewesen sei, einmal mit dem min-
desten Mass von Auflockerung und Zerstückung des Volumens eine mög-

') Springer bezieht ihn jedenfalls irrtümlich auf das Juliusgrab und möchte in

ihm einen unterjochten Gegner sehen. Raffael und Michelangelo IP, 30.
184 DIE KLASSISCHE KUNST

liehst reiche Figur herauszubringen.


So würde Michelangelo den Dornaus-
zieher nach seinem Sinn gemacht
haben. Es ist der reine Würfel, aber
mit höchst intensiver Anregung zu
plastischem Vorstellen begabt.
Wie eine Stehfigur zu dieser
Zeit stilisiert wurde, kann man aus
dem Christusder Minerva in
Rom ersehen, der, in der letzten Aus-
führung verunglückt, der Konzeption
nach ein bedeutendes und sehr folge-
wichtiges Werk genannt werden muss.
Es ist selbstverständlich, dass Michel-
angelo für Gewandfiguren nicht mehr
zu haben war, er bildet also auch den
Christus nackt: nicht als Auferstan-
denen mit der Siegesfahne, er giebt
ihm den Kreuzstamm, und zugleich
damit das Rohr und den Schwamm.
Es musste ihm so sympathisch sein
im Interesse der Masse. Das Kreuz
steht am Boden auf und Christus hält
es mit beiden Händen. Und nun er-
giebt sich zunächst das wichtige Mo-
AiKiKianycio. ( iirisius tiv dcs übcrgrcif cudcn Armes, der die
Brust überschneidet. Man halte sich ja
gegenwärtig, dass das neu ist und dass etwa beim Bacchus an diese Mög-
lichkeit noch gar nicht zu denken gewesen wäre. Das Übergreifen wird
in der Richtung verschärft durch den gegensätzlich sich wendenden Kopf
und in den lüften bereitet sich dann eine weitere Verschiebung vor,
I

indem von den Beinen das linke zurücktritt, während doch die Brust
nach rechts sich dreht. Die Füsse stehen hintereinander und so hat die
Figur eine überraschende Entwicklung nach der Tiefendimension, die
freilich erst recht wirksam wird, wenn sie in der normalen Ansicht ge-
sehen bezw. aufgenommen wird. Die normale Ansicht aber ist die, wo
die Gegensätze alle gleichzeitig in Wirkung treten.')

Das Gebiet einer noch reicheren Möglichkeit betritt Michelangelo,


wo er Steh- und Kniefigur kombiniert, wie in dem sogenannten Sieg
') Leider ist für unsere .\bbilduiig eine solche Au inahme nicht zu beschaffen
gewesen. Der Standpunkt sollte mehr links genonmien sein.
MICHELANGELO. DIE MEDICÄERKAPELLE 85

des Bargello; keine ange-


nehme Schöpfung für unser
Gefühl, aber für die Icünst-
lerische Gefolgschaft des
Meisters von besonderem
Reiz, wie die zahlreichen
Nachahmungen des Motivs
beweisen. Wirgehen darüber
weg, um nur noch der letzten
plastischen Phantasien des
Meisters zu gedenken, der
verschiedenen Entwürfe zu
einer P i e t ä, von denen der
reichste mit vier Figuren
(jetzt im Dom von Florenz)
für sein eigenes Grabmal
bestimmt war.') Gemein-
sam ist ihnen allen, dass
der Christusleichnam nicht
mehr quer auf dem Schoss
der Mutter liegt, sondern Bronzino. Allegorie

halb aufgerichtet in den


Knien zusammenknickt. Es war dabei kaum mehr eine schöne Linie
zu gewinnen, aber Michelangelo suchte sie auch nicht. Das formlose
Zusammensinken einer schweren Masse, das war der letzte Gedanke,
dem er mit dem Meissel Ausdruck geben wollte. Die Malerei hat
sich das Schema ebenfalls angeeignet und wenn man dann bei Bronzino
Gruppe sieht mit dem schrillen Zickzack der Richtungen und
eine solche
dem widrigen Zusammenpressen der Figuren, so wird man es kaum für
glaubhaft halten, dass das die Generation sei, die das Zeitalter Raffaels
und Fra Bartolommeos abgelöst hat.

') Neben der bekannten Gruppe im Palazzo Rondanini in Rom wäre auch noch

zu prüfen ein ähnlicher abozzo im Schloss von Palestrina. (Dieser Hinweis, den ich
schon vor 12 Jahren in der ersten Auflage gegeben habe, ist wirkungslos verhallt. In-
zwischen haben die Franzosen unabhängig die Entdeckung gemacht. S. den gut illu-
strierten Aufsatz der Gaz. des beaux-arts, März 1 907, von A. Garnier, der die Ächtheit
-des Stückes lebhaft befürwortet.)

186 DIE KLASSISCHE KUNST

2. Das Jüngste Gericht und die Capeila Paolina


Sicher ist Michelangelo an die grossen malerischen Aufgaben seines
Greisenalters nicht mit dem Widerwillen gegangen, wie einst, da er die
sixtinische Decke malen
sollte. Er hatte das Bedürfnis, in Massen sich
auszuschwelgen. Im Jüngsten Gericht (1534 41) geniesst er „das pro-
metheische Glück", alle Möglichkeiten der Bewegung, Stellung, Ver-
kürzung, Gruppierung der nackten menschlichen Gestalt in die Wirk-
lichkeit rufen zu können. Er will diese Massen überwältigend geben,
den Beschauer überfluten und er hat die Absicht erreicht. Das Gemälde
erscheint zu gross für den Raum rahmenlos
; dehnt sich die eine ungeheure
Darstellung an der Wand, alles vernichtend, was aus dem älteren Stil an
Fresken da ist. Michelangelo hat auf seine eigene Malerei an der Decke
nicht Rücksicht genommen. Man kann die beiden Sachen nicht zusammen-
sehen, ohne die schroffe Disharmonie zu empfinden.
Die Anordnung an sich ist sehr grandios. Christus ganz hoch
hinaufgeschoben, was von mächtiger Wirkung ist. Im Begriff aufzu-
wenn man ihn ansieht. Ein furchtbares
springen, scheint er zu wachsen,
Drängen um ihn herum von racheheischenden Märtyrern immer dichter ;

kommen sie, immer größer werden ihre Leiber der Massstab ist ganz —
willkürlich geändert — , zu unerhörten Kraftmassen schieben sich die
gigantischen Gestalten zusammen. Nichts einzelnes kommt mehr zur
Geltung, es ist nur noch auf Gruppenmassen abgesehen. An Christus
selbst ist die Figur der Maria angehängt, ganz unselbständig, wie man
in der Architektur jetzt den Einzelpilaster mit einem begleitenden Halb-
oder Viertelpilaster verstärkt.
Die gliedernden Linien sind die zwei Diagonalen, die sich in

Christus treffen; wie ein Blitzstrahl geht die Bewegung seiner Hand
durch das ganze Bild herunter, nicht dynamisch, aber als optische Linie
und die Linie wiederholt sich auf der anderen Seite. Es wäre unmöglich
gewesen, ohne diese symmetrische Ordnung der Hauptfigur Nachdruck
zu geben.
Dagegen ist nun in der Capeila Paolina, wo wir die Historien-
bilder des letzten Alters haben (Bekehrung Pauli und Kreuzigung Petri),

mit aller Symmetrie gebrochen und das Formlose hat noch einmal einen
Fortschritt gemacht. Unvermittelt stosscn die Bilder an wirkliche Pilaster
und aus dem untern Rande steigen Halbfiguren empor. Das ist freilich

nicht mehr klassischer Stil. auch nicht senile Gleichgültig-


Aber es ist
keit: in der Energie der Darstellung übertrifft Michelangelo sich selber.
Machtvoller kann die Bekehrung des Paulus nicht gemalt werden als
es hier geschehen ist. Wie Christus in der Ecke oben erscheint und
DER VERFALL 187

mit seinem Strahl den Paulus trifft und dieser, aus dem Bild heraus-
starrend, aufhorcht nach der Stimme, die hinter ihm aus der Höhe i<ommt,
so ist die Erzählung dieses Ereignisses ein- für allemal erledigt und die
gleiche Darstellung in der Reihe der Raffaelschen Teppiche ist weit
übertroffen. Abgesehen von der Einzelbewegung ist der Effekt dort in
der Hauptsache darum verfehlt, weil der Niedergeworfene den zürnenden
Gott zu bequem vor sich hat; Michelangelo wusste sehr wohl was er
that, als er Christus über Paulus setzte, ihm in den Nacken, so dass dieser
ihn nicht sehen kann; wie er den Kopf aufrichtet und horcht, so glaubt
man in der That den Geblendeten zu sehen, dem eine Stimme vom
Himmel ertönt. Das Pferd findet man auf dem Teppich seitwärts aus-
brechend. Michelangelo nahm es unmittelbar neben Paulus, in schroff
entgegengesetzter Bewegungsrichtung, bildeinwärts. Diese ganze Gruppe
ist unsymmetrisch an den linken Bildrand geschoben und die eine grosse
Linie, die von Christus steil herabgeht, wird dann in flacherer Neigung
nach der anderen Seite hinausgeführt. Das ist der letzte Stil. Gellende
Linien durchzucken das Bild. Schwere geballte Massen und daneben
gähnende Leere.
Auch das Gegenstück, die Kreuzigung Petri, ist in solchen schrillen
Dissonanzen komponiert.

3. Der Verfall
Es wird niemand Michelangelo persönlich für das Schicksal der
mittelitalienischenKunst verantwortlich machen wollen. Er war wie er
sein musste und er bleibt grossartig auch noch in den Verzerrungen
des Altersstils. Aber seine Wirkung war furchtbar. Alle Schönheit wird
nun am Massstab seiner Werke gemessen und eine Kunst, wie sie hier
unter ganz besonderen individuellen Bedingungen in die Welt getreten
war, wird die allgemeine Kunst.
Es ist notwendig, dieser Erscheinung des „Manierismus" noch etwas
näher ins Auge zu sehen.
Alle suchen jetzt die betäubenden Massenwirkungen. Von der
Architektonik Raffaels will man nichts mehr hören. Das Wohlräumige,
das schöne Mass sind fremde Begriffe geworden. Das Gefühl hat sich
ganz abgestumpft für das, was man einer Fläche, einem Räume zumuten
darf. Man wetteifert in dem entsetzlichen Vollpfropfen der Bilder, in

einer Formlosigkeit, die absichtlich den Widerspruch zwischen Raum


und Füllung sucht. Es brauchen nicht einmal viele Figuren zu sein,
auch der einzelne Kopf bekommt ein widriges Verhältnis zum Rahmen
188 DIE KLASSISCHE KUNST

Vasjiri. Venus und Am

und in der Freiplastik setzt man Kolossalfiguren auf minutiöse Untersätze


(Ammannatis Neptun auf der Piazza della Signoria, Florenz).
Die Grösse Michelangelos wird in seinem Bewegungsreichtum ge-
sucht. Michelangelesk arbeiten heisst die Gelenke brauchen und so
kommen wir in jene Welt der vervielfachten Wendungen und Drehungen,
wo die Nutzlosigkeit der Aktion zum limmel schreit. Was einfache Ge-
1

bärden und natürliche Bewegungen sind, weiss niemand mehr. In was


für einer glücklichen Lage ist Tizian, wenn man nur an seine ruhenden
nackten Frauen denkt, gegenüber diesen Mittelitalienern, die die kom-
Bewegungen bringen müssen, um eine Venus für die Augen
pliziertesten
ihres Publikums interessant zu machen. (Man vergleiche als Beispiel
die Vasari zugeschriebene Venus in der Galerie Colonna, mit dem Motiv
des gestürzten lieliodor.) Und dabei ist das schlimmste, dass sie ein
mitleidiges Bedauern sich jedenfalls sehr energisch verbeten haben würden.
Die Kunst ist völlig formalistisch geworden und hat gar keine Be-
ziehung mehr zur Natur. Sie konstruiert die Bewegungsmotive nach
eigenen Rezepten und der Körper ist nur noch eine schematische Gelenk-
und Muskelmaschine. Tritt man vor Bronzinos „Christus in der Vorhölle"
(Uffizien), so glaubt man in ein anatomisches Kabinett zu sehen. Alles
ist anatomische Gelehrsamkeit; von naivem Sehen keine Spur mehr.
DER VERFALL 189

Das stoffliche Gefühl, die Empfindung für die Weichheit der Haut,
für den Reiz der Oberfläche der Dinge scheint abgestorben. Die grosse
Kunst ist die Plastik und die Maler werden Plastikmaler. In einer un-
geheuren Verblendung haben sie allen ihren Reichtum von sich geworfen
und sind bettelarm geworden. Die reizvollen alten Stoffe, wie die An-
betung der Hirten oder der Zug der Könige, sind jetzt nichts mehr als
ein Anlass zu mehr oder weniger gleichgültigen Kurven-Konstruktionen
mit allgemeinen nackten Körpern.

P. Tibaldi. Anbelung der Hirten

Wenn Pellegrino Tibaldi die Bauern malen soll, die vom Felde
hereinkommen und das Kind anbeten (s. Abbildung), so mischt er alles
durcheinander: Athletenkörper, Sibyllen und Engel des Jüngsten Gerichts.
Jede Bewegung ist eine erzwungene und das Ganze lächerlich komponiert.
Das Bild wirkt wie ein Hohn, und doch ist Tibaldi noch einer von den
Besten und Ernsthaften.
Man fragt sich, wo die Festlichkeit der Renaissance hingekommen
sei? Warum ein Bild wie Tizians Tempelgang der Maria um 1540 für
Mittelitalien undenkbar wäre? Die Menschen hatten die Freude an sich
selbst verloren. Man suchte ein Allgemeines, was jenseits dieser gegen-
190 DIE KLASSISCHE KUNST

wärtigen Welt liegt und das Schematisieren verband sich vortrefflich mit
einem gelehrten Antikthun. Die Verschiedenheit der Lokalschulen ver-
schwindet. Die Kunst hört auf, eine volkstümliche zu
sein. Unter solchen
Umständen war ihr nicht an der Wurzel ab und
zu helfen, sie starb
der unselige Ehrgeiz, nur das Monumentale höchster Ordnung geben zu
wollen, beförderte noch den Prozess.
Aus sich selbst konnte sie sich nicht verjüngen, die Erlösung musste
von aussen kommen. Es ist der germanische Norden Italiens, wo der
Quell eines neuen Naturalismus hervorbricht. Man wird den Eindruck
nicht vergessen, den Caravaggio macht, wenn man an der Gleichgültig-
keit der Manieristen sich stumpf gesehen hat. Zum erstenmal wieder
eine Anschauung aus erster Hand und eine Empfindung, die für den
Künstler ein Erlebnis gewesen ist. Die Grablegung in der vatikanischen
Galerie mag ihrem Hauptinhalt nach nur wenigen unter dem modernen
Publikum sympathisch sein, aber es muss doch seine Gründe gehabt

haben, dass ein Maler, der so ungeheuere Kräfte in sich fühlte wie der
junge Rubens, sie in grossem Massstab zu kopieren für gut fand, und
hält man sich nur an eine Einzelfigur, wie die des weinenden Mädchens,
so findet man dort eine Schulter, gemalt in einer Farbe und in einem
Licht, dass vor dieser Sonnenwirklichkeit all die falschen Prätentionen
des Manierismus zerstieben wie ein wüster Traum. Auf einmal wird die
Welt wieder reich und Der Naturalismus des 17. Jahrhunderts
freudig.
und nicht die bolognesische Akademie ist der wahre Erbe der Renaissance

gewesen. Warum er im Kampfe mit der „idealen" Kunst der Eklektiker


untergehen musste, ist eine der interessantesten Fragen, die man sich in

der Kunstgeschichte stellen kann.


ZWEITERTEIL
I. Die neue Gesinnung
Benozzo Gozzoli hat im Camposanto von Pisa unter anderen alt-
testamentlichen Geschichten auch die „Schande Noahs" zu erzählen
gehabt. Es ist eine rechte Quattrocento- Erzählung geworden, breit und
ausführlich, wo man das Behagen des Erzählers merkt, uns die Ent-
stehung des Rausches bei dem Patriarchen mit aller Umständlichkeit
darzulegen. Weit ausholend fängt er an: Es war ein schöner Herbst-
nachmittag und der Grosspapa nahm zwei Enkelkinder und ging mit
ihnen die Weinlese zu besehen. Und wir werden zu den Knechten und
Mägden geführt, die die Trauben lesen, in Körbe füllen und in der
Bütte zerstampfen. Es ist überall lebendig von munterm Getier, an
dem Wässerchen sitzen die Vögel und dem einen Kleinen macht ein
Hündchen zu schaffen. Der Grosspapa steht da und geniesst die heitere
Stunde. Indessen ist der neue Wein gepresst und wird dem Padrone
zum Probieren gereicht. Die eigene Frau bringt den Becher und sie
hängen alle an seinen Lippen, während er das Getränk prüfend auf der
Zunge behält. Das Urteil war günstig, denn nun verschwindet der
Erzvater in einer hinteren Laube, wohin man ihm ein grosses Fass mit
vino nuovo gestellt hat, und dann geschieht das Unglück: sinnlos be-
trunken liegt der alte Mann vor der Thüre seines schönen buntgemalten
Hauses und hat sich unanständig entblösst. In profundem Staunen be-
sehen sich die Kinder die seltsame Wandlung, während die Frau zunächst
dafür sorgt, dass die Mägde von der Stelle kommen. Die verdecken
sich mit den Händen das Gesicht, aber ungern, und eine sucht durch
die gespreizten Finger doch wenigstens noch ein Stück des Schauspiels
zu erwischen.
Eine solche Erzählung kommt nach 1500 nicht mehr vor. Knapp
und ohne Nebendinge wird die Szene in wenigen Figuren entwickelt.
Man giebt keine Schilderungen, sondern den dramatischen Kern der
Geschichte. Man duldet nicht das genremässige Ausspinnen, die Sache
wird ernst genommen. Man will den Beschauer nicht amüsieren, sondern
Wölfflin, Die klassische Kunst 13
194 DIE KLASSISCHE KUNST

ergreifen. Die Affekte wer-


den zur Hauptsache und
vor dem Interesse am Men-
schen verschwindet der
ganze übrige Inhalt der
Welt.
In einer Galerie, wo die
Cinquecentisten beisammen-
hängen, ist der erste Ein-
druck für den Beschauer
bedingt durch die Einseitig-
keit im Stofflichen: es sind
nichts als menschliche Kör-
per^ die dieKunst bildet,
grosse Körper, das ganze
Bild füllend, und überall ist

mit strengem Sinn das


Nebensächliche ausgeschie-
den. Was für das Tafelbild
Verrocchio. Taufe Christi gilt, gilt erst recht von der
Wandmalerei. Es ist ein
anderes Geschlecht von Menschen, das vor uns auftritt, und die Kunst
geht auf Wirkungen aus, die mit der beschaulichen Freude an der Mannig-
faltigkeit der Dinge sich nicht mehr vertragen.

1.

Das Cinquecento setzt ein mit einer ganz neuen Vorstellung von
menschlicher Grösse und Würde. Alle Bewegung wird mächtiger, die
Empfindung hat einen tieferen, leidenschaftlicheren Atemzug. Man be-
obachtet eine allgemeine Steigerung der menschlichen Natur. Es bildet
sich ein Gefühl aus für das Bedeutende, für das Feierliche und Gross-
artige, dem gegenüber das Quattrocento in seiner Gebärde ängstlich
und befangen erscheinen musste. Und so Ausdruck
wird denn aller
umgesetzt in eine neue Sprache. Die kurzen hellen Töne werden tief und
rauschend und die Welt vernimmt wieder einmal das prachtvolle Rollen
eines hochpathetischen Stiles.
Wenn Christus getauft wird — sagen wir: bei Verrocchio — so
geschieht es mit einer dringlichen Hast, mit einer ängstlichen Biederkeit,
die sehr ehrlich empfunden sein mochte, die aber dem neuen Geschlecht
DIE NEUE GESINNUNG 195

als gemein vorkam. Man vergleiche


mit dem Taufbild Verrocchios die
Gruppe des A. Sansovino am Bap-
tisterium. Er hat etwas ganz Neues
daraus gemacht. Der Täufer tritt nicht
erst hinzu, er steht da, ganz ruhig. Die
Brust ist uns zugewendet, nicht dem
Täufling. Nur der energisch seitwärts
gedrehte Kopf geht mit der Richtung
des Armes, der weitausgestreckt die
Schale über den Scheitel Christi hält.
Kein besorgtes Nachgehen und Sich-
Vorbeugen lässig zurückhaltend wird
;

die Handlung vorgenommen, eine


symbolische Handlung, deren Wert
nicht in der peinlich exakten Aus-
führung besteht. Der Johannes des
Verrocchio folgt mit dem Auge dem
Wasser: bei Sansovino ruht sein Blick A. Sansovino. Taufe Christi
auf dem Antlitz Christi.^)
Von Fra Bartolommeo den Handzeichnungen der
findet sich unter
Uffizien ein ganz übereinstimmender Entwurf zu einer Taufe im Sinne
des Cinquecento.
Und nun auch der Täufling umgebildet, er soll
gleicherweise ist

ein Herrscher sein,armer Schullehrer. Unfest steht er bei


nicht ein
Verrocchio im Bach und das Wasser umspült seine mageren Beine. Die
spätere Zeit lässt so wie so das Stehen im Wasser beiseite, indem sie
nicht die Klarheit der Figurenerscheinung dem Gemein-Wirklichen opfern
mag, das Stehen selbst aber wird frei und vornehm. Bei Sansovino ist

es die schwungvolle Pose mit dem seitwärts abgesetzten Spielbein. Statt


der eckigen zerhackten Bewegung entsteht eine schöne durchgehende Linie.
Die Schultern sind zurückgenommen und nur der Kopf ist um ein weniges
gesenkt. Die Arme liegen gekreuzt vor der Brust, die natürliche Steige-
rung des herkömmlichen Motivs der betend aneinandergelegten Hände.-)

') Die Schale bei Sansovino wird fast flach gehalten. Früher gab man mit
archaischer Deutlichkeit die umgestürzte Schale und noch Giov. Bellini lässt den Inhalt
bis auf den letzten Rest abtro fen (Bild in Vicenza, aus dem Jahr 1500).
2) An der Erzgruppe Verrocchios von Orsanmichele, Christus und Thomas,
wäre eine ähnliche Kritik zu üben. Christus, der eigenhändig die Wunde blosslegt
und selbst mit dem Blick die Operation begleitet, ist im Motiv zu niedrig gegriffen.

So würde kein Späterer das Thema behandelt haben.


13*
196 DIE KLASSISCHE KUNST

Das ist die grosse Gebärde des 16. Jahrhunderts. Bei Lionardo ist

sie schon da, still und fein, Fra Bartolommeo


wie es seine Art war.
lebt von dem neuen Pathos und spricht hinreissend, wie mit der Gewalt
des Sturmwindes. Das Beten der mater misericordiae und das Segnen
seines Auferstandenen sind Erfindungen von der grössten Art wie dort das :

Gebet in der ganzen Gestalt aufflammt und wie hier Christus segnet,
voll Nachdruck und Würde, dagegen muss alles frühere wie Kinderspiel
erscheinen. Michelangelo ist von Hause aus kein Pathetiker, er hält
keine langen Reden, man hört das Pathos nur rauschen wie eine mächtige
unterirdische Quelle, aber an Wucht der Gebärde vergleicht sich ihm
keiner. Der Verweis auf die Figur des Schöpfers an der sixtinischen
Decke mag genügen. Raffael hat in seinen männlichen römischen Jahren
sich ganz mit dem neuen Geist erfüllt. Was für eine grosse Empfindung
lebt in dem Teppichentwurf zur Krönung der Maria, was für ein Schwung
in der Gebärde des Gebens und Empfangens! Es gehört eine starke
Persönlichkeit dazu, um diese mächtigen Ausdrucksmotive in der Gewalt
zu behalten. Wie sie gelegentlich mit dem Künstler durchgehen, zeigt
in lehrreicher Weise die Komposition der sogenannten fünf Heiligen in
Parma (Stich von Marc Anton, B. 113), ein Werk aus Raffaels Schule,
dessen himmlische Figuren man zusammenhalten möge mit der noch
ganz scheuen Christusgruppe auf der „Disputa" des jugendlichen Meisters.
Zu diesem Überschwang des Pathos haben wir in Sannozaro's
berühmter Dichtung der Geburt Christi (de partu virginis) die litterarische
Parallele.^) Der Dichter hat sich angelegen sein lassen, den schlichten
Ton der biblischen Erzählung möglichst zu meiden und die Geschichte
mit allem Pomp und Pathos auszustatten, den er überhaupt aufzubringen
vermochte. Maria ist von vornherein die Göttin, die Königin. Das
demütige „fiat mihi secundum verbum tuum" wird umschrieben mit einer
langen hochtrabenden Rede, die der biblischen Situation in keiner Weise
entspricht; sie blickt zum Himmel empor
— oculos ad sidera tollens
adnuit et tales emisit pectore voces:
/am ja/n vi nee fides, vi nee ohsequiosa voluntas:
en adsiim: aecipio vener ans tua jussa tuuniqiie
dulce saeriim pater oninipotens ete.

Glanz erfüllt das Gemach: sie empfängt. Es donnert bei heiterem

Himmel
utomnes aiidirent late populi, quos niaximus ambit
Oceanus Thetysque et raucisona Amphitrite.

*) Das Werk erschien 1526. Der Autor soll 20 Jahre daran gefeilt haben.
DIE NEUE GESINNUNG 197

Neben dem Verlangen


nach der grossen, ausladen-
den Form findet man eine
Tendenz, den Ausdruck des
Affektes zu dämpfen, die
vielleicht in noch höherem
Masse als bezeichnend für
die Physiognomie des Jahr-
hunderts empfunden wird.
Es ist diese Zurückhaltung
gemeint, wo man von der
„klassischen Ruhe" der Fi-
guren spricht. Die Beispiele
liegen nahe. In einem
Augenblick der höchsten Er-
regung, da wo Maria ihren
Sohn tot vor sich hat, schreit
sie nicht auf, sie weint nicht
einmal: ruhig und thränen-
los, von keinem Schmerz
verzerrt, breitet sie die Arme
aus und blickt nach oben. Pietä. Stich des Marc Anton*)
So hat sie Raffael gezeichnet
(Stich des Marc Anton). Bei Fra Bartolommeo drückt sie dem Toten,
bei dem auch jeder Zug des Leidens ausgelöscht ist, einen Kuss auf
die Stirn, ohne Heftigkeit und ohne Jammern, und so hat schon Michel-
angelo, noch grösser und noch gehaltener als die andern, bei der Pietä
seines ersten römischen Aufenthaltes die Situation gegeben.
Wenn „Heimsuchung" Maria und Elisabeth mit gesegnetem
bei der
Leib sich umarmen, so ist es die Begegnung von zwei tragischen Köni-

ginnen, eine langsame, feierliche, schweigende Begrüssung (Sebastiano


del Piombo, Louvre), nicht mehr das muntere eilige Zusammenlaufen,
wo eine freundliche junge Frau mit anmutigem Neigen der alten Base
zuspricht, sie solle doch nicht soviel Umstände machen.
Und in der Verkündigungsszene ist Maria nicht mehr das Mädchen,
das in fröhlichem Schrecken den unerwarteten Besuch ansieht, wie wir
es bei Filippo, bei Baldovinetti oderLorenzo di Credi finden, es ist auch
nicht die demütige Jungfrau mit den gesenkten Augen einer Konfirmandin,

1) Der Felsen mit den Bäumen ist einem Stich des Lucas van Leyden entnommen.
198 DIE KLASSISCHE KUNST

sondern vollkommen gefasst, in fürstlicher Haltung, empfängt sie den


Engel, nicht anders als eine vornehme Dame, die gewohnt ist, sich nicht
überraschen zu lassen.^)
Selbst der Affekt mütterlicher Liebe und Zärtlichkeit wird gedämpft,
Raffaels Madonnen der römischen Periode sehen ganz anders aus als
seine ersten.Es wäre nicht mehr passend für die vornehm gewordene
Maria, das Kind so an die Wange zu drücken, wie die Madonna aus
dem Hause Tempi (München) es thut. Man nimmt Abstand voneinander.
Auch auf der Madonna della Sedia ist es die stolze Mutter, nicht die
liebende, die die Welt ringsum vergisst, und wenn auf der Madonna
Franz I. das Kind der Mutter zueilt, so beachte man, wie wenig diese
ihm entgegenkommt.

3.

Italien hat im 16. Jahrhundert die Begriffe des Vornehmen fest-


gestellt, die dem Abendland bis heute geblieben sind. Eine ganze Menge
von Gebärden und Bewegungen schwindet aus den Bildern, weil sie als
zu ordinär empfunden werden. Man bekommt deutlich das Gefühl, in
eine andere Klasse der Gesellschaft überzutreten: aus einer bürgerlichen
wird eine aristokratische Kunst. Was sich in den höheren Kreisen der
Gesellschaft an unterscheidenden Merkmalen Benehmens und Em- des
pfindens übernommen und der ganze christliche
ausgebildet hat, wird
Himmel, Heilige und Helden müssen ins Vornehme umstilisiert werden.
Damals entstand der Riss zwischen dem Volkstümlichen und dem Edeln.
Wenn auf Ghirlandajos Abendmahl von 1480 Petrus mit dem Daumen
auf Christus zurückweist, so ist das eine Gebärde des Volkes, die die hohe
Kunst alsbald nicht mehr als zulässig anerkannte. Lionardo ist schon ge-
wählt, und doch giebt auch er einem reinen cinqueccntistischen Geschmack
hie und da noch Anstoss. Ich rechne dahin etwa die Gebärde des
Apostels auf dem Abendmahl (rechts), der die eine Hand offen hingelegt
hat und mit dem flachen Rücken der andern hineinschlägt, eine auch
heute noch gebräuchliche und verständliche Ausdrucksbewegung, die
aber der hohe Stil mit andern fallen liess. Es würde sehr weit führen,

') Schon Lionardo tadelt einen zeitgenössischen Maler, wo die Maria bei der Bot-
schaft in solche Bewegung gerate, als ob sie sich zum Fenster hinausstürzen wolle.
Albertinelli und Andrea del Sarto möchten dann den Ton des Cinquecento zuerst rein
getroffen haben. Eine Antezipation dieser Erscheinung ist Piero dei Franceschis Ver-
kündigung in .\rezzo. Die grossartigste Darstellung aber hat der Gegenstand in dem
Bilde Marcello Venustis gefunden (Lateran), eine Conception, die den Geist Michel-
angelos verrät. Wiederholungen des Bildes in S. Caterina ai Funari in Rom und sonst.

Zeichnung in den Uffizien (Berenson, 1644: I see no reason why it should not be
given to Venusti).
DIE NEUE GESINNUNG 199

diesen Prozess der „Reinig-


ung" auch nur einigermassen
vollständigdarzustellen. Ein
paar Beispiele mögen für
viele sprechen.

Wenn beim Gastmahl


des Herodes das Haupt des
Johannes an den Tisch ge-
bracht wird, so sieht man
bei Ghirlandajo den Fürsten
den Kopf auf die Seite legen
und die Hände zusammen-
drücken; man hört ihn la-
mentieren. Dem späteren
Geschlecht kam das wenig
fürstlich vor, Andrea del
Sarto giebt den lässig ab-
wehrenden, vorgestreckten
Arm, das schweigende Zu-
rückweisen.
Wenn die Salome tanzt,
Sebastiano del Piombo. Heimsuchung
so springt sie bei Filippo
oder Ghirlandajo mit der ungestümen Heftigkeit eines Schulmädchens
im Zimmer herum, die Vornehmheit des 16. Jahrhunderts verlangt die
gemessene Haltung, eine Fürstentochter darf nur langsam im Tanz sich
bewegen und so hat sie Andrea gemalt.
Es bilden sich allgemeine Anschauungen aus über das vornehme
Sitzen und Gehen. Zacharias, der Vater des Johannes, war ein einfacher
Mann, aber dass er das Bein übers Knie legt, wenn er den Namen des
Neugeborenen schreibt, wie man es bei Ghirlandajo sieht, passt nicht mehr
für den Helden einer Cinquecentogeschichte.
Der wahrhaft Vornehme ist lässig in seiner Haltung und Bewegung,
er wirft sich nicht in Positur, er steift nicht den Rücken, um sich zu
präsentieren; er lässt sich scheinbar gehen, denn er immer präsentabel. ist

Die Helden, die Castagno gemalt hat, sind in der Mehrzahl gemeine
Renommisten, so stellt sich kein edler Mann hin. Auch der Typus des
CoUeoni in Venedig muss vom 16. Jahrhundert so empfunden worden
sein, als der Protz. Und wie die Frauen in Ghirlandajos Wochenstuben
bolzengerade zum Besuch aufmarschieren, hat wohl später einen bürger-
lichen Beigeschmack bekommen, die edle Frau soll etwas Lässiges haben
im Gang, etwas Gelöstes.
,

200 DIE KLASSISCHE KUNST

Verlangt man nach den italienischen Worten für diese neuen Be-
griffe, so findet man sie in dem „Cortigiano" des Grafen Castiglione,
dem Büchlein vom vollkommenen Kavalier (1516). Es giebt die An-
schauungen des Hofes von Urbino, und Urbino war damals der Ort,
wo alles zusammenkam^ was auf Rang und Bildung Anspruch
in Italien
machen konnte, die anerkannte Schule der feinen Sitte. Der Ausdruck
für die vornehme, elegante Nonchalance ist la sprezzata desinvoltura.
An der Herzogin, Hof dominierte, wird die unauffällige Vor-
die den
nehmheit gerühmt: die modestia und grandezza in ihren Reden und
Gebärden machen sie fürstlich. Man erfährt dann weiter vieles über das,
was sich mit der Würde eines Edelmannes vertrage oder nicht vertrage.')
Ein gehaltener Ernst wird immer wieder als sein eigentliches Wesen in
den Vordergrund geschoben. Quella gravitä riposata, die den Spanier
auszeichne. Es wird gesagt —
und offenbar war das etwas Neues —
dass es für den vornehmen Mann unschicklich sei, schnelle Tänze mit-
zumachen (non entri in quella prestezza de' piedi e duplicati ribattimenti)
und ebenso lautet die Vorschrift für die Damen, sie sollten alle heftigen
Bewegungen vermeiden (non vorrei vederle usar movimenti troppo ga-
gliardi e sforzati). Alles soll haben la molle delicatura.
Die Diskussion über das Schickliche und Unschickliche erstreckt
sich natürlich auch auf die Rede und wenn Castiglione noch eine grosse
Freiheit gewährt, so findet man in dem populäreren Anstandsbuch
des della Casa (il Galateo) später schon einen strengeren Hofmeister.
Auch die alten Dichter werden hergenommen und der Kritiker des
16. Jahrhunderts wundert sich, dass man selbst aus dem Munde von
Dantes Beatrice Worte zu hören bekomme, die in die Tavernen
gehören.
Man dringt überall auf Haltung und Würde im 16. Jahrhundert
und man ist Das Quattrocento muss der neuen
dabei ernst geworden.
Generation wie ein mutwilliges, oberflächliches Kind vorgekommen sein.
Dass z. B. an einem Grabmal zwei lachende Buben mit den Wappen-
schildern sich breit machen durften, wie bei Desiderios Marsuppinigrab
in S. Croce, ist jetzt eine unverständliche Naivität. Es müssten an
diesem Ort doch trauernde Putten sein oder besser schmerzlichbewegte

') Es ist z. B. dem Edelmann rülimliclier, ein mittelmässiger als ein guter
Schachspieler zu sein, weil man sonst meinen könnte, er habe aui das schwierige
Spiel sehr viel Studium verwendet.
Die moderne falsche Demut kommt hier wohl aucli zum ersten Mal zum Aus-
druck: Wenn man sich rühmen wolle, so solle man das nur so nebenbei thun, als ob
man unwillkürlich darauf gekommen sei, von seinen Verdiensten zu sprechen.
DIE NEUE GESINNUNG 201

grosse Figuren (Tugenden), denn Kinder können wohl nicht recht


ernst sein.^)
4.
Man will nur das Bedeutende gelten lassen. In den Historien der
Quattrocentisten giebt es eine Menge Züge genrehafter, idyllischer Art,
die mit dem eigentlichen Thema wenig zu thun haben, die aber in ihrer
Anspruchslosigkeit das Entzücken der modernen Beschauer bilden. Es
ist schon oben bei Gelegenheit
von Gozzolis Noahgeschichten davon
die Rede gewesen. Es kam den Leuten gar nicht darauf an, einen ge-
schlossenen Eindruck zu erzielen, sie wollten durch die Fülle der Einfälle
das Publikum ergötzen. Wo auf Signorellis Wandbild in Orvieto die
Seligen ihre himmlischen Kronen erhalten, da machen in den Lüften die
Engel Musik; einer aber ist unter ihnen, der sein Instrument erst stimmen
muss und der nun in dem hochfeierlichen Moment ganz ruhig diesem
Geschäft sich hingiebt, und zwar an sichtbarster Stelle. Er hätte das
doch früher besorgen sollen.'-)

In Kapelle hat Botticelli den Auszug der Juden


der sixtinischen
aus Ägypten gemalt. Der Auszug eines Volkes, was für eine heroische
Szene! Was ist aber das Hautpmotiv? Eine Frau mit zwei kleinen
Knaben: der Jüngste soll sich vom älteren Bruder führen lassen^ aber
er will nicht und hängt sich weinerlich an den Arm der Mutter und
wird darob zurechtgewiesen. Das ist allerliebst, und doch wer von —
den Neuern hätte den Mut, dies Motiv eines sonntäglichen Familien-
spazierganges gerade in solchem Zusammenhang vorzubringen?
In der gleichen Rosselli das Abendmahl
Kapelle durfte Cosimo
darstellen. Er bringt im Vordergrunde seines Bildes ein Stilleben mit
grossem blankem Metallgeschirr, daneben lässt er einen Hund mit einer
Katze sich herumbalgen und weiterhin findet man noch ein Hündchen,
das „das Männchen" macht —
die Stimmung des heiligen Bildes ist
natürlich vollkommen verdorben, aber kein Mensch nahm Anstoss und
der Maler malte in der Hauskapelle des Herrn der Christenheit.
Es hat einzelne Künstler gegeben, wie den grossen Donatello, die
für die einheitliche Fassung eines historischen Moments Gefühl hatten.
Seine historischen Bilder sind weitaus die besten Erzählungen des 15. Jahr-

') Die trauernden Putten kommen schon im 15. Jahrhundert in Rom vor, wo
man immer feierlicher war als in Florenz. Das Jahrhundert Hndet später wieder
17.
die Unbefangenheit, muntere Kinder — allerdings nur ganz junge —
an Grabmälern
vorzubringen.
-) Auch im Gnadenbild erscheint der stimmende Engel ganz isoliert zu Füssen
des Thrones (Signorelli, Carpaccio) und man fragt sich immer wieder, was das für eine
Gesinnung gewesen sein muss, die so viel Harmlosigkeit im Andachtsbilde vertrug.
202 DIE KLASSISCHE KUNST

hunderts. Für die anderen war es ausserordentlich schwierig, sich zu-


sammenzunehmen, auf das bloss Unterhaltende zu verzichten und mit
der Darstellung des Geschehnisses Ernst zu machen. Lionardo mahnt,
eine gemalte Geschichte müsse auf den Beschauer den gleichen Gemüts-
eindruck machen, als ob er selbst bei dem Fall beteiligt wäre.^) Was
will das aber heissen, so lange man auf den Bildern selbst eine ganze
Menge von Menschen duldet, die gleichgültig dabeistehen oder teilnahm-
los umblicken. war jeder Anwesende in eigentümlicher Weise
Bei Giotto
thätig oder leidend an der Handlung beteiligt, mit dem Quattrocento
aber stellt sich sofort jener stumme Chorus von Leuten ein, die darum
geduldet werden, weil das Interesse für die Darstellung der blossen
Existenz und des charakteristischen Daseins stärker geworden ist als das
Interesse an der Aktion und der Wechselbeziehung. Oft sind es die
Besteller und ihre Sippe, die auf der Bühne mitfigurieren wollten, oft

bloss städtische Berühmtheiten, die man auf diese Weise ehrte, ohne ihnen
den Zwang einer bestimmten Rolle im Bilde zuzumuten. L. B. Alberti
geniert sich nicht, in seinem Traktat von der Malerei ausdrücklich um
diese Ehre für seine Person nachzusuchen.'-)
Durchgeht man den Freskcncyklus an den Wänden der sixtinischcn
Kapelle, soist man immer wieder betroffen von der Gleichgültigkeit des

Malers dem Stoff gegenüber; wie wenig es ihm darauf ankommt, die
eigentlichen Träger der Geschichte herauszuarbeiten ; wie mehr oder
weniger überall unter der Konkurrenz verschiedener Interessen das
Wesentliche dem Unwesentlichen zu erliegen droht. Hat man je erlebt,

dass ein Verkündiger des Gesetzes wie Moses ein so zerstreutes Audi-
torium vorgefunden habe wie auf dem Bilde Signorellis? Dem Beschauer
ist es fast unmöglich, in die Situation hineinzukommen. Man meint,
Botticelli wenigstens wäre wohl der Mann, beim Aufruhr der Rotte Korah
eine leidenschaftliche Erregung, die sich ganzen Massen mitgeteilt hat,
vorzuführen. y\llein wie bald erstickt auch bei ihm die aufflackernde
Bewegung in den Reihen einer starren Assistenz!
Es muss ein bedeutender Eindruck gewesen sein, als zum ersten
Mal neben diesen Historien des Quattrocento die Raffaelschen Teppiche
mit den Apostelgeschichten erschienen, Bilder, wo mit der Sache völlig
Ernst gemacht ist, wo die Bühne gereinigt ist von allem müssigen Volk
und wo denn auch jene Energie der dramatischen Belebung sich ein-
gestellt hat, die den Beschauer unmittelbar ergreift. Wenn Paulus in
Athen predigt, so sind es nicht nur Statisten mit Charakterköpfen, die

') Buch von der Malerei (ed. Ludwig): No. 188 (246).
=) Kleinere Schriften (ed. janitschek) S. 162 (163).
DIE NEUE GESINNUNG 203

herumstehen, sondern in den Mienen jedes einzehien ist es geschrieben,


wie ihn das Wort ergreift und wie weit er der Rede folgen kann, und
wenn etwas Seltsames geschieht, wie der plötzliche Tod des Ananias, so
fahren alle, die es sehen, mit der sprechendsten Gebärde des Staunens
oder Entsetzens zurück, während das ganze Volk der Ägypter im Roten
Meer versinken konnte, ohne dass der quattrocentistische Maler von den
Juden auch nur einen sich darüber hätte aufregen lassen.
Es war dem 16. Jahrhundert vorbehalten, die Welt der Affekte,
der grossen menschlichen Gemütsbewegungen nicht zu entdecken, aber
doch künstlerisch auszubeuten. Das starke Interesse an dem psychischen
Geschehen bildet ein Hauptmerkmal seiner Kunst. Die Versuchung
Christi wäre durchaus ein Thema im Geiste der neuen Zeit gewesen:
Botticelli wusste nichts damit zu machen, er hat sein Bild mit der
Schilderung einer blossen Zeremonie gefüllt; umgekehrt, wo den Cinque-
centisten Vorwürfe ohne dramatischen Inhalt gegeben werden, versehen
sie sich oft, indem sie den Affekt und die grosse Bewegung dahin
bringen, wo sie nicht hingehören, z. B. in die idyllischen Szenen der
Geburt Christi.
Mit dem 16. Jahrhundert hört das behagliche Schildern auf. Die
Freude, in der Breite der Welt und in der Fülle der Dinge sich zu er-
gehen, erlischt.
Was weiss ein Quattrocentist alles vorzubringen, wenn er die An-
betung der Hirten zu malen hat! Es giebt von Ghirlandajo eine Tafel
der Art in der Akademie von Florenz. Wie umständlich sind die Tiere
behandelt, Ochs und Esel und Schaf und Distelfink; dann die Blumen,
das Gestein, die fröhliche Landschaft. Dazu werden wir genau bekannt
gemacht mit dem Gepäck der Familie, ein abgeschabter Sattel liegt da
und ein Weinfässchen daneben und für den archäologischen Geschmack
giebt der Maler noch ein paar Zierstücke extra einen Sarkophag, ein paar
:

antike und hinten einen Trmmphbogen, funkelnagelneu, mit gol-


Pfeiler
dener Inschrift auf blauem Fries.
Diese Unterhaltungen eines schaulustigen Publikums sind dem
grossen Stil völlig fremd. Es ist später davon zu reden, wie das Auge
überhaupt das Reizvolle anderswo sucht, an dieser Stelle soll nur gesagt
sein, dass im Historienbilde das Interesse durchaus auf das eigentliche

Geschehen sich konzentriert und dass die Absicht, mit der bedeutenden
affektvollen Bewegung die Hauptwirkung zu gewinnen, die blosse Augen-
vergnügung mit dem bunten Vielerlei ausschliesst. Das bedeutet zugleich,
dass die breit auseinandergelegten Marienleben und dergleichen Stoffe
eine starke Reduktion erleben müssen.
204 DIE KLASSISCHE KUNST

5.

Man kann auch vom Porträt sagen, dass es im 16. Jahrhundert


etwas Dramatisches beitomme. Seit Donatello ist zwar hie und da der
Versuch gemacht worden, über die blosse Beschreibung des ruhenden
Modells hinauszukommen, allein das sind die Ausnahmen und die Regel
ist,dass der Mensch festgehalten wird, so wie er eben dem Maler sitzt.
Köpfe des Quattrocento sind in ihrer Schlichtheit unschätzbar, sie wollen
gar nicht etwas Besonderes vorstellen, aber sie haben neben den klassischen
Porträtwerken etwas Gleichgültiges. Das Cinquecento verlangt den be-
stimmten Ausdruck; man weiss sofort, was die Person denkt oder sagen
will; es ist nicht genug, zu zeigen, wie die bleibenden festen Formen
eines Gesichtes gewesen sind, es soll ein Moment des frei bewegten Lebens
dargestellt werden.
Dabei sucht man nun überall dem Modell die bedeutendste Seite
abzugewinnen, man denkt höher von der Würde des Menschen und
wir empfangen den Eindruck, es sei ein Geschlecht mit grösserer
Empfindung und von mächtigerer Art gewesen, das diesseits der Schwelle
des 16. Jahrhunderts steht. Lomazzo hat in seinem Traktat dem Maler
als Regel vorgeschrieben, dass er, das Unvollkommene beseitigend, die
grossen würdevollen Züge im Porträt herausarbeite und steigere, eine späte
theoretische Formulierung dessen, was die Klassiker von sich aus gethan
hatten (al pittore conviene che sempre accresca nelle faccie grandezza
e maestä, coprendo il difetto del naturale, come si vede che hanno fatto
gl'antichi pittori).^) Wie nahe die Gefahr lag, bei solcher Tendenz die
individuelle Stimmung zu verletzen und die Persönlichkeit in ein ihr
fremdes Ausdrucksschema hineinzudrängen, ist offenbar. Allein es sind
erst die Epigonen, die dieser Gefahr erlegen sind.
Es mag mit der erhöhten Auffassung des Menschen im allgemeinen
zusammenhängen, dass die Zahl der Porträtbestelluiigen jetzt kleiner
ist als früher. Man durfte den Künstlern offenbar nicht mit jeder be-
liebigen Physiognomie kommen. Bei Michelangelo heisst es dann gar,
er habe es für eine Entwürdigung der Kunst angesehen, etwas Irdisches
in seiner individuellen Beschränkung nachzubilden, wenn es nicht von
der höchsten Schönheit gewesen sei.

6.

Es ist nicht anders möglich gewesen, als dass dieser Geist ge-
steigerter Würde auch für die Auffassung und Darstetlung der himm-
') Er beruft sich ii. a. auf Tizian, der bei Ariost la facuiidia e roniainento und
bei Bembo la maestä e l'accuratezza habe erscheinen lassen. Lomazzo, trattato della
pittura. Ausg. von 1585. Pag. 433.
DIE NEUE GESINNUNG 205

lischen Personen bestimmend wurde. Das religiöse Gefühl mochte sich


in diesem oder jenem Sinne aussprechen: die gesellschaftliche Erhöhung
der heiligen Figuren war eine Konsequenz, die sich aus ganz andern
Prämissen notwendig ergeben musste. Es ist schon darauf hingewiesen
worden, wie die Jungfrau in der Verkündigung vornehm und zurück-
haltend dargestellt wird. Aus dem scheuen Mädchen ist eine Fürstin
geworden und die Madonna mit dem Bambino, die im 15. Jahrhundert
eine gute bürgerliche Frau aus der und der Gasse sein konnte, wird
vornehm, feierlich und unnahbar.
Sie lacht den Beschauer nicht mehr an mit munteren Augen, es
ist auch nicht mehr die Maria, die befangen und demütig das Auge
gesenkt hält, die junge Mutter, die mit ihrem Blick auf dem Kinde
ruht: gross und sicher schaut sie nun den Betenden an, eine Königin,
die gewohnt ist, Knieende vor sich zu sehen. Der Charakter kann
wechseln, bald ist es mehr eine weltliche Vornehmheit, wie bei Andrea
del Sarto, oder mehr eine heroische Weltentrücktheit, wie bei Michel-
angelo, aber die Umwandlung des Typus ist überall zu beobachten.
Und auch das Christuskind ist nicht mehr das spielende muntere
Bübchen, das etwa in einem Granatapfel grübelt und der Mutter auch
ein Kernchen anbietet (Filippo Lippi), es ist auch nicht mehr der
lachende Schelm, der mit dem Händchen segnet, ohne dass man's ernst
nehmen kann, — wenn er lächelt, wie in der Madonna delle Arpie, so
ist es ein Lächeln gegen den Beschauer, ein nicht ganz angenehmes
Kokettieren, das Sarto verantworten mag, gewöhnlich ist er ernst, sehr
ernst. Raffaels römische Bilder bezeugen das. Michelangelo aber ist

der erste, der das Kind so gebildet hat, ohne ihm unkindliche Be-
wegungen (wie das Segnen eine ist) aufzudrängen. Er giebt den Knaben
in freier Natürlichkeit, aber ob er wache oder schlafe, es ist ein Kind
ohne Fröhlichkeit.')
Unter den Quattrocentisten hat Botticelli deutlich in diesem Sinne
präludiert; er wird mit dem Alter immer ernster und ist darin ein ener-
gischer Protest gegen die lächelnde Oberflächlichkeit eines Ghirlandajo,
Aber mit den Typen des neuen Jahrhunderts kann man ihn doch nicht
zusammenstellen seine Madonna kann wohl ernst aussehen, aber es ist
:

ein niedergedrücktes trauriges Wesen, ohne Grösse, und sein Kind ist
noch nicht das herrschaftliche Kind.

Dass das Christuskind der unkindlichen Funktion des Segnens enthoben wird,
1)

hat auch in der deutschen Kunst der Hochblüte seine Analogien. Die Gebärde des
Knaben auf Holbeins Dannstädter Madonna, der das linke Ärmchen ausstreckt, ist kein
Segnen mehr.
206 DIE KLASSISCHE KUNST

Täusche ich mich oder gehört nicht auch das Seltenwerden der
säugenden Madonna in diesen Zusammenhang? Es lässt sich denken,
dass die Szene der mütterHchen Ernährung dem Cinquecento der Hoheit
zu entbehren schien. Wenn Bugiardini die Madonna del Latte noch
giebt, so weist die Maria mit der Hand auf die Brust, als wolle sie
dem Beschauer sagen: Dies ist die Brust, die den Herrn genährt hat
(Bild in den Uffizien).
In dem Bilde der Verlobung des Christuskindes mit der hl. Catha-
rina (Galerie Bologna) nimmt derselbe Künstler diesen Vorgang nicht als
eine für Kind unverständliche Zeremonie, vielmehr ist der kleine
das
Knabe der Situation schon vollkommen gewachsen und giebt der Demütig-
Empfangenden mit erhobenem Finger noch gute Lehren.
Mit der inneren Wandlung hat sich auch ein Wechsel in der
äusseren Erscheinung vollzogen. An den Thron, wo die Maria sass,
hatte man früher alle Schätze der Welt zusammengetragen und die liebe
Frau mit aller Zier von feinen Geweben und kostbarem Schmuck be-
dacht. Da breiteten sich die feingemusterten bunten Teppiche des
Orients, da glänzten Marmorschranken vor dem blauen Himmel, in
zierliche Lauben war Maria gebettet, oder es rauschte ein schwerer
Purpurvorhang von oben herab, goldgemustert, mit Perlen gesäumt und
gefüttert mit köstlichem Hermelin. Mit dem 16. Jahrhundert verschwindet
die bunte Mannigfaltigkeit auf einmal. Man und sieht keine Teppiche
Blumen mehr, kein und keine ergötz-
künstliches Zierwerk des Thrones
lichen Landschaften die Figur dominiert und wenn die Architektur
:

beigezogen ist, so ist es ein grosses ernstes Motiv und aus der Tracht
ist aller profane Schmuck verbannt. Einfach und gross soll sich die
Königin des Himmels darstellen. Ob in dieser Wandlung eine innigere
Frömmigkeit sich ausspreche, frage ich nicht. Es giebt Leute, die im
Gegenteil behaupten, dass das sorgliche Fernhalten des „Profanen" eine
Unsicherheit der religiösen Empfindung anzeige.')
Die analoge Typenerhöhung vollzieht sich im Kreise der Heiligen.
Es ist mehr erlaubt, beliebige Leute von der Gasse hereinzurufen,
nicht
um neben dem Thron der Madonna Platz zu nehmen. Einen alten
Kracher, mit der Brille auf der Nase und etwas unsauber in seinem
Habitus, nahm das 15. Jahrhundert von Piero di Cosimo noch gern als
heiligen Antonius an. Andere Künstler haben auch höher gegriffen, das
16. Jahrhundert aber verlangt unbedingt die bedeutende Erscheinung. Es

') über den Anteil, der dem Eindruck Savonarolas bei diesen Vorgängen zuzu-
weisen ist, mögen sich andere ausspreciien. Die Gefalir liegt nahe, zu viel von dieser
einen Persönlichkeit abhängig zu machen. Es handelt sich hier um ein allgemeines
und nicht einmal ausschliesslich religiöses Phänomen.
DIE NEUE GESINNUNG 207

braucht kein Idealtypus zu sein, aber der Maler soll auswählen unter
seinen Modellen. Um von Raffael zu schweigen, der unvergleichliche
Charaktere hingestellt hat, wird man selbst bei dem oberflächlich ge-
wordenen Andrea del Sarto nie das Niedrige und Philisterhafte treffen.
Bartolommeo aber macht mit Einsatz aller Kräfte den immer erneuten
Versuch, seinen heiligen Männern den Ausdruck des Gewaltigen zu
erringen.
Es wäre nun noch ein weiteres zu sagen über den Verkehr der
Personen, die zum engeren Haushalt gehören, mit der Maria und ihrem
Kinde, wie z. B. der alte Spielgeselle Johannes ehrfurchtsvoll wird und
anbetend niederkniet, indessen möge hier nur noch eine Andeutung über
die Engel des neuen Jahrhunderts angereiht werden.
Das Cinquecento übernahm von seinem Vorgänger die Engel in
der doppelten Gestalt des Engelkindes und des halbwüchsigen Engel-
mädchens. Von der letzteren Gattung erinnert sich jedermann gleich bei
Botticelli und Filippino, die reizendsten Exemplare gesehen zu haben.
Man beschäftigte sie im Bild als Kerzenhalterinnen, wie in Botticellis
Berliner Tondo, wo naiv-dummem Gesicht nach der flackern-
die eine mit
den Flamme emporsieht, oder sie dürfen als Blumenmädchen und
Sängerinnen in der Nähe des Bambino weilen, wie in dem köstlich
empfundenen Frühbild Filippinos in der Galerie Corsini, das hier in
Abbildung beigegeben ist. Schüchtern, mit gesenktem Blick, bietet
eines von den Mädchen dem Christusknaben ein Körbchen voll Blumen
an und während dieser sich lustig auf die Seite wälzt und in die Be-
scheerung hineingreift, tragen ein paar andere Engel mit vielem Ernst
ein Lied nach Noten vor, nur einer sieht einen Augenblick auf und es
geht ein Lächeln über seine Züge. Warum ist das 16. Jahrhundert nie
mehr auf solche Motive zurückgekommen? Es fehlt den neuen Engeln
ein Zauber jugendlicher Befangenheit und die Naivität haben sie ganz
abgestreift. gewissermassen mit zur Herrschaft und
Sie gehören jetzt

benehmen sich dementsprechend. Der Beschauer soll nicht mehr lächeln


dürfen.
In der Bewegung der Flugengel greift das Cinquecento auf das
Schweben zurück, wie es die Gotik gekannt hatte.
alte feierliche Dem
Realismus des 15. Jahrhunderts waren die schönlinigen, langgewandeten
Gestalten ohne Körperlichkeit unverständlich gewesen; es begehrte die
plausiblere Bewegung und gab statt des Schwebens das Laufen oder
Rennen auf einer kleinen Wolkenunterlage und so entstanden jene hurtigen
Mädchenfiguren, die weder schön noch würdevoll, aber sehr überzeugend
die Beine mit nackter Ferse hinten auswerfen. Versuche, das „schwim-
mende'^ Fliegen zu geben, stellen dann bald sich ebenfalls wieder ein,
208 DIE KLASSISCHE KUNST

mit heftiger Bewegung der Beine, allein erst die hohe Kunst fand den-
jenigen Ausdruck für die gemessene und feierliche Bewegung in der
Luft, der seither üblich geworden ist.^)
Von den Kinderengeln ist als Hauptsache zu sagen, dass auch sie
an der Kindlichkeit des Bambino teilnehmen dürfen. Man fordert von
ihnen nichts, als dass sie Kinder seien, wobei dann freilich je nach Um-
ständen auch der Widerschein einer allgemeinen hohen und getragenen
Stimmung auf sie fallen kann. Der Putto mit seinem Täf eichen bei der
Madonna di Foligno wirkt ernster, trotzdem er nicht betet, als beispiels-
weise die zwei kleinen nackten Bübchen auf Desiderios Sakramentstaber-
nakel (S. Lorenzo), die in angelegentlicher Frömmigkeit dem segnen-
den Christus sich nahen, wo aber niemand die Szene anders als scherzhaft
nehmen kann. Aus venezianischen Bildern sind die ganz jugendlichen
Musikanten bekannt, die zu Füssen der Madonna die Guitarre und
andere Instrumente sachlich und eifrig handhaben. Das Cinquecento hat
auch dieses Spiel unpassend gefunden und die musikalische Begleitung
eines heiligen Zusammenseins älteren Händen anvertraut, damit die Rein-
heit der Stimmung nicht beeinträchtigt werde. Das populärste Beispiel
für die ganz kindlichen Putten des neuen Jahrhunderts sind die zwei
Figuren auf der Schwelle der sixtinischen Madonna.

7.

Bei der offenkundigen Tendenz, dem Altarbilde wieder mehr Respekt


zu sichern und die allzunahe Verbindung des Himmlischen und Irdischen
zu lösen, kann es nicht überraschen, wenn nun das Wunderbare unmittel-
bar aufgenommen wird, nicht nur mit Glorien und Nimbcn, sondern mit

') Die mittelalterliciien Flugfiguren stammen direkt aus der Antike. Indem die
Renaissance das Laufschema erfand, unbewusst auf diejenige Gestaltung der
griff sie
Flugbewegung zurück, mit der die älteste griechische Kunst angefangen hatte und die
in der Archäologie als das ,, Knielaufschema" bekannt ist. (Typus: die Nike aus Delos,
wozu der Engel des Benedetto da Majano in der Abbildung auf S. 1 5 vergliclien werden
kann.) Das vollkommenere, aus der Bewegung des Schwinuners gewonnene Schema
ging im Altertum noch eine Weile neben dem alten her (vgl. Studniczka, die Sieges-
göttin, 1898, S. 13) und auch dafür giebt es in der neueren Kunst Parallelen: Peru-
ginos Himmelfahrt der Maria in der Akademie von Florenz zeigt beide Typen neben-
einander und während Botticelli und Filippino ihre Engel schon wagrecht in der Luft
sich halten lassen, kann man gleichzeitig, bei Ohirlandajo etwa, noch immer den alten
Laufengel finden. Signorelli möchte unter den Quattrocentisten derjenige sein, der
dem neuen Schema die vollkommenste Form abgewonnen hat (Fresken in Orvieto); an
ihn hat sich Raffael in der Disputa angelehnt. Später tritt dann die gesteigerte Be-
wegung und die Verkürzung dazu, das Hervorkommen aus der Tiefe und das „Kopf-
über", wofür die Beispiele bei den vier Sibyllen der Pace oder der Madonna del
baldacchino nahe liegen.
DIE NEUE GESINNUNG 209

Filippino Lippi. Madonna mit Kind und Engeln

einer idealen Darstellung von Vorgängen, die bisher höchst real und
möglichst begreiflich gegeben worden waren. ^)
Fra Bartolommeo giebt die Erscheinung der Madonna vor dem
heiligen Bernhard zuerst als ein Herabschweben. Andrea del Sarto folgte
ihm nach, indem er den Verkündigungsengel auf Wolken sich nahen
Hess, wofür er sich auch auf trecentistische Vorbilder berufen konnte.
In die Alltäglichkeit einer Wochenstube dringen die Engel auf Wolken
(Mariengeburt Andreas von 1514) und während das Quattrocento seine
Madonna am liebsten auf einen soliden Thronsessel vor sich hingesetzt
hatte, erlebt man es seit Ausgang des 15. Jahrhunderts, dass Maria wieder
in die Lüfte gehoben wird und als Madonna „in der Glorie" erscheint,
ein altertümliches Schema, das in der sixtinischen Madonna eine uner-
wartete und einzigartige Umsetzung ins Momentane erfahren hat.

') Im Quattrocento gab es auch Leute mit einem felsenharten Wirküchkeitssinn

wie Francesco Cossa von Ferrara, der es nicht einmal über sich brachte, dem Engel
Gabriel bei der Verkündigung einen ordentlichen Heiligenschein zuzugestehen, sondern
ihm ein Gestell aus Messing auf den Kopf schraubte (Bild in Dresden).
Wölfflin, Die l<lassische Kunst 14
210 DIE KLASSISCHE KUNST

Erhöhung der Vorstellung nach Seite des Übernatürlichen


Diese
bringt uns nun auf die allgemeinere Frage nach dem Verhältnis der
neuen Kunst zur Wirklichkeit. Dem 15. Jahrhundert ging das Wirkliche
über alles. Ob es schön sei oder nicht, bei der Taufe musste Christus
jedenfalls mit den Füssen im Bache drin stehen. Etwa einmal hat sich
zwar in Nebenschulen ein idealer Meister von dieser Forderung frei-

gehalten und die Sohlen des Herrn auf der Wasserfläche stehen lassen,
wie Piero dei Franceschi (London), den Florentinern aber hätte man
nicht so kommen dürfen. Und doch, mit dem neuen Jahrhundert stellt

sich diese ideale Fassung auch hier wie selbstverständlich ein. Und so
geht es mit andern Dingen. Michelangelo bildet die Maria bei seiner
Pietä ganz jugendlich und lässt sich durch keine Einrede beirren. Der
zu kleine Abendmahltisch des Lionardo und die unmöglichen Kähne auf
Raffaels Fischzug sind weitere Beispiele, wie für die neue Gesinnung das
Wirkliche nicht mehr der entscheidende Gesichtspunkt ist und der künst-
lerischen Erscheinung zuliebe auch das Unnatürliche zugelassen wird.
Indessen, wenn von dem Idealismus des 16. Jahrhunderts die Rede
ist, so denkt man an etwas anderes, an eine allgemeine Abkehr vom
Lokalen, Individuellen und Zeitlich-Bestimmten und mit dem Gegensatz
von Idealismus und Realismus glaubt man wohl den wesentlichsten
Unterschied zwischen klassisch und quattrocentistisch bezeichnet zu haben.
Die Bestimmung ist aber nicht zutreffend. Wahrscheinlich würde niemand
die Begriffe damals verstanden haben und sie sind eigentlich auch erst
im 17. Jahrhundert am Platze, wo die Gegensätze nebeneinander hervor-
treten. das Cinquecento aber handelt es sich eher um
Beim Übergang in

eine Steigerung als um


Verleugnung der alten Kunst.
die
Das 15. Jahrhundert ist mit den biblischen Historien nie in dem
Sinne realistisch verfahren, dass es, wie moderne Maler tun, den Vor-
gang prinzipiell ins moderne Leben hätte übersetzen wollen. Die Ab-
sicht ging immer auf die reiche sinnliche Erscheinung und hierfür be-
nutzte man die Motive der Gegenwart, unter dem Vorbehalt, darüber
hinauszugehen, sobald es zweckdienlich schien.
Umgekehrt ist das 16. Jahrhundert nicht ideal in dem Sinne, dass
es die Berührung mit der Wirklichkeit vermieden und den Eindruck des
Monumentalen auf Kosten der bestimmten Charakterisierung erstrebt
hätte. Seine Bäume wurzeln im alten Boden, sie reichen nur höher
hinauf. Die Kunst ist noch immer die Verklärung des gegenwärtigen
Lebens, nur glaubte sie den gesteigerten Ansprüchen an die feierliche
Erscheinung nicht anders genügen zu können, als eben mit ihrer Aus-
DIE NEUE GESINNUNG 211

wähl von Typen, Trachten und Architekturen, wie sie die Wirklichkeit
nicht leicht zusammen bieten mochte.
Völlig irreführend aber wäre es, das Klassische mit der Imitation
der Antike identifizieren zu wollen. Die Antike mag uns aus den Werken
des Cinquecento vernehmlicher entgegensprechen als aus denen der älteren
Generation —
wir werden darüber in anderem Zusammenhang noch
handeln — , der Intention nach stehen aber die Klassiker nicht wesentlich
anders dem Altertum gegenüber als die Quattrocentisten.

Es ist nötig, etwas ins Einzelne zu gehen. Beginnen wir mit der
Behandlung der Örtlichkeit. Man weiss, wie viel Raum Ghirlandajo in
seinen Bildern den baulichen Dingen gewährt hat. Zeigt er uns Florenz?
Wohl sieht man hie und da in eine Gasse der Stadt, allein in seinen
Höfen und Hallen ist er Fabulist. Das sind Architekturen, wie sie nie
gebaut worden sind; es kam ihm nur an auf die Pracht des Eindruckes.
Und das 16. Jahrhundert behält den Standpunkt; bloss ist seine Ansicht
über das, was prachtvoll sei, eine andere. Die ausführlichen Stadt-
prospekte und die Landschaftsveduten fallen fort, aber nicht weil man
den möglichst unbestimmten Allgemeinausdruck gesucht hätte, sondern
weil man sich für diese Dinge überhaupt nicht mehr interessierte. Die
„ubiquite" des französischen Klassizismus ist hier noch nicht zu suchen.^)
Nun kommenfreilich Zugeständnisse an die Idealität des Raumes

vor, dieuns ganz fremdartig berühren. Eine Geschichte wie die Heim-
suchung, wo man den Eingang in ein Haus, die Wohnung der Elisabeth,
zu sehen erwartet, wird von Pontormo so gegeben, dass die Bühne
nichts enthält eine grosse Nische und einen Stufenaufgang davor.
als
Allein auch hier wäre zunächst daran zu erinnern, dass ja auch Ghir-
landajo in seinem Louvrebild der Heimsuchung einen Thorbogen als
Hintergrund genommen hat, jedenfalls nicht zur Verdeutlichung des
Vorgangs, dann aber wäre im allgemeinen zu sagen, dass in diesen
Fragen unser nordisches Gefühl überhaupt nicht zum Urteil zugelassen
werden darf. Die Italiener haben eine Fähigkeit, den Menschen für sich
allein zu nehmen und von der Umgebung als etwas Gleichgültigem
abzusehen, die uns, die wir Figur und Lokal immer sachlich zusammen-
beziehen, schwer verständlich ist. Eine blosse Nischenarchitektur bei
der Heimsuchung benimmt dem Vorgang, selbst wenn wir die günstige
formale Wirkung einsehen, sofort die überzeugende Lebendigkeit, für uns;

1) Bei der Madonna di Foligno hat Raffael übrigens doch geduldet, dass ein
Ferrarese eine detaiüierte Landschaft (man nimmt wohl fälschlich an, es sei Foligno)
darauf malte. Die Madonna von Monteluce zeigt den Tempel von Tivoli. Anderer
Fälle nicht zu gedenken.

14*
212 DIE KLASSISCHE KUNST

für den ist jeder


Italiener Hintergrund gut, sobald nur die Figuren
sprechen. Die Allgemeinheit des Raumes oder sagen wir der Mangel
an Realismus kann darum von Pontormo nie so empfunden worden sein,
wie wir nach unserem Eindruck es anzunehmen geneigt sind.^)
Ein noch höherer Grad von Idealismus ist es, die Madonna auf
ein Postament zu stellen, als ob
eine Statue wäre.
sie Auch das ist
ein Zugeständnis des hohen an die formale Wirkung und nicht
Stiles
nach nordischen Begriffen von „Intimität" zu beurteilen. Der Italiener
ist auch hier im stände, von dem Anstössigen abzusehen, was das Motiv,

sachlich genommen, haben müsste, und er bewährt die gleiche Denkart


in den Fällen^ wo dem Bewegungsmotiv zuliebe einer Figur ohne weitere
Erklärung ein Würfel oder etwas dergleichen unter die Füsse ge-
schoben wird.

Lionardo hat gelegentlich gewarnt, sich mit modernen Kostümen


einzulassen, sie seien meistens künstlerisch ungünstig, gut genug für
Grabmäler;-) er rät zu antiker Draperie, nicht um der Darstellung einen
antiken Anstrich zu geben, sondern bloss weil der Körper dabei besser
zur Geltung kommt. Trotzdem durfte Andrea del Sarto später wagen,
seine Geburt der Maria als ein ganz modernes Gesellschaftsbild an die
Mauer zu malen (1514) und er ist dabei vielleicht einheitlicher verfahren
als irgend einer seiner Vorgänger, denn auch bei Ghirlandajo mischen
sich beständig antik-ideale Motive mit Zeitkostümen, wie das weiterhin
Sitte bleibt.Ähnliche klassische Darstellungen aus dem modernen Leben
geben die Mariengeschichten des Sodoma und Pacchia in Siena. Das
eine Beispiel der Raffaelschen Fresken im Heliodorzimmcr würde aber
überhaupt schon zur Genüge zeigen, dass der damaligen Ästhetik noch
keinerlei Bedenklichkeiten aufgestiegenwaren, ob sich das Alltägliche und
Gegenwärtige mit dem moiunnentalen Stil vertrage oder ob nicht die
Geschichten in eine höhere Wirklichkeit, etwa die antike, zu transponieren
seien. Diese Bedenklichkeiten kommen erst später, als die klassische
Kunst schon vorüber gegangen war.
Was uns befremdet, das ist das Nackte und Halbnackte. Hier
scheint einem künstlerischen Verlangen zuliebe die Wirklichkeit geopfert
und eine ideale Welt geschaffen worden zu sein. Und doch ist auch in

') Es jedem Fremden auf, was man auf der italienischen 'Büluie au illusions-
fällt

störenden Momenten
erträgt. In diesem Siiuie ist aucii hier bei Pontormo und anders-
wo die Gegenwart historisch unzugehöriger Personen zu beurteilen, was schon lange
vor dem 16. Jahrhundert vorkommt.
2) Lionardo, Buch von der Malerei. No. 541 (544).
DIE NEUE GESINNUNG 213

diesem Falle der Nachweis nicht schwer, dass das Quattrocento schon
das Nackte in das Historienbild aufgenommen und durch Alberti sogar
theoretisch gefordert hat.^) Einen nackten Mann, wie er auf den Kirchen-
stufen sitzt in Ghirlandajos „Tempelgang", würde man auch in der da-
maligen Stadt Florenz, trotz Aber
freier Sitte, nicht angetroffen haben.
es fiel niemandem ein, im Namen des Realismus sich darüber zu be-
schweren. Und so wird man auch von einem Bild wie dem Borgobrand
noch nicht sagen dürfen, es habe prinzipiell mjt der quattrocentistischen
Tradition gebrochen. Das Cinquecento giebt nur mehr Nacktes.
Vor allem haben die allegorischen Figuren daran glauben müssen.
Man nimmt ihnen ein Kleidungsstück nach dem andern und an den
Prälatengräbern des A. Sansovino sieht man so eine unglückliche Fides
in einem antiken Bademantel dasitzen, wobei man wirklich nicht weiss,
was der entblösste Leib bedeuten soll. Diese Gleichgültigkeit gegen den
Inhalt der Figur ist nicht zu entschuldigen, aber heimisch-volkstümliche
Gestalten sind diese Allegorien auch früher nicht gewesen.
Wirklich unangenehm wird die Schaustellung nackter Glieder erst
bei heiligen Figuren. Ich denke an die Madonna Michelangelos in dem
Rundbild der Tribuna. Indessen darf das Beispiel dieser Heroine doch
nicht als typisch für das Zeitalter genommen werden. Nur soviel ist

richtig, dass, wenn überhaupt ein Einzelner für grosse kulturgeschichtliche


Wandlungen verantwortlich gemacht werden darf, Michelangelo es ge-
wesen ist, der den allgemein-heroischen Stil gerufen und die Entfremdung
von Boden und Zeit gebracht hat. In jeder Beziehung ist sein Idealismus
der gewaltigste und ausser aller Linie. Durch ihn ist die wirkliche Welt
aus den Angeln gehoben worden und er hat der Renaissance den schönen
Genuss an sich selbst genommen.

Das entscheidende Wort in der Frage von Realismus und Idealismus


wird übrigens nicht von Kostüm und Lokal gesprochen werden: alles
Fabulieren des 15. Jahrhunderts in Bauwerk und Kleidung ist doch nur
harmloses Spiel, der durchschlagende Wirklichkeitseindruck beruht auf
dem und Gestalten im Bilde. Ghir-
individuellen Charakter der Köpfe
landajo mag im Accessorischen uns vormachen was er will bei einem —
Bilde wie dem „Zacharias im Tempel" (S. M. Nov.) wird man sagen: wo
diese Leute stehen, da muss Florenz sein. Hat man diesen Eindruck
noch im 16. Jahrhundert?
Es ist offenbar, die Porträtköpfe werden spärlicher. Man fühlt
sich seltener mehr aufgefordert, zu fragen, wie der oder jener geheissen

') L. B, Alberti, Drei Bücher von der Malerei (Janitschek) S. 118 (119).
214 DIE KLASSISCHE KUNST

haben möge. Das Interesse am Individuell-charakteristischen und die


Fähigkeit, es darzustellen, verschwindet nicht — man denke an die Porträt-
gruppen der Heliodorfresken oder an Sartos in Bilder der Annunziata —
aber die Zeit ist vorbei, wo man nichts Höheres kannte, als den leben-
digen Porträtkopf und jeder Kopf an sich merkwürdig genug war, um
seine Existenz in einem Historienbilde zu rechtfertigen. Seitdem man
mit den Geschichten Ernst machte und die gleichgültigen Zuschauer-
reihen das Feld räumen hiess, ist die Situation von vornherein gründlich
verändert. Dann aber hat der Individualismus jetzt überhaupt eine
starke Konkurrenz bekommen. Die Darstellung von Affekten wird ein
Problem, das stellenweise das Charakterinteresse zu ersetzen scheint.
Das Bewegungsmotiv des Körpers kann so interessant sein, dass man
nach dem Kopfe kaum mehr fragt. Die Figuren besitzen einen neuen
Wert als Kompositionsfaktoren, so dass sie, ohne höheres Eigeninteresse, im
Zusammenhang des Ganzen bedeutend werden, als blosse Markierungen
von Kräften in der architektonischen Konstruktion, und diese formalen
Wirkungen, die das frühere Geschlecht nicht kannte, führen von selbst
zu einem nur oberflächlichen Charakterisieren. Derartige allgemeine,
unter-individuelle Köpfe aber hat es auch im 15. Jahrhundert immer ge-
geben —bei Ghirlandajo z. B. massenhaft —
und von einem prinzipiellen
Gegensatz zwischen der alten und der neuen Kunst, wonach diese dem
Individuellen aus dem Wege gegangen wäre, ist nichts zu erkennen.
Das Bildnismässige erscheint seltener, aber dass der klassische Stil eine
allgemeine Idealmenschheit gefordert hätte, das ist nicht der Fall. Selbst
Michelangelo, der auch hier wieder eine besondere Stellung einnimmt,
ist in den ersten Sixtinageschichtcn (in der Sündflut z. B.) noch voll von
Wirklichkeitsköpfen. Dann sinkt bei ihm das Interesse am Individuellen,
während es bei Raffael, der in der ersten Stanze selten über das All-
gemeine hinausgeht, mehr und mehr zunimmt. Und doch darf man
nicht glauben, die beiden hätten die Plätze getauscht: Was der reife
Michelangelo giebt, ist nicht die Allgemeinheit des Unter-Individuellen,
sondern die Allgemeinheit des Über- Individuellen.
Eine andere Frage ist es, ob das Individuelle in gleicher Weise
aufgefasst und dargestellt wird wie früher. Jene Gier, der Natur habhaft
zu werden bis zum kleinsten Fältchen, die Freude am Wirklichen um
der Wirklichkeit willen, hat sich erschöpft. Das Cinquecento sucht in

dem Menschen das Grosse und Bedeutende zu geben und


Bilde des
glaubt das zu erreichen, wenn es vereinfacht, das Unwesentliche unter-
drückt. Es ist das keine Erschlaffung des Auges, wenn es über gewisse
Dinge wegsieht, sondern im Gegenteil die höchste Steigerung der Auf-
fassungskraft. Das grosse Sehen ist ein Idealisieren des Modells von
DIE NEUE GESINNUNG 215

innen heraus hat mit dem verschönernden Zurechtmachen,


und dem
Idealisieren von aussen her, nichts zu thun.^)
Und nun ist wohl anzunehmen, dass in dieser Zeit der grossen
Kunst auch hie und da ein Ungenügen an dem, was die Natur bot,
empfunden worden sein mag. Über diese Stimmungen ist schwer zu
sprechen und vollends möchte es sehr gewagt sein, mit Generalurteilen
von ja und nein den Unterschied zweier Zeitalter wie Quattrocento und
Cinquecento bestimmen zu wollen. Es giebt Hunderte von Stufen in
der bewussten Umformung des Modells, wenn es der Künstler in die
Hand nimmt. Von Raffael liegt eine Aussage aus der Zeit, als er
vor,
an der Galatea arbeitete: er könne mit den Modellen nichts machen,
sondern verlasse sich auf die Vorstellung der Schönheit, die ihm von
selber komme.'-) Da hätte man nun den urkundlichen Beweis für den
Idealismus Raffaels. würde nicht Botticelli ebenso gesprochen
Allein
haben und ist seine Venus auf der Muschel weniger eine Schöpfung der
blossen Vorstellung?
Idealkörper und Idealköpfe hat es auch im „realistischen" Quattro-
cento gegeben, überall trifft man auf bloss graduelle Unterscheidungen.
Doch nimmt das Ideale offenbar im 16. Jahrhundert einen weit grösseren
Raum ein. Die Aspirationen dieses Zeitalters vertragen sich nicht mit
der Duzbrüderschaft, die das vergangene Jahrhundert mit dem gemeinen
Leben gepflegt hatte. Es ist merkwürdig, dass im selben Moment, wo
die Kunst von sich aus eine erhöhte Schönheit fand, auch die Kirche für
die Hauptgestalten des christlichenGlaubens eine gesteigerte Würdigkeit
verlangte. Die Madonna sollte nicht eine beliebige gute Frau sein, die
man von der Strasse her kennt, sondern die Spuren menschlich-bürger-
licher Herkunft abgestreift haben. Jetzt erst wieder waren aber auch die
Kräfte da, das Ideale zu konzipieren. Der grösste Naturalist, Michelangelo,
ist auch der grösste Idealist. Ausgestattet mit der ganzen Begabung des
Florentiners für das Individuell-Charakteristische ist er zugleich derjenige,
der am vollständigsten auf die äussere Welt verzichten und aus der Idee
schaffen kann. Er hat seine Welt erschaffen und durch sein Beispiel ist
(ohne seine Schuld) der Respekt vor der Natur bei der kommenden
Generation am meisten erschüttert worden.
In diesem Zusammenhang ist endlich auch das noch zu sagen,
dass im Cinquecento ein erhöhtes Bedürfnis nach der Anschauung des
Schönen vorhanden ist. Dies Bedürfnis wechselt, es kann zeitweise fast

1) Bei Lomazzo, trattato (1585) pag. 433, heisst es von der Porträtweise der

grossen Meister: Usavano sempre di far risplendere quello che la natura d'eccellente
aveva concesso loro (nämlich den Darzustellenden).
=) Guhl, Künstlerbriefe P, 95.
216 DIE KLASSISCHE KUNST

völlig zurücktreten vor vorausgehende Kunst


anderen Interessen. Die
des Quattrocento hat die Schönheit, ihre Schönheit, auch gekannt, aber
sie nur selten gestalten wollen, weil ein viel stärkeres Verlangen nach

dem bloss Ausdrucksvollen, dem Charakteristisch- Lebendigen drängte.


Donatello ist das immer wieder anzurufende Beispiel. Derselbe Meister,
der den Bronze-David im Bargello erdacht hat, ist unersättlich im Häss-
lichen und hat den Mut, der widerwärtigen Bildung selbst bei seinen
Heiligen nicht aus dem Wege zu gehen, weil eben die überzeugende
war und das Publikum unter diesem Eindruck nicht
Lebendigkeit alles
mehr nach schön und hässlich fragte. Die Magdalena im Baptisterium
ist ein „zum länglichen Viereck abgemagertes Scheusal" (Cicerone, erste
Ausgabe) und Johannes der Täufer der ausgetrocknete Asket (Marmor-
figur im Bargello), der Gestalten am Campanile nicht zu gedenken. Schon
gegen Ausgang des Jahrhunderts merkt man aber, dass die Schönheit
hervorbrechen will und im Cinquecento tritt dann jene allgemeine Um-
formung der Typen ein, die nicht nur die niedrige Bildung durch eine
höhere ersetzt, sondern bestimmte Gestalten überhaupt fallen lässt, weil
sie nicht schön sind.
Magdalena ist die schöne Sünderin und nicht die Büsserin mit
verwüstetem Leib und der Täufer bekommt die starke männliche Schön-
heit eines Menschen, der in Wind und Wetter aufgewachsen ist, ohne
die Spuren des Mangels und der Askese. Der jugendliche Johannes aber
wird als das Bild eines vollkommen schönen Knaben dargestellt und ist
als solcher zu einer Lieblingsfigur des Zeitalters geworden.

Raff.iel. Der junge Johannes predigend


II. Die neue Schönheit
Wenn man sagt, es sei ein neuer Stil emporgekommen, so denkt
man immer zuerst an eine Umformung der tektonischen Dinge. Sieht
man aber näher zu, so ist es nicht nur die Umgebung des Menschen,
die grosse und kleine Architektur, nicht nur sein Gerät und seine
Kleidung, die eine Wandlung durchgemacht haben, der Mensch selbst
nach seiner Körperlichkeit ist ein anderer geworden und eben in der
neuen Empfindung seines Körpers und in der neuen Art, ihn zu tragen
und zu bewegen, steckt der eigentliche Kern eines Stiles. Dabei ist dem
Begriff mehr Gewicht zu geben als er heutzutage hat.
freilich In
unserem Zeitalter wechselt man die Stile wie man bei einer Maskerade
ein Kosti^im nach dem andern durchprobiert. Allein diese Entwurzelung
der Stile doch erst seit unserem Jahrhundert und wir haben
datiert
eigentlich gar kein Recht mehr, von Stilen zu sprechen, sondern nur
noch von Moden.
Die neue Körperlichkeit und die neue Bewegung des Cinquecento
offenbaren sich in aller Deutlichkeit, wenn man ein Bild wie Sartos Geburt
der Maria von 1514 mit den Fresken Ghirlandajos und seinen Wochen-
stuben vergleicht. Das Gehen der Frauen ist ein anderes geworden.
Wandeln: das Tempo hat sich
Statt des steifen Trippeins ein getragenes
verlangsamt zu einem andante maestoso. Nicht mehr die kurzen raschen
Wendungen des Kopfes oder einzelner Glieder, sondern grosse lässige
Schiebungen des Körpers und statt des Gespreizten und Eckigen das
Gelöste und die langatmige rhythmische Kurve. Das trockene Gewächs
der Frührenaissance mit den harten Formen der Gelenke entspricht nicht
mehr der Vorstellung von Schönheit, Sarto giebt die üppige Fülle und
die prachtvolle Breite des Nackens. Und schwer-massig, schleppend
fallen die Gewänder, wo Ghirlandajo kurze, steife Röcke, knappanliegende
Ärmel hat. Die Kleidung, die hier der Ausdruck der raschen gelenkigen
Bewegung war, soll jetzt in ihrer Fülle retardierend wirken.
218 DIE KLASSISCHE KUNST

Ghirlandnjo. Geburt Johannes des Täufers')

1.

Die Bewegung in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ist von
einer zierlichen, oft preziöscn Art. Wenn die Madonna das Kind hält,
so stellt sie gern den Ellenbogen und spreizt den
spitz nach aussen
kleinen Finger an der wählerisch-fassendenHand. Ghirlandajo ist keiner
von den Subtilen, aber er hat diese Manier vollkommen sich angeeignet.
Selbst ein Künstler von dem mächtigen Naturell Signorellis macht dem
Zeitgeschmack Konzessionen und sucht das Anmutige in einer unnatürlich
verfeinerten Art. Die Mutter, die das Kind anbetet, hat nicht die Hände
schlicht zusammengelegt, sondern nur die zwei ersten Finger berühren
sich, während die andern abgespreizt in die Luft stehen.
Delikate Personen wie Filippino schrecken dann sogar schon vor
der Zumutung zurück, etwas fest anzufassen. Sei es, dass ein heiliger
Mönch ein Buch halten soll oder der Täufer seinen Kreuzstab: es bleibt
bei einem Antippen. Und so Raffaellino del Garbo oder Lorenzo di
Credi: der heilige Sebastian präsentiert gesucht-elegant seinen Pfeil

zwischen zwei Fingern, als ob er einen Bleistift überreichen wollte.


Das Stehen bekommt zuweilen etwas Tänzerlich-Unfestes und dieses
wackelige Wesen berührt am unangenehmsten in der Plastik. Man wird
dem Johannes des Bcnedetto da Majano im Bargello einen Vorwurf hier

') Vergl. dazu die Abbildung von A. del Sartos Geburt der Maria auf S. 154.
DIE NEUE SCHÖNHEIT 219

„Veroccliio." lubi.'s mit ticin Engel

nicht ersparen können. Mit wahrer Sehnsucht bHckt man nach dem festen
Tritt der nächsten Generation selbst der taumelnde Bacchus des Michel-
:

angelo steht besser auf seinen Füssen.


Ein Inbegriff dieser preziösen Geschmacksrichtung im späteren
Quattrocento ist das Bild „Verrocchios" mit den drei Erzengeln (Florenz,
Akademie), dem sich der Tobias von London an die Seite stellt.^) Vor
dieser gekräuselten Art der Bewegung drängt sich unwillkürlich der
Gedanke auf, dass hier ein altertümlich zierlicher Stil sich auflöse^ dass
wir das Phänomen eines zerfallenden Archaismus vor uns haben.
Das 16. Jahrhundert bringt wieder das Feste, das Einfache, die
natürliche Bewegung. Die Gebärde beruhigt sich. Man überwindet
die kleinliche Zierlichkeit, das künsdich Gesteifte und Gespreizte. So
wie die Madonna delle Arpie des Andrea del Sarto dasteht, fest und
stark, bietet sie ein ganz neues Schauspiel und man glaubt ihr fast,

Die Zuweisung an Verrocchio ist jetzt aufgegeben zu Gunsten des Franc.


')

Botticini. —
Zum Stil vergl. die höchst kuriosen Arbeiten Pollaiuolos in S. Peter (Grab
Sixtus IV. und Innocenz VIII.), wo die weiblichen Figuren in Unnatur mit dem
schlimmsten Barock konkurrieren.
220 DIE KLASSISCHE KUNST

dass sie den schweren Kna-


ben wirklich auf einem
Arm zu halten vermöge.
Wie sie dann das Buch auf
dem Schenkel aufgestemmt
hat und wie sich die Hand
über die Kante legt, so dass
eine zusammenhängende
grosse Form entsteht, das
ist wieder im prachtvollsten
Stil des Cinquecento. Über-
all istmehr Kraft und Ener-
gie in der Bewegung. Man
nehme Raffaels Madonna da
Foligno: wer wird es glau-
ben? man muss bis auf
Donatello zurückgehen, um
einen Arm zu finden und
eine Hand, die so ent-
schlossen fasst, wie es hier
Johannes thut.
Die Drehungen des
Körpers und die Wendungen
üliirlandajo. Früchtetragerin des Hauptes haben im 15.
Jahrhundert etwas Unent-
schiedenes, als ob man den starken Ausdruck gescheut hätte. Erst jetzt
kommt wieder Freude an den mächtigen Bewegungen einer starken
die
Natur. Ein herumgeworfener Kopf, ein ausgestreckter Arm besitzt plötz-
lich eine neue Gewalt. Man spürt ein erhöhtes, physisches Leben. Ja,
das blosse Schauen gewinnt eine unbekannte Energie und erst das
16. Jahrhundert hat wieder den grossen starken Blick darstellen können.
Den höchsten Grad reizvoller Bewegung hat das Quattrocento in
der leicht hineilenden Figur genossen. Nicht umsonst findet sich dies
Motiv bei allen Der Kerzenengel ist eilig im Herankommen
Künstlern.
und die Dienerin, die Früchte und Wein vom Lande her der Wöchnerin
bringt, kommt mit krausen Wellen im aufgeblähten Kleide zur Thüre
hereingelaufen. Dieser für das Zeitalter so sehr bezeichnenden Figur
ist die Wasserträgerin aus dem Borgobrand als cinquecentistisches Gegen-

bild gegenüber zu stellen in dem Gegensatz der


: zwei Gestalten liegt
der ganze Unterschied der Formempfindung beschlossen. Es ist eine
der prachtvollen Erfindungen des gereiften männlichen Schönheitsgefühls
DIE NEUE SCHÖNHEIT 221

Raffaels, diese Wasserträgerin, die


ruhig schreitend und hochaufgerichtet
mit starken Armen die Last trägt.
Das kniende Weib im Vordergrund
der Transfiguration, das man vom
Rücken sieht, ist aus verwandtem Ge-
schlecht und vergleicht man damit
die ähnliche Figur in der Frauen-
gruppe des Heliodor, so hat man
einen Massstab für die Entwicklung
zum Starken und zur mächtigen ein-
fachen Linie in Raffaels letztem Stil.

Dem neuen Geschmack ist and-


rerseits nichts unerträglicher als das
unmässig Gespannte, das Unfreie der
Bewegung. Der reitende Colleoni
des Verrocchio hat wohl Energie ge-
nug, eine eiserne Kraft, allein das
ist nicht die schöne Bewegung. An-
schauungen von vornehmer Lässig-
keit begegnen sich hier mit dem
neuen Ideal, das die Schönheit in der
fliessenden Linie, im Gelösten sieht.
Im Cortigiano des Grafen Castiglione ^
findet sich eine Anmerkung über das ^
K'.in.u-I. \\ .issertrajifriii
Reiten, die wohl hier angezogen
werden darf. Man solle nicht so steif im Sattel sitzen wie gebügelt, alla
veneziana (die Venezianer galten als schlechte Reiter), sondern ganz
lässig: disciolto ist kann das nur
sein Ausdruck. Freilich für den Reiter
ohne Rüstung gelten. Wer der kann auf dem Pferde
leicht gekleidet ist,

sitzen, die schwere Rüstung bedingt eher ein Stehen. „Dort biegt
man die Knie, hier hält man sie gestreckt." ') Die Kunst aber hält sich
fortan an die erstere Form.
Perugino hatte einst den Florentinern gezeigt, was eine süsse und
weiche Bewegung sei. Sein Stehmotiv mit dem seitwärts abgeschobenen
Spielbein und der korrespondierenden Neigung des Kopfes nach der
andern Seite war seiner Zeit in Florenz etwas Fremdes. Die toskanische
Grazie ist sperriger, eckiger und so nahe man sich manchmal im Motiv
gekommen ist: die Süssigkeit der Bewegung, den linden Zug der Linie

') Pomponius Gauricus, de sculptura (Brockhaus), p. 115.


222 DIE KLASSISCHE KUNST

hat keiner so wie er. Das 16. Jahr-


hundert hat das Motiv dann aber
doch beiseite geworfen.^) Raffael, der
als junger Mensch förmlich darin ge-
schwelgt hatte, bringt es später nicht
mehr. Man kann sich vorstellen, wie
Michelangelo über solche Posen ge-
höhnt haben mag. Die neuen Motive
sind gesammelter, gehaltener im Um-
riss. Ganz abgesehen von der ge-
fühlvollen Dehnung genügt die
perugineske Schönheit nicht mehr,
weil sie den Geschmack für Masse
nicht befriedigte. Man will nicht
mehr das Abstehende^ das Auseinan-
dergezogene, sondern das Zusammen-
genommene, Feste. In diesem Sinne
bilden sich auch eine Reihe von
Hand- und Armbewegungen um, wie
denn die anbetend über der Brust ge-
kreuzten Arme ein charakteristisches
Motiv des neuen Jahrhunderts sind.

Es scheint, als ob mit einem


Schlag in Florenz neue Körper ge-
wachsen wären. Rom hat die völligen,
schweren Bildungen, auf die man
ausging, immer gehabt, aber in Tos-
Lorenzo di Cretii. Vuiiiis. kana mögen sie seltener gewesen sein.

Jedenfalls thun die Künstler, als ob


man im quattroccntistischen Florenz niemals Modelle der Art zu sehen
bekommen etwa Andrea del Sarto in seinen Floren-
hätte, wie sie später
tinerinnen Der Geschmack der Frührenaissance bevorzugte die
giebt.
unentwickelte Form, das Dünne und Bewegliche. Die eckige Grazie und
die springende Linie des jugendlichen Alters hatten einen grössern Reiz
als das Frauenhaft-Völlige und die reife Gestalt des Mannes. Die Engel-
mädchen des Botticelli und des Filippino mit ihren -spitzen Gelenken
und trocknen Armen repräsentieren das Ideal jugendlicher Schönheit und
') Es koiumt noch vor im Christus der Taiifgruppe A. Sansoviiios (1502 be-
gonnen), aber doch schon modifiziert.
DIE NEUE SCHÖNHEIT 223

in den tanzenden Grazien Botticellis,


die doch ein reiferes Alter vertreten,
ist die Herbheit nicht gemildert. Das
16. Jahrhundert denkt hier anders.
Schon Lionardos Engel sind weicher
und wie verschieden ist eine Galatea
Raffaels oder eine Eva bei Michel-
angelo von den Venusfiguren des
spätem Quattrocento. Der Hals, ehe-
mals lang und schlank und wie ein
umgekehrter Trichter auf den ab-
fallenden Schultern sitzend, wird rund
und die Schultern breit und
kurz,
stark. Das Gestreckte hört auf. Alle
Glieder bekommen eine völlige, mäch-
tige Form. Man verlangt von der
Schönheit wieder den runden Torso
und die breiten Hüften des antiken
Ideals und das Auge begehrt nach
grossen zusammenhängenden Flächen.
Das cinquecentistische Gegenstück zu
Verrocchios David ist der Perseus des
Benvenuto Cellini. Der magere, ge-
Knabe ist
lenkige nicht mehr schön
und wenn man trotzdem das früh-
jugendliche Alter bildet, so giebt man
ihm Rundung und Fülle. Die raffa-
elische Figur des predigenden jungen
Johannes (in der Tribuna) ist ein
lehrreiches Beispiel, wie man sogar „Franciabigio." Venus
über die Natur hinaus dem knaben-
haften Körper männliche Formen beimischt. (Vgl. Abbildung Seite 216.)
Der schöne Körper ist klar in der Artikulation. Das Cinquecento
hat ein Gefühl für das Struktive und ein Bedürfnis nach dem Ausdruck
des Baues, dass alle Einzelreize nichts daneben bedeuten können. Hier
setzt die Idealisierung früh und kräftig ein und die Parallele von Lorenzo
di Credis Aktmodell (Uffizien)^) und „Franciabigios" (eher Andrea del
Brescianino) Idealfigur (Gal. Borghese) kann in mehr als einer Beziehung
aufschlussreich sein. Vgl. die Abbildungen.

1) Die Zeichnung zum Kopf dieser Figur findet sich — nebenbei bemerkt —
in der Albertina. PubHziert in „Handzeichnungen alter Meister": III, 327.
224 DIE KLASSISCHE KUNST

Die Köpfe werden


grossflächig, breit; es ac-
centuieren sich die Horizon-
tallinien. Man liebt das
feste Kinn, die völligen
Wangen und auch in dem
Munde will man nicht das
Zierliche und Kleine. Wenn
es für Frauen einstmals
keine grössere Schönheit
gab als eine blanke hohe
Stirn zeigen zu können (la
fronte superba, sagt Poli-
zian) und man sogar die
Haupthaare vorn ausriss,
um dieses Vorzugs in mög-
lichst ausgedehntem Masse
teilhaftig zu werden,^) so
erscheint dem Cinquecento
die niedrige Stirn als die
würdigere Form, indem
man empfand, dass sie dem
Piero di Cosimo. Die schöne Simonett.l
mehr Ruhe gebe.
Gesicht
Auch in den Augenbrauen
sucht man die flachere und stillere Linie. Nirgends linden sich mehr die
hochgewölbten Bogen wie bei den Mädchenbüsten eines Desiderio, wo
die Brauen in dem lachcnd-staunenden Gesicht noch höher emporge-
zogen sind und man den Reim Polizians eitleren möchte: sie zeigten alle
— nel volto meraviglia
con fronte crespa e rilevate ciglia. (Giostra.)
Und die keck emporgestülpten Naschen mögen einst ihre Liebhaber ge-
funden haben, jetzt sind sie nicht mehr nach der Mode und der Por-
trätist würde sich alle Mühe geben, die hüpfende Linie zu glätten und

die Form ins Gerade und Ruhige auszurichten. Was man heute eine
edle Nase nennt und in alten Bildwerken so empfindet, ist eine Anschau-
ung, die erst mit dem klasischen Zeitalter wieder heraufgekommen ist.
Schön ist, was den Eindruck des Ruhigen und Machtvollen giebt,
und der Begriff der „regelmässigen Schönheit" möchte damals entstanden
sein, cknn er hängt damit zusammen. Gemeint ist nicht nur eine symme-

^) S. Bemerkung zu Lionardos Mona Lisa. S. 33.


DIE NEUE SCHÖNHEIT 225

trische Entsprechung der


zwei Gesichtshälften, sondern
eine klare Übersichtlichkeit,
ein konsequentes Grössen-
verhältnis der Gesichtsfor-
men, das im einzelnen schwer
festzustellen ist, im Gesamt-
eindruck aber sofort ein-

leuchtet. Die Bildnismaler


sorgen dafür, dass diese Re-
gelmässigkeit herauskomme
und mit der zweiten Gene-
ration des Cinquecento wer-
den die Forderungen immer
grösser. Was sind das für
regelmässig ausgeglättete
Gesichter, die Bronzino in
seinen anerkannt vorzüg-
lichen Porträtstücken bringt.
Mehr als Worte sagen
hier Bilder und so seien
denn als gute Parallelen
Piero di Cosimos Simonetta Micheian^'elo." Sog. Vitloria Colonna
und die sogenannte Vittoria
Colonna Michelangelos^) zusammengestellt, beides Idealtypen, die den
Geschmack zweier Zeitalter in gesammelter Form enthalten.
Den florentinischen Mädchenbüsten des 15. Jahrhunderts wäre eine
ähnliche Serie aus dem 16. Jahrhundert überhaupt nicht gegenüberzustellen.
Die Schönheitsgallerie des Cinquecento enthält lauter Frauentypen — die
Donna velata des Pitti, die Dorothea in Berlin, die Fornarina der Tribuna,
die prächtigen Frauen Andrea del Sartos in Madrid und Windsor u. s. f.

Der Geschmack hat sich dem voll entfalteten Weibe zugewandt.

3.

An den Haaren hat der Spielgeist des 15. Jahrhunderts alle seine
Launen ausgelassen. Die Maler haben Prachtfrisuren gemalt mit unend-
lich reichem Geschlinge von Strähnen und Zöpfen verschiedenen Grades,
mit eingestreuten Edelsteinen und eingeflochtenen Perlenketten, man

Die Autorschaft Michelangelos ist schon von Morelli


^) jedenfalls mit Recht —
bestritten worden, für unsern Zweck ist das ohne Belang.

WöIHlin, Die klassische Kunst


226 DIE KLASSISCHE KUNST

wird diesen ins Phantastische Schmuck zu unterscheiden


gesteigerten
wissen von den wirklich getragenen Haartrachten; sie sind noch immer
kapriziös genug. Die Tendenz geht hier auf Teilung und Auflösung, auf
die zierliche Einzelform im Gegensatz zu dem spätem Geschmack, der die
Haare als Masse zusammengehalten haben möchte, der die schlichte
Form sucht und auch im Schmuck die edeln Steine nicht als vereinzelte
Punkte wirken lässt, nur zu ruhiger Form gesammelt vor-
sondern sie

bringt. Man liebt nicht mehr das Lose, Flatternde, sondern das Feste
und Gebundene. Die freien gewellten Löckchen (wie sie bei Ghirlandajo
und seinen Zeitgenossen überall vorkommen), die an den Wangen
herunterfallen und auch das Ohr verdecken, verschwinden alsbald als
ein bloss niedliches Motiv, was zudem die Klarheit der Erscheinung be-
einträchtigt: der wichtige Ansatzpunkt des Ohres soll offen liegen. Die
Stirnhaare werden in schlichter Linie an den Schläfen hingeführt, sie
sollen einfassend wirken, während das Quattrocento gerade dafür kein
Verständnis haben wollte und die Stirn rahmenlos über ihre natürlichen
Grenzen hinaus erhöhte. Mit einem Juwel auf der Scheitelhöhe betont
dann dieser ältere Stil die Vertikaltendenz gern noch einmal, während
das breite Cinquecento mit einer grossen Horizontale zu schliesscn liebt.
Und so geht die Umstilisierung weiter. Der lange schlanke Hals
der quattrocentistischen Schönheit, der ganz frei und beweglich erscheinen
soll, Schmuck als die massige Form des 16. Jahr-
verlangte einen andern
hunderts. Man mehr mit einzelnen Juwelen, die an einem
spielt nicht
Faden hängen, sondern giebt die grossformige Kette, und das engum-
schliessende leichte Halsband wird hängend und schwer.
Alles in allem: man sucht das Gewichtige und Gemessene und die
phantastische Spiellust wird in diePiahn der schlichten Einfachheit gewiesen.
Ja, es werden auch Stimmen laut, die dem natürlichen ungeordneten Haar
den Preis zuerkennen, wie die Haut schöner sei in ihrem natürlichen Ton
(palidetta col suo color nativo) als mit weisser und roter Schminke, wobei
die Frauen die Farbe nie wechselten als morgens beim Anziehen. Es ist
der Graf Castiglione, der so spricht; eine beachtenswerte Reaktion gegen
die Buntheit und Künstlichkeit der spät-quattrocentistischen Mode.
Von der Haartracht der Männer sei hier wenigstens soviel gesagt,
dass das ehemals ausgezauste Haar zu ruhigem Umriss sich sammelt.
Es ist kein Zufall, wenn auf Porträts des Credi oder Perugino die Haare
flattern als ob ein leiser Wind sie wachgerufen hätte. Der zierliche Stil
will es so. Bilder des 16. Jahrhunderts zeigen dann durchweg die Massen
gesammelt und beruhigt.
Den Bart lässt man im 16. Jahrhundert gerne stehen. Er unterstützt
den Eindruck der Würde. Castiglione stellt es noch jedem anheim, wie
DIE NEUE SCHÖNHEIT 227

er es hierin halten wolle. Er selbst hat sich aber von Raffael mit Voll-
bart malen lassen.
Noch klarer und stärker spricht der neue Wille in dem Kostüm
sich aus. Die Kleidung ist der unmittelbare Ausdruck, wie man den
Körper auffasst und wie man sich bewegen will. Das Cinquecento
musste notwendig auf die schweren und weichen Stoffe kommen, auf
die hängenden Bauschärmel und die machtvollen Schleppen. Man be-
trachte die Frauen in Andrea del Sartos Mariengeburt von 1514, wo
Vasari ausdrücklich bezeugt, es sei das damals moderne Kostüm dargestellt.
Es liegt nicht in unserer Absicht, den Motiven im einzelnen nach-
zugehen, das Entscheidende ist das allgemeine Verlangen nach dem
Vollen und Gewichtigen in der Bekleidung des Körpers, das Heraus-
arbeiten der Breitlinie, die Betonung des Hängenden und Schleppenden,
was die Bewegung verlangsamt. Das 15. Jahrhundert accentuierte um-
gekehrt die Gelenkigkeit. Enganliegende, kurze Ärmel, die das Hand-
gelenk frei lassen. wuchernden Massen, sondern knappe Zier-
Keine
lichkeit. Ein paar Schlitzchen und Bändchen am Unterärmel, sonst aber
lauter dünne Saummotive und trockene Nähte. Das Cinquecento verlangt
nach dem Schweren und der rauschenden Fülle. Es lässt sich auf das
Vielteilige im Schnitt und auf die kleinen Einzelmotive nicht ein. Die
geblümten Stoffe verschwinden vor den mächtigen, tiefen Falten des
Rockes. Das Kostüm bestimmt sich nach einer Rechnung, die grosse
Flächenkontraste im Auge hat. Man bringt nur, was im ganzen wirkt,
nicht was erst dem Nahblick sich zu erkennen giebt. Die Grazien Botti-
cellis haben die Brüste mit einem Netz von Fäden umspannt: das sind

archaische Subtilitäten, die dem neuen Geschlecht ebenso unverständlich


sind wie die Spiele der flatternden Bänder, Schleierchen und derartiger
dünner Dinge. Man sucht andere Berührungsgefühle, nicht das Antippen
mit spitzen Fingern, sondern das breite feste Fassen.

4.

Von diesem Standpunkt aus ist nun auch ein Blick auf die Archi-
tektur und ihre Umgestaltung im Cinquecento zu werfen. Auch sie ist
ja wie die Kleidung eine Projektion des Menschen und seines Körper-
gefühls nach aussen. In den Räumen, die es sich schafft, in der Bildung
von Decke und Wand sagt ein Zeitalter so genau wie in der Stilisierung
seines Körpers und seiner Bewegung, was es sein möchte und wo es
Wert und Bedeutung suche. Das Cinquecento hat ein besonders starkes
Gefühl für die Relation zwischen Mensch und Bauwerk, für die Resonanz
eines schönen Raumes. Es kann sich fast keine Existenz denken ohne
architektonische Fassung und Fundamentierung.
15*
228 DIE KLASSISCHE KUNST

Auch die Architektur wird gewichtig und ernst. Sie bindet die
muntere Beweglichkeit der Frührenaissance zu gemessenem Tritt. Das
viele fröhliche Zierwerk, die weitgespannten Bogen, die schlanken Säulen
verschwinden und es kommen die schweren gehaltenen Formen, die würde-
vollen Proportionen, die ernste Einfachheit. Man verlangt das Weit-
räumige, den hallenden Schritt. Man will nur noch grosse Funktionen
und lehnt das kleine Spiel ab, und die feierliche Wirkung scheint sich
nur mit der höchsten Gesetzmässigkeit zu vertragen.
Über die Innendekoration florentinischer Häuser am Ausgang des
15. Jahrhunderts finden wir bei bequeme Auskunft. Die
Ghirlandajo
Wochenstube der Johannesgeburt möchte ziemlich genau das Bild eines
Patrizierhauses wiedergeben, mit den Pilastern in den Ecken und rings-
umlaufendem Gebälk, der kassettierten Holzdecke mit vergoldeten Nagel-
köpfen und dem farbigen Teppich, der unsymmetrisch irgendwo der Wand
vorgehängt ist. Dazu allerhand Gerät, wie man es zu Zier und Nutz-
gebrauch herumstehen hatte, ohne Rücksicht auf die Regelmässigkeit. Was
schön ist, an jeder Stelle schön sein können.
sollte

Dem gegenüber erscheint das Cinquecento-Gemach kahl und kalt.

Der Ernst der Ausscnarchitektur hat sich auch nach innen gewandt.
Keine Detailwirkungen, keine malerischen Winkel. Alles architektonisch
stilisiert, nicht nur in der Form, sondern auch in der Ausstattung. Voll-
ständiger Verzicht auf Farbigkeit. So ist das Zimmer auf Andrea del
Sartos Mariengeburt von 1514.
Die Monochromie kommt im Zusammenhang mit gesteigerten An-
sprüchen an die Vornehmheit der Erscheinung. Statt der geschwätzigen
Buntheit will man die zurückhaltende Farbe, den neutralen Ton, der nicht
auffällt. Der Edelmann soll sich für gewöhnlich in eine anspruchslose
dunkle Farbe kleiden, sagt der Graf Castiglione. Nur die Lombarden
gehen bunt und klein geschlitzt; wollte das einer in Mittelitalien ver-
suchen, so würde man ihn für verrückt halten.') Die bunten Teppiche
verschwinden ebenso wie die farbiggestreiften Hüfttücher und die orien-
talischen Shawls; das Verlangen darnach erscheint jetzt als ein kindisches.

So wird nun auch in der vornehmen Architektur die Farbe ge-


mieden. In den Fassaden verschwindet ganz und in den
sie Innen-
räumen erfährt sie die strengste Beschränkung. Die Anschauung, dass
das Edle notwendig farblos sein müsse, hat lange nachgewirkt und viele
alte Denkmäler haben darunter gelitten, so dass wir nur aus verhältnis-

1) Von hier aus war es dann nur noch ein Schritt zur spanischen Kleidung. Die
Sympathie für das spanisclie Wesen —
grave e riposato —
kommt übrigens schon bei
CastigHone oft genug zum Ausdruck. Er findet die Spanier den Italienern viel ver-
wandter als die Franzosen mit ihrem springenden Temperament.
DIE NEUE SCHÖNHEIT 229

massig geringen Resten uns das Bild des Quattrocento rekonstruieren


können. Die architektonischen Hintergründe Gozzolis oder Ghirlandajos
sind hiefür noch immer aufschlussreich, wenn auch nicht im einzelnen
sie

wörtlich zu nehmen sein Ghirlandajo ist fast unersättlich an


mögen.
Buntheit —
blaue Friese, gelbe Pilasterfüllungen, bunte Marmorfliesen —
und doch rühmt ihn Vasari als einen Vereinfacher, insofern er mit den
Goldzieraten in den Bildern aufgeräumt habe.')
Das gleiche gilt für die Plastik. Schon oben (S. 69) ist ein Haupt-
beispiel quattrocentistischer Polychromie namhaft gemacht worden, das
Grabmal des Antonio Rossellino in S. Miniato; ein anderes Beispiel wäre
das Marsuppinigrab Desiderios in S. Croce, das nun ebenfalls in stilloser
Weisse vor uns steht. Wo man nachspürt, findet man Farbenreste und
es wäre eine schöne Aufgabe, in unserm Zeitalter, wo soviel restauriert
wird, auch einmal dieser Verstossenen sich anzunehmen und sie in alter
Fröhlichkeit wieder aufleuchten zu lassen. Es gehört gar nicht viel Farbe
dazu, um eine farbige Wirkung zu gewinnen. Das blosse Gold an ein
paar Stellen genügt, den weissen Stein nicht als farblos, als einen Wider-
spruch innerhalb der überall farbigen Welt erscheinen zu lassen. Das
Madonnenrelief des Ant. Rossellino im Bargello ist so behandelt und die
Johannesfigur des Benedetto da Majano. Nicht mit dicker Vergoldung,
sondern nur mit einigen Strichen ist dem Haar, dem Pelz ein farbiger
Schimmer gegeben. Sehr natürlich verbindet sich das Gold mit der
Bronze und es giebt ganz besonders schöne Kombinationen von Bronze
und Marmor mit Gold wie das Grabmal des Bischofs Foscari in S. M. del
Popolo Rom, wo die eherne Figur des Toten auf einem Marmorkissen
in
mit goldenem Zierat liegt.
Michelangelo hat von Anfang an mit der Farbigkeit gebrochen und
sofort pflanzt sich die Monochromie auf der ganzen Linie fort. Auch
der Thon, der so sehr auf den Reiz der Bemalung angewiesen ist, ent-
färbt sich, wofür das grosse Beispiel Begarellis anzuführen ist.

Das oft wiederholte Urteil, die moderne Farblosigkeit der Plastik


komme von der Ambition, antike Statuen zu imitieren, möchte ich nicht
unterschreiben. Der Verzicht auf die Buntheit war eine beschlossene
Sache, bevor irgend ein archäologischer Purist auf diesen Gedanken hätte
kommen können und derartige durchgreifende Geschmacksänderungen
pflegen überhaupt nicht von historischen Erwägungen bedingt zu sein.
Die Renaissance hat die Antike farbig gesehen, solange sie selbst farbig
war, und hat alle antiken Denkmäler, wo man sie auf Bildern brachte,

1) Bei den Umbrern hatte das Gold noch einen festern Stand als bei den Floren-
tinern. Interessant ist das allmähliche Verschwinden in Raffaels vatikanischen Arbeiten
zu beobachten.
230 DIE KLASSISCHE KUNST

polychrom behandelt; von dem Moment an, wo das Farbenbedürfnis auf-


dann auch die Antike weiss gesehen worden, aber es ist falsch,
hört, ist
zu sagen^ dass sie den Anstoss gegeben habe.

Jede Generation sieht in der Welt das, was ihr gleichartig ist. Das
15. Jahrhundert musste selbstverständlich ganz andere Schönheitswerte
der Sichtbarkeit entnehmen als das 16., denn es stand ihr mit anderen
Organen gegenüber. Man findet in der Giostra des Polizian, da, wo
er den Garten der Venus beschreibt, einen gesammelten Ausdruck quattro-
centistischer Schönheitsempfindung. Er spricht von dem lichten Hain
und den Brunnen voll klaren Wassers, er nennt die vielen schönen
Farben, die Blumen, er geht von einer zur andern und beschreibt sie
in langer Aufzählung, ohne fürchten zu müssen, den Leser (oder Hörer)
zu ermüden. Und mit was für einem zierlichen Gefühl redet er von
der kleinen grünen Wiese
. . scher zando tra por lascive aurette
fan clolcemente trenwlar Verbette.
So war für den Maler die Blumenwiese eine Versammlung von
lauter einzelnen Existenzen, deren kleine Daseinsgefühle er miterlebt.
Von Lionardo wird berichtet, dass er einst einen Blumcnstrauss in einem
Wassergefäss mit erstaunlicher Kunst gemalt habe.') Ich nenne den
einen Fall als Beispiel für viele malerische Bemühungen der Zeit. Mit
einem neuen Feingefühl, das aus Bildern niederländischer Quattrocentisten
Nahrung sog, beobachtete man damals Glanzlichter und Reflexe auf
Edelsteinen, Kirschen und metallenem Geschirr; in besonders preziösem
Geschmack giebt man dem Täufer Johannes einen gläsernen Kreuzstab
mit Messingringen in die Hand; glänzende Blätter, leuchtendes Fleisch,
lichteWölkchen auf blauem Himmel, das sind malerische Delikatessen
und überall ist es abgesehen auf die höchste Brillanz der Farbe.
Das 16. Jahrhundert kennt diese Freuden nicht mehr. Das bunte
Nebeneinander schöner Farben muss vor den starken Schatten und dem
Verlangen nach räumlicher Wirkung weichen. Lionardo macht sich lustig
über die Maler, die die Schönfarbigkeit nicht der Modellierung opfern
wollten. Er vergleicht sie Rednern schöner Worte ohne Inhalt.-)

') Vasari III. 25. Es war in einem Marienbild. Ventiiri zitiert die Stelle zu dem
Tondo des Lorenzo di Credi der Galerie Borghese, No. 433.
=) Buch von der Malerei: No. 236 (95). Die Verstärkung der Schattenwirkung
muss auch in der Architektur (und Plastik) in Betracht gezogen werden als farben-
feindliches Moment.
DIE NEUE SCHÖNHEIT 231

Zitternde Gräser und


der Glanzblick eines Kri-
stalls sind i<eine Dinge
mehr für die cinquecen-
tistische Malerei. Es fehlt
ihr der Nahblick. Nur die
grossen Aktionen werden
miterlebt und nur die
grossen Lichtphänomene auf-
genommen.
Und damit ist noch
nicht alles gesagt. Das In-
teresse an der Welt be-
schränkt sich jetzt überhaupt
mehr und mehr auf die
blosse Figur. Es ist früher
schon erwähnt worden, wie
Altarbild und Historienbild
ihren besonderen Wirkun-
gen nachgehen und der all-
Filippino Lippi. Allegorie
gemeinen Sehlust nichts
mehr geben wollen. Einst
war das Altarbild die Stätte, wo alles niedergelegt wurde, was man an
Schönheit unter dem Himmel fand, und im erzählenden Bilde malte der
Künstler nicht nur als „Historienmaler", sondern zugleich als Architektur-
maler, als Landschafts- und Stillebenmaler. Jetzt vertragen sich die
Interessen nicht mehr. Selbst da, wo es nicht auf die dramatische
Wirkung oder auf einen kirchlich-weihevollen Eindruck abgesehen ist, in

rein idyllischen Szenen und im gleichgültigen Daseinsbilde mit weltlich-


mythologischem Inhalt, ist es die figurale Schönheit, die alles oder fast
alles aufsaugt. Wem unter den Grossen möchte man das Blumenglas
Lionardos zutrauen? Wenn Andrea del Sarto so etwas macht, ist es

ganz oberflächlich hingewischt als ob er sich scheute, den monumentalen


Stil in seiner Reinheit zu trüben. i) Und doch findet man etwa einmal
eine schöne Landschaft bei ihm. Raffael, der malerisch — wenigstens
der Potenz nach — der vielseitigste sein möchte, giebt gerade hier wenig.
Noch sind überall die Mittel vorhanden, aber unaufhaltsam scheint sich
Absonderung einer Figurenmalerei vorzubereiten, die vor-
die definitive
nehm an allem, was nicht Figur ist, vorbeisieht. Es ist bemerkenswert,
') Es giebt jetzt eine Unterscheidung zwischen monumental und nicht-monu-
mental. Für die kleinen Cassone-Bilder gelten deutlich andere Stilbestimmungen.
232 DIE KLASSISCHE KUNST

dass es ein Oberitaliener Giovanni da Udine, der in der Werkstätte


ist,

Raffaels für das malerische Kleinzeug verwendet wurde. Später wieder


hat dann der Lombarde Caravaggio gerade mit einem Blumenglas in
Rom einen wahren Sturm hervorgerufen; es war das Zeichen einer neuen
Kunst.
Wenn ein Quattrccentist wie Filippino die Musik malt (Bild in
Berlin, s. Abb.), eine junge Frau, die den Schwan des Apollo schmückt,
während der Wind ihren Mantel emporflattern lässt in den lustigen
Koloraturen des quattrocentistischen Stiles, so wirkt das Bild mit seinen
Putten und Tieren, dem Wasser und Laubwerk mit dem Reiz einer Böck-
linschen Das 16. Jahrhundert würde nur das statuarische
Mythologie.
Motiv herausgenommen haben. Das allgemeine Gefühl für die Natur
verengt sich. Es ist kein Zweifel, dass damit für die Entwicklung der
Kunst nichts Gutes geschah. Die Hochrenaissance steht auf einem
schmalen Boden und die Gefahr lag nahe, dass sie sich erschöpfte.

Die Wendung zum plastischen Geschmack fällt in der italienischen


Kunst zusammen mit der Annäherung an antike Schönheit: man hat
beiderseits den Willen der Nachahmung als das wirkende Motiv an-
nehmen wollen, als ob man den antiken Statuen zuliebe die malerische
Welt hätte fallen lassen. Allein man darf nicht urteilen nach Analogien
aus unserm historischen Jahrhundert. Wenn die italienische Kunst in
ihrer Vollkraft einen neuen Trieb zeigt, so kann das nur eine Entwick-
lung von innen heraus gewesen sein.

6.

Es muss zusammenfassend noch einmal von dem Verhältnis


hier
Lur Antike Rede sein.
die Die vulgäre Meinung geht dahin, das
15. Jahrhundert habe die antiken Denkmäler sich wohl angesehen, dann
aber beim eigenen Werke das Fremde wieder vergessen können, während
das 16. Jahrhundert, mit minder starker Originalität begabt, den Eindruck
nicht wieder losgeworden sei. Es wird dabei stillschweigend voraus-
gesetzt, dass die einen wie die anderen die Antike in derselben Weise
gesehen hätten; aber eben diese Voraussetzung ist anfechtbar. Weiui
das quattroccntistische Auge in der Natur andere Momente gesehen hat
als das cinquecentistische, so ist es psychologisch konsequent, dass auch
vor der Antike dem Bewusstsein sich nicht die gleichen Faktoren des
Anschauungsbildes accentuicrtcn. Man sieht immer nur das, was man
sucht, und es gehört eine lange Erziehung dazu, wie 'man sie einem
künstlerisch-produktiven Zeitalter nichtzumuten darf, um dieses naive
Sehen zu überwinden, denn mit der y\bspiegelung des Objektes auf der
Netzhaut ist es nicht gethan. So wird man richtiger annehmen, dass bei
DIE NEUE SCHÖNHEIT 233

einem verwandten Willen, antik zu sein, das 15. und das 16. Jahrhundert
zu anderen Resultaten kommen mussten^ weil jedes die Antike anders
verstand, d. h. sein Bild in ihr suchte. Wenn uns aber das Cinquecento
mehr antik vorkommt, muss das daran liegen, dass es eben innerlich
so
der Antike ähnlicher geworden war.
Das Verhältnis lässt sich in der Architektur wohl am klarsten
überblicken, wo niemand an der ehrlichen Absicht der Quattrocentisten
zweifelt, die „gute, alte Baukunst" wieder heraufzuführen und wo die
neuen Werke doch so wenig den alten gleichen. Als ob die Antike
nur vom Hörensagen bekannt gewesen wäre, so sehen die Versuche des
15. Jahrhunderts aus, auf römische Formensprache einzugehen. Die
Architekten nehmen die Idee der Säule, des Bogens, der Gesimse, allein,
wie sie diese Glieder bilden und zusammenfügen, lässt schwer glauben,
dass sie römische Ruinen gekannt haben. Und doch haben sie sie
gesehen, bewundert, studiert und waren gewiss überzeugt, einen antiken
Eindruck zu machen. Wenn an der Fassade von S. Marco in Rom,
die die Arkaden des Kolosseums nachahmt, gerade im wesentlichen,
in den Proportionen, alles anders, d. h. quattrocentistisch geworden
ist, so geschah das nicht in der Absicht, vom Vorbild sich zu eman-
zipieren, sondern in der Meinung, man könne es auch so machen und
so sei es auch antik. Man entlehnte das Materielle des Formensystems,
aber in der Empfindung blieb man ganz selbständig. Es ist eine lehr-
reiche Untersuchung an einem Beispiel wie den antiken Triumphbögen,
die in frühen und späten Stilprägungen gleichmässig zur Nachahmung
offen standen^ das Verhalten der Renaissance zu beobachten, wie sie an
dem klassischen Beispiel des Titusbogens vorbeiging und auf archaische
Ausdrucksweisen geriet, die in augusteischen Bauten in Rimini und noch
weiter weg ihre Analogien haben, bis die Stunde kam, wo sie von sich
aus klassisch geworden war.^)
Und so ist es mit den antiken Figuren. Mit dem sichersten Takt
nimmt man von diesen bewunderten Mustern nur das, was man verstand,
d. h. was man selber hatte, und man darf wohl sagen, dass der antike
Denkmälerschatz, der ja wesentlich reife und überreife Kunst enthielt,
den Gang der modernen Stilentwicklung nicht nur nicht bedingt, sondern
auch nicht zu verfrühten Fruchttrieben veranlasst hat. Wo die Früh-
renaissance ein antikes Motiv in die Hand nimmt, giebt sie es nicht
weiter ohne die gründlichsten Veränderungen. Sie verfährt mit der
Antike nicht anders als wie die stilkräftigen Perioden des Barock oder

1) Vgl. Repertorium für Kunstwissenschaft XVI, 1893: die antiken Triumph-


bögen, eine Studie zur Entwicklungsgeschichte der römischen Architektur und ihr Ver-
hältnis zur Renaissance (Wölfflin).
234 DIE KLASSISCHE KUNST

des Rokoko es gethan haben. Mit dem 16. Jahrhundert aber kam die
Kunst auf eine Höhe, wo sie der Antike eine kurze Weile Auge in
Auge sah. Das ist eigene, innere Entwicklung gewesen, nicht die Folge
eines vorsätzlichen Studiums der alten Fragmente. Der breite Strom der
italienischen Kunst ging seinen Gang und das Cinquecento müsste so
geworden sein, wie es geworden ist, auch ohne alle antiken Figuren. Die
schöne Linie kommt nicht vom Apoll von Belvedere und die klassische
Ruhe nicht von den Niobiden.^)
Man gewöhnt
nur langsam daran, im Quattrocento die Antike
sich
zu sehen, daran zu zweifeln wenn Botticelli in mytho-
allein es ist nicht :

logischen Darstellungen sich erging, so wollte er einen antiken Eindruck


machen. So merkwürdig es uns vorkommen mag; mit seiner Venus
auf der Muschel so gut wie mit der Verläumdung des Apelles meinte
er sicher nichts anderes zu geben, als was ein antiker Maler in diesem
Falle gegeben und das Frühlingsbild mit der Liebesgöttin im
hätte,
roten, goldgemusterten Kleide, mit den tanzenden Grazien und der blumen-
streuenden Flora durfte als eine Komposition im (jeiste der Antike
gelten. Die Venus auf der Muschel gleicht zwar ihrer antiken Schwester
nur wenig und die Graziengruppe Rotticellis sieht ganz anders aus als
die Antike und dennoch braucht man ein absichtliches Sich-Untcrscheiden-
Wollen nicht anzunehmen, that doch Botticelli nichts anderes als was
seine Zeitgenossen und Kollegen in der Architektur auch thaten, wenn
sie ihre Bogenhallen mit den dünnen Säulen und luftigen Spannungen

und reichem Zierwerk in Nachalimung der Antike aufzuführen glaubten.-)


Wenn damals von irgendwoher ein Winckelmann gekommen wäre,
um von der stillen Grösse und der edlen Einfalt in der antiken
Kunst zu predigen, man würde die Begriffe nicht verstanden haben.
Das frühe Quattrocento war diesem Ideal viel näher gestanden, aber
die ernsthaften Versuche eines Niccolö d'Arezzo und Nanni di Banco
oder selbst eines Donatello sind nicht erneuert worden. Jetzt suchte
man das Bewegte, man schätzte das Reiche und Schmuckvolle, das
Formgefühl hatte sich wesentlich verändert, aber man glaubte darum
nicht von der Antike abgekommen zu sein. Bot doch gerade sie die
höchsten Vorbilder der Bewegung und der flatternden Gewänder und
waren doch die alten Denkmäler die unerschöpfliche Schatzkammer der

') Die Florentiner Niobiden sind übrigens zu Anfang des 16. Jalirluniderts noch
nicht bekannt gewesen.
-') In dem Relief Verrocchios mit der Sterbeszene einer Tornabiioni (vom Grab-
mal in S. Maria novella. jetzt im Bargello) haben wir die antike Beiiaiidliing einer
zeitgenössisclien Szene. Das antike Vorbild ist nachgewiesen worden von Frida Schott-
müller, Rep. XXV. 403.
DIE NEUE SCHÖNHEIT 235

Zierarten für Gerät, Kleidung und Bauwerk.^) In die Hintergründe


wusste man nichts besseres als antike Gebäude zu stellen und so gross
war die Begeisterung für diese Monumente, dass der Constantinsbogen
z. B. Rom, wo man ihn ja leibhaftig vor sich hatte, auf Fresken
in

immer wieder gebracht werden durfte und nicht nur einmal, sondern zwei-
mal auf demselben Bilde. Freilich nicht so wie er war, sondern so wie er
hätte sein sollen farbig bemalt und bunt aufgetakelt.
: Überall wo man
auf antike Szenen eingeht, erstrebt man den Eindruck einer phantastischen,
fast märchenhaften Pracht. Dabei sucht man in der alten Welt nicht
das Ernsthafte, sondern das Heitere. Nackte Menschen mit bunten
Schärpen im Grase liegend man nennt sie Venus und Mars— das — ,

sah man gerne. Nirgends etwas Statuenhaftes, Marmormässiges man ;

verzichtete nicht auf das farbige Vielerlei, auf das leuchtende Fleisch und
die blumige Wiese.
Für die antike „gravitas" war noch kein Gefühl vorhanden. Man las
die antiken Dichter, aber mit veränderter Accentuierung. Das Pathos
Virgils verhallte ungehört. Für die grandiosen Stellen, die sich den
späteren Generationen eingeprägt haben, wie etwa die Worte der ster-

benden Dido: et magna mei


sub terras ibit imago war die Empfin- — ,

dung noch nicht Wir glauben das sagen zu dürfen angesichts der
reif.

Illustrationen zu antiken Dichtungen, die den Ton so völlig anders greifen


als wir erwarten.
Wie wenig dazu gehörte, einen antiken Eindruck zu machen, er-

sieht man aus der hübschen Schilderung eines tafelnden Humanisten —


es ist Niccolö Niccoli — bei Vespasiano.'-) Der Tisch sei gedeckt gewesen
mit dem weissesten Linnen. Ringsherum standen reiche Schalen und antike
Gefässe und er selber trank nur aus einem kristallenen Becher. A vederlo
in tavola, ruft der Erzähler entzückt aus, cosi antico come era, era una
gentilezza. Das Bildchen ist fein archaisch empfunden und fügt sich gut
den quattrocentistischen Vorstellungen von antiker Art ein wie ganz —
undenkbar wäre es im 16. Jahrhundert! Wer würde das antik nennen?
wer überhaupt in diesem Zusammenhang vom Essen reden?
Die neuen Begriffe von menschlicher Würde und menschlicher
Schönheit von selbst in ein neues Verhältnis zur
brachten die Kunst
klassischen Auf einmal trifft sich der Geschmack und es ist
Antike.
eine verständliche Konsequenz, dass jetzt erst das Auge auch auf die
archäologiche Richtigkeit in der Reproduktion antiker Figuren achten

1) Filippino ist nach Vasari der erste, der massenhaft antike Motive zum
Schmuck seiner Bilder herbeischleppte.
-) Citiert bei J. Burckhardt, Kultur der Renaissance und neuerdings wieder in

seinen „Beiträgen" (die Sammler), S. 332, Anm.


:

236 DIE KLASSISCHE KUNST

lernte. Die phantastische Kostümierung verschwindet, Virgil ist nicht


mehr der orientalische Zauberer, sondern der römische Dichter und den
alten Göttern wird ihre eigentliche Bildung zurückgegeben.
Man begann Antike zu sehen wie sie ist. Das naive Spiel
jetzt die

hört auf; von diesem Moment an aber war sie auch eine Gefahr und
für die Schwachen, nachdem sie einmal vom Baum der Erkenntnis ge-
gessen, musste die Berührung verderblich werden.
Raffaels Parnass zeigt in sehr lehrreicher Weise gegenüber von
Botticellis Frühlingsbild, wie man
ungefähr eine antike Szene
sich jetzt
dachte, und auf der Schule von Athen begegnen wir dem Standbild
eines Apollo, der wirklich echt aussieht. Die Frage ist hier nicht, ob
die Figur nach der Vorlage einer antiken Gemme gemacht sei oder nicht, ^)
das Merkwürdige ist, dass man unmittelbar aufgefordert wird, an eine
Antike zu denken. Zum erstenmal giebt es jetzt auch Aufnahmen antiker
Statuen, die richtig wirken. Das moderne Linien- und Massengefühl
hat sich dahin entwickelt dass man sich über die Jahrhunderte hinüber
wieder versteht. Und es berühren sich nicht nur die Vorstellungen von
menschlicher Schönheit, auch für das Feierliche der antiken Gewandung
hat man jetzt wieder Sinn (wozu schon einmal im früheren Quattrocento
Anlage vorhanden war), man empfindet die Würde antiker Präsentation,
den Adel der gehaltenen Gebärde. Die Szenen der Aeneide auf
dem „Quos-ego"-Blatt des Marc Anton bilden den lehrreichen Gegen-
satz zu den quattrocentistischen Illustrationen. Die Zeit war zu einem
statuarischen Empfinden gekommen und diese Neigung, das plastische
Motiv vor allem zu sehen, musste sie vollends disponieren, sich jetzt mit
antiker Kunst vollzusaugen.
Nichtsdestoweniger Empfindung bei allen grossen Meistern
ist die
selbständig geblieben, sonst wären sie eben nicht die grossen. Das
Flerübernehmen einzelner Motive, die Anregung durch dieses oder jenes
Vorbild beweist nichts dagegen. Man kann wohl von der Antike im
Bildungsgange Michelangelos oder Raffaels als einem Moment reden, aber
es doch nicht mehr als ein sekundäres Moment. Bei der Plastik lag
ist

die Gefahr näher als bei der Malerei, die Originalität zu verlieren
Sansovino hatte gleich am Anfang des Jahrhunderts in den Prachtgräbern
von S. M. del Popolo mit einem weitgehenden Antikisieren angefangen
und gegenüber älteren Arbeiten wie den Pollaiuolo-Gräbern in S. Peter
wirkt sein Stil wie die Proklamation einer neu-römischen Kunst, allein
der eine Michelangelo hat genügend dafür gesorgt, dass "die Kunst nicht

^) Man trifft wohl das Richtige, wenn man auf die medicäische Gemme des
Marsyas und Apoll verweist.
DIE NEUE SCHÖNHEIT 237

in die Sackgasse eines nachempfundenen antiken Klassizismus hinein-


komme. Und so wird man in der Umgebung Rai^aels der Antike zwar
einen immer grösseren Spielraum gewährt finden^ allein das Höchste ist
ganz unabhängig von ihr entstanden.
Es bleibt immer denkwürdig, dass die Architekten zu einer eigent-
lichen Reproduktion alter Bauten sich nie hergegeben haben. Die
römischen Ruinen mussten eindringlicher reden als je. Man verstand
jetzt ihre Einfachheit, denn man hatte die unbändige Zierlust selbst
überwunden. Man Maasse, denn man war selbst zu analogen
begriff ihre
Proportionen gekommen und das geschärfte Auge verlangte nun auch
nach genauen Messungen. Man gräbt und in Raffael steckte ein halber
Archäologe. Man hat eine Entwicklung hinter sich und unterscheidet
auch in der Antike verschiedene Perioden,^) aber trotz dieser geläuterten
Einsicht wird das Zeitalter nicht irre an sich selber, sondern bleibt
„modern" und aus der Blüte des archäologischen Studiums geht der
Barock hervor.

') Vgl. hiezLi den sogenannten „Bericht Raffaels" über die römischen Ausgrabun-
gen (abgedruckt u. a. bei Guhl, Künstlerbriefe I) und das überraschende Urteil Michel-
angelos über die Bauperioden des Pantheon, wo er, so viel ich sehe, mit den modernsten
Forschungen zusammentrifft. (Vasari IV. 512 in der vita des A. Sansovino.)
III. Die neue Bildform
Von der neuen Art der Darstellung der Dinge soll in diesem letzten
Kapitel gehandelt werden. Wir meinen die Art, wie das gegebene
Objekt für das Auge als Bild zurecht gemacht wird, wobei der Begriff
„Bildform" eine Anwendung auf das ganze Gebiet der sehbaren Künste
gestattet.
Es liegt auf der Hand, dass die neuen Körper- und Bewegungs-
gefühle, wie sie soeben dargelegt worden sind, auch in der Bildgestaltung
sich machen müssen, dass die Begriffe des Ruhigen, Grossen,
geltend
Gewichtigen im Bildeindruck unabhängig von dem besonderen Stoff
der Darstellung, bestimmend hervortreten werden. Damit sind aber die
Momente der neuen Bildform nicht erschöpft; es treten andere dazu, die
aus den vorausgegangenen Bestimmungen nicht entwickelt werden können,
Momente ohne Gefühlston, Resultate der blossen vollkommeneren Aus-
bildung des Sehens. Es sind die eigentlich künstlerischen Prinzipien:
die Klärung des Sichtbaren und die Vereinfachung der Erscheinung
einerseits und dann das Verlangen nach immer inhaltreicheren An-
schauungskomplexen anderseits. Das Auge will mehr bekommen, weil
seine Fähigkeit des Aufnehmens bedeutend erhöht ist, zugleich aber
vereinfacht und klärt sich das Bild, insofern die Dinge augengerechter
gemacht sind. Und dazu kommt dann noch ein drittes: das Zusammen-
sehen der Teile, die Fähigkeit, das Viele in der Anschauung einheitlich
zusammenzufassen, was sich mit einer Komposition verbindet, wo jeder
Teil des Ganzen an empfunden wird.
seiner Stelle als notwendig
Man kann über diese Materien imr entweder sehr ausführlich oder
sehr kurz d. h. in blossen Überschriften reden, mit einer mittleren Breite
möchte der Leser mehr ermüdet als aufgeklärt werden. Ich habe die
kurze Darstellung gewählt, da sie allein in den Rahmeli dieses Buches
passt. Wenn das Kapitel darum nur unbeträchtlich aussieht, so mag
dem Autor Bemerkung erlaubt
die sein, dass es trotzdem nicht schnell
geschrieben worden ist, und dass es überhaupt bequemer sein möchte,
°
DIE NEUE ßlLDFORM 239

verlaufenes Quecksilber zu sammeln, als die verschiedenen Momente auf-


zufangen, die den Begriff eines reif und reich gewordenen Stiles kon-
stituieren. Die Neuheit des Versuches aber wird — wenigstens teilweise —
als Entschuldigung gelten dürfen, wenn dieser Abschnitt die Eigenschaften
einer gefälligen Lektüre in besonderem Grade entbehren lässt.

1. Beruhigung, Räumigkeit, Masse und Grösse


Nicht nur die Bilder eines einzelnen Meisters, auch die Bilder
einer Generation in ihrer Gesamtheit haben ihren bestimmten Pulsschlag.
Ganz abgesehen vom Inhalt der Darstellung können die Linien unruhig
und hastig laufen oder und still, kann die Elächenfüllung
gemessen
gedrängt sein oder weiträumig und bequem und die Modellierung klein
und springend oder grossflächig und gebunden. Nach allem, was über
die neue Schönheit des Cinquecento in Körper und Bewegung schon
gesagt worden ist, hat man auch von den Bildern ein Ruhigwerden zu
erwarten,mehr Masse und Räumlichkeit. Es wird ein neues Verhältnis
von Raum und Füllung festgestellt, die Kompositionen werden gewichtiger
und in Lineament und Modellierung empfindet man denselben Geist der
Ruhe, dasselbe gehaltene Wesen, das der neuen Schönheit unentbehrlich ist.

1.

Der Gegensatz ist augenscheinlich, wenn man ein Jugendwerk


Michelangelos, das Tondo der Madonna mit dem Buch, neben ein gleiches
Rundrelief des Antonio Rossellino stellt, der die alte Generation ver-
treten mag. Vgl. die Abbildungen auf S. 48 und S. 14. Hier das
flimmernde Vielerlei und dort der einfache grossflächige Stil. Es handelt
sich nicht nur um ein Weglassen von Sachen, um die Vereinfachung
im Stofflichen (wovon schon die Rede gewesen ist), sondern um die
Behandlung der Flächen überhaupt. Wenn Rossellino den Hintergrund
mit dem zitternden Licht- und Schattenspiel seiner felsigen Landschaft
belebt und die Fläche des Himmels mit gekräuselten Wölkchen besetzt,
so ist das nur die Fortführung der Art, mit der auch Kopf und Hände
modelliert sind. Michelangelo sucht die grossen zusammenhängenden
Flächen schon in der menschlichen Form und damit ist die Frage, wie
er das übrige behandle, von selbst erledigt. In der Malerei gilt kein
anderer Geschmack als in der Plastik. Auch hier hört die Freude am
Kapriziösen, an den vielen kleinen Hebungen und Senkungen auf, man
verlangt nach den stillen grossen Massen von hell und dunkel. Die
Vortragsbezeichnung heisst legato.
240 DIE KLASSISCHE KUNST

Noch deutlicher vielleicht äussert sich der Stilwechsel in der Be-


handlung der Linie. Das quattrocentistische Lineament hat etwas Krauses
und Hastiges. Der Zeichner interessiert sich da vor allem für die be-
wegte Form. Er übertreibt unbewusst —die Bewegung in der —
Silhuette, im Haar, in jeder Einzelform. Der Mund mit den Lippen-
schwellungen ist ganz besonders eine Bildung, die das Quattrocento
eigentümlich aufgefasst hat. Mit einer Energie, die fast an Dürer er-
innert, sucht ein Botticelli oder Verrocchio die Bewegung der Mund-
spalte, die Wölbung der Lippen, den Schwung der Randlinien eindrück-
lich zu machen. Im gleichen Sinne wird man die formreiche, knorpelige
Nase einen Lieblingsgegenstand des 15. Jahrhunderts nennen können.
Mit welchem Interesse werden die Bewegungen der Nasenflügel modelliert!
Und die Nasenlöcher zu zeigen^ hat sich kaum ein quattrocentistischer
Porträtist versagen können.^)
Dieser Stil verliert sich mit dem neuen Jahrhundert. Das Cinque-
cento bringt den beruhigten Fluss der Linie. Dasselbe Modell würde
jetztganz anders gezeichnet werden, weil eben die Augen anders sehen.
Es ist aber, als ob überhaupt ein neues Mitgefühl für die Linie wach-
geworden sei; es wird ihr wieder ein Recht zugestanden, sich auszuleben.
Man vermeidet die harten Begegimngen und die heftigen Brechungen,
das Knickwerk und das kurzatmige Geschlängel. Perugino hatte ange-
fangen und Raffael mit übertroffener Eeinfühiigkeit fortgefahren. Aber
auch die Übrigen, die im Temperament ganz anders sind, kennen die
Schönheit des grossen Linienzuges, der rhythmischen Kadenz. Bei Botticelli
kann es noch vorkommen, dass ein spitzer Ellenbogen hart gegen den
Bildrand stösst (Pietä, München), jetzt nehmen die Linien Rücksicht auf
einander, sie accomodieren sich gegenseitig und das Auge wird empfindlich
gegen die schrillen Schneidungen der älteren Manier.

2.

Das allgemeine Verlangen nach dem Weiträumigen musste dann


auch in der Malerei ein neues Verhältnis der Figuren zum Raum be-
dingen. Man empfand die Räumlichkeit in den alten Bildern als eng.
Die Figuren stehen da hart am vorderen Bühnenrand und das ergiebt
einen Eindruck von Knappheit, der nicht verschwindet, auch wenn
dahinter noch so weite Hallen und Landschaften erscheinen. Selbst
Lionardos Abendmahl ist in dem Vorrücken des Tisches bis fast an die

1) Ein InbegriK all dieser Eigentümlichkeiten ist die bekannte Zeichnung „Ver-
rocchios" zu einem Engelskopf in den Uffizien. (S. Abbildung.) Der Kopf kommt fast
gleich auf dem Erzengelbild der Florentiner Akademie wieder vor.
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„VERROCCHIO"
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Wölfflin, Die klassische Kunst 16


242 DIE KLASSISCHE KUNST

Rampe noch quattrocentistisch befangen. Das Normalverhältnis geben


die Porträts. Was ist das für eine unbehagliche Existenz in dem Stübchen,
in das Lorenzo di Credi seinen Verrocchio hineingesetzt hat (Uffizien),
gegenüber dem grossen tiefen Atemzug cinquecentistischer Porträts.
Die neue Generation verlangte Luft und Bewegungsmöglichkeit und
sie erreichte das zunächst mit der Vergrösserung des Figurenabschnittes.
Das Kniestück ist eine Erfindung des 16. Jahrhunderts. Aber auch da,
wo von der Figur wenig mitgeteilt ist, weiss man jetzt einen weiträumigen
Eindruck zu gewinnen wie wohlig wirkt der Castiglione mit seinem Dasein
:

innerhalb der vier Rahmenlinien.


Weise wirken auch quattrocentistische Fresken an ihrem
In analoger
Orte gewöhnlich knapp und eng. In der Kapelle Nikolaus V. im Vatikan
sehen die Fresken Fiesoles beengt aus und in der Kapelle des Palazzo
Medici, wo Gozzoli den Zug der Könige gemalt hat, wird der Beschauer
trotz Festpracht ein Gefühl von Unbehagen auch nicht ganz los
aller
werden. Sogar noch von Lionardos Abendmahl wird man etwas Ähn-
liches sagen müssen; wir erwarten einen Rahmen oder Rand, den das
Bild nicht hat und nie gehabt haben kann.
Es ist charakteristisch, wie dann Raffael in den Stanzen eine Ent-
wicklung durchmacht. Sieht man in der Camera della Segnatura ein Bild,
z. B. die Disputa, allein, so mag dem Beschauer das Verhältnis zur Wand
nicht störend vorkommen ; sieht er aber auf zwei Bilder zugleich, wie sie
in den Ecken zusammciistossen, so kommt ihm das Altertümlich-Trockene
der Raumempfindung gleich zum Bewusstsein. In der zweiten Stanze ist

die Eckbegegnung eine andere und das Format der Bilder, angesichts des
vorhandenen Raumes, überhaupt kleiner genommen.

3.

Es ist kein Widerspruch, wenn trotz dem Verlangen nach Räumig-


keit die Figuren innerhalb des Rahmens an Grösse zunehmen.') Sie
sollen Masse beträchtlicher wirken, wie jetzt überall die Schönheit
als
im Gewichtigen gesucht wird.
Man vermeidet den überflüssigen Raum, weil man weiss, dass die
Figuren dadurch an Kraft verlieren, und man besitzt die Mittel, bei
aller Beschränkung, die Vorstellung doch mit dem Eindruck der Weite
zu füllen.
Die Neigung geht auf das Zusammengenommene, Schwere, Lastende.
Die Horizontale gewinnt an Bedeutung. Und so senkt sich der Gruppen-
umriss und aus der hohen Pyramide wird die Dreiecksgruppe mit breiter

') Die plastische Figur in der Nische unterliegt den gleichen Veränderungen.
DIE NEUE BILDFORM 243

Grundlinie. Raffaels Madonnenkompositionen liefern die besten Beispiele.


In gleichem Sinn ist das Zusammennehmen von zwei oder drei Steh-
figuren zur geschlossenen Gruppe anzuführen. Die älteren Bilder er-

scheinen da, wo sie gruppieren wollen, dünn und brüchig und im ganzen
licht und leicht gegenüber der massigen Füllung des neuen Stils.

4.

Endlich unabweisbare Konsequenz die allgemeine


ergab sich als
Steigerung der absoluten Grösse. Die Figuren wachsen den Künstlern
sozusagen unter den Händen. Es ist bekannt, wie Raffael in den Stanzen
den Massstab immer grösser nimmt. Andrea del Sarto überbietet im
Hof der Annunziata mit seinem Geburtsbild sich selbst und wird gleich
wieder überboten von Pontormo. So gross war die Freude am Mächtigen,
dass selbst der jetzt erwachte Sinn für Einheitlichkeit keinen Einspruch
erhob. Von den Tafelbildern gilt dasselbe. Man sieht die Veränderung
in jeder Galerie; wo das Cinquecento beginnt, da beginnen die grossen
Tafeln und die grossen Leiber. Wir haben später noch einmal davon
zu reden, wie das Einzelgemälde in den architektonischen Zusammenhang
aufgenommen wird; man sieht es nicht mehr für sich allein, sondern mit
der Wand zusammen, für die es bestimmt ist, und so wäre die Malerei
schon von diesem Gesichtspunkt aus der Grössensteigerung überantwortet
gewesen, auch wenn nicht ihr eigener Wille sie in derselben Richtung

geführt hätte.
Die hier gegebenen Stilmerkmale sind wesentlich stofflicher Natur,
sie entsprechen einem bestimmten Gefühlsausdruck; nun treten aber —
wie gesagt — Momente formaler Natur dazu, die aus der Stimmung der
neuen Generation nicht entwickelt werden können. Mathematisch sauber
ist die Abrechnung nicht zu machen: die Vereinfachung im Sinne der

Beruhigung trifft sich mit einer Vereinfachung, die auf möglichst voll-
kommene Klärung des Bildes ausgeht und die Tendenz zum Zusammen-
genommenen und Massigen begegnet einem mächtig entwickelten Willen,
den Bildern einen immer grösseren Erscheinungsreichtum zu geben,
jenem Willen, der die konzentrierten Gruppengebilde schafft und die

Tiefendimension sich erst eigentlich erschließt. Dort die Absicht, dem


Auge die Perception zu erleichtern, und hier die Absicht, das Bild mög-
lichst inhaltreich zu machen.
Wir stellen zunächst zusammen, was sich dem Begriff der Ver-
einfachung und Klärung unterordnen lässt.

16'
244 DIE KLASSISCHE KUNST

Carpaccio. Maria mit BcgleitcriniiL':! bei der Darstellung im Tempel (Bruchstück)

2. Vereinfachung und Klärung


1.

Die klassische Kunst greift zurücic auf die Elementarrichtuiigeii der


Vertikale und der Horizontale und auf die primitiven Ansichten der
reinen Face- und Profilstellung. Es waren hier völlig neue Wirkungen
zu entdecken, denn dem Quattrocento war das Einfachste ganz abhanden
gekommen. In der Absicht, um jeden Preis bewegt zu erscheinen, war
es diesen Urrichtungcn und Uransichten geflissentlich ausgewichen.
Auch ein einfach denkender Künstler wie Perugino hat z. B. in seiner
Pietä im Palazzo Pitti kein einziges reines Profil und nirgends die reine
Facestellung. Jetzt, wo man alle Fülle des Reichtums besass, bekam
auf einmal das Primitive einen neuen Wert. Nicht dass man archaisiert
hätte, aber man erkannte die Wirkung des Einfachen im Zusammen-
hang des Reichen ; es giebt die Norm und das ganze Bild bekommt
Haltung dadurch. Lionardo trat als ein Neuerer auf als er seine Abend-
mahlsgesellschaft mit zwei Profilköpfen in reiner Vertikale einrahmte;
von Ghirlandajo wenigstens hat er das nicht lernen können.') Michel-

1) Die Porträtköpfe auf den Tornabuonifresken dürfen in diesem Sinne kaum an-
geführt werden, da es sich hier nicht um formale Absichten von seiten des Künstlers,
sondern um bestimmte gesellschaftliche Modehaltungen handelte. Man sieht das an
den anderen Kompositionen Ghirlandajos. Vgl. S. 32 Anm.
DIE NEUE BILDFORM 24S

1
246 DIE KLASSISCHE KUNST

jugendliche Idealkopf Andrea del Sartos. Anderwärts sucht man oft bei
hohem Lichteinfall eine symmetrische Beschattung der Augen zu erhalten,
was auch sehr klar und ruhig wirkt. Ein Beispiel: der Johannes auf
Bartolommeos Pietä oder Lionardos Johannes der Täufer im Louvre.
Das will nun durchaus nicht heissen, dass man immer so beleuchtete, so
wenig man immer mit den einfachen Achsen operierte. Allein man empfand
die Wirkung des Einfachen und verwertete es als etwas Besonderes.
Auf dem frühen Bilde Sebastianos in S. Crisostomo in Venedig
sieht man auf der linken Seite drei weibliche Heilige zusammenstehen
(vgl. die Abbildung). Ich muss diese Gruppe hier anziehen als ein be-
sonders frappantes Beispiel der neuen Dispositionsart, wobei ich nicht
von den Körpern, sondern nur von den Köpfen spreche. Scheinbar eine
sehr natürliche Auswahl: ein Profil, ein führender Dreiviertel- Kopf und
dann der dritte nicht mehr selbständig und auch im Licht untergeordnet,
geneigt; die einzige Neigung neben den zwei Vertikalen. Nun gehe
man den Vorrat quattrocentistischer Beispiele durch, wo sich etwa eine
gleiche Anordnung fände, und man wird sich bald überzeugen, dass das
Einfache gar nicht das Selbstverständliche war. Die Empfindung dafür
kommt erst wieder mit dem 16. Jahrhundert, und noch in allernächster
Nähe Sebastianos, im Jahre 1510, konnte Carpaccio seine Darstellung im
Tempel malen (Akademie, Venedig), wo fast ganz im alten Stil drei
weibliche Köpfe nebeneinander erscheinen, alle gleichwertig, jeder etwas
anders in der Wendung, und keiner doch entschieden anders, ohne Über-
und Unterordnung und ohne klaren Gegensatz.

2.

Die Rückkehr zu den elementaren Erscheinungsweisen ist nicht zu


trennen von der Erfindung der Kontrastkomposition. Man darf wohl
von Erfindung sprechen, denn die klare Einsicht, dass alle Werte nur
Verhältniswerte sind, dass jede Grösse oder jede Richtung nur in Bezug
auf andere Grössen und andere Richtungen ihre Wirkung erhält, ist vor
dem klassischen Zeitalter nicht vorhanden gewesen. man,
Jetzt erst weiss
dass die Vertikale notwendig ist, weil sie die Norm giebt, an der die Ab-
weichungen vom Lot zur Empfindung kommen und durch das ganze
Reich der Sichtbarkeit bis hinauf zu den menschlichen Ausdrucks-
bewegungen macht man die Erfahrung, dass erst in der Verbindung mit
dem Gegensätzlichen das einzelne Motiv seine volle Wirkungskraft ent-
falten kann. Gross wirkt, was in der Umgebung des Kleinern er-

scheint, sei es eine einzelne Körperform oder dne ganze Figur; einfach,
was neben dem Vielteiligen steht; ruhig, was ein Bewegtes neben sich
hat, u. s. w.
DIE NEUE ßlLDFORM 247

Das Prinzip der Kontrastwirkung ist für das 16. Jahrhundert von
grösster Wichtigkeit. Alle klassischen Kompositionen sind darauf auf-
gebaut und es ist eine notwendige Konsequenz, dass in einem ge-
schlossenen Werke jedes Motiv nur einmal vorkommen darf. Auf der
Vollständigkeit und Einzigkeit der Gegensätze basiert die Wirkung von
Wunderwerken der Kunst wie der Sixtinischen Madonna. Das Bild, das
man vor allen andern gegen jede Effektrechnung gesichert halten möchte,
ist ganz gesättigt mit lauter Kontrasten und bei der Barbara z. B. — um
nur einen Fall herauszunehmen — war es jedenfalls lange entschieden,
dass sie als Parallelfigur zu dem emporblickenden Sixtus abwärts blicken
müsse, bevor an die besondere Motivierung dieses Abwärts gedacht
wurde. Das Eigentümliche bei Raffael ist nur, dass der Beschauer über
der Gesamtwirkung an die Einzelmittel nicht denkt, während etwa der
spätere Andrea del Sarto uns seine Rechnung mit den Kontrasten vom
ersten Augenblick an geradezu aufdrängt und das kommt daher, dass
sie bei ihm blosse Eormeln sind ohne einen Inhalt.
Es giebt auch eine Anwendung des Prinzips auf geistigem Gebiet:
dass man
einen Affekt nicht neben seinesgleichen vorbringen soll, sondern
zusammen mit anders gearteten. Fra Bartolommeos Pietä ist ein Muster
psychischer Ökonomie. Raffael mischt der Gesellschaft seines Cäcilien-
bildes, wo alles von dem Eindruck der himmlischen Musik ergriffen ist,

die völlig gleichgültige Magdalena bei, in dem Bewusstsein, dass erst auf
dieser Folie die Grade des Hingenommenseins bei den Andern dem Be-
schauer eindrücklich würden. An gleichgültiger Begleitung fehlt es dem
Quattrocento nicht, aber solche Überlegungen lagen ihm dabei fern.
Wie völlig schliesslich Kontrastkompositionen von der Art des Heliodor
und der Transfiguration über den Horizont der altern Kunst hinausgehen,
braucht nicht gesagt zu werden.

3.

Das Problem der Kontraste ist ein Problem der gesteigerten Inten-
sität Nach demselben Ziel geht nun aber auch die
der Bildwirkung.
ganze Summe der Bemühungen, die auf die Vereinfachung und Ver-
deutlichung der Erscheinung gerichtet sind. Was damals in der Archi-
tektur geschah, der Prozess der Reinigung, das Ausscheiden aller Einzel-
das Ganze unwirksam sind, die Auswahl weniger, grosser
heiten, die für
Formen, die Verstärkung der Plastik, all das hat in der darstellenden
Kunst ein vollkommenes Analogon.
Die Bilder werden gesichtet. Es sollen grosse führende Linien
herauskommen. Die alte Art der Betrachtung im Detail, das Abtasten
des Einzelnen, das Herumgehen im Bilde von Teil zu Teil hört auf, die
248 DIE KLASSISCHE KUNST

Komposition soll als Ganzes wirken


und schon dem Fernblick deutlich
sein. Bilder des 16. Jahrhunderts
haben einen höheren Grad von Seh-
barkeit. Die Perception ist ausser-
ordentlich erleichtert. Was wesentlich
ist, tritt sofort hervor; es giebt eine
entschiedene und Unterord-
Über-
nung und das Auge wird in be-
stimmten Bahnen geführt. Statt aller
Beispiele diene die Hinweisung auf
die Komposition des Heliodor. Man
darf nicht daran denken, was dem
Betrachter von einem quattrocen-
tistischen Maler auf einer solchen
Fläche an Sehenswürdigkeiten, die
alle gleichmässig sich dem Auge
entgegengedrängt hätten, zugemutet
worden wäre.

Der Stil des Ganzen ist auch


der Stil des Einzelnen. Eine Draperie
des 16. Jahrhunderts unterscheidet
sich von einer quattrocentisti sehen
Pollaiuolo. Prudeiitia
dadurch, dass grosse durch-
eben
gehende Linien vorhanden sind, klare
Kontraste von schlichten und reichen Partien und dass im ganzen der
Körper, der doch das Wesentliche bleibt, unter dem Gewand sich deut-
lich macht.
In dem Gefält des Quattrocento lebt sich ein ganzes grosses Stück
seiner Formphantasie aus. Leute ohne Augensinnlichkeit werden an
diesen Gebilden gleichgültig vorüberstreifen und überhaupt glauben, so
etwas Nebensächliches mache sich ganz von selber. Man probiere aber
nur einmal, ein solches Stück Draperie zu kopieren und man wird bald
Respekt davor bekommen und in diesen Schiebungen eines toten Stoffes
den Stil, d. h. den Ausdruck eines bestimmten Wollens empfinden, so
dass man gerne dem Rieseln und Rauschen und Murmeln seine Auf-
merksamkeit zuwendet. Jeder hat seinen Stil. Am flüchtigsten ist Botti-
celli, der mit gewohnter Heftigkeit einfache langzügige Furchen reisst,

während Filippino und Ghirlandajo und die Pollaiuolos mit Liebe und
Hingebung ihre formenreichen Faltennester bauen, wofür die neben-
DIE NEUE BILDFORM 249

stehende Abbildung einer Sitzfigur mit dem Mantel über dem Schoss ein
Beispiel sein mag.^)
Mit verschwenderischer Hand streute das 15. Jahrhundert seinen
Reichtum über den ganzen Körper aus. Wenn es keine Falten sind, so
ist es ein Schlitz, eine Öffnung, ein Bausch oder die Musterung des

Stoffes, was die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Man hält es für un-
denkbar, dass das Auge irgendwo auch nur einen Augenblick lang un-
beschäftigt bleiben soll.

In welchem Sinne die neuen Interessen desJahrhunderts auf die 16.


Draperie wirken, ist Es genügt, die Frauen
schon angedeutet worden.
auf Lionardos Annabild, Michelangelos Madonna der Tribuna oder
Raffaels Madonna Alba gesehen zu haben, um die Absichten des neuen
Stiles zu verstehen. Das Wesentliche: das Kleid soll nicht das plastische
Motiv überwuchern.'-) Das Gefält tritt in den Dienst des Körpers und soll
sich nicht als etwas Unabhängiges dem Blicke aufdrängen und selbst bei
Andrea del Sarto, der gern seine rauschenden Stoffe in malerischen
Brechungen funkeln lässt, ist das Tuchwerk nie von der Bewegung der
Figur loszulösen, während es im 15. Jahrhundert so oft ein Sonder-
interesse in Anspruch nimmt.

Wenn nun bei einer Draperie die Falten gelegt werden können
nach Belieben und es hier wohl verständlich ist, wie ein neuer Ge-
schmack von dem Vielen hinweg nach dem Wenigen
nach drängt,
grossen, starken, führenden Linien, so sind die festen Gebilde wie Kopf
und Körper doch nicht minder dem umgestaltenden Willen des neuen
Stiles unterworfen gewesen.
Köpfe des 15. Jahrhunderts haben das Gemeinsame, dass das
glänzende Auge den Hauptaccent abgiebt. Den ganz lichten Schatten
gegenüber besitzt die dunkle Pupille (und Iris) eine Bedeutung, dass
man notv/endig zuerst das Auge im Kopfe sieht und das mag auch in
der Natur der Normaleindruck sein. Das 16. Jahrhundert unterdrückt
diese Wirkung; es dämpft den Glanzblick; das knochige Gefüge, die
Struktur soll das wesentliche Wort sprechen. Man verstärkt die Schatten,

') Die Draperie der Madonna Ghirlandajos in den UKizien (mit zwei Erzengeln
und zwei knieenden Heiligen) steht in direktem Zusammenhang mit der berühmten und
oft abgebildeten Gewandstudie Lionardos im Louvre (z. B. Müntz p. 240, Müller-Walde
Abb. 18). Sollte Ghirlandajo wirklich den Lionardo kopiert haben? oder ist die Zeich-
nung von Ghirlandajo? Dieser Meinung war Bayersdorfer. Berenson dagegen bleibt
mit Recht bei der Autorschaft Lionardos.
-) Lionardo, Buch von der Malerei No. 182 (254): Mache deine Figuren nie zu

reichan Verzierungen, so dass diese der Form und Stellung der Figuren etwa im
Wege wären.
250 DIE KLASSISCHE KUNST

um der Form mehr Energie zu geben. Nicht zerstreut auftretend, in


kleinen Partikeln, sondern als grosse zusammenhängende Massen haben
sie die Aufgabe, zu verbinden, zu ordnen, zu gliedern. Was früher als
lauter Einzelnes auseinanderfiel, wird zusammengenommen. Man sucht
einfache Linien, sichere Richtungen. Man übertönt das Geringfügige mit
dem Grossen. Nichts Einzelnes darf auffallen. Die Hauptformen sollen
heraustreten für die Wirkung, auch für den Fernanblick.
Über solche Dinge ist es schwer überzeugend zu reden ohne Demon-
stration, und selbst die Demonstration wird erfolglos sein, so lange nicht
die eigene Erfahrung ihr entgegenkommt. Statt aller Einzelausführung
möge es hier mit dem Hinweis auf die parallelen Bildnisse des Perugino
und des Raffael, die auf S. 119 und 121 abgebildet sind, sein Bewenden
haben. Der Betrachter wird sich überzeugen, wie Perugino bei minu-
tiöser Detaillierung seine Schatten nur in kleinen Dosen und in geringer
Stärke vorbringt, wie er damit operiert, so behutsam, als ob es ein not-
wendiges Übel wäre, während Raffael umgekehrt die Dunkelheiten
mächtig heranzieht, nicht nur um dem Relief Kraft zu geben, sondern
vor allem als ein Mittel, die Erscheinung zu wenigen, grossen Formen
zu einigen.Augenhöhle und Nase sind unter einen Zug gebracht
und ganz klar und einfach erscheint das Auge neben den ruhig zu-
sammenschliessenden Schattenmassen. Den Nasen- Augenwinkel wird man
im Cinquecento immer accentuiert finden, er ist für die Physiognomie
von ausschlaggebender Wichtigkeit, ein Knotenpunkt, wo viele Ausdrucks-
fäden zusammenlaufen.
Es ist das Geheimnis des grossen Stiles, mit Wenigem viel zu sagen.
Wir verzichten völlig darauf, der neuen Auffassung nun dahin zu
folgen, wo sie sich dem ganzen Körper gegenübergestellt sieht, und
auch nur den Versuch zu machen, im einzelnen über die Vereinfachung
der Leibeserscheinung auf das Wesentliche Rechenschaft zu geben. Es
ist nicht das Mehr von anatomischen Kenntnissen, was hier entscheidet,
sondern ein Sehen der Figur nach ihren grossen Formen. Wie der
Körper jetzt in seinen Artikulationen begriffen wird, wie das Gewächs
in den Knotenpunkten sich markiert, setzt ein Gefühl für organische
Gliederung voraus, das von anatomischer Vielwisserei unabhängig ist.
In der Architektur spielt sich dieselbe Entwicklung ab, wofür hier
nur ein namhaft gemacht werde: das 15. Jahrhundert nahm
Beispiel
keinen Anstoss, um
eine Bogcnnische das Profil gleichmässig herum-
laufen zu lassen; jetzt verlangt man ein Kämpfergesimse, d. h. der wichtige
Punkt, wo der Bogen ansetzt, muss deutlich accentuiert sein. Eben diese
Klarheit fordert man auch von den Artikulationen des Körpers. Es ist eine
andere Art, wie der Hals auf dem Torso aufsitzt. Die Teile sondern
DIE NEUE BILDFORM 251

sich bestimmter von einander, zugleich aber bekommt der Körper als
Ganzes überzeugenden Zusammenhang.
einen Man sucht der ent-
scheidenden Ansatzpunkte sich zu bemächtigen; man lernt verstehen,
was man in der Antike schon so lange vor sich gehabt hatte, und in
der Folge kam es wohl auch zu einem bloss schematischen Konstruieren
des Körpers, wofür aber die grossen Meister nicht verantwortlich zu
machen sind.
Und nun handelt es sich ja nicht nur um die Darstellung des
Menschen nach seiner ruhenden Erscheinung, sondern auch und noch
viel mehr um seine Bewegung, um seine körperlichen und geistigen
Funktionen. Unabsehbare Reihen von lauter neuen Aufgaben erstanden
auf dem Gebiet der physischen Bewegung und des physiognomischen
Ausdrucks. Alles Stehen, Gehen, Heben und Tragen, Laufen und Fliegen
musste nach den neuen Forderungen durchgearbeitet werden, so gut
wie der Ausdruck der Affekte. Überall schien es möglich und notwendig,
das Quattrocento an Klarheit und an gesteigerter Kraft des Eindrucks zu
überbieten. Für die Aktionen des nackten Körpers hat Signorelli am
meisten vorgearbeitet; unabhängig von dem peinlich genauen Studium
der Einzelheiten, wie es die Florentiner trieben, kam er sicherer zu
dem, was für das Auge wichtig ist und was die Vorstellung verlangt.
Allein mit all seiner Kunst ist er nur Andeutung und Ahnung, wenn
man Michelangelo neben ihn stellt. Michelangelo hat für die Muskel-
funktionen zuerst diejenigen Ansichten gefunden, die den Beschauer
zwingen, den Vorgang mitzuerleben. Er gewinnt dem Stoff so völlig
neue Wirkungen ab, als ob ihn noch niemand in der Hand gehabt hätte.
Die Reihe der sitzenden Sklaven in der Sixtina ist, nachdem der Karton
der badenden Soldaten verloren gegangen, die eigentliche hohe Schule, der
Gradus ad Parnassum zu nennen. Sieht man allein auf die Zeichnung
der Arme, so kann man die Bedeutung des Werkes ahnen lernen. Wo
das Quattrocento die leichtest fassbaren Erscheinungsarten aufsuchte, wie
z. beim Ellenbogen die Profilansicht, und Generation an Generation
B.
dieses Schema weitergab, da reisst ein Mann mit einem Mal alle Schranken
ein und giebt Gelenkzeichnungen, die beim Beschauer ganz neue Inner-
vationen erzeugen mussten. Nicht mehr gleichmässig in der breiten
Ansicht aufgenommen und nicht mit trägem Parallelismus der Kontur-
linien, besitzen die mächtigen Glieder dieser „Sklaven" ein Leben, das
über den Eindruck der Natur hinausgeht. Das Aus- und Einspringen
der Linie, das Anschwellen und Zusammenziehen der Form bedingt diese
Wirkung. Von der Verkürzung wird später die Rede sein.
Michelangelo ist für alle der grosse Lehrmeister gewesen, der zeigte,
welches die sprechenden Ansichten sind. Um mit einem einfachen Bei-
252 DIE KLASSISCHE KUNST

Piero di Cosinio. Liegende \'eniis (Bruchslück)

spiel zu illustrieren, sei auf die weiblichen Tragfiguren Ghirlandajos und


Raffaels zurückverwiesen (s. die Abbildungen auf S. 220 und S. 221):
wenn man sich klar gemacht hat, um wieviel der gesenkte linke Arm,
der eine Last trägt, bei Raffael dem Ghirlandajo überlegen ist, so hat
man einen Ausgangspunkt, um den Unterschied der Zeichnung im
15. und 16. Jahrhundert zu beurteilen.^)
Mit dem Augenblick, wo der Wert der Gelenke sich erschloss,
musste auch das Bedürfnis erwachen, die Gelenke alle sichtbar zu machen
und so tritt jene Entblössung der Arme und Beine ein, die auch vor
den Heiligenfiguren nicht Halt macht. Das Aufstreifen der Ärmel bei
heiligen Männern ist etwas Allgemeines — man verlangt nach dem
Ellenbogengelenk — , Michelangelo aber geht weiter und entkleidet auch
eine Maria bis zum Schultergelenk (Madonna der Tribuna). Wenn andere
ihm darin nicht folgten, so wird doch namentlich bei Engeln das Bloss-
legen des Armansatzes üblich. Schönheit ist Klarheit der Charniere.
Für das mangelhafte Verständnis organischer Gliederung, wie es
dem 15. Jahrhundert eigentümlich ist, darf man als ein Hauptbeispiel
die Behandlung des Schamtuches bei Christus oder Sebastian anführen.
Dieses Kleidungsstück ist dann unleidlich, wenn es die überleitenden
Linien zwischen dem Torso und den Extremitäten verdeckt. Botticelli

und Verrocchio scheinen keinerlei Unbehagen empfunden zu haben, den


Leib so zu zerhacken, während im 10. Jahriiundcrt das Schamtuch in
einer Weise angeordnet wird, welche deutlich sagt, dass man den
struktiven Gedanken verstanden habe und die reine Erscheinung
wahren wollte. Es ist nicht überraschend, dass Perugino mit seinem

1) Leider können wir die Rah'aelsclie Figur nicht in einer Originalzeiclmung vor-
legen, sondern nur in einer (alten) Ko]-)ie nach dem Fresi<o: Die Linien könnten noch
ausdrucksvoller behandelt sein.
DIE NEUE BILDFORM 253

Tizian. LiegeiiJt- \fiius

architektonischen Denken schon früh auf eine gleiche Lösung ge-


kommen war.

Um mit einem grösseren Beispiel die Erörterung abzuschliessen,


stellen wir zwei Bilder, die Venus aus Piero di Cosimos „Venus und Mars"
in Berlin und Tizians ruhende Venus der Uffizien (s. Abb.), einander gegen-
über, wobei Tizian das Cinquecento auch für Mittelitalien vertreten muss,
da sich kein ebensogut passendes Vergleichsstück finden liess. Also
beiderseits die liegende nackte Frau. Nun wird man natürlich zuerst
aus der Verschiedenheit des Körpers die Verschiedenheit der Wirkung
erklären wollen, aber wenn man auch einräumt, dass hier die artikulierte
Schönheit des 16. Jahrhunderts, wie wir sie oben bei Franciabigio (S. 223)
aufgewiesen haben, mit dem unartikulierten Gewächs des 15. Jahrhunderts
in Vergleich tritt, und dass eine Gestalt im Geschmack des Cinquecento,
wo die feste fassende Form gegenüber den quellenden Weichteilen betont
ist, Vorzug grösserer Klarheit haben muss, so bleiben doch
jedenfalls den
noch genug Unterschiede in der Art, wie die Form zur Erscheinung
kommt: dort nur bruchstückweise und mangelhaft und hier zur voll-
kommensten Klarheit hinaufgeläutert. Selbst wer von italienischer
Kunst erst wenig gesehen hat, wird bei Piero stutzig werden, sobald
254 DIE KLASSISCHE KUNST

er etwa die Zeichnung des rechten Beines ins Auge fasst. Eine gleich-
massige Linie parallel dem ganz gut möglich, dass
Bildrand. Es ist

das Modell diesen Anblick bot. Allein warum hat der Maler sich
damit genügen lassen? Warum giebt er gar nichts von der Gliederung
des Beines? Er hatte kein Bedürfnis darnach. Das Bein ist gestreckt:
es würde nicht anders aussehen, wenn es vollkommen steif wäre; es ist
von oben belastet und zusammengedrückt, allein es sieht aus wie ver-
dorrt und eben solche Verkrümmungen der Erscheinung sind es, gegen
die der neue Stil Einsprache erhebt. Man sage nicht, Piero sei eben
ein schlechterer Zeichner als Tizian, es handelt sich hier wirklich um
generelle Stilunterschiede und wer dem Problem nachgeht, wird erstaunen,
wie weit die Analogien reichen. Man könnte sogar aus frühen Dürer-
zeichnungen genaue Parallelbeispiele zu Piero beibringen.
Der Leib, vorquellend wie immer im 15. Jahrhundert, hängt seit-

wärts. Das ist sehr unschön, allein wir wollen dem Naturalisten sein
Vergnügen lassen, weiui er nur nicht die Verbindung zwischen den
Beinen und dem Leibe zerschnitten hätte. Es fehlt völlig an den über-
führenden Formen, nach denen die Vorstellung verlangt.
Undso verschwindet oben der linke Arm von der Schulter an
plötzlich, ohne Andeutung, in welcher Weise er auszudenken wäre, bis
man dann irgendwo eine Hand antrifft, die zugehörig sein muss, wo
aber für das Auge der Zusammenhang fehlt.

Fragt man nach der Klarmachung der Funktion, wie das Stützen
des aufgelehnten Armes
Erscheinung komme, die Drehung des
zur
Kopfes oder die Bewegung
im Handgelenk, so bleibt Piero vollends
stumm. Tizian giebt nicht nur den Körper nach seinem Bau in voll-
kommener Klarheit und lässt uns über keinen einzigen Punkt im Un-
gewissen, auch das Funktionelle ist diskret, aber durchaus genügend
angegeben. Von dem Wohlklang der Linie, wie (an der rechten Seite
namentlich) der Kontur in gleichmässig rhythmischem Fall heruntereilt,
wollen wir gar nicht reden. Nur sei im allgemeinen gesagt, dass auch
Tizian nicht von Anfang an so komponierte: die einfachere, ältere Venus
in der Tribuna, mit dem Hündchen, mag den Vorzug grösserer Frische
haben, ist aber nicht von gleicher Reife.
Was von der einzelnen Figur gilt, gilt in erhöhtem Grade von der

Zusammenfügung mehrerer. Das Quattrocento machte dem Auge un-


glaubliche Zumutungen. Der Beschauer hat nicht nur die grösste Mühe,
aus den enggestellten Kopfreihen die einzelnen Physiognomien sich heraus-
zuklauben, er bekommt auch Figuren in Bruchstücken zu sehen, die fast
unmöglich zur ganzen Gestalt zu vervollständigen sind. Man wusste
noch nicht, was man an Überschneidungen und Verdeckungen riskieren
DIE NEUE BILDFORM 255

durfte. Ich verweise auf die unleidlichen Figurenabschnitte in Ghirlandajos


Heimsuchung (Louvre) oder auf Botticellis Anbetung der Könige in den
Uffizien, wo der Leser eingeladen sei, einmal die rechte Bildhälfte zu
analysieren. Für Vorgeschrittene wären die Fresken Signorellis in Orvieto
zu empfehlen, mit ihrem schier unentwirrbaren Gewühl. Was für eine
Befriedigung emphndet dagegen das Auge vor den figurenreichsten
Kompositionen Raffaels; ich spreche von seinen römischen Arbeiten, denn
in der „Grablegung" wirkt auch er noch ungeklärt.
In der iMitteilung architektonischer Dinge trifft man auf dieselbe
Unberatenheit. Die Halle in Ghirlandajos Fresko mit dem Opfer Joachims
ist so gezeichnet, dass die Pilaster mit ihren Kapitellen gerade an den

oberen Bildrand stossen. Heutzutage wird jeder sagen, dass er entweder


das Gebälk noch mit aufnehmen oder die Pilaster weiter unten durch-
schneiden musste. Diese Kritik aber haben wir von den Cinquecentisten
gelernt. Perugino ist auch hier schon weiter als die andern, immerhin
finden sich auch bei ihm noch Archaismen der Art, wenn er etwa meint,
mit kleinen, vom Rand einspringenden Gesimsecken ein ganzes Ge-
wölbejoch markieren zu können. Wirklich belustigend aber wirken die
Raumrechnungen des alten Filippo Lippi. Sie gehören mit zu dem Urteil,

das im ersten Kapitel dieses Buches über ihn gefällt worden ist.

3. Die Bereicherung
1.

Unter allen Errungenschaften des 16. Jahrhunderts wird die völlige


Befreiung der körperlichen Bewegung vorangestellt werden müssen. Sie

ist es, die in erster Linie den Eindruck des Reichtums in einem cin-

quecentistischen Bilde bestimmt. Der Körper regt sich mit lebendigeren


Organen und das Auge des Beschauers wird zu einer erhöhten Thätig-
keit aufgerufen.
Unter Bewegung ist nun nicht die Fortbewegung vom Platze zu ver-

stehen. Im Quattrocento wird ja schon viel gelaufen und gesprungen


und doch haftet ihm eine gewisse Armut und Leere an, insofern von
den Gelenken doch nur ein beschränkter Gebrauch gemacht wird und
die Möglichkeiten der Wendungen und Biegungen in den grossen und
kleinen Charnieren des Körpers nur bis zu einem gewissen Grade aus-
gebeutet zu sein pflegen. Hier setzt das 16. Jahrhundert ein mit einer
Entfaltung des Körpers, mit einer Bereicherung der Erscheinung selbst
bei dem ruhigen Gebilde, dass man sich an den Anfang einer ganz neuen
256 DIE KLASSISCHE KUNST

Epoche gestellt sieht. Auf einmal wird die Figur reich an Richtungen
und was man nur als eine Fläche aufzufassen gewohnt war, bekommt
Tiefe und wird zu einem Formenkomplex, wo auch die drille Dimension
ihre Rolle spielt.
Es ist der verbreitete Irrtum der Dilettanten, die Meinung, dass zu
allen Zeiten alles möglich sei und dass die Kunst, sobald sie nur einige
Ausdrucksfähigkeit gewonnen habe, gleich auch alle Bewegung werde
geben können. Und doch vollzieht sich die Entwicklung nicht anders
als bei einer Pflanze, die langsam Blatt um Blatt auseinanderlegt, bis
sie rund und völlig und nach allen Seiten ausgreifend dasteht. Dieses
ruhige, gesetzmässige Wachstum wird allen organischen Kunstkulturen
eigen sein, allein es lässt sich nirgends so rein beobachten wie in der
Antike und in der italienischen Kunst.
Ich wiederhole, es handelt sich nicht um Bewegungen, die einen
neuen Zweck verfolgen oder im Dienst eines besonderen neuen Aus-
druckes stehen, sondern lediglich um das mehr oder weniger reiche
Bild eines Sitzenden, Stehenden, Lehnenden, wo die Hauptfunktion die
gleiche bleibt, wo aber durch Wendungskontraste zwischen Oberkörper
und Unterkörper, Kopf und Brust, durch
zwischen lochstellen eines 1

Fusses, durch Übergreifen Armes oder Vorschieben einer Schulter


des
und was solcher Möglichkeiten mehr sind, sehr verschiedene Konfi-
gurationen von Torso und Gliedern gewonnen werden können. Alsbald
haben sich gewisse Gesetzmässigkeiten in der Verwendung der Bewegungs-
motive herausgebildet und die kreuzweis korrespondierende Behandlung,
wo etwa dem gebogenen rechten Bein die Biegung des linken Armes ent-
spricht und umgekehrt, nennt man Kontrapost. Allein das Gesamt-
phänomen darf mit dem Begriff Kontrapost nicht bezeichnet werden.
Man kömite nun daran denken, die Differenzierung der synonymen
Teile, der Arme und und Hüften, die neuentdeckten
Beine, der Schultern
Bewegungsmöglichkeiten nach den drei Dimensionen auf schematische
Tabellen abzuziehen. Allein der Leser wird das hier nicht erwarten und
sich, nachdem im vorausgehenden schon so viel von plastischem Reich-
tum die Rede war, mit einigen ausgewählten Beispielen zufrieden geben.
Am einleuchtendsten werden die Operationen des neuen Stils sich
da darstellen, wo der Künstler den ganz bewegungslosen Körper vor
sich hat wie bei dem Thema des Gekreuzigten, das bei der Festlegung
Und doch
der Extremitäten gar keiner Variation fähig zu sein scheint.
hat die Kunst des Cinquecento auch aus diesem sterilefi Motiv etwas
Neues gemacht, indem sie die Gleichwertigkeit der Beine aufhob, das
eine Knie über das andere schob und durch die Wendung der Figur
im ganzen einen Richtungskontrast zwischen unten und oben gewann.
DIE NEUE BILDFORM 257

Bei Albertinelli davon gesprochen


ist

worden (vgl. S. 150). Der das Motiv


bis in die letzte Konsequenz verfolgte,
ist Michelangelo. Und bei ihm kommt
dann —
nebenbei gesagt auch noch —
der Affekt hinzu; er ist der Schöpfer
des Gekreuzigten, der das Auge nach
oben richtet und dessen Mund zum
Aufschrei der Qual sich öffnet.^)
Reichere Möglichkeiten enthielt
das Motiv des gefesselten Körpers: der
an den Pfahl gebundene Sebastian oder
der Christus der Geisselung oder auch
jene Reihe von Pfeilersklaven, wie sie
Michelangelo für das Juliusgrab vor-
hatte. Man kann die Wirkung gerade
dieser „Gefangenen" bei den kirch-
lichen Thematen deutlich verfolgen
und hätte Michelangelo die ganze Reihe
am Grabmal ausgeführt, so wäre wohl
überhaupt nicht mehr viel zu erfinden
übrig geblieben.
Wenn wir uns dann nach der
freien Stehfigur umsehen, so er-

scheinen natürlich vollends unabseh-


bare Wir wollen nun
Perspektiven.
fragen,was wohl das 16. Jahrhundert
mit dem Bronze- David Donatellos
gemacht haben würde? Er ist in
der Bewegungslinie dem klassischen
Geschmack so verwandt, die Diffe-
renzierung der Glieder ist schon eine
so wirkungsvolle, dass man — ab- Benevenuto Cellini. I'erseus (Modell)

gesehen von der Formbehandlung —


wohl erwarten könnte, er würde auch diesem spätem Geschlecht genügt
haben. Die Antwort giebt der Perseus des Benvenuto Cellini, eine späte
Figur (1550), aber verhältnismässig einfach komponiert und daher zu
einer Vergleichung geeignet. Hier sieht man, was dem David fehlt: nicht

') Vasari (VII. 275) interpretiert anders: alzato la testa raccomanda lo spirito al
padre. Die Komposition ist nur in Kopien erhalten. — Hier hat der CruciHxus des
17. Jahrhunderts seinen Ursprung.
Wölfflin, Die klassische Kunst 17
)

258 DIE KLASSISCHE KUNST

nur, dass die Kontraste der Glieder


stark gesteigert sind, die Figur ist

überhaupt aus der einen Ebene her-


ausgenommen und greift weit vor
und zuri^ick. Man mag das bedenk-
lich finden und schon den Verfall
der Plastik darin angedeutet sehen,
ich brauche das Beispiel, weil es die
Tendenz kennzeichnet.
Michelangelo freilich ist viel

reicher und komponiert doch ge-


schlossen, blockmässig; allein wie
sehr er dabei die Figuren nach der
Tiefe zu zu entwickeln sucht, ist oben

(S. 52)an dem Beispiel des Apollo im


Gegensatz zu dem scheibenhaften
David erörtert worden. Durch die
Wendung der Figur, die von unten
bis oben geht, wird die Vorstellung
nach allen Dimensionen angeregt und
der übergreifende Arm ist nicht nur
als kontrastierende Horizontallinie
wertvoll, sondern besitzt auch einen
räumlichen Wert, indem er auf der
Skala der Tiefenachse einen Grad
bezeichnet und von sich aus bereits
ein Verhältnis von vorn und rückwärts
Ebenso ist der Christus in der
schafft.
Der IJurliiier Minerva gedacht und in diesen Zu-
üiovamiiiio

sammenhang gehört auch der Berliner


Giovannino (s. oben S. 49, Anm.), nur würde ein Michelangelo die Auf-
lockerung der Masse hier nicht gebilligt haben. Wer den Bewegungs-
inhalt der Figur analysiert, wird mit Nutzen den Bacchus Michelangelos
beiziehen: völlig klar wird dann die altertümlich einlache und flache Auf-
fassung in dem echten Jugendwerk des Künstlers der komplizierten Be-
wegung Drehung in der Arbeit eines späteren Nachahmers
mit mehrseitiger
sich gegenüberstellen und der Unterschied nicht nur zweier Individuen,
sondern zweier Generationen dem Unbefangenen entgegentfeten.'

') Das gesuchte Motiv des Emporfülirens einer Scliale ziini Munde — ein ein-
facherer Sinn würde das Schlürfen selbst gegeben haben — kommt gleichzeitig auch in
der Malerei. Vgl. den Giovannino des Bugiardini in der Pinakothek von Bologna.
DIE NEUE BILDFORM 259

Als Beispiel einer cinquecentisti-


schcn Sitzfigur sei der Cosmas aus der
Mediceischen Grabicapelle angeführt,
den Michelangelo vormodelliert und
Montorsoli ausgeführt hat, eine schöne
stille Gestalt, man möchte sagen, ein
beruhigter Moses. Nichts Auffälliges
im Motiv und doch eine Formulierung
des Problems, die dem 15. Jahrhundert
unzugänglich war. Man lasse die
quattrocentistischen Sitzfiguren des
Florentiner Domes zur Vergleichung
am Auge vorübergehen : keiner dieser
älteren Meister hat auch nur versucht,
mit der Hochsetzung eines Fusses die
unteren Extremitäten zu differenzieren,
von dem Vorbeugen des Oberkörpers
gar nicht zu reden. Der Kopf giebt
hier dann noch einmal eine neue
Richtung an und die Arme sind bei
allerRuhe und Anspruchslosigkeit der
Gebärde höchst wirkungsvolle Kon-
trastglieder in der Komposition.
Sitzfiguren haben den Vorteil,
dass die Gestalt als Volumen nahe
zusammengeht und daher auch die
Achsengegensätze energischer auf-
einandertreffen. Es ist leichter, eine
Sitzfigur plastisch reich zu machen als
.MoalorsoH. Der heilige Cosmas
eine Stehfigur, und man wundert sich
nicht, ihr im 16. Jahrhundert besonders
häufig zu begegnen. Der Typus des sitzenden Johannesknaben verdrängt
den des stehenden fast völlig, in der Plastik und der Malerei. Sehr
übertrieben, aber eben deswegen lehrreich ist die späte Figur des J. Sanso-
vino aus den Frari in Venedig (1556), der man die Qual ansieht, inter-
essant erscheinen zu müssen (s. Abb.).
Die allergrösste Möglichkeit konzentrierten Reichtums bieten dann
die wofür die blosse Erwähnung der Tageszeiten in der
Liegefiguren,
mediceischen Kapelle genügen möge. Ihrem Eindruck hat auch Tizian
nicht widerstehen können; als er in Florenz gewesen war, kam
ihm die langhingestreckte nackte Schöne, wie sie seit Giorgione in

17*
260 DIE KLASSISCHE KUNST

Venedig gemalt wurde, allzu einfach


vor, ersuchte nach stärkern Richtungs-
kontrasten der Glieder und malte seine
Danae, die mit halbaufgerichtetem
Oberkörper, das eine Knie hochge-
stellt, den goldenen Regen in ihren
Schoss aufnimmt. Dabei ist nun be-
sonders lehrreich, wie er in der Folge
— das Bild ist noch dreimal aus
seinem Atelier hervorgegangen — die
Figur immer mehr zusammenballt
und die Kontraste (auch in der Be-
gleitfigur) immer schärfer nimmt. ^)

Es ist bisher mehr von plasti-


schen als von malerischen Beispielen
die Rede gewesen. Nicht als ob
die Malerei einen andern Gang ge-
nommen hätte — die Entwicklung
geht ganz parallel — , allein es treten

hier sofort die Probleme der Per-


spektive hinzu : ein und dieselbe Be-
wegung kann je nach der Ansicht
reicher oder ärmer wirken, und einst-
weilen sollte nur von der Steigerung
der objektiven Bewegung gehandelt
werden. Sobald wir nun aber diese
objektive Bereicherung auch im Zu-
sammen mehrerer Figuren nach-
SansoviiiL) uiiics der Täuier
J.
weisen wollen, lässt sich die Malerei
nicht mehr zurückschieben. Die
Plastik bildetzwar auch ihre Gruppen, allein hier stösst sie doch sehr
bald an natürliche Grenzen und muss das Feld dem Maler überlassen.
Der Bewegungsknäuel, den Michelangelo in dem Rundbild der Madonna
der Tribuna uns zeigt, hat selbst bei ihm keine plastischen Analogien
und die Anna selbdritt eines A. Sansovino in S. Agostino in Rom (1512)
erscheint sehr arm neben Lionardos malerischer Komposition.

') Die Reihenfolge der Bilder lässt sich ganz bestimmt feststellen. Den Anfang
giebt, wiejedermann weiss, das Bild in Neapel (1545), dann kommen mit beträciit-
lichen Abweichungen die Bilder von Madrid und Petersburg, und die letzte voll-
kommenste Redaktion enthält die Danae in Wien.
DIE NEUE BILDFORM 261

Es ist auffällig, wie bei


aller Lebhaftigkeit des spä-
teren Quattrocento und selbst
bei den aufgeregtesten Ma-
lern — ich denke an Filip-
pino — ein Menschenhaufen
nie einen reichen Anblick
gewährt. Viel Unruhe im
kleinen, aber wenig Be-
wegung im grossen. Es
fehlt an den starken Rich-
tungsdivergenzen. Eilippino
kann fünf Köpfe nebenein-
anderbringen, die alle unge-
fähr dieselbe Neigung haben
und das nicht etwa in einer
Prozession, sondern bei
einer Gruppe von Weibern,
die Augenzeugen einer wun-
derbaren Erweckung sind Andrea del Sarto. Aladoiiiia mit acht Heiligen
(Erweckung der Drusiana,
S. M. Novella). Was für einen Achsenreichtum enthält dagegen um nur —
ein Beispiel zu nennen —
die Gruppe der Frauen auf Raffaels Heliodor.
Wenn Andrea del Sarto seine zwei schönen Florentinerinnen zum
Besuch in die Wochenstube führt (Annunziata), so giebt er gleich zwei
ganz entschiedene Richtungskontraste, und so kann es geschehen, dass
er mit zwei Figuren den Eindruck grösserer Fülle hervorbringt, als
Ghirlandajo mit einem ganzen Trüppchen.
Bei dem ruhigen Zusammenstehen von Heiligen im Gnadenbilde
gewinnt derselbe Sarto mit lauter Stehfiguren (Madonna delle Arpie)
einen Reichtum, den ein Maler wie Botticelli auch da nicht hat, wo er
abwechselt und eine zentrale Sitzfigur einschiebt, wie man das an der
Berliner Madonna
mit den beiden Johannes sehen kann. Vgl. die Ab-
bildungen auf 166 und 264.
S. Es ist nicht das Mehr oder Weniger
der Einzelbewegung, was hier den Unterschied bestimmt: Sarto ist im
Vorsprung durch das eine grosse Kontrastmotiv, dass er der mittleren
Frontfigur die Begleiter in entschiedener Profilstellung gegenüberstellt.^)

1) Man darf hierzu Lioiiardo zitieren (Buch von der Malerei, No. 187 [253]): Ich
sage auch noch, dass man die direkten Gegensätze nahe nebeneinander stellen und zu-
sammenmischen soll, denn sie verleihen einander grosse Steigerung, und zwar um so
mehr, je näher sie beisammen sind, u. s. w.
262 DIE KLASSISCHE KUNST

Botticelli. Madonna mit Engeln und sechs Heiligen

Wie wenn
sehr aber steigert sich erst der Bewegungsinhalt des Bildes,
nun Stehende und zusammenkommen, und die
Kniende und Sitzende
Unterscheidungen des Vor und Zurück, des Oben und Unten heran-
gezogen sind, wie in Sartos Madonna von 1524 (Pitti) oder der Berliner
Madonna von 1528, Bilder, die in jener grossen Sechs-Iieiligen-Kom-
position des Botticelli (Florenz, Akademie) ihre quattroccntistische Parallele
besitzen, wo fast völlig gleichförmig und gleichartig die sechs Vertikal-
figuren nebeneinanderstehen (s. Abb.).')
Denkt man endlich an die vielstimmigen Kompositionen der Camera
della segnatura, so hört vor dieser kontrapunktischen Kunst die Ver-
gleichbarkeit des Quattrocento überhaupt auf. Man überzeugt sich,
dass das Auge, zu einer neuen Auffassungsfähigkeit entwickelt, nach
immer reicheren Anschauungskomplexen verlangen musste, um ein Bild
reizvoll zu finden.

') Die hier mitgeteilte Abbildung giebt das bekannte Bild unter Weglassung des
obern Fünftels, das eine offenkundige Ergänzung aus späterer Zeit
ist. So erst bekommen

Wirkung, während ein hoher leererOberraum mit den quattro-


die Figuren ihre originale
centistischen Forderungen der gleichniässigen RauniausfüUung sich gar nicht verträgt.
DIE NEUE BILDFORM 263

2.

Wenn das 16. Jahrhundert einen neuen Reichtum an Richtungen


bringt, so hängt das zusammen mit der Erschliessung des Raumes im All-
gemeinen. Das Quattrocento steht noch im Bann der Fläche, es stellt seine
Figuren in der Breitlinie nebeneinander, es komponiert streifenförmig.
Auf Ghirlandajos Wochenstubenbild (s. Abb. S. 218) sind die Haupt-
figuren alle in einer Ebene entwickelt: die Frauen mit dem Kinde — die
Besuchenden — die Magd mit den Früchten, sie halten sich alle auf einer
Linie parallel zum Bildrande. In Andrea del Sartos Komposition da-
gegen (s. Abb. S. 154) nichts mehr davon: lauter Kurven, Aus- und
Einwärtsbewegung; man hat den Eindruck, der Raum sei lebendig ge-
worden. — Nun sind solche Antithesen, wie Flächenkomposition und
Raumkomposition, natürlich cum grano salis zu verstehen. Auch die
Quattrocentisten haben es an Versuchen nicht fehlen lassen, in die Tiefe
zu kommen, es giebt Kompositionen zur Anbetung der Könige, die aus
allen Kräften sich bemühen, die Figuren vom vordem Bühnenrand weg
in den Mittel- und Hintergrund hineinzuziehen, allein der Beschauer
verliert gewöhnlich den Faden, der ihn in die Tiefe leiten sollte, d. h.

das Bild fällt in einzelne Streifen auseinander. Was Raffaels grosse


Raumkompositionen in den Stanzen bedeuten, lehren am besten die
Fresken Signorellis in Orvieto, die der Reisende ja unmittelbar vor dem
Eintritt in Rom zu sehen pflegt: Signorelli, dem sich seine Menschen-
massen sofort mauerartig schliessen und der auf den gewaltigen Flächen
sozusagen nur Vordergrund zu geben imstande ist, und Raffael, der
von Anfang an mühelos die Fülle seiner Gestalten aus der Tiefe heraus
entwickelt, scheinen mir den Gegensatz der zwei Zeitalter erschöpfend
zu repräsentieren.
Man kann weiter gehen und sagen: alle Formenauffassung ist

flächenhaft im 15. Jahrhundert. Nicht nur die Komposition ist streifen-


förmig, auch die einzelne Figur ist silhuettcnhaft aufgefasst. Die Worte
sind nicht nach ihrem buchstäblichen Sinn zu verstehen, allein zwischen
der Zeichnung der Frührenaissance und der der Hochrenaissance besteht
kaum anders wird formulieren lassen. Ich berufe
ein Unterschied, der sich
mich noch einmal auf Ghirlandajos Geburt des Johannes und im be-
sondern auf die sitzenden Frauen. Muss man hier nicht sagen, der
Maler habe die Figuren auf der Fläche plattgeschlagen? Und nun
im Gegensatz dazu der Kreis der Mägde in Sartos Wochenstube: überall
sind die Wirkungen des Vor- und Zurücktretens der einzelnen Teile
gesucht, d. h. die Zeichnung geht den verkürzten, nicht den flächen-
haften Ansichten nach.
Ein anderes Beispiel: Botticellis Madonna mit den zwei Johannes
264 DIE KLASSISCHE KUNST

Botticelli. Madonna mit den beiden Johannes

(Berlin) und Andreadel Sartos Madonna delle Arpie. (Vgl. die Abbildung
S. 166.) Warum sieht Johannes der Hvangelist bei Sarto so viel
reicher aus? Wohl hat er in der Bewegung vieles voraus, allein die
Bewegung ist auch so gegeben, dass der Beschauer unmittelbar zu plasti-
schen Vorstellungen angeleitet wird und das Vor- und Zurückspringen
der Form Abgesehen von Licht und Schatten ist der räum-
empfindet.
liche Eindruck einweil die Vertikalebene durchbrochen und
anderer,
das Scheibenbild durch das körperlich-dreidimensionale ersetzt ist, wo die
Tiefenachse, d. h. eben die verkürzte Ansicht in ausgedehntem Masse
zum Worte zugelassen wird. Verkürzungen hat es auch früher gegeben
und von Anfang an sieht man die Quattrocentisten an dem Problem
herumlaboriercn, jetzt aber erledigt sich mit einem Male das Thema so
gründlich, dass man wohl von einer prinzipiell neuen Auffassung
sprechen darf. Man findet auf dem angezogenen Bilde Botticellis
noch einen weisenden Johannes, die typische Gebärde des Täufers: wie
der Arm in die Fläche eingestellt ist, parallel zum Beschauer, geht durch
das ganze 15. Jahrhundert durch und bei dem predigenden Johannes ist
DIE NEUE BILDFORM 265

es nicht anders als bei dem weisenden. Kaum haben wir aber die Scheide
des Jahrhunderts überschritten, so i^ommen überall die Versuche, aus
diesem Flächenstil sich herauszuarbeiten und innerhalb unseres Abbil-
dungsmaterials möchte ein Vergleich der Predigt des Johannes in den Bil-
dern Ghirlandajos und Sartos die Sache am besten glaubhaft machen.
(Abbildungen auf S. 158 und 159.)
Die Verkürzung gilt im 16. Jahrhundert als die Krone des Zeichnens.
Alle Bilder werden daraufhin beurteilt. Albertinelli bekam das ewige
Gerede vom scorzo schliesslich so satt, dass er die Staffelei mit dem
Schenktisch vertauschte,und ein venezianischer Dilettant wie Ludovico
Dolce würde sich Meinung angeschlossen haben: Verkürzungen
seiner
seien ja doch nur etwas für Kenner, wozu sich so viele Mühe darum
geben? ^) In Venedig mochte das sogar die allgemeine Ansicht sein und
man kann zugeben, dass die dortige Malerei allerdings schon Mittel
genug besass, das Auge zu beglücken, und es überflüssig finden durfte,
nach diesen Reizen der toskanischen Meister auszuspähen. Allein in

der florentinisch-römischen Malerei haben die Grossen alle das Problem


der dritten Dimension aufgenommen.
Gewisse Motive wie der aus dem Bilde herausweisende Arm oder
der verkürzt gesehene, gesenkte Facekopf kommen fast gleichzeitig an
allen Orten und eine Statistik dieser Fälle ist gar nicht uninteressant.
Indessen kommt es nicht an auf einzelne Kunststücke, auf die über-
raschendsten scorzi, das Wichtige ist die allgemeine Veränderung im
Projizieren der Dinge auf die Fläche, die Gewöhnung des Auges an die
Darstellung des Dreidimensionalen.-)

3.

Es versteht sich von selbst, dass innerhalb dieser neuen Kunst


auch Licht und Schatten eine neue Rolle zu spielen berufen waren.
Muss man doch glauben, dass durch die Modellierung noch viel un-
mittelbarer durch die Verkürzung der Eindruck des Körperhaften
als
und Raumwirklichen erreicht werden kann. In der That gehen die
Bemühungen um beides schon bei Lionardo —
theoretisch und praktisch —
nebeneinander her. Was nach Vasari das Ideal des jungen Künstlers
gewesen ist, „dar sommo relievo alle figure", blieb es zeitlebens. Er
fing an mit den dunkeln Gründen, aus denen die Figuren herauskommen

') Ludovico Dolce, L'Aretino (Ausgabe der Wiener Quellenschriften, S. 62).


-) Eben darum können hier die Experimente eines Uccelio u. a. ungenannt
bleiben. Die italienischen Landschaften verhalten sich übrigens merkwürdig verschieden
gegenüber den perspektivischen Problemen. Es ist kein Zufall, dass die Kunst Cor-
reggios aus Oberitalien hervorgeht.
266 DIE KLASSISCHE KUNST

sollten,was etwas ganz anderes ist als das blosse Schwarz der Folie,
das früher schon angewandt wurde. Es steigert die Schattentiefe und
verlangt ausdrücklich, dass in einem Bilde grosse Dunkelheiten neben
hohen Lichtern vorkommen müssten.^) Selbst ein Mann der Zeichnung
im besonderen Sinne, v^ie Michelangelo, macht die Entwicklung mit und
im Verlauf der sixtinischen Deckenarbeit kann eine zunehmende Ver-
stärkung der Schatten wohl konstatiert werden. Von den eigentlichen
Malern aber sieht man einen nach dem andern in den dunkeln Gründen
und den energisch vorspringenden Lichtern sein Glück suchen. Raffael
gab mit dem Heliodor ein Beispiel neben dem nicht nur seine eigene
„Disputa", sondern auch die Wandmalereien der altern Florentiner alle
flach erscheinen mussten, und welches quattroccntistische Altarbild hätte
die Nachbarschaft eines Fra Bartolommeo mit seinem mächtigen plasti-
schen Leben aushalten können? Die Kraft der körperlichen Erscheinung
und die Wucht seiner grossen Nischen mit ihren Wölbungsschatten müssen
damals einen Eindruck gemacht haben, den wir uns nur mühsam wieder
vergegenwärtigen können.
Die allgemeine Steigerung des Reliefs brachte natürlich auch für
die Bildrahmen eineVeränderung mit sich; dem flachen quattrocentistischcn
Pilasterrahmen mit Krönung wird der Abschied gegeben und
leichter
statt dessen kommt Gehäuse mit Flalb- und Dreiviertelsäulen und
ein
mit schwerer Bedachung; man lässt die spielende dekorative Behandlung
dieser Dinge fallen zu Gunsten einer ernsthaften grossen Architektur,
worüber ein Kapitel für sich zu schreiben wäre.-)
Licht und Schatten stehen nun aber nicht nur im Dienste der
Modellierung, sondern sind sehr bald als höchst wertvolle Hilfskräfte
für die Bereicherung der Erscheinung überhaupt erkannt worden. Wenn
Lionardo verlangt, dass man der hellen Seite des Körpers eine dunkle Folie
geben und umgekehrt, so mag das noch im Interesse der Reliefwirkung
solle
gesagt sein, allein hell und dunkel wird nun allgemein nach Analogie
des plastischen Kontrapostes verwendet. Auf den Reiz der partiellen Be-
schattung ist selbst Michelangelo eingegangen, wofür die späteren Sklaven-
figurcn der Decke zeugen mögen. Es giebt Darstellungen, wo die ganze
eine Körperhälfte in Schatten getaucht ist und dies Motiv kann fast die
plastische Differenzierung des Körpers ersetzen. Die Venus des „Francia-
bigio" (s. Abb. S. 223) gehört hieher oder auch der jugendliche Johannes

Buch von der Malerei: No. 61 (81).


')

Auf was für Vorbilder die vor einigen Jahren erstellten Oiebeleinrahniungen
-)

von zwei bekannten quattrocentistischen Bildern in der Münchner Pinakothek (Perugino


und Fihppino) zurückgehen, weiss icli nicht. Sie scheinen mir etwas zu gewaltig und
zu architektonisch.
DIE NEUE BILDFORM 267

des Andrea del Sarto (S. 171 ). Und sieht man von der Einzelfigur ab und
auf die Gesamtkomposition, so wird die Unentbehrlichkeit dieser Momente
für die reicheKunst um so mehr in die Augen springen. Was wäre
Andrea del Sarto ohne seine Flecken, die die Komposition zum Vibrieren
bringen und wie sehr rechnet der architektonische Fra Bartolommeo auf
die Wirkung der malerischen Massen von hell und dunkel. Wo sie
fehlen, wie in dem bloss untermalten Entwurf mit der Anna selbdritt,
scheint das Bild des eigentlichen Atems noch zu entbehren.
Ich beschliesse diesen Abschnitt mit einem Citat aus Lionardos
Malerbuch. Wer nur für die urteilslose Menge male, sagt er gelegent-
lich,^) in dessen Bildern werde man wenig Bewegung finden, wenig
Relief und wenig Verkürzung. Mit anderen Worten, die künstlerische
Qualität eines Bildes bestimmt sich für ihn darnach, wie weit der Autor
auf die genannten Aufgaben einzugehen vermochte. Bewegung, Ver-
kürzung, körperhafte Erscheinung sind aber gerade die Begriffe, die wir
in ihrer Bedeutung für den neuen Stil hier zu erklären versuchten und so
mag die Verantwortung, wenn wir die Analyse nicht weiterführen, Lionardo
zugeschoben werden.

4. Einheit und Notwendigkeit


Der Begriff der Komposition ist alt und schon im 15. Jahrhundert
erörtert worden, allein in seinem strengen Sinn als Zusammenordnung
von Teilen, die auch zusammengesehen werden sollen, gehört er erst
dem 16. Jahrhundert an und was einst als komponiert galt, erscheint
jetzt als ein blosses Aggregat, dem die Form fehle. Das
eigentliche
Cinquecento fasst nicht nur grössere Zusammenhänge auf und begreift
das Einzelne in seiner Stellung innerhalb des Ganzen, wo man bisher
mit isolierendem Nahblick Stück um Stück betrachtete, es giebt auch
eine Bindung der Teile, eine Notwendigkeit der Fügung, neben der
in der That alles Quattrocentistische zusammenhanglos und willkür-
lich wirkt.

Was kann aus einem einzigen Beispiel ersichtlich


das bedeutet,
werden, wenn man
an die Komposition von Lionardos Abendmahl
sich
erinnert im Vergleich zu der Ghirlandajos. Dort eine Zentralfigur,
herrschend, zusammenfassend; eine Gesellschaft von Männern, wo jedem
seine bestimmte Rolle innerhalb der Gesamtbewegung zugewiesen ist;

') Buch von der Malerei: No. 59 (70).


268 DIE KLASSISCHE KUNST

ein Bau, aus dem kein Stein herausgenommen werden könnte, ohne
dass alles aus dem Gleichgewicht käme. Hier eine Summe von Figuren,
ein Nebeneinander ohne Gesetz der Folge und ohne Notwendigkeit der
Zahl: es könnten mehr sein oder weniger und in der Haltung könnte
jeder auch anders gegeben sein, der Anblick würde sich nicht wesent-
lich ändern.
Im Gnadenbild ist die symmetrische Anordnung immer respektiert
worden und es gibt auch Bilder profaner Natur, wie die Primavera
des Botticelli, die daran festhielten, dass eine Mittelfigur da sei und ein
Gleichgewicht zwischen den beiden Seiten. Allein damit konnte sich das
16. Jahrhundert noch lange nicht zufrieden geben: die Mittelfigur ist dort
doch nur eine Figur neben andern, das Ganze eine Reihung von Teilen,
wo jeder ungefähr gleich viel bedeutet. Statt einer Kette gleichartiger
Glieder verlangt man jetzt ein Gefüge mit entschiedener Über- und Unter-
ordnung. An Stelle der Koordination tritt die Subordination.
Ich verweise auf den einfachsten Fall, das Gnadenbild mit drei
Figuren. In Botticellis Berliner Bild (s. Abb. S. 264) sind es drei Personen
nebeneinander, jede ein Element für sich, und die drei gleichen Nischen
des Hintergrundes befördern die Vorstellung, dass man das Bild in drei
Teile auseinanderlegen könnte. Gedanke bleibt völlig fern an-
Dieser
gesichts der klassischen Redaktion des Themas, wie wir es in Andrea
del Sartos Madonna von 1517 haben (s. Abb. S. 166): die Nebenfiguren
sind zwar immer noch Glieder, die für sich allein auch etwas bedeuten
würden, allein die dominierende Stellung der Mittelfigur ist augen-
scheinlich und die Verbindung erscheint als unlösbar.
Beim Historicnbilde war die Transformation an den neuen Stil

schwieriger als bei solchen Gnadeiibilderii, insofern ja überhaupt erst


der Boden eines Zentralschemas gewonnen werden mußte. An Ver-
suchen fehlt es nicht bei den späteren Quattrocentisten und Ghirlandajo
erweist sich in den Fresken von S. M. Novella als einer der beharrlichsten;
man merkt, es ihm nicht mehr recht behaglich bei dem blossen zu-
ist

fälligen Nebeneinander der Figuren; er ist wenigstens da und dort auf


das architektonische Komponieren mit allem Frnst eingegangen. Und
doch bietet dann Andrea mit seinen Johannesgeschichten im Scalzo dem
Beschauer eine völlige Überraschung: bemüht, um jeden Preis dem Zu-
fälligen zu entrinnen und den Findruck der Notwendigkeit zu erreichen,
hat er auch das Widerstrebende dem Zentralschema unterworfen. Keiner
blieb zurück. Bis in die wirren Massenszenen eines Kindermordes dringt
die gesetzmässige Ordnung (Daniele da Volterra, Uffizien) und selbst
Geschichten wie die V^erleumdung des Appelles, die so offenbar die
Längsabwicklung fordert, werden ins Zentrale umgesetzt, auf Kosten
DIE NEUE BILDFORM 269

der Deutlichkeit. So bei Franciabigio im kleinen (Pitti), bei Girolamo


Genga im grossen (Pesaro, Villa imperiale).^)
Wie weit nun die Regel wieder gelockert und im Interesse eines
lebendigeren Eindrucks das Gesetz für die Erscheinung teilweise ver-
deckt wird, kann hier nicht ausgeführt werden. Die vatikanischen Fresken
enthalten bekannte Beispiele von aufgehobener Symmetrie innerhalb
eines noch ganz tektonischen Stiles. Das aber muss nachdrücklich
gesagt werden, dass keiner die Freiheit recht benutzen konnte, der nicht
durch die Komposition der strengen Ordnung durchgegangen war. Nur
auf dem Grunde des fest angespannten Formbegriffs war die partielle
Auflösung der Form zur Wirkung zu bringen.
Das Gleiche gilt für die Komposition der einzelnen Gruppe, wo
seitLionardo ein analoges Bemühen nach tektonischen Konfigurationen
nachzuweisen ist. Die Madonna in der Felsgrotte lässt sich einem
gleichschenkligen Dreieck einschreiben und dieses geometrische Ver-
hältnis, das dem Beschauer unmittelbar zum Bewusstsein kommt, unter-
scheidet das Werk so merkwürdig von allen andern der Zeit. Man
empfindet die Wohlthat einer geschlossenen Anordnung, wo die Gruppe
als Ganzes notwendig erscheint und doch die einzelne Figur in ihrer
freien Bewegung keine Einbusse erfahren hat. In gleichen Geleisen
bewegt sich Perugino mit seiner Pietä von 1495, zu der man weder
bei Filippino noch bei Ghirlandajo ein Analogon wird finden können.
Endlich hat Raffael in Mariengruppen sich zum
seinen florentinischen
allersubtilsten UnaufhaUsam kommt auch hier
Baumeister ausgebildet.
dann die Wandlung vom Regulären zum Scheinbar- Irregulären. Das
gleichseitige Dreieck wird zum ungleichseitigen und in die symmetrischen
Achsensysteme kommt eine Verschiebung, aber der Kern der Wirkung
bleibt derselbe und selbst innerhalb der völlig atektonischen Gruppe weiss
man den Eindruck der Notwendigkeit festzuhalten. Und damit werden
wir auf die grosse Komposition des freien Stiles hingeführt.

Bei Raffael wie bei Sarto findet man neben dem tektonischen
Schema eine freirhythmische Komposition. Im Hof der Annunziata steht
das Bild der Mariengeburt neben den strengen Wundergeschichten und
in den Teppichen finden wir einen Ananias unmittelbar neben dem
Fischzug oder der Berufung Petri. Das sind nicht etwa weitergeduldete

1) Bei diesem Anlass kann am besten auch ein perspektivisches Motiv zur
Sprache gebracht werden. Das Quattrocento hat hie und da einen Reiz darin gesucht,
den Verschwindungspunkt der Linien ohne äusseren Anlass seitlich zu legen, nicht aus
dem Bilde heraus, aber doch gegen den Rand hin. So ist es gehalten auf Filippinos
Madonna Corsini (s. Abb. S. 209), so auf Ghirlandajos Fresko der Heimsuchung.
Der klassischen Gesinnung sind derartige Zerstreuungen unangenehm.
270 DIE KLASSISCHE KUNST

Basaiti (?). Die Ermortlung des Petrus Martyr

Altertümlichkeiten; dieser freie Stil ist etwas ganz anderes als die ehe-
malige Regellosigkeit, woauch anders sein könnte.
alles ebensogut
Man darf einen so starken Ausdruck gebrauchen, um den Gegensatz
zu markieren. Das 15. Jahrhundert hat in der That nichts, was auch
nur annähernd jenen Charakter des Nicht-zu-ändernden besässe wie die
Gruppe von Raffaels Fischzug. Die Figuren sind durch keine Archi-
tektonik zusammengehalten und trotzdem bilden sie ein absolut ge-
schlossenes Gefüge. so sind Und —
wenn auch in etwas minderem
Masse —auch auf Sartos Mariengeburt die Figuren alle unter einen
Zug gebracht und die Gesamtlinie besitzt eine überzeugende rhythmische
Notwendigkeit.
Um das Verhältnis ganz anschaulich zu machen, sei es erlaubt,
aus der venezianischen Kunst einen Fall beizuziehen, wo die Dinge
für die Beobachtung besonders günstig liegen. Ich meine die Geschichte
der Ermordung des Petrus Martyr, wie sie einmal, von einem Quattro-
centisten gemalt, '
) in der Londoner Nationalgalerie vorliegt und andrer-
seits dem (untergegangenen) Bilde der Kirche S. Giovanni e Paolo
in
durch Tizian in die klassische Form gebracht worden ist. (S. die Abb.)
Der Quattrocentist buchstabiert die Elemente der Geschichte: ein Wald;
die Überfallenen, nämlich der Heilige und sein Begleiter; der eine flieht

') Die Zuweisung des Bildes an Giovanni Bellini scheint heutzutage allgemein

aufgegeben zu sein. Zuletzt hat Jacobsen den Basaiti genannt. (Rep. XXIV. 341).
DIE NEUE BILDFORM 271

dahin, der andere dort-


hin; der eine wird rechts
erstochen, der andere links.
Tizian geht davon aus, dass
man unmöglich zwei analoge
Szenen nebeneinander setzen
könne. Die Niederwerfung J^^
des Petrus muss das Haupt-
^
motiv sein, dem nichts Kon-
kurrenz macht. Er lässt
also den zweiten Mörder
ausser Spiel und behandelt
den Begleiter nur als einen
Fliehenden. Zugleich aber
macht er ihn dem Haupt-
motiv unterthan, er ist in
den Bewegungs-
gleichen
zusammenhang aufgenom-
men und verstärkt, indem
er die Richtung fortsetzt,

die Wucht des Anpralls. Wie


ein abgesprengtes Stück jagt
es ihn nach derselben Seite,
wohin der Fall des Heiligen
geschehen ist. So ist aus
einem störenden und zer-
Tizian. Die Ermordung des Petrus Mariyr
streuenden Element ein un-
(nach Stich)
entbehrlicher Wirkungsfak-
tor geworden.
Willman mit philosophischen Begriffen den Fortschritt bezeichnen,
so kann man sagen, Entwicklung heisst auch hier Integrierung und
Differenzierung: jedes Motiv soll nur einmal vorkommen, die altertümliche
Gleichartigkeit der Teile ersetzt sein durch lauter Verschiedenheit, und
gleichzeitig soll das Differenzierte zu einem Ganzen sich zusammenfügen,
wo dadurch auseinander fiele.
kein Teil fehlen könnte, ohne dass alles
Dieses Wesen klassischer Kunst ist schon von L. B. Alberti geahnt
worden, wenn er in einem oft zitierten Satze das Vollkommene als einen
Zustand bestimmt, wo nicht der kleinste Teil geändert werden könnte,
ohne die Schönheit des Ganzen zu trüben, allein bei ihm sind es Worte,
hier steht der anschauliche Begriff.
Wie bei einer solchen Komposition Tizian alles Accessorische zur
272 DIE KLASSISCHE KUNST

Förderung der Hauptwirk-


ung herangezogen hat, kann
die Verwendung der Bäume
lehren. Während der Wald
auf dem älteren Bild als
etwas für sich im Bilde steht,
lässt Tizian die Bäume ein-
greifen in dieBewegung, sie
machen die Aktion mit und
geben dadurch auf neueWeise
dem Geschehnis Grösse und
Energie.
Als im 17. Jahrhundert
Domenichino in engster An-
lehnung an Tizian die Ge-
schichte wiedererzählte, in
einem bekannten Bilde der
Pinakothek von Bologna, da
war für all diese künstler-
ische Weisheit der Sinn
schon stumpf geworden.
Es braucht nicht be-
sonders gesagt zu werden,
Basaiti. Hieronymus
dass die Verwertung der
landschaftlichen Gründe im
Zusammenhang der Figurcnwirkung im cinquecentistischcn Rom eben-
sowohl bekannt war als in Venedig. Was die Landschaft in Raffaels
„Fischzug" bedeutet, ist bereits erörtert worden; geht man zum nächsten
Teppich, der „Berufung", so hat man das gleiche Schauspiel: der Gipfel
der langgezogenen Hügellinie trifft gerade auf die Cäsur der Gruppe
und hilft so leise, aber nachdrücklich mit, die Jünger als eine Masse
für sich dem einen Christus gegenüber erscheinen zu lassen. Vgl. die
Abbildung auf S. 111. Darf ich aber noch einmal auf ein veneziani-
sches Beispiel greifen, so möchte der Hieronymus des Basa'iti (London)
im Vergleich mit Tizians entsprechender Figur (in der Brera) den
Gegensatz der Auffassung in den zwei Zeitaltern mit aller wünsch-
baren Deutlichkeit darthun. Dort eine Landschaft, die für sich allein
etwas bedeuten soll und in die ist ohne irgend-
der Heilige hineingesetzt-
welchen notwendigen Zusammenhang,
dagegen Figur und Berg-
hier
linie von Anfang an zusammenerdacht, ein jäher, waldiger Hang, der

das Aufwärts in der Gestalt des Büssers mächtig unterstützt, der ihn
DIE NEUE BILDFORM 273

förmlich hinaufreisst, eine Szenerie,


die auf diese bestimmte Staffage eben-
so angewiesen ist wie umgekehrt.
Und so gewöhnt man sich, die
baulichen Hintergründe nicht mehr
als eine willkürliche Bereicherung
des Bildes zu betrachten, nach dem
Grundsatz, je mehr desto besser,
sondern man kommt auch hier auf
notwendige Verhältnisse. Ein Gefühl
dafür, dass man mit einer architek-
tonischen Begleitung die Würde
menschlicher Erscheinung erhöhen
könne, war immer vorhanden gewesen,
aber meist wächst das Bauliche den
Figuren über den Kopf. Ghirlan-
dajos Prachtarchitekturen sind viel zu
reich, als dass seine Figuren eine
günstige Folie daran besässen, und
wo es sich um den einfachen Fall
der Figur in einer Nische handelt,
da wird man erstaunen, wie wenig leroiiyiiius

das Quattrocento wirksamen


auf die
Kombinationen eingegangen ist. Filippo Lippi treibt es soweit in der
Sonderbehandlung, dass seine sitzenden Heiligen (in der Akademie) nicht
einmal mit den Nischen der Rückwand korrespondieren, eine Schaustellung
des Zufälligen, die dem Cinquecento ganz unerträglich vorgekommen
sein muss. Offenbar suchte er den Reiz der Unruhe mehr als die Würde.
Wie in ganz anderer Weise Fra Bartolommeo durch Überschneidung
der Nische nach oben seinen Helden Grösse zu geben wusste, zeigt der
„Auferstandene" im Palazzo Pitti. Auf all die andern Beispiele cinque-
Bauwirkung zurückzukommen, wo die Architektur wie eine
centistischer
Machtäusserung der dargestellten Personen selbst erscheint, möchte über-
flüssig sein.
Indem wir aber von dem allgemeinen Willen sprechen, die Teile
der ganzen Komposition unter sich in Bezug zu setzen, treffen wir auf
einen Punkt des klassischen Geschmacks, der weit über die Malerei
hinaus zur Kritik der altern Kunst aufforderte. Es ist ein sehr charak-
teristisches Vorkommnis, was Vasari mitteilt, dass man den Architekten
der Sakristeivorhalle von S. Spirito in Florenz getadelt habe, weil die
Linien der Gewölbeeinteilung nicht mit den Säulenachsen zusammen-
WölHIin, Die klassische Kunst 18
274 DIE KLASSISCHE KUNST

träfen:^) die Kritik hätte an hundert andern Orten auch geübt werden
können. Der Mangel an durchgehenden Linien, die Behandlung jedes
Teiles für sich ohne Rücksicht auf die einheitliche Gesamtwirkung, ist
eine der auffallendsten Eigenschaften der quattrocentistischen Kunst.
Von dem Moment an, wo die Architektur aus der spielerischen Be-
weglichkeit ihres Jugendalters heraustritt, männlich wird, gemessen und
streng, nimmt sie für alle Künste die Zügel in die Hand. Das Cinque-
cento hat alles sub specie architecturae aufgefasst. Die plastischen
Figuren an Grabmälern bekommen ihren bestimmten Platz zugewiesen;
sie werden eingerahmt, gefasst und gebettet; da kann nichts mehr ver-
schoben und verändert werden, auch nicht in Gedanken; man weiss,
warum jedes Stück gerade hier ist und nicht ein bischen weiter oben
oder unten. Ich verweise auf die Ausführungen über Rossellino und
Sansovino auf S. 69f. Die Malerei erfährt ein Gleiches. Wo sie als
Wandmalerei in Bezug zur Architektur tritt, behält sich diese immer das
erste Wort vor. Was nimmt sich doch Filippino noch für sonderbare
Freiheiten in den Fresken von S. M. Novella! Er zieht den Boden seiner
Bühne heraus, so dass die Figuren also teilweise vor der Wandflucht
stehen und dann mit den wirklichen Architekturgliedern der Ränder in
ein sehr merkwürdiges Verhältnis geraten. Und so macht es auch
Signorelli in Orvieto. Die Plastik hat einen analogen Fall in der Thomas-
gruppe des Vcrrocchio, wo der Vorgang nicht vollständig in der Nische
sich abspielt, sondern teilweise draussen. Kein Cinquecentist würde das
getan haben; für die Malerei wird es selbstverständliche Voraussetzung,
dass sie ihren Raum in der Tiefe der Wand zu suchen habe und in der
Einrahmung muss sie genau sagen, wie sie sich den Eingang ihrer
Bühne denke.-)
Des weiteren tritt nun die einheitlich gewordene Architektur mit
der gleichen Forderung der Einheit an die Wandbilder heran. Schon
Lionardo war der Ansicht, dass es nicht anginge, Bild über Bild zu malen,
wie das in den Chormalereien Ghirlandajos der Fall ist, wo man gleich-
zeitig gewissermassen in die verschiedenen Stockwerke eines Hauses
hineinsieht.-') Er würde es auch kaum gebilligt haben, zwei Bilder
nebeneinander an eine Chor- oder Kapellenwand zu malen. Völlig un-

1) Vasari IV. 513 (vita di A. Contiicci), wo man aiicli mit Interesse lesen wird,

wie sich der Arciiitekt entscliuldigle.


") Nachdem Masaccio hier schon vollkommene Klariieit hatte walten lassen, war

im Verlauf des Jahrhunderts der Sinn wieder so weit verdunkelt worden, dass ein
rahmenloses Zusamnienstossen von Wandbildern in der Ecke vorkommen kann. Es
wäre interessant, die architektonische Behandlung der Wandbilder einmal zusammen-
hängend zu verfolgen.
») Buch von der Malerei: No. 119 (241).
DIE NEUE BILDFORM 275

haltbar aber ist der Weg, den Ghirlandajo in den zusammenstossenden


Bildern der „Heimsuchung" und der „Verwerfung von Joachims Opfer"
eingeschlagen hat, wo die Szenerie hinter dem trennenden Pilaster durch-
geführt und doch jedes Bild eine besondere Perspektive — und zwar
nicht einmal eine gleichartige — bekommen hat.
Die Tendenz, einheitliche Flächen auch einheitlich zu bemalen, ist
seit dem 16. Jahrhundert allgemein vorhanden, aber nun nahm man
auch das höhere Problem auf, Wandfüllung und Raum zusammenzu-
stimmen, so dass das wohlräumig komponierte Bild gerade für den Saal
oder die Kapelle, wo es sich befand, geschaffen zu sein schien und
eines aus dem anderen sich erklären musste. Wo das erreicht ist,

da entsteht eine Art von Raummusik, ein Eindruck von Harmonie,


der zu den höchsten Wirkungen gehört, die der bildenden Kunst vor-
behalten sind.
Wie wenig das 15. Jahrhundert auf die einheitliche Behandlung
eines Raumes ausging und jedes Stück eben an seiner Stelle aufsuchte,
ist schon gesagt v/orden. Es kann hier die Betrachtung auch auf die
grössern Räume, wie die öffentlichen Plätze ausgedehnt werden. Man
frage sich etwa, wie die grossen Reiterfiguren des Colleoni und des
Gattamelata aufgestellt sind und ob jemand heutzutage den Mut hätte,
sie so ganz unabhängig von den Hauptachsen des Platzes oder der
Kirche aufzustellen. Das moderne Urteil ist repräsentiert in den zwei
reitenden Fürsten des Giovanni da Bologna in Florenz, aber so, dass
noch manches für uns zu lernen übrig bliebe.
Und in allergrösstem Umfang endlich macht sich die einheidiche
Raumauffassung da geltend, wo Bauwerk und Landschaft unter einem
Gesichtspunkt aufgefasst sind. Es wäre an die Villen- und Garten-
anlagen zu erinnern, an die Einfassung ganzer grosser Aussichten u. dgl.
Der Barock hat diese Rechnungen in gesteigertem Massstab aufgenommen,
allein wer etwa einmal von der hohen Terrasse der unvergleichlich
grossartig situierten Villa imperiale bei Pesaro in die Berge gegen
Urbino zu gesehen hat, wo das ganze Land dem Schlosse unterthänig
gemacht ist, der wird von dem grossen Blick der Hochrenaissance einen
Eindruck erhalten haben, der auch durch die kolossalsten Dispositionen
der späteren Zeit kaum überboten werden möchte.

Es giebt eine Auffassung der Kunstgeschichte, die in der Kunst


nichts anderes sieht als eine „Übersetzung des Lebens" (Taine) in die
Bildsprache und die jeden Stil als Ausdruck der herrschenden Zeit-
18*
276 DIE KLASSISCHE KUNST

Stimmung begreiflich zu machen versucht. Wer wollte leugnen, dass das


eine fruchtbare Betrachtungsweise ist? allein sie führt doch nur bis zu
einem gewissen Punkt, fast möchte man sagen, nur bis dahin, wo die
Kunst anfängt. Wer sich nur an das Stoffliche im Kunstwerk hält, wird
vollkommen damit auskommen, allein sobald man mit künstlerischen
Werturteilen die Dinge messen will, ist man genötigt, auf formale Momente
zu greifen, die an sich ausdruckslos sind und einer Entwicklung rein
optischer Art angehören.
So sind Quattrocento und Cinquecento als Stilbegriffe mit einer
stofflichen Charakteristik nicht zu erledigen. Das Phänomen hat eine
doppelte Wurzel und weist auf eine Entwicklung des künstlerischen
Sehens, das von einer besonderen Gesinnung und von einem besonderen
Schönheitsideal im wesentlichen unabhängig ist.

Die grosse Gebärde des Cinquecento, seine massvolle Haltung


und seine weiträumige starke Schönheit charakterisieren die Stimmung
der damaligen Generation, aber alles was wir ausgeführt haben über
die Klärung der Bilderscheinung, über das Verlangen des gebildeten
Auges nach immer reicheren und inhaltsvolleren Anschauungen bis zu
jenem einheitlichen Zusammensehen des Vielen und dem Zusammen-
beziehen der Teile zu einer notwendigen Einheit, sind formale Momente,
die sich aus der Stimmung der Zeit nicht ableiten lassen.
Auf diesen formalen Momenten beruht der klassische Charakter
cinquecentistischer Kunst. Es handelt sich hier um Entwicklungen, die
überall sich wiederholen, um durchgehende Formen der Kunst: was
Raffael vor der älteren Generation voraus hat, ist dasselbe, was bei ganz
anderen Aufgaben einen Ruysdael unter den holländischen Landschaftern
zum Klassiker macht.
Damit wollen wir durchaus nicht einer formalistischen Kunst-
beurteilung das Wort geredet haben: das Licht gehört freilich dazu, den
Diamanten blitzen zu machen.
Zu Seite 40, Anmerkung. Der Giovannino des Berliner Museums ist durch
Alois Grünwald als die Arbeit eines gewissen Pieratti aus dem Anfang des
17. Jahrhunderts bestinmit worden. (Münchner Jahrbuch 1910.)
Zu Seite 121. Nach H. Hymans
stellt das Madrider Cardinalsbild den
jungen Scaramuccia Trivulzio vor, Bischof von Como und seit 1517 Cardinal.
(Burlington Magazine IQU. XX, 89.). R. Durrer sieht darin den Schweizer Matthäus
Schinner, Bischof von Sitten (Monatshefte für Kunstwissenschaft 1913, Iff). Das
Bild müsste dann 1513 gemalt sein. Thatsachedass ein identischer oder wenig-
ist,

stens sehr ähnlicher Kopf einmal als Schinner galt. Freilich zeigen die Münzbilder,
die Schinner selber von sich schlagen Hess, einen völlig andern Typus.
Verzeichnis der Abbildungen

Seite Seite
AlberünelU, Mariotto Cosimo, Piero di
Madonna mit zwt-i l<iiieiKicii Heiligen. I'aris, Die schöne Simonetta. Chaiitilly 224
Louvre 1 32 Liegende Venus. Bruchstück aus dem Bilde
Heimsuchung. Florenz, Ulfizien XA'^ ., Venus und Mars". Berlin, Museum . . 252
Die iieilige Trinität. Florenz, Akademie . . 150
Verkündigung. Florenz, Akademie 151 Credi, Lorenzo di
Venus. Florenz. L'ffizien 222-
Fra Bartolommeo
Domenichino
Erscheinung der Madonna vor dem hl. Bern-
Befreiung Petri. Rom, S. Pietro in Vincoli . 104
hard. Florenz, Akademie 142
Madonna mit Meiligen (Vermählung Katha- Donatello
rinas). Florenz, I'itti 144 David (Bronze). Florenz, Nationalnuiseum . 12
Der Auferstandene. Florenz, Pitti 147
Franciabigio
Pietä. Florenz. Pitti 148
Bildnis eines Jünglings. Paris. Louvre . . 175
Basäiti, Marco (Zugeschr.) Venus. Rom. Oaleric Borghcse 223
Der heil, llieronynuis. London. Nalional-
üliirlandajo, Domenico
galerie 272
Abendmahl. Florenz, Ognissanti 28-
Ermordung des Petrus .Martyr. London,
Madonna in München
der Glorie. 12&
Nationalgalerie 270
Predigt Johannes d.T. Florenz, S. M. Novella 159
Bellini, Giovanni Geburt Johannes d. T. Florenz, S. M. Novella 218-
Die Transfiguration. Neapel, Museum. . . 134 Früchteträgerin, Einzelfignr aus dem vorigen
Bild 220
Botticelli, Sandro
Die tanzenden Grazien. Bruchstück ans dem üianpietrino
Frühlingsbild. Florenz. .Akademie .... 17 Abundanlia. .Mailand, Gal. Borrommeo . . 42
Madoima mit Engeln und sechs Heiligen.
Lionardo
Florenz, .Akademie 2t)2
-Madonna in der Felsgrotte. Paris, Louvre 20
Madonna mit den beiden Johannes 2t)4
Mädchen mit Kranz im Haar. Silberstift-

zeichnung (in seiner Art). Florenz, Uffizien 25


Bronzino, Angelo
.Abendmahl. Mailand, S. M. delle grazie 29
.Allegorie. Lomlon, Nationalgalcrie .... 185
. .

Mona Lisa. Paris, Louvre 33


Iieilige Familie, llorenz, Pitti 21^
Anna selbdritt. Ebendort 3&
Caraccl, Lodovico Leda (Copie). Rom. Gal. Borghese .... 41

Transfiguration. Bologna, Pinakothek . . . 13(1


Lippi, Filippino
Carpaccio, Darstellung im Tempel (Teilsliick).
Venedig, Akademie 244
Madonna und Kind mit Engeln. Florenz.
Galerie Corsini 209
Cellini, Benvenuto Allegorische Figur (die Musik). Berlin,

Perseus (Modell). Florenz, Nationalmuseum 257 Museum 231


VERZEICHNIS DER ABBILDUNGEN 279

Seite Seite
Majano, Benedetto da Raffael (und seine Schule)
Leuchtertragender Engel. Sieiia, S. Domenico 15 Madonna del Granduca. Florenz, Pitti . . 82
Madonna mit Kind. Berlin, Museum .... 47 Madonna della sedia. Ebendort 83
Madonna del cardellino. Florenz, Uffizien 84
Michelangelo Madonna aus dem Hause Alba. Petersburg,
Pietä. Rom, S. Peter 45 Eremitage 85
Madonna mit Kind. Brügge, Liebfrauenkirche 40 Disputa. Teil der linken Seite 90
Madonnenrelief. Florenz, Nationalniuseum . 48 Disputa. Teil der rechten Seite 91
Heilige Familie. Florenz, Uffizien .... 49 Schule von Athen. Gruppe des Pythagoras 95
David. Florenz, Akademie 50 Dir wunderbare Fischzug. London, Ken-
Sog. .Apollo. Florenz, Nationalmuseuni ... 51
sington-Museuni 109
Badende Soldaten. Bruchstück. Nach dem Weide meine Lämmer. Ebendort 111
Stich des Marc Anton 53 Der Tod des .Ananias.*) Ebendort 114
System der Sixtinischen Decke 56 Porträt des Grafen Castiglione. Paris, Louvre 119
Die delphische Sibylle. Sixtinische Kapelle 02 Kardinalsporträt. Madrid, Prado 123
Die erythräische Sibylle. Ebendort .... o3 Donna Velata. Florenz, Pitti 126
Sklavenfiguren (aus der ersten Gruppe). Eben- Madonna von Foligno. Rom, Vatikan ... 129
dort d4 Madonna mit dem Fisch. Madrid, Prado 130 .

Sklavenfiguren (aus der dritten Gruppe). Six- Sixtinische Madonna. Dresden 133
tinische Kapelle 65 Transfiguration. Rom, Vatikan 135
Sklavenfigur (aus der letzten Gruppe). Eben- Weinlese. Nach dem Stich des M. Anton
dort o7 (Copie) 138
Grab des Lorenzo Medici. Medicäische Grab- Pietä. Nach Marc Anton 197
kapelle 178 Der jugendliche Johannes predigend. Flo-
Madonna mit Kind. Ebendort 182 renz, Uffizien 216
Oenrefigur. Petersburg, Eremitage .... 183 Wasserträgerin. Aus dem Borgobrand. Alte
Christus. Rom, S. M. sopra Minerva ... 184 Kopie nach dem Fresko 221
Sog. Vittoria Colonna. Zeichnung. Florenz,
Uffizien 225 Robbia, Luca della
(Zugeschrieben) Der Giovannino. Berlin, Leuchtertragender Engel. Florenz, Dom . . 15
Museum 258
Rossellino, Antonio
Montorsoli, Giov. Angelo Madonnenrelief. Florenz, Nationalniuseum . 14
Der hl. Cosmas. Medicäische Grabkapelle . 259 Grabmal des Kardinals von Portugal. Flo-
renz, S. Miniato 70
Perugino, Pietro
Madonna mit Sebastian und Johannes d. T. Sansovino, Andrea
Florenz, Uffizien 70 Grabmal des Kardinals Basso della Rovere.
Beweinung Christi. Florenz, Pitti 80 Rom, S. M. del Popolo 71

Porträt des Francesco dell'Opere, Uffizien . 121 Justitia. Vom Grabmal des Kardinals Sforza
Visconti. Ebendort 164
Plombo, Sebastiano del Taufe Christi. Florenz, Baptisterium ... 195
Violinspieler. Paris, Rothschild 124
Weibliches Bildnis (Dorothea). Berlin. Sansovino, Jacopo
Museum 125 Der jugendliche Johannes. Venedig, S. M.
Heimsuchung. Paris, Louvre 199 dei Frari 260
Drei vk'eibliche Heilige. Bruchstück aus dem
Bild des hl. Chrysostomus. Venedig, S. Sarto, Andrea del
Crisostomo 245 Geburt der Maria. Florenz, Annunziata . . 154
Predigt Johannes des Täufers. Florenz, Scalzo 158
Pollaiuolo, Piero Tanz der Salome. Ebendort 162
Prudentia. Florenz, Uffizien 248 Verkündigung. Florenz, Pitti 165
Madonna delle arpie. Florenz, Uffizien . . loo
Pontormo, Jac. da Florenz, Pitti 107
Disputa.
Heimsuchung. Florenz, Annunziata .... 15o Madonna mit sechs Heiligen. Ebendort . . lo9
Madonna del sacco. Florenz, Annunziata . 170
Rajjael (und seine Schule)
Dar jugendliche Johannes. Florenz, Pitti . 171
Madonna di Foligno. Nach dem Stich des 173
Sog. Selbstporträt. Ebendort
Marc Anton 22
Museum 201
Madonna mit acht Heiligen. Berlin,
Abendmahl. Nach dem Stich des Marc Anton 31
Sposalizio. Mailand, Brera 77 *) .Alle Teppichkompositionen nach den Stichen
Grablegung. Rom, Galerie Borghese .... 81 des N. Dorigny.
280 VERZEICHNIS DER ABBILDUNGEN

Seile Seite

Settignano, Desiderio da Tizian


Florenz, Hieronymus. Mailand, Brera . 27S
Büste einer jungen Florentinerin.
Nationalmuseum 33
Vasari, Giorgio
Venus und .Amor. Rom, Gal. Colonna 18S
Tibaldi, Pellegrino
Anbetungder Hirten. Wien, Gal. Liechtenstein ISO Verrocchio, Andrea del
David. Florenz, Nationalmuseum 13
Tizian Taufe Christi. Florenz, Akademie 194

Liegende Venus. Florenz, Uifizien .... 253 (Zugeschr.) Tobias mit dem Engel. London,
Ermordung des Petrus Martyr. Ehemals Nationalg.ilerie 219
Venedig, S. Giov. e Paolo •
. . 271 Engelkopf. Zeicchnung. Florenz, Uffizien . 241

Bronzino. Heilige Familie

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