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Postkapitalismus Grundrisse Einer Kommenden Ökonomie by Mason, Paul

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Drei Dinge wissen wir:

Der Kapitalismus hat den Feudalismus abgelöst; seither durchlief er zyklische Tiefs; spätestens seit 2008
stottert der Motor.

Was wir nicht wissen:


Erleben wir eine der üblichen Krisen oder den Anbruch einer postkapitalistischen Ordnung?
Paul Mason blickt auf die Daten, sichtet Krisentheorien – und sagt: Wir stehen am Anfang von etwas
Neuem. Er nimmt dabei Überlegungen auf, die vor über 150 Jahren in einer Londoner Bibliothek
entwickelt wurden und laut denen Wissen und intelligente Maschinen den Kapitalismus eines Tages »in
die Luft sprengen« könnten. Im Zeitalter des Stahls und der Schrauben, der Hierarchien und der
Knappheit war diese Vision so radikal, dass Marx sie schnell in der Schublade verschwinden ließ. In der
Welt der Netzwerke, der Kooperation und des digitalen Überflusses ist sie aktueller denn je.
In seinem atemberaubenden Buch führt Paul Mason durch Schreibstuben, Gefängniszellen,
Flugzeugfabriken und an die Orte, an denen sich der Widerstand Bahn bricht. Mason verknüpft das
Abstrakte mit dem Konkreten, bündelt die Überlegungen von Autoren wie Thomas Piketty, David
Graeber, Jeremy Rifkin und Antonio Negri und zeigt, wie wir aus den Trümmern des Neoliberalismus
eine gerechtere und nachhaltigere Gesellschaft errichten können.

Paul Mason, geboren 1960, ist ein vielfach ausgezeichneter englischer Fernsehjournalist. Er hat lange für
die BBC und Channel 4 News gearbeitet.
Paul Mason

POSTKAPITALISMUS
Grundrisse einer kommenden Ökonomie

Aus dem Englischen von Stephan Gebauer

Suhrkamp
Die englische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel PostCapitalism. A Guide to Our Future bei
Allen Lane/Penguin Books (London).

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek


Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie;
detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2016.
© Suhrkamp Verlag Berlin 2016
© Paul Mason, 2015
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch
Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne
schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme
verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter
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Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.
Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn
Umschlaggestaltung: ErlerSkibbeTönsmann / Johannes Erler

eISBN 978-3-518-74478-9
www.suhrkamp.de
Für Calum, Anya, Robbie and James
Inhalt

Einleitung

Teil I
1 Der Neoliberalismus ist kaputt
2 Lange Wellen, kurzes Gedächtnis
3 Hatte Marx am Ende doch recht?
4 Ein unterbrochener langer Zyklus

Teil II
5 Die Propheten des Postkapitalismus
6 Auf dem Weg zur kostenlosen Maschine
7 Wunderbare Störenfriede

Teil III
8 Transitionen
9 Rationale Gründe zur Panik
10 Das »Projekt Null«

Anmerkungen
Danksagung
Register
Einleitung

Wir fahren durch kalte Wälder, vorbei an verfallenden Häusern und


rostbraunen Bahndepots, und erreichen den Dnjestr. Das Wasser des Flusses ist
eisig und klar. Es ist so still, dass man hören kann, wie kleine Betonbrocken
von der vernachlässigten Straßenbrücke ins Wasser fallen.
Der Dnjestr ist die geografische Grenze zwischen dem marktwirtschaftlichen
Kapitalismus und dem von Wladimir Putin regierten System – wie immer man
dieses bezeichnen möchte. Der Fluss trennt Moldawien von einem
sezessionistischen russischen Marionettenstaat namens Transnistrien, in dem
die Mafia und die Geheimpolizei das Sagen haben.
Auf der moldawischen Seite sitzen alte Leute auf der Straße und verkaufen
Produkte, die sie selbst geerntet oder angefertigt haben: Käse, Gebäck und die
eine oder andere Steckrübe. Junge Leute sieht man kaum: Einer von vier
Erwachsenen ist zum Arbeiten ins Ausland gegangen. Die Hälfte der
Bevölkerung verdient weniger als fünf Dollar am Tag, und jeder Zehnte lebt in
so extremer Armut, wie man sie sonst nur in Afrika kennt.1 Das Land entstand
Anfang der neunziger Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu
Beginn der neoliberalen Ära, als sich die Marktkräfte durchsetzten. Aber viele
Einwohner der moldawischen Dörfer würden lieber in Putins Polizeistaat leben
als in der beschämenden Armut ihres Landes. Diese graue Welt der
schlammigen Straßen und düsteren Gesichter wurde nicht vom Kommunismus,
sondern vom Kapitalismus geschaffen. Und jetzt hat auch der Kapitalismus
seinen Zenit überschritten.
Natürlich ist Moldawien kein typisches europäisches Land. In Randgebieten
wie diesem können wir jedoch verfolgen, wie die wirtschaftliche Ebbe
beginnt – und die Kausalzusammenhänge zwischen Stagnation, sozialer Krise,
bewaffneten Konflikten und dem Verfall der Demokratie untersuchen. Das
wirtschaftliche Versagen des Westens untergräbt den Glauben an Werte und
Institutionen, die uns früher einmal unantastbar schienen.
Von den verspiegelten Türmen der Finanzzentren aus mag die Lage noch
rosig wirken. Seit 2008 haben die Zentralbanken Billionen Dollar
herbeigezaubert und durch Banken, Hedgefonds, Anwaltskanzleien und
Beratungsfirmen geschleust, um das globale Finanzsystem am Leben zu
erhalten.
Aber die langfristigen Aussichten für den Kapitalismus sind schlecht. Die
OECD erwartet, dass das Wachstum in den entwickelten Ländern in den
nächsten fünfzig Jahren schwach bleiben wird. Die Ungleichheit wird um
vierzig Prozent zunehmen. Selbst in den Entwicklungsländern wird das
Wachstum bis 2060 zum Erliegen kommen.2 Die Volkswirte der OECD sind zu
diplomatisch, es deutlich zu sagen, aber wir können es tun: In der entwickelten
Welt hat der Kapitalismus seine beste Zeit hinter sich, und in der übrigen Welt
wird sie noch zu unseren Lebzeiten vorbei sein.
Was im Jahr 2008 als Wirtschaftskrise begann, wuchs sich zu einer sozialen
Krise aus, die Massenproteste auslöste. Und jetzt werden aus Revolutionen
Bürgerkriege, die militärische Spannungen zwischen Atommächten
heraufbeschwören. Wir haben es mit einer globalen Krise zu tun.
Es hat den Anschein, als könnte diese Krise nur auf eine von zwei Arten
enden. Im ersten Szenario lässt die globale Elite nicht locker und wälzt die
Kosten der Krise in den kommenden zehn bis zwanzig Jahren auf Arbeitskräfte,
Rentner und die Armen um. Die von IWF, Weltbank und
Welthandelsorganisation durchgesetzte Weltordnung überlebt, wird jedoch
geschwächt. Die Durchschnittsbürger der entwickelten Länder bezahlen für die
Rettung der Globalisierung. Doch das Wachstum stagniert.
Im zweiten Szenario zerbricht der Konsens. Die Bürger weigern sich, den
Preis der Sparpolitik zu zahlen, und bringen Parteien vom rechten und linken
Rand an die Macht. Die Staaten versuchen, einander die Kosten der Krise
gegenseitig aufzubürden. Die globalen Institutionen verlieren an Macht, und
die Konflikte, die seit zwanzig Jahren toben – Drogenkriege, Nationalismus in
den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, Dschihad, unkontrollierte Migration
und Widerstand gegen die Zuwanderung –, erschüttern das Zentrum des
Systems. In diesem Szenario wird der vordergründige Respekt für das
internationale Recht aufgegeben, und Folter, Zensur, willkürliche Verhaftung
und Massenüberwachung werden zu normalen Werkzeugen der Staatskunst.
Es gibt keine Garantie dafür, dass sich nicht wiederholen wird, was in den
dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts geschah.
In beiden Szenarien werden um das Jahr 2050 die gravierenden
Auswirkungen von Klimawandel, Bevölkerungswachstum und Alterung der
Bevölkerung überdeutlich sichtbar. Gelingt es uns nicht, eine nachhaltige
Weltordnung zu errichten und die wirtschaftliche Dynamik wieder in Gang zu
setzen, droht uns in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts das Chaos.
Daher möchte ich eine Alternative vorschlagen: Zunächst sollten wir die
Globalisierung retten, indem wir den Neoliberalismus beseitigen. Anschließend
retten wir den Planeten – und ersparen uns Wirren und Ungleichheit –, indem
wir den Kapitalismus überwinden.
Die Beseitigung des Neoliberalismus ist die einfachere Aufgabe.
Protestbewegungen, linke Ökonomen und radikale politische Parteien in
Europa sind sich weitgehend einig darin, wie das zu bewerkstelligen ist: Wir
müssen die Hochfinanz unterdrücken, die Sparpolitik rückgängig machen, in
grüne Energien investieren und gut bezahlte Arbeit fördern.
Aber was kommt danach?
Wie die Geschehnisse in Griechenland gezeigt haben, wird jede Regierung,
die sich gegen die Austerität wehrt, mit den globalen Institutionen kollidieren,
die das Eine Prozent schützen. Nachdem in Griechenland das linksradikale
Syriza-Bündnis die Parlamentswahl im Januar 2015 gewonnen hatte, entzog die
Europäische Zentralbank, deren Aufgabe es ist, die Stabilität der griechischen
Banken zu gewährleisten, diesen Banken die Finanzierung und löste einen
Kassensturm aus. Innerhalb kürzester Zeit hoben die Griechen zwanzig
Milliarden Dollar von ihren Konten ab. Die linke Regierung musste zwischen
Bankrott und Unterwerfung wählen. Man wird nirgendwo Sitzungsprotokolle,
Abstimmungsergebnisse oder eine Erläuterung des Vorgehens der EZB finden.
Es blieb der deutschen Zeitschrift Stern überlassen, zu erklären, was geschehen
war: Die EZB hatte Griechenland »kleingekriegt«.3 Das Vorgehen der
Zentralbank bekräftigte die wichtigste Botschaft des Neoliberalismus: Es gibt
keine Alternative, denn jede Abweichung vom kapitalistischen Weg führt zu
einer Katastrophe wie in der Sowjetunion, und eine Revolte gegen die
Marktwirtschaft ist eine Revolte gegen eine naturgegebene, zeitlose Ordnung.
Die gegenwärtige Krise deutet nicht nur auf das Ende des neoliberalen
Modells hin. Sie ist auch ein Symptom des Widerspruchs zwischen
Marktsystemen und einer auf der Information beruhenden Wirtschaft. In
diesem Buch möchte ich erklären, warum es kein utopischer Traum mehr ist,
den Kapitalismus zu ersetzen, warum das gegenwärtige System bereits die
Grundformen einer postkapitalistischen Wirtschaft enthält und wie diese
Strukturen rasch weiterentwickelt werden könnten.

Der Neoliberalismus ist die Doktrin der unkontrollierten Märkte: Wohlstand


entsteht dadurch, dass die eigennützigen Individuen ihre Interessen verfolgen,
und ihr Eigennutz kann sich nur auf dem Markt entfalten. Der Staat sollte klein
sein, wenn man davon absieht, dass er genügend Sonderpolizisten zur
Unterdrückung von Unruhen und eine leistungsfähige Geheimpolizei braucht.
Die Finanzspekulation ist gut, die Ungleichheit ist gut. In ihrem natürlichen
Zustand besteht die Menschheit aus rücksichtslosen Individuen, die einander in
einem brutalen Wettbewerb bekämpfen.
Das Ansehen des Neoliberalismus beruht auf greifbaren Erfolgen: In den
vergangenen 25 Jahren hat er den größten Entwicklungssprung der Geschichte
und ein exponentielles Wachstum der Informationstechnologien ermöglicht.
Aber gleichzeitig hat er ein seit hundert Jahren ungekanntes Maß an
Ungleichheit provoziert und einen Überlebenskampf ausgelöst.
Der Bürgerkrieg in der Ukraine, der russische Spezialeinheiten bis ans Ufer
des Dnjestr gebracht hat, der Triumph des »Islamischen Staates« in Syrien und
im Irak, der Aufstieg faschistischer Parteien in Europa, die Lähmung der Nato
und die Weigerung der Bevölkerung der Nato-Staaten, Militärinterventionen
zuzustimmen – all diese Probleme können nicht von der Wirtschaftskrise
getrennt werden. Sie zeigen, dass das neoliberale Programm gescheitert ist.
Millionen Menschen haben sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten dem
Neoliberalismus widersetzt, aber im Großen und Ganzen ist ihr Widerstand
gescheitert. Abgesehen von den taktischen Fehlern und der Repression hat das
einen einfachen Grund: Die freie Marktwirtschaft ist ein klares und
überzeugendes Konzept, während es den Anschein hat, als verteidigten die
Kräfte, die den Markt bekämpfen, etwas Veraltetes, das zusammenhangslos
und dem Kapitalismus unterlegen ist.
Für das Eine Prozent ist der Neoliberalismus fast eine Religion: Je intensiver
man ihn praktiziert, desto besser fühlt man sich – und desto reicher wird man.
Wenn das System erst einmal richtig funktioniert, handeln sogar die Armen
irrational, wenn sie sich gegen die neoliberalen Zwänge auflehnen: Also nimmt
man Kredit auf, sucht nach Schlupflöchern im Steuersystem und hält sich am
Arbeitsplatz an sinnlose Regeln.
Und die Gegner des Kapitalismus schwelgen seit Jahrzehnten in ihrer
Inkohärenz. Von der Antiglobalisierungsbewegung der neunziger Jahre zu
Occupy und darüber hinaus lehnt die globale Bewegung, die für soziale
Gerechtigkeit kämpft, die Idee eines schlüssigen Programms ab und hält sich
lieber an den Schlachtruf »Ein Nein, viele Jas«. Die mangelnde Geschlossenheit
ist nachvollziehbar, wenn man glaubt, die einzige Alternative sei das, was die
Linke des 20. Jahrhunderts als »Sozialismus« bezeichnete: Warum für einen
umwälzenden Wandel kämpfen, wenn das lediglich bedeutet, zu staatlicher
Lenkung und Wirtschaftsnationalismus zurückzukehren, zu einem
Wirtschaftssystem, das nur funktioniert, wenn sich alle gleich verhalten oder
sich einer brutalen Hierarchie unterwerfen? Aber das Fehlen einer klaren
Alternative erklärt, warum die Protestbewegungen so gut wie nie siegen: Im
Grunde wollen sie gar nicht gewinnen. Die Protestbewegung hat sogar einen
Begriff dafür geprägt: die »Verweigerung des Siegs«.4
Um den Neoliberalismus zu ersetzen, brauchen wir etwas, das genauso
überzeugend und wirkungsvoll ist wie er. Eine gute Idee dazu, wie die Welt
funktionieren könnte, genügt nicht. Wir brauchen ein neues, ganzheitliches
System, das von allein funktionieren kann und spürbar bessere Ergebnisse
liefert. Dieses System darf nicht per Diktat oder durch politische Eingriffe
errichtet werden, sondern muss durch Mikromechanismen entstehen und
spontan arbeiten. In diesem Buch werde ich erklären, dass es eine solche
Alternative gibt, dass sie weltweit funktionieren kann und dass sie uns die
Chance auf eine Zukunft eröffnet, die deutlich besser ist als jene, die uns der
Kapitalismus für das Jahr 2050 verspricht.
Diese Alternative ist der Postkapitalismus.

Der Kapitalismus ist mehr als eine wirtschaftliche Struktur oder ein Gefüge
von Gesetzen und Institutionen. Er ist das umfassende System, das dafür sorgt,
dass eine entwickelte Gesellschaft mit Märkten und Privateigentum
funktionieren kann: ein gesellschaftliches, wirtschaftliches, demografisches,
kulturelles und ideologisches System. Der Kapitalismus umfasst Unternehmen,
Märkte und Staaten. Aber er beinhaltet auch kriminelle Organisationen,
geheime Machtnetzwerke, Wunderheiler in den Slums von Lagos und
skrupellose Analysten an der Wall Street. Die Primark-Fabrik in Bangladesch,
die aufgrund von Baumängeln einstürzt, ist ebenso Teil des Kapitalismus wie
die hysterischen Teenager, die vor der neu eröffnenden Primark-Filiale in
London randalieren, weil sie es nicht erwarten können, an billige Mode zu
kommen.
Wenn wir den Kapitalismus als System untersuchen, entdecken wir einige
seiner grundlegenden Merkmale. Der Kapitalismus ist ein Organismus: Er hat
einen Lebenszyklus, das heißt einen Anfang, eine Mitte und ein Ende. Er ist ein
komplexes System, das sich der Kontrolle von Personen, Regierungen und
sogar Supermächten entzieht. Seine Ergebnisse widersprechen oft den
Absichten der Akteure, selbst wenn sie vernünftig handeln. Der Kapitalismus
ist auch ein lernender Organismus: Er passt sich unentwegt an, und zwar nicht
nur in kleinen Schritten. Er wandelt sich in Reaktion auf Bedrohungen und
bringt Muster und Strukturen hervor, die der vorhergehenden Generation noch
fremd waren. Und sein Überlebensinstinkt bewegt ihn dazu, den
technologischen Wandel voranzutreiben. Wenn wir neben der
Informationstechnologie auch die Lebensmittelproduktion, die
Geburtenkontrolle und die Medizin berücksichtigen, wird klar, dass die
Menschheit in den vergangenen 25 Jahren den wohl größten
Entwicklungssprung in ihrer Geschichte gemacht hat. Doch die Technologien,
die wir entwickelt haben, sind mit dem Kapitalismus nicht vereinbar – nicht
mit dem Kapitalismus in seiner gegenwärtigen Form und möglicherweise auch
nicht in irgendeiner anderen Form. Wenn der Kapitalismus nicht mehr in der
Lage ist, sich dem technologischen Wandel anzupassen, wird der
Postkapitalismus nötig. Wenn spontan Verhaltensweisen und Organisationen
auftauchen, die den technologischen Wandel nutzen können, wird der
Postkapitalismus möglich.
Das ist die These, die ich in diesem Buch aufstelle: Der Kapitalismus ist ein
komplexes, anpassungsfähiges System, das jedoch an die Grenzen seiner
Anpassungsfähigkeit gestoßen ist.
Es liegt auf der Hand, dass diese These mit der vorherrschenden
ökonomischen Theorie unvereinbar ist. In den goldenen Jahren des
Neoliberalismus begannen die Wirtschaftswissenschaftler zu glauben, das nach
1989 entstandene System werde von Dauer sein. Sie hielten es für den
vollkommenen Ausdruck der menschlichen Vernunft und waren überzeugt,
Regierungen und Zentralbanken seien in der Lage, alle seine Probleme mit der
»Fiskal- und Geldpolitik« zu lösen.
Mit der Möglichkeit konfrontiert, die neuen Technologien könnten nicht zur
alten Gesellschaftsordnung passen, erklärten die Ökonomen, die Gesellschaft
werde sich einfach wandeln, um sich der Technologie anzupassen. Ihre
Zuversicht war nicht unbegründet, denn ein solcher Anpassungsprozess ist in
der Vergangenheit immer wieder zu beobachten gewesen. Dieser Prozess ist
jedoch zum Stillstand gekommen.
Die Information unterscheidet sich von jeder früheren Technologie. Wie ich
zeigen werde, neigt sie spontan dazu, Märkte aufzulösen, das Eigentum zu
zerstören und die Beziehung zwischen Arbeit und Einkommen zu zersetzen.
Dies ist der Grund für die Krise, in der wir uns derzeit befinden.

Wenn ich richtigliege, müssen wir uns eingestehen, dass die Linke sich ein
Jahrhundert lang eine falsche Vorstellung davon gemacht hat, wie das Ende des
Kapitalismus aussehen würde. Die alte Linke wollte die Zerstörung der
Marktmechanismen erzwingen. Den entsprechenden Druck sollte die
Arbeiterklasse an der Wahlurne oder auf den Barrikaden ausüben. Das
Werkzeug sollte der Staat sein. Die Gelegenheit würde sich in einer der
häufigen Wirtschaftskrisen bieten.
Es kam anders. In den vergangenen 25 Jahren ist das Projekt der Linken
gescheitert. Die Marktwirtschaft hat die Planwirtschaft zerstört, der
Individualismus hat über Kollektivismus und Solidarität triumphiert, und die
rasant wachsende globale Arbeiterschaft sieht aus wie ein »Proletariat«, denkt
und handelt jedoch nicht mehr wie eines.
Jene, die den Kapitalismus hassen, haben eine traumatische Erfahrung hinter
sich. Aber während der Kapitalismus den Sozialismus besiegte, eröffnete uns
die Technologie einen neuen Ausweg. Diesen Weg müssen die letzten
Vertreter der alten Linken und alle von ihr beeinflussten Kräfte einschlagen.
Oder sie werden untergehen.
Wie sich herausstellt, wird der Kapitalismus nicht durch einen Sturmangriff
überwunden werden. Stattdessen wird er durch etwas Dynamischeres ersetzt
werden, durch etwas, das sich fast unbemerkt im alten System entwickelt,
irgendwann jedoch so wirkungsvoll wird, dass es der Wirtschaft ein anderes
Gesicht gibt und neue Werte, Verhaltensweisen und Normen hervorbringt. Die
Überwindung des Kapitalismus wird ähnlich wie das Ende des Feudalismus vor
500 Jahren durch äußere Schocks beschleunigt und von einem neuen Menschen
gestaltet werden. Und dieser Prozess hat bereits begonnen.
Ermöglicht wird der Postkapitalismus durch drei Auswirkungen der
Technologien, die in den letzten 25 Jahren entwickelt wurden.
Erstens hat die Informationstechnologie den erforderlichen Arbeitsaufwand
verringert, die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verwischt und die
Beziehung zwischen Arbeit und Einkommen gelockert.
Zweitens berauben die Informationsgüter den Markt seiner Fähigkeit, die
Preise richtig festzulegen. Der Grund dafür ist, dass die Märkte auf Knappheit
beruhen – aber die Information ist im Überfluss vorhanden. Das System
versucht sich zu verteidigen, indem es in einem seit 200 Jahren nicht mehr
gekannten Maß Monopole errichtet, die jedoch nicht überleben werden.
Drittens entwickelt sich spontan eine kollaborative Allmendeproduktion
(Peer-Produktion): Es tauchen immer mehr Güter, Dienstleistungen und
Organisationen auf, die dem Diktat des Markts und der Managementhierarchie
nicht mehr gehorchen. Das größte Informationsprodukt der Welt –
Wikipedia – wird von 27 000 Freiwilligen gratis erzeugt, zerstört die
Enzyklopädie-Verlage und verringert die jährlichen Einnahmen der
Werbebranche um drei Milliarden Dollar.
Fast unbemerkt beginnen in den Nischen und Hohlräumen des
Marktsystems Teile des Wirtschaftslebens anderen Gesetzen zu gehorchen.
Von den Ökonomen weitgehend ignoriert, breiten sich Parallelwährungen,
Zeitbanken, Kooperativen und selbstverwaltete Wirtschaftseinheiten aus. Oft
ist ihre Entstehung eine direkte Folge der Erschütterung der alten Strukturen
durch die Krise, die 2008 begann.
Neue Formen der Eigentümerschaft, neue Formen des Kredits, neuartige
Verträge: in den vergangenen zehn Jahren ist eine Subkultur entstanden, die
von den Medien als »Sharing Economy« bezeichnet wird. Modeworte wie
»Commons« und »Peer-Produktion« machen die Runde, aber kaum jemand
macht sich die Mühe zu fragen, was all das für den Kapitalismus an sich
bedeutet.
Ich glaube, dass sich hier ein Ausweg eröffnet – allerdings nur, wenn die
Staaten ihr Verhalten grundlegend ändern und diese auf Mikroebene
funktionierenden Projekte fördern und schützen. Voraussetzung dafür ist, dass
wir unsere Einstellung zu Technologie, Eigentum und Arbeit ändern. Wenn
wir die Bestandteile des neuen Systems entwickeln, sollten wir in der Lage
sein, zu uns selbst und zu anderen zu sagen: Das hier ist nicht einfach mein
Schlupfwinkel, in den ich mich zurückziehen kann, wenn ich aus der
neoliberalen Welt fliehen will. Nein, hier entsteht eine neue Lebensart.
Das alte sozialistische Projekt sah vor, dass der Staat den Markt unter seine
Kontrolle bringen würde, um ihn auf Kosten der Reichen zum Vorteil der
Armen zu betreiben und anschließend wesentliche Produktionsbereiche aus
dem Markt herauszunehmen und in die Planwirtschaft zu integrieren. Der
einzige Versuch, dieses Vorhaben zu verwirklichen, wurde zwischen 1917 und
1990 in Russland unternommen – und scheiterte. Ob der Sozialismus hätte
funktionieren können, ist eine gute Frage. Aber es ist eine Frage, die sich
erledigt hat.
Mittlerweile hat sich der Kapitalismus verändert: Er ist global, fragmentiert,
auf Entscheidungen im kleinen Maßstab, Zeitarbeit und vielfältige
Qualifikationen ausgerichtet. Der Konsum ist zu einer Form der
Selbstverwirklichung geworden, und das Finanzsystem, das in der
Vergangenheit ein geschlossener Bereich war, ist für Millionen Menschen
geöffnet worden.
Da sich die kapitalistische Landschaft verändert hat, führt der alte Ausweg
ins Nirgendwo. Es gibt jedoch einen Weg. Die Allmendeproduktion, die in der
Netzwerktechnologie eingesetzt wird, um Güter und Dienstleistungen zu
erzeugen, die nur funktionieren, wenn sie gratis sind oder gemeinsam genutzt
werden, weist den Weg zu einem System jenseits des Markts. Der Staat wird
geeignete Rahmenbedingungen dafür schaffen müssen, und vielleicht wird der
postkapitalistische Sektor Jahrzehnte mit dem Marktsektor koexistieren. Aber
die Entwicklung hat begonnen.
Die Netzwerke verleihen dem postkapitalistischen Projekt »Granularität«,
das heißt, sie können die Grundlage für ein Nicht-Marktsystem sein, das sich
selbst reproduziert. Es muss nicht jeden Morgen von Neuem im Computer
eines politischen Kommissars erzeugt werden.
Am Übergang zum Postkapitalismus werden der Staat, der Markt und die
Allmendeproduktion außerhalb des Marktes beteiligt sein. Aber um den
Postkapitalismus zu verwirklichen, muss das gesamte Projekt der Linken – der
Protestbewegungen, des sozialdemokratischen Mainstreams und der
progressiven Parteien – neu gestaltet werden. Tatsächlich wird das Projekt
kein Eigentum der Linken mehr sein, wenn die Menschheit erst einmal
versteht, dass der Postkapitalismus unbedingt realisiert werden muss. Dann
wird er einer sehr viel größeren Bewegung gehören, für die wir vermutlich ein
neues Etikett brauchen werden.

Wer kann den Postkapitalismus verwirklichen? Die alte Linke glaubte, die
Arbeiterklasse müsse den Sozialismus errichten. Vor mehr als 200 Jahren
warnte der radikale Journalist John Thelwall, die Männer, die die englischen
Fabriken bauten, hätten eine neue und gefährliche Form der Demokratie ins
Leben gerufen: »Jede große Werkstatt und Manufaktur ist eine politische
Gesellschaft. Kein Parlamentsbeschluss kann sie zum Schweigen bringen, kein
Amtmann kann sie zerstreuen.«5
Mittlerweile ist die ganze Gesellschaft eine Fabrik – und die
Kommunikationsnetze, die für die tägliche Arbeit und den täglichen Profit
unverzichtbar sind, sind voll von geteiltem Wissen und Unzufriedenheit. Wie
vor 200 Jahren die Fabrik ist heute das Netzwerk der Ort, der nicht zum
Schweigen gebracht werden kann.
Natürlich können die Mächtigen in Krisenzeiten Facebook, Twitter, ja sogar
das ganze Internet und die Mobilfunknetze abschalten (und damit die
Wirtschaft lähmen). Und sie können die gesamte Menge der von uns erzeugten
Informationen speichern und überwachen. Doch die hierarchische, durch
Propaganda gesteuerte und ahnungslose Gesellschaft, die es vor fünfzig Jahren
gab, können sie nur wiederherstellen, indem sie wie in China, Nordkorea oder
dem Iran auf wesentliche Bestandteile des modernen Lebens verzichten. Der
Soziologe Manuel Castells erklärt, das wäre so, als versuchte man, die
Elektrifizierung eines Landes rückgängig zu machen.6
Indem der Informationskapitalismus Millionen Menschen vernetzt hat, die
unter finanzieller Ausbeutung leiden, aber nur einen Klick vom gesamten
menschlichen Wissen entfernt sind, hat er einen neuen Agenten der
historischen Veränderung geschaffen: den gebildeten und vernetzten
Menschen.

Die Folge ist, dass in den letzten Jahren ein neuartiger Aufstand begonnen hat.
Protestbewegungen nutzen die Mittel der außerparlamentarischen Opposition,
um die Machtstrukturen und den in Hierarchien unvermeidlichen
Machtmissbrauch zu umgehen und die Fehler der Linken im 20. Jahrhundert zu
vermeiden.
Die Tatsache, dass sowohl in der Revolte der spanischen indignados (der
»Empörten«) als auch im Arabischen Frühling die Wertvorstellungen,
Einstellungen und moralischen Grundsätze der vernetzten Generation
erkennbar waren, bewegte die Medien zu der Vermutung, diese Bewegungen
seien von Facebook und Twitter ausgelöst worden. Dann brachen in den Jahren
2013 und 2014 in mehreren Schwellenländern – in der Türkei, in Brasilien,
Indien, der Ukraine und Hongkong – Revolten aus. Millionen gingen auf die
Straße, und auch diesmal setzte sich die vernetzte Generation an die Spitze der
Proteste. Aber diesmal zielte ihre Kritik auf die wesentlichen Mängel des
modernen Kapitalismus.
In Istanbul traf ich im Juni 2013 hinter den Barrikaden im Gezi-Park Ärzte,
Softwareentwickler, Buchhalter und Angestellte von Logistikunternehmen –
gut ausgebildete Arbeitskräfte, die nicht bereit waren, sich für ein
Wirtschaftswachstum von acht Prozent damit abzufinden, dass die
herrschenden Islamisten das moderne Leben unterdrückten.
In Brasilien feierten die Ökonomen die Entstehung einer neuen
Mittelschicht, aber wie sich herausstellte, waren die Angehörigen dieser
»Mittelschicht« lediglich schlecht bezahlte Arbeiter. Sie waren dem Slum
entkommen und lebten in einer Welt, die ihnen ein regelmäßiges Einkommen
und ein Bankkonto bot, mussten jedoch erkennen, dass man ihnen
grundlegende Annehmlichkeiten vorenthielt und sie der Gnade brutaler
Sicherheitskräfte und korrupter Politiker ausgeliefert hatte. Nun gingen
Millionen von ihnen auf die Straße.
In Indien zeigten die durch die Vergewaltigung und Ermordung einer
Studentin ausgelösten Proteste im Jahr 2012, dass die gebildete und vernetzte
Generation auch dort nicht länger bereit war, sich mit Paternalismus und
gesellschaftlicher Rückständigkeit abzufinden.
Die meisten dieser Revolten verliefen im Sand. Der Arabische Frühling
wurde entweder gewaltsam unterdrückt wie in Ägypten und Bahrain oder vom
Islamismus weggespült wie in Libyen und Syrien. In Europa scheiterte die
Protestbewegung gegen die Sparpolitik an polizeilicher Repression und einer
geschlossenen Front der etablierten Parteien und verlor den Mut. Aber all diese
Proteste zeigten, dass die Revolution in einer komplexen Gesellschaft, deren
Treibstoff die Information ist, ganz anders aussehen wird als die Revolutionen
des 20. Jahrhunderts. Da eine starke, organisierte Arbeiterklasse fehlt, die den
sozialen Forderungen Nachdruck verleihen könnte, brechen die Revolten oft
zusammen. Doch die Ordnung wird nie vollkommen wiederhergestellt.
Anstatt wie die Radikalen des 19. und 20. Jahrhunderts vom Denken zum
entschlossenen Handeln überzugehen, wird die radikalisierte Jugend heute
durch die Repression gezwungen, zwischen beiden zu pendeln: Man kann die
Menschen einsperren, foltern und schikanieren, aber man kann nicht
verhindern, dass sie geistigen Widerstand leisten.
In der Vergangenheit wäre eine intellektuelle Radikalisierung ohne Macht
sinnlos gewesen. Generationen von Rebellen vergeudeten ihr Leben in
Dachstuben, wo sie wütende Gedichte schrieben, die Ungerechtigkeit der Welt
verfluchten und ihre eigene Machtlosigkeit beklagten. In einer
Informationsökonomie ändert sich jedoch die Beziehung zwischen Denken und
Handeln.
Im von der Hochtechnologie beherrschten Maschinenbau werden die
Objekte virtuell entworfen, virtuell getestet und sogar virtuell »hergestellt«,
bevor auch nur ein einziges Stück Metall geformt wird – der gesamte Prozess
wird in Computermodellen simuliert. So werden Fehler schon im
Entwicklungsstadium entdeckt und korrigiert, was vor der Einführung der 3-D-
Simulation unmöglich war.
Dasselbe gilt für das Design einer postkapitalistischen Gesellschaft. In einer
Informationsgesellschaft wird kein Gedanke, kein Diskussionsbeitrag und kein
Traum verschwendet, egal, wo er herkommt – sei es aus einem Zeltlager, einer
Gefängniszelle oder einer »Imagineering-Sitzung« in einem Start-up-
Unternehmen.
Beim Übergang zur postkapitalistischen Gesellschaft können wir durch ein
sorgfältiges Design Fehler in der Umsetzung vermeiden. Und diese Gesellschaft
kann so wie Software modular gestaltet werden. Verschiedene Personen
können an verschiedenen Orten mit unterschiedlicher Geschwindigkeit und
relativ unabhängig voneinander daran arbeiten. Wir brauchen keinen Plan
mehr, wir brauchen ein modulares Projektdesign.
Und wir brauchen es dringend.
Ich will keine wirtschaftliche Strategie vorschlagen und keine Anleitung zur
Organisation geben. Mein Ziel ist es, die neuen inneren Widersprüche des
Kapitalismus herauszuarbeiten und genauere Koordinaten anzubieten, an
denen sich Menschen, Bewegungen und Parteien auf dem Weg zur
postkapitalistischen Gesellschaft orientieren können.
Der größte innere Widerspruch des heutigen Kapitalismus ist der zwischen
der Möglichkeit eines unerschöpflichen Angebots an kostenlosen Gütern und
einem System von Monopolen, Banken und Staaten, die alles tun, damit diese
Güter knapp, kommerziell nutzbar und im Privatbesitz bleiben. Hier haben wir
die Auseinandersetzung zwischen dem Netzwerk und der Hierarchie, zwischen
dem Gesellschaftssystem, das rund um den Kapitalismus errichtet wurde, und
den neuen Strukturen, die ankündigen, was als Nächstes kommen wird.

In diesem Veränderungsprozess steht für die Machtelite des modernen


Kapitalismus viel auf dem Spiel. Während der Arbeit an diesem Buch hat mich
mein Beruf als Journalist an die Schauplätze von drei Konflikten geführt, die
zeigen, wie rücksichtslos die Elite reagieren wird.
Im August 2014 verbrachte ich in Gaza zehn Tage in einer Gemeinschaft, die
mit Drohnenangriffen, Granatbeschuss und Scharfschützenfeuer systematisch
zerstört wurde. 1500 Zivilisten wurden getötet, ein Drittel der Opfer waren
Kinder. Im Februar 2015 sah ich, wie der US-Kongress den Mann, der die
Angriffe angeordnet hatte, 25-mal mit Standing Ovations unterbrach, als er
dort eine Rede hielt.
In Schottland fand ich mich im September 2014 inmitten einer plötzlichen
und von niemandem vorhergesehenen radikalen Massenbewegung für die
Unabhängigkeit von Großbritannien wieder. Millionen junger Menschen
sagten »Ja«, als sich ihnen die Gelegenheit bot, mit einem neoliberalen Staat zu
brechen und von vorne anzufangen. Sie erlitten eine knappe Niederlage,
nachdem mehrere Großkonzerne gedroht hatten, Schottland den Rücken zu
kehren – und nachdem die Bank of England angekündigt hatte, sie werde nicht
zulassen, dass ein unabhängiges Schottland am britischen Pfund festhalte.
Und im Jahr 2015 verfolgte ich in Griechenland, wie Euphorie in Furcht
umschlug, als eine Bevölkerung, die zum ersten Mal in siebzig Jahren die Linke
gewählt hatte, feststellen musste, dass die EZB nicht bereit war, ihren
demokratisch geäußerten Willen zu respektieren.
In all diesen Fällen kollidierte der Kampf für Gerechtigkeit mit der Macht,
die wirklich die Welt beherrscht.
Angesichts der schleppenden Fortschritte der Sparprogramme in den
südeuropäischen Krisenländern redeten die Volkswirte von J. P. Morgan im
Jahr 2013 Klartext: Damit der Neoliberalismus überleben könne, müsse die
Demokratie zurückgedrängt werden. Griechenland, Portugal und Spanien, so
die Warnung der Experten, hätten »ein problematisches politisches Erbe«:
»Die Verfassungen der Länder der südlichen Peripherie und die politischen
Rahmenbedingungen, die nach dem Fall des Faschismus in diesen Ländern
geschaffen wurden, weisen eine Reihe von Merkmalen auf, die mit der
weiteren Integration in die Region unvereinbar scheinen.«7 Mit anderen
Worten: Völker, die in den siebziger Jahren als Gegenleistung für einen
friedlichen Übergang von der Diktatur zur Demokratie einen stabilen
Sozialstaat erhalten hatten, mussten diesen jetzt aufgeben, damit Banken wie J.
P. Morgan überleben konnten.
Es gibt keine Genfer Konvention, die den Kampf zwischen den Eliten und
den von ihnen beherrschten Völkern regeln würde. Der Robocop wird in den
Kampf gegen friedliche Demonstranten geschickt: Taser, Schallkanonen und
Tränengas in Kombination mit Überwachung, Infiltrierung und
Desinformation sind zu normalen Werkzeugen der Ordnungskräfte geworden.
Und die Zentralbanken, deren Tätigkeit den meisten Menschen ein Rätsel ist,
sind bereit, die Demokratie zu sabotieren, indem sie in Ländern, in denen
Bewegungen, die gegen den Neoliberalismus kämpfen, an die Macht zu
kommen drohen, Kassenstürme auslösen (genau das taten sie im Jahr 2013 auf
Zypern, ein Jahr später in Schottland und zuletzt in Griechenland).
Die Elite und ihre Verbündeten stehen Schulter an Schulter, um die
Grundbestandteile des Neoliberalismus zu verteidigen: Hochfinanz,
Niedriglöhne, Geheimhaltung, Militarismus, geistige Eigentumsrechte und
fossile Energieträger. Die schlechte Nachricht ist, dass sie fast jede Regierung
auf der Erde kontrollieren. Die gute Nachricht ist, dass ihnen die normalen
Bürger der meisten Länder nur wenig Sympathie entgegenbringen.
Aber dieser Gegensatz zwischen großer Macht und geringer Beliebtheit ist
gefährlich. Wie ich am Ufer des Dnjestr sehen konnte, kann eine Diktatur, die
billiges Erdgas und Jobs in der Armee für die Söhne des Landes anbietet,
attraktiver sein als eine Demokratie, die die Menschen frieren und hungern
lässt.

In einer solchen Situation sind geschichtliche Kenntnisse nützlich.


Der Neoliberalismus mit seinem Glauben an die Dauerhaftigkeit und
Endgültigkeit des freien Markts hat versucht, die gesamte
Menschheitsgeschichte umzuschreiben: Alles jemals Dagewesene wurde zu
Fehlentwicklungen, die der Neoliberalismus korrigierte. Doch wenn man
einmal beginnt, über die Geschichte des Kapitalismus nachzudenken, muss
man die Frage stellen, welche Ereignisse inmitten des Chaos in ein
wiederkehrendes Muster passen und welche Teil einer unumkehrbaren
Veränderung sind.
Obwohl es in diesem Buch darum geht, Grundrisse einer kommenden
Ökonomie zu entwerfen, müssen wir uns daher auch mit der Vergangenheit
beschäftigen. In Teil I geht es um die Krise und ihre Ursachen. In Teil II
skizziere ich eine neue, umfassende Theorie des Postkapitalismus. Teil III ist
der Frage gewidmet, wie der Übergang zum neuen System aussehen könnte.
Ist der Postkapitalismus eine Utopie? Die utopischen Sozialisten des
19. Jahrhunderts scheiterten, weil Wirtschaft, Technologie und Kultur nicht
ausreichend entwickelt waren. Aber die Informationstechnologie macht große
Teile des utopischen sozialistischen Projekts möglich: Kooperativen,
Kommunen und sporadische Schübe des widerspenstigen Verhaltens definieren
die menschliche Freiheit neu.
Utopisch wirkt mittlerweile die Elite, die wie die millenaristischen Sekten
des 19. Jahrhunderts in einer separaten Welt lebt. Die Demokratie der
Sonderpolizei, der korrupten Politiker, der von Magnaten kontrollierten
Zeitungen und des Überwachungsstaats wirkt ebenso unecht und zerbrechlich
wie die DDR vor dreißig Jahren.
In jeder Deutung der Menschheitsgeschichte muss Platz für die Möglichkeit
des Zusammenbruchs sein. Die Popkultur ist besessen von dieser Vorstellung:
Der Zusammenbruch wird uns im Zombie- und im Katastrophenfilm, in der
postapokalyptischen Einöde von The Road und Elysium angekündigt. Aber
warum sollten wir als vernunftbegabe Wesen nicht auch die Möglichkeit
haben, uns das ideale Leben und die vollkommene Gesellschaft auszumalen?
Millionen Menschen beginnen zu begreifen, dass man ihnen einen Traum
verkauft hat, der nie wahr werden wird. Wir müssen diesem falschen Traum
mehr als einen Haufen anderer Träume entgegensetzen: Wir brauchen ein
schlüssiges Projekt, das auf vernünftigen Analysen, Belegen und überprüfbaren
Entwürfen beruht, eines, das mit der Wirtschaftsgeschichte bricht und uns ein
nachhaltiges Leben auf diesem Planeten ermöglichen wird.
Und wir sollten uns damit beeilen.
TEIL I

Für die Historiker ist jedes Ereignis einzigartig. Die Ökonomen hingegen sehen
im Verhalten der gesellschaftlichen und natürlichen Kräfte wiederkehrende
Muster.
Charles P. Kindleberger 1
1
Der Neoliberalismus ist kaputt

Am 15. September 2008 stand ich vor der New Yorker Zentrale von Lehman
Brothers, um über den Zusammenbruch der Investmentbank zu berichten. Auf
Anweisung meines Kameramanns schlenderte ich durch das Gewirr von
Limousinen, Satellitenübertragungswagen, Leibwächtern und Bankern, die
man gerade entlassen hatte.
Sieben Jahre späte leidet die Welt immer noch unter den Nachwirkungen
jenes Tages. Wenn ich mir jene Aufnahmen heute ansehe, frage ich mich:
Weiß der Mann, der da mit einem Mikrophon vor der Kamera steht, heute
etwas, was er damals nicht wusste?
An jenem Tag wusste ich, dass eine Rezession begonnen hatte: Ich war
gerade kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten gereist, um eine
Reportage über die Schließung von 600 Starbucks-Filialen zu drehen. Ich
wusste, dass das globale Finanzsystem unter Druck stand: Es war sechs
Wochen her, dass ich über den drohenden Kollaps einer Großbank berichtet
hatte. 2 Ich wusste, dass der amerikanische Immobilienmarkt einen Tiefpunkt
erreicht hatte: In Detroit hatte ich Häuser gesehen, die für 8000 Dollar in bar
angeboten wurden. Und ich wusste, dass ich den Kapitalismus nicht mochte.
Aber ich ahnte damals nicht, dass der Kapitalismus in seiner gegenwärtigen
Form drauf und dran war, sich selbst zu zerstören.
Der Crash im Jahr 2008 löschte 13 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung
und 20 Prozent des Welthandels aus. Er sorgte dafür, dass die Weltwirtschaft
schrumpfte – und das in einer Welt, in der eine Wachstumsrate von weniger
als 3 Prozent als Rezession gilt. Im Westen löste er eine Depressionsphase aus,
die länger dauerte als die Weltwirtschaftskrise der Jahre 1929-33. Und trotz
einer rachitischen Erholung fürchten sich die tonangebenden Ökonomen
weiterhin vor einer langen Phase der Stagnation.
Aber die durch den Lehman-Zusammenbruch ausgelöste Wirtschaftskrise ist
nicht das eigentliche Problem. Das eigentliche Problem ist das, was als
Nächstes kommt. Wenn wir verstehen wollen, was auf uns zukommt, müssen
wir uns die strukturellen Probleme ansehen, die den Crash von 2008 auslösten.
Als das globale Finanzsystem in jenem Jahr kollabierte, war die naheliegende
Ursache rasch gefunden: Es lag an den Schulden, die in falsch bewerteten
»forderungsbesicherten Wertpapieren« versteckt waren, und am Netz der
nicht regulierten und Offshore-Unternehmen, das nach seiner Implosion als
»Schattenbanksystem« bekannt wurde. 3 Und als die Jagd auf die Übeltäter
begann, wurde uns klar, welches Ausmaß die Kriminalität angenommen hatte,
die auf dem Weg in die Krise alltäglich geworden war. 4
In Wahrheit saßen wir jedoch alle in einem Flugzeug, dessen
Navigationssystem ausgefallen war. Der Grund für diesen Blindflug war, dass
es kein Krisenmodell für die neoliberale Wirtschaft gibt. Selbst wenn wir nicht
mit der gesamten Ideologie einverstanden sind – das Ende der Geschichte, die
Welt ist flach, der Kapitalismus funktioniert reibungslos –, zweifeln die
wenigsten von uns an der Doktrin, die besagt, dass sich die Märkte selbst
regulieren. Die meisten Leute halten es weiterhin für undenkbar, dass der
Neoliberalismus von seinen eigenen Widersprüchen zerrissen werden könnte.
Sieben Jahre später ist das System wieder halbwegs stabil. Indem sie
zusätzliche Staatsschulden in Höhe von beinahe 100 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts angehäuft und Geld im Wert von einem Sechstel der
globalen Wirtschaftsleistung druckten, schafften es die Vereinigten Staaten,
Großbritannien, China und Japan, der Wirtschaft eine Dosis Adrenalin zu
injizieren und den Krampf zu lösen. Die Staaten haben die Banken gerettet,
indem sie ihnen ihre faulen Kredite abgenommen haben: Ein Teil wurde
abgeschrieben, ein Teil in Staatsschulden verwandelt, ein Teil in Bad Banks
versteckt, die einfach dadurch stabilisiert wurden, dass die Zentralbanken für
sie bürgten.
Anschließend wurden Sparprogramme eingeleitet, die jene entlasteten, die
ihr Geld unklug angelegt hatten, und die Lasten stattdessen den Empfängern
von Sozialleistungen, den öffentlichen Bediensteten, den Rentnern, vor allem
aber den zukünftigen Generationen aufbürdeten. In den besonders schwer
getroffenen Ländern wurde das Rentensystem zerstört. Das Rentenalter wurde
so weit angehoben, dass die heutigen Hochschulabgänger bis zum siebzigsten
Lebensjahr werden arbeiten müssen, und die Bildung wurde privatisiert, so
dass die Absolventen ihr Leben lang verschuldet sein werden. Staatliche
Leistungen wurden zurückgeschraubt und Infrastrukturprojekte verschoben.
Doch viele Menschen verstehen immer noch nicht, was das Wort
»Austerität« wirklich bedeutet. Die Austeritätspolitik ist nicht auf die
Ausgabenkürzungen in Großbritannien oder auf die soziale Katastrophe in
Griechenland beschränkt. Was Austerität wirklich bedeutet, erklärte Tidjane
Thiam, der ehemalige Vorstandsvorsitzende des Versicherungskonzerns
Prudential, 2012 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos. Die Gewerkschaften,
so Thiam, seien die »Feinde der jungen Menschen«, und der Mindestlohn sei
»eine Maschine zur Arbeitsplatzvernichtung«. Der millionenschwere
Finanzmagnat eröffnete uns ganz ungeniert, dass die Rechte der Arbeitnehmer
und menschenwürdige Löhne der Wiederbelebung des Kapitalismus im Weg
stünden und beseitigt werden müssten. 5
Das ist das eigentliche Austeritätsprojekt: Einkommen und Lebensstandard
der Menschen im Westen sollen über Jahrzehnte hinweg gedrückt werden, um
ihren Wohlstand dem der aufstrebenden Mittelschichten in China und Indien
anzugleichen.
In der Zwischenzeit wird in Ermangelung eines alternativen Modells das
Feld für die nächste Krise bereitet. In Japan, Südeuropa, den USA und
Großbritannien sinken oder stagnieren die Realeinkommen. 6 Das
Schattenbanksystem wurde repariert und ist mittlerweile größer als im Jahr
2008. 7 Weltweit sind die kombinierten Schulden von Finanzinstituten,
privaten Haushalten, Unternehmen und öffentlichen Haushalten seit der Krise
um 57 Billionen Dollar gestiegen, womit sie fast dreimal so hoch sind wie das
globale BIP. 8 Die neuen Vorschriften, mit denen die Banken gezwungen
werden sollten, ihr Kernkapital zu erhöhen, wurden verwässert und
verschleppt. Und das reichste Eine Prozent ist noch reicher geworden.
Sollte auf eine weitere Hysterie an den Finanzmärkten ein weiterer Kollaps
folgen, wird es keine weitere Bankenrettung geben. Da die Staatsschulden den
höchsten Stand seit dem Zweiten Weltkrieg erreicht haben und die
Sozialsysteme in einigen Ländern zerschlagen worden sind, werden wir der
nächsten Krise wehrlos ausgeliefert sein, da wir den Großteil unserer Munition
verschossen haben. Die Rettung Zyperns lieferte die Blaupause für das, was
geschieht, wenn eine Großbank oder ein Staat pleitegeht: Die Sparer verloren
alle Einlagen, die über einen Betrag von 100 000 Euro hinausgingen.
Hier die Zusammenfassung der Lehren, die ich aus den Geschehnissen seit
dem Tod von Lehman gezogen habe: Die kommende Generation wird ärmer
sein als die gegenwärtige. Das alte Wirtschaftsmodell funktioniert nicht mehr,
und das Wachstum kann nicht angekurbelt werden, ohne das Finanzsystem
noch verwundbarer zu machen. Die Märkte verrieten uns an jenem Tag etwas
über die Zukunft des Kapitalismus. Aber zu jener Zeit verstand ich die
Botschaft nur teilweise.
Eine weitere Droge

In Zukunft sollten wir uns die Emoticons, die Smileys und das digitale
Augenzwinkern in den E-Mails der Finanzmanager genauer ansehen. Diese
Zeichen verraten uns, dass sie wissen, dass das, was sie tun, falsch ist.
»Es ist eine weitere Droge, von der wir abhängig geworden sind«, gab der
Lehman-Manager, der für die berüchtigte »Repo 105«-Taktik verantwortlich
war, in einer E-Mail zu. Der Trick bestand darin, Verbindlichkeiten aus der
Bilanz der Bank herauszuhalten, indem man sie vorübergehend »verkaufte«
und nach Abschluss des Quartalsberichts wieder zurückkaufte. Ein anderer
Lehman-Manager wurde gefragt, ob diese Schummelei legal sei, ob andere
Banken dasselbe täten und ob auf diese Art Löcher in der Bilanz gestopft
würden? Seine Antwort in einer E-Mail: »Ja, nein, und ja :).« 9
Bei der Ratingagentur Standard & Poor's, die Risiken wissentlich falsch
bewertete, schrieb ein Mitarbeiter an einen anderen: »Wir wollen hoffen, dass
wir alle reich und im Ruhestand sind, wenn das Kartenhaus einstürzt.« Er fügte
das Emoticon »:O)« hinzu.10
Bei Goldman Sachs in London scherzte der Wertpapierhändler Fabrice
»Fabulous Fab« Tourre:

Mehr und mehr Verschuldung im System, das ganze System kann jeden Moment zusammenbrechen …
Der einzige Überlebende dürfte Fabulous Fab sein … der mitten in all diesen komplexen, auf Pump
finanzierten, exotischen Geschäften steht, die er ohne das nötige Verständnis der Auswirkungen dieser
Ungetüme entwickelt hat!!!

Immer mehr Beweise für Kriminalität und Korruption tauchen auf. Was dabei
regelmäßig auffällt, ist die verschwörerische Formlosigkeit, die die Bankleute
an den Tag legen, während sie die Regeln brechen. »Habe es für dich erledigt,
Junge«, schrieb ein Barclays-Mitarbeiter an einen Kollegen, mit dem er sich
verschworen hatte, um den Interbankenzinssatz Libor zu manipulieren, den
wichtigsten Zinssatz überhaupt.11
Man muss auf den Ton dieser E-Mails achten: auf die Ironie, die
Unredlichkeit, die häufige Verwendung von Smileys, die saloppe
Ausdrucksweise, die erratische Verwendung von Satzzeichen. All das zeigt eine
systemimmanente Selbsttäuschung. Die Leute im Herzen des Finanzsystems,
das seinerseits das Herz der neoliberalen Welt ist, wussten genau, dass das
System nicht funktionierte.
John Maynard Keynes bezeichnete das Geld einmal als »Verbindungsglied
zwischen der Gegenwart und der Zukunft«.12 Gemeint war damit, dass unsere
heutige Verwendung des Geldes Aufschluss darüber gibt, wie sich die
Wirtschaft unserer Meinung nach in der Zukunft entwickeln wird. Im Vorfeld
der Krise von 2008 taten wir Folgendes mit dem Geld: Wir pumpten die globale
Geldmenge erheblich auf – von 25 Billionen auf 70 Billionen Dollar in den
sieben Jahren vor dem Crash. Dieses Wachstum stand jedoch in keinem
Verhältnis zum Wachstum der Realwirtschaft. Ein derart rasanter Anstieg der
Geldmenge ist ein Hinweis darauf, dass wir an eine Zukunft glauben, in der
wir um ein Vielfaches reicher sein werden als in der Gegenwart. Die Krise war
einfach eine Rückmeldung der Zukunft: Wir waren im Irrtum.
Als die Krise ausbrach, blieb der globalen Elite nichts anderes übrig, als noch
mehr Chips auf den Roulettetisch zu werfen. Es war nicht schwer, diese Chips
aufzutreiben, denn die Spieler kontrollierten auch die Kasse des Casinos. Also
gingen sie zur »quantitativen Lockerung« über und erhöhten einfach die
Geldmenge um zwölf Billionen Dollar. Aber für eine Weile mussten sie ihre
Einsätze gleichmäßiger verteilen und zurückhaltender spielen.13
Das ist die Quintessenz der globalen Wirtschaftspolitik seit 2008: Man druckt
so viel Geld, dass die Banken es sich kostenlos oder sogar zu negativen Zinsen
leihen können. Bei negativen Realzinsen sind die Sparer – die ihr Geld nur in
Sicherheit bringen können, indem sie Staatsanleihen kaufen – de facto
gezwungen, auf jeglichen Ertrag ihrer Ersparnisse zu verzichten. Oder sie
wenden sich riskanteren Geldanlagen zu, was neue Spekulationswellen an den
Immobilien-, Rohstoff- und Aktienmärkten auslöst. Das Ergebnis ist eine
schwache Erholung, doch die strategischen Probleme bleiben dieselben.
In den entwickelten Ländern wächst die Wirtschaft langsam. Die
Vereinigten Staaten konnten sich nur erholen, indem sie einen Schuldenberg
von 17 Billionen Dollar anhäuften. Immer noch sind Billionen Dollar, Yen,
Pfund und Euro in Umlauf, die im Rahmen der lockeren Geldpolitik gedruckt
wurden. Die Schulden der privaten Haushalte in den westlichen Ländern sind
weiterhin unbezahlt. Die während des spekulativen Immobilienbooms in
Spanien, China und anderswo errichteten Geisterstädte haben bis heute keine
Käufer gefunden. Die Eurozone, die vermutlich wichtigste und fragilste
wirtschaftliche Konstruktion der Welt, stagniert weiterhin, was gewaltige
politische Spannungen zwischen Gesellschaftsschichten und Ländern erzeugt,
die das Gebilde sprengen könnten.
Sollte die Zukunft keine spektakulären Reichtümer bringen, wird sich all das
als untragbar erweisen. Und die Wirtschaft, die aus der Krise hervorgeht, kann
keinen solchen Reichtum erzeugen. Nicht nur das neoliberale Modell, sondern
der Kapitalismus an sich befindet sich an einem strategischen Wendepunkt
(wie ich in Kapitel 2 zeigen werde).
Kehren wir in den September 2008 zurück, um uns anzusehen, inwieweit die
Zuversicht, die den Boom speiste, der tatsächlichen Lage entsprach. In meinem
Fernsehbericht über die Ereignisse jenes Tages sind vor der Lehman-Zentrale
in New York zahlreiche Menschen zu sehen, die mit ihren Handys von Nokia,
Motorola und Sony Ericsson Fotos machen. Diese Geräte sind längst veraltet,
und ihre Hersteller haben ihre beherrschende Stellung auf dem Markt
mittlerweile eingebüßt.
Der rasante Fortschritt der digitalen Technologie, der die Wirtschaftsblüte
bis zum Jahr 2008 antrieb, ist in der Krise nicht zum Stillstand gekommen. In
den Jahren seit dem Zusammenbruch von Lehman hat das iPhone die Welt
erobert und ist seinerseits vom Android-Smartphone überflügelt worden.
Tablets und E-Books haben sich durchgesetzt. Die sozialen Netzwerke, von
denen damals kaum jemand sprach, sind mittlerweile ein fester Bestandteil des
Lebens vieler Menschen. Als Lehman pleiteging, hatte Facebook 100 Millionen
Nutzer. Mittlerweile sind es 1,3 Milliarden, womit dieses Netzwerk größer ist
als das gesamte globale Internet im Jahr 2008.14
Und der technologische Fortschritt ist nicht auf die digitale Sphäre
beschränkt. In diesen sieben Jahren hat Toyota trotz der globalen Finanzkrise
und ungeachtet eines verheerenden Erdbebens fünf Millionen Hybridautos
produziert, das heißt fünfmal so viele wie vor der Krise. Im Jahr 2008 konnten
die Solarstromanlagen der Welt 15 000 Megawatt Strom erzeugen; bis 2014
stieg die globale Kapazität auf das Zehnfache dieses Werts.15
Wir haben es also mit einer wirtschaftlichen Depression zu tun, die mit
keiner anderen vergleichbar ist. Wir sehen Krise und Stagnation in Verbindung
mit der raschen Verbreitung neuer Technologien – in den dreißiger Jahren des
vergangenen Jahrhunderts geschah nichts Derartiges. Und die Politik hat ganz
anders reagiert als im Jahr 1930: Anstatt die Krise wie seinerzeit zu
verschärfen, hat die globale Elite politische Maßnahmen ergriffen, um die
Realwirtschaft zu schützen, wobei sie vielfach gegen ihre eigenen
wirtschaftlichen Überzeugungen handelte. Und in wichtigen Schwellenländern
lösten die wachsende Nachfrage nach Rohstoffen und die globalen
geldpolitischen Stimuli in den ersten Jahren nach 2008 einen Boom aus.
Gemeinsam verhinderten der technologische Fortschritt, die politischen
Eingriffe und die Robustheit der Emerging Markets, dass diese
Weltwirtschaftskrise so großes menschliches Leid verursachte wie die Great
Depression der dreißiger Jahre. Aber die aktuelle Krise hat gravierendere
Folgen. Um zu verstehen, warum das so ist, müssen wir uns die Kausalkette
ansehen.
Sowohl linke als auch rechte Ökonomen sehen den unmittelbaren Auslöser
des Zusammenbruchs im »billigen Geld«: Nachdem im Jahr 2001 die Dotcom-
Blase geplatzt war, entschlossen sich die westlichen Staaten, das Bankwesen zu
deregulieren und die Regeln für die Kreditvergabe zu lockern. Damit
erleichterten sie die Spekulation mit strukturierten Finanzprodukten und gaben
grünes Licht für alle folgenden Verbrechen: Die Politik erklärte es zur Pflicht
der Bankiers, sich durch Finanzspekulation zu bereichern, damit sich dieser
Reichtum nach dem Trickle-down-Prinzip in der übrigen Volkswirtschaft
verteilen konnte.
Stimmt man der Interpretation zu, dass das billige Geld zur Entstehung der
Krise beitrug, so tritt ein grundlegenderes Problem zutage: die »globalen
Ungleichgewichte«, das heißt jene Rollenverteilung, die es Ländern wie den
USA erlaubte, auf Pump zu leben und hohe Staatsdefizite anzuhäufen, während
China, Deutschland, Japan und andere Exportnationen die Rolle der Gläubiger
spielten. Zweifellos führten diese Ungleichgewichte zum Kreditüberangebot in
den westlichen Volkswirtschaften. Aber warum gab es sie? Warum legten die
chinesischen Haushalte 25 Prozent ihres Einkommens zurück und verliehen ihr
Erspartes über das globale Finanzsystem an amerikanische Arbeitskräfte, die
überhaupt nicht sparten?
Im ersten Jahrzehnt nach der Jahrtausendwende diskutierten die Ökonomen
über widersprüchliche Erklärungen: Entweder lag es an der übermäßigen
Sparneigung der knausrigen Völker Asiens, oder die Schuld lag bei den
verschwenderischen Menschen im Westen, die auf Pump leben wollten. Wie
dem auch sei, das Ungleichgewicht war eine Tatsache. Schürft man tiefer, so
stößt man auf die Globalisierung selbst, und in der vorherrschenden
Wirtschaftstheorie sind Zweifel an der Globalisierung unzulässig: Sie ist
einfach eine unumkehrbare Tatsache.
Also wurde die These vom »mangelhaften Bankensystem in Kombination
mit unausgewogenem Wachstum« zur Erklärung für den Kollaps. Man musste
lediglich bei den Banken aufräumen, die Schulden verringern, das
Gleichgewicht der Weltwirtschaft wiederherstellen, und alles würde wieder gut
werden. Auf dieser Annahme beruhen die politischen Maßnahmen seit dem
Jahr 2008.
Doch das anhaltend dürftige Wachstum hat sogar Mainstream-Ökonomen
aus ihrer Selbstgefälligkeit gerissen. Larry Summers, Finanzminister in der
Regierung Clinton und einer der Architekten der Bankenderegulierung,
erschreckte im Jahr 2013 die Wirtschaftswelt mit der Warnung vor einer
»säkularen Stagnation«: Er befürchtete für die absehbare Zukunft ein
dauerhaft geringes Wachstum. Summers gab zu, dass die Weltwirtschaft seit
geraumer Zeit unter einer Wachstumsschwäche leide, die lediglich »durch
nicht nachhaltige Verschuldung übertüncht worden« sei.16 Der
Wirtschaftsexperte Robert Gordon ging noch einen Schritt weiter und sagte für
das kommende Vierteljahrhundert ein hartnäckig kümmerliches Wachstum,
hohe Schulden und wachsende Ungleichheit in den Vereinigten Staaten
voraus.17 Angesichts der Unfähigkeit des Kapitalismus, sich zu regenerieren,
fürchten sich die Experten mittlerweile nicht mehr vor einem Jahrzehnt der
Stagnation aufgrund der Überschuldung, sondern beginnen über die
Möglichkeit nachzudenken, dass sich das System überhaupt nicht mehr erholen
wird. Nie wieder.
Um einschätzen zu können, inwieweit diese Untergangsszenarien der
Realität entsprechen, müssen wir vier Elemente analysieren, die den
Vormarsch des Neoliberalismus ermöglicht haben – und ihn gleichzeitig
zerstören:
1. Das »Fiatgeld«, das es ermöglichte, jede Wachstumsschwäche mit einer
Lockerung des Kredits zu beantworten, und so die gesamte entwickelte
Welt in die Lage versetzte, auf Pump zu leben.
2. Die Finanzialisierung, welche die stagnierenden Einkommen der
Arbeitskräfte in der entwickelten Welt durch Kredit ersetzt hat.
3. Die globalen Ungleichgewichte und die Risiken, die in den gewaltigen
Schulden und Währungsreserven der großen Industrieländer schlummern.
4. Die Informationstechnologie, die alles andere möglich gemacht hat, unter
Umständen jedoch in Zukunft keine ausreichende Grundlage für Wachstum
mehr sein wird.

Das Schicksal des Neoliberalismus hängt davon ab, ob diese vier Faktoren
weiter wirken werden. Das Schicksal des Kapitalismus hängt davon ab, was
geschieht, wenn sie ihre Wirkung einbüßen. Sehen wir uns die Sache genauer
an.
Fiatgeld

Im Jahr 1837 gab die kurz zuvor gegründete Republik Texas ihre ersten
Banknoten heraus. In den texanischen Museen sind noch einige makellose
Exemplare erhalten. Da der neue Staat keine Goldreserven hatte, versprach er
den Inhabern dieser Banknoten einen jährlichen Zinsertrag von 10 Prozent.
Innerhalb von zwei Jahren fiel der Wert des texanischen Dollar auf 40 US-Cent.
Fünf Jahre nach ihrer Einführung waren diese Banknoten so unbeliebt, dass der
texanische Staat seinen Bürgern verbot, ihre Steuern damit zu bezahlen. Es
dauerte nicht lange, da begann die Bevölkerung, einen Anschluss der Republik
an die USA zu fordern. Als es im Jahr 1845 so weit war, hatte der texanische
Dollar einen Großteil seines Werts zurückgewonnen. Im Jahr 1850 erließen die
Vereinigten Staaten Texas Staatsschulden in Höhe von 10 Millionen US-Dollar.
Das kurze Dasein des Texas-Dollar gilt als Lehrbeispiel für die Probleme des
»Fiatgeldes«, das heißt einer Währung, die nicht durch Gold besichert ist. Das
lateinische Wort fiat hat hier dieselbe Bedeutung wie im biblischen »Fiat lux«
(»Es werde Licht«): Es werde Geld. Dieses Geld wird aus dem Nichts
erschaffen. In Texas gab es Land, Rinder und Handel – nur genügte ihr
Gegenwert nicht, um vier Millionen Dollar drucken und Staatsschulden von
zehn Millionen Dollar anhäufen zu können. Das Papiergeld verlor seinen Wert,
und die Republik Texas verschwand.
Im August 1971 entschlossen sich die Vereinigten Staaten, das Experiment
zu wiederholen, aber diesmal wurde die ganze Welt zum Laboratorium.
Präsident Richard Nixon kündigte einseitig eine Übereinkunft auf, die alle
anderen Währungen an den Dollar und diesen an das Gold gebunden hatte.
Seit diesem Moment beruht das globale Währungssystem auf dem Fiatgeld.
Ende der sechziger Jahre hatte Alan Greenspan, der spätere Vorsitzende der
Federal Reserve, ein Aufgeben des Goldstandards noch abgelehnt, da er in
diesem Vorhaben einen Versuch der Anhänger des Wohlfahrtsstaats sah, die
öffentlichen Ausgaben zu finanzieren, indem man das Geld der Bürger
konfiszierte.18 Schließlich begriffen Greenspan und die amerikanische Elite
jedoch, dass dieser Schritt die USA in die Lage versetzen würde, das Geld
anderer Länder zu konfiszieren. So wurde der Weg für drei Jahrzehnte der
Währungsmanipulation durch Washington geebnet, und die Vereinigten
Staaten konnten sich bei der restlichen Welt sechs Billionen Dollar leihen.19
Der Übergang zu einer reinen Papierwährung war die Vorbedingung für alle
folgenden Phasen des neoliberalen Projekts. Daher brauchte die amerikanische
Rechte eine Weile, um herauszufinden, dass ihr das Papiergeld nicht gefiel.
Aber mittlerweile lehnt die rechte Wirtschaftswissenschaft das Fiatgeld
entschieden ab. Seine Gegner sind überzeugt, dass es die eigentliche Ursache
für spekulative Überhitzung und Zusammenbrüche ist – und damit haben sie
nicht ganz unrecht.
Die Abkopplung vom Gold und von festen Wechselkursen löste drei
grundlegende neoliberale Reflexe aus: die expansive Geldschöpfung durch die
Banken, die Annahme, jede Krise könne durch eine geldpolitische Lockerung
bewältigt werden, und die Vorstellung, die mit Spekulation erzielten Gewinne
könnten immer weiter steigen. Diese Reflexe wurden ein so fester Bestandteil
des Verhaltens von Millionen Menschen, dass die Wirtschaft in Schockstarre
verfiel, als sie nicht mehr funktionierten.
Für manche Leute ist es eine Neuigkeit, dass die Banken das Geld
»erschaffen«. Aber das tun sie seit je: Sie verleihen seit je mehr Bargeld, als sie
im Tresor liegen haben. Allerdings gab es vor 1971 gesetzliche Grenzen für die
Geldschöpfung. In den Vereinigten Staaten mussten die Banken jederzeit
zwanzig Prozent der abhebbaren Einlagen in bar halten. So war dafür gesorgt,
dass die Bank selbst dann überleben würde, wenn jeder fünfte Kunde in Panik
geriet und zum Schalter lief, um sein gesamtes Geld abzuheben.20
Das neoliberale Projekt beseitigte diese Schranken. Mit dem ersten Basler
Akkord von 1988 wurden die Mindestreserven auf acht Prozent der
Ausleihungen festgesetzt. Als im Jahr 2004 Basel II in Kraft trat, waren
Einlagen und Kredite zu komplex geworden, um das angemessene Verhältnis
weiterhin anhand eines einzigen Prozentsatzes bestimmen zu können. Also
wurden die Regeln geändert: Das Kapital sollte abhängig von seiner Qualität
»gewichtet« werden – und die Beurteilung der Qualität wurde den
Ratingagenturen übertragen. Die Banken mussten erklären, anhand welcher
finanztechnischen Methoden sie ihre Risiken berechnet hatten. Und sie
mussten das »Marktrisiko« berücksichtigen, das heißt die Vorgänge außerhalb
der Mauern der Bank.
Die Regelungen von Basel II luden dazu ein, nach Lücken im System zu
suchen – und genau das taten die Bankiers und ihre Rechtsberater. Die
Ratingagenturen bewerteten die Vermögenswerte falsch, und die Anwälte
bastelten komplexe Instrumente, um die Vorschriften, die Transparenz
gewährleisten sollten, auszuhebeln. Und was die Einschätzung der
Marktrisiken anbelangt, so bewies der Offenmarktausschuss der Federal
Reserve – jenes Gremium, das angeblich alles weiß – noch Ende des Jahres
2007, als die Vereinigten Staaten in die Rezession schlitterten, eine
bemerkenswerte Selbstgefälligkeit. Tim Geithner, der damalige Chef der New
Yorker Fed, erklärte, wie es weitergehen würde: »Die Konsumenten drosseln
ihre Ausgaben ein wenig, und die Unternehmen reagieren darauf, indem sie die
Investitionen verringern und weniger Arbeitskräfte einstellen. Daher wird das
Wachstum in den nächsten Quartalen leicht unterdurchschnittlich
ausfallen.«21
Die Fehleinschätzung des Marktrisikos beruhte jedoch nicht auf blindem
Optimismus, sondern auf Erfahrung. War die Fed mit einem
Wirtschaftsabschwung konfrontiert, so bestand ihre Reaktion stets darin, die
Zinsen zu senken, womit sie den Banken die Möglichkeit gab, sich noch mehr
Geld gegen noch geringere Sicherheiten zu leihen. Dies war der zweite
Grundreflex des Neoliberalismus: die Annahme, jede Krise sei beherrschbar.
Zwischen 1987 und 2000 beantwortete die Fed unter Greenspans Führung
jede Rezession mit einer Zinssenkung. Damit machte sie nicht nur
Investitionen an den Kapitalmärkten zu einer sicheren Wette – die Investoren
wussten, dass die Notenbank jeden Börsencrash mit einer Geldschwemme
beantworten würde –, sondern sie verringerte im Lauf der Zeit das mit
Aktienbesitz verbundene Risiko.22 Die Aktienkurse, die theoretisch Aufschluss
über die erwartete zukünftige Rentabilität der Unternehmen geben sollten,
verwandelten sich in eine Wette auf die zukünftige Politik der Federal Reserve.
Das Kurs-Gewinn-Verhältnis für die größten fünfhundert Unternehmen in den
USA, das sich seit dem Jahr 1870 zwischen 10 und 25 bewegt hatte, kletterte
nun auf Werte zwischen 35 und 45.23
Wenn das Geld eine »Verbindung mit der Zukunft« herstellt, signalisierte es
im Jahr 2000 Zukunftsaussichten, die so rosig waren wie nie zuvor in der
Geschichte. Der Auslöser für das Platzen der Internetblase im Jahr 2001 war
Greenspans Entscheidung, den Leitzins zu erhöhen, um einen »irrationalen
Überschwang« zu bremsen. Aber nach dem Terrorangriff vom 11. September
und dem Enron-Konkurs im selben Jahr wurden die Zinsen angesichts einer
kurzen Rezession erneut gesenkt. Und jetzt war es eine unverhohlen politische
Entscheidung: Der irrationale Überschwang war wünschenswert, denn die
Vereinigten Staaten führten Krieg in Afghanistan und bald auch im Irak, und
das Vertrauen in die Unternehmen war durch zahlreiche Skandale erschüttert
worden.
Diesmal ging die Fed noch einen Schritt weiter und gab den Amerikanern
ein ausdrückliches Versprechen: Die Regierung würde eher Geld drucken, als
eine lang anhaltende Rezessions- und Deflationsphase zuzulassen. »Die
amerikanische Regierung hat eine Technologie, die als Druckerpresse
bezeichnet wird«, erklärte Ben Bernanke, Mitglied des Fed-Board, im Jahr 2002.
»In einem Papiergeldsystem kann eine entschlossene Regierung stets eine
Ausgabenerhöhung bewirken und damit positive Inflation erzeugen.«24
Wenn die finanziellen Bedingungen günstig und vorhersehbar sind, werden
die Banken stets hohe Gewinne erzielen. Die Tätigkeit der Banken wurde zu
einem taktischen Wechselspiel, dessen Zweck darin bestand, bei Konkurrenten
und Kunden Geld abzuschöpfen. Hier haben wir den dritten Grundreflex des
Neoliberalismus: die verbreitete Illusion, man brauche nur Geld, um Geld zu
machen.
Obwohl der Staat die vorgeschriebene Eigenkapitalquote der Banken gesenkt
hatte, hatte er an der strikten Trennung zwischen Geschäfts- und
Investmentbanken festgehalten, die in den dreißiger Jahren mit dem Glass-
Steagall Act eingeführt worden war. Ende der neunziger Jahre expandierten die
Investmentbanken jedoch mit hektischen Fusionen und Übernahmen und
verdrehten die Regeln nach Belieben. Und im Jahr 1999 hob Finanzminister
Larry Summers den Glass-Steagall Act schließlich auf und öffnete das
Bankwesen für jene, die sich auf exotische, undurchschaubare
Finanztransaktionen und für die heimischen Aufsichtsbehörden
unkontrollierbare Geschäfte im Ausland verlegt hatten.
So trug das Fiatgeld zur Entstehung der Krise bei, indem es uns mit falschen
Signalen aus der Zukunft überhäufte: Die Fed wird uns immer retten, Aktien
sind nicht riskant, und Banken können mit risikolosen Geschäften hohe
Gewinne erzielen.
Ein besonders anschauliches Beispiel dafür, dass sich die Politik nach der
Krise nicht von der Politik vor der Krise unterscheidet, ist die Strategie der
»quantitativen Lockerung« (Quantitative Easing, QE). Im Jahr 2009
entschlossen sich Ben Bernanke und der damalige britische
Zentralbankgouverneur Mervyn King, angesichts der andauernden Krise die
Notenpresse anzuwerfen. China hatte schon im November 2008 mit der
Geldvermehrung begonnen, wobei es sich einer sehr direkten Methode
bediente: Die Staatsbanken vergaben »weiche Kredite« an die Wirtschaft (das
heißt Kredite ohne Sicherheiten, mit deren Rückzahlung niemand rechnete).
Nun begann die Fed, die Geldmenge innerhalb von vier Jahren um vier
Billionen Dollar zu erhöhen, indem sie zunächst notleidende Kredite der
staatlich geförderten Hypothekenbanken, dann Staatsanleihen und schließlich
Hypotheken aufkaufte. Auf diese Art pumpte sie Monat für Monat achtzig
Milliarden Dollar in den Markt. Das Geld floss in Aktien und Immobilien und
trieb deren Preise in die Höhe, womit es in die Taschen jener gespült wurde,
die ohnehin schon reich waren.
Eine Vorreiterrolle in diesem Spiel hatte Japan übernommen, das nach dem
Zusammenbruch seines hoffnungslos überbewerteten Immobilienmarkts im
Jahr 1990 die Geldpresse angeworfen hatte. Da sich die Wirtschaft nicht
erholen wollte, sah sich Ministerpräsident Shinzō Abe 2012 gezwungen, noch
mehr Geld zu drucken. Die EZB, die verpflichtet ist, die Stabilität des Euro zu
wahren, wartete ab, rang sich jedoch im Jahr 2015 angesichts von Deflation
und stagnierender Wirtschaftsleistung dazu durch, ebenfalls zur quantitativen
Lockerung überzugehen und die Geldmenge um 1,6 Billionen Euro zu erhöhen.
Ich schätze den Gesamtbetrag des rund um den Erdball gedruckten Geldes
einschließlich der von der EZB zugesagten Anleihekäufe auf rund zwölf
Billionen Dollar. Das ist ein Sechstel des globalen Bruttoinlandsprodukts.25
Die Geldschwemme funktionierte insofern, als sie eine tiefe
Weltwirtschaftskrise verhinderte. Aber hier wurde versucht, die Krankheit zu
heilen, indem man dem Patienten den Krankheitserreger erneut injizierte: Man
pumpte billiges Geld in den Markt, um eine durch billiges Geld verursachte
Krise zu überwinden.
Was wird als Nächstes geschehen? Die Antwort hängt davon ab, was man
unter Geld versteht.
Die Gegner des Fiatgeldes prophezeien eine Katastrophe. Tatsächlich sind
die Bücher, in denen das Papiergeld verteufelt wird, so zahlreich wie die, in
denen die Banken angeprangert werden. Da eine unbegrenzte Menge Geld für
den Erwerb einer begrenzten Menge realer wirtschaftlicher Güter zur
Verfügung steht, werden nach Ansicht der kritischen Autoren alle auf dem
Papiergeld beruhenden monetären Systeme letzten Endes dasselbe Schicksal
erleiden wie die texanische Republik im 19. Jahrhundert. Die Krise im Jahr 2008
war demnach nur eine erste Erschütterung, die das große Beben ankündigte.
Die Lösungsvorschläge sind zumeist millenaristischer Art. Detlev Schlichter,
ein ehemaliger Manager von J. P. Morgan, erwartet einen »Wohlstandstransfer
historischen Ausmaßes«, und zwar von denen, die Vermögenswerte in
Papierform halten – ob auf Bankkonten oder in Rentenfonds –, zu denen, die
reale Vermögenswerte wie Gold besitzen. Schlichter prophezeit, auf den
Ruinen dieser Umverteilung werde ein System entstehen, in dem jeder Kredit
durch Bargeld auf dem Konto abgesichert sein müsse – ein »Bankwesen mit
Vollreserve-System« – und ein neuer Goldstandard gelten werde. Dies mache
eine massive Anhebung des Goldpreises erforderlich, da der Wert des weltweit
verfügbaren Goldes dem der gesamten Vermögen der Welt entsprechen
müsste. (Ein ähnliches System strebt die Bitcoin-Bewegung an, die eine digitale
Währung einführen will, die von keinem Staat garantiert wird und aus einer
endlichen Zahl von digitalen Münzen besteht.)
Aber dieses neue, auf »wirklichem« Geld beruhende System hätte
gravierende Auswirkungen auf die Wirtschaftsleistung. Wenn die Rücklagen
der Banken den Ausleihungen entsprechen müssen, kann die wirtschaftliche
Aktivität nicht mittels Krediten ausgeweitet werden. Und es gibt kaum Platz
für derivative Märkte, deren Komplexität – in normalen Zeiten – die durch
Dürre, Ernteausfälle, den Rückruf fehlerhafter Autos usw. verursachten
Probleme auffangen kann. In einer Welt, in der die Banken hundert Prozent
ihrer Einlagen als Rücklagen hielten, wären wiederholte wirtschaftliche
Stagnationsphasen und hohe Arbeitslosigkeit unvermeidlich. Und es liegt auf
der Hand, dass wir in eine Deflationsspirale schlittern würden: Schlichter
erklärt, wenn das Geldangebot unverändert bleibe, die Produktivität jedoch
steige, würden die Preise im Lauf der Zeit sinken.26
Diese Option bevorzugen die rechten monetären Fundamentalisten. Ihre
Befürchtung: Um das Fiatgeld zu verteidigen, werde der Staat die Banken
verstaatlichen, die Schulden abschreiben, das Finanzsystem unter seine
Kontrolle bringen und das freie Unternehmertum für immer beseitigen.
Wie wir sehen werden, könnte es tatsächlich so weit kommen. Die
Argumentation der Gegner des Fiatgeldes weist allerdings einen
grundlegenden Mangel auf: Sie verstehen die Natur des Geldes nicht.
In der herkömmlichen Vorstellung von den wirtschaftlichen
Zusammenhängen ist das Geld lediglich ein nützliches Tauschmittel, das
erfunden wurde, weil es in den frühen Zivilisationen irgendwann zu schwierig
wurde, den Gegenwert eines Waschbärenfells in Kartoffeln zu bestimmen.
Doch wie der Anthropologe David Graeber gezeigt hat, gibt es in Wahrheit
keinen Beleg dafür, dass sich die frühen menschlichen Gesellschaften des
Tauschhandels bedienten oder dass daraus das Geld hervorging.27 Sie stützten
sich auf etwas, das sehr viel wirksamer war: Vertrauen.
Geld wird von Staaten geschaffen, und so ist es immer gewesen. Geld
existiert nie unabhängig von Regierungen. Es ist immer gleichbedeutend mit
dem von einer Regierung gegebenen »Versprechen der Auszahlung«. Sein
Wert hängt nicht vom inneren Wert eines Metalls ab, sondern vom Vertrauen
der Menschen in das Auszahlungsversprechen eines Staates.
Das texanische Fiatgeld hätte funktioniert, wenn die Menschen geglaubt
hätten, dass der texanische Staat ewig existieren werde. Aber niemand glaubte
das, nicht einmal die Siedler in der Zeit von Fort Alamo. Sobald sie begriffen,
dass Texas sich den Vereinigten Staaten anschließen würde, erholte sich der
Wert der texanischen Währung.
Hat man das einmal verstanden, so wird klar, welches das eigentliche
Problem des Neoliberalismus ist. Das Problem ist nicht, dass wir mehr Geld
gedruckt haben, als die realen Produkte der Volkswirtschaft wert sind. Das
Problem ist (obwohl das kaum jemand zugeben wird), dass wir das Vertrauen
in unseren Staat verloren haben. Das ganze System beruht auf der
Glaubwürdigkeit des Staates, der die Banknoten ausgibt. Und in der modernen,
globalen Wirtschaft müssen wir nicht mehr einzelnen Staaten, sondern einem
vielschichtigen System von Schuldverpflichtungen, Zahlungsmechanismen,
inoffiziellen Währungskopplungen, förmlichen Währungsunionen wie dem
Euro und riesigen Fremdwährungsreserven vertrauen, welche die Staaten als
Versicherung für den Fall eines Systemzusammenbruchs angehäuft haben.
Das eigentliche Problem mit dem Fiatgeld tritt dann auf, wenn dieses
multilaterale System zerfällt. Aber das ist Zukunftsmusik. Für den Augenblick
können wir festhalten, dass das Fiatgeld in Kombination mit der freien
Marktwirtschaft eine Maschine ist, die Zyklen von Expansion und Rezession
produziert. Wird diese Maschine nicht gesteuert, so kann sie – auch ohne
Berücksichtigung der anderen destabilisierenden Faktoren – die Weltwirtschaft
in eine langfristige Stagnation stürzen.
Finanzialisierung

Schlendert man durch das Geschäftsviertel einer der britischen Städte, die dem
industriellen Niedergang zum Opfer gefallen sind, so sieht man immer dasselbe
Bild: Da gibt es Kredithaie, Pfandleihen und Läden, die zu Wucherzinsen
Haushaltsgeräte auf Kredit verkaufen. Neben den Pfandleihen findet man
wahrscheinlich jene andere Goldmine der von der Armut gezeichneten
Industriestadt: die Arbeitsvermittlung. Im Schaufenster hängen
Stellenanzeigen, in denen der Mindestlohn angeboten, aber eine
Fachausbildung verlangt wird. Bedienungspersonal für Maschinen, Pflegekräfte
für den Nachtdienst, Mitarbeiter in Logistikzentren: Für Tätigkeiten, die früher
ordentlich bezahlt wurden, bekommt man heute nur noch den gesetzlichen
Mindestlohn. Abseits des Rampenlichts stößt man auf die Leute, die die
Trümmer einsammeln: von Kirchen und Wohltätigkeitsorganisationen
betriebene Essensausgaben und Bürgerberatungsbüros, deren Hauptaufgabe
darin besteht, jenen zu helfen, denen die Schulden über den Kopf gewachsen
sind.
Es ist nur eine Generation her, dass in diesen Straßen wirkliche
Unternehmen arbeiteten. Ich erinnere mich, dass sich auf der Hauptstraße
meiner Heimatstadt Leigh in Nordwestengland in den siebziger Jahren
wohlhabende Arbeiterfamilien zum Schaufensterbummel trafen. Es herrschte
Vollbeschäftigung, Löhne und Produktivität waren hoch. An den Straßenecken
gab es zahlreiche Bankfilialen. In dieser Welt wurde gearbeitet und gespart,
und die Gemeinschaft hielt zusammen.
Als die Neoliberalen diese Solidarität zerschlugen, die Löhne drückten und
das soziale Geflecht der Industriestädte zerrissen, ging es ihnen ursprünglich
darum, den Boden für den freien Markt zu bereiten. In den ersten zehn Jahren
führte das einfach zu Kriminalität, Arbeitslosigkeit, Verwahrlosung der Städte
und massiven Kürzungen im öffentlichen Gesundheitswesen.
Doch dann kam die Finanzialisierung.
Die urbane Landschaft der Gegenwart – beherrscht von Anbietern teuren
Geldes, billiger Arbeitskräfte und kostenlosen Essens – ist das sichtbare
Ergebnis des Neoliberalismus. Lohnerhöhungen wurden durch Kredit ersetzt:
Unser Leben wurde finanzialisiert.
»Finanzialisierung« ist ein sperriges Wort, und gäbe es ein eleganteres, so
würde ich es verwenden. Die Finanzialisierung ist jedoch ein zentraler
Bestandteil des neoliberalen Projekts, und es ist nötig, dass wir sie verstehen.
Ökonomen verwenden den Begriff, um vier Veränderungen zu beschreiben, die
in den achtziger Jahren begannen:
1. Die Unternehmen kehrten den Banken den Rücken und wurden selbst auf
den Finanzmärkten aktiv, um ihre Expansion zu finanzieren.
2. Auf der Suche nach neuen Einnahmequellen wandten sich die Banken den
Konsumenten und einer Reihe riskanter, komplexer Aktivitäten zu, die als
Investmentbanking bezeichnet werden.
3. Die Konsumenten wurden direkt in die Finanzmärkte eingebunden:
Kreditkarten, Überziehungsrahmen, Hypotheken, Studiendarlehen und
Autofinanzierungen wurden zu Bestandteilen unseres Alltagslebens. Ein
wachsender Teil der wirtschaftlichen Gewinne wird heute nicht erzielt,
indem Arbeitskräfte eingesetzt oder Güter und Dienstleistungen
bereitgestellt werden, die diese Arbeitskräfte mit ihrem Einkommen
bezahlen. Die Gewinne werden erzielt, indem man den Arbeitskräften das
Geld für den Erwerb der Güter und Dienstleistungen leiht.
4. Alle einfachen finanziellen Transaktionen bringen heute auf einer höheren
Stufe des Systems einen komplexen Finanzmarkt hervor: Jeder Hauskäufer
oder Autobesitzer erzeugt irgendwo im System einen bestimmbaren
finanziellen Ertrag. Ihr Mobiltelefonvertrag, Ihre Mitgliedschaft im
Fitnesscenter, Ihr Vertrag mit dem Stromversorger – alle Ihre regelmäßigen
Zahlungen – werden in Finanzinstrumente verpackt, die stetige Zinsen für
einen Investor abwerfen, lange bevor Sie sich entschließen, diese Dinge zu
kaufen. Und dann schließt jemand, dem Sie nie begegnet sind, eine Wette
darauf ab, ob Sie die Zahlungen leisten werden.

Dieses System wurde möglicherweise nicht gezielt entwickelt, um die Löhne


niedrig zu halten und produktive Investitionen zu hemmen – die neoliberalen
Politiker nehmen für sich in Anspruch, hochwertige Arbeit und Produktivität
zu fördern –, aber nach den Resultaten zu urteilen, gehören Finanzialisierung
und Niedriglöhne ebenso zusammen wie unsichere Arbeitsplätze und
Essensausgaben.
Offiziellen Angaben zufolge stagnieren die Reallöhne von Industriearbeitern
in den Vereinigten Staaten seit dem Jahr 1973. Im selben Zeitraum hat sich die
Gesamtverschuldung der amerikanischen Volkswirtschaft auf 300 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts verdoppelt. Der Anteil des FIRE-Sektors (Finanzen,
Versicherungen und Immobilien) am BIP ist in diesen vier Jahrzehnten von 15
auf 24 Prozent gestiegen, womit dieser Sektor mittlerweile größer als das
verarbeitende Gewerbe und fast so groß wie der Dienstleistungssektor ist.28
Die Finanzialisierung hat auch die Beziehung zwischen Unternehmen und
Banken verändert. In den achtziger Jahren verwandelten sich die
Quartalszahlen in den Grabstein, den der Finanzsektor auf die letzte Ruhestätte
der herkömmlichen Geschäftsmodelle setzte: Unternehmen, deren kurzfristige
Gewinne zu gering ausfielen, wurden gezwungen, Arbeitsplätze ins Ausland zu
verlegen, mit Konkurrenten zu fusionieren, brutale monopolistische Strategien
zu verfolgen, zahlreiche betriebliche Aktivitäten auszulagern – und unablässig
die Löhne zu drücken.
Die Neoliberalen hegen die Wunschvorstellung, alle Welt könne ein vom
Konsum geprägtes Leben führen, ohne dass je die Löhne und Gehälter erhöht
werden müssten. Man kann sich Geld leihen, ohne je pleitezugehen: Wer ein
Haus auf Kredit kauft, kann sich darauf verlassen, dass der Wert der Immobilie
ewig steigen wird. Und es wird immer Inflation geben – wenn man also einen
Kredit aufnimmt, um ein Auto zu kaufen, wird der Wert der Schulden bis zu
dem Zeitpunkt, da man ein neues Auto braucht, zusammengeschmolzen sein,
so dass man genug Spielraum für den nächsten Kredit hat.
Es kam allen Beteiligten zupass, dass jedermann Zugang zum Finanzsystem
erhielt: linksliberale Politiker in den USA konnten darauf verweisen, dass eine
wachsende Zahl von Armen, Schwarzen und Hispanoamerikanern in der Lage
war, eine Hypothek aufzunehmen. Banken und Finanzierungsfirmen wurden
reich, indem sie Kredite an Menschen vergaben, die sich keinen Kredit leisten
konnten. Zudem entstand eine riesige Dienstleistungsindustrie, um die
Bedürfnisse der Reichen zu erfüllen: Floristen, Yogalehrer und Jachtbauer
treten im Schatten der Reichen des 21. Jahrhunderts als Nebendarsteller in
einer billigen Version von Downton Abbey auf. Und dem
Ottonormalverbraucher kam es ebenfalls entgegen: Warum sollte man billiges
Geld ablehnen?
Die Finanzialisierung brachte allerdings zwangsläufig Probleme mit sich.
Diese Probleme verursachten die Krise, aber die Krise löste die Probleme nicht.
Das Papiergeld ist unbegrenzt, aber die Einkommen sind es nicht. Man kann
ewig Geld schöpfen, aber wenn ein immer geringerer Anteil dieses Geldes den
Arbeitskräften zufließt, während ein wachsender Anteil des Profits mit den
Hypotheken- und Kreditkartenrückzahlungen der Arbeitskräfte erzielt wird,
fährt das ganze System irgendwann gegen die Wand. Irgendwann stößt die
Ausweitung der Finanzerträge durch die Kreditvergabe an finanziell
überlastete Konsumenten an ihre Grenzen, und dann brechen die Erträge rasch
ein. Genau das geschah, als die Subprime-Blase auf dem amerikanischen
Hypothekenmarkt platzte.
In den Jahren 2001 bis 2006 schwollen die Hypothekenkredite an
amerikanische Haushalte von 2,2 Billionen Dollar jährlich auf knapp 3
Billionen Dollar an. Das war ein deutlicher, wenn auch nicht unbedingt
gefährlicher Zuwachs. Aber der Umfang der Subprime-Hypotheken, das heißt
jener Kredite, die zu hohen Zinsen an mittellose Personen vergeben wurden,
stieg im selben Zeitraum von 160 Milliarden auf 600 Milliarden Dollar. Und die
bis dahin unbedeutenden »zinsvariablen Hypothekendarlehen« – bei denen die
Tilgungsraten anfangs niedrig sind, im Lauf der Zeit jedoch steigen –
erreichten in den letzten drei Jahren des Booms einen Anteil von 48 Prozent an
allen Krediten. Für diese riskanten, komplexen und nicht tragbaren Darlehen
gab es keinen Markt – bis die Investmentbanken ihn erfanden.29
Womit wir bei einem weiteren inhärenten Problem der Finanzialisierung
sind: Sie zerstört die Beziehung zwischen Ausleihungen und Ersparnissen.30
Eine normale Geschäftsbank verleiht immer mehr Geld, als sie an Einlagen
hält. Wir haben gesehen, wie die Deregulierung die Banken ermutigte, ihre
Rücklagen zu verringern und das System auszutricksen. Aber dieser neue
Prozess – in dem jeder Ertragsstrom in ein komplexeres Produkt verpackt und
auf zahlreiche Investoren verteilt wurde – zwang die Geschäftsbanken, sich
sogar für ihren alltäglichen Betrieb kurzfristiges Kapital auf dem Geldmarkt zu
beschaffen.
Die Folge war ein fataler Wandel im Denken der Bankiers. Die langfristige
Natur der Kreditvergabe (Hypothekendarlehen mit Laufzeiten von 25 Jahren
oder nie getilgte Kreditkartenschulden) wurde zusehends von der kurzfristigen
Natur der Kreditaufnahme abgekoppelt. So erzeugte die Finanzialisierung
jenseits all des Betrugs und der Fehlbewertungen im Bankwesen eine
strukturelle Neigung zu jener Art von plötzlicher Liquiditätskrise, die Lehman
Brothers zerstörte.
In finanzialisierten Gesellschaften führt eine Bankenkrise normalerweise
nicht dazu, dass die Kunden die Banken stürmen, um ihr Geld abzuheben – aus
dem einfachen Grund, dass sie nicht allzu viel Geld auf dem Konto haben. Es
sind die Banken, die Geld auf der Bank haben. Sie haben es in andere Banken
gesteckt. Und wie wir im Jahr 2008 feststellen mussten, steckt ein Großteil
dieses Geldes in wertlosem Papier.
Die hier beschriebenen Probleme können wir nur lösen, indem wir der
Finanzialisierung ein Ende machen. Wenn wir zulassen, dass sie weitergeht,
wird sich im Lauf der Zeit ein immer größerer Teil des Geldes im Finanzsystem
in fiktives Geld verwandeln, und immer mehr Finanzinstitute werden in
Abhängigkeit vom kurzfristigen Kredit geraten.
Politik und Aufsichtsbehörden sind allerdings nicht bereit, diese Maschine
zu demontieren. Im Gegenteil, sie haben sie wieder zusammengesetzt, mit aus
dem Nichts geschaffenen zwölf Billionen Dollar gefüttert und erneut in Gang
gesetzt. Dieselben Faktoren, die den Zyklus von Spekulationsblase und
Zusammenbruch ermöglichten, werden den nächsten derartigen Zyklus
auslösen – sofern es überhaupt zu einem nennenswerten Wachstum kommt.
Der Historiker Fernand Braudel stellte die These auf, der Niedergang aller
großen Wirtschaftsmächte beginne mit einem spektakulären Aufstieg des
Finanzsektors. Nach einer Analyse des Zusammenbruchs des niederländischen
Handelsimperiums im 17. Jahrhundert erklärte er: »Schließlich scheint sich bei
Evolutionen dieser Art mit der Phase des finanziellen Aufblühens ein Stadium
der Reife, gewissermaßen der Herbst, anzukündigen.«31
Die Anhänger der Theorie des »finanziellen Herbstes« sehen dasselbe
Muster in der Geschichte der Republik Genua – im Spätmittelalter das
wichtigste Finanzzentrum der Welt –, der Niederlande des 17. Jahrhunderts
und Londons in der Spätzeit des britischen Empire. In diesen Fällen war jedoch
jeweils die beherrschende Großmacht der Kreditgeber der Welt. Der
Neoliberalismus hat das Muster auf den Kopf gestellt. Heute sind die
Vereinigten Staaten – und der dominierende Westen im Allgemeinen – die
Kreditnehmer.
Auch die Stagnation der Arbeitseinkommen weicht vom langfristigen
Muster ab. Die großen Finanzimperien der vergangenen fünf Jahrhunderte
erzielten Gewinne mit ungleichem Handel, Sklaverei und Wucherkrediten, und
finanzierten mit diesen Einnahmen den heimischen Wohlstand. Die USA
hingegen haben mittels des neoliberalen Systems die Gewinne erhöht, indem
sie ihre eigenen Bürger in die Armut trieben.
Die Wahrheit ist, dass wir mit dem Vordringen des Finanzsektors in unser
Alltagsleben nicht länger nur Sklaven der Maschine und des Acht-Stunden-
Tags sind, sondern uns obendrein in Sklaven der Zinszahlungen verwandelt
haben. Abgesehen davon, dass unsere Arbeitgeber mit unserem Arbeitseinsatz
Profit machen, erzielen die finanziellen Mittelsmänner Profit mit unseren
Schulden. Eine Mutter, die von Sozialhilfe lebt und gezwungen ist, sich mit
Überbrückungskrediten über Wasser zu halten und Haushaltsgüter auf Kredit
zu kaufen, kann eine sehr viel höhere Rendite auf das investierte Kapital
abwerfen als ein festangestellter Arbeiter in der Automobilindustrie.
Sobald jeder Mensch einfach dadurch einen finanziellen Profit abwerfen
kann, dass er konsumiert – und die Ärmsten können den höchsten Profit
abwerfen –, beginnt sich die Haltung des Kapitalismus gegenüber der Arbeit
grundlegend zu wandeln. In Teil II werden wir uns genauer damit beschäftigen.
Für den Augenblick wollen wir lediglich festhalten, dass die Finanzialisierung
ein fester Bestandteil des Neoliberalismus ist. Wie das Fiatgeld führt sie zum
Zusammenbruch – aber das System kann ohne sie nicht funktionieren.
Die Welt ist aus dem Lot

Das unvermeidliche Ergebnis des Neoliberalismus waren die sogenannten


»globalen Ungleichgewichte« in Handel, Ersparnissen und Investitionen. In
den Ländern, die ihre Gewerkschaften zerschlugen, einen Großteil ihrer
produktiven Industrien in Niedriglohnländer verlegten und den Konsum auf
Pump ankurbelten, führte dies zwangsläufig zu wachsenden
Außenhandelsdefiziten, hohen öffentlichen Schulden und einer zunehmenden
Instabilität des Finanzsektors. Die Gurus des Neoliberalismus forderten die
Welt auf, das angelsächsische System zu übernehmen, hofften in Wahrheit
jedoch, dass einige Schlüsselländer das nicht tun würden.
Die Außenhandelsüberschüsse Asiens gegenüber der Welt, Deutschlands
Überschuss im Handel mit dem übrigen Europa, die Bereitschaft der
erdölexportierenden Länder, die Schulden anderer Völker zu übernehmen: all
das waren keine Anomalien. Im Gegenteil: Nur diese Ungleichgewichte
ermöglichten es den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Südeuropa, sich
weit über ihre Möglichkeiten hinaus zu verschulden.
Das bedeutet, dass wir uns von vornherein darüber klar sein müssen, dass
der Neoliberalismus nur existieren kann, weil einige Schlüsselländer ihn eben
nicht übernehmen. Deutschland, China und Japan betreiben
»Neomerkantilismus«, wie ihnen ihre Kritiker vorwerfen. Sie manipulieren
ihre Handels-, Investitions- und Währungspositionen, um riesige
Fremdwährungsreserven anzuhäufen. Diese Überschussländer galten früher als
wirtschaftliche Nachzügler, aber in der Nachkrisenwelt zählen sie zu den
wenigen wirtschaftlich stabilen Ländern. Dass Deutschland Griechenland
demütigende Bedingungen diktieren kann, was bei den Alten, die noch die
Hakenkreuzflagge über der Akropolis flattern sahen, dunkle Erinnerungen
weckt, zeigt deutlich, welche Macht Produzenten, Exporteure und Kreditgeber
nach dem Zusammenbruch des Neoliberalismus haben.
Der wichtigste Maßstab der globalen Ungleichgewichte ist die
Leistungsbilanz, das heißt die Differenz zwischen Ein- und Ausfuhren von
Gütern, Dienstleistungen und Investitionen. Das globale
Leistungsbilanzungleichgewicht wuchs in den neunziger Jahren stetig, aber
erst nach der Jahrtausendwende explodierte es: Zwischen 2000 und 2006 stieg
es von einem auf drei Prozent des globalen BIP. Die höchsten Defizite häuften
die Vereinigten Staaten und weite Teile Europas an, während China,
Deutschland, Japan und das übrige Asien sowie die Erdölexporteure
Überschüsse erzielten.32
Und warum ist das so schlimm? Weil die Ungleichgewichte das leicht
entflammbare Material für die Explosion im Jahr 2008 lieferten, indem sie die
Finanzsysteme der USA, Großbritanniens und Europas mit untragbaren
Schulden belasteten. Sie zwangen Länder wie Griechenland, die nicht in der
Lage waren, sich mit höheren Exporten aus der Krise zu befreien, in eine
tödliche Austeritätsspirale. Und sie luden den meisten neoliberalisierten
Ländern unbezahlbare Staatsschulden auf.
Seit der Krise von 2008 ist das Leistungsbilanzungleichgewicht wieder
zurückgegangen (von 3 auf 1,5 Prozent des BIP). Der Internationale
Währungsfonds sieht keine Gefahr für einen erneuten Anstieg, aber diese
Zuversicht ist nur unter folgenden Bedingungen angebracht: China darf nicht
mehr so stark wachsen wie bisher, und die Vereinigten Staaten dürfen nicht
mehr so viel Kredit aufnehmen und müssen ihre Ausgaben verringern. Die
Ökonomen Florence Pisani und Anton Brender drücken es so aus: »Die einzige
Kraft, die die fortgesetzte Vertiefung der globalen Ungleichgewichte aufhalten
konnte, war der Zusammenbruch des globalisierten Finanzsektors.«33
Die Verringerung der Leistungsbilanzungleichgewichte seit 2008 hat manche
Ökonomen überzeugt, dass die von den Ungleichgewichten heraufbeschworene
Gefahr gebannt ist.34 Aber gleichzeitig ist eine weitere wichtige Kennzahl für
das globale Ungleichgewicht gestiegen: Die Überschussländer haben ihre
Fremdwährungsreserven deutlich erhöht.
Zwar ist das Wirtschaftswachstum Chinas auf sieben Prozent gesunken, und
der Überschuss des Landes im Handel mit dem Westen ist geschrumpft, aber
die chinesischen Fremdwährungsreserven haben sich seit 2008 verdoppelt. Bis
Mitte des Jahres 2014 wuchsen sie auf vier Billionen Dollar an.35 Die globalen
Fremdwährungsreserven stiegen im selben Zeitraum von weniger als acht auf
beinahe zwölf Billionen Dollar.36
Die Ungleichgewichte sind aus zwei Gründen gefährlich. Erstens überfluten
sie die westlichen Volkswirtschaften mit derart viel Kredit, dass das
Finanzsystem zusammenbrechen kann. Das ist bereits geschehen. Zweitens
besteht die strategische Gefahr, dass die Staaten eine Übereinkunft über
Schulden und Wechselkurse schließen, um die aufgestauten Risiken und die
weltweite Instabilität unter Kontrolle zu bringen, und dass dieses System
zusammenbricht. Diese Gefahr besteht weiterhin.
Wenn die Vereinigten Staaten ihre Schulden irgendwann nicht mehr
finanzieren können, wird der Dollar zusammenbrechen – tatsächlich würde
schon der Eindruck, dass diese Möglichkeit besteht, genügen, um den
Zusammenbruch herbeizuführen. Die wechselseitige Abhängigkeit zwischen
China und den USA und in geringerem Maß zwischen Deutschland und der
übrigen Eurozone ist allerdings eine Gewähr dafür, dass der Knopf nie
gedrückt wird.
Was bedeutet der Anstieg der Fremdwährungsreserven seit 2008? Nun, die
Überschussländer schließen immer höhere Versicherungspolicen ab, um sich
gegen einen Zusammenbruch der Vereinigten Staaten abzusichern.
Würden in der Welt nur wirtschaftliche Kräfte wirken, so wäre dieses
Ergebnis akzeptabel: geringes Wachstum oder Stagnation in den
Defizitländern, ein stetiger Wertzuwachs des chinesischen Yuan gegenüber
dem Dollar, ein Wertverlust der amerikanischen Schulden durch die Inflation
und ein geringeres Handelsdefizit der USA, die sich dank des Frackings aus der
Abhängigkeit von ausländischem Erdöl befreien.
Aber die Welt besteht aus verschiedenen Gesellschaftsschichten, Religionen
und Nationen. Bei den Wahlen in mehreren europäischen Ländern gewannen
im Jahr 2014 Parteien, die versprochen hatten, das globale System zu
zerschlagen, ein Viertel der Stimmen (oder mehr). So geschehen in Dänemark,
Frankreich, Griechenland und Großbritannien. Im Jahr 2015 stellte der
Wahlsieg der Linksextremen in Griechenland den Zusammenhalt der Eurozone
infrage. Dazu kommt, dass der Westen aufgrund der Ukrainekrise zum ersten
Mal seit Beginn der Globalisierung ernsthafte Handels- und Finanzsanktionen
gegen Russland verhängt hat. Im Nahen Osten wütet zwischen Islamabad und
Istanbul ein Flächenbrand, und die von einem erbitterten Währungskrieg
begleitete militärische Rivalität zwischen China und Japan ist heute so groß
wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr.
Um die gesamte globale Ordnung in die Luft zu jagen, müssten sich nur ein
oder zwei große Länder zum »Ausstieg« entschließen und protektionistische
Maßnahmen ergreifen, ihre Währung manipulieren oder den Schuldendienst
aussetzen. Und die Wahrscheinlichkeit, dass genau das geschieht, ist groß, da
die Republikanische Partei mittlerweile unverhohlen davon spricht, die
Vereinigten Staaten auf diesen Weg zu führen.
Die Ungleichgewichte sind ein fester Bestandteil der Globalisierung und
wurden durch die Finanzkrise lediglich verringert.
Machen wir uns klar, was das bedeutet: In ihrer gegenwärtigen Form hat die
Globalisierung einen Designfehler. Wenn sie für hohes Wachstum sorgt, dann
nur, indem sie untragbare Verzerrungen verursacht, die nur durch
Finanzkrisen korrigiert werden können. Um die Verzerrungen – die
Ungleichgewichte – zu verringern, muss man das neoliberale
Wirtschaftswachstum in seiner normalen Form unterdrücken.
Die Informationstechnologierevolution

Das einzig Positive, das man all diesen schädlichen Entwicklungen


gegenüberstellen kann, ist die technologische Revolution, die vom
Neoliberalismus herbeigeführt wurde und der Wirtschaftskrise zum Trotz
unaufhaltsam voranschreitet. »Die Informationsgesellschaft«, schreibt der
Philosoph Luciano Floridi, »wurde von der am schnellsten wachsenden
Technologie in der Geschichte hervorgebracht. Noch nie war eine Generation
einer derart rasant wachsenden Macht der Technik über die Realität ausgesetzt,
einer Macht, die einen beispiellosen sozialen Wandel ermöglicht hat und große
ethische Verantwortung mit sich bringt.«37
Es war der Anstieg der Rechenleistung der Computer, der die Entstehung
eines komplexen globalen Finanzsystems ermöglichte. Da digitale Systeme
Schritt für Schritt das Bargeld überflüssig machten, konnte die Geldmenge
deutlich erhöht werden. Die neuen Technologien erleichterten die Verlegung
der Produktion in Schwellenländer mit geringeren Arbeitskosten. Die
Ansprüche an die Fähigkeiten der Fachkräfte sanken, angelernte Arbeitskräfte
wurden überflüssig, und die Zahl geringqualifizierter Dienstleistungsjobs stieg
rasch.
Die Informationstechnologie ist die »charakteristische Technologie unserer
Zeit«, wie Floridi erklärt. Und sie ist ein Zauberkünstler, der Dinge
verschwinden lässt: Es tauchen Zentralrechner auf, nur um kurze Zeit später
durch Server ersetzt zu werden, die ihrerseits aus den Firmensitzen
verschwinden und mittlerweile irgendwo in riesigen Rechenzentren stehen.
Die Siliziumchips werden immer kleiner, die Peripheriegeräte, die noch vor
wenigen Jahren unsere Schreibtische bevölkerten – Modems, Festplatten,
Disketten –, schrumpfen stetig, um schließlich weggezaubert zu werden. Die
EDV-Abteilungen der Unternehmen entwickeln anwendereigene Software, die
dann durch Lösungen von der Stange ersetzt werden, die ein Zehntel kosten.
Und bald lösen sich auch die EDV-Abteilungen auf und werden durch
Callcenter in Mumbai ersetzt. Aus dem PC wird der Laptop. Der Laptop wird
kleiner und leistungsfähiger, was jedoch nichts daran ändert, dass er dem
Smartphone und dem Tablet weichen muss.
Anfangs wurde die neue Technologie in die alten Strukturen des
Kapitalismus integriert. In den neunziger Jahren galt in der
Informationstechnologie der Grundsatz, dass die teuerste Software – die ERP-
Software – »wie Spachtelmasse geformt werden kann, aber dann hart wie
Beton wird«: War der Produktionsablauf endlich computerisiert, so war die
Innovation in der Zwischenzeit derart weit vorangeschritten, dass man alles
wieder zerlegen und von vorne anfangen musste.
Aber etwa im Jahr 2004 machten das Internet und die mobile
Datenverarbeitung neue Geschäftsmodelle möglich: Wir nannten es Web 2.0.
Nun begann sich auch das Verhalten großer Bevölkerungsgruppen deutlich zu
verändern. Es wurde normal, mit Karten zu bezahlen. Es wurde normal, sein
ganzes Privatleben für alle Ewigkeit ins Internet zu stellen. Es wurde normal,
online einen Überbrückungskredit mit einem Jahreszinssatz von tausend
Prozent aufzunehmen.
Anfangs gingen wir davon aus, der atemberaubende technologische
Fortschritt rechtfertige all das Leid, das wir auf uns genommen hatten, um den
freien Markt zu bekommen. Der unausgesprochene Gedankengang war, dass
die britischen Bergleute ihre Arbeitsplätze verlieren mussten, damit wir
Facebook bekommen konnten. Die Telefongesellschaften mussten privatisiert
werden, damit wir 3G-Handys bekommen konnten.
Vor allem aber änderte sich das Leben der Menschen. Der wichtigste
Baustein des Neoliberalismus – der individualisierte Arbeitnehmer und
Konsument, der sich jeden Morgen von Neuem als »Humankapital« erschafft
und sich in einen erbitterten Wettbewerb mit den anderen Anbietern dieses
Kapitals stürzt – wäre ohne die Vernetzungstechnologie nicht möglich
gewesen. Die Prognose des Philosophen Michel Foucault, die Technologie
werde den Menschen zum »Unternehmer seiner selbst« machen – war
tatsächlich visionär, stellte Foucault sie doch zu einer Zeit auf, als das Einzige,
was irgendeine Ähnlichkeit mit dem Internet hatte, ein öffentlicher
französischer Online-Dienst namens Minitel war, an dem man mittels klobiger
Terminals teilnehmen konnte.38
Das Versprechen lautete, die neue Technologie werde eine
Informationstechnologie und eine Wissensgesellschaft hervorbringen.
Tatsächlich sind beide entstanden – wenn auch nicht in der erwarteten Form.
In den Antiutopien ist es die Technologie, die rebelliert (zum Beispiel der
widerspenstige Computer Hal in 2001: Odyssee im Weltraum). In der Realität
hat das Netz die Rebellion der Menschen möglich gemacht.
Zuerst versetzte es sie in die Lage, Wissen außerhalb der in der Ära des
Industriekapitalismus entstandenen Kanäle zu produzieren und zu
konsumieren. Deshalb bemerkten wir die Umwälzung zuerst in den Medien
und in der Musik. Und der Staat verlor plötzlich sein Monopol auf politische
Propaganda und Ideologie.
Dann begann das Internet, die überkommenen Konzepte von Eigentum und
Privatsphäre auszuhöhlen. Wikileaks und die Kontroverse über die
massenhafte Datensammlung der NSA sind lediglich eine weitere Phase in
einem Krieg, in dem es um die Frage geht, wer die Informationen besitzen und
aufbewahren darf. Doch die bedeutsamste Auswirkung der neuen
Technologien beginnen wir jetzt erst zu verstehen.
Der Erste, der sich vor hundert Jahren mit dem »Netzwerkeffekt« befasste,
war Theodore Vail, der Chef von Bell Telephone. Vail erkannte, dass
Netzwerke einen Zusatznutzen erzeugen, und zwar kostenlos. Neben den
Vorteilen für den Benutzer des Telefons und den Einnahmen für den
Eigentümer war da noch etwas: Je mehr Menschen sich dem Netzwerk
anschließen, desto nützlicher wird es für alle Beteiligten.
Allerdings ist es schwierig, den zuletzt genannten Nutzen zu messen. Robert
Metcalfe, der Erfinder des Ethernet, bezifferte den Wert eines Netzwerks im
Jahr 1980 auf »die Zahl der Nutzer zum Quadrat«. Während die Kosten des
Aufbaus eines Netzwerks linear steigen, erhöht sich sein Wert exponentiell.39
Die Kunst der Geschäftstätigkeit in einer Wissensökonomie besteht also darin,
alles zwischen der geraden Linie und der exponentiell steigenden Kurve
abzugreifen.
Aber wie messen wir den Wert? An der Kostenersparnis, an den Einnahmen
oder am Gewinn? Im Jahr 2013 einigten sich die Ökonomen der OECD darauf,
dass man diesen Wert nicht anhand der herkömmlichen Maßstäbe bestimmen
könne. »Die Auswirkungen des Internets auf die Markttransaktionen und die
Wertschöpfung sind zweifellos weitreichend«, erklärten sie, »aber seine
Auswirkungen auf die Nicht-Marktinteraktionen […] sind noch
bedeutsamer.«40
Volkswirte neigen dazu, die Nicht-Marktinteraktionen außer Acht zu lassen:
Schließlich sind diese definitionsgemäß nichtökonomisch und damit so
unbedeutend wie das Lächeln, das zwei Starbucks-Kunden in der Schlange vor
der Theke austauschen. Was den Netzwerkeffekt anbelangt, so nahmen die
Ökonomen an, sein Nutzen komme in niedrigeren Preisen zum Ausdruck und
werde zwischen Produzenten und Konsumenten aufgeteilt. Jedenfalls haben die
Netzwerktechnologien innerhalb von nicht einmal drei Jahrzehnten ganze
Bereiche des Wirtschaftslebens für die Kooperation und Produktion jenseits
des Marktes geöffnet.
Die am 15. September 2008 auf die Zentrale von Lehman Brothers
gerichteten Nokias und Motorolas und das kostenlose Wifi-Signal in der
Starbucks-Filiale gegenüber waren ebenso bedeutsam wie die Bank, die
zusammengebrochen war. Sie übermittelten uns das deutlichste Marktsignal
aus der Zukunft: Die Informationstechnologie ist möglicherweise nicht mit einer
Marktwirtschaft vereinbar, zumindest nicht mit einer Wirtschaft, die in erster
Linie von den Marktkräften reguliert wird.
Das ist der eigentliche Grund für den Zusammenbruch und den komatösen
Zustand des Neoliberalismus. All das Geld, das in den vergangenen 25 Jahren
geschaffen wurde, all die Geschwindigkeit und Dynamik des Finanzsektors
müssen der Möglichkeit gegenübergestellt werden, dass der Kapitalismus, ein
auf den Märkten, dem Grundbesitz und den Börsen beruhendes System, den
von der neuen Technologie erzeugten »Wert« nicht erfassen kann. Mit
anderen Worten: Es wird immer deutlicher, dass Informationsgüter nicht mit
den Marktmechanismen vereinbar sind.
Das Zombiesystem

Sehen wir uns an, welchen Ausweg es für den Kapitalismus geben könnte.
Nehmen wir an, in den nächsten zehn Jahren ziehen sich die Zentralbanken
geordnet aus der lockeren Geldpolitik zurück. Sie verzichten darauf, Geld zu
drucken, um die Staatsschulden abzuschreiben, und der private Markt für
Staatsanleihen, der ein Jahrzehnt lang unterdrückt war, erholt sich. Die Staaten
einigen sich darauf, auf den Finanzmärkten keine Exzesse mehr zuzulassen:
Von nun an reagieren die Zentralbanken auf jede Spekulationsblase mit einer
Zinserhöhung; die unausgesprochene Garantie der Bankenrettung wird für
immer abgeschafft. Auf allen anderen Märkten – auf Kredit-, Aktien- und
Derivatemärkten – greifen folglich die Korrekturmechanismen, da sich das
erhöhte Risiko von Finanzanlagen in den Bewertungen niederschlägt. Das
Kapital wird der Finanzspekulation entzogen und fließt wieder produktiven
Zwecken zu.
Schließlich müsste die Welt zu einem Währungssystem zurückkehren, in
dem die Wechselkurse an eine vom IWF verwaltete Weltwährung gekoppelt
wären, und der chinesische Yuan würde eine frei handelbare Reservewährung
wie der Dollar werden. Auf diese Art könnte die systematische Bedrohung
unter Kontrolle gebracht werden, die vom Fiatgeld ausgeht, nämlich der
Mangel an Glaubwürdigkeit angesichts der Gefahr eines Endes der
Globalisierung. Aber das hätte seinen Preis: Die globalen Ungleichgewichte
würden auf Dauer beseitigt, was eine Aufwertung der Währungen der
Überschussländer zur Folge hätte, die damit natürlich ihren Vorteil niedriger
Lohnkosten verlieren würden.
Gleichzeitig müsste die Finanzialisierung rückgängig gemacht werden. Den
Banken und den mit ihnen verbundenen Politikern müsste die Macht entzogen
werden, um Industrie und Dienstleistungen in den Westen zurückzuholen und
in diesen Ländern gut bezahlte Arbeitsplätze zu schaffen. So würde die
finanzielle Komplexität sinken, die Einkommen würden steigen, und der Anteil
des Finanzsektors an der Wirtschaftsleistung würde ebenso sinken wie unsere
Abhängigkeit vom Kredit.
Die weitblickenden Mitglieder der globalen Elite wissen, dass dies die einzige
Lösung ist: Stabilisierung des Fiatgelds, Abkehr von der Finanzialisierung und
Beseitigung der Ungleichgewichte. Aber die gesellschaftlichen und politischen
Hindernisse sind hoch.
Zunächst einmal sträuben sich die Reichen dagegen, Löhne und Gehälter der
Arbeitnehmer anzuheben und den Finanzmarkt an die Leine zu nehmen. Sie
wollen genau das Gegenteil. Zweitens gäbe es auch unter den Ländern
Gewinner und Verlierer: Die herrschende Elite Deutschlands profitiert von der
Schuldenkolonisierung Griechenlands und Spaniens, die Herrschaftselite
Chinas profitiert davon, den Zugang zu einem riesigen Reservoir billiger
Arbeitskräfte zu kontrollieren. Die Eliten haben großes Interesse daran, den
Fluchtweg zu versperren.
Das größte Problem ist jedoch ein anderes: Damit die Kurskorrektur
funktionieren kann, müssten gewaltige unbezahlbare Staatsschulden sowie ein
großer Teil der Schulden von Haushalten und Unternehmen in aller Welt
abgeschrieben werden.
Aber dafür gibt es kein globales System. Schreibt man die Schulden der
Vereinigten Staaten ab, so verlieren chinesische Sparer. Das käme einem Bruch
der Vereinbarung zwischen Asien und dem Westen gleich: Ihr borgt euch Geld,
wir verleihen Geld. Schreibt man die Schulden Griechenlands bei der EU ab,
verlieren die deutschen Steuerzahler Dutzende Milliarden.
Selbst wenn ein friedlicher Kurswechsel gelänge, würde er zu einem völligen
Zusammenbruch der Globalisierung führen.
Und natürlich würde er nicht friedlich ablaufen.
Russland versucht seit 2014, die westlichen Länder wirtschaftlich zu
schwächen und nicht mit ihnen zu kooperieren. China kann trotz seines
Bemühens, friedfertige Macht zu demonstrieren, nicht tun, was die Vereinigten
Staaten am Ende des Zweiten Weltkriegs taten: die Schulden der Welt
übernehmen, klare Regeln aufstellen und ein neues globales Währungssystem
entwickeln.
Und im Westen sind keine Anzeichen für eine Strategie zu sehen, die
Ähnlichkeit mit der hier beschriebenen hätte. Es gibt Anregungen – von den
schwärmerischen Vorstellungen des französischen Ökonomen Thomas Piketty
bis zur Forderung der Bundesbank nach Lohnerhöhungen in Europa –, aber in
der Praxis bleiben die dominierenden Kräfte dem Neoliberalismus verpflichtet.
Da der Kurswechsel ausbleiben wird, müssen wir uns auf lange Jahre der
Stagnation einstellen.
Im Jahr 2014 veröffentlichte die OECD ihre Prognose für die Entwicklung
der Weltwirtschaft bis zum Jahr 2060.41 Das globale Wirtschaftswachstum
wird sich nach Ansicht der Organisation auf 2,7 Prozent pro Jahr
verlangsamen, da die Effekte der Aufholjagd, die die Ökonomien der
Entwicklungsländer angekurbelt haben – Bevölkerungswachstum, Bildung,
Verstädterung –, nachlassen werden. Und schon bevor es so weit ist, wird die
Weltwirtschaft gerade einmal um drei Prozent jährlich wachsen, weil die
entwickelten Länder nahezu stagnieren. Damit wird das Wachstum in
absehbarer Zukunft sehr viel geringer ausfallen als vor der Krise.
Da gleichzeitig angelernte Tätigkeiten automatisiert werden und nur die
hochbezahlten und geringqualifizierten übrig bleiben, wird die globale
Ungleichheit um vierzig Prozent zunehmen. Im Jahr 2060 wird die
Ungleichverteilung in Ländern wie Schweden so ausgeprägt sein wie
gegenwärtig in den Vereinigten Staaten. Dazu kommt die sehr reale Gefahr,
dass der Klimawandel beginnen wird, Küstengebiete und landwirtschaftliche
Nutzflächen zu zerstören, was das BIP weltweit um bis zu 2,5 Prozent und in
Südostasien sogar um sechs Prozent verringern könnte.
Der erschreckendste Teil des OECD-Berichts sind jedoch nicht die
Prognosen, sondern die Annahmen: Die Organisation geht davon aus, dass die
Produktivität durch den Einsatz von Informationstechnologie rasant steigen
wird. Bis zum Jahr 2060 dürften drei Viertel des Wirtschaftswachstums auf die
Produktivitätssteigerungen entfallen. Allerdings ist der angenommene Wert,
wie es in dem Bericht euphemistisch heißt, »hoch verglichen mit den in der
jüngeren Geschichte beobachteten«.
Tatsächlich ist keinesfalls sicher, dass die Informationsrevolution der
vergangenen zwanzig Jahre Wachstum und Produktivitätszuwächse von der
Art hervorbringen wird, die anhand von Marktkennzahlen gemessen werden
kann. Sollte es anders kommen, besteht die große Gefahr, dass das Wachstum
in den kommenden fünfzig Jahren nicht jene dürftigen drei Prozent erreichen
wird, welche die OECD erwartet, sondern dass wir uns eher auf einen
erbärmlichen Wert wie 0,75 Prozent werden einstellen müssen.
Und dann ist da das Problem der Migration. Damit das Wachstumsszenario
der OECD funktionieren kann, müssten Europa und die Vereinigten Staaten bis
zum Jahr 2060 jeweils fünfzig Millionen und die übrige entwickelte Welt
weitere dreißig Millionen Zuwanderer aufnehmen. Ohne diese Immigranten
werden Erwerbsbevölkerung und Steuereinnahmen der westlichen Länder
derart sinken, dass die Staaten pleitegehen. Und wie die 25 Prozent
Stimmenanteil des Front National in Frankreich und die Angriffe bewaffneter
Rechtsextremer auf mexikanische Einwandererkinder an der kalifornischen
Grenze zeigen, besteht die Gefahr, dass die Bevölkerung der reichen Länder die
Zuwanderung nicht akzeptieren wird.
Versuchen wir, uns die von der OECD für das Jahr 2060 prognostizierte Welt
auszumalen: In Los Angeles und Detroit erstrecken sich wie im heutigen
Manila Elendsviertel rund um streng bewachte Hochhäuser. Stockholm und
Kopenhagen sehen aus wie die verfallenden Industriestädte im amerikanischen
Rostgürtel. Arbeitskräfte mit mittlerem Einkommen gibt es nicht mehr. Der
Kapitalismus ist im vierten Jahrzehnt der Stagnation angekommen.
Aber selbst diese strahlende Zukunft ist nach Ansicht der OECD nur
möglich, wenn wir den Arbeitsmarkt »flexibler gestalten« und die
Globalisierung der Wirtschaft vorantreiben. Wir werden die höhere Bildung
privatisieren müssen, denn viele Staaten würden in den Ruin schlittern,
würden sie ihr Bildungswesen in dem Maß ausweiten, das nötig wäre, um die
steigende Nachfrage nach Hochschulabsolventen zu befriedigen. Und wir
müssen Dutzende Millionen Zuwanderer in die entwickelte Welt integrieren.
Und all diese Probleme werden die Staaten vermutlich ohne die
Finanzierungsmöglichkeiten bewältigen müssen, die ihnen gegenwärtig zur
Verfügung stehen. Laut OECD wird das Auseinanderdriften der Bevölkerung in
Gruppen mit entweder sehr hohem oder sehr niedrigem Einkommen die
Steuereinnahmen wegschmelzen lassen. Statt der Einkommen werden wir also
die Vermögen besteuern müssen, wie Thomas Piketty vorschlägt. Das Problem
ist: Selbst wenn jemand den Willen aufbrächte, Vermögenssteuern zu erheben
(was derzeit nicht der Fall ist), werden Vermögenswerte – seien es Rennpferde,
geheime Bankkonten oder die Urheberrechte an Markenzeichen –
normalerweise dort angemeldet, wo es keine solchen Steuern gibt.
Wenn sich nichts ändert, ist nach Ansicht der OECD davon auszugehen,
dass die westlichen Volkswirtschaften stagnieren, die Schwellenländer
langsamer wachsen und viele Staaten bankrottgehen werden.
Das Wahrscheinlichste ist daher, dass ein oder mehrere Länder irgendwann
aus der globalisierten Wirtschaft aussteigen werden. Sie werden
protektionistische Maßnahmen ergreifen, den Schuldendienst einstellen und
ihre Währungen manipulieren. Oder eine Entglobalisierungskrise infolge
diplomatischer und militärischer Konflikte greift auf die Weltwirtschaft über
und führt zu denselben Ergebnissen.
Der OECD-Bericht führt uns vor Augen, dass wir das System vollkommen
umbauen müssen. Die am besten ausgebildete und vernetzte Generation in der
Geschichte der Menschheit wird sich nicht mit einer Zukunft der Ungleichheit
und der wirtschaftlichen Stagnation abfinden.
Statt einer chaotischen Entglobalisierung, jahrzehntelanger Stagnation und
wachsender Ungleichheit brauchen wir ein neues Wirtschaftsmodell. Und
utopisches Denken wird nicht genügen, um ein solches Modell zu entwickeln.
Keynes' große Leistung bestand Mitte der dreißiger Jahre des vergangenen
Jahrhunderts darin, dass er verstand, was die Krise über das bestehende System
verriet: Es galt, ein funktionstüchtiges neues Modell zu entwickeln, um die
beharrlichen Mängel des alten zu korrigieren, Mängel, welche die
tonangebenden Ökonomen nicht sehen konnten.
Dieses Mal haben wir ein noch größeres Problem.
Die zentrale These dieses Buchs lautet, dass die langfristige Stagnation nicht
einfach das Ergebnis der Finanzkrise und der demografischen Entwicklung ist.
Hinzu kommt nämlich, dass die Informationstechnologie die Marktkräfte ihrer
Fähigkeit beraubt hat, die wirtschaftliche Dynamik anzuregen. Stattdessen
schafft sie die Bedingungen für eine postkapitalistische Wirtschaft. Es besteht
die Möglichkeit, dass der Kapitalismus diesmal nicht wie seinerzeit mit Keynes'
radikalen politischen Eingriffen »gerettet« werden kann. Der Grund dafür ist,
dass sich die technologischen Grundlagen geändert haben.
Bevor wir also einen »Grünen New Deal«, die Verstaatlichung der Banken,
kostenlose Hochschulen oder dauerhafte Nullzinsen fordern, müssen wir
herausfinden, ob und wie diese Eingriffe in das entstehende Wirtschaftssystem
passen. Leider sind wir sehr schlecht gerüstet, um das herauszufinden. Eine
Wirtschaftsordnung ist beschädigt, aber die herkömmliche
Wirtschaftswissenschaft hat keine Ahnung, wie groß der Schaden ist.
Wir brauchen einen Ausgangspunkt für die Neuausrichtung, doch das Bild
des »finanziellen Herbstes eines Imperiums im Niedergang« ist zu unbestimmt,
und die Theorie der Zyklen von Expansion und Krise ist zu beschränkt.
Stattdessen brauchen wir eine Theorie, die erklärt, warum der Kapitalismus in
den vergangenen zwei Jahrhunderten mehrere Metamorphosen durchgemacht
hat und wie genau der technologische Wandel die Batterien des
kapitalistischen Wachstums wieder auflädt.
Wir brauchen eine Theorie, welche die gegenwärtige Krise in ein Gesamtbild
des Schicksals des Kapitalismus einordnet. Die Suche danach wird uns über die
Grenzen der herkömmlichen Volkswirtschaftslehre und weit über die
herkömmliche marxistische Theorie hinausführen. Die Geschichte beginnt im
Jahr 1938 in einer Gefängniszelle in Russland.
2
Lange Wellen, kurzes Gedächtnis

Eine Welle ist schön. Das Rauschen der Wellen, die sich am Strand brechen, ist
ein Beleg dafür, dass es in der Natur Ordnung gibt.
Noch schöner ist die Physik einer Welle: Hier zeigt Materie die Neigung zur
Umkehr: Die Energie, die den Anstieg der Welle bewirkt, ist dieselbe, die sie
brechen lässt.
Und wirklich faszinierend wird die Wellenform, wenn man sich ihre
mathematischen Eigenschaften ansieht. Vor 1500 Jahren entdeckte ein
indischer Mathematiker, dass man, wenn man alle möglichen Verhältnisse
zwischen zwei Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks grafisch darstellt, ein
wellenartiges Muster erhält. Mittelalterliche Gelehrte bezeichneten dies als
»Sinus« (Krümmung). Heute bezeichnen wir die sanften, wiederholten Wellen,
die wir in der Natur beobachten können, als Sinuswellen. Elektrischer Strom
fließt in Form einer Sinuswelle, und dasselbe gilt für Schall und Licht.
Sodann gibt es Wellen innerhalb von Wellen. Für einen Surfer scheinen die
Wellen in Gruppen zu kommen und zu wachsen: Die sechste oder siebte ist die
große Welle, auf der der Surfer reiten will. Tatsächlich ist dieses Phänomen
einfach das Ergebnis einer längeren, flacheren Welle, die sich »durch« die
kürzeren bewegt.
Diese Beziehung zwischen langen und kurzen Wellen erzeugt in der Akustik
Ordnung. In der Musik verleiht die Harmonie, die von kürzeren Wellen
innerhalb von längeren erzeugt wird, den einzelnen Instrumenten ihren
besonderen Klang; die Musik ist harmonisch, wenn sich lange und kurze
Wellen in einer bestimmten mathematischen Proportion zueinander befinden.
In der Natur sind Wellen allgegenwärtig. Auf subatomarer Ebene verrät uns
nur die wellenartige Bewegung eines Teilchens, dass es existiert. Aber Wellen
gibt es auch in großen, komplexen und unnatürlichen Systemen, etwa in
Märkten. Für Analysten, die Aktienmärkte untersuchen, ist die Welle so etwas
wie eine religiöse Ikone: Anhand hochentwickelter Werkzeuge filtern diese
Experten den »Lärm« der täglichen Marktschwankungen heraus, um
vorhersehbare Kurven zu erzeugen. »Wellenberge« und »Wellentäler« sind
mittlerweile feste Bestandteile der wirtschaftswissenschaftlichen Sprache.
In der Ökonomie kann die Wellenform allerdings auch gefährlich werden.
Sie kann Ordnung und Regelmäßigkeit vorgaukeln, wo es keine gibt. Eine
Schallwelle ebbt einfach ab, und es tritt Stille ein. Mit Zufallsdaten erzeugte
Wellen werden im Lauf der Zeit verzerrt. Und das Wirtschaftsleben besteht aus
komplexen, zufälligen Ereignissen, nicht aus Wellen.
Während des letzten Aufschwungs scheiterten die Experten für
Wellendiagramme an der Aufgabe, den Abschwung vorauszusagen. Wären sie
Surfer gewesen, so müsste man sagen, dass sie nicht die Gruppen, sondern die
einzelnen Wellen betrachteten. Sie betrachteten Wellengruppen statt
Gezeitenströmungen, und Gezeiten statt des Tsunami, der auf sie zurollte.
Einen Tsunami stellen wir uns als eine hohe Welle vor, als eine Wand aus
Wasser. In Wahrheit ist ein Tsunami eine lange Welle, die anschwillt und
weiterrollt.
Für den Mann, der ihre Existenz in der Wirtschaft entdeckte, waren die
langen Wellen tödlich.
Vor dem Erschießungskommando

Der Häftling schlurft, er kann nicht gehen. Er ist halb blind, leidet unter einer
chronischen Herzkrankheit und klinischer Depression. »Ich kann mich einfach
nicht zum systematischen Denken zwingen«, schreibt er in einem Brief. »Ohne
aktive Arbeit mit Material und Büchern und aufgrund der Kopfschmerzen fällt
es mir sehr schwer, überhaupt wissenschaftlich zu denken.« 1
Als er diesen Brief schrieb, hatte Nikolai Kondratjew bereits acht Jahre als
politischer Häftling in einem Gefängnis östlich von Moskau verbracht. Er
durfte nur Bücher und Zeitungen lesen, die von Stalins Geheimpolizei
genehmigt worden waren. Er hatte in den eisigen Wintern gefroren und in den
schwülen Sommern geschwitzt, aber sein Leiden sollte bald ein Ende haben.
Am 17. September 1938, am Tag, als seine Haftzeit endete, wurde Kondratjew
ein zweites Mal angeklagt, im Eilverfahren wegen »antisowjetischer Umtriebe«
zum Tode verurteilt und in seiner Einzelzelle von einem
Erschießungskommando hingerichtet.
So endete einer der bedeutendsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts.
Kondratjew stand auf einer Stufe mit einflussreichen Denkern wie Keynes,
Schumpeter, Hayek und Gini. Seine »Verbrechen« waren frei erfunden: Die
subversive »Landarbeiterpartei«, die er angeblich anführte, existierte nicht.
Das wirkliche Verbrechen Kondratjews bestand in den Augen des Regimes
darin, dass er das für die Marxisten Undenkbare gedacht hatte: Der
Kapitalismus, so Kondratjew, würde an keiner Krise zugrunde gehen, sondern
mit Mutationen darauf reagieren und sich immer von Neuem anpassen. In zwei
bahnbrechenden Arbeiten hatte er große Datenmengen ausgewertet und
gezeigt, dass sich hinter den kurzfristigen Konjunkturzyklen längere Wellen
verbargen, die sich jeweils über ein halbes Jahrhundert erstreckten und deren
Wendepunkte mit bedeutsamen strukturellen Veränderungen im Kapitalismus
sowie mit großen Konflikten zusammenfielen. Hinter diesen extremen Krisen,
in denen das wirtschaftliche Überleben auf dem Spiel stand, steckte also nicht
Chaos, sondern Ordnung. Kondratjew war der Erste, der die langen Wellen in
der Wirtschaftsgeschichte nachwies.
Obwohl seine Entdeckung später als »Wellentheorie« bekannt wurde,
bestand Kondratjews größte Leistung darin, dass er verstand, warum die
Weltwirtschaft plötzliche Veränderungen durchmacht, warum der
Kapitalismus in strukturelle Krisen gerät und wie er sich in Reaktion auf diese
Krisen wandelt. Kondratjew erklärte, warum jahrzehntealte wirtschaftliche
Ökosysteme plötzlich zusammenbrechen können. Er verwendete statt des
Begriffs der »Welle« den Terminus des »langen Zyklus«, weil man auf den
Zyklen im wissenschaftlichen Denken eine sehr nützliche Subterminologie
aufbauen kann: Wir sprechen von Phasen, Zuständen und ihrer plötzlichen
Alternanz.
Kondratjew studierte den Industriekapitalismus. Mittlerweile glauben
Ökonomen, auch in der Preisentwicklung lange Wellen gefunden zu haben, die
bis ins Mittelalter zurückreichen, aber Kondratjews Datenreihe beginnt mit der
industriellen Revolution in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts.
Kondratjews Theorie besagt, dass sich jeder lange Zyklus aus einem
Aufschwung von etwa 25 Jahren, der durch die Entwicklung neuer
Technologien und einen hohen Kapitaleinsatz ermöglicht wird, und einem
etwa genauso langen Abschwung zusammensetzt, der mit einer tiefen
Rezession endet. In der »Aufwärtsphase« sind Rezessionen selten, in der
»Abwärtsphase« sind sie häufig. In der Aufwärtsphase fließt das Kapitel in
produktive Aktivitäten, in der Abwärtsphase bleibt es im Finanzsystem
hängen.
Die Theorie beinhaltet noch viel mehr, doch dies ist ihre Grundaussage.
Kondratjew analysierte die Daten durchaus richtig, aber in diesem Kapitel
werde ich erklären, dass die gegenwärtige Krise das Muster durchbricht – und
das ist ein Hinweis darauf, dass wir es in der gegenwärtigen Krise nicht einfach
mit dem Ende eines weiteren Fünfzig-Jahres-Zyklus zu tun haben.
Kondratjew selbst äußerte sich sehr zurückhaltend zu den Implikationen
seiner Theorie. Er behauptete nie, Entwicklungen vorhersagen zu können –
obwohl er die Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre bereits ein Jahrzehnt
zuvor angekündigt hatte. Wenn er seine Ergebnisse veröffentlichte, sorgte er
stets dafür, dass sie parallel einer harschen Kritik durch Kollegen unterzogen
wurden. 2
Das sowjetische Regime verstand allerdings sehr gut, was Kondratjews
Theorie bedeutete. Die Kommunisten begriffen, dass diese Erkenntnisse in
letzter Konsequenz dem marxistischen Dogma widersprachen: Würde es
vielleicht nie eine Krise geben, die das Ende des Kapitalismus besiegeln würde?
Wenn Kondratjews Theorie zutraf, so führten Chaos, Panik und Revolution
nicht zum Zusammenbruch, sondern zur Mutation des Kapitalismus. Gewaltige
Mengen an Kapital mochten zerstört werden, Imperien konnten sich in
globalen Kriegen auflösen. Aber das System würde überleben – wenn auch in
einer anderen Form.
Gleichermaßen bedrohlich für den orthodoxen Marxismus der zwanziger
Jahre war Kondratjews Erklärung für die Ursachen der Transformation. Die
Ereignisse, die zu einer Wende führen – Kriege, Revolutionen, die Entdeckung
neuer Rohstoffvorkommen und neue Kolonien –, waren in seinen Augen
lediglich Effekte der wirtschaftlichen Anforderungen. Die Menschheit
versucht, die Wirtschaftsgeschichte zu gestalten, ist diesen Kräften jedoch
langfristig wehrlos ausgeliefert.
Eine Weile übte die Theorie der langen Zyklen beträchtlichen Einfluss auf
die westliche Wirtschaftswissenschaft aus. Der österreichische Ökonom Joseph
Schumpeter entwickelte eine eigene Theorie der Wirtschaftszyklen und führte
den Begriff des »Kondratjew-Zyklus« ein. Als sich der Kapitalismus nach dem
Zweiten Weltkrieg stabilisierte, schien die Theorie allerdings ihren Nutzen zu
verlieren. Die Ökonomen gelangten zu der Überzeugung, das Auf und Ab der
Wirtschaftsentwicklung könne mit staatlichen Eingriffen ausgeglichen werden.
Paul Samuelson, der Guru der keynesianischen Wirtschaftstheorie, bezeichnete
die Fünfzig-Jahres-Zyklen geringschätzig als »Science-Fiction«. 3
Auch die Vertreter der Neue Linken, die in den sechziger Jahren versuchte,
den Marxismus als kritische Sozialwissenschaft zu neuem Leben zu erwecken,
konnten wenig mit Kondratjew und seinen Wellen anfangen: Schließlich
waren sie nicht darauf aus zu beweisen, dass der Kapitalismus überleben
würde, sondern darauf, dass er dem Untergang geweiht war.
Nur ein paar Unverbesserliche, darunter vor allem Investoren, wollten
Kondratjews Theorie nicht aufgeben. In den achtziger Jahren machten Wall-
Street-Analysten aus seinen sorgfältig gesammelten provisorischen
Ergebnissen einen plumpen Prognose-Hokuspokus. Sie verzichteten auf seine
komplexen Daten und zauberten ein einfaches Schaubild hervor, das eine
hübsche Kurve zeigte: Anstieg, Plateau, Krise, Zusammenbruch. Sie nannten es
die »K-Welle«.
Wenn Kondratjew recht hatte, erklärten diese Investmentexperten, dann war
die wirtschaftliche Erholung, die Ende der vierziger Jahre begonnen hatte, der
Beginn eines Fünfzig-Jahres-Zyklus, was bedeutete, dass gegen Ende der
neunziger Jahre eine tiefe Rezession drohte. Also entwickelten sie komplexe
Anlagestrategien, um sich gegen die Katastrophe abzusichern. Und dann
warteten sie …
Was Kondratjew wirklich sagte

Im Jahr 2008 geschah endlich, worauf die Investoren gewartet hatten – obwohl
sich die Krise aus Gründen, mit denen wir uns noch beschäftigen werden, mit
zehnjähriger Verspätung einstellte.
Jetzt interessierten sich die Anhänger der gängigen Markttheorie wieder für
die langen Wellen. Als sie begriffen, dass die Lehman-Krise das ganze System
betraf, begannen die Analysten, nach Mustern im Wechselspiel von
technologischer Innovation und Wirtschaftswachstum zu suchen. Im Jahr 2010
verkündeten Volkswirte des Finanzunternehmens Standard Chartered, die
Weltwirtschaft befinde sich mitten in einem »Superzyklus«. 4 Carlota Perez,
eine anglo-venezolanische Volkswirtin und Schumpeter-Anhängerin,
prophezeite, gestützt auf die Wellentheorie, ein neues goldenes Zeitalter des
Kapitalismus. Voraussetzung dafür sei, dass sich das System von den
regelmäßigen Panikattacken befreie und den staatlich finanzierten
Innovationsprozess wiederaufnehme, der den Nachkriegsaufschwung
ermöglicht hatte. 5
Um Kondratjews Erkenntnisse richtig anwenden zu können, müssen wir
jedoch verstehen, was er wirklich sagte. Bei seiner ursprünglichen
Untersuchung stützte er sich auf Daten für fünf hochentwickelte
Volkswirtschaften aus den Jahren 1790 bis 1920. Er verfügte nicht über Daten
zum Bruttoinlandsprodukt, sondern verwendete Zinssätze, Löhne,
Rohstoffpreise, Zahlen zur Kohle- und Stahlproduktion sowie zum
Außenhandel. Er nutzte die fortschrittlichsten statistischen Werkzeuge, die in
den zwanziger Jahren zur Verfügung standen, und arbeitete mit zwei
Assistenten, die er als »Computer« bezeichnete. Er setzte die Daten in
Beziehung zur Bevölkerungszahl, leitete einen Trend ab und filterte mithilfe
eines neunjährigen »beweglichen Mittelwerts« (eines gleitenden Mittelwerts)
Schwankungen und kürzere Zyklen heraus.
Das Ergebnis war eine Sammlung von Diagrammen, die aussehen wie flache
Sinuswellen. Der erste lange Zyklus beginnt mit der Entstehung des
Fabriksystems in Großbritannien in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts
und endet um das Jahr 1849. In diesem Jahr beginnt eine sehr viel deutlichere
Welle, deren Anstieg der globalen Verbreitung von Eisenbahn, Dampfschiff
und Telegrafie entspricht. Der Abschwung beginnt nach 1873 mit der
sogenannten »Langen Depression« und endet irgendwann nach 1890.
Anfang der zwanziger Jahre gelangte Kondratjew zu der Überzeugung, dass
sich die Weltwirtschaft in einem dritten Zyklus befand. Dieser hatte bereits
seinen Höhepunkt überschritten, und irgendwann zwischen 1914 und 1920
hatte der Abschwung begonnen. Dieser Abschwung schien Kondratjew jedoch
keineswegs beendet zu sein. Daher prognostizierte er, die politische Krise, die
Europa zwischen 1917 und 1921 erschütterte, werde nicht unmittelbar zum
wirtschaftlichen Zusammenbruch führen. Kondratjew hielt eine unbeständige
Erholung für möglich, bevor eine tiefe Rezession beginnen werde. Die
Geschichte sollte ihm recht geben.
Anders als die heutigen Wall-Street-Analysten interessierte sich Kondratjew
eigentlich nicht für die Form der Wellen. Die Sinuswellen, die sich aus seinen
Daten ergeben hatten, bewiesen in seinen Augen, dass etwas Bedeutsameres
geschah: Er sah eine Abfolge wechselnder »Phasen«, die sich am besten
eignen, um die Fünfzig-Jahres-Zyklen zu verstehen. 6
Betrachten wir genauer, wie Kondratjew diese Phasen definiert. Die
Aufschwungphase beginnt normalerweise mit einem rasanten
Wirtschaftswachstum, das etwa ein Jahrzehnt dauert und von Kriegen und
Revolutionen begleitet wird, in denen sich neue, während des vorhergehenden
Abschwungs entwickelte Technologien rasch durchsetzen. Dann verlangsamt
sich das Wachstum, weil die Investitionen sinken, die Ersparnisse steigen und
das Kapital von Banken und Industrieunternehmen gehortet wird; dazu
kommen die zerstörerische Wirkung von Kriegen und der Anstieg der
unproduktiven Militärausgaben. Diese Verlangsamung ist allerdings immer
noch Teil der Aufwärtsphase: Die Rezessionen sind kurz und harmlos, während
die zahlreichen Konjunkturschübe kräftig ausfallen.
Schließlich beginnt eine Abwärtsphase, in der sowohl die Rohstoffpreise als
auch die Zinsen auf das Kapital sinken. Da das akkumulierte Kapital nicht zur
Gänze in produktive Tätigkeiten investiert werden kann, sammelt es sich im
Finanzsektor an. Der Kapitalüberschuss verbilligt die Kreditaufnahme, weshalb
die Zinsen sinken. Die Rezessionen häufen sich und werden schmerzhafter.
Arbeitseinkommen und Preise fallen, und schließlich beginnt eine
Depressionsphase.
Kondratjew behauptete nie, dass diese Entwicklungen in bestimmten
zeitlichen Abständen stattfinden müssten oder dass die Wellen regelmäßig
seien. Er erklärte, jede lange Welle finde »unter neuen konkret-historischen
Bedingungen und auf einer neuen Ebene in der Entwicklung der produktiven
Kräfte statt und ist keineswegs eine bloße Wiederholung des vorangegangenen
Zyklus«. 7 Kurz: Es handelt sich um etwas Neues, nicht um ein Déjà-vu.
Damit sind wir bei Kondratjews umstrittenster These. Er fand heraus, dass
der Beginn jedes Fünfzig-Jahres-Zyklus von bestimmten Ereignissen ausgelöst
wurde. Die Parallelen zwischen den von ihm beschriebenen Vorgängen und
dem, was wir gegenwärtig beobachten, sind derart verblüffend, dass ich die
entsprechende Passage in Kondratjews Arbeit wörtlich zitieren möchte:

In den ersten zwei Jahrzehnten vor Beginn der steigenden Welle eines langen Zyklus beobachten wir
eine Zunahme der technischen Erfindungen. Vor und während des Beginns der steigenden Welle sehen
wir, dass diese Erfindungen infolge einer Reorganisation der Produktionsbeziehungen allgemeine
Anwendung in der Industrie finden. Der Beginn des langen Zyklus fällt normalerweise mit einer
Ausweitung des Einzugsbereichs der Weltwirtschaft zusammen. Dem Beginn der beiden letzten Zyklen
gingen jeweils bedeutende Veränderungen in der Gewinnung von Edelmetallen und in der
Geldzirkulation voraus. 8

Am Beginn eines langen Zyklus stehen also:


– die Einführung neuer Technologien,
– der Siegeszug neuer Geschäftsmodelle,
– der Eintritt neuer Länder in den Weltmarkt,
– eine Ausweitung der Geldmenge und ein erleichterter Zugang zu Kapital.

Es liegt auf der Hand, was diese Liste für uns bedeutet: Sie enthält all das, was
im Zeitraum zwischen 1990 und der Lehman-Pleite in der Weltwirtschaft
geschah. Kondratjew war allerdings überzeugt, dass derartige Phänomene
keine Ursachen, sondern nur Auslöser seien. »Wir neigen keineswegs zu der
Annahme, dass dies eine Erklärung für die Ursachen der langen Zyklen ist«,
erklärte er. 9
Kondratjew war fest entschlossen, die Ursachen der langen Zyklen nicht in
der technologischen Entwicklung oder in der Weltpolitik, sondern in der
Wirtschaft zu finden. Und er hatte recht. Aber bei der Suche nach diesen
Ursachen stützte er sich auf die Faktoren, mit denen Karl Marx die kürzeren,
zehnjährigen Wirtschaftszyklen im 19. Jahrhundert erklärt hatte: Rückgang des
produktiven Kapitaleinsatzes und Notwendigkeit der Reinvestition.
Wenn die »regelmäßigen« Krisen, die sich etwa alle zehn Jahre einstellten,
dadurch entstanden, dass Werkzeuge und Maschinen ersetzt werden mussten,
dann waren die etwa alle fünfzig Jahre auftretenden Krisen vermutlich das
Ergebnis von »Abnutzung, Austausch und Zunahme der grundlegenden
Anlagegüter, deren Produktion lange dauert und ungeheure Investitionen
erfordert«.10 Dabei hatte Kondratjew beispielsweise die großen Kanalbauten
Ende des 18. Jahrhunderts und den Eisenbahnboom in den vierziger Jahren des
19. Jahrhunderts im Sinn.
Kondratjew zufolge beginnt eine lange Welle, weil im Finanzsystem große
Mengen billigen Kapitals angehäuft, gebündelt und bereitgestellt worden sind.
Normalerweise geht dies mit einem Anstieg der Geldmenge einher, und das
zusätzliche Geld wird benötigt, um die Investitionen zu finanzieren. Große
Projekte werden in Angriff genommen – gegen Ende des 18. Jahrhunderts
werden Kanäle und Fabriken gebaut, Mitte des 19. Jahrhunderts entstehen
Eisenbahnen und städtische Infrastrukturen. Neue Technologien kommen zum
Einsatz, und neue Geschäftsmodelle regen den Wettbewerb um neue Märkte
an, was Kriege anfacht, da die führenden Mächte um Kolonien zu streiten
beginnen. Gesellschaftsgruppen, die vom Aufstieg der neuen Industrien und
Technologien profitieren, geraten in Konflikt mit den alten Eliten, und die
gesellschaftliche Stabilität leidet.
Offenkundig sind einige Phänomene auf bestimmte Zyklen beschränkt,
entscheidend ist jedoch Kondratjews Verständnis von Ursache und Wirkung.
Die Ursache des Aufschwungs ist, dass in der vorhergehenden
Depressionsphase mehr Kapital angehäuft wird, als investiert werden kann.
Das führt unter anderem dazu, dass eine Erhöhung des Geldangebots
angestrebt wird. Eine weitere Wirkung besteht darin, dass zahlreiche neue,
billigere Technologien verfügbar werden. Sobald ein neuer Wachstumsschub
einsetzt, brechen Kriege und Revolutionen aus.
Dass Kondratjew wirtschaftliche Ursachen und politische/technologische
Wirkungen sah, trug ihm Kritik aus drei Richtungen ein. Die Marxisten waren
überzeugt, wenn sich der Kapitalismus entwickle, könne dies nur das Ergebnis
eines äußeren Schocks sein. Kondratjews Zeitgenosse Schumpeter war der
Meinung, die langen Zyklen hingen nicht von den Investitionsrhythmen,
sondern vom technologischen Fortschritt ab. Eine dritte Gruppe von Kritikern
hielt Kondratjews Daten für falsch und bezweifelte, dass es ausreichende
Belege für die Existenz der Wellen gab.
Aber Kondratjew hatte recht – und seine Analyse der Kausalität beschreibt
präzise, wie sich die Weltwirtschaft seit 1945 entwickelt hat. Wenn wir die
Lücken in seiner Theorie füllen, werden wir nicht nur verstehen, wie der
Kapitalismus auf Krisen mit Anpassung und Wandlung reagiert, sondern es
wird uns auch klar, warum seine Anpassungsfähigkeit möglicherweise
begrenzt ist. In Teil II werde ich erklären, warum wir vor einer bedeutsamen
und möglicherweise dauerhaften Änderung der Muster stehen, denen die
Entwicklung des Industriekapitalismus in den vergangenen 200 Jahren
gehorcht hat.
Zuerst müssen wir jedoch den Kritikern antworten.
Die imaginäre Kurve

Die Veröffentlichung von Kondratjews erster Beschreibung der langen


Wirtschaftszyklen im Jahr 1922 löste sofort eine Kontroverse aus. Leo Trotzki,
der zu diesem Zeitpunkt zu den drei führenden russischen Kommunisten
zählte, erklärte, sollten die Fünfzig-Jahres-Zyklen existieren, so würden »ihr
Charakter und ihre Länge nicht durch die inneren Wechselwirkungen der
Kräfte des Kapitalismus bestimmt, sondern durch jene externen Faktoren, die
die Bahn bilden, in der die Entwicklung des Kapitalismus verläuft«.11
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten sich die revolutionären Marxisten der
Idee verschrieben, das menschliche Handeln – der »subjektive Wille« – habe
größeren Einfluss als die wirtschaftlichen Bedingungen. Sie fühlten sich als
Gefangene der Ökonomie, die fest im Besitz der gemäßigten Sozialisten war,
die eine Revolution für unmöglich hielten. Daher war Trotzki überzeugt,
Kondratjew habe das Pferd vom falschen Ende her aufgezäumt:

Die Einverleibung neuer Länder und Kontinente durch den Kapitalismus, die Entdeckung neuer
natürlicher Ressourcen und in deren Gefolge solche Hauptereignisse im Bereich des »Überbaus« wie
Kriege und Revolutionen determinieren den Charakter und das Abwechseln von ansteigenden,
stagnierenden oder niedergehenden Epochen der kapitalistischen Entwicklung.12

Jenen, die den Marxismus nur als eine Form des wirtschaftlichen
Determinismus kennen, mag es sonderbar vorkommen, aber Trotzki misst hier
den politischen Konflikten zwischen Nationen und Klassen größere Bedeutung
bei als den wirtschaftlichen Kräften. Seiner Meinung nach sollte sich die
sowjetische Wirtschaftswissenschaft nicht auf die langen Wellen, sondern auf
die »gesamte Kurve der kapitalistischen Entwicklung« von der Entstehung
über den Aufstieg bis zum Untergang konzentrieren – das heißt auf seine
gesamte Geschichte. Die langen Wellen schienen ihm interessant, aber für all
jene, die sich nach dem Ende des Kapitalismus sehnten, war der gesamte
Lebenszyklus dieses Systems entscheidend, und dieser musste irgendwann an
ein Ende kommen.
Die Marxisten hatten ihre Erklärung des umfassenden Wandels der
Wirtschaftsstrukturen nach 1890 – sie bezeichneten das System als
»Imperialismus« und nahmen an, dies sei das letzte oder »höchste« Stadium,
das der Kapitalismus erreichen könne – mittlerweile weiterentwickelt. Mit
Kondratjews Daten konfrontiert, zeichnete Trotzki seine eigene Kurve, die
allerdings nur ein Produkt seiner Phantasie war. Sie zeigte Aufstieg und
Niedergang eines imaginären kapitalistischen Landes über einen Zeitraum von
neunzig Jahren. Mit diesem Diagramm wollte Trotzki veranschaulichen, wie
das Ergebnis einer umfassenden und sorgfältigen Auswertung der Daten
aussehen müsse. Hatte man einmal den Trend der Entwicklung einer
kapitalistischen Wirtschaft verstanden, so konnte man Trotzki zufolge auch
verstehen, ob ein Fünfzig-Jahres-Zyklus – wenn es denn einen gab – Teil des
übergeordneten Aufschwungs, Abschwungs oder endgültigen Untergangs war.
Trotzki sah keinen Anlass, sich dafür zu rechtfertigen, dass seine Kurve ein
Phantasiegebilde war. Er erklärte, die Daten seien noch nicht gut genug, um
eine auf harten Zahlen beruhende Kurve zu zeichnen, aber mit ein wenig Mühe
sei es machbar.
Trotzkis Kritik an Kondratjew wurde seinerzeit und wird bis heute
herangezogen, um das Konzept der langen Zyklen zu widerlegen. Aber Trotzki
widerlegte Kondratjew nicht. Er behauptete einfach, die langen Zyklen seien
wahrscheinlich nicht regelmäßig, da sie von äußeren Schocks ausgelöst
würden, und müssten in eine größere Welle integriert werden, die Aufstieg
und Niedergang des Kapitalismus an sich darstelle. Anders ausgedrückt,
verlangte Trotzki eine bessere, historische Definition des »Trends«, in den die
Fünfzig-Jahres-Zyklen eingepasst werden mussten.
Das war durchaus folgerichtig. Die Statistiker suchen bei allen Trends nach
dem, was sie als »Trendbruch« bezeichnen: nach einem klar bestimmbaren
Punkt, an dem der Anstieg der Kurve endet, so dass sie verflacht und zu sinken
beginnt. Die Suche nach dem Trendbruch in der Entwicklung des Kapitalismus
sollte die linken Ökonomen das ganze 20. Jahrhundert beschäftigen – und
erfolglos enden.
In der Zwischenzeit arbeitete Kondratjew fleißig weiter.
Ein kalter Raum in Moskau

Im Januar 1926 veröffentlichte Kondratjew seine endgültige Arbeit Die langen


Zyklen der Konjunktur. Am 6. Februar versammelten sich die führenden Köpfe
der sowjetischen Wirtschaftswissenschaft in Kondratjews Konjunkturinstitut
in der Twerskaja-Straße in Moskau, um seine Theorie in der Luft zu zerreißen.
Das Protokoll der Sitzung zeigt, dass in dieser Diskussion noch nichts von
der Furcht und Irrationalität zu bemerken war, welche die stalinistischen
Säuberungen der wissenschaftlichen Gemeinde der Sowjetunion bald darauf
einflößen würden. Die Teilnehmer äußerten sich offen und schonungslos. Sie
brachten jene drei Kritikpunkte vor, auf die sich Kondratjews Gegner seit
damals stützen: Seine statistischen Methoden seien falsch, er habe die Ursachen
der Wellen nicht verstanden, und seine politischen Schlüsse seien inakzeptabel.
Als Erstes erklärte Kondratjews einflussreichster Gegner, der Ökonom
Dmitri Oparin, die zur Glättung der kürzeren Zyklen verwendete Methode sei
falsch, die Ergebnisse seien daher verzerrt. Dazu komme, dass die langjährigen
Datenreihen zu Anstieg und Schrumpfung der Ersparnisse der Zyklentheorie
widersprächen.
Dann wandten sich die Teilnehmer der Frage von Ursache und Wirkung zu.
Der Ökonom V. E. Bogdanow erklärte, der Rhythmus der langen Zyklen müsse
von der Innovation diktiert werden, nicht vom Kapitaleinsatz. (Damit war er
der Erste, aber nicht der Letzte, der die Theorie der Konjunkturzyklen auf eine
Geschichte der technologischen Innovation reduzierte.)
Bogdanow warf jedoch eine Frage auf, die durchaus berechtigt war: Es sei
nicht logisch, erklärte er, dass die Kosten für den Bau großer Anlagen wie
Kanäle, Eisenbahnen oder Stahlhütten fünfzig Jahre lang den Rhythmus der
Weltwirtschaft diktierten. Die Ablehnung eines vom Kapital bestimmten
Zyklus bewegte ihn dazu, die These aufzustellen, dass die Zyklen von der
Technologie abhingen, und ausgehend davon brachte er eine rigorosere
Version von Trotzkis Argument der »externen Schocks« vor.
Wenn die langen Wellen tatsächlich existierten, so mussten sie nach Ansicht
von Bogdanow durch die »zufällige Überschneidung von zwei Kausalreihen«
ausgelöst werden: von der inneren Dynamik des Kapitalismus und jener der
äußeren, nichtkapitalistischen Umwelt.13 Beispielsweise öffnete die Krise
nichtkapitalistischer Gesellschaften wie der Chinas und des Osmanischen
Reichs Ende des 19. Jahrhunderts neue Märkte für das westliche Kapital, und
die landwirtschaftliche Rückständigkeit Russlands prägte die Entwicklung
seines kapitalistischen Sektors und zwang das Land, sich Kapital in Frankreich
und Großbritannien zu beschaffen.
Bogdanows Argument war nicht von der Hand zu weisen. Kondratjew hatte
angenommen, dass die Rhythmen des Kapitalismus eine einseitige
Anziehungskraft auf die nichtkapitalistische Welt ausübten. Tatsächlich
beeinflussten die beiden einander unentwegt gegenseitig, und eine umfassende
Version von Kondratjews Theorie würde das berücksichtigen müssen.
Gegen Ende des Seminars sprach der Agrarökonom Miron Nachimson, ein
treuer Parteisoldat, die politischen Auswirkungen der Theorie der langen
Wellen an. Die Fixierung auf die langen Zyklen hielt er für ideologisch.
Kondratjew rechtfertige die Krise als normalen Zustand und behaupte, man
habe es »mit einem im Grunde unendlichen Auf und Ab des Kapitalismus zu
tun, weshalb es noch nicht angemessen ist, von der sozialen Revolution zu
träumen«. Nachimson hatte begriffen, dass die Zyklentheorie eine ernste
theoretische Herausforderung für die Bolschewisten war – schließlich gingen
sie vom unmittelbar bevorstehenden Untergang des Kapitalismus aus.14
Die Debatte kam dem zentralen Problem von Kondratjews Arbeit sehr nahe:
1. Er sah in der Dynamik des Kapitaleinsatzes die vorrangige Ursache für die
alle fünfzig Jahre eintretenden Krisen, aber er ging dieser Dynamik nicht auf
den Grund.
2. Er sah in der nichtkapitalistischen Welt fälschlicherweise nur einen passiven
Zuschauer, der Zeuge der kapitalistischen Wellen wurde.
3. Obwohl er jede Welle als kompliziertere Version der vorhergehenden
betrachtete, ließ er die Frage außer Acht, was die langen Wellen für das
Schicksal des Kapitalismus bedeuteten.

Und es gab noch ein weiteres Problem mit Kondratjews Arbeit: die Daten.
Dieses Problem begleitet die Theorie der langen Zyklen seit der Ära des
Rechenschiebers und wurde auch vom Servernetz nicht beseitigt. Wir müssen
uns damit auseinandersetzen, weil es am Datenproblem liegt, dass Kondratjews
Theorie seit einer Generation tabu ist.
Das Problem der Zufallsdaten

Es sagt einiges über Kondratjews Ehrgeiz, dass er in seiner Forschungsgruppe


einen der großen Mathematiker des 20. Jahrhunderts beschäftigte. Während
sich Kondratjew mit den realen Daten herumschlug, betrieb Jewgeni Sluzki ein
eigenes Projekt mit zufälligen Zeitreihen.
Sluzki fand heraus, dass man problemlos Wellenmuster gewinnen konnte,
die wie reale wirtschaftliche Fakten wirkten, indem man auf Zufallsdaten einen
gleitenden Durchschnitt anwandte. Um zu zeigen, was das bedeutete, erzeugte
er mit nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Lotteriezahlen ein Wellenmuster
und legte es über eine Grafik zu britischen Wachstumsstatistiken: Die Formen
sahen einander bemerkenswert ähnlich. In der Statistik ist dies als Yule-Sluzki-
Effekt bekannt. Mittlerweile wird dieser Effekt dahingehend gedeutet, dass die
bloße Filterung von Daten scheinbar aussagekräftige Resultate hervorbringen
kann. Doch Sluzki war vom Gegenteil überzeugt. Er glaubte, dass diese
zunächst zufälligen Muster uns etwas Wahres über die Realität sagen,15 und
zwar nicht nur in der Ökonomie, sondern auch in der Natur:

Es scheint wahrscheinlich, dass der Prozess der auf die eine oder andere Art gewichteten gleitenden
Addition in der Natur eine besonders wichtige Rolle spielt, wobei das Ausmaß jeder Konsequenz nicht
von einer, sondern von einer Reihe vorhergehender Ursachen bestimmt wird, so wie zum Beispiel die
Größe einer Feldfrucht nicht vom Regen eines Tages, sondern von den Niederschlägen an vielen Tagen
abhängt.16

Mit anderen Worten: Die Regentropfen fallen in einem zufälligen Muster auf
einen Quadratkilometer, aber zur Erntezeit hat man einen Ertrag, den man an
dem des vergangenen Jahres messen kann. Die kumulative Wirkung zufälliger
Ereignisse kann regelmäßige, zyklische Muster erzeugen.
Zu der Zeit, als Sluzki seine Ergebnisse veröffentlichte, war es bereits
gefährlich, mit Kondratjew in Verbindung gebracht zu werden. Im Jahr 1927
brachen Konflikte in der sowjetischen Führung aus; es kam zu
Parteiausschlüssen und Straßenschlachten. Die Historikerin Judy Klein hat
festgestellt, dass sich Sluzki problemlos von Kondratjew, der als Anhänger des
Marktes unter Verdacht geraten war, hätte lossagen können. Stattdessen
bekannte er sich zu Kondratjews Theorie.17
Tatsächlich erweiterte Sluzkis Experiment die Theorie der langen Wellen um
eine bedeutsame Erkenntnis: Er stellte fest, dass sich durch Filterung von
Zufallsdaten erzeugte Wellen nicht ewig wiederholen. Wenn er sie immer
wieder durchrechnete, brachen die Muster plötzlich zusammen. Er bezeichnete
diesen Punkt als »Regimewechsel«: »Nach einer mehr oder weniger großen
Zahl von Perioden gerät jedes Regime aus den Fugen. Die Transition zu einem
anderen Regime erfolgt manchmal schrittweise und manchmal mehr oder
weniger abrupt an bestimmten kritischen Punkten.«18
Wer sich für langfristige Muster in der Wirtschaftsentwicklung interessiert,
versteht sofort die Tragweite von Sluzkis Beobachtung. Erstens können die
langen Wellen unter Umständen nicht auf eine greifbare Ursache
zurückverfolgt werden, seien es Innovationen, ein externer Schock oder der
Rhythmus des Kapitaleinsatzes. Möglicherweise treten sie im Lauf der Zeit
einfach als normales Kennzeichen jedes komplexen Wirtschaftssystems auf.
Zweitens müssen wir unabhängig von der Ursache damit rechnen, dass
regelmäßige Wellenmuster unterbrochen werden und sich erneut herausbilden.
Sluzki selbst war der Ansicht, dieses Muster des plötzlichen
Zusammenbruchs könne sich auf zwei Ebenen manifestieren, nämlich
innerhalb der zehnjährigen Wirtschaftszyklen und über die Fünfzig-Jahres-
Zyklen hinweg. Aber seine Arbeit weist auf eine dritte Möglichkeit hin: Wenn
der Industriekapitalismus über einen Zeitraum von mehr als 200 Jahren eine
Abfolge von Fünfzig-Jahres-Wellen erzeugt hat, so besteht die Möglichkeit,
dass sich auch dieses Muster irgendwann auflöst. Die Folge ist ein
Regimewechsel, der ein vollkommen neues Muster hervorbringt.
In den vergangenen zwanzig Jahren ist aus dem Lager der Statistiker Kritik
an Kondratjews Theorie laut geworden. Verschiedene Forscher sind in neueren
Studien zu dem Ergebnis gelangt, dass die Kondratjew-Wellen bei Verwendung
besserer Filtertechniken einfach verschwinden oder unkenntlich werden.
Andere haben mit Recht darauf hingewiesen, dass die in den ersten drei Zyklen
beobachteten langfristigen Preisfluktuationen mit der Entstehung des globalen
Markts nach dem Zweiten Weltkrieg verschwunden sind.19
In Anbetracht der gewaltigen Menge an zusätzlichen Daten sollte es
allerdings möglich sein, mithilfe der verbesserten Methoden Kondratjew-
Zyklen in den globalen Wachstumsstatistiken zu finden.
Im Jahr 2010 taten die russischen Forscher Andrei Korotajew und Sergej
Zirel genau das.20 Anhand einer als »Frequenzanalyse« bezeichneten Technik
wiesen sie nach, dass in den BIP-Daten deutliche Fünfzig-Jahres-Kurven zu
beobachten sind. Für den Zeitraum nach 1945 haben sie gezeigt, dass sogar die
Rohdaten deutliche Hinweise auf einen Anstieg ab 1945 und eine lange
Abwärtsphase ab 1973 enthalten.
Tatsächlich haben sie, gestützt auf die Rezessionsdefinition des IWF (ein
Absinken des globalen Wirtschaftswachstums unter drei Prozent während
sechs Monaten), ausgerechnet, dass es im Zeitraum zwischen 1945 und 1973
keine Rezessionen gab, während nach 1973 sechs Rezessionen zu beobachten
waren. Korotajew und Zirel sind sicher, dass die Kondratjew-Zyklen in den
globalen BIP-Daten nach 1870 enthalten sind und dass sie sich in den
westlichen Volkswirtschaften auch schon vorher ausmachen lassen.
Weitere Hinweise auf die Existenz langer Zyklen hat der italienische
Physiker Cesare Marchetti gefunden, der historische Daten zum
Energieverbrauch und zu Infrastrukturprojekten ausgewertet hat. Diese Daten
»zeigen sehr deutlich ein zyklisches oder gekurvtes Verhalten« in vielen
Bereichen des Wirtschaftslebens, wobei die Zyklen etwa 55 Jahre dauern.21
Marchetti lehnt die Vorstellung ab, dass es sich hier um Wellen handelt oder
dass diese Ausschläge in erster Linie wirtschaftlicher Natur sind, und
bezeichnet sie lieber als langfristige »Impulse« im gesellschaftlichen Verhalten.
Aber er erklärt, dass Signale, die ökonomisch unklar sind, »klar zutage treten,
wenn man das ›Physikalische‹ analysiert«.
Marchetti sieht den deutlichsten Beleg für die Existenz langer Zyklen im
Muster der Investitionen in physische »Kommunikationsnetze«. Anhand von
Kanal-, Eisenbahn-, Straßen- und Luftfahrtnetzen zeigte er in den achtziger
Jahren, dass der Ausbau solcher Infrastrukturen jeweils rund fünfzig Jahre
nach der Fertigstellung des vorhergehenden Netzes seinen Höhepunkt erreicht.
Ausgehend von dieser Erkenntnis prognostizierte er im Jahr 1986, um das Jahr
2000 werde ein neuartiges Netz entstehen. Natürlich konnte er 14 Jahre vor der
Jahrtausendwende nicht wissen, was das für ein Netz sein würde. Mittlerweile
wissen wir es: Es ist das Informationsnetz.
Es gibt also physikalische und ökonomische Belege für die Existenz eines
Fünfzig-Jahre-Musters. Die von einem solchen Muster erzeugten Sinuswellen
sind von zweitrangiger Bedeutung für die Existenz des Musters. Ein Volkswirt
erkennt darin Hinweise darauf, dass grundlegendere Prozesse ablaufen – so
wie der Astrophysiker ein schwarzes Loch an den Hinweisen erkennt, welche
die Bewegungen der Materie in seiner Umgebung geben.
Und hier haben wir die Bedeutung dieser Hinweise. Kondratjew gab uns ein
Werkzeug für das Verständnis der Mutationen des Kapitalismus in die Hand.
Die marxistische Wirtschaftstheorie suchte nach einem Prozess, der nur ein
Ergebnis haben kann: den Zusammenbruch des Kapitalismus. Kondratjew
zeigte, dass die Gefahr des Zusammenbruchs normalerweise dazu führt, dass
sich das System anpasst, um zu überleben.
Das Problem ist Kondratjews Interpretation der wirtschaftlichen Kraft, die
den Zyklus antreibt, und der Beziehung dieser Kraft zum Schicksal und zur
Langlebigkeit des Systems. Diese wirtschaftliche Kraft müssen wir reparieren.
Zur Rettung Kondratjews

Vor einigen Jahren hielt ich an einer britischen Universität vor 200
Volkswirtschaftsstudenten einen Vortrag über Kondratjew. Die Studenten
hatten keine Ahnung, über wen oder was ich sprach. Nach dem Vortrag sagte
ein Dozent zu mir: »Sie haben den Fehler gemacht, Mikro- und
Makroökonomie zu vermischen. Daran sind sie nicht gewöhnt.« Ein anderer
Dozent, der Wirtschaftsgeschichte unterrichtete, hatte noch nie von
Kondratjew gehört.
Immerhin kannten sie Joseph Schumpeter. In seinem 1939 erschienenen
Werk Business Cycles[1] stellte Schumpeter die These auf, der Kapitalismus
werde von ineinandergreifenden Wellenzyklen geformt, die von einem drei- bis
fünfjährigen Zyklus kurzer Wellen, die dem Aufbau von Lagerbeständen in den
Unternehmen entsprachen, bis zu den von Kondratjew beobachteten 50-
jährigen Wellen reichten.
In einer mühsamen logischen Argumentation schloss Schumpeter aus, dass
der Kreditzyklus, äußere Schocks, Veränderungen des Geschmacks und das,
was er als »Wachstum« bezeichnete, den Fünfzig-Jahres-Zyklus verursachten.
Stattdessen erklärte er, die Innovation sei »die überragende Tatsache in der
Wirtschaftsgeschichte der kapitalistischen Gesellschaft« und »für die Mehrzahl
dessen verantwortlich […], was wir zunächst anderen Faktoren zuschreiben
würden«.22 Dann beschrieb er die Kondratjew-Zyklen in einer detaillierten
historischen Analyse als Innovationszyklen: Der erste dieser Zyklen war durch
die Entwicklung des Fabriksystems ab 1780 ausgelöst worden, der zweite durch
die Eisenbahn ab 1842, der dritte durch eine Häufung von Neuerungen in den
achtziger und neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts, die wir als zweite
industrielle Revolution kennen.23
Schumpeter machte Kondratjews Theorie der langen Wellen sehr attraktiv
für die Anhänger des Kapitalismus: In seiner Version wird jeder neue Zyklus
vom Entrepreneur und vom Innovator eingeleitet. Umgekehrt verwandeln sich
Phasen des Niedergangs in das Ergebnis einer Erschöpfung der
Innovationskraft, was dazu führt, dass das Kapital im Finanzsystem gehortet
wird. Für Schumpeter ist die Krise ein unverzichtbarer Bestandteil der
Funktionsweise des kapitalistischen Systems, da sie zur »schöpferischen
Zerstörung« veralteter und ineffizienter Modelle führt.
Während Kondratjew fast in Vergessenheit geriet, erlangten Schumpeters
Erkenntnisse beinahe den Status einer religiösen Offenbarung: Auf seine
deterministische Darstellung der von der Technologie bestimmten
Konjunkturzyklen können die Mainstream-Ökonomen in Krisenzeiten
zurückgreifen, wenn die Realität ihren normativen Glaubenssätzen nicht mehr
entspricht.
Carlota Perez, die prominenteste zeitgenössische Anhängerin Schumpeters,
beruft sich auf die Theorie der Technologieabhängigkeit, um staatliche
Unterstützung für Informationstechnologie, Biotechnologie und grüne
Energien zu fordern, die ihrer Meinung nach irgendwann nach 2020, wenn der
nächste zyklische Anstieg beginnt, ein neues goldenes Zeitalter auslösen
werden.
Perez hat die Theorie der langen Zyklen um einige Elemente ergänzt, die das
Verständnis der gegenwärtigen Phase erleichtern. Besonders bedeutsam ist ihre
Idee des »techno-ökonomischen Paradigmas«. Perez erklärt, dass weder eine
Häufung von Neuerungen noch die bloße Interaktion dieser Innovationen
genügen, um einen neuen Zyklus in Gang zu setzen. Vielmehr bedürfe es einer
»neuen gesellschaftlichen Übereinkunft, welche die Ausbreitung einer
Revolution ermöglicht«, einer erkennbaren »Logik des Neuen«, die
Voraussetzung dafür sei, dass eine Gruppe von Technologien und
Geschäftspraktiken durch eine andere ersetzt werden könne.
Indem Perez den Beginn eines Zyklus nicht mit der Verbreitung, sondern mit
der Erfindung neuer Schlüsseltechnologien ansetzt, weicht sie jedoch von
Kondratjew und Schumpeter ab. Und sie schlägt eine andere Kausalkette vor:
Innovatoren erfinden, begeisterte Kapitalgeber beginnen zu spekulieren, der
Rausch endet mit Tränen, und der Staat schreitet ein, um die Situation zu
regeln, so dass ein goldenes Zeitalter robusten Wachstums und hoher
Produktivität beginnen kann.
Selbst manche Anhänger von Perez erklären, sie habe Schumpeters Theorie
lediglich neu verpackt und den Ausgangspunkt der Zyklen um 25 Jahre
vorverlegt. Aber ihre Neuerung ist bedeutsamer: Perez geht es um »das
Auftauchen und die graduelle Ausbreitung der technologischen Revolutionen«,
nicht um das Auf und Ab des Bruttoinlandsprodukts, auf das sich Kondratjew
konzentrierte.24
Die Folge ist, dass sie vor einer ganzen Reihe von Konsistenzproblemen
steht: Warum ist der vierte Zyklus (1909-71) fast siebzig Jahre lang? Perez'
Antwort: Weil die politische Reaktion auf die Depression der dreißiger Jahre
erst im Jahr 1945 Früchte trug. Warum ist zwischen 1990 und 2008 zweimal
eine klar erkennbare Sequenz von Innovation, spekulativer Euphorie und
Zusammenbruch zu beobachten? Auch das, antwortet Perez, lag an politischen
Fehlern.
In dieser Version der Zyklentheorie spielt die Reaktion des Staates auf
Krisen eine zentrale Rolle, während Perez der Auseinandersetzung zwischen
Klassen oder der Verteilung des Wohlstands nur geringe Bedeutung beimisst.
In einer beinahe vollkommenen Umkehrung von Kondratjew erklärt Perez, die
Wirtschaftsentwicklung werde von der Technologie bestimmt und die
technologische Entwicklung werde vom Staat bestimmt.
Die an der technologischen Entwicklung festgemachte Zyklentheorie ist
verlockend, weil die Belege für diese Sichtweise greifbar sind: Vor dem Beginn
langer Zyklen häufen sich Innovationen, deren Synergien sich nachweisen
lassen. Die Theorie ist insofern materialistisch, als sie Revolutionen und den
Wandel gesellschaftlicher Einstellungen als Ausdruck eines tieferen Prozesses
betrachtet. Neue Technologien bringen »neue Menschen« an die Macht, wie
Schumpeter es ausdrückte, und diese neuen Menschen bringen neue
Präferenzen und Konsumnormen mit.
Trotzdem lehnte Kondratjew die Vorstellung, tiefgreifende Veränderungen
würden von der Technologie angetrieben, mit Recht ab. Man kann einen
Zusammenhang mit dem Anfang der Fünfzig-Jahres-Zyklen herstellen, aber
weder liefert diese Deutung eine ausreichende Erklärung für die Häufung von
Innovationen noch erklärt sie, warum ein neues gesellschaftliches Paradigma
entsteht – oder warum der Zyklus endet.
Wenn wir uns an Kondratjew halten und seine Sequenz langer Zyklen,
gestützt auf das »Materielle« Marchettis und auf Datenmaterial, das deutlich
besser ist als in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts, bis in die
Gegenwart fortsetzen, können wir das folgende Bild entwerfen.
Der Industriekapitalismus durchlief bisher vier lange Zyklen, auf die ein
fünfter gefolgt ist, der jedoch nicht in Schwung kommen will:
1. 1790 bis 1848: Der erste lange Zyklus ist in den Daten für Großbritannien,
Frankreich und die USA erkennbar. Die Grundlagen des neuen Paradigmas
sind das Fabriksystem, die Dampfmaschine und die Kanalbauten. Der
Wendepunkt ist die Rezession Ende der zwanziger Jahre des
19. Jahrhunderts. Die revolutionäre Krise in Europa in den Jahren 1848-50,
die ihre nordamerikanische Entsprechung im Mexikanisch-Amerikanischen
Krieg und im sogenannten »Kompromiss von 1850« hat, markiert einen
klaren Schlusspunkt.
2. 1848 bis ca. 1895: Der zweite lange Zyklus ist in der gesamten entwickelten
Welt und in seiner Endphase in der Weltwirtschaft zu beobachten.
Eisenbahnen, Telegrafie, Ozeandampfer, stabile Währungen und
Maschinenbautechnik bestimmen das Paradigma. Der Zyklus erreicht
seinen Höhepunkt Mitte der siebziger Jahre, als eine Finanzkrise in den
USA und Europa zur Langen Depression (1873-96) führt. In den achtziger
und neunziger Jahren werden in Reaktion auf wirtschaftliche und soziale
Krisen neue Technologien entwickelt, die zu Beginn des dritten Zyklus
zusammenfließen.
3. Ca. 1895-1945: Die technologische Entwicklung im dritten Zyklus ist von
Schwerindustrie, Elektrotechnik, Telefon, wissenschaftlicher
Betriebsführung und Massenproduktion geprägt. Am Ende des Ersten
Weltkriegs wird der Aufwärtstrend gebrochen. Die Weltwirtschaftkrise der
dreißiger Jahre und die anschließende Kapitalvernichtung im Zweiten
Weltkrieg beenden die Abwärtsbewegung.
4. 1945 bis 2008: Im vierten langen Zyklus bringen Transistoren, Kunststoffe,
Massenkonsumgüter, Fertigungsautomation, Atomkraft und automatische
Kalkulation das neue Paradigma hervor und begründen die längste
Wirtschaftsblüte in der Geschichte der Menschheit. Der Höhepunkt ist klar
erkennbar: Nach der Ölkrise im Oktober 1973 beginnt eine lange Phase der
Instabilität, in der es jedoch zu keiner tiefen Rezession kommt.
5. Ende der neunziger Jahre tauchen in einer Phase, die sich mit dem Ende der
vorhergehenden Welle überschneidet, die grundlegenden Bestandteile des
fünften langen Zyklus auf. Dieser beruht auf der Vernetzungstechnologie,
der mobilen Kommunikation, einem wirklich globalen Markt und den
Informationsgütern. Aber der Zyklus ist zum Stillstand gekommen. Und das
hat etwas mit dem Neoliberalismus und mit der Technologie selbst zu tun.

Dies ist nur eine Skizze: eine Liste von Ausgangs- und Endpunkten,
Technologiebündeln und schweren Krisen. Um die Entwicklung des
Kapitalismus richtig einschätzen zu können, brauchen wir ein genaueres Bild
von der Dynamik der Kapitalakkumulation, als Kondratjew selbst es hatte. Wir
müssen uns sehr viel eingehender mit ihr beschäftigen als die Theoretiker des
technologischen Wandels. Wir müssen nicht nur verstehen, dass sich der
Kapitalismus wandelt, sondern auch herausfinden, welche wirtschaftlichen
Vorgänge seine Mutationen antreiben und was seinen Wandel verhindern
kann.
Kondratjew entwickelte eine Theorie, die uns die Augen für das geöffnet hat,
was die Systemtheoretiker als wirtschaftliche »Mesoebene« bezeichnen: Diese
Ebene liegt zwischen einem abstrakten Modell des Systems und seiner
konkreten Geschichte. Anhand von Kondratjews Theorie können wir die
Mutationen des Kapitalismus besser verstehen als anhand der Analysen jener
marxistischen Wirtschaftstheoretiker des 20. Jahrhunderts, die sich auf die
externen Faktoren und Untergangsszenarien beschränkten.
Wir sind noch nicht ganz fertig mit Kondratjew. Doch um sein Vorhaben
zum Abschluss bringen zu können, müssen wir uns genauer mit einer Frage
beschäftigen, welche die Ökonomie seit mehr als einem Jahrhundert
beschäftigt: Wieso kommt es zu Krisen?
[1]
Die deutsche Übersetzung erschien 1961 unter dem Titel Konjunkturzyklen (Göttingen:
Vandenhoeck & Ruprecht) (Anmerkung des Übersetzers).
3
Hatte Marx am Ende doch recht?

Im Jahr 2008 widerfuhr Karl Marx etwas Skurriles: »Er ist zurück!«, verkündete
die Londoner Times. Der deutsche Verlag von Das Kapital hatte einen
Absatzanstieg um 300 Prozent gemeldet, nachdem ein Minister der Regierung
Merkel erklärt hatte, »gewisse« Ideen von Marx seien »doch nicht so
verkehrt«. In Japan verbreitete sich eine Manga-Version des Buchs wie ein
Lauffeuer. In Frankreich wurde ein Foto von Nicolas Sarkozy veröffentlicht, der
die französische Ausgabe von Marx' Hauptwerk durchblätterte.
Auslöser für den Run auf Marx war natürlich die Finanzkrise: Der
Kapitalismus brach zusammen. Genau das hatte Marx vorausgesagt, weshalb
man ihm jetzt recht geben, sein Werk neu bewerten oder ihm zumindest ein
wenig posthume Schadenfreude[1] zugestehen musste.
Aber es gibt ein Problem: Der Marxismus ist sowohl eine Geschichtstheorie
als auch eine Krisentheorie. Er ist eine wunderbare Geschichtstheorie: Gestützt
auf das marxistische Verständnis von Klasse, Macht und Technologie, können
wir das Verhalten der Mächtigen voraussagen, noch bevor sie selbst wissen,
wie sie sich verhalten werden. Als Theorie der Krise ist der Marxismus
allerdings mangelhaft. Wenn wir Marx in der gegenwärtigen Situation
verwenden wollen, müssen wir uns der Grenzen seiner Theorie bewusst sein –
und wir müssen verstehen, in welche Bredouille sich seine Anhänger bei dem
Versuch gebracht haben, diese Grenzen zu überwinden.
Dies ist keineswegs ein Streit um des Kaisers Bart. Je häufiger das vollbärtige
Konterfei von Karl Marx in der erschreckten Mainstream-Presse auftaucht und
je schlimmer die soziale Katastrophe wird, in die wir die kommenden
Generationen stürzen, desto wahrscheinlicher wird es, dass die Jugend von
morgen die gescheiterten Experimente der Marxisten wiederholt, insbesondere
den revolutionären Sozialismus und die überhastete Abschaffung des Markts.
Um die Lösung verstehen zu können, die ich dem Kapitalismus entgegensetzen
werde, und den Weg zu dieser Lösung zu veranschaulichen, müssen wir uns
zunächst mit der marxistischen Krisentheorie auseinandersetzen.
Was ist also das Problem?
Marx verstand, dass der Kapitalismus ein instabiles, fragiles und komplexes
System ist. Er erkannte, dass die Klassenzugehörigkeit die Macht ungleich
zwischen den verschiedenen Marktakteuren verteilt. Aber er unterschätzte die
Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus.
Marx selbst erlebte nur einen globalen Anpassungsprozess: den
Aufschwung, der im zweiten langen Zyklus in den zwei Jahrzehnten nach dem
Revolutionsjahr 1848 stattfand. Als seine Anhänger Zeugen des dritten langen
Zyklus wurden, war die Entwicklung der marxistischen Wirtschaftstheorie zu
einer leistungsfähigen Theorie des gesamten Systems leider zum Stillstand
gekommen.
Schließlich wurde der Marxismus mit drei Merkmalen komplexer
anpassungsfähiger Systeme konfrontiert. Erstens sind solche Systeme »offen«,
das heißt, sie profitieren vom Kontakt mit der Außenwelt. Zweitens reagieren
sie auf Herausforderungen mit Innovationen und unvorhersehbaren
Mutationen, wobei jede Innovation ganz neue Chancen für Wachstum und
Expansion innerhalb des Systems eröffnet. Drittens bringen sie »emergente«,
sich spontan herausbildende Phänomene hervor, die nur auf einer Ebene
oberhalb der Funktionsweise des eigentlichen Systems studiert werden können.
Beispielsweise muss das Verhalten einer Ameisenkolonie, selbst wenn es ein
Produkt des genetischen Programms der Ameisen ist, nicht als genetisches
Phänomen, sondern als Verhalten studiert werden.
Der Marxismus stellte in gewissem Sinn die systematischste Studie
emergenter Phänomene dar, die je in Angriff genommen wurde, er verstand
aber nie wirklich die Natur dieser Phänomene. Erst in den siebziger Jahren, als
die marxistische Wirtschaftstheorie um das Konzept der »relativen
Autonomie« erweitert wurde, begannen die Marxisten zu begreifen, dass nicht
jede Ebene der Realität einfach ein Ausdruck der ihr zugrunde liegenden
Ebenen ist.
In diesem Kapitel werde ich erklären, warum nicht nur der Marxismus,
sondern die gesamte Linke seit einem Jahrhundert an der Anpassungsfähigkeit
des Kapitalismus scheitert. Die ursprüngliche Analyse von Marx, der in Das
Kapital beschrieb, wie die Marktmechanismen zum Zusammenbruch führen, ist
jedoch weiterhin gültig und unverzichtbar für das Verständnis der Mutationen
des Kapitalismus.
Richtig verstanden, erklärt die von Marx entwickelte Krisentheorie besser als
Kondratjews Zyklentheorie, was hinter den großen Mutationen des
Kapitalismus steckt – und warum er schließlich möglicherweise die Fähigkeit
verliert, sich durch Veränderung anzupassen. Der Marxismus, mit dem wir es
hier zu tun haben, ist allerdings eine Vorstellungswelt des 21. Jahrhunderts, die
in einem Gehirn des 19. Jahrhunderts gefangen ist.
Was Marx sagte …

In den ersten achtzig Jahren des Industriekapitalismus schätzten die Ökonomen


seine Zukunft pessimistisch ein. Die klassischen Ökonomen – Smith, Say, Mill,
Malthus und Ricardo – zweifelten an seiner Überlebensfähigkeit. Das große
Thema ihrer Arbeiten waren die Grenzen des Kapitals: die Hindernisse für
seine Expansion, der Rückgang des Profits, die Unmöglichkeit eines stabilen
Wachstums.
Die Debatte kreiste um die Vorstellung, dass die menschliche Arbeitskraft
die Quelle des Werts ist und den durchschnittlichen Preis der Dinge bestimmt.
Diese Vorstellung ist als »Arbeitswerttheorie« bekannt. In Kapitel 6 werde ich
im Detail erklären, wie sie uns dabei helfen kann, den Kapitalismus durch eine
Nicht-Marktökonomie zu ersetzen.
Marx verbrachte sein Leben damit, die Fehler der Arbeitswerttheorie zu
korrigieren, um die wiederkehrenden Krisen und Zusammenbrüche des frühen
Kapitalismus zu erklären. Nach Ansicht von Marx ist eine ausgereifte
Marktwirtschaft durch ständige Instabilität gekennzeichnet. Zum ersten Mal in
der Geschichte sind inmitten des Überflusses Krisen möglich. Es werden Dinge
erzeugt, die nicht gekauft oder verwendet werden können – etwas, das im
Feudalzeitalter und in der Antike undenkbar gewesen wäre.
Marx sah in der Wirtschaft auch eine Spannung zwischen dem, was real ist,
und dem, was wir für real halten. Der Markt ist eine Maschine, deren Funktion
darin besteht, beides miteinander in Einklang zu bringen. Der reale Wert der
Dinge hängt von der Menge an Arbeit, Maschinen und Rohstoffen ab, die
eingesetzt wird, um diese Dinge zu erzeugen – all das wird als Arbeitswert
gemessen –, aber dieser Wert kann nicht im Voraus berechnet werden. Auch
können wir ihn nicht sehen, denn die wirtschaftlichen Gesetze wirken »hinter
dem Rücken« der Akteure.
Diese Spannung liegt sowohl den kleinen Korrekturen – zum Beispiel
müssen die Preise gesenkt werden, wenn am Marktstand am Ende des Tages zu
viel Obst übrig ist – als auch den großen Eingriffen zugrunde – zum Beispiel
wenn der amerikanische Staat Lehman Brothers retten muss. Wenn wir eine
Krise studieren, müssen wir also herausfinden, was auf einer Ebene unterhalb
der im Wall Street Journal gemeldeten Fakten schiefgegangen ist.
Marx erklärt, im vollkommen ausgereiften Kapitalismus näherten sich die
Profite tendenziell einem Durchschnittswert an: Obwohl die Manager glauben,
untereinander in einem erbitterten Wettbewerb zu stehen, erzeugen sie daher
in Wahrheit in jedem Wirtschaftssektor und in der Volkswirtschaft als ganzer
eine durchschnittliche Profitrate, die sie heranziehen, um die Preise festzulegen
und die Leistungen zu messen. Anschließend häufen sie mittels des
Finanzsystems eine Profitmasse an, an der die Investoren bei einem gegebenen
Maß an Risiko mit weitgehend konstanten Erträgen beteiligt werden. Obwohl
der Finanzsektor zu der Zeit, als Das Kapital entstand, klein war, begriff Marx
sehr gut, dass die Finanzen – in Form des Zinses – zum wichtigsten
Mechanismus für die rationale Kapitalallokation entsprechend den
durchschnittlichen Risiken und Erträgen werden.
Marx erkannte auch, dass die eigentliche Quelle des Profits die Arbeit ist,
genauer gesagt der zusätzliche Wert, der dank der ungleichen Machtverteilung
am Arbeitsplatz aus den Arbeitern herausgepresst werden kann. Da die
Unternehmen jedoch die Produktivität erhöhen müssen, neigen sie dazu, die
Arbeit durch Maschinen zu ersetzen. Da die Arbeit die eigentliche Quelle des
Profits ist, sinkt infolge der zunehmenden Mechanisierung die Profitrate. Wenn
in einem Unternehmen, einem Sektor oder einer Volkswirtschaft ein
wachsender Teil des Kapitals in Maschinen, Rohstoffe und andere Nicht-
Arbeits-Inputs investiert wird, kann die Arbeit immer weniger Profit erzeugen.
Dies ist für Marx »das Grundgesetz des Kapitalismus«.
Das System reagiert allerdings spontan auf diese Bedrohung, indem es
Institutionen und Verhaltensweisen hervorbringt, die der Tendenz sinkender
Profitraten entgegenwirken. Die Investoren wenden sich neuen Märkten zu,
auf denen höhere Gewinne winken, die Arbeitskosten werden durch die
Verbilligung von Konsumgütern und Nahrungsmitteln gesenkt, die Manager
suchen im Ausland nach billigen Arbeitskräften oder die Unternehmen führen
Maschinen ein, deren Erzeugung, gemessen am Arbeitseinsatz, weniger kostet.
Oder sie wechseln von maschinenintensiven in arbeitsintensive Industrien.
Oder sie kämpfen nicht um Margen (Profitrate), sondern um Marktanteile
(Profitmasse).
Im Aufstieg des Finanzsektors sieht Marx eine strategische
»entgegenwirkende Ursache«: Ein Teil der Investoren beginnt, anstelle des
unternehmerischen Profits, den man erzielen kann, indem man ein
Unternehmen gründet und betreibt, Zinsen als normale Belohnung dafür zu
akzeptieren, dass sie viel Geld besitzen. Es nehmen weiterhin Entrepreneure
einseitige Risiken auf sich, so wie es auch die privaten Kapital- und
Hedgefonds heute tun, aber große Teile des Systems werden auf Investitionen
ausgerichtet, die wenig riskant sind und entsprechend niedrige Erträge
abwerfen. Diese über das Finanzsystem erzielten Profite erlauben es dem
Kapitalismus nach Ansicht von Marx trotz sinkender Profite weiter zu
funktionieren.
Es ist wichtig, diesen Punkt klar herauszuarbeiten: In den Augen von Marx
sind diese entgegenwirkenden Ursachen stets vorhanden. Eine Krise tritt nur ein,
wenn die Gegenwirkungen schwächer werden oder vollkommen ausbleiben,
also dann, wenn dem System die billigen Arbeitskräfte ausgehen, keine neuen
Märkte mehr gefunden werden oder das Finanzsystem all das Kapital, das die
risikoscheuen Investoren darin speichern wollen, nicht mehr sicher verwalten
kann. 1
Marx sieht in der Krise das Überdruckventil des kapitalistischen Systems.
Für ihn ist sie ein normales Merkmal des Kapitalismus und ein Produkt seiner
technologischen Dynamik.
Bereits diese grobe Skizze zeigt, dass Marx den Kapitalismus als komplexes
System betrachtet. Selbst wenn dieses System stabil wirkt, ist es nicht im
Gleichgewicht: Spontane Zusammenbrüche werden durch spontane
Stabilisatoren ausgeglichen. Die Krisentheorie erklärt, wann und warum der
Stabilisierungsmechanismus versagt.
In den drei Bänden von Das Kapital beschreibt Marx verschiedene Arten von
Krisen. Da ist zunächst die Überproduktionskrise, die dadurch entsteht, dass es
zu wenig Nachfrage für ein Übermaß an Gütern gibt, weshalb die in der
Produktion erzielten Profite nicht realisiert werden können, da es unmöglich
ist, sämtliche Produkte zu verkaufen. Marx nimmt an, dass auch der
ineffiziente Kapitalfluss zwischen den Sektoren Krisen heraufbeschwören wird:
Er selbst wurde Zeuge zahlreicher Krisen, in denen die Produktion der
Schwerindustrie und jene der Konsumgüterindustrie aus dem Takt kamen, was
zu Rezessionen führte, die so lange dauerten, bis das Gleichgewicht
wiederhergestellt war. Sodann ist da ein Typ von Krisen, die dadurch
entstehen, dass die zuvor beschriebenen Gegenkräfte nicht wirken, was einen
deutlichen Rückgang der Profitrate, einen Investitionsstillstand,
Massenentlassungen und einen Rückgang des BIP zur Folge hat.
Schließlich beschreibt Marx in Band III von Das Kapital den Ablauf einer
Finanzkrise: Der Kredit nimmt überhand, Spekulation und verbrecherische
Praktiken blähen ihn auf, bis die Kreditblase schließlich platzt und ein Absturz
den Exzess überkorrigiert. Die Folge ist eine mehrjährige tiefe Rezession. In
einem bemerkenswerten Satz nimmt Marx die Welt von Enron, Bernie Madoff
und dem reichsten Einen Prozent vorweg. Die Hauptfunktion des Kredits sieht
er darin, die Ausbeutung »zum reinsten und kolossalsten Spiel- und
Schwindelsystem zu entwickeln und die Zahl der den gesellschaftlichen
Reichtum ausbeutenden Wenigen immer mehr zu beschränken«. 2 Die
Parallelen zwischen den Vorgängen, die im Jahr 2008 zum Kollaps des
Finanzsektors führten, und dieser berühmten Passage aus Das Kapital
bewegten viele Autoren zu dem Urteil, die Geschichte habe Marx bestätigt. Und
da die Realeinkommen in der westlichen Welt trotz des Abflauens der
Finanzkrise stagnieren, hören wir gegenwärtig wieder, Marx habe am Ende
doch recht gehabt mit seiner Einschätzung des Problems der Überproduktion,
denn er erklärte, diese gehe mit einer Erholung von Unternehmensgewinnen
und Wirtschaftswachstum einher, während die Realeinkommen der
Arbeitnehmer schrumpften.
Aber die marxsche Theorie der Krise ist unvollständig. Sie enthält
Denkfehler, die den Marxisten viele Jahre zu schaffen gemacht haben. Vor
allem ist es schwierig, das abstrakte Modell mit der konkreten Realität zu
verknüpfen. Dazu kommt, dass die Theorie ein Produkt ihrer Zeit war: Marx
konnte die entscheidenden Phänomene des 20. Jahrhunderts nicht
berücksichtigen: den Staatskapitalismus, die Monopole, die komplexen
Finanzmärkte und die Globalisierung.
Wenn die Theorie einen Wert haben soll – wenn ihre Aussage über die
Feststellung »Krisen sind normal« hinausgehen soll –, muss sie sowohl in sich
schlüssig gemacht als auch mit den Fakten in Einklang gebracht werden. Wir
müssen sie um die typischen Merkmale komplexer anpassungsfähiger Systeme
erweitern, die sie nicht bewältigt hat: Offenheit, unvorhersehbare Reaktionen
auf Bedrohungen und lange Zyklen (die irgendwo zwischen einer normalen
Krise und dem endgültigen Zusammenbruch anzusiedeln sind). Allerdings ist
selbst eine derart korrigierte Theorie der zyklischen Krisen unzureichend
angesichts der in diesem Buch untersuchten Veränderungen, die das Überleben
der Menschheit betreffen.
Im Jahr 1859 stellte Marx eine Prognose an, die berühmt werden sollte: »Auf
einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte
der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen
Produktionsverhältnissen […]. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte
schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche
sozialer Revolution ein.« 3 Er erklärte allerdings nie, wie die sporadischen
Krisen die Bedingungen für das neue System schaffen würden – oder schaffen
konnten. Er überließ es seinen Schülern, diese Lücke zu schließen.
Nach Marx' Tod gingen seine Anhänger davon aus, dass der Kapitalismus die
Überproduktionskrisen nur kurze Zeit durch Entdeckung oder Erfindung neuer
Märkte bewältigen könne. »[E]s scheint der Augenblick nahe zu sein, wo der
Markt der europäischen Industrie sich nicht nur nicht mehr erweitern, sondern
wo er anfangen wird, sich zu verengern«, schrieb Karl Kautsky im Jahr 1892.
»Das hieße aber nichts anderes als der Bankerott der ganzen kapitalistischen
Gesellschaft.« 4 Die Sozialisten nahmen an, die kurzen Krisen würden wie
Schneebälle anschwellen und schließlich eine zerstörerische Lawine auslösen.
Im Jahr 1898 sagte die Sozialistin Rosa Luxemburg voraus, sobald dem System
die neuen Märkte ausgingen, werde es zu einer Explosion, zu einem Kollaps
kommen, und »an diesem Punkt werden wir die Rolle des Syndikus
übernehmen, der ein bankrottes Unternehmen abwickelt«. 5
Wie wir wissen, kam es anders. Am Anfang seines dritten langen Zyklus
mutierte der Kapitalismus. Der Kampf um neue Kolonien näherte sich dem
Ende, aber der Kapitalismus bewies seine Anpassungsfähigkeit und schuf neue
innere Märkte. Und es gelang ihm, bestimmte Merkmale des Marktes zu
unterdrücken, um sein Überleben zu sichern.
Ende des 19. Jahrhunderts kündigten die Marxisten den Untergang des
Kapitalismus an, doch ihre Prognose erwies sich als falsch. Stattdessen mussten
sie mit ansehen, wie das System einen spektakulären Aufschwung erlebte.
Dann kamen das Chaos und der Zusammenbruch in den Jahren 1914-21. Die
erneute Erholung des Kapitalismus nach der Weltwirtschaftskrise der dreißiger
Jahre ließ die linke Wirtschaftstheorie ratlos zurück. Für den Rest des
20. Jahrhunderts blieb sie orientierungslos.
Der Kapitalismus unterdrückt den Markt

Um das Jahr 1900 durchlief die Weltwirtschaft umwälzende Veränderungen.


Technologien, Geschäftsmodelle, Handelsmuster und Konsumgewohnheiten
entwickelten sich im Gleichschritt weiter und verschmolzen rasch zu einem
neuartigen Kapitalismus.
Im Rückblick verblüffen die Kühnheit und Geschwindigkeit des Wandels:
Stahl ersetzt Eisen. Elektrizität ersetzt Gas. Das Telefon verdrängt den
Telegrafen. Boulevardzeitungen und Lichtspieltheater tauchen auf. Die
Industrieproduktion wächst rasant. In den Hauptstädten der Welt schießen
spektakuläre Gebäude mit Stahlstrukturen aus dem Boden, und durch die
Straßen fahren plötzlich motorisierte Fahrzeuge.
»Der Wettbewerb ist der Krieg der Industrie«, schreibt James Logan, der
Leiter der US Envelope Company, im Jahr 1901. »Der unbewusste,
unbeschränkte Wettbewerb führt zwangsläufig zum Tod einiger der
Kriegsparteien, und alle tragen Verletzungen davon.« 6 Logans Unternehmen
genoss damals beinahe eine Monopolstellung auf dem amerikanischen Markt.
Zur selben Zeit warnte Theodore Vail, der starke Mann von Bell Telephone:
»Die Kosten des aggressiven, unkontrollierten Wettbewerbs muss letzten
Endes direkt oder indirekt die Allgemeinheit tragen.« 7 Um der Allgemeinheit
diese Bürde abzunehmen, entschloss sich Vail, sämtliche Telefonvermittlungen
der USA zu kaufen.
Wenn man den Wirtschaftsmagnaten glauben durfte, stürzte der
Wettbewerb die Produktion ins Chaos und drückte die Preise so lange, bis es
sich nicht mehr lohnte, neue Technologie einzuführen. Die Unternehmen
fanden drei Lösungen für das Problem: Monopole, Preisabsprachen und Schutz
der Märkte. Um diese Lösungen zu verwirklichen, gab es drei Wege: erstens
Fusionen, die von aggressiven neuen Investmentbanken ermöglicht wurden;
zweitens die Bildung von Kartellen und »Konzernen«, welche die Preise
festsetzen konnten; drittens vom Staat verhängte Einfuhrbeschränkungen.
Im Jahr 1901 schlossen sich 138 Unternehmen zur United States Steel
Corporation zusammen, die auf Anhieb sechzig Prozent des Marktes
kontrollierte. Standard Oil besaß neunzig Prozent der amerikanischen
Raffineriekapazitäten und setzte seine Macht rücksichtslos ein: Das
Unternehmen zwang die Eisenbahngesellschaften, sein Erdöl mit Verlust zu
befördern. Bell Telephone genoss bis in die neunziger Jahre des
19. Jahrhunderts ein absolutes Telekommunikationsmonopol, das
zwischenzeitlich verloren ging, 1909 jedoch wiederhergestellt wurde, als sich J.
P. Morgan mit Vail zusammentat, um Bells Konkurrenten aufzukaufen.
In Deutschland, wo Preiskartelle von der Politik gefördert und registriert
wurden, stieg die Zahl dieser Gebilde zwischen 1901 und 1911 auf mehr als das
Doppelte. 8 Das Rheinisch-Westfälische Kohlen-Syndikat, das 67
Unternehmen umfasste, konnte 1400 verschiedene Preise festsetzen und
kontrollierte 95 Prozent des Energiemarkts in der Region. 9
Da es uns heute schwerfällt, das zu verstehen, möchte ich es noch einmal
ganz klar formulieren: In diesem System hingen die Preise nicht von Angebot
und Nachfrage ab. Sie wurden von Millionären festgelegt.
Im Jahr 1915 beherrschten zwei Industriegiganten den deutschen
Elektrizitätssektor, und auch in der chemischen Industrie, im Bergbau und in
der Schifffahrt gab es nur jeweils zwei beherrschende Akteure. Die gesamte
japanische Wirtschaft wurde von sechs zaibatsu beherrscht, Konglomeraten,
die ursprünglich Handelsgesellschaften gewesen waren, sich jedoch in vertikal
integrierte Industrieimperien verwandelt hatten, die, gestützt auf mächtige
Bankhäuser, die Sektoren Bergbau, Stahl, Schiffbau und Waffenproduktion
dominierten. Beispielsweise kontrollierte das zaibatsu Mitsui nicht weniger als
sechzig Prozent der japanischen Elektroindustrie.10
Um derart große Unternehmenskonglomerate finanzieren zu können, wurde
der Finanzsektor neu organisiert. In den USA, in Großbritannien und
Frankreich wurde der Konzentrationsprozess von Börsen und
Investmentbanken vorangetrieben. Im Jahr 1890 notierten zehn
Industrieunternehmen an der New Yorker Börse; sieben Jahre später waren es
mehr als 200.11 In Japan und Deutschland, wo autoritäre Regierungen den
Industriekapitalismus »von oben« geschaffen hatten, wurde das Kapital
weniger über den Aktienmarkt beschafft, sondern vor allem von den Banken
und sogar vom Staat selbst bereitgestellt. Der Nachzügler Russland entwickelte
ein Hybridmodell, und ein Großteil seiner Industrie befand sich in
ausländischem Besitz.
Das angelsächsische und das deutsche/japanische Modell sahen also sehr
unterschiedlich aus, und es begann eine hundertjährige Debatte über die Frage,
welches von beiden das bessere war.[2] Aber beide waren Varianten desselben
Grundkonzepts: Der Finanzsektor sicherte sich eine Kontrollmehrheit an der
Industrie, baute Monopolpositionen auf, wo dies möglich war, und
unterdrückte die Marktkräfte. Und der Staat beteiligte sich an dem Projekt.
Der Markt war also organisiert worden. Nun musste er geschützt werden.
Neben dem Kampf um Kolonien errichteten die großen Mächte
Handelsschranken, deren ausdrücklicher Zweck darin bestand, die Interessen
der eigenen Unternehmen zu schützen. So schirmten die meisten
Industrieländer im Jahr 1913 die heimischen Produzenten mit zweistelligen
Einfuhrzöllen auf Fertigwaren von der internationalen Konkurrenz ab.12 Die
Monopolunternehmen platzierten ihrerseits wichtige Mitarbeiter in den
Regierungen. Die Vorstellung vom Staat als Nachtwächter, der sich aus der
Wirtschaft heraushielt, gehörte der Vergangenheit an.
Das neue System war nicht gegen Krisen gefeit. In den USA beschleunigte in
den Jahren 1893-97 eine kleine Rezession die Fusionen, und im Jahr 1907
korrigierte eine Finanzkrise die Überbewertung der während des Fusionsbooms
ausgegebenen Aktien. In Japan und Deutschland wurde der
Konzentrationsprozess in den neunziger Jahren durch kurze Aufschwung- und
Krisenphasen vorangetrieben.
Insgesamt konnten die Krisen die Fortschritte im Zeitraum zwischen 1895
und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs jedoch nicht wettmachen: Die
amerikanische Wirtschaft wuchs um das Doppelte, die kanadische sogar um
das Dreifache.13 Selbst in Europa, das weniger von der Zuwanderung neuer
Arbeitskräfte profitierte, wuchs die Wirtschaft in diesen zehn Jahren deutlich,
beispielsweise um ein Drittel in Italien und um ein Viertel in Deutschland.
Dies war der Anstieg der dritten Kondratjew-Welle. Die Resultate sieht man
im Stadtbild von New York, Shanghai, Paris und Barcelona: Die dauerhaftesten
und schönsten öffentlichen Bauten – Bibliotheken, Bürohäuser und sogar
Bäder – stammen überwiegend aus der Zeit zwischen 1890 und 1914. Ihre
Bedeutung liegt auf der Hand: In der Zeit des rasanten Wachstums, der
Liberalisierung und der kulturellen Blüte, welche die Europäer als »Belle
Époque« und die Amerikaner als »Progressive Era« kennen, entwickelte sich
die Welt nicht dank der Marktwirtschaft, sondern dank der kontrollierten
Unterdrückung des Markts. Zu jener Zeit störten sich die Konservativen nicht
daran. Aber unter den Marxisten sorgte das für Verwirrung.
Der Kapitalismus mutiert

Ein 33-jähriger österreichischer Arzt übernahm die Aufgabe, die marxistische


Wirtschaftstheorie den veränderten Gegebenheiten anzupassen. Rudolf
Hilferding war ein typischer Intellektueller der Belle Époque. Während er im
letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts in Wien Kinderheilkunde studierte,
wurde er auch in der ökonomischen Szene der Metropole aktiv, in der sich zu
jener Zeit zahlreiche Koryphäen tummelten. Eugen von Böhm-Bawerk, ein
Professor für Volkswirtschaft, der eine berühmte Kritik des Marxismus
geschrieben hatte, veranstaltete Seminare, in denen sich Hilferding in Debatten
mit Leuten wie Schumpeter, Ludwig von Mises – dem Begründer dessen, was
später Neoliberalismus heißen sollte – und einem ungarischen Studenten
namens Eugen Varga behaupten musste, der einige Jahre später wichtige
Beiträge zur marxistischen Wirtschaftstheorie leisten würde.
Im Jahr 1906 kehrte Hilferding der Medizin den Rücken und ging nach
Berlin, um an der Parteischule der SPD, damals der intellektuelle Brennpunkt
der globalen Linken, Wirtschaftswissenschaft zu unterrichten. Im Jahr 1910 gab
Hilferding in seinem Buch Das Finanzkapital der Verschmelzung von Bank-
und Industriekapital einen Namen: »Durch diese Beziehung nimmt das Kapital
[…] die Form des Finanzkapitals an, die seine höchste und abstrakteste
Erscheinungsform bildet.«14
Dieses Buch würde ein Jahrhundert lang der Bezugspunkt für die Debatte
innerhalb der Linken über die Zukunft des Kapitalismus sein. Hilferding war
der erste Marxist, der die umfassende Verwandlung des Kapitalismus verstand.
Tatsächlich sahen viele der dauerhaften Merkmale der neuen Struktur genauso
aus wie jene, die Marx als Reaktionen auf die sinkende Profitrate ausgemacht
hatte: der Kapitalexport, der Export überschüssiger Arbeitskräfte in die
Kolonien, die Anhäufung der Gewinne mittels des Aktienmarkts, die Abkehr
vom Unternehmertum hin zu Investitionen, die Renten abwerfen sollten.
Das Finanzsystem, das im vorangegangenen Jahrhundert ein klägliches
Verteilungszentrum für die Unternehmensgewinne und eine unzuverlässige
Quelle für Kapital gewesen war, beherrschte und steuerte jetzt die Wirtschaft.
Die Reaktionen auf die Krise hatten ein neues, stabileres System
hervorgebracht.
Hilferding glaubte, diese neue Struktur könne die zyklischen Krisen
unterdrücken. Großunternehmen und Großbanken konnten nun längere
Durststrecken mit geringen Gewinnen oder sogar ohne Profit überleben. Und
die Investoren würden sich eher mit langen Stagnationsphasen als mit
plötzlichen Krisen abfinden, die Unternehmen wie Siemens, Bell oder Mitsui
zerstören konnten. Daher, so Hilferding, würden die kommenden Krisen im
Finanzkapitalismus keine scharfen traumatischen Einbrüche mehr sein,
sondern lange Stagnationsphasen. Die Banken würden der Spekulation
entgegenwirken, weil sie sich ihrer Zerstörungskraft bewusst waren. Die
Kartelle würden die Marktkräfte – und damit die Krisen – im Interesse der
Großunternehmen unterdrücken und die Verluste auf die weniger
einflussreichen Wirtschaftssektoren abwälzen. Die Hauptlast von Rezessionen
würden die kleinen Unternehmen tragen müssen, die aufgrund der Belastung
eine leichte Beute für die Monopolisten würden.
Hilferding glaubte nicht, dass die destabilisierenden Kräfte verschwunden
waren, sondern erklärte, sie seien mittlerweile auf eine einzige Sphäre
beschränkt: das Ungleichgewicht zwischen den Produktions- und
Konsumsektoren der Volkswirtschaft. Die »Unterkonsumtion« schloss er
ausdrücklich als Ursache von Krisen aus, da der Kapitalismus in der Lage sei,
immer neue Märkte zu schaffen, wenn die alten erschöpft seien. Auf diese Art
könne die Produktion unendlich ausgedehnt werden. Aber es war weiterhin
möglich, dass die Sektoren mit unterschiedlicher Geschwindigkeit wuchsen.
Daher musste der Staat eingreifen, um ein Ungleichgewicht zu verhindern.
Hilferdings Buch zwang die Linke, sich der Realität zu stellen. Er machte der
These von den »zu einer Lawine anschwellenden Schneebällen« als Auslöser
für soziale Veränderungen den Garaus und führte Konzepte und Begriffe ein,
die der Marxismus schließlich mit den übrigen ökonomischen Theorien teilen
sollte. Und Hilferding erklärte früher als Schumpeter, die Innovation werde
nicht mehr vom Unternehmensgründer vorangetrieben, der in seiner Werkstatt
experimentierte, sondern vom Großunternehmen, das sich der angewandten
Wissenschaft bediente.15
Hilferdings Vorstellungen führten die marxistische Wirtschaftstheorie
allerdings in eine Sackgasse. Er bezeichnete den Finanzkapitalismus nur als
»neuestes Stadium« des Systems. Implizit sagte er jedoch, dass dies das letzte
Stadium sein würde, denn das vom Finanzkapital dominierte System
bezeichnete er als »höchste und abstrakteste Erscheinungsform des
Kapitalismus« – was bedeutete, dass sich das System nicht mehr
weiterentwickeln konnte:

Die sozialisierende Funktion des Finanzkapitals erleichtert die Überwindung des Kapitalismus
außerordentlich. Sobald das Finanzkapital die wichtigsten Produktionszweige unter seine Kontrolle
gebracht hat, genügt es, wenn die Gesellschaft durch ihr bewußtes Vollzugsorgan, den vom Proletariat
eroberten Staat, sich des Finanzkapitals bemächtigt, um sofort die Verfügung über die wichtigsten
Produktionszweige zu erhalten. Von diesen Produktionszweigen sind alle anderen abhängig, und die
Herrschaft über die Großindustrie bedeutet so bereits die wirksamste gesellschaftliche Kontrolle auch
ohne jede weitere unmittelbare Vergesellschaftung.16

Hilferding war ein gemäßigter Sozialist und sollte sich im Lauf der Zeit zum
Sozialdemokraten wandeln. Er glaubte, der Kapitalismus werde sich langsam
zum Sozialismus entwickeln. Aber seine Vorstellungen beeinflussten die
Sozialdemokratie und den revolutionären Sozialismus gleichermaßen. Bald
waren beide Flügel der Arbeiterbewegung überzeugt: Man konnte den
Sozialismus verwirklichen, indem man die Kontrolle über den Staat und den
organisierten Markt übernahm. Der Finanzkapitalismus war, wie Lenin es
ausdrückte, ein »sterbender Kapitalismus«, der »den Übergang zum
Sozialismus bildet: das aus dem Kapitalismus hervorwachsende Monopol ist
bereits das Sterben des Kapitalismus, der Beginn seines Übergangs in den
Sozialismus«.17 Umstritten war innerhalb der sozialistischen Bewegung
lediglich die Frage, wie man seinen Tod herbeiführen sollte.
Bedeutsam ist Hilferdings Analyse, weil er nicht nur den Sozialismus mit
einem staatlich gelenkten Übergangsprojekt verknüpfte, sondern auch die
Möglichkeit ausschloss, dass sich der Kapitalismus über das zu Beginn des
20. Jahrhunderts dominante Modell hinaus weiterentwickeln könnte. Seine
Theorie hat die Linke bis in unsere Zeit beeinflusst. Noch in den siebziger
Jahren konnte man behaupten, dass der Kapitalismus zwar länger als erwartet
überlebt hatte, im Grunde jedoch weiterhin ein staatlich gelenktes, von
Monopolen geprägtes nationales System war. Linke Gewerkschaftler durften
mit einigem Recht annehmen, dass ein Kapitalismus mit staatlichen Fluglinien,
Stahlwerken und Autobauern das zweite Stadium des Fortschritts vom freien
Markt über das Monopol bis zum Sozialismus darstellte.
Diese Vorstellung musste die Linke im Jahr 1989 aufgeben, als das
sowjetische Imperium zerfiel, die Globalisierung rasch voranschritt und ein
fragmentiertes, von der Privatisierung und den Marktkräften geprägtes
Wirtschaftssystem entstand. Hilferdings Vorstellung von der Entwicklung zum
Sozialismus, jene Vorstellung, die achtzig Jahre lang das unausgesprochene
Leitbild der Linken war, ist mittlerweile widerlegt.
Solange die Sozialisten daran festhalten konnten, übte die Doktrin vom
unvermeidlichen linearen Übergang – von Standard Oil geradewegs zum
Sozialismus – allerdings einen unwiderstehlichen Reiz aus.
Warum die Linke die Katastrophe braucht

Als Hilferdings Buch im Jahr 1910 erschien, übte die Sozialdemokratie in allen
hochentwickelten Ländern großen Einfluss aus. Ihr Nervenzentrum war Berlin,
und die Texte ihrer deutschsprachigen Führer wurden in viele Sprachen
übersetzt und in den Fabriken Chicagos, in den Goldminen von New South
Wales und in den revolutionären Zellen an Bord russischer Kriegsschiffe
diskutiert. Aber schon zu der Zeit, da die Arbeiter über Hilferdings Botschaft
debattierten, wollte die Realität nicht recht zur Theorie passen: Rund um den
Erdball begannen Massenstreiks, welche die New Yorker Textilarbeiter ebenso
erfassten wie die Straßenbahnfahrer von Tokio. Auf dem Balkan bahnte sich
ein Krieg an. Ein System, das eigentlich keine Krisen mehr kennen sollte,
wurde von politischen und sozialen Wirren heimgesucht.
Rosa Luxemburg, die 1907 Hilferdings Platz im Leitungskollegium der
Berliner SPD-Parteischule übernommen hatte, begann, an einem Buch zu
arbeiten, in dem sie Hilferdings Stabilitätspostulat zu widerlegen versuchte.
Luxemburg hatte sich an der Organisation von Massenstreiks beteiligt und den
Militarismus verurteilt, ja, sie hatte sogar Lenins elitäre Vorstellung von der
revolutionären Politik attackiert. Jetzt griff sie Hilferding an.
Im Jahr 1913 erschien Luxemburgs Buch Die Akkumulation des Kapitals: Ein
Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus. Die Autorin verfolgte
zwei Ziele: Sie wollte die wirtschaftlichen Beweggründe für die kolonialistische
Rivalität zwischen den Großmächten erklären und zeigen, dass der
Kapitalismus zum Untergang verurteilt war. Dabei entwickelte sie die erste
moderne Theorie der Unterkonsumtion.
Luxemburg spielte die Berechnungen von Marx erneut durch und bewies –
zumindest in ihren eigenen Augen –, dass der Kapitalismus in einem ständigen
Zustand der Überproduktion lebt: Er leidet stets unter einer zu geringen
Kaufkraft der Arbeiterklasse. Daher muss er Kolonien erobern, die nicht nur
Rohstoffe liefern, sondern auch als neue Märkte dienen. Die militärischen
Kosten der Eroberung und Verteidigung der Kolonien haben den Zusatznutzen,
überschüssiges Kapital zu absorbieren. Damit hat die koloniale Expansion eine
ähnliche Funktion wie Verschwendung und Konsum von Luxusgütern.
Da Luxemburg in der kolonialen Expansion das einzige Überdruckventil
eines krisenanfälligen Systems sieht, sagt sie voraus, dass der Kapitalismus
unweigerlich zusammenbrechen wird, sobald die ganze Welt kolonisiert und
das kapitalistische System überall installiert ist. Der Kapitalismus, erklärt sie,
ist die erste Wirtschaftsform, »die allein, ohne andere Wirtschaftsformen als
ihr Milieu und ihren Nährboden, nicht zu existieren vermag, die also
gleichzeitig mit der Tendenz, zur Weltform zu werden, an der inneren
Unfähigkeit zerschellt, eine Weltform der Produktion zu sein«.18
Ihr Buch wurde von Lenin und den meisten ihrer sozialistischen Lehrer mit
vernichtender Kritik überhäuft. Ihre Gegner wandten mit Recht ein, jede
Fehlanpassung von Produktion und Verbrauch sei vorübergehend und werde
durch eine Verschiebung der Kapitalinvestitionen von der Schwerindustrie zu
den Konsumgütern behoben. In jedem Fall seien die neuen Absatzmärkte in
den Kolonien nicht das einzige Überdruckventil für Krisenzeiten.
Ungeachtet dieser Einwände sollte Luxemburgs Buch große Bedeutung
erlangen, führte es doch die Idee der »Endkrise« in die linke Wirtschaftstheorie
ein. Diese Vorstellung deckte sich mit dem Gefühl vieler Sozialisten, dass
Monopole, Finanzkapitalismus und Kolonialismus ungeachtet des Friedens und
des Wohlstands um die Jahrhundertwende eine gewaltige finale Katastrophe
heraufbeschwören würden. In den zwanziger Jahren wurde die
Unterkonsumtion zur beherrschenden Krisentheorie der Linken, und als sich
die Lage wieder beruhigt hatte, eignete sie sich im folgenden halben
Jahrhundert zumindest als Berührungspunkt mit dem Keynesianismus.
Rosa Luxemburg ist immer noch relevant, weil sie etwas erkannte, das
wichtig für die aktuelle Debatte über den Postkapitalismus ist: die
Notwendigkeit einer »Außenwelt« für die erfolgreiche Adaptation von
Systemen.
Wenn wir Luxemburgs Fixierung auf den Kolonialismus und die
Militärausgaben beiseitelassen und stattdessen einfach sagen, dass der
Kapitalismus ein offenes System ist, dann kommen wir dem Verständnis seiner
Anpassungsfähigkeit näher als jene Theoretiker, die in Anlehnung an Marx
versuchten, ihn als geschlossenes System darzustellen.
Genau diese Erkenntnis war es, was die sozialistischen Koryphäen an
Luxemburg störte: Es gehört zum Wesen des Kapitalismus, dass er auf die
Interaktion mit einer Außenwelt angewiesen ist, die ihrerseits nicht
kapitalistisch ist. Ist die Außenwelt einmal verwandelt – sind die indigenen
Völker zerstört und die Bauern von ihrem Land vertrieben –, so muss er neue
Orte finden, um den Prozess zu wiederholen.
Aber Luxemburg war im Irrtum, als sie diesen Prozess auf die Einverleibung
von Kolonien beschränkte. Neue Märkte kann man auch daheim schaffen, und
zwar nicht nur, indem man die Kaufkraft der Arbeiter erhöht, sondern auch,
indem man Aktivitäten außerhalb des Marktes in den Markt hineinholt. Es ist
sonderbar, dass diese Möglichkeit Luxemburg entging, denn genau so eine
Transformation fand in der Welt um sie herum statt.
Noch während sie an ihrer Theorie arbeitete, rollten in Detroit die ersten
Autos von Fords Fließband. Die Victor Talking Machine Company verkaufte in
den USA 250 000 Grammophone pro Jahr. Als Luxemburg im Jahr 1911 mit der
Arbeit an ihrem Buch begonnen hatte, gab es in Berlin ein Lichtspieltheater;
innerhalb von vier Jahren stieg die Zahl der Kinos auf 168.19 Der spektakuläre
Wirtschaftsaufschwung des dritten langen Zyklus (1896-1945) hatte begonnen
und fand vor allem auf einem neuen Verbrauchermarkt statt, der von der
unteren Mittelschicht und den Facharbeitern gebildet wurde. Die Freizeit, die
Nicht-Markt-Aktivität schlechthin, wurde kommerzialisiert.
Luxemburg hatte nicht begriffen, dass neue Märkte in einer komplexen
Interaktion entstehen und nicht nur in Kolonien, sondern auch innerhalb einer
Binnenwirtschaft, in örtlichen Sektoren, in den Privathaushalten und sogar
innerhalb des menschlichen Gehirns geschaffen werden können.
Welchen Schluss müssen wir aus Luxemburgs Erkenntnissen ziehen? Die
eigentliche Frage lautet nicht, was geschieht, wenn erst einmal die ganze Welt
industrialisiert ist. Vielmehr müssen wir fragen, was geschieht, wenn der
Kapitalismus keinen Weg mehr findet, mit einer Außenwelt zu interagieren.
Und was geschieht, wenn er innerhalb der existierenden Wirtschaft keine
neuen Märkte mehr schaffen kann? Wie wir sehen werden, ist das genau das
Problem, vor das die Informationstechnologie den Kapitalismus heute stellt.
Die große Desorientierung

Im Januar 1919 wurde Rosa Luxemburg nach einem fehlgeschlagenen


Revolutionsversuch in Berlin von rechtsradikalen Freikorpsmilizionären
ermordet, die ihre Leiche in den Landwehrkanal warfen. Rudolf Hilferding
starb im Jahr 1941 – durch Selbstmord oder Folter – in einer Gestapo-Zelle in
Paris. Im Zeitraum zwischen diesen beiden Ereignissen verlor die
antikapitalistische Wirtschaftstheorie vollkommen die Orientierung.
Luxemburg hatte den Bolschewismus stets abgelehnt, da sie überzeugt war,
Lenins Partei werde nach einer Machtergreifung in Russland schließlich ein
autoritäres Regime errichten. Eine Ironie der Ideengeschichte wollte es, dass
ihre Theorie Mitte der zwanziger Jahre ausgerechnet zur Staatsdoktrin der
Sowjetunion wurde. Um verstehen zu können, wie es dazu kam und warum die
Linke die Folgen dieser Entwicklung bis heute nicht verkraftet hat, müssen wir
uns bewusstmachen, was die Menschheit Anfang der zwanziger Jahre erlebte.
Es war eine chaotische Zeit. In den Jahren 1919/20 machte die Welt den
abruptesten Zyklus von Wirtschaftsblüte und Zusammenbruch in der
Geschichte durch. Auf einen irrwitzigen Anstieg der Inflation folgten plötzliche
Zinserhöhungen, die einen Börsencrash auslösten, der die Welt von
Washington bis Tokio erbeben ließ. Riesige Fabrikanlagen lagen plötzlich still,
was Massenarbeitslosigkeit zur Folge hatte und die Produktion deutlich unter
das Niveau des Jahres 1914 drückte.
Und mitten in der Krise geschahen Dinge, von denen die meisten Sozialisten
nicht zu träumen gewagt hatten. Die russische Revolution war gerade ein Jahr
alt, als in Bayern und Ungarn Räterepubliken entstanden. Deutschland konnte
eine sozialistische Revolution nur durch weitreichende Reformen zu Beginn
der Weimarer Republik vermeiden, darunter das Versprechen einer
»Vergesellschaftung« der Wirtschaft. In Italien besetzten Arbeiter im Jahr 1919
zahlreiche Fabriken, in Frankreich und Schottland brachen Streiks aus, die an
einen Aufstand grenzten, in Seattle und Shanghai kam es zu Generalstreiks.
Überall in der westlichen Welt ging das Gespenst der Revolution um.
Mittlerweile standen der Linken neben Luxemburgs Buch weitere Leitfäden
zur Verfügung. Während des Weltkriegs hatten Lenin und der bolschewistische
Theoretiker Nikolai Bucharin ausgehend von Hilferding theoretische Arbeit
geleistet und waren beide zu dem Schluss gelangt, dass die beherrschende
Stellung der Finanzwirtschaft zweifellos auf den nahenden Untergang des
Kapitalismus hindeute. Lenin bezeichnete diese neue, dem Zerfall
vorausgehende Form des Kapitalismus als »Imperialismus« und definierte sie
als »Kapitalismus im Übergang«. Die hochgradige Organisation – durch
vertikal integrierte Konzerne, Kartelle und den Staat – bedeutete, dass die
Wirtschaft schon im Kapitalismus vergesellschaftet werde: Die
Privateigentumsverhältnisse, schrieb Lenin im Jahr 1916 in Der Imperialismus
als höchstes Stadium des Kapitalismus, seien eine Hülle, »die dem Inhalt bereits
nicht mehr entspricht und die daher unvermeidlich in Fäulnis übergehen muß,
wenn ihre Beseitigung künstlich verzögert wird, eine Hülle, die sich zwar
verhältnismäßig lange in diesem Fäulniszustand halten kann […], die aber
dennoch unvermeidlich beseitigt werden wird«.20
Bucharin ging in einem Pamphlet, das im Jahr 1915 in einer durchgehend
geöffneten Bibliothek in New York entstand, noch weiter: Da die Politik der
Nationalstaaten mittlerweile den Interessen ihrer beherrschenden
Industrieunternehmen entspreche, gebe es nur noch eine Form des
Wettbewerbs, und zwar den Krieg.21
Dass diese Streitschriften von der Linken jahrzehntelang in Ehren gehalten
wurden, lag daran, dass ihre Autoren zwar Amateurökonomen waren, aber
eine Geschichte erzählten, die mit den Daten zusammenpasste: Der
Monopolismus führte zu kolonialen Eroberungsfeldzügen, die wiederum den
totalen Krieg heraufbeschworen – und dieser führte zur Revolution. Die
Dominanz der Finanzwirtschaft führte zum organisierten Kapitalismus, den die
Arbeiterklasse leicht unter ihre Kontrolle bringen konnte, um ihn zu
vergesellschaften.
Sowohl Lenin als auch Bucharin bemühten sich, die Vorstellung zu
entkräften, es könne eine neue Art von Kapitalismus entstehen, in dem
länderübergreifende Zusammenarbeit möglich war. Auf diesen Gedanken war
der deutsche Sozialist Karl Kautsky kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs
gekommen: Er erwartete, dass sich ein von transnationalen Konzernen
beherrschter Weltmarkt herausbilden würde. Als der Artikel erschien, in dem
Kautsky das Thema des »Ultraimperialismus« behandelte, war der Krieg
allerdings bereits ausgebrochen, weshalb die Frage scheinbar nur noch von
akademischem Interesse war.22
Aber die revolutionären Sozialisten begriffen, dass die These vom
Ultraimperialismus eine Bedrohung für ihr Weltbild war. Sie griffen Kautsky
scharf an und stellten klar: Der Kapitalismus war bereits an seine Grenzen
gestoßen, und das von der revolutionären Partei geführte Proletariat musste
die nächste Gelegenheit zur Machtergreifung nutzen. Alles Gerede darüber,
dass die Arbeiterklasse »mehr Zeit« brauche, um sich zu bilden und politisch
zu reifen, war eine revisionistische Irrlehre.
Die revolutionären Sozialisten sahen eine klare dialektische Entwicklung
vom freien Markt zum Monopol, von der Kolonisierung zum Weltkrieg. War
diese Entwicklung einmal abgeschlossen, so gab es in ihrem philosophischen
Schema keinen Platz mehr für eine weitere Evolution: An diesem Punkt konnte
sich der Kapitalismus nur noch selbst zerstören.
Mittlerweile hatte die gesamte radikale Linke eine von Luxemburgs
zentralen Thesen übernommen: Die Krisentheorie musste die Endlichkeit des
Kapitalismus beschreiben – nicht seine zyklische Entwicklung.

Zwischen 1917 und 1923 erhielten beide Flügel des Sozialismus Gelegenheit,
die Vorstellung, die Arbeiter könnten die staatliche Macht nutzen, um den
Kapitalismus zu vergesellschaften, in die Tat umzusetzen.
Im Januar 1919 trat Hilferding in die Sozialisierungskommission der
deutschen Reichsregierung ein, die vier Monate lang versuchte, den
Kapitalismus unter Einsatz der Staatsmacht zu vergesellschaften. Aber das
Projekt scheiterte schon im Ansatz an der Obstruktion der gemäßigten
Sozialdemokraten und Bürgerlichen in der Regierung. In Österreich kam die
Vergesellschaftung besser voran. Die Koalitionsregierung von Christlich-
Sozialen und Sozialisten verabschiedete ein Gesetz, das die Verstaatlichung
gescheiterter Unternehmen vorsah, doch ein sozialistischer Plan zur
Vergesellschaftung des Bankensystems wurde abgelehnt. Am Ende entstanden
drei wichtige Staatsunternehmen: eine Schuhfabrik, ein pharmazeutisches
Unternehmen und das Arsenal des ehemaligen Habsburgerreichs, das in ein
diversifiziertes Fertigungsunternehmen umgewandelt werden sollte. Das
Schicksal des Projekts fasste der Verantwortliche so zusammen: »Das Problem
der neuen Gesellschaft war, dass sie ihre Arbeiter und Maschinen für die
Erzeugung von Gütern einzusetzen versuchte, für die erst noch ein Markt
geschaffen werden musste.«23
In Ungarn stieg Eugen Varga, der jahrelang an Hilferdings Wiener
Seminaren teilgenommen hatte, in der kurzlebigen Räterepublik zum
Finanzminister auf. Er ordnete die Verstaatlichung sämtlicher Betriebe mit
mehr als zwanzig Beschäftigten an. Alle Kaufhäuser wurden geschlossen, um
die Mittelschicht daran zu hindern, ihr Geld in Luxusgüter zu investieren. Die
Landwirtschaft wurde verstaatlicht. Doch bald stand die ungarische
Arbeiterrepublik vor einem Problem: Die Fabriken mussten geleitet werden,
aber die Arbeiter verstanden nichts von der Betriebsführung. Varga sagte es
geradeheraus:

Es ergibt sich hier eine schwere Aufgabe für die Menschenwirtschaft des Proletarierstaates: aus
improduktiven Konsumenten produktive Arbeiter zu bilden. […] Zehntausende Angestellte […]
bezogen ohne irgendeine Arbeitsleistung ihren vollen, sogar erhöhten Gehalt, lungerten herum,
lehnten jede Teilnahme an irgendeiner Arbeit mit dem Bemerken ab, daß sie ja ihren »Posten« haben
[…].24

Mit anderen Worten: Die Arbeitskomitees handelten nicht im Interesse der


Kommissare, sondern im Interesse der Arbeiter.
In Russland hatten die Kommunisten solche Probleme in den Griff
bekommen, indem sie in den Fabriken militärische Disziplin eingeführt und die
Selbstverwaltung der Arbeiter beseitigt hatten. Aber sie hatten ein größeres
Problem: Die Wirtschaft kollabierte unter den chaotischen Zuständen in der
Industrie, den Versorgungsengpässen und der Weigerung der Bauern, ihr
Getreide in die Städte zu schicken.
Im Jahr 1920 schlug Bucharin einen detaillierten Plan vor, um den
improvisierten »Kriegskommunismus« durch ein dauerhaftes System der
zentralen Planung der gesamten Wirtschaft zu ersetzen. Ein Jahr später ließ
Lenin dieses Vorhaben wieder fallen, denn das wirtschaftliche Chaos und die
Hungersnot zwangen die Bolschewisten, zu einem rudimentären
Marktsozialismus überzugehen.
Die Führer der Sozialdemokratie erklärten seit Jahrzehnten, es habe keinen
Sinn, das Vorgehen nach einer eventuellen Machtübernahme zu planen. Darin
waren sich alle von den revolutionären Sozialisten bis zur gemäßigten
britischen Labour Party einig: Ihre Vorstellungen waren ein Gegenprojekt zum
utopischen Sozialismus mit seinen gescheiterten Experimenten und Träumen.
Sie begriffen, dass sich die Technologie und die Organisation der Wirtschaft so
rasant entwickelten, dass jeder Plan, der in der Parteizentrale in einer
Schublade lag, zwangsläufig veraltet sein würde, wenn man ihn hervorholte.
Sie wussten, dass sie das Finanzsystem kontrollieren oder verstaatlichen
mussten. Und es war ihnen klar, dass die Bedürfnisse der Bauern mit denen der
städtischen Konsumenten kollidieren würden. Doch sie dachten sehr wenig
über das Problem nach, das sowohl das reformistische als auch das
revolutionäre Vergesellschaftungsprojekt zu Fall bringen sollte: Das
unabhängige Handeln der Arbeiter, die ihre eigenen kurzfristigen Interessen
verfolgten, kollidierte mit der Notwendigkeit der technokratischen
Betriebsführung und der zentralen Planung.
Ob es nun die widerspenstigen Arbeitskomitees in Budapest, die auf der
Selbstverwaltung beharrenden russischen Arbeiter oder die Fiat-Arbeiter in
Mailand waren, die tatsächlich ohne Hilfe von Managern Autos zu bauen
versuchten: Das Problem des Widerspruchs zwischen Arbeiterselbstverwaltung
und Planwirtschaft traf die sozialistischen Führer vollkommen überraschend.
Es sollte jedoch darauf hingewiesen werden, dass nicht nur diese ersten
sozialistischen Versuche, sondern auch die kapitalistischen
Stabilisierungsbemühungen fehlschlugen. Die erdrückenden Reparationen, die
Deutschland mit dem Versailler Vertrag aufgebürdet wurden, verurteilten die
Wiederaufbaubemühungen des Landes zum Scheitern. »Auf dem europäischen
Kontinent bebt die Erde«, schrieb ein enttäuschter John Maynard Keynes,
nachdem er unter Protest aus der britischen Verhandlungsdelegation in
Versailles ausgeschieden war, »und es gibt keinen, der nicht das Grollen hörte.
Es ist nicht nur eine Frage des Luxus und der ›Arbeiterunruhen‹, sondern es
geht um Leben und Tod, um Hunger und Überleben und um die schrecklichen
Zuckungen einer sterbenden Zivilisation.«25
Rückblickend ist klar, dass die Welt in den Jahren 1917-21 eine beinahe letale
soziale Krise durchmachte, aber als Wirtschaftskrise war sie nicht
unvermeidlich, sondern das Ergebnis politischer Fehlentscheidungen. In
Deutschland war sie das Resultat der untragbaren Reparationsleistungen. In
Großbritannien und den USA wurde sie von den Zentralbanken ausgelöst, die
die Zinsen zu stark anhoben, um die im Jahr 1919 überhitzte Konjunktur
abzukühlen. Österreich und Ungarn, die in Versailles im Stich gelassen worden
waren, saßen auf riesigen Schuldenbergen und hatten kein Habsburgerreich
mehr, das dafür aufkommen konnte.
Ab 1921 begann sich die Lage zu stabilisieren. Wie wir gesehen haben,
betrachtete Kondratjew die Krise der Jahre 1917-21 lediglich als Vorspiel eines
langen Abstiegs. Aber die Marxisten, die sich auf die Kausalkette »Monopol –
Krieg – Zusammenbruch« verlassen hatten, waren ratlos angesichts der
Stabilisierung. Sie legten sich eine Erklärung zurecht: Der Kapitalismus
überlebte lediglich, weil das Proletariat zu unreif, weil die Arbeiterklasse nicht
zur Machtübernahme entschlossen war. Und dazu kamen taktische Fehler der
sozialistischen Parteien. Nun räumte Lenin die Möglichkeit von
Wachstumsschüben in einzelnen Wirtschaftssektoren ein, ohne jedoch von der
Überzeugung abzuweichen, dass das System als Ganzes nicht mehr
überlebensfähig sei.
Im Jahr 1924 starb Lenin. In der sowjetischen Führung war Trotzki an den
Rand gedrängt worden, Stalin kontrollierte das Politbüro. Eugen Varga, der
nach dem Ende der Räterepublik aus Ungarn hatte fliehen müssen und in
Moskau Zuflucht gesucht hatte, wurde Stalins Chefvolkswirt. Und Stalin
brauchte keine Theorie, mit der er Komplexität erklären konnte; er brauchte
eine Theorie der Gewissheit. Die Gewissheit des unvermeidlichen Untergangs
des Kapitalismus sollte als Rechtfertigung für den Versuch dienen, das
aufzubauen, was alle sozialistischen Wirtschaftstheoretiker für unmöglich
hielten: den »Sozialismus in einem Land«, einem Land, das obendrein extrem
rückständig war. Rosa Luxemburg hatte den Grundstein für eine Theorie der
kapitalistischen Katastrophe gelegt, aber das genügte nicht. Varga lieferte, was
noch fehlte.
Varga beschrieb eine »Gesetzmäßigkeit«, der zufolge die Realeinkommen
der Arbeiter stetig sinken würden. Dies, erklärte er, sei das Kennzeichen »des
absteigenden, verfallenden Kapitalismus. […] Die Lebenshaltung des
Proletariats sinkt.«26 Varga hatte keinen Zweifel: Der Abwärtstrend des
Massenkonsums war ein nichtzyklisches, generelles Merkmal des Kapitalismus
im 20. Jahrhundert und würde der reformistischen und liberalen Politik im Lauf
der Zeit jegliche Unterstützung seitens der Arbeiterschaft entziehen. Anstelle
von Wachstum würde es zur »Desakkumulation« kommen.
Heute können wir kaum noch nachvollziehen, wie einflussreich diese Ideen
wurden, als sie erst einmal durch Mundpropaganda unter den Arbeitern
verbreitet worden waren. In den zwanziger und dreißiger Jahren beriefen sich
Aktivisten der Arbeiterbewegung regelmäßig auf das »Varga-Gesetz«. Es gab
ihrer eigenen Erfahrung einen Sinn: Ging es den Regierungen Großbritanniens
und Frankreichs in den zwanziger Jahren nicht in erster Linie darum, die
Löhne zu senken? Und machte die amerikanische Regierung nach dem
Zusammenbruch im Jahr 1929 nicht absichtlich alles noch schlimmer, um die
Löhne zu drücken? Die Theorie der Unterkonsumtion war vollkommen falsch,
aber ihrer Beliebtheit bei den Sozialisten tat das keinen Abbruch.
Varga legte in den dreißiger Jahren einige anspruchsvolle Arbeiten vor. Als
Anhänger Rosa Luxemburgs war er sich der Tatsache bewusst, dass sich die
Bedingungen in der Welt außerhalb der entwickelten Volkswirtschaften
durchaus auf die Krisendynamik auswirken konnten. Also konzentrierte er sich
darauf, dass das Scheitern der Landwirtschaft in den Kolonialgebieten dazu
beitrage, die wirtschaftliche Erholung im Westen zu verhindern. Folglich war
die »autorisierte Version« der marxistischen Wirtschaftstheorie – das Dogma
vom unvermeidlichen und unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruch des
Kapitalismus – plausibel. Sogar die von Stalin verfolgten Trotzkisten waren
Ende der dreißiger Jahre vom Untergang des Kapitalismus überzeugt; Trotzki
erklärte: »Die Produktivkräfte der Menschheit stagnieren.«27
In einer globalen Arbeiterbewegung, in der mittlerweile die sowjetische
Variante des Marxismus den Ton angab, war der Zusammenbruch des
Kapitalismus die einzig denkbare Möglichkeit.

Marx hatte versucht, den Kapitalismus abstrakt zu beschreiben: Ausgehend von


einer möglichst geringen Zahl von allgemeinen Konzepten, arbeitete er sich
vor zu einer Erklärung der komplexen, sichtbaren Realität der Krise. So löste
die sinkende Profitrate bei Marx Gegenkräfte auf zahlreichen
Abstraktionsebenen aus, und zwar sowohl in der reinen Welt der aggregierten
Profite als auch in der schmutzigen Welt der Kolonien und der Ausbeutung.
Für Marx hatte jede reale Krise eine konkrete Ursache, aber er wollte den
Prozess erklären, der allen Krisen zugrunde lag.
Es war jedoch unmöglich, die erste große strukturelle Wandlung des
Kapitalismus in diesen Rahmen einzuordnen. Der Finanzkapitalismus hatte
eine neue Realität geschaffen.
Im 20. Jahrhundert zwang das Bemühen, den Finanzkapitalismus zu
verstehen, die marxistischen Theoretiker dazu, sich mit konkreten
Phänomenen auseinanderzusetzen: mit Fragen wie der fehlenden Abstimmung
zwischen verschiedenen Wirtschaftssektoren und dem niedrigen Konsum, mit
einer aus vielen Sektoren bestehenden Volkswirtschaft, mit realen Preisen
anstelle der abstrakten Arbeitsmengen, mit denen sich Marx beschäftigt hatte.
Diese Hinwendung zum »Realen« führte die Theoretiker zu neuen
Ergebnissen: Hilferding hielt die zyklische Krise für beendet. Rosa Luxemburg
ersetzte die Krisentheorie durch die Theorie des Zusammenbruchs. Lenin
postulierte die Unumkehrbarkeit des wirtschaftlichen Niedergangs. Und Varga
vollzog den Schritt von der Rationalität zum Dogma. So wurde die plumpeste
aller Krisentheorien zur unanfechtbaren Doktrin eines erbarmungslosen
Staates. Sämtliche kommunistischen Parteien in der Welt hatten sie zu
verbreiten, und eine ganze Generation linker Intellektueller lernte
vollkommenen Unfug.
Die Teilnehmer an der Debatte wurden zu Gefangenen ihrer politischen
Implikationen – und das wirkt sich nie vorteilhaft auf das Denken eines
Sozialwissenschaftlers aus. Wenn Hilferding recht hatte, erklärte Luxemburg,
dann war der Sozialismus nicht unvermeidlich, sondern ein »Luxus« für die
Arbeiterklasse, die sich genauso gut mit dem Kapitalismus arrangieren
konnte – und genau das würde sie in Anbetracht ihres geringen politischen
Bewusstseins vermutlich auch tun. So sah sich Luxemburg gezwungen, eine
objektive Begründung für die Unvermeidlichkeit des Zusammenbruchs zu
finden.
Die Theorie der Unterkonsumtion hat aber in all ihren Varianten eine
Schwachstelle: Was geschieht, wenn der Kapitalismus doch einen Weg findet,
um die Kaufkraft der Massen zu erhöhen? Im Jahr 1928 schwante Bucharin,
dass genau das geschehen war. Der Kapitalismus, erklärte er, habe sich in den
zwanziger Jahren stabilisiert – und dies sei weder eine vorübergehende noch
eine partielle Stabilisierung gewesen – und eine neue Welle der technischen
Innovation eingeleitet. Die Ursache dieses Aufschwungs sah Bucharin in der
Entstehung des »Staatskapitalismus«, das heißt in einer Verschmelzung von
Monopolen, Banken und Kartellen mit dem Staat.28
Damit hatte sich der argumentative Kreis der Krisentheorie geschlossen, und
man war wieder bei der Möglichkeit angelangt, dass der organisierte
Kapitalismus die Krise unterdrücken konnte. Bucharin hatte das Pech, seine
Einschätzung unmittelbar vor dem Börsencrash in New York und inmitten
einer innerparteilichen Auseinandersetzung mit Stalin zu äußern. Er wurde aus
der Parteiführung ausgeschlossen, und obwohl er ein Jahrzehnt lang versuchte,
ein Auskommen mit Stalin zu finden und sich von seinen früheren
Standpunkten zu distanzieren, wurde er wie Kondratjew im Jahr 1938
hingerichtet.
Das Problem der Krisentheorie

Erst in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurden die


unzusammenhängenden Teile von Marx' Theorie zu einem brauchbaren
Ganzen zusammengefügt. Doch obwohl die Ökonomen der Neuen Linken
wichtige Beiträge geleistet haben, um den wirklichen Marx zu retten und seine
Thesen zu klären, bleibt das grundlegende Problem bestehen: Die Krisentheorie
genügt nicht, um zu verstehen, wohin sich der Kapitalismus entwickelt und
wie er sich wandelt.
Marx erkannte, dass die Maschinen die menschliche Arbeitskraft
verdrängen, was zur Folge hat, dass die Profitrate sinkt. Desgleichen wird der
Rückgang der Profite tendenziell durch Anpassung (durch die
»entgegenwirkenden Ursachen«) wettgemacht, und wenn diese Anpassungen
zusammenbrechen, kommt es zu einer zyklischen Krise.
Kondratjew zeigte uns allerdings, wie an einem bestimmten Punkt – an dem
die Krisen häufig, tief und chaotisch werden – eine strukturelle Anpassung
ausgelöst wird. Da ihr Wirtschaftsmodell diese strukturelle Anpassung nicht
berücksichtigte, mussten die Marxisten des frühen 20. Jahrhunderts diesen
Prozess anhand historischer »Epochen« oder philosophischer Kategorien wie
Parasitismus, Verfall und Übergang beschreiben.
Tatsächlich ist der Augenblick der Mutation im Grunde wirtschaftlicher
Natur. Eine ganze Struktur von Geschäftsmodellen, Kenntnissen, Märkten,
Währungen, Technologien funktioniert nicht mehr und wird rasch durch eine
neue ersetzt.
Das geschieht auf der »Mesoebene« der Systeme, das heißt zwischen der
mikro- und der makroökonomischen Ebene. Aufgrund ihres Umfangs finden
die Anpassungen irgendwo zwischen dem Kreditzyklus und dem Untergang
des ganzen Systems statt. Sobald man die Mutationen als zu erwartende und
regelmäßige Ereignisse betrachtet, stellt man fest, dass jedes
Kapitalismusmodell, in dem sie als zufällig oder optional betrachtet werden,
nicht funktionieren wird.
Es gibt keine Krisentheorie, die das gesamte Phänomen der Systemmutation
erfassen kann, aber die Krisentheorie kann beschreiben, wodurch die Mutation
in jedem spezifischen Fall ausgelöst wird.
Eine moderne Krisentheorie darf nicht abstrakt sein. Sie muss
makroökonomisch sein. Sie kann sich wie die marxsche Theorie der
Abstraktion bedienen, um grundlegende Marktmechanismen zu beschreiben,
aber sie kann den Staat als wirtschaftliche Kraft und die Gewerkschaften,
Monopole, Währungen, Zentralbanken nicht ignorieren. Auch darf sie das
Finanzsystem als Krisenkatalysator und (im gegenwärtigen Kontext) die
Auswirkungen des finanzialisierten Verhaltens der Konsumenten nicht außer
Acht lassen. Dasselbe gilt für die Instabilität, die das Fiatgeld heraufbeschwört.
Dieses hat eine Ausweitung des Kredits und eine Spekulation von einem
Ausmaß ermöglicht, das der Kapitalismus des 19. Jahrhunderts nicht verkraftet
hätte.
In diesem Sinn waren Hilferding, Luxemburg und die anderen sozialistischen
Wirtschaftstheoretiker keine »schlechten Marxisten«, als sie sich von den
Abstraktionen lösten, um sich den konkreten Fakten zuzuwenden. Vielmehr
waren sie gute Materialisten. Ihr Fehler war, dass sie annahmen, der einzige
Weg zu einem postkapitalistischen System führe über den Staatskapitalismus.
Heute wissen wir mit Sicherheit, dass es nicht so ist.
Marxistische Ökonomen haben wichtige Beiträge zu unserem Verständnis
der Krise von 2008 geleistet. Der französische Wirtschaftswissenschaftler
Michel Husson und Anwar Shaikh, der an der progressiven New School in New
York unterrichtet, haben gezeigt, wie der Neoliberalismus ab den achtziger
Jahren die Profitraten stabilisiert und teilweise wiederhergestellt hat.29 Husson
weist mit Recht darauf hin, dass der Neoliberalismus das Problem der
Rentabilität »löst«, sei es für das einzelne Unternehmen (durch Senkung der
Arbeitskosten) oder für das System insgesamt (durch eine deutliche Erhöhung
der finanzwirtschaftlichen Profite). Aber während die Gewinne steigen, bleibt
die Investitionsrate seit den siebziger Jahren niedrig.
Dieses Paradox der trotz sinkender Investitionen steigenden Profite sollte
der eigentliche Hauptgegenstand der modernen Krisentheorie sein. Es gibt eine
gute Erklärung dafür: Im neoliberalen System fließen die Gewinne der
Unternehmen nicht in Investitionen, sondern in Dividenden. Und angesichts
von finanziellem Stress verwenden sie die Gewinne, um für den Fall einer
Kreditklemme Rücklagen zu schaffen – das zeigte sich besonders deutlich nach
der Asienkrise von 1997. Sie müssen unentwegt Schulden tilgen und in guten
Zeiten mit Aktienrückkäufen den Profit unter ihren Eigentümern verteilen. Sie
müssen das Risiko verringern, finanziell ausgebeutet zu werden, und ihre
eigene Fähigkeit zu gewinnbringenden Aktivitäten auf den Finanzmärkten
erhöhen.
Husson und Shaikh haben also eine »sinkende Profitrate« in den
Jahrzehnten vor 2008 nachgewiesen, doch die Krise ist das Ergebnis eines
umfassenderen strukturellen Prozesses. Verursacht wurde sie durch das
plötzliche Verschwinden von Faktoren, die jahrzehntelang Ineffizienz und
geringe Produktivität ausgleichen konnten (wie Larry Summers in seiner
Arbeit über die säkulare Stagnation erklärt hat).30
Das Bedürfnis, die Krisen allgemein auf eine einzige abstrakte Ursache
zurückzuführen und die Tatsache der strukturellen Mutationen zu ignorieren,
ist der Grund für die Verwirrung in der marxistischen Theorie. Angesichts der
heutigen Krise müssen wir diesen Fehler vermeiden. Unsere Analyse muss
konkret sein: Sie muss die realen Strukturen des Kapitalismus berücksichtigen:
Staaten, Konzerne, Sozialsysteme, Finanzmärkte.
Die Krise im Jahr 2008 brach nicht aus, weil eine bestimmte
entgegenwirkende Ursache ausfiel oder weil die Profitrate plötzlich sank.
Vielmehr kam es zum Zusammenbruch eines als Neoliberalismus bezeichneten
Systems von Faktoren, welche die Profitrate stützten. Der Neoliberalismus war
weder eine große Wirtschaftsblüte noch eine Periode verborgener Stagnation,
wie manche behaupten. Er war ein Experiment, das scheiterte.
Der perfekte Zyklus

Im nächsten Kapitel werde ich erklären, wie es zu diesem Experiment kam. Ich
werde im Detail beschreiben, wie sich in den Jahren 1948 bis 2008 der vierte
Kondratjew-Zyklus entfaltete, wie er unterbrochen wurde und was ihn
verlängerte. Meine These ist, dass die Wirkung der Technologie und das
plötzliche Auftauchen einer neuen Außenwelt das Langzeitmuster zerstörten.
Um uns eine Vorstellung von der Entwicklung machen zu können, brauchen
wir allerdings ein Modell eines normalen Zyklus. Kondratjew wies mit Recht
darauf hin, dass jede Welle, da sie auf der vorherigen aufbaut, eine neue
Version des Musters erzeugt. Aber nur wenn wir eine klare Vorstellung von
der Natur der ersten drei Wellen haben, können wir erkennen, inwieweit die
vierte davon abwich.
Es folgt meine »normative« Neuformulierung der Theorie der langen
Zyklen, die ich mit den rationalen Bestandteilen der marxistischen
Krisentheorie verschmelzen werde:
1. Dem Beginn eines Zyklus geht normalerweise eine Anhäufung von Kapital
im Finanzsystem voraus, was die Suche nach neuen Märkten anregt und die
Verbreitung einer Gruppe neuer Technologien in Gang setzt. Der erste
plötzliche Anstieg löst Kriege und Revolutionen aus, aber nach einer Weile
stabilisiert sich der Weltmarkt, gestützt auf neue Regeln oder
Vereinbarungen.
2. Sobald die neuen Technologien, Geschäftsmodelle und Marktstrukturen
aufeinander abgestimmt sind und das neue »technologische Paradigma«
etabliert ist, fließt Kapital in den produktiven Sektor und dient als
Treibstoff für eine goldene Ära mit überdurchschnittlichem
Wirtschaftswachstum und wenigen Rezessionen. Da überall Profit erzielt
wird, setzt sich die Überzeugung durch, dass er rational zwischen allen
Akteuren aufgeteilt werden sollte, und dasselbe gilt für die Möglichkeit, den
Wohlstand abwärts umzuverteilen. Dies ist eine Zeit von »kooperativem
Wettbewerb« und sozialem Frieden.
3. Während des gesamten Zyklus wird die menschliche Arbeitskraft
zusehends durch Maschinen ersetzt, während des Aufschwungs wird der
Rückgang der Profitrate jedoch durch die Ausweitung der Produktion
ausgeglichen, weshalb der Gesamtprofit steigt. In jeder Aufschwungphase
gelingt es der Wirtschaft, trotz steigender Produktivität neue Arbeitskräfte
aufzunehmen. So fand der Glasbläser, der im zweiten Jahrzehnt des
20. Jahrhunderts von Maschinen verdrängt wurde, Arbeit als Vorführer in
einem Lichtspieltheater oder in einem Automobilwerk.
4. Der Wirtschaftsaufschwung kommt in der goldenen Ära oft zum Stillstand,
weil die Euphorie zu übermäßigen Investitionen in bestimmten Sektoren
führt, die Inflation antreibt oder dominante Mächte zu kriegerischen
Abenteuern verleitet. Normalerweise gibt es einen traumatischen
»Umbruch«, weil sich Ungewissheit über die Zukunft der
Geschäftsmodelle, der Währungssysteme und der globalen Stabilität
ausbreitet.
5. Jetzt beginnt die erste Anpassung: Der Druck auf die Löhne steigt, es wird
versucht, Tätigkeiten so zu gestalten, dass sie weniger Kenntnisse
erfordern. Umverteilungsprojekte wie der Sozialstaat oder die Entwicklung
städtischer Infrastrukturen geraten unter Druck. Die Geschäftsmodelle
werden rasch weiterentwickelt, um das Profitpotenzial vollkommen
auszuschöpfen, und der Staat wird gedrängt, einen beschleunigten Wandel
zu organisieren. Die Rezessionsphasen werden häufiger.
6. Wenn der erste Anpassungsversuch scheitert (was in den dreißiger und
siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts sowie in den zwanziger Jahren des
20. Jahrhunderts geschah), wird das Kapital aus dem produktiven Sektor
abgezogen und ins Finanzsystem umgeleitet, wodurch die Krisen einen
offen finanziellen Charakter annehmen. Die Preise sinken. Auf eine Panik
folgt eine Depression. Die Suche nach vollkommen neuen Technologien,
Geschäftsmodellen und Geldquellen beginnt. Die globalen Machtstrukturen
werden instabil.

An diesem Punkt müssen wir das Konzept der »sozialen Agenten« in Betracht
ziehen, das heißt der gesellschaftlichen Gruppen, die ihre eigenen Interessen
verfolgen. Ein Problem der auf Schumpeter zurückgehenden Version der
Zyklentheorie ist ihre Fixierung auf Innovatoren sowie Technologien und ihre
Vernachlässigung der Klassen. Ein genauer Blick auf die Sozialgeschichte zeigt,
dass alle »fehlgeschlagenen Anpassungen« zunächst am Widerstand der
Arbeiterklasse scheiterten und dass jede erfolgreiche dann vom Staat
organisiert wurde.
Im ersten langen Zyklus in Großbritannien, der etwa von 1790 bis 1848
dauert, ist eine Industriewirtschaft in einem aristokratischen Staat gefangen.
Ende der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts beginnt eine lange Krise, deren
wichtigstes Merkmal die Entschlossenheit der Fabrikbesitzer ist, ihr
wirtschaftliches Überleben durch ein Deskilling der Arbeiter und durch
Lohnkürzungen zu sichern; dazu kommen Turbulenzen im Bankensektor. Der
Widerstand der Arbeiterklasse – die Revolte der Chartisten erreicht ihren
Höhepunkt mit dem Generalstreik im Jahr 1842 – zwingt den Staat, die
Wirtschaft zu stabilisieren.
In den vierziger Jahren findet allerdings eine erfolgreiche Anpassung statt:
Die Bank of England erhält das Monopol auf die Ausgabe von Banknoten, die
Fabrikgesetze beenden den Traum der Fabrikbesitzer, männliche Facharbeiter
durch billigere Frauen und Kinder zu ersetzen. Die Korngesetze – Schutzzölle,
die die Einnahmen der aristokratischen Großgrundbesitzer schützen – werden
abgeschafft. Es wird eine Einkommenssteuer eingeführt, und der Staat beginnt
wie eine Maschine der Industriekapitalisten zu funktionieren, anstatt nur als
Schlachtfeld für ihre Auseinandersetzungen mit der alteingesessenen
Aristokratie zu dienen.
Im zweiten Zyklus – der in Großbritannien, Westeuropa und Nordamerika
beginnt, dann aber auch Russland und Japan erfasst – beginnt der
Schrumpfungsprozess im Jahr 1873. Das System versucht, sich anzupassen,
indem es Monopole aufbaut, Agrarreformen einleitet, die Löhne der
Facharbeiter drückt und Einwanderer aufnimmt, die sich als billige
Arbeitskräfte eignen. Die Staaten koppeln ihre Währungen an das Gold, bilden
Währungsblocks und führen Einfuhrzölle ein. Aber das Wachstum leidet
weiterhin unter sporadischen Phasen der Instabilität. In den achtziger Jahren
erhält die Arbeiterbewegung erstmals massenhaften Zulauf. Obwohl ihre
Proteste oft niedergeschlagen werden, widersetzen sich die Facharbeiter mit
Erfolg der Automatisierung, und die ungelernten Arbeiter kommen in den
Genuss erster Sozialleistungen. Erst im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts,
als die Monopole mit den Banken verschmelzen oder Rückendeckung durch
einen liquiden Finanzmarkt erhalten, kommt es zu einem strategischen
Wandel. Eine Reihe radikal neuer Technologien setzt sich durch, und wie
seinerzeit in den vierziger Jahren wird dem Staat eine neue Rolle zugewiesen,
sei es in Berlin, Tokio oder Washington: Er wird ein unverzichtbarer Garant
optimaler Bedingungen für die großen Monopolunternehmen, denen er mit
Einfuhrzöllen, der Einverleibung neuer Territorien und dem Bau von
Infrastrukturen unter die Arme greift.
Einmal mehr verhindert der Widerstand der Arbeiterklasse, dass sich das
System ohne technologische Innovation mit billigen Lösungen anpassen kann.
Im dritten langen Zyklus, in dem wir den Beginn des Abschwungs in den
Jahren 1917-21 ansetzen können, passt sich das System mit einer verstärkten
staatlichen Kontrolle über die Industrie an und versucht, zum Goldstandard
zurückzukehren. In den meisten Ländern werden in den zwanziger Jahren die
Löhne ins Visier genommen, aber sie sinken nicht schnell genug, um die Krise
zu überwinden. Als die Weltwirtschaftskrise beginnt, sehen sich die großen
Länder gezwungen, aus Furcht vor gesellschaftlichem Aufruhr konkurrierende
Lösungen zu suchen: Sie geben den Goldstandard auf, bilden geschlossene
Handelsblöcke und kurbeln das Wachstum und den Arbeitsmarkt mit
Staatsausgaben an.
Diese Deutung ist meines Erachtens eine wesentliche Ergänzung der Theorie
der langen Zyklen: In jedem Zyklus stellt der Angriff auf die Einkommen und
Arbeitsbedingungen der Arbeiterklasse zu Beginn des Abschwungs ein
unverkennbares Moment des Musters dar. Er löst den Klassenkampf nach 1830,
die Entstehung der Gewerkschaften in den letzten beiden Jahrzehnten des
19. Jahrhunderts und die sozialen Konflikte in den zwanziger Jahren des
20. Jahrhunderts aus. Das Ergebnis der Auseinandersetzungen ist bedeutsam:
Kann die Arbeiterklasse den Angriff abwehren, so wird das System zu einer
grundlegenden Mutation gezwungen, die ein neues Paradigma hervorbringt.
Im vierten Zyklus haben wir gesehen, was geschieht, wenn die
Arbeiterklasse nicht erfolgreich Widerstand leistet.
Auch der Einfluss des Staats auf die Entwicklung eines neuen Paradigmas ist
unübersehbar. In den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts setzen sich die
Volkswirte der Currency School durch, die dem britischen Kapitalismus eine
solide Geldpolitik verschreiben, indem sie auf dem Emissionsmonopol der Bank
of England beharren. In den achtziger und neunziger Jahren nehmen die
staatlichen Eingriffe zu. In den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts sehen wir
direkten Staatskapitalismus und Faschismus.
Die Geschichte der langen Zyklen zeigt, dass der Staat nur eingreifen muss,
wenn das Kapital nicht in der Lage ist, die Löhne zu drücken, und wenn es
keine geeigneten Bedingungen für neue Geschäftsmodelle gibt: Dann muss er
neue Systeme regeln, neue Technologien belohnen, Kapital für Innovatoren
bereitstellen und diesen Schutz gewähren.
Dass der Staat in den großen Transformationen eine wichtige Rolle spielt,
wird allgemein anerkannt. Hingegen wird die Bedeutung der Klassen
unterschätzt. In ihrer Studie über die langen Zyklen behandelt Carlota Perez
den Widerstand der Arbeitnehmer lediglich als einen von mehreren Faktoren
des »Widerstands gegen Veränderungen«. Ich bin anderer Meinung: Der
Widerstand der Arbeitnehmer hat entscheidenden Einfluss auf die Gestalt der
nächsten langen Welle.
Wenn es der Arbeiterklasse gelingt, sich gegen Lohnkürzungen und Angriffe
auf das Sozialsystem zu wehren, müssen die Innovatoren nach neuen
Technologien und Geschäftsmodellen suchen, welche die Dynamik auf der
Grundlage höherer Löhne wiederherstellen können, das heißt durch Innovation
und höhere Produktivität statt durch Ausbeutung. Im Allgemeinen lässt sich
feststellen, dass der Widerstand der Arbeiterklasse den Kapitalismus in den
ersten drei langen Zyklen zwang, sich mit den bestehenden oder höheren
Konsumniveaus neu zu erfinden (obwohl das den Nachteil hatte, dass die
Großmächte immer brutalere Methoden anwandten, um aus den Kolonien
Profite herauszuholen).
Perez hält Widerstand gegen den Tod des alten Systems für vergeblich. Sie
zieht eine Linie »zwischen denen, die nostalgisch zurückblicken und sich an
die Praktiken der Vergangenheit klammern, und denen, die das neue
Paradigma übernehmen«.31
Doch wenn man die Faktoren Klasse, Löhne und Sozialstaat berücksichtigt,
kann der Widerstand der Arbeiterklasse den technologischen Fortschritt
antreiben, da er die Einführung des neuen Paradigmas auf einem höheren
Produktivitäts- und Konsumniveau erzwingt. Er zwingt die »neuen Menschen«
der nächsten Ära, Wege zu finden, um eine produktivere Form des
Kapitalismus zu verwirklichen, die höhere Realeinkommen ermöglicht.
Die langen Zyklen werden nicht nur durch Technologie und
Wirtschaftspolitik hervorgebracht. Der Klassenkampf ist der dritte
unverzichtbare Faktor. Und hier ermöglicht uns die ursprüngliche
Krisentheorie von Karl Marx ein besseres Verständnis der Entwicklung als
Kondratjews Theorie der »Erschöpfung der Investitionen«.
Was erzeugt den Zyklus?

Marx' Theorie beschreibt gut, woher die Energie kommt, die den Fünfzig-
Jahres-Zyklus antreibt. Wenn wir die falschen Ergänzungen seiner Nachfolger
streichen, wird uns klar, wo Marx recht hatte und wo sich seine Theorie mit
den hier beschriebenen fünfzigjährigen Mutationszyklen deckt.
Wir dürfen annehmen, dass die Profitrate während des gesamten Fünfzig-
Jahres-Zyklus sinkt und dass die dem Profitrückgang entgegenwirkenden
Kräfte ebenfalls während der gesamten Phase wirken. Es kommt zu
Zusammenbrüchen, wenn die Gegenwirkungen zu schwach werden. Im
unreifen Kapitalismus des 19. Jahrhunderts waren sie oft zu beobachten, wobei
sie sich jedoch immer im Lauf des Abschwungs häuften. Marx zum Beispiel
unterschätzte die Möglichkeit, dass der Widerstand der Arbeiterklasse gegen
Lohnkürzungen ein Auslöser für Profitkrisen sein könnte. Aber der Rückgang
der Profitrate wirkt unter mehreren Schichten von sozialen Praktiken, deren
Zweck es ist, diesen Rückgang aufzuhalten oder ihn zu kompensieren.
Kondratjews Darstellung, die Fünfzig-Jahres-Zyklen hätten ihren Ursprung
in der Notwendigkeit, die Infrastruktur zu erneuern, war eine übermäßige
Vereinfachung. Es ist eher so, dass jeder Zyklus eine spezifische und konkrete
Antwort auf den Rückgang der Profitrate im Verlauf des Aufschwungs
hervorbringt – eine Reihe von Geschäftsmodellen, Kenntnissen und
Technologien. Wenn diese Reaktion erlahmt oder unterbrochen wird, beginnt
der Abschwung. Die wirksamsten Lösungen während des Aufschwungs sind in
der marxistischen Theorie auf einer grundlegenden Ebene im
Produktionsprozess beschrieben: Erhöhung der Produktivität, billigere Inputs
und eine wachsende Profitmasse. Sobald der Abstieg ins Wellental beginnt und
der Mangel an Lösungen zutage tritt, werden die eher kontingenten Faktoren
an der Oberfläche wirksam: Können neue Märkte außerhalb des Systems
gefunden werden? Werden sich die Investoren mit einem geringeren Anteil am
Gewinn (in Form von Dividenden) zufriedengeben?
Die rückläufige Tendenz der Profitrate, die in unablässiger Wechselwirkung
mit den entgegenwirkenden Einflüssen steht, erklärt sehr viel besser als
Kondratjews Interpretation, was den Fünfzig-Jahres-Zyklus antreibt. Und wenn
man die beiden miteinander verschmilzt, stellt sich heraus, dass die Theorie der
langen Zyklen ein sehr viel besseres Werkzeug ist, als sich die orthodoxen
Marxisten vorstellen konnten.
Einfach ausgedrückt, sind die Fünfzig-Jahres-Zyklen der langfristige
Rhythmus des Profitsystems.
Eine Lösung, die den Unternehmen erlaubt, Arbeitskräfte rasch durch
Maschinen zu ersetzen, funktioniert eine Weile und steigert die Profite. Doch
irgendwann versagt sie. Dies ist meine Alternative zu Kondratjews
»Erschöpfung der Investitionen«.
Was Finanzkrisen betrifft, so sind sie in der Aufschwungphase des langen
Zyklus möglich (ein Beispiel ist die Panik in den USA im Jahr 1907), aber in der
Abwärtsphase sind sie praktisch eine Gewissheit. Das Kapital, das aus dem
notleidenden produktiven Sektor in den Finanzsektor fließt, destabilisiert
diesen und löst kurze spekulative Boom-Bust-Zyklen aus. Und im Lauf der
ersten drei langen Zyklen wurde das Kapital finanziell immer ausgeklügelter
und komplexer.
Schließlich müssen wir berücksichtigen, dass der Kapitalismus gezwungen
ist, mit der Außenwelt zu interagieren, um neue Märkte für die Güter und neue
Arbeitskräfte zu finden. Dies ist ein bedeutsamer Bestandteil der
Systemtheorie, aber in der marxistischen Krisentheorie, die sich auf
geschlossene und abstrakte Modelle beschränkt, findet er zu wenig Beachtung.
Im 19. Jahrhundert gab es in den meisten kapitalistischen Ländern großes
Entwicklungspotenzial auf dem Binnenmarkt, sofern die Agrarwirtschaft den
Schock der Umstellung verkraften konnte. Auch war das Arbeitskräfteangebot
groß. Aber nach 1848 mussten die Anpassungsbemühungen um die Suche nach
externen Märkten erweitert werden.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das interne Arbeitskräfteangebot
beschränkt, was zum Teil am Widerstand der Arbeiterklasse gegen
Kinderarbeit sowie den Einsatz von Frauen und zum Teil an der sinkenden
Geburtenrate lag. Und was die neuen Märkte anbelangte, so hatten sich in den
dreißiger Jahren praktisch alle Länder in geschlossenen Handelsblöcken
abgeschottet.
Im vierten Zyklus war ein großer Teil der Außenwelt anfangs
ausgeschlossen. Als der Kalte Krieg begann, wurden rund zwanzig Prozent des
globalen BIP außerhalb des Marktes produziert.32 Nach 1989 trugen die
plötzliche Verfügbarkeit neuer Märkte und neuer Arbeitskräfte wesentlich zur
Verlängerung des Zyklus bei. Dazu kam, dass der Westen nun ungehindert
Märkte in früher unzugänglichen neutralen Ländern aufbauen konnte.
Mit anderen Worten: Zwischen 1917 und 1989 konnte der Kapitalismus seine
Fähigkeit zu komplexen Anpassungsreaktionen nicht vollkommen
ausschöpfen. Nach 1989 erhielt er einen Energieschub: Er fand Arbeitskräfte,
Märkte, unternehmerische Freiheit vor und profitierte von neuen
Skaleneffekten. Diese Phase erklärt teilweise die Verzerrung des Zyklus, mit
der wir uns im nächsten Kapitel befassen werden. Aber sie kann sie nicht zur
Gänze erklären.
Das Muster des langen Zyklus ist gestört worden. Der vierte Zyklus wurde
von Faktoren, die in der Geschichte des Kapitalismus neu waren, verlängert,
verzerrt und schließlich unterbrochen. Diese Faktoren waren die Niederlage
und moralische Kapitulation der organisierten Arbeiterklasse, der Aufstieg der
Informationstechnologie und die Entdeckung, dass eine unangefochtene
Supermacht lange Zeit Geld aus dem Nichts schöpfen kann.
[1]
Im Original deutsch.
[2]
Erschwert wird die Beurteilung dadurch, dass sich das amerikanische Modell nach 1911
weiterentwickelte. Das Monopolsystem wurde durch einen geregelten Wettbewerb zwischen den
großen Industrieunternehmen ersetzt, wobei die eigentliche Monopolmacht der Wall Street und der
neu gegründeten Federal Reserve zufiel. Das löste heftige Kritik der amerikanischen Rechten an den
Monopolen aus, was die Tatsache verdeckte, dass das Monopol während des gesamten Zeitraums in
den USA die Norm war.
4
Ein unterbrochener langer Zyklus

Im Jahr 1948 trat der Marshall-Plan in Kraft, der Kalte Krieg begann, und Bell
Laboratories erfand den Transistor. Diese Ereignisse sollten den vierten langen
Zyklus prägen, dessen ansteigende Phase bald darauf beginnen würde.
Der Marshall-Plan, der Europa mit zwölf Milliarden Dollar an
amerikanischen Hilfsgeldern versorgte, gewährleistete, dass der
Wirtschaftsaufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg unter Führung der USA
stattfand. Der Kalte Krieg verzerrte und verschob den nächsten langen Zyklus,
indem er zwanzig Prozent der globalen Produktion für das Kapital
unerreichbar machte und eine zweite Wachstumsphase auslöste, als der Zyklus
im Jahr 1989 endete. Was den Transistor anbelangt, so wurde er zur
wichtigsten Technologie der Nachkriegszeit, da er die
Informationsverarbeitung in industriellem Maßstab ermöglichte.
Jene, die den Nachkriegsboom erlebten, waren fasziniert und ständig in
Sorge, die Wirtschaftsblüte könne irgendwann vorbei sein. Sogar Harold
Macmillan, der den Briten im Jahr 1957 sagte, es sei ihnen »nie zuvor so gut
gegangen«, fügte hinzu: »Aber einige von uns beginnen, sich zu fragen, ob es
zu schön ist, um wahr zu sein.« 1 In Deutschland, Japan und Italien
bezeichnete die Boulevardpresse die Wirtschaftsblüte ihres Landes als
»Wunder«.
Die Zahlen waren tatsächlich verblüffend. In Kombination mit den
nationalen Wiederaufbaubemühungen trieb der Marshall-Plan in den meisten
europäischen Volkswirtschaften ein zweistelliges Wachstum an, bis sie die
Vorkriegswirtschaftsleistung wieder erreicht hatten; in den meisten Ländern
war dieser Punkt im Jahr 1951 erreicht. 2 Es begann ein spektakuläres
Wachstum – das nicht mehr aufhörte. Die amerikanische Wirtschaft
verdoppelte ihren Umfang von 1948 bis 1973. 3 Im selben Zeitraum
vervierfachte sich das Bruttoinlandsprodukt Großbritanniens, der
Bundesrepublik und Italiens. Und die japanische Wirtschaft wuchs auf das
Zehnfache – und das hatte nichts mit einem Aufholeffekt aufgrund der
atomaren Zerstörung zu tun, sondern wurde ausgehend von einem Niveau
gemessen, das fast dem Vorkriegsniveau entsprach. In diesem
Vierteljahrhundert wuchs die Wirtschaft Westeuropas durchschnittlich um
4,6 Prozent pro Jahr, fast doppelt so schnell wie in der Aufschwungphase von
1900 bis 1913. 4
Angetrieben wurde das Wachstum von beispiellosen
Produktivitätssteigerungen. Die Ergebnisse sind am Pro-Kopf-BIP zu erkennen.
Dieses stieg in den 16 am höchsten entwickelten Ländern zwischen 1950 und
1973 um durchschnittlich 3,2 Prozent pro Jahr. Zwischen 1870 und 1950 hatte
der Zuwachs lediglich 1,3 Prozent pro Jahr betragen. 5 Die Realeinkommen
stiegen deutlich: In den USA schwoll das Einkommen der meisten Haushalte
zwischen 1947 und 1975 um mehr als 90 Prozent an, 6 in Japan erhöhte sich
das durchschnittliche Realeinkommen um verblüffende 700 Prozent. 7
Überall in der entwickelten Welt war das neue techno-ökonomische
Paradigma zu erkennen, auch wenn jedes Land seine eigene Version
entwickelte. In der gesamten Volkswirtschaft setzte sich die genormte
Massenproduktion durch, und die Arbeitseinkommen waren so hoch, dass sich
die Bevölkerung die von den Fabriken erzeugten Güter leisten konnte. Die
männliche Erwerbsbevölkerung genoss Vollbeschäftigung, und je nach
kulturellem Kontext wurde nach Abschluss des Wiederaufbaus auch die
Beschäftigung von Jugendlichen und Frauen ausgeweitet. In der entwickelten
Welt verließen zahlreiche Menschen den ländlichen Raum, um Arbeit in den
Fabriken zu suchen: Zwischen 1950 und 1970 schrumpfte die Zahl der
Beschäftigten in der europäischen Landwirtschaft von 66 Millionen auf
40 Millionen, und in den USA sank sie von 16 Prozent auf nur noch 4 Prozent
der Erwerbsbevölkerung. 8
Dieses Wachstum, das in der menschlichen Geschichte seinesgleichen
suchte, verursachte zwangsläufig Spannungen. Mit ausgeklügelten
Managementtechniken gelang es jedoch, sie zu bewältigen: Echtzeitstatistiken,
nationale Wirtschaftsplanungsgremien, Heere von Betriebswirten und
Statistikern in den Hauptquartieren der Großunternehmen.
Die Linke schaute dem ungebremsten Aufschwung ratlos zu. Stalins Haus-
und-Hof-Ökonom Eugen Varga hatte es tatsächlich kommen sehen: Ein Jahr
nach Kriegsende warnte er die sowjetische Führung, die im Krieg entwickelten
staatskapitalistischen Methoden könnten die westliche Wirtschaft
stabilisieren. 9 Seine Prognose lautete, die dominanten angelsächsischen
Mächte würden der übrigen Welt genug Geld leihen, um den Konsum erneut in
Gang zu bringen, und die im Krieg entwickelten Methoden der staatlichen
Organisation würden die »Anarchie der kapitalistischen Produktion«
ersetzen.10 Diese Voraussage kostete ihn seinen Posten; er musste seine
Thesen widerrufen und gestehen, sich des »Kosmopolitismus« schuldig
gemacht zu haben. Stalin hatte verordnet, dass eine Stabilisierung der
westlichen Volkswirtschaften unmöglich war.
Auch die revolutionäre Linke im Westen hielt an der aus Moskau
vorgegebenen düsteren Prognose für den Kapitalismus fest: »Die
Wiederbelebung der wirtschaftlichen Aktivität in den durch den Krieg
geschwächten kapitalistischen Ländern […] wird durch eine besonders geringe
Geschwindigkeit gekennzeichnet sein, weshalb ihre Wirtschaft auf einem an
Stagnation und Rezession grenzenden Niveau funktionieren wird«, erklärten
die Trotzkisten im Jahr 1946.11
Als sich herausstellte, dass das Unfug war, waren nicht nur die Marxisten
verwirrt. Auch die sozialdemokratischen Theoretiker waren so perplex, dass sie
keinen anderen Ausweg wussten, als zu behaupten, das westliche
Wirtschaftssystem sei mittlerweile nichtkapitalistisch. »Die charakteristischen
Merkmale des Kapitalismus sind verschwunden«, schrieb der Labour-
Abgeordnete Anthony Crosland im Jahr 1956. Die Bestandteile des
Kapitalismus, die es seiner Meinung nach nicht mehr gab, waren »die
Unantastbarkeit des Privateigentums, die Unterwerfung des Lebens unter die
Marktkräfte, die Vormachtstellung des Profitmotivs, die Neutralität des Staates,
die typische Laissez-faire-Verteilung der Einkommen und die Ideologie der
individuellen Freiheitsrechte«.12
Mitte der fünfziger Jahre hatte die Linke beinahe geschlossen das Konzept
des »staatsmonopolistischen Kapitalismus« (Stamokap) übernommen, das
ursprünglich von Bucharin und Varga stammte und vom linken
amerikanischen Ökonomen Paul Sweezy zu einer Theorie verarbeitet worden
war.13 Sweezy glaubte, durch staatliche Eingriffe, Systeme der sozialen
Sicherung und dauerhaft hohe Militärausgaben sei die Krisengefahr gebannt
worden. Die sinkende Profitrate könne durch eine – ebenfalls dauerhafte –
Erhöhung der Produktivität ausgeglichen werden. Für ihn war klar, dass sich
die Sowjetunion an die Koexistenz mit dem Kapitalismus gewöhnen musste.
Die westliche Arbeiterbewegung sollte die Revolution vergessen und von den
erheblichen Vorteilen des Wirtschaftsaufschwungs profitieren.
Die Debatte kreiste in dieser Zeit um die Frage, was sich auf der Ebene des
Staates, der Fabrik, des Supermarkts, des Vorstandsbüros und des
Laboratoriums geändert hatte. Mit dem Geld beschäftigte sich die Linke kaum.
Dabei waren es gerade das stabile internationale Währungssystem und die
wirksame Unterdrückung der Finanzmärkte, die in den fünfziger und sechziger
Jahren die wirtschaftliche Entwicklung ermöglichten.
Die Macht klarer Regeln

Am 1. Juli 1944 setzte ein Sonderzug eine Ladung Ökonomen, Staatsmänner


und Bankiers in White River Junction, Vermont, ab, von wo aus sie in ein Hotel
in New Hampshire weiterfuhren. »Alle anderen Züge mussten auf uns
warten«, erinnerte sich der Heizer der Lokomotive, »wir hatten absoluten
Vorrang«.14 Das Ziel der Reisegruppe war der Wintersportort Bretton Woods.
Dort wollten sie ein globales monetäres System entwerfen, das wie der Zug
»absoluten Vorrang« haben würde.
Auf der Konferenz von Bretton Woods wurde ein System fester
Wechselkurse vereinbart, um jene Stabilität wiederherzustellen, von der die
Weltwirtschaft vor 1914 profitiert hatte. Nur sollten diesmal klare Regeln
gelten. Alle Währungen würden an den Dollar gekoppelt, und die USA würden
den Dollar an das Gold koppeln. Eine Feinunze Gold würde 35 Dollar wert sein.
Länder, deren Handelsbilanz erheblich aus dem Gleichgewicht geriet, würden
Dollar kaufen oder verkaufen müssen, um den vereinbarten Wechselkurs ihrer
Währung halten zu können.
Der britische Ökonom John Maynard Keynes sprach sich für die Schaffung
einer separaten Weltwährung aus, was die USA jedoch ablehnten, da sie die
Position des Dollar als inoffizielle Weltwährung erhalten wollten. Es gab keine
globale Zentralbank, aber der Internationale Währungsfonds (IWF) und die
Weltbank sollten Spannungen innerhalb des Systems verringern, wobei der
IWF als Kreditgeber der letzten Instanz fungieren und die Regeln durchsetzen
sollte.
Das System war offenkundig zum Vorteil der USA gestaltet worden: Die
amerikanische Volkswirtschaft war nicht nur die größte der Welt, sondern
stützte sich auch auf eine vom Weltkrieg verschonte Infrastruktur und war
produktiver als die jedes anderen Landes. Die Vereinigten Staaten durften auch
den Leiter des Währungsfonds ernennen. Das System begünstigte die Inflation.
Da die Goldpreisbindung indirekt war, die Bindung der Wechselkurse den
einzelnen Staaten Spielraum gab und die Regeln für einen ausgewogenen
Handel und für Strukturreformen eher locker gehalten waren, würde das
System Inflation verursachen. Die rechten Befürworter des freien Marktes
erkannten das, noch bevor der Zug nach Bretton Woods abfuhr. Der Journalist
Henry Hazlitt, ein Vertrauter des Freimarkt-Gurus Ludwig von Mises, ließ in
der New York Times kein gutes Haar an dem Vorhaben: »Man kann sich kaum
eine größere Bedrohung für die Stabilität der Welt und die volle Auslastung der
Produktionskapazitäten vorstellen als die Aussicht auf eine einheitliche
weltweite Inflation, die eine große Versuchung für die Politiker jedes Landes
wäre.«15
Das System legte allerdings auch der Hochfinanz Fesseln an. Der
Verschuldung der Banken wurden durch gesetzliche Vorschriften und »gutes
Zureden« Grenzen gesetzt. (Die Zentralbanken sollten sanften Druck auf
Geschäftsbanken ausüben, die zu viel Geld verliehen.) In den USA mussten die
Banken Reserven (in Bargeld oder Anleihen) in Höhe von 24 Prozent ihrer
Ausleihungen halten.16 Im Vereinigten Königreich lag die Eigenkapitalquote
sogar bei 28 Prozent. Im Jahr 1950 beliefen sich die Bankkredite in 14
entwickelten kapitalistischen Ländern auf nur ein Fünftel des BIP – dies war
der niedrigste Wert seit 1870 und sehr viel weniger als in der
Aufschwungphase vor 1914.
Das Ergebnis war ein Kapitalismus mit einem ausgeprägt nationalen
Charakter. Banken und Rentenfonds wurden gesetzlich verpflichtet, die
Anleihen ihrer eigenen Länder zu kaufen, während grenzüberschreitende
finanzielle Aktivitäten nach Möglichkeit unterbunden wurden. Dazu kam eine
klare Höchstgrenze für die Zinsen. Das war, was wir heute als
»Finanzrepression« bezeichnen.
Finanzrepression funktioniert folgendermaßen: Der Staat hält die Zinsen
unterhalb der Inflation, womit die Sparer für das Privileg bezahlen, Geld zu
besitzen. Man hindert sie daran, ihr Geld außer Landes zu bringen, wo es
höhere Zinserträge abwerfen würde, und zwingt sie, die Schulden ihres
eigenen Landes zu einem Aufpreis zu kaufen. Wie die
Wirtschaftswissenschaftlerinnen Carmen Reinhart und Maria Belen Sbrancia
nachgewiesen haben, wurden auf diese Art die Schulden der entwickelten Welt
deutlich verringert.17
Im Jahr 1945 betrugen die Staatsschulden der entwickelten Länder aufgrund
der Kriegsausgaben fast 90 Prozent des BIP. Aber ein deutlicher Anstieg der
Inflation direkt nach dem Weltkrieg und eine anschließende moderate Inflation
während des gesamten Nachkriegsaufschwungs sorgte für negative Realzinsen:
In den USA lagen die langfristigen Realzinsen zwischen 1945 und 1973 im
Durchschnitt bei minus 1,6 Prozent. Da die Vorschriften für den Bankensektor
de facto wie eine Steuer auf finanzielle Vermögenswerte wirkten, sorgten sie
nach Berechnungen von Ökonomen für ein Fünftel der Staatseinnahmen
während der Wirtschaftsblüte (im Vereinigten Königreich war der Anteil noch
höher).18 So schrumpften die Schulden der entwickelten Länder bis 1973 auf
einen historischen Tiefstand von 25 Prozent des BIP.
Bretton Woods erreichte also etwas noch nie Dagewesenes: Mit diesem
Abkommen gelang es, die im Krieg angehäuften Schulden abzubauen, die
Spekulation zu unterdrücken, die Ersparnisse in produktive Investitionen zu
lenken und ein spektakuläres Wachstum anzukurbeln. Die gesamte Instabilität
des Systems wurde in die Sphäre der Beziehungen zwischen den Währungen
ausgelagert, aber die amerikanische Vormachtstellung sorgte anfangs dafür,
dass die Spannungen gering blieben. Die Empörung der Rechten über die
inflationären Ergebnisse von Bretton Woods wurde durch die strahlendste
Periode der Stabilität und des Wachstums, die die Menschheit je erlebt hatte, in
den Hintergrund gedrängt.
Keynes hatte im Vorfeld ausdrückliche Regeln gefordert, die nicht auf ein
Gentlemen's Agreement über den Goldstandard beschränkt sein sollten.
Tatsächlich wurden klare, von einer globalen Supermacht garantierte Regeln
eingeführt, die einen Multiplikatoreffekt hatten, den sich kaum jemand hatte
vorstellen können.
Die Weltwirtschaftskrise war teilweise ein Ergebnis des Niedergangs des
britischen Empire und der Weigerung der Vereinigten Staaten gewesen, die
Rolle einer globalen Supermacht zu übernehmen. In Bretton Woods nahmen
die USA die Pflichten einer Supermacht bereitwillig auf sich. Tatsächlich war
das Vierteljahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg die einzige Zeit in der
modernen Geschichte, in der eine Großmacht tatsächlich eine hegemoniale
Position einnahm. Die Vormachtstellung Großbritanniens im 19. Jahrhundert
war stets relativ gewesen und musste ausgehandelt werden. Doch Mitte des
20. Jahrhunderts übten die Vereinigten Staaten in der kapitalistischen Welt
eine uneingeschränkte Dominanz aus. So konnten sie die Weltwirtschaft
wieder in Gang setzen und den Aufschwung ausweiten. Dies war allerdings
nicht der einzige Prozess, der wieder in Gang gesetzt wurde.
Der Nachkriegsaufschwung als Zyklus

Im Krieg hatte eine weitere bedeutsame Veränderung stattgefunden: Der Staat


hatte die Kontrolle über die Innovation übernommen. Bei Kriegsende wussten
die nationalen Verwaltungen, wie das Verhalten des Privatsektors durch
Staatseigentum und staatliche Kontrolle – sowie durch die
Massenkommunikation – gelenkt werden konnte. Normale Manager hatten
unter dem Druck, im Krieg siegen zu müssen, um nicht unterzugehen, die
Technokratie perfektioniert. Selbst auf dem Gebiet der Achsenmächte, wo der
Staat nach Kriegsende zerschlagen wurde, überlebten diese Kultur der
Innovation und ein großer Teil des technokratischen Systems.
Ein schönes Anschauungsbeispiel ist General Motors. Im Jahr 1940 übertrug
die amerikanische Regierung dem Präsidenten des Unternehmens, Alfred
Knudsen, die Leitung ihres Büros für Produktionsmanagement, das für die
Koordinierung der Kriegswirtschaft verantwortlich war. Im Lauf des Krieges
vergab Knudsen Aufträge im Wert von 14 Milliarden Dollar an GM. Das
Unternehmen stellte seine 200 Fabriken auf Kriegsproduktion um und baute
unter anderem 38 000 Panzer, 206 000 Flugzeugmotoren und 119 Millionen
Granaten. Mit anderen Worten: Es wurde zu einem riesigen
Rüstungsunternehmen mit einem einzigen Kunden. In diesem und anderen
großen Segmenten der amerikanischen Industrie fungierte das Management
praktisch als eine gewinnorientierte staatliche Planungsbehörde. Etwas
Vergleichbares hatte es nie zuvor gegeben – und wir haben auch seither nichts
Derartiges gesehen.
Auf Bundesebene wurden Forschung und Entwicklung vom Office of
Scientific Research and Development (OSRD, Behörde für wissenschaftliche
Forschung und Entwicklung) zentralisiert und industrialisiert. Entscheidend
war das Verbot, direkten Gewinn aus der Forschung zu ziehen. »Für den Profit
ist nicht die Forschungsabteilung, sondern der Produktionsbereich eines
Industrieunternehmens zuständig«, erklärte das OSRD.19 Die Aufträge wurden
auf möglichst viele Organisationen verteilt und gingen dabei an jene
Unternehmen, die über geeignete Kenntnisse verfügten und bei denen die
Gefahr einer Überlastung durch die Massenfertigung gering war. Erst wenn
mehrere Anbieter all diese Kriterien erfüllten, konnte der Preis berücksichtigt
werden. Wettbewerb und Patentrechte wurden hintangestellt.20
Es ist bemerkenswert, dass diese Dinge innerhalb des Kapitalismus
bewerkstelligt werden konnten: Forschungsergebnisse wurden als Eigentum
der Allgemeinheit betrachtet, der Wettbewerb wurde unterdrückt, und neben
der Produktion wurde auch die Ausrichtung der Forschung geplant. Die USA
perfektionierten das System, aber alle am Krieg beteiligten Staaten versuchten,
etwas Vergleichbares zu implementieren. So wurde in strategischen Bereichen
eine beispiellose Kultur der gegenseitigen Befruchtung geschaffen: Mathematik
und Wissenschaften wurden in den industriellen Prozess integriert,
Betriebswirtschaft und Datenmanagement wurden Teil der politischen
Entscheidungsfindung.
Das OSRD war es auch, das Claude Shannon, den Begründer der
Informationstheorie, aus Princeton holte, damit er in den Bell Labs
Algorithmen für Luftabwehrgeschütze entwickeln konnte.21 Dort lernte er
Alan Turing kennen, mit dem er über die Möglichkeit »denkender Maschinen«
diskutierte. Turing war von der britischen Regierung ebenfalls aus der
Wissenschaft abgezogen und mit der Leitung des Enigma-
Entschlüsselungsprojekts in Bletchley Park betraut worden.
Diese Kultur der Innovation überlebte den Übergang zum Frieden, obwohl
einzelne Unternehmen versuchten, die Ergebnisse zu monopolisieren, und über
die Patentansprüche zu streiten begannen. Und es war eine Kultur, die nicht
auf die technische Innovation beschränkt war.
Im Jahr 1942 gab GM dem Managementtheoretiker Peter Drucker
ungehinderten Zugang, damit er die Abläufe im Unternehmen untersuchen
konnte. Seine Ergebnisse veröffentlichte Drucker in The Concept of the
Corporation[1], dem vermutlich ersten modernen Managementbuch, in dem er
sich dafür aussprach, die hierarchischen Befehlsstrukturen aufzubrechen und
die Unternehmensleitung zu dezentralisieren. General Motors nahm Druckers
Rat nicht an, aber Tausende andere Unternehmen taten es: Die japanische
Automobilindustrie hielt sich an sein Rezept. Die Managementlehre war kein
geheimes Wissen mehr, sondern verwandelte sich in eine Disziplin, die
allgemein angewandt wurde. Eine Schar von Beratungsfirmen begann,
bewährte Methoden zu verbreiten, anstatt sie wie Betriebsgeheimnisse zu
hüten.
In diesem Sinne brachte die Kriegswirtschaft einen der grundlegenden
Reflexe des Kapitalismus des langen Wirtschaftsaufschwungs hervor: Man
löste Probleme durch kühne Technologiesprünge, holte Experten aus
verschiedenen Disziplinen an Bord, verbreitete die bewährten Methoden in
einem ganzen Sektor und änderte die Betriebsabläufe, wenn sich das Produkt
änderte.
In deutlichem Gegensatz zur tragenden Rolle des Staates standen die
dürftigen Beiträge des Finanzsektors. In allen normativen Modellen der langen
Zyklen ermöglicht der Finanzsektor die Innovation und lenkt das Kapital in
neue, produktivere Bereiche. In den dreißiger Jahren war der Finanzsektor
jedoch praktisch ausgeschaltet worden.
Der Kapitalismus ging stark verändert aus dem Krieg hervor. Er brauchte
lediglich eine Flut neuer Technologien, und tatsächlich standen sie im
Überfluss bereit: Das Düsentriebwerk, der integrierte Schaltkreis, die
Atomenergie, die Kunststoffe. Nach 1945 begann die Welt plötzlich, nach
Nylon, Plastik und Vinyl zu riechen, und überall waren elektrifizierte Prozesse.
Eine Schlüsseltechnologie war allerdings unsichtbar: die
Informationstechnologie. Die »Informationsgesellschaft« war noch Jahrzehnte
entfernt, aber in der Nachkriegswirtschaft kamen Informationen bereits in
industriellem Maßstab zum Einsatz. Sie flossen als Wissenschaft, als
Managementlehre, als Daten, als Massenkommunikation und – in einigen
wenigen Heiligtümern – sogar auf Endlospapier aus einem Computer.
Ein Transistor ist einfach eine Schaltung ohne bewegliche Teile. Gemeinsam
mit der Informationstheorie versetzen uns Transistoren in die Lage,
physikalische Prozesse zu automatisieren. So kam es, dass Fabriken mit
halbautomatischen Maschinen ausgerüstet wurden: mit Druckluftpressen,
Schneidewerkzeugen, Drehbänken, Nähmaschinen und Fließbändern. Was
fehlte, waren geeignete Feedback-Mechanismen: Die elektronischen Sensoren
und automatisierten logischen Systeme waren so unausgereift, dass die
Systeme Druckluft einsetzten, um zu tun, was wir heute mit Smartphone-
Applikationen tun. Aber es gab Arbeitskräfte im Überfluss, und für viele von
ihnen wurde die manuelle Arbeit zu einer Tätigkeit, in der sie einen
halbautomatischen Prozess steuerten.
Der Cambridge-Ökonom Andrew Glyn glaubte, der außergewöhnliche
Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg sei nur mit einem »einzigartigen
Wirtschaftsregime« zu erklären.22 Er beschrieb dieses Regime als Mischung
wirtschaftlicher, sozialer und geopolitischer Faktoren, die während des
gesamten Aufschwungs harmonisch zusammenwirkten, Ende der sechziger
Jahre jedoch miteinander in Konflikt gerieten.
Die staatliche Lenkung brachte eine Kultur der von der Wissenschaft
angeführten Innovation hervor. Die Innovation erhöhte die Produktivität. Die
steigende Produktivität ermöglichte Lohnerhöhungen, die zur Folge hatten,
dass der Konsum 25 Jahre lang mit der Produktion Schritt halten konnte. Ein
System ausdrücklicher globaler Regeln sorgte für zusätzliche Stabilität. Das
Mindestreservesystem ermöglichte eine »gutartige« Inflation, die in
Kombination mit der Finanzrepression das Kapital in produktive Sektoren
lenkte und die Finanzspekulation im Zaum hielt. Der Einsatz von Düngemitteln
und die Mechanisierung der Landwirtschaft in der entwickelten Welt erhöhten
die Produktivität deutlich und hielten die Kosten der Inputs niedrig. Auch die
Energie war zu jener Zeit billig.
Daher brummte die Wirtschaft in den Jahren von 1948 bis 1973, als hätte
man ihr während der Aufschwungphase eines Kondratjew-Zyklus
Dopingmittel verabreicht.
Warum überschritt die Welle ihren Scheitelpunkt?

In der Wirtschaftsgeschichte gibt es keinen deutlicheren Wendepunkt als den


17. Oktober 1973. An diesem Tag verhängten die erdölexportierenden
arabischen Staaten ein Embargo gegen die USA, weil die Amerikaner ihren
Kriegsgegner Israel unterstützten. Sie drosselten die Produktion deutlich, und
der Ölpreis vervierfachte sich. Der Schock stürzte die führenden
Volkswirtschaften in eine Rezession. Die amerikanische Wirtschaft schrumpfte
zwischen Januar 1974 und März 1975 um 6,5 Prozent,23 die britische um
3,4 Prozent. Sogar Japan, dessen Wirtschaft seit dem Krieg in jedem Jahr um
fast 9 Prozent gewachsen war, geriet in eine kurze Rezession. Die Krise war
einzigartig, weil der Wachstumseinbruch in den am schwersten getroffenen
Ländern mit einer hohen Inflation einherging. Im Jahr 1975 stieg die Inflation
in Großbritannien auf 20 Prozent und in den USA auf 11 Prozent. Und die
westliche Öffentlichkeit machte mit dem Wort »Stagflation« Bekanntschaft.
Doch schon den Zeitgenossen war klar, dass die Ölkrise lediglich der
Auslöser war. Der Aufschwung war bereits vorher ins Stocken geraten. In
sämtlichen entwickelten Ländern litt die Wirtschaft Ende der sechziger Jahre
unter nationalen oder lokalen Problemen: unter Inflation, Arbeitskonflikten,
sinkender Produktivität und sporadischen Finanzskandalen. Das Jahr 1973
markierte allerdings die Zäsur, den Punkt, an dem die Kraft, welche den vierten
langen Zyklus aufwärts trieb, ihren Höhepunkt überschritt und die Kurve
abzufallen begann. Die Frage nach der Ursache hat die moderne
volkswirtschaftliche Debatte geprägt.
Die rechten Ökonomen sahen den Grund in der Erschöpfung der
keynesianischen Nachfragepolitik. Die Erklärungsversuche der Linken haben
sich im Lauf der Zeit geändert: Ende der sechziger Jahre wurden die hohen
Löhne als Ursache betrachtet, aber im folgenden Jahrzehnt versuchten die
Wirtschaftstheoretiker der Neuen Linken, die marxistische
Überproduktionstheorie auf das Problem anzuwenden.
Tatsächlich handelte es sich am ehesten um einen klassischen
Phasenwechsel in einem Kondratjew-Zyklus. Dieser Phasenwechsel findet
nach etwa 25 Jahren in der Mitte des Fünfzig-Jahres-Zyklus statt. Er ist ein
globales Phänomen und kündigt eine lange Phase wiederkehrender Krisen an.
Und wenn wir erst einmal verstanden haben, was den Aufschwung auslöste –
hohe Produktivität, klare globale Regeln und Finanzrepression –, wird uns
auch klar, wieso er endete.
Die Nachkriegsregelungen hatten die Instabilität auf zwei Bereiche
beschränkt, die kontrolliert werden mussten: die Beziehungen zwischen den
Währungen und die Beziehungen zwischen den Klassen. Die in Bretton Woods
beschlossenen Regeln sahen zwar vor, dass kein Land seine Währung abwerten
durfte, um seine Exporte zu verbilligen und seine Beschäftigung zu erhöhen.
Stattdessen musste ein Land, dessen Wirtschaft nicht wettbewerbsfähig war,
entweder Handelsbarrieren errichten, um seine Produzenten gegen die
internationale Konkurrenz zu schützen, oder zur »internen Abwertung«
übergehen, indem es Löhne und Gehälter kürzte, Preiskontrollen einführte und
den Sozialstaat zurechtstutzte. In der Praxis erschwerte Bretton Woods
protektionistische Eingriffe, und Lohnkürzungen wurden bis Mitte der
siebziger Jahre nicht ernsthaft versucht. Also blieb am Ende doch nur die
Abwertung der eigenen Währung. Im Jahr 1949 wertete Großbritannien das
Pfund um 30 Prozent gegenüber dem Dollar ab, und 23 andere Länder folgten
seinem Beispiel. Bis 1973 wurden insgesamt 400 Abwertungsschritte gezählt.
Das Bretton-Woods-System lud die Staaten also implizit dazu ein, ihr
wirtschaftliches Versagen wettzumachen, indem sie den Wechselkurs ihrer
Währung gegenüber dem Dollar manipulierten. Die Vereinigten Staaten
betrachteten dies als eine Form von unlauterem Wettbewerb und wehrten sich.
In den sechziger Jahren begann das Land seinerseits, seine Währung real, das
heißt gemessen an den Preisunterschieden, gegenüber den Währungen seiner
Konkurrenten abzuwerten. In der Inflationskrise in den späten sechziger
Jahren brach dieser unterschwellige Wirtschaftskrieg offen aus.
Auf der Ebene der Fabrik hing der lange Aufschwung mit der Produktivität
und den Löhnen zusammen. In den entwickelten Ländern erhöhte sich die
Produktivität um 4,5 Prozent pro Jahr, während der private Konsum um
4,2 Prozent stieg. Die wachsende Produktion automatisierter Maschinen
genügte, um die steigenden Löhne der Arbeiter zu bezahlen, die sie bedienten.
All das war das Ergebnis neuer Investitionen. Der Aufschwung endete jedoch,
als die Investitionen die Produktivität nicht mehr mit derselben
Geschwindigkeit erhöhen konnten.
Die Daten zeigen deutlich, dass sich der Produktivitätsanstieg schon vor
1973 verlangsamt hatte und dass die Produktivität des Kapitals gesunken
war.24 Um den wachsenden Druck auf die Profite auszugleichen, wurde die
Produktivität übermäßig erhöht. Aber obwohl die Bedingungen ungünstiger
wurden, waren Lohnkürzungen angesichts der starken Verhandlungsposition
der Arbeiterklasse in den Ländern mit Vollbeschäftigung und aufgrund der
Abneigung gegen eine Kündigung des Gesellschaftsvertrags der Nachkriegszeit
tabu. Die Unternehmensleitungen sahen sich sogar gezwungen, Löhne und
Sachleistungen zu erhöhen und die Arbeitszeit zu verkürzen.
Die Folge war eine »Profitklemme«. Bei einem Vergleich der Profitraten im
Jahr 1973 mit den jeweiligen Spitzenwerten während der Wirtschaftsblüte
stellte Andrew Glyn fest, dass die Profite in den Vereinigten Staaten, in Europa
und Japan jeweils um ein Drittel gesunken waren. Angesichts sinkender
Gewinne, steigender Löhne und alarmierend militanter Fabrikarbeiter gab es
nur zwei Möglichkeiten, den Überdruck im System abzulassen: Man konnte der
Inflation freien Lauf lassen, um den Wert der Reallöhne zu verringern, ohne
weitere Arbeitskonflikte zu riskieren, oder man konnte die Sozialeinkommen
erhöhen und die Belastung der Unternehmen verringern, indem man zum
Beispiel Familienbeihilfen und andere staatliche Sozialleistungen erhöhte. So
stiegen die Sozialausgaben des Staates für Lohnzusatzleistungen, Beihilfen und
andere einkommenswirksame Maßnahmen insbesondere in Europa auf ein
untragbares Niveau, nämlich von 8 Prozent des BIP Ende der fünfziger Jahre
auf 16 Prozent im Jahr 1975.25 Etwa im selben Zeitraum verdoppelten sich die
Staatsausgaben für Sozialhilfe, Renten und Gesundheit in den USA auf
10 Prozent.
Es genügte ein Schock, um dieses fragile System in eine Krise zu stürzen. Er
kam im August 1971, als Präsident Richard Nixon die Verpflichtung der USA,
Dollar gegen physisches Gold zu tauschen, einseitig aufkündigte. Bretton
Woods gehörte der Vergangenheit an.
Nixons Beweggründe für diesen Schritt sind gut dokumentiert.26 Als die
Konkurrenten der Vereinigten Staaten bei der Produktivität aufholten, floss
Kapital nach Europa ab, während der Handelsüberschuss der USA schrumpfte.
Ende der sechziger Jahre betrieben alle Länder eine expansive Politik mit
hohen Staatsausgaben und niedrigen Zinsen, und die Vereinigten Staaten
verwandelten sich in den großen Verlierer von Bretton Woods. Sie waren nicht
mehr in der Lage, den Vietnamkrieg und die Sozialreformen der späten
sechziger Jahre zu finanzieren. Sie hätten den Dollar abwerten müssen, was
jedoch nicht möglich war, weil sich die anderen Länder weigerten, ihre
Währung gegenüber dem Dollar aufzuwerten. Also handelte Nixon.
An den Dollar und das Gold gebundene Wechselkurse wurden durch frei
floatende Währungen ersetzt. Von da an schöpfte das globale Bankensystem
tatsächlich Geld aus dem Nichts.
Jetzt stand es jedem von der Krise erschütterten Land frei, sich die
grundlegenden Produktivitäts- und Rentabilitätsprobleme zeitweilig mit
Maßnahmen vom Hals zu schaffen, die im alten System unmöglich gewesen
waren: Es konnte die Staatsausgaben erhöhen und die Zinsen senken. Die Jahre
1971-73 verbrachte die westliche Welt in einem Zustand nervöser Euphorie.
Im Januar 1973 kam es zum unvermeidlichen Börsenkrach in New York und
London. Mehrere Investmentbanken brachen zusammen. Die Ölkrise im
Oktober 1973 war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Eine Parodie auf Keynes

Im Jahr 1973 waren sämtliche Säulen des einzigartigen Systems, das den langen
Aufschwung möglich gemacht hatte, eingestürzt. Aber die Krise schien zufällig:
Die OPEC hatte die niedrigen Inputpreise kaputt gemacht, Richard Nixon hatte
die globalen Spielregeln gebrochen, und der »gierige Arbeiter«, jene
verabscheuungswürdige Figur, hatte die Unternehmen unrentabel gemacht.
Die Macher der britischen Filmreihe Carry On … wählten diesen Augenblick,
um von den üblichen albernen historischen Parodien abzuweichen und sich an
einem bissigen Kommentar zur gesellschaftlichen Entwicklung zu versuchen.
Der in einer Toilettenfabrik angesiedelte Film Carry On At Your Convenience
(Ist ja irre – Ein Streik kommt selten allein, 1971) macht sich über eine Welt
lustig, in der die Arbeiter die Produktion kontrollieren, die Manager
inkompetent sind und die sexuelle Freiheit sogar in einem Kleinstadtbetrieb das
Leben verändert. Die unterschwellige Botschaft von Carry On At Your
Convenience lautet, dass das gegenwärtige System grotesk ist: Wir können
nicht so weitermachen, aber wir haben keine Alternative. Wie sich
herausstellte, war dies auch die unterschwellige Botschaft der Maßnahmen
gegen die Krise.
Nach 1973 versuchten die Regierungen das System zu reparieren, indem sie
die keynesianischen Regeln strenger anwandten. Sie versuchten, mit Preis- und
Lohnkontrollen die Inflation unter Kontrolle zu bringen und die rebellische
Arbeiterschaft zu beschwichtigen. Sie erhöhten die Staatsausgaben und
verschuldeten sich, um die Nachfrage in der Rezession zu stützen. Doch
obwohl das Wachstum nach 1975 wieder anzog, erreichte es sein früheres
Niveau nicht mehr.
Ende der siebziger Jahre zerstörte sich das keynesianische System selbst.
Diese Zerstörung war nicht nur das Werk der Politiker, sondern aller
Beteiligten: der Arbeiter, der Bürokraten, der Technokraten, der Politiker.
Die Militanz in den Fabriken war bereits zuvor abgeebbt, die Arbeiterschaft
verhandelte nun auf nationaler Ebene mit den Regierungen. Mitte der siebziger
Jahre konzentrierten sich die Gewerkschaftsführungen in fast allen Ländern
auf landesweite Tarifvereinbarungen, Preiskontrollen, soziale
Reformprogramme und Strategien, die ihnen helfen sollten, die Kontrolle über
bestimmte Sektoren zu wahren. (Ein Beispiel für eine solche Strategie war der
Versuch der britischen Hafenarbeiter, die Einführung von Containern zu
verhindern.) Die Arbeiterbewegungen in der entwickelten Welt versuchten,
sozialdemokratische Parteien an die Macht zu bringen, die eine Fortsetzung der
keynesianischen Politik garantieren würden.
Die Unternehmerklasse und einflussreiche rechte Politiker hatten sich
jedoch mittlerweile vollkommen von den keynesianischen Lösungen
abgewandt.
Der Angriff auf die Arbeiter

Heute scheint es uns, als sei der Triumph der Globalisierung und des
Neoliberalismus unvermeidlich gewesen. Aber das war er keineswegs. Diese
Phänomene wurden ebenso durch staatliche Eingriffe ermöglicht wie der
Korporatismus und der Faschismus in den dreißiger Jahren.
Der Neoliberalismus wurde von visionären Politikern gestaltet und in die
Tat umgesetzt: von Pinochet in Chile, Thatcher und ihrem ultrakonservativen
Kreis in Großbritannien, Reagan und den Kalten Kriegern, die ihn in den USA
an die Macht brachten. Sie waren auf erbitterten Widerstand seitens der
Gewerkschaften gestoßen und wollten sich nicht mehr von ihnen behindern
lassen. Der Schluss, den diese Pioniere des Neoliberalismus aus dem Konflikt
zogen, hat unsere Zeit geprägt: Mit einer organisierten Arbeiterklasse kann
eine moderne Volkswirtschaft nicht funktionieren. Also entschlossen sie sich,
die kollektive Verhandlungsmacht, die Traditionen und den sozialen
Zusammenhalt der Arbeiterschaft vollkommen zu zerstören.
Die Gewerkschaften wurden nicht zum ersten Mal attackiert. In der
Vergangenheit waren ihre Widersacher allerdings stets paternalistische
Politiker gewesen, die ihnen das geringere von zwei Übeln angeboten hatten:
Also hatten sie die Militanz hinter sich gelassen und sich als Repräsentanten
der »guten« Arbeiterschaft geriert, die sich einen gemäßigten Sozialismus auf
die Fahnen schrieb. Die Gewerkschaften waren von Vertretern des Staates
geführt worden und hatten beim Aufbau stabiler, sozial konservativer
Gemeinschaften geholfen, die Soldaten und Diener hervorbrachten. Der
Konservatismus und sogar der Faschismus hatten eine andersartige Solidarität
angestrebt, eine, die den Interessen des Kapitals diente. Aber es war immer
noch Solidarität.
Den Neoliberalen schwebte etwas anderes vor: die Atomisierung. Da die
gegenwärtige Generation nur die Ergebnisse des Neoliberalismus sieht, entgeht
ihr leicht, dass die Zerstörung der Verhandlungsmacht der Arbeiter das
zentrale Vorhaben des ganzen Projekts war: Es war das Mittel, mit dem alle
anderen Ziele erreicht werden sollten. Das Leitprinzip des Neoliberalismus ist
weder der freie Markt noch die Haushaltsdisziplin, die Geldwertstabilität oder
die Verlagerung der Produktion in Billiglohnländer. Es geht ihm nicht einmal
um die Globalisierung. All das waren Nebenprodukte seines Feldzugs, dessen
Ziel es war, die organisierte Arbeiterschaft zu beseitigen; oder es waren
Waffen, die er in diesem Feldzug einsetzte.
Nicht alle Industrieländer schlugen denselben Weg ein, und nicht alle
bewegten sich mit derselben Geschwindigkeit. Japan hatte in den siebziger
Jahren das Tor zur Flexibilisierung der Arbeit aufgestoßen, indem es die Arbeit
in den Fertigungslinien auf kleine Teams verteilt und individuelle Lohn- und
Gehaltsverhandlungen sowie Propagandaversammlungen in den Werkshallen
eingeführt hatte. Japan war das einzige Land mit einer hochentwickelten
Volkswirtschaft, dem es nach 1973 gelang, die industriellen Geschäftsmodelle
zu rationalisieren. Natürlich gab es Widerstand, der jedoch brutal unterdrückt
wurde: Die Rädelsführer von Arbeiterprotesten wurden jeden Tag verprügelt,
so lange, bis sie klein beigaben. »Es ist, als wäre die ›Welt des Unternehmens‹
immun gegen das Gesetz«, schrieb der japanische Linke Muto Ichiyo, der
Zeuge solcher Misshandlungen wurde. »Und in dieser Unternehmenswelt ist es
natürlich, dass die verängstigten Arbeiter, die nicht frei denken dürfen, den
Mund halten.«27
Deutschland widersetzte sich bis zur Jahrtausendwende allen
Arbeitsmarktreformen und zog es vor, außerhalb der paternalistischen Welt
der Werkshalle eine Randgruppe von osteuropäischen Gastarbeitern zu
schaffen, die einfache Tätigkeiten im Dienstleistungs- und Baugewerbe
übernahmen. Deshalb wurde es vom Economist, der noch im Jahr 1999 das
»aufgeblähte Sozialsystem und die exzessiven Arbeitskosten« Deutschlands
beklagte, zum »kranken Mann der Eurozone« gekürt.28 Diese Mängel wurden
ab 2002/03 mit den sogenannten Hartz-Reformen beseitigt, die Deutschland zu
einem von ausgeprägter Ungleichheit gekennzeichneten Land gemacht haben,
in dem viele Gemeinden unter wachsender Armut leiden.29
Viele entwickelte Länder nutzten die Rezession Anfang der achtziger Jahre,
um Massenarbeitslosigkeit durchzusetzen. Das Ziel ihrer Politik war
offenkundig, die Rezession zu vertiefen: Sie erhöhten die Zinsen und trieben
damit alte Industrieunternehmen in den Ruin. Sie privatisierten oder schlossen
staatliche Kohlegruben, Stahlwerke, Automobilwerke und
Schwerindustriebetriebe. Sie verboten die wilden Streiks und
Solidaritätsaktionen, die den Unternehmen in den Jahren des Aufschwungs zu
schaffen gemacht hatten. Aber sie versuchten noch nicht, die Sozialsysteme
aufzulösen, denn diese wurden gebraucht, um die soziale Stabilität von
Gemeinschaften zu wahren, denen das Herz herausgerissen wurde.
Während dieses Feldzugs gegen die organisierte Arbeiterschaft wurden
einige auch symbolisch besonders bedeutende Schlachten geschlagen. Im Jahr
1981 wurden die streikenden amerikanischen Fluglotsen samt und sonders
entlassen. Die Führer ihrer Gewerkschaft wurden verhaftet und in
Handschellen vorgeführt. In Großbritannien setzte Premierministerin Thatcher
in den Jahren 1984/85 paramilitärische Polizeieinheiten ein, um den Streik der
Bergarbeiter zu beenden. Ihren größten Triumph im Krieg gegen die
Arbeiterklasse feierten die Neoliberalen jedoch auf moralischer und kultureller
Ebene. Ab dem Jahr 1980 ging die Zahl der Streiks in der entwickelten Welt
zurück, und den Gewerkschaften liefen die Mitglieder davon. In den USA
schrumpfte die Zahl der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter zwischen 1980
und 2003 von ohnehin niedrigen 20 Prozent der Erwerbsbevölkerung auf nur
noch 12 Prozent; die verbliebene Gewerkschaftsbewegung war weitgehend auf
den öffentlichen Sektor beschränkt.30 In Japan schrumpfte der Anteil der
Gewerkschaftsmitglieder von 31 auf 20 Prozent, in Großbritannien von 50 auf
30 Prozent.31
Sobald die Gewerkschaften kaltgestellt waren, konnte die eigentliche
Umgestaltung der Arbeitswelt beginnen. Man wollte eine atomisierte
Arbeiterschaft schaffen, der nichts anderes übrigbleiben würde, als sich mit
unsicheren Beschäftigungsverhältnissen abzufinden. Für diejenigen unter uns,
die Zeugen dieser Niederlage der organisierten Arbeiterschaft in den achtziger
Jahren wurden, war es eine traumatische Erfahrung, aber wir sagten uns, dass
unsere Großväter dasselbe durchgemacht hatten. Wenn wir diesen Prozess
allerdings durch das Kaleidoskop der Zyklentheorie betrachten, stellen wir fest,
dass in Wahrheit etwas ganz anderes geschah.
Die »Anpassungsphase« in den achtziger Jahren war die erste in der
Geschichte der langen Zyklen, in welcher der Widerstand der Arbeiter
zusammenbrach. Im normalen Muster, das wir in Kapitel 3 untersucht haben,
zwingt der Widerstand der Arbeiterklasse die Kapitalisten zu radikalen
Anpassungsschritten: So entsteht ein neues Modell, das auf höherer
Produktivität und höheren Reallöhnen beruht. Nach 1979 erlaubte es der
mangelnde Widerstand der Arbeiter den kapitalistischen Schlüsselländern, die
Krise mit Lohnsenkungen und auf geringem Wert beruhenden
Produktionsmodellen zu überwinden. Dies ist grundlegend für das Verständnis
all dessen, was anschließend geschah.
Anders als von den Neoliberalen erwartet, ebnete die Niederlage der
organisierten Arbeiterschaft nicht den Weg zu einem »neuartigen
Kapitalismus«. Stattdessen gelang es lediglich, die vierte lange Welle gestützt
auf Atomisierung und stagnierende Arbeitseinkommen zu verlängern. Das
Eine Prozent war nicht wie in der Endphase der drei vorangegangenen langen
Zyklen gezwungen, mit technologischer Innovation den Weg aus der Krise zu
finden, sondern bewerkstelligte das einfach, indem es die Arbeiterklasse in die
Armut hinabdrückte und sie atomisierte.
Überall in der westlichen Welt sank der Anteil der Arbeitseinkommen am
BIP deutlich. Der Ökonom Engelbert Stockhammer hat im Auftrag der
Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) den Schaden begutachtet und
gezeigt, dass der Rückgang der Lohnquote zur Gänze auf Globalisierung,
Finanzialisierung und Sozialabbau zurückzuführen ist. Er schreibt: »Es handelt
sich um eine bedeutsame historische Veränderung, denn in der Nachkriegszeit
war die Lohnquote stabil geblieben oder gestiegen.«32
Das ist untertrieben. Diese Entwicklung sollte der Welt ein neues Gesicht
geben.
Die unterbrochene Welle in Bildern

Wenn Veränderungen umfassend und unübersehbar sind, sich jedoch über


Jahrzehnte hinziehen, sind zweidimensionale Schaubilder oft am besten
geeignet, um uns das Gesamtbild vor Augen zu führen. Die folgenden
Diagramme zeigen sehr deutlich, welche Entwicklungen in das von Kondratjew
beschriebene klassische Muster passen und welche nicht, und helfen uns zu
verstehen, woran das liegt.
1. Wachstum des globalen BIP

Dieses Diagramm zeigt die allgemeine Form des vierten langen Zyklus auf
einen Blick. Anfang der siebziger Jahre ist ein deutlicher Phasenwechsel zu
erkennen. Wenn wir uns an die vom IWF vorgeschlagene Definition einer
globalen Rezession halten – eine Wachstumsrate von weniger als 3 Prozent –,
gab es in den ersten 25 Jahren des Zyklus keine Rezession, aber sechs nach
1973, wobei die letzte sehr heftig ausfiel.33
2. Zinsen34

Kondratjew maß seine Wellen anhand der Zinssätze, und in der Zeit nach 1945
gibt es keinen aussagekräftigeren Maßstab als den der durchschnittlichen
Zinsen, die Banken von Unternehmen und Privathaushalten in den USA
verlangten. Im Verlauf des langen Zyklus stiegen die Zinsen schrittweise. In
den frühen achtziger Jahren, als sie eingesetzt wurden, um große Teile der
alten Industrien auszulöschen, erreichten sie einen Höhepunkt, und von da an
sanken sie schrittweise. Aufgrund der geldpolitischen Lockerung ebbt die
Kurve schließlich ab. Kondratjews Kollegen, die genau dasselbe Muster in allen
früheren Zyklen beobachtet hatten, wären zu folgendem Schluss gelangt:
»Genosse, das ist eine lange Welle.«
3. Rohstoffpreise: Nickel

Aber Kondratjew studierte auch die Preise von Rohstoffen wie Kohle und
Eisenerz. Dieses Diagramm zeigt, wie sich der Preis eines modernen
Gegenstücks dieser Rohstoffe – Nickel ist ein unverzichtbarer Bestandteil von
rostfreiem Stahl – im Lauf von 57 Jahren entwickelte. Ich glaube, Kondratjew
wäre begeistert gewesen. Nickel ist nur einer von vielen Rohstoffen, aber sieht
man von wenigen Ausnahmen ab, so ist die Entwicklung seines Preises
durchaus repräsentativ für die der Rohstoffpreise in ihrer Gesamtheit seit 1945:
Am Ende der Zeitreihe ist in allen Fällen ein deutlicher Ausschlag nach oben zu
beobachten, dessen Ursache die rasche Entwicklung der Industrie und des
Massenkonsums in der südlichen Hemisphäre ist (vor allem in China).
Ein Bericht des United States Geological Survey aus dem Jahr 2007 zeigt,
dass die Preise sämtlicher Industriemetalle ab 1989 durch Chinas Eintritt in den
Weltmarkt in die Höhe getrieben wurden.35 Der Nickelverbrauch Chinas
wuchs von 30 Kilotonnen im Jahr 1991 auf 60 Kilotonnen im Jahr 2001 und auf
70 Kilotonnen im Jahr 2012. Im Gegensatz dazu stieg der Nickelverbrauch der
meisten anderen großen Produktionsländer in diesem Zeitraum nur langsam,
in Deutschland beispielsweise von 80 auf 110 Kilotonnen.[2]
4. Staatsschulden gemessen am BIP in 20 hochentwickelten Ländern36

Kondratjew selbst maß die Staatsschulden nicht, aber in einem modernen Land
sind sie ein guter Indikator für die Gesundheit der Volkswirtschaft. Dieses
Diagramm zeigt die Staatsschulden gemessen am BIP. In Kombination mit der
Inflation beseitigte die Finanzrepression die Kriegsschulden dieser Staaten in
25 Jahren ununterbrochenen Wachstums. Dann war die entwickelte Welt
angesichts der 1973 beginnenden Krise gezwungen, sich erneut zu verschulden.
Obwohl drei Jahrzehnte lang Privatisierungen und der Abbau des Sozialstaats
vorangetrieben worden sind, haben die öffentlichen Schulden mittlerweile fast
100 Prozent des BIP erreicht.
5. Geldmenge

Dieses Schaubild ist so etwas wie das wichtigste Exponat zur Geschichte des
Fiatgeldes (also des nicht durch Gold besicherten Geldes). Ausgangspunkt des
Diagramms ist der Moment, in dem Nixon die Vereinbarung von Bretton
Woods kündigte (1971). Die Grafik zeigt die Menge des in 90 Ländern in
verschiedenen Formen zirkulierenden Geldes: vom Bargeld (M0), dessen Menge
sich kaum verändert, bis zu Kredit- und Finanzinstrumenten, deren Menge in
der neoliberalen Ära stetig zugenommen hat und nach 2000 explodiert ist (M3
umfasst – je nach Definition – neben Bargeld und Sichteinlagen auch
Sparguthaben und alle möglichen Formen von Wertpapieren).37
Nixon koppelte das Geld und den Kredit von der Realität ab, und obwohl es
mehrere Jahrzehnte dauerte, um ein Finanzsystem zu entwickeln, das diese
Freiheit wirklich nutzen konnte, wuchs die Geldmenge ab Ende der neunziger
Jahre rasant.
6. Ungleichheit in den USA

Die dunkle Linie zeigt die Entwicklung der Realeinkommen der unteren
99 Prozent im vierten langen Zyklus. Im Lauf des Zweiten Weltkriegs hatte es
sich verdoppelt, da die Bevölkerung vom Land in die Städte abwanderte und
Arbeit in den Fabriken fand, und zwischen dem Krieg und der Ölkrise stieg es
erneut um den Faktor zwei. Ab 1989 wuchs es jedoch nur noch sehr langsam.
Beim reichsten Einen Prozent war es umgekehrt: Die Abschwungphase des
Zyklus war sehr einträglich für die Reichsten. Während des Aufschwungs und
in den Krisenjahren stagnierten ihre Einkommen, aber als Ende der achtziger
Jahre der Markt vom Zügel gelassen wurde, explodierten sie. Nichts zeigt
deutlicher, wer in den entwickelten Ländern die Gewinner und Verlierer des
Abschwungs sind.38
7. Finanzialisierung39

Dieses Diagramm gibt Aufschluss über die Profite des amerikanischen


Finanzsektors, gemessen an den Gesamtgewinnen der Unternehmen. Während
des langen Aufschwungs blieben die relativen Gewinne des Finanzsektors
gering. Mitte der achtziger Jahre begann ein deutlicher Anstieg, und in den
Jahren vor dem Zusammenbruch von Lehman Brothers erzielten Banken,
Hedgefonds und Versicherungsgesellschaften mehr als vierzig Prozent der
gesamten Unternehmensgewinne. Das ist ein deutlicher Beleg dafür, dass der
Finanzkapitalismus einen größeren Teil seiner Profite mit unseren Krediten
sowie unserem Konsum und einen schrumpfenden Anteil mit unserer Arbeit
erzielte. Am Vorabend der Krise wurden vier von zehn Dollar an
Unternehmensgewinnen im Finanzsektor erzielt.
8. Globale Investitionsströme

Diese Daten zeichnen ein sehr anschauliches Bild der Realität der
Globalisierung. Die obere Linie zeigt den Gesamtbetrag der ausländischen
Direktinvestitionen zwischen 1970 und 2012 (in Millionen Dollar zu
gegenwärtigen Preisen und Wechselkursen). Die mittlere Linie zeigt den
Betrag, der in die Entwicklungsländer floss, die untere die Investitionen in den
ehemals sozialistischen Ländern. Der Abstand zwischen der oberen und der
mittleren Linie entspricht dem Betrag der ausländischen Direktinvestitionen,
die zwischen den hochentwickelten Ländern flossen.40
Die Globalisierung beginnt in dem Moment, als das keynesianische
Paradigma aufgegeben wird. Die Investitionsströme zwischen den entwickelten
Ländern schwellen an, und dem entspricht ein stetiger Fluss von ausländischen
Direktinvestitionen in jene Regionen, die wir früher als »Dritte Welt«
bezeichneten. Die Kapitalströme nach Russland und in die ehemaligen
Ostblockstaaten sind, gemessen am Umfang ihrer Volkswirtschaften,
beträchtlich, fallen insgesamt jedoch kaum ins Gewicht.
9. Pro-Kopf-BIP41

Das Bruttoinlandsprodukt pro Person gibt Aufschluss über den


wirtschaftlichen Fortschritt der Menschheit: Es zeigt uns, auf wie viele
Menschen das Wachstum verteilt ist. Die obere Linie zeigt, dass das globale
Pro-Kopf-BIP zwischen 1989 und 2012 um 162 Prozent stieg. In den ehemals
sozialistischen Ländern war das Wachstum, über die gesamte Zeitspanne
betrachtet, etwa genauso hoch; allerdings wurde dies erst durch den EU-Beitritt
einiger ehemaliger Ostblockstaaten sowie durch die steigenden
Erdöleinnahmen Russlands ermöglicht, denn auf den Fall der Berliner Mauer
war zunächst ein katastrophaler Absturz gefolgt. Wirklich spektakulär ist
jedoch der Anstieg der unteren Linie: In den Entwicklungsländern nahm das
Pro-Kopf-BIP ab 1989 um 404 Prozent zu.
Dieser Anstieg hat den britischen Ökonomen Douglas McWilliams dazu
bewegt, die vergangenen 25 Jahre als Ära der »bedeutendsten wirtschaftlichen
Entwicklung in der Menschheitsgeschichte« zu bezeichnen. In den 100 Jahren
nach der Entdeckung Amerikas stieg das globale BIP um 33 Prozent und das
Pro-Kopf-BIP um 5 Prozent. In den 50 Jahren nach 1820, als in Europa und
Amerika die industrielle Revolution stattfand, stieg das globale BIP um
60 Prozent und das Pro-Kopf-BIP um 30 Prozent. Aber zwischen 1989 und 2012
schwoll das globale BIP von 20 Billionen auf 71 Billionen Dollar an, das heißt
um 272 Prozent. Und wie wir gesehen haben, stieg das Pro-Kopf-BIP um
162 Prozent. Beide Werte erhöhten sich im Zeitraum ab 1989 schneller als im
Verlauf des langen Nachkriegsaufschwungs.42
10. Die Gewinner der Globalisierung

Während des Nachkriegsaufschwungs unterdrückte der Kapitalismus die


Entwicklung des Globalen Südens. Wie er das tat, ist gut dokumentiert.43
Ungleiche Handelsbeziehungen zwangen große Teile Lateinamerikas, ganz
Afrika und den größten Teil Asiens, Entwicklungsmodelle einzuführen, die
westlichen Unternehmen gewaltige Gewinne und der heimischen Bevölkerung
Armut brachten. In Ländern, die Widerstand leisteten, wurde die Regierung
von der CIA gestürzt (so geschehen beispielsweise in Iran, Guyana und Chile)
oder wie in Grenada durch eine Invasion beseitigt. Die Volkswirtschaft vieler
dieser Länder wurde durch Überschuldung und
»Strukturanpassungsprogramme« zerstört, die der Internationale
Währungsfonds ihnen als Gegenleistung für Schuldenerlässe aufzwang. Da
ihre Industrie schwach war, konnten sie nur durch den Export von Rohstoffen
wachsen, und die Einkommen der Armen stagnierten.
Die Globalisierung änderte das. Wie das Schaubild zeigt, nahmen die
Realeinkommen von zwei Dritteln der Weltbevölkerung zwischen 1988 und
2008 deutlich zu. Das zeigt der sprunghafte Anstieg auf der linken Seite des
Diagramms.
Sehen wir uns nun die rechte Seite der Grafik an. Auch das Realeinkommen
des reichsten Einen Prozents ist gestiegen, und zwar um sechzig Prozent. Aber
die U-förmige Delle links von der Mitte zeigt, dass das Realeinkommen all
derer, die zwischen den Superreichen und der Bevölkerung der
Entwicklungsländer angesiedelt sind – das sind die Arbeiter und die untere
Mittelschicht in den westlichen Ländern –, nur geringfügig stieg oder gar
stagnierte. Diese Delle erzählt die Geschichte der Mehrheit der Bevölkerung
der Vereinigten Staaten, Japans und Europas: Diese Menschen haben in den
letzten zwanzig Jahren kaum vom Kapitalismus profitiert. Einige von ihnen
haben sogar verloren. An der Stelle, an der die Kurve unter null Prozent fällt,
befinden sich vermutlich die Afroamerikaner, die Armen Großbritanniens und
ein Großteil der Erwerbsbevölkerung Südeuropas.
Branko Milanovic, der diese Zahlen für die Weltbank ermittelt hat, spricht
von der »wohl umfassendsten globalen Neuverteilung der wirtschaftlichen
Positionen seit der industriellen Revolution«.44
11. Verdopplung der globalen Erwerbsbevölkerung

Der Harvard-Ökonom Richard Freeman hat ausgerechnet, dass sich die


Erwerbsbevölkerung der Welt zwischen 1980 und 2000 in absoluten Zahlen
verdoppelte, womit sich die Kapitalintensität halbierte.45 Das
Bevölkerungswachstum und der Anstieg der ausländischen Direktinvestitionen
ließen die Erwerbsbevölkerung in den Entwicklungsländern deutlich wachsen,
in China entstand infolge der Verstädterung eine Arbeiterklasse von
250 Millionen Menschen, und die Arbeitskräfte in den früheren
Ostblockstaaten drängten über Nacht auf den globalen Arbeitsmarkt.
Die beiden folgenden Grafiken zeigen, wo der wirtschaftliche Nutzen, der
aus dem Einsatz einer großen Zahl von Arbeitern in Niedriglohnländern
gezogen werden kann, an seine Grenzen stößt.

Hier sehen wir, wie sich das Einkommen der Erwerbsbevölkerung in den
Entwicklungsländern seit Beginn der Globalisierung entwickelt hat.
Verblüffend ist, dass die Gruppe der Arbeitskräfte, die zwischen 4 und 13 US-
Dollar am Tag verdienen, am stärksten gewachsen ist, nämlich von
600 Millionen auf 1,4 Milliarden Menschen.46 (Die Demografen bezeichnen
diese Gruppe als »neu entstehende Mittelschicht«, ein Tageseinkommen von
13 Dollar markiert allerdings in etwa die Armutsgrenze in den USA.) Diese
Menschen sind überwiegend Arbeiter. Sie haben Zugang zu
Bankdienstleistungen und Versicherungen, besitzen vermutlich ein
Fernsehgerät und leben zumeist in Kleinfamilien statt in den aus mehreren
Generationen bestehenden Haushalten der Elendsviertel oder in der Einsamkeit
der Massenunterkunft. Drei Viertel von ihnen arbeiten im
Dienstleistungssektor. Die Zunahme der Dienstleistungsjobs in den
Entwicklungsländern hat sowohl mit der natürlichen Entwicklung des
Arbeitsmarkts im modernen Kapitalismus als auch mit einer zweiten Runde der
Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland zu tun, die sich auf Callcenter, IT-
Abteilungen und Backoffice-Funktionen konzentriert. Die Grafik zeigt die
Grenzen des Offshoring. Die wachsende Gruppe von Arbeitskräften mit einem
Einkommen von 13 Dollar am Tag steigt in die Schicht auf, der auch die
einkommensschwächsten amerikanischen Arbeiter angehören.
Das bedeutet, dass die Tage des leichten Profits für Unternehmen, die ihre
Produktion ins Ausland verlegen, gezählt sind. In den vergangenen 25 Jahren
haben große Teile der Industrie im Globalen Süden die Produktion mit
»extensiven« anstelle von intensiven Methoden angekurbelt. Das bedeutet,
dass man, um die doppelte Menge eines bestimmten Geräts zu erzeugen, eine
weitere Fabrik baut, anstatt effizientere Produktionsmethoden zu entwickeln.
Aber das ist nicht mehr möglich, sobald man den hochqualifizierten
Arbeitskräften im Billiglohnland genauso viel bezahlen muss wie einem
ungelernten Arbeiter in den Vereinigten Staaten. Tatsächlich werden die
Auswirkungen steigender Einkommen in den Entwicklungsländern erkennbar,
wenn wir uns das zweite Diagramm ansehen:
Hier zeigt sich, dass der anfängliche Produktivitätsschub, den die Verlagerung
von Hunderten Millionen Arbeitsplätzen in Entwicklungs- und
Schwellenländer möglich machte, beendet ist.
Sehen wir uns alle drei Linien an. Die (am linken Rand) obere Linie, die
Aufschluss über das Produktivitätswachstum in der entwickelten Welt gibt,
sinkt auf null. Hier leisten die Arbeitskräfte kaum noch einen Beitrag zu einem
Anstieg der globalen Produktivität. Die durchgezogene Linie zeigt, dass die
Entwicklungsländer in den ersten Jahren der Globalisierung einen großen
Beitrag zur Produktivität leisteten, der jedoch in den letzten Jahren deutlich
gesunken ist. Das zeigt anschaulich, dass die Möglichkeiten zur
Produktivitätssteigerung durch die Globalisierung der Erwerbsbevölkerung
weitgehend ausgereizt sind und dass sich die Verlangsamung des Wachstums
in den Schwellenländern – von China bis Brasilien – in ein strategisches
Problem verwandelt. Zusammengenommen illustrieren diese Diagramme, dass
das normale Wellenmuster vollkommen durcheinandergeraten ist.
Wie wurde das Muster durchbrochen?

Der Grund dafür, dass der Aufschwung in den sechziger Jahren an Dynamik
verlor, hätte Kondratjew nicht verwundert: Jenes System, das hohe
Produktivitätszuwächse gekoppelt mit steigenden Arbeitseinkommen
ermöglicht hatte, funktionierte nicht mehr. Das führte zu den berühmten
kurzen Krisen der sechziger Jahre, als das globale System die Regierungen
zwang, das Wachstum zu bremsen, und anschließend zum Zusammenbruch der
globalen Wirtschaftsordnung, zu hoher Inflation und einem Krieg in Vietnam,
der so größenwahnsinnig war, dass sich die amerikanische Volksseele bis heute
nicht vom Schock der Niederlage erholt hat.
Der entscheidende Unterschied zu den vorangegangenen drei Zyklen
bestand darin, dass sich die Arbeiter in all diesen Zyklen gegen die billige und
hässliche Lösung für die Krise gewehrt hatten, das heißt gegen
Lohnkürzungen, Deskilling und eine Senkung des Sozialeinkommens. (In
Kapitel 7 werden wir untersuchen, warum dieser Widerstand in der vierten
Welle ausblieb.) Weil die Arbeiterklasse nicht imstande war, sich zur Wehr zu
setzen, konnte die gesamte Weltwirtschaft zum Vorteil des Kapitals neu
ausgerichtet werden.
Etwa zwanzig Jahre lang funktionierte diese Neuausrichtung, und zwar so
gut, dass viele vernünftige Menschen zu der Überzeugung gelangten, wir
lebten tatsächlich in einer neuen Welt. Was gemäß Kondratjews Theorie zu
Abschwung und Depression hätte führen sollen, brachte zwei Jahrzehnte der
Euphorie, in denen steigende Profite mit Sozialabbau, militärischen Konflikten,
der Widerkehr tiefer Armut sowie Kriminalität in den Städten der westlichen
Welt und mit unerhörtem Reichtum für das Eine Prozent einhergingen.
Aber das ist keine soziale Ordnung. Es ist soziale Unordnung von der Art,
die sich einstellt, wenn man den (von Kondratjew erwarteten) Übergang vom
produktiven zum Finanzkapitalismus mit der Unterwerfung einer atomisierten
Arbeiterschaft und dem Aufstieg einer superreichen Elite kombiniert, die von
den Finanzerträgen lebt.
Wir haben gesehen, auf welchen Faktoren der Neoliberalismus beruht:
Fiatgeld, Finanzialisierung, Verdoppelung der Erwerbsbevölkerung, globale
Ungleichgewichte einschließlich der deflationären Wirkung der Verbilligung
der Arbeit sowie der Verbilligung alles anderen durch die
Informationstechnologie. Dank dieser Entwicklungen gelang es uns, den
Zyklus anscheinend kostenlos zu verlängern und die Gesetze der Ökonomie
außer Kraft zu setzen. Doch wie wir gesehen haben – und wie die meisten von
uns auf die eine oder andere Art am eigenen Leib erfahren haben –, haben wir
dafür einen hohen Preis bezahlt.
Der Traum ist geplatzt. Und was kommt als Nächstes? Wir werden das
vorhandene Material verwenden müssen, um das neue technische und
wirtschaftliche System zu bauen. Wir wissen, dass dieses System Netzwerke,
Wissensarbeit, die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse und hohe
Investitionen in grüne Technologien beinhalten wird.
Die Frage ist: Kann dieses System noch kapitalistisch sein?
[1]
Deutsch als: Das Großunternehmen (Düsseldorf: Econ 1966) (Anm. d. Ü.).
[2]
Die Volkswirte setzen die Preise normalerweise in Beziehung zur Inflation. Inflationsbereinigt
waren die Preise für dieses und andere Metalle nach 1989 einigermaßen konstant oder sanken sogar.
Aber in der Analyse der langen Zyklen geht es gerade darum, Inflation und Deflation sichtbar zu
machen, anstatt sie herauszurechnen.
TEIL II

Gegenwärtig läuft ein großes Projekt, um die Beziehungen und die


Kommunikation zwischen allen Lebewesen und allen Objekten zu
intensivieren, zu erweitern und zu verbessern.
Kevin Kelly 1
5
Die Propheten des Postkapitalismus

Das Düsentriebwerk war eine der grundlegenden Technologien des langen


Zyklus, der nach dem Zweiten Weltkrieg begann. Das während des Kriegs
entwickelte Mantelstromtriebwerk – dies ist die präzise Bezeichnung – ist eine
reife Technologie und sollte keine großen Überraschungen mehr in sich
bergen. Aber das tut es.
Das Triebwerk funktioniert, indem es an der Vorderseite Luft einsaugt,
verdichtet und durch Erhitzung ausdehnt. Die ausgedehnte Luft treibt eine
Turbine an, welche die Hitze in Antriebsenergie umwandelt. Das
Mantelstromtriebwerk ist allerdings ausgesprochen ineffizient. Die ersten
Düsentriebwerke wandelten lediglich 20 Prozent der Hitze in Vortrieb um. Bis
2001 hatten sie eine Effizienz von 35 Prozent erreicht, und ein Industrieveteran
kündigte für das »zweite Viertel des 21. Jahrhunderts« vorsichtig 55 Prozent
an. 2
Warum sollte uns das interessieren? Weil die Hersteller erwarten, dass sich
die Zahl der Passagierflugzeuge bis 2030 verdoppeln wird. Das bedeutet 60 000
neue Triebwerke. 3 All diese Triebwerke werden den Beitrag der Luftfahrt zur
Erderwärmung von 3,5 Prozent im Jahr 2005 bis Mitte des Jahrhunderts auf
etwa 5 Prozent erhöhen. 4 Die Effizienz eines Düsentriebwerks ist also kein
Thema für Technikfreaks, sondern eine Überlebensfrage für unseren Planeten.
In den ersten fünfzig Jahren nach seiner Erfindung haben die Ingenieure die
Effizienz des Strahltriebwerks um 0,5 Prozent pro Jahr erhöht. Mittlerweile
kommt die Innovation jedoch sprunghaft voran: Eine Effizienz von 65 Prozent
ist in Reichweite, und bald dürften vollkommen neue Triebwerkstypen
eingeführt werden. Angetrieben wird der Wandel durch eine Mischung von
Beschränkungen für die CO2-Emissionen und durch die Treibstoffkosten.
Ermöglicht wird er durch die Schlüsseltechnologie des fünften langen Zyklus:
die Information.
Die Menschen, die die Düsentriebwerke bauen, können sich noch daran
erinnern, dass die Turbinenschaufeln ursprünglich aus Metall gehämmert
wurden. Ab den sechziger Jahren wurden sie aus flüssigem Metall gegossen.
Aber gegossenes Metall weist Mängel auf, was die Schaufeln für
Beschädigungen anfällig macht.
Womit wir bei einer der spektakulärsten technischen Neuerungen sind, von
der Sie wahrscheinlich noch nie gehört haben. Im Jahr 1980 erzeugten
Ingenieure des amerikanischen Triebwerkbauers Pratt & Whitney eine
Turbinenschaufel aus einer einkristallinen Legierung. 5 Das Ergebnis war ein
Metall mit einer vollkommen neuartigen Atomstruktur. Eine einkristalline
Schaufel hält höheren Geschwindigkeiten stand. Schaufeln aus solchen
Superlegierungen können Luft widerstehen, die heißer ist als der
Schmelzpunkt des Metalls. Der Fahrplan für die Weiterentwicklung der
Flugzeugtriebwerke 6 sieht mittlerweile vor, dass in sehr naher Zukunft
Getriebe, bis 2020 ein sonderbar geformtes offenes Triebwerksystem und
irgendwann nach 2035 ein selbstkühlendes Triebwerk, das die thermische
Effizienz auf nahezu 100 Prozent erhöhen soll, eingeführt werden.
Die Entwicklung hängt vollkommen von der Informationstechnologie ab.
Moderne Flugzeugtriebwerke werden von einem Computer gesteuert, der ihre
Leistung analysieren, Defekte voraussagen und die Wartung planen kann. Die
fortschrittlichsten Triebwerke schicken während des Flugs Leistungsdaten zum
Sitz des Herstellers.
Sehen wir uns an, wie die Informationstechnologie zum
Entwicklungsprozess beigetragen hat. Es sind immer noch Flugzeuge im
Einsatz, die auf Papier entworfen wurden. Die Belastungstests wurden mit
Rechenschiebern durchgeführt, und die Maschinen wurden ausgehend von mit
Seide bespannten Modellen in Originalgröße gebaut. Heutige Flugzeuge
werden am Computer entworfen und mit Superrechnern virtuell getestet. »Als
wir das Heckruder des Tornado-Kampfflugzeugs entwickelten, machten wir
zwölf Belastungstests«, erzählte mir ein altgedienter Ingenieur. »Beim
Nachfolgemodell Eurofighter Typhoon waren es 186 Millionen Tests.«
Der Computer hat auch die Fertigung revolutioniert. Die Ingenieure bauen
mittlerweile jedes Bauteil des Flugzeugs »virtuell« anhand digitaler 3-D-
Modelle, die in Superrechnern erzeugt werden. In diesen Modellen besitzt jede
Messingschraube die physikalischen Eigenschaften einer Messingschraube, und
jede Kohlefaserplatte verbiegt sich wie eine wirkliche Platte. Jedes Stadium des
Fertigungsprozesses wird in Modellen durchgespielt, bevor ein einziges
physisches Objekt hergestellt wird.
Der Weltmarkt für Mantelstromtriebwerke hat ein Volumen von
21 Milliarden Dollar. Nun stellt sich folgende Frage: Wie viel von diesen
21 Milliarden entfallen auf die physischen Bauteile, wie viel auf die
Arbeitskraft, wie viel auf die Information, die im Triebwerk steckt?
In den Bilanzen findet man keine Antwort auf diese Frage: In der modernen
Buchhaltung wird der Wert des geistigen Eigentums geraten. Die Autoren
einer Studie, die im Jahr 2013 im Auftrag des SAS Institute durchgeführt
wurde, versuchten, den Wert von Daten zu bestimmen, und stellten fest, dass
weder die Kosten der Datensammlung noch ihr Marktwert oder der potenzielle
zukünftige Ertrag, der sich mit der Information erzielen ließ, richtig berechnet
werden konnten. Nur anhand einer Buchführung, die nichtökonomischen
Nutzen und Risiken berücksichtigt, können Unternehmen ihren Aktionären
erklären, was ihre Informationen wirklich wert sind. 7
Im Bericht heißt es, dass der Wert der »nicht greifbaren Vermögenswerte«
in den Bilanzen amerikanischer und britischer Unternehmen zwar fast dreimal
so schnell wächst wie jener der dinglichen Assets, dass sich die Größe des
digitalen Sektors in den BIP-Statistiken jedoch nicht verändert. Es stimmt also
etwas nicht mit unserer Methode, den Wert des wichtigsten Bestandteils der
modernen Wirtschaft zu bestimmen.
Trotzdem ist klar, dass sich die Zusammensetzung der Inputs geändert hat.
Ein Flugzeug sieht aus wie alte Technologie. Aber von der atomaren Struktur
der Turbinenschaufeln über den komprimierten Designzyklus bis zu den
Daten, die während des Flugs an die Zentrale gefunkt werden, vibriert es
geradezu vor Information.
Diese Verschmelzung von virtueller und realer Welt sehen wir in
zahlreichen Sektoren: Die Leistung von Automotoren wird von einem
Siliziumchip gesteuert, digitale Pianos haben den Klang Tausender echter
Pianos gespeichert und man kann per Tastendruck steuern, welchen sie
wiedergeben. Heute sehen wir Filme, die nicht mehr aus Zelluloidkörnen,
sondern aus Pixeln bestehen und ganze Szenen enthalten, in denen nie etwas
Reales vor der Kamera gewesen ist. In den Fertigungsstraßen der Autobauer ist
jedes Bauteil mit einem Balkencode versehen: Was die Menschen dort Seite an
Seite mit surrenden Robotern tun, wird von einem Computeralgorithmus
festgelegt und überprüft. Die Beziehung zwischen körperlicher Arbeit und
Information hat sich verändert.
Den bedeutendsten technologischen Fortschritt des frühen 21. Jahrhunderts
stellen nicht neue Objekte dar, sondern alte Objekte, die intelligent gemacht
werden. Der Wissensgehalt der Produkte hat mittlerweile einen höheren Wert
als ihre physischen Bestandteile.
In den neunziger Jahren, als langsam klar wurde, wie die
Informationstechnologie die Welt veränderte, kamen Menschen in
verschiedenen Disziplinen auf denselben Gedanken: Der Charakter des
Kapitalismus wandelt sich von Grund auf.
Es tauchten neue Modeworte auf: Wissensökonomie,
Informationsgesellschaft, kognitiver Kapitalismus. Die Annahme lautete, dass
der freie Markt und der Informationskapitalismus Hand in Hand arbeiteten:
Der eine bringe den anderen hervor und stärke ihn. Einige Leute hielten die
Veränderung für ebenso bedeutsam wie den Übergang vom Merkantilismus
zum Industriekapitalismus im 18. Jahrhundert. Doch als sich die Ökonomen
daranmachten, die Funktionsweise dieser »dritten Erscheinungsform des
Kapitalismus« zu erklären, stießen sie auf ein Problem: Dieser Kapitalismus
funktioniert nicht.
Es tauchen immer mehr Belege dafür auf, dass sich die
Informationstechnologie keineswegs als Grundlage für einen neuartigen,
stabilen Kapitalismus eignet. Ganz im Gegenteil: Sie löst ihn auf. Sie zersetzt
die Marktmechanismen, höhlt die Eigentumsrechte aus und zerstört die
Beziehung zwischen Einkommen, Arbeit und Profit. Die Ersten, die das
begriffen, waren eine Handvoll Philosophen, Managementgurus und
Rechtsanwälte.
In diesem Kapitel werde ich die wichtigsten Erkenntnisse dieser heterogenen
Gruppe von Vordenkern kritisch beleuchten. Anschließend werde ich eine
noch radikalere These aufstellen: Die Informationstechnologie führt uns in ein
postkapitalistisches Wirtschaftssystem.
Peter Drucker: Die richtigen Fragen

Im Jahr 1993 schrieb der Managementguru Peter Drucker: »Die Tatsache, daß
Wissen die Ressource geworden ist und nicht mehr bloß eine Ressource unter
anderen, macht unsere Gesellschaft zu einer ›postkapitalistischen‹. Sie
verschiebt die Struktur unserer Gesellschaft, und zwar grundsätzlich. Sie
schafft eine neue soziale Dynamik. Sie schafft eine neue wirtschaftliche
Dynamik. Sie schafft eine ganz neue Politik.« 8 Im Alter von neunzig Jahren
war der letzte überlebende Schüler Joseph Schumpeters ein wenig übers Ziel
hinausgeschossen, aber seine Erkenntnis war richtig.
Druckers Argumentation beruhte auf der Erkenntnis, dass die
herkömmlichen Produktionsfaktoren – Boden, Arbeit und Kapital – gegenüber
der Information in den Hintergrund getreten waren. In seinem Buch Die
postkapitalistische Gesellschaft erklärte Drucker, grundlegende Normen des
Kapitalismus würden ersetzt. Noch bevor irgendjemand einen Internetbrowser
zu Gesicht bekommen hatte, studierte Drucker den an Information reichen
Kapitalismus der achtziger Jahre und stellte sich in Grundzügen die
Netzwerkökonomie vor, die in den folgenden zwanzig Jahren entstehen sollte.
Genau dafür brauchen wir die Visionäre. Während viele andere der Meinung
waren, Informationstechnologie plus Neoliberalismus würden den
vollkommenen Kapitalismus hervorbringen, ging Drucker einen Schritt weiter
und stellte sich den Informationskapitalismus als Übergangsphase zu etwas
anderem vor. Er bemerkte, dass es trotz all des Geredes über die Information
keine Theorie dazu gab, wie sich die Information tatsächlich in den
wirtschaftlichen Abläufen verhielt. In Ermangelung einer solchen Theorie
stellte er eine Reihe von Fragen zur möglichen Gestalt einer
postkapitalistischen Gesellschaft.
Seine erste Frage: Wie können wir die Produktivität des Wissens erhöhen?
Wenn bisher die steigende Produktivität von Maschinen und Arbeitskräften die
kapitalistische Entwicklung vorangetrieben hatte, dann musste im nächsten
Stadium die Produktivität des Wissens erhöht werden. Drucker erklärte, um
das zu erreichen, müssten die verschiedenen Wissensdisziplinen kreativ
miteinander verknüpft werden: Auf wissenschaftlicher Ebene sei die Fähigkeit,
eine Verbindung herzustellen, »vielleicht angeboren und Teil des Rätsels, das
wir ›Genie‹ nennen. Diese Fähigkeit, alles miteinander zu verknüpfen und so
den Ertrag aus dem Wissen zu steigern, ist – für den einzelnen Menschen, das
Team oder eine Organisation – erlernbar.« 9
Die Herausforderung bestand darin, Wissensarbeiter darin zu schulen, jene
Art von Verknüpfungen herzustellen, die das Gehirn eines Einstein spontan
bewältigte. Druckers Lösung stammte direkt aus dem Handbuch der
Managementtheorie: Man braucht schließlich immer eine Methode, einen
Projektplan und eine bessere Ausbildung.
Die Menschheit fand eine bessere Lösung: das Netzwerk. Dieses war nicht
das Resultat eines zentralisierten Plans oder der Arbeit einer
Managementgruppe, sondern entstand aus der spontanen Interaktion von
Menschen, die Informationspfade und Organisationsformen nutzten, die bis vor
25 Jahren nicht existierten. Dennoch war Druckers Idee der »Verknüpfung«
und der modularen Informationsnutzung als Schlüssel zu höherer Produktivität
brillant.
Seine zweite Frage war ebenso bedeutsam: Welches ist der gesellschaftliche
Archetyp des Postkapitalismus? Wenn der Ritter die Feudalgesellschaft und der
Bourgeois den Kapitalismus verkörperte, wer könnte dann, historisch
betrachtet, der typische Vertreter postkapitalistischer Haltungen, Interessen
und Formen der Vergesellschaftung sein? Dieselbe Frage hatte auch Karl Marx
beschäftigt, aber Druckers Antwort war eine Enttäuschung für die
traditionellen Linken, die der Meinung waren, es müsse das Proletariat sein.
Drucker schwebte stattdessen die »gebildete universelle Person« vor.
Dieser neue Mensch würde aus der Verschmelzung von Managern und
Intellektuellen hervorgehen und die Fähigkeit des Managers zur Anwendung
von Wissen mit der Fähigkeit des Intellektuellen zur Auseinandersetzung mit
reinen Konzepten verbinden. Ein solcher Mensch würde das Gegenteil des
Universalgelehrten sein, jenes seltenen Menschen, der gleichzeitig Experte für
Mandarin-Chinesisch und Atomphysik ist. Der neue Mensch würde ganz
anders vorgehen: Er würde imstande sein, die Ergebnisse der Forschung in
Spezialgebieten aufzugreifen und auf andere Gebiet zu übertragen. Er würde
die Chaostheorie auf die Volkswirtschaft, die Genetik auf die Archäologie oder
das Data Mining auf die Sozialgeschichte anwenden.
Drucker wünschte sich, dass solche Menschen die Führungsgruppe der
neuen Gesellschaft stellen würden, »eine einigende Kraft […], der es gelingt,
lokale, die Menschen voneinander trennende Traditionen gemeinsamen, von
allen Menschen geteilten Wertvorstellungen und einem gemeinsamen Konzept
herausragender Leistung und gegenseitiger Achtung zu verpflichten«.10
Mittlerweile gibt es diese Gruppe: die Technobourgeoisie des
21. Jahrhunderts, die im T-Shirt herumläuft, ihre Information in der Cloud
speichert und eine ultraliberale Einstellung zu Sexualität, Ökologie und
Philanthropie hat. Sollte es in den nächsten fünfzig Jahren lediglich einen auf
der Information beruhenden fünften langen Zyklus des Kapitalismus geben,
dann haben wir bereits den neuen Menschen, den wir nach der Theorie der
langen Zyklen erwarten dürfen. Das Problem ist, dass diese Menschen nicht
das geringste Interesse daran haben, den alten Kapitalismus zu überwinden,
und dass sie generell geringes politisches Interesse zeigen.
Um den Postkapitalismus zu errichten, bräuchten wir eine große Zahl
gebildeter universeller Menschen, die andere Interessen haben als die
hierarchischen Großunternehmen, die das 20. Jahrhundert prägten. Sie müssten
wie seinerzeit die Bourgeoisie für das neue Wirtschaftsmodell kämpfen und ihr
Verhalten an die mit diesem Modell verbundenen Werte anpassen. Sie müssten,
wie im materialistischen Geschichtskonzept, innerhalb der alten Strukturen die
Träger der neuen gesellschaftlichen Beziehungen sein.
Sehen wir uns um.
Ich sitze in der Londoner U-Bahn in einem Waggon, in dem sämtliche
Fahrgäste unter 35 Jahren weiße Kabel aus den Ohren hängen haben, die mit
einem Gerät verbunden sind, das etwas abspielt, was sich diese Leute aus dem
Netz heruntergeladen haben. Sogar diejenigen, die offensichtlich ins Büro
fahren oder Manager sind, sind leger gekleidet und legen ein einstudiert
lockeres Verhalten an den Tag. Einige gehen sogar hier, wo es kein Wifi gibt,
auf ihren Smartphones die E-Mails durch. Vielleicht vertreiben sie sich auch
nur die Zeit mit einem Computerspiel, denn beide Aktivitäten erfordern
dieselben Bewegungen und dasselbe Maß an Konzentration. Sie sind an die
digitale Information gefesselt, und sobald sie wieder draußen auf der Straße
sind, werden sie über 3G wieder ins globale Netz einsteigen.
Alle anderen Fahrgäste passen in die Demografie des 20. Jahrhunderts: das
ältere Mittelschichtpaar, sie mit Hut, er im Tweed-Sakko, der unrasierte
Arbeiter, der die Zeitung liest, der Mann im Anzug, der auf seinem Laptop tippt
und zu beschäftigt ist, um Musik zu hören, sich aber die Zeit genommen hat,
seine Schuhe zu putzen (das bin ich).
Die erste Gruppe setzt sich aus Personen zusammen, die von den Soziologen
als »vernetzte Individuen« bezeichnet werden. Diese Menschen verstehen es,
Wissen aus einem relativ offenen globalen System zu holen. Sie legen ein
vernetztes Verhalten an den Tag, sei es am Arbeitsplatz, beim Konsum, in ihren
Beziehungen oder in ihrem kulturellen Leben. Dreißig Jahre nachdem Stewart
Brand das berühmte Bonmot »Die Information will kostenlos sein« prägte,
glauben sie instinktiv, dass die Information unter normalen Umständen
kostenlos sein sollte. Sie bezahlen für ihre Drogen in der Diskothek, empfinden
es jedoch immer noch als Zumutung, für heruntergeladene Musik bezahlen zu
müssen.
Diese Gruppe ist bereits so groß und klar abgegrenzt, dass die typischen
Vertreter des 20. Jahrhunderts in einigen Städten – zum Beispiel in London,
Tokio und Sydney – bereits in der Minderheit sind: Diese Menschen
orientieren sich immer noch anhand von Papierstadtplänen, anstatt GPS zu
verwenden, sie sind immer noch verwirrt angesichts der vielfältigen
Kaffeeoptionen, die ihnen bei Starbucks angeboten werden, und schockiert und
fasziniert von der Wechselhaftigkeit des Lebens, das jene andere Gruppe als
normal betrachtet.
Die vernetzten Individuen des frühen 21. Jahrhunderts – die »Leute mit den
weißen Kabeln« – sind genau die Menschen, die Drucker vorschwebten: Sie
sind die gebildeten universellen Personen. Sie sind nicht mehr auf eine
technologisch-demografische Nische beschränkt. Jeder Barkeeper,
Verwaltungsangestellte oder juristische Zeitarbeiter kann sich, sofern er das
will, in eine gebildete universelle Person verwandeln. Alles, was er dafür
braucht, ist eine Grundausbildung und ein Smartphone. Tatsächlich zeigen
neue Studien, dass sich sogar chinesische Fabrikarbeiter dank der Ausbreitung
des mobilen Internets angesichts der strikten Disziplin und der langen
Arbeitstage in ihrer Freizeit begeistert vernetzen.11
Hat man einmal verstanden, wie sich die Information als wirtschaftliche
Ressource verhält und welche Menschen den neuen gesellschaftlichen
Archetyp darstellen, so ist man auf dem besten Weg zu verstehen, wie der
Übergang zum Postkapitalismus ablaufen könnte. Natürlich stellt sich die Frage:
Warum sollte er stattfinden? Druckers Antworten sind spekulativ, aber sie
liefern die ersten Bausteine für das Fundament einer soliden Theorie des
Postkapitalismus.
Drucker unterteilt die Geschichte des Industriekapitalismus in vier Phasen:
1. eine mechanische Revolution, die fast das ganze 19. Jahrhundert in Anspruch
nahm; 2. mit dem Auftauchen der wissenschaftlichen Betriebsführung in den
neunziger Jahren jenes Jahrhunderts begann eine Produktivitätsrevolution; 3.
nach 1945 begann eine durch die Anwendung des Wissens auf die
Betriebsabläufe ermöglichte Managementrevolution; 4. die
Informationsrevolution schließlich beruht auf der »Anwendung des Wissens
auf das Wissen«.
Als guter Schüler Schumpeters stützt Drucker sich hier ganz bewusst auf die
Kondratjew-Zyklen, die er jedoch aus der Sicht des einzelnen Unternehmens
betrachtet. (Außerdem verschmilzt er die ersten beiden Zyklen miteinander.)
Das führt ihn zu seiner bedeutsamsten Erkenntnis: Diese Zyklenwechsel
können wir ohne die Ökonomie der Arbeit nicht verstehen. Von Virgil bis
Marx, erklärt Drucker, machte sich niemand die Mühe, sich genauer
anzusehen, was der Bauer oder Fabrikarbeiter im Alltag tat. Erst gegen Ende
des 19. Jahrhunderts bemerkten die Kapitalisten, was ihre Arbeiter tatsächlich
taten, und versuchten es zu ändern.
»Es wurde immer noch keine Geschichte der Arbeit geschrieben«, klagte
Drucker in den frühen neunziger Jahren, und auch 25 Jahre später ist die
Geschichte der Arbeit zu wenig erforscht. Die Arbeitsmarktökonomie
konzentriert sich auf Arbeitslosigkeit und Einkommen und genießt in den
Wirtschaftswissenschaften wenig Ansehen. Aber sobald wir begreifen, was die
Information mit der Arbeit, mit den Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit und
mit den Arbeitseinkommen macht, wird uns klar, wie umwälzend der Wandel
ist, den wir gerade erleben.
Am Ende hinterließ uns Drucker eine Reihe von Fragen. Es waren die
richtigen Fragen, aber ein Vierteljahrhundert später haben wir immer noch
keine umfassende Theorie des Informationskapitalismus, geschweige denn eine
Theorie des Postkapitalismus. Dabei ist die herkömmliche
Wirtschaftswissenschaft einer solchen Theorie nahegekommen, wenn auch
zufällig.
Die Informationsgüter verändern alles

In den neunziger Jahren widerlegte der amerikanische Ökonom Paul Romer


eine der zentralen Annahmen der modernen Volkswirtschaftslehre und führte
die Frage des Informationskapitalismus in die Mainstream-Diskussion ein.
Auf der Suche nach einem Modell, anhand dessen die Wachstumsrate einer
Volkswirtschaft prognostiziert werden konnte, waren die Ökonomen auf
verschiedene Faktoren gestoßen: Ersparnisse, Produktivität,
Bevölkerungswachstum. Sie wussten, dass der technologische Wandel sich auf
all diese Faktoren auswirkte, nahmen jedoch an, dass er in ihrem Modell als
»exogener« Faktor zu gelten hatte und daher in der Gleichung nicht
berücksichtigt werden musste. Dann kam Romer und lenkte die Debatte in eine
andere Richtung. In einem Artikel mit dem Titel »Endogenous technological
change«12 wies er nach, dass die Innovation, da sie von den Marktkräften
angetrieben wird, nicht als zufällig oder als externer Faktor betrachtet werden
kann. Vielmehr muss sie Romer zufolge als fester, »endogener« Bestandteil der
wirtschaftlichen Entwicklung betrachtet werden. Die Innovation muss Teil der
Wachstumstheorie sein: Ihre Auswirkungen sind nicht zufällig, sondern
vorhersehbar.
Romer stellte allerdings nicht nur eine schöne Berechnung zum Kapitalismus
im Allgemeinen an, sondern gab auch eine Anregung zur Diskussion über den
Informationskapitalismus, die eine Revolution auslösen sollte. Er definierte den
technologischen Wandel bewusst einfach als »Verbesserung der Anweisungen
zur Kombination von Rohstoffen«. Er trennte also die Dinge von den Ideen –
denn genau das sind »Anweisungen«. Die Information war für Romer wie eine
Blaupause oder ein Rezept, um etwas in der dinglichen oder in der digitalen
Welt zusammenzusetzen. Das führte ihn zu einer vollkommen neuen Prämisse:
»Die Anweisungen für die Arbeit mit Rohstoffen unterscheiden sich von Natur
aus von anderen Wirtschaftsgütern.«13
Ein Informationsprodukt unterscheidet sich von sämtlichen physischen
Gütern, die je produziert wurden. Und eine Volkswirtschaft, die vor allem auf
Informationsprodukten beruht, wird sich anders verhalten als eine
Volkswirtschaft, die auf der Erzeugung von Dingen und der Bereitstellung von
Dienstleistungen beruht. Romer erklärt, warum: »Sind die Kosten für die
Erzeugung eines neuen Satzes von Anweisungen einmal angefallen, so können
diese Anweisungen wieder und wieder ohne zusätzliche Kosten verwendet
werden. Die Entwicklung neuer und besserer Anweisungen entspricht der
Belastung durch Fixkosten.«14
Damit hatte Romer in einem Absatz das revolutionäre Potenzial des
winzigen Handgriffs zusammengefasst, mit dem ich gerade sein Zitat aus einer
PDF kopiert und in meinen Text eingefügt habe: copy and paste. Wenn man
einmal einen Textabsatz kopieren und einfügen kann, kann man dasselbe auch
mit einer Audiodatei, einem Film, dem Bauplan für ein Düsentriebwerk und
dem digitalen Modell des Montagewerks tun, in dem dieses Triebwerk
zusammengesetzt werden soll.
Sobald etwas kopiert und eingefügt werden kann, kann es kostenlos
reproduziert werden. Um es im Wirtschaftsjargon zu sagen: Seine Grenzkosten
liegen bei null.
Das kann ein Problem sein, und die Informationskapitalisten haben eine
Lösung für dieses Problem gefunden: Man kann das Kopieren bestimmter
Arten von Information gesetzlich verbieten. Beispielsweise ist es mir erlaubt,
kostenlos aus Romers Buch zu zitieren, doch um mir bei JSTOR die PDF seines
berühmten Artikels aus dem Jahr 1990 herunterladen zu können, musste ich
16,80 Dollar bezahlen. Und würde ich versuchen, den Bauplan für ein
Düsentriebwerk zu kopieren, könnte ich im Gefängnis landen.
Die geistigen Eigentumsrechte sind allerdings für ihre Unklarheit berüchtigt:
Ich kann eine CD, die ich gekauft habe, legitim in meinen iTunes-Ordner
kopieren, aber es ist illegal, eine DVD zu rippen. Die Gesetze, die uns sagen,
was wir kopieren dürfen und was nicht, sind unklar. Die Vorschriften werden
ebenso sehr durch gesellschaftliche wie durch gesetzliche Normen
durchgesetzt, und wie die Patente der vordigitalen Ära verfallen die geistigen
Eigentumsrechte nach einer gewissen Zeit.
Wer für sich in Anspruch nimmt, eine Informationseinheit zu »besitzen« –
ob er nun ein Rockmusiker oder ein Triebwerkshersteller ist –, hat ein
Problem: Die Information nutzt sich nicht ab, und die Tatsache, dass sie von
einer Person konsumiert wird, hindert eine andere Person nicht daran, sie
ebenfalls zu konsumieren. Die Ökonomen sprechen hier von »nicht
rivalisierenden Gütern«. Der Verständlichkeit halber kann man sie auch als
»gemeinsam nutzbare Güter« bezeichnen.
Bei dinglichen Gütern und vielen Dienstleistungen verhindert die Nutzung
durch eine Person normalerweise die Nutzung durch eine zweite: Die
Zigarette, die ich rauche, können Sie nicht rauchen, und es ist mein Mietauto,
mein Cappuccino und meine Psychotherapiesitzung. Nicht Ihre. Aber bei einer
MP3-Datei liegen die Dinge anders: Die Information ist das Wirtschaftsgut. Es
kann technisch in einer Vielzahl physischer Formen existieren, und zwar in
einem derart kleinen Maßstab, dass ich die gesamte Musik, die ich in meinem
Leben gekauft habe, auf einem fünf Zentimeter großen USB-Stick oder einem
iPod mit mir herumtragen kann.
Ist ein Wirtschaftsgut einmal ein nichtrivalisierendes Gut, so kann man sein
Eigentumsrecht daran nur durch »Ausschluss« verteidigen, wie die Ökonomen
es ausdrücken: Man kann die Software mit einem Kopierschutz versehen – wie
es bei DVDs geschieht – oder das Kopieren strafbar machen. Doch was auch
immer man tut, um die Information zu schützen – man kann einen
Kopierschutz einbauen, die Daten verschlüsseln, den Verkäufer von
Raubkopien in der Fußgängerzone verhaften –, die Information selbst bleibt
kopierbar und kann mit anderen geteilt werden, und das zu verschwindend
geringen Kosten.
Das hat erhebliche Auswirkungen auf die Funktionsweise des Marktes.
Die Mainstream-Ökonomen gehen davon aus, dass die Märkte den
vollkommenen Wettbewerb fördern und dass Fehler wie Monopole, Patente,
Gewerkschaften und Preiskartelle stets vorübergehend sind. Des Weiteren
nehmen diese Ökonomen an, dass die Marktteilnehmer vollkommene
Information besitzen. Romer zeigte allerdings, dass in dem Moment, da die
Wirtschaft aus gemeinsam nutzbaren Informationsgütern besteht, der
unvollkommene Wettbewerb zur Norm wird.
Der Gleichgewichtszustand einer Informationstechnologieökonomie ist ein
Zustand, in dem Monopole dominieren und die Marktteilnehmer ungleichen
Zugang zu Informationen haben, die sie brauchen, um rationale
Kaufentscheidungen fällen zu können. Die Informationstechnologie zerstört
also den normalen Preisbildungsmechanismus, in dem der Wettbewerb die
Preise in Richtung der Produktionskosten drückt. Es kostet fast nichts, einen
iTunes-Song auf dem Server von Apple zu speichern, und es kostet fast nichts,
ihn auf meinen Computer zu übertragen. Was immer die Produktion des Songs
die Plattenfirma an Künstlerhonoraren und Marketingausgaben gekostet hat,
mich kostet er 0,99 Euro, und das auch nur, weil es gesetzwidrig ist, ihn
kostenlos zu kopieren.
Das Wechselspiel zwischen Angebot und Nachfrage hat hier keinerlei
Einfluss mehr auf den Preis: Das Angebot des Beatles-Songs »Love me do« auf
iTunes ist unbegrenzt. Und anders als bei tatsächlichen CDs schwankt der Preis
auch dann nicht, wenn die Nachfrage sinkt oder größer wird. Der Preis wird
von Apples unantastbarem gesetzlichen Anspruch bestimmt, 0,99 Euro für
dieses Wirtschaftsgut zu berechnen.
Um ein auf Information beruhendes milliardenschweres Unternehmen zu
betreiben, stützt sich Apple nicht nur auf das Urheberrecht, sondern hat einen
eingezäunten Garten angelegt, in dem einander ergänzende Technologien
blühen – der Mac, iTunes, der iPod, die iCloud, das iPhone und das iPad. So
sorgt das Unternehmen dafür, dass uns die Gesetzestreue leichter fällt als der
Gesetzesbruch. Und das Ergebnis ist, dass iTunes einen Anteil von rund
75 Prozent am Weltmarkt für digitale Musik hält.15
Im Informationskapitalismus ist das Monopol nicht einfach eine schlaue
Methode der Profitmaximierung. Es ist die einzige Überlebenschance einer
Industrie. Es ist verblüffend, wie wenige Unternehmen die verschiedenen
Sektoren beherrschen. In den traditionellen Sektoren gibt es normalerweise auf
jedem Markt vier bis sechs dominierende Unternehmen: die großen vier
Wirtschaftsprüfungsfirmen, die vier oder fünf großen Einzelhandelsgruppen,
die vier großen Triebwerkshersteller. Aber die führenden Marken in den
einzelnen Branchen der Informationstechnologie sind auf die totale
Marktbeherrschung angewiesen: Google muss die einzige Suchmaschine sein,
Facebook muss der einzige Ort sein, an dem man eine Online-Identität
entwickeln kann, Twitter der einzige Ort, an dem man seine Gedanken zum
Besten geben kann, iTunes der beherrschende Online-Musikanbieter. Auf zwei
Schlüsselmärkten – Internetsuche und mobile Betriebssysteme – bekämpfen
sich zwei Unternehmen auf Leben und Tod, wobei es gegenwärtig so aussieht,
als würde Google beide Kriege für sich entscheiden.
Bis zum Auftauchen der gemeinsam nutzbaren Güter lautete das
grundlegende wirtschaftliche Gesetz, dass alles knapp ist. Angebot und
Nachfrage setzen Knappheit voraus. Mittlerweile sind bestimmte Güter nicht
mehr knapp, sondern im Überfluss vorhanden, womit Angebot und Nachfrage
irrelevant werden. iTunes bietet im Grunde eine Datei auf einem Server in
Cupertino an, die technisch von aller Welt gemeinsam genutzt werden kann.
Nur das geistige Eigentumsrecht und ein kleines Stück Code im iTunes-Song
verhindern, dass jeder Erdbewohner jedes Musikstück besitzen kann, das je
produziert wurde. Apple hat es sich also zur Aufgabe gemacht, einen
vollkommenen Überfluss an Musik zu verhindern.
Romers neue Theorie war gleichzeitig eine schlechte Nachricht für die
Mainstream-Ökonomie und eine gute Nachricht für die aufstrebenden
Giganten des Informationskapitalismus. Diese Theorie erklärte viele der
Anomalien, die der herkömmlichen Wirtschaftswissenschaft Kopfzerbrechen
bereitet hatten. Und sie beinhaltete eine unausgesprochene Rechtfertigung für
eine Monopolstellung der Technologieunternehmen. Der Journalist David
Warsh hat die Bedeutung der Theorie so beschrieben:

Nach 200 Jahren waren Boden, Arbeit und Kapital plötzlich nicht mehr die grundlegenden Kategorien
der ökonomischen Analyse. Ersetzt wurden sie durch Menschen, Ideen und Dinge […], das vertraute
Prinzip der Knappheit wurde durch das wichtige Prinzip des Überflusses ergänzt.16

Man sollte meinen, die Wirtschaftswelt hätte Romers Arbeit begeistert


aufnehmen müssen. Weit gefehlt. Romer stieß auf Feindseligkeit und
Desinteresse. Kritiker der Mainstream-Ökonomie mit Joseph Stiglitz an der
Spitze sagten seit Jahren, dass die allgemeinen Annahmen der herkömmlichen
Ökonomie – die Annahme vollkommener Information und die Annahme
effizienter Märkte – falsch seien. Jetzt hatte Romer, ein Vertreter der
Mainstream-Ökonomie, den Verteidigungswall gegen diese Kritiker
niedergerissen, denn er hatte gezeigt, dass in der Informationsökonomie der
Marktmechanismus für die Preisbildung die Grenzkosten bestimmter Güter im
Lauf der Zeit auf null drücken wird, womit die Aussichten der Unternehmen
auf Gewinn schwinden.
Die Informationstechnologie untergräbt das normale Funktionieren des
Preismechanismus. Das hat gewaltige Auswirkungen auf das gesamte
Wirtschaftssystem, wie wir in diesem Buch sehen werden.
Hätten Romer und seine Anhänger den Kapitalismus als endliches System
betrachtet, so hätten sie sich möglicherweise mit den weitreichenden
Auswirkungen seiner außergewöhnlichen Erkenntnis beschäftigt. Aber das
taten sie nicht. Sie hielten an der Vorstellung fest, dass die Wirtschaft wie in
den Lehrbüchern aus Preisführern und Preisnehmern bestand: Rationale
Individuen verfolgen ihre Interessen auf dem Markt.
Nicht die Wirtschaftswissenschaftler, sondern die Technologievisionäre
waren diejenigen, die das Gesamtbild sahen. Ende der neunziger Jahre
begannen sie zu verstehen, was Romer nicht verstanden hatte: Die
Informationstechnologie macht eine Nicht-Marktwirtschaft möglich und bringt
eine Gruppe von Akteuren hervor, die bereit sind, ihr Eigeninteresse außerhalb
des Marktes zu verfolgen.
Der Aufstieg von Open Source

Vielleicht lesen Sie dieses Buch auf einem Tablet: auf einem Kindle, einem
Nexus oder einem iPad. Diese Geräte stürzen kaum einmal ab, und wir würden
nicht im Traum auf die Idee kommen, sie zu programmieren, aber sie sind
tatsächlich Computer. Auf dem Chip eines iPad Air sitzen eine Milliarde
Transistoren – vor dreißig Jahren hätte man fünftausend Desktop-Computer
zusammenschalten müssen, um auf eine solche Rechenleistung zu kommen.17
Die Software-Grundlage für einen iPad ist das Betriebssystem iOS. Die
Computer arbeiten heute so reibungslos, dass wir uns kaum noch vorstellen
können, was für eine Herausforderung die Betriebssysteme in den siebziger
Jahren für die Pioniere waren. In den frühen Jahren der Softwareentwicklung
begann ein Streit über die Betriebssysteme, der sich zu einem Streit über die
Frage auswuchs, wer die Information besitzen könne oder solle.
In den ersten drei Jahrzehnten waren Computer groß und selten und kamen
nur in großen Unternehmen und an Universitäten zum Einsatz. Als Mitte der
siebziger Jahre der Desktop-PC erfunden wurde, waren solche Geräte im
Grunde eine Ansammlung von elektronischen Schalttafeln mit einem
Bildschirm. Und Desktops wurden nicht von Unternehmen, sondern von
Freizeitinformatikern gebaut.
Der Altair 8800 war eine bahnbrechende Maschine, die per
Zeitschriftenannonce an Computerfreaks verkauft wurde, die Programmieren
lernen wollten. Man brauchte eine Programmiersprache, um den Computer
dazu zu bringen, das zu tun, was man von ihm wollte, und zwei junge Männer
in Seattle entwickelten eine solche Sprache: Altair BASIC wurde auf einer Rolle
Lochstreifen vertrieben und kostete 200 Dollar. Nach kurzer Zeit stellten die
beiden Entwickler allerdings fest, dass der Absatz der Programmiersprache
hinter dem des Computers herhinkte. Der Grund war, dass die Benutzer die
Papierrollen kopierten und kostenlos weitergaben. In einem wütenden
»Offenen Brief« forderte der Autor der Software die Computerclubs auf, die
Softwarepiraten hinauszuwerfen und ihn zu bezahlen: »Die meisten von Euch
stehlen ihre Software. Ihr denkt, die Hardware müsse bezahlt werden, aber die
Software sollte man teilen. Wen kümmert es, ob die Leute, die daran gearbeitet
haben, bezahlt werden?«18
Der Briefschreiber war Bill Gates, und er fand rasch eine Lösung für das
Problem: Man musste Eigentümer des Betriebssystems und der
Programmiersprache sein. Gates entwickelte Windows, das zum
Standardbetriebssystem für den PC wurde. Bald hatte Windows beinahe ein
Monopol auf dem Markt für Unternehmens-Desktops, und Gates wurde
Milliardär. Sein »Offener Brief« ging als zweitwichtigstes Dokument in die
Geschichte der digitalen Ökonomie ein.
Womit wir bei dem in meinen Augen wichtigsten Dokument sind:

Wenn irgendetwas eine Belohnung verdient, sind es soziale Beiträge. Kreativität kann ein sozialer
Beitrag sein, aber nur, wenn die Gesellschaft die Freiheit hat, die Resultate zu nutzen. […] Geld von
Benutzern zu kassieren, indem man den Gebrauch eines Programms einschränkt, ist destruktiv, weil
die Beschränkungen die Häufigkeit und die Wege reduziert, in denen das Programm genutzt werden
könnte. Dies reduziert den Reichtum, den die Menschheit aus dem Programm [ziehen kann]. Ist die
Beschränkung eine bewusste Entscheidung, sind die schädlichen Auswirkungen absichtliche
Zerstörung.19

Diese Worte schrieb Richard Stallman, der Vater der Open-Source-Bewegung,


1985 in seinem »GNU-Manifest«. Stallman lehnte nicht nur das Vorgehen von
Microsoft ab, sondern auch den Versuch der Hersteller von sehr viel
leistungsfähigeren Unternehmensrechnern, das Eigentum an einem
konkurrierenden Betriebssystem namens Unix für sich zu beanspruchen. Er
wollte eine Gratisversion von Unix – GNU – schreiben und kostenlos
vertreiben, um Idealisten dazu zu bewegen, sich freiwillig an der Entwicklung
dieses Betriebssystems zu beteiligen. Die Bedingung war, dass niemand GNU
besitzen oder Geld damit verdienen durfte. Dieses Konzept wurde als »Open
Source« bekannt.
Sechs Jahre später übernahm GNU Linux, eine kostenlose PC-Version von
Unix, die von Hunderten Programmierern gemeinsam entwickelt worden war
und den von Stallman geforderten rechtlichen Status hatte.
Springen wir in die Gegenwart: Linux läuft vielleicht auf einem Zehntel aller
Unternehmenscomputer in der Welt. Die zehn schnellsten Superrechner
werden mit Linux betrieben. Noch wichtiger ist, dass die Werkzeuge für den
Betrieb einer Website – vom Betriebssystem über den Webserver und die
Datenbank bis zur Programmiersprache – quelloffene Produkte sind.
Firefox, ein Open-Source-Browser, hat gegenwärtig einen globalen
Marktanteil von etwa 30 Prozent.20 Verblüffende 70 Prozent aller Smartphones
werden mit Android betrieben, das technisch ebenfalls ein Open-Source-
System ist.21 Das liegt nicht zuletzt daran, dass Samsung und Google mit
quelloffener Software das Monopol von Apple attackieren und ihre eigene
Marktposition verteidigen wollen, was jedoch nichts daran ändert, dass das
weltweit dominierende Smartphone mit einer Software betrieben wird, die
niemandem gehört.
Der Erfolg der Open-Source-Software ist verblüffend. Er zeigt, dass in einer
Wirtschaft voller Information neue Formen des Besitzes und Umgangs mit
Eigentum nicht nur möglich, sondern nötig sind. Es zeigt, dass
Informationsgüter Eigenschaften besitzen, die auch die Monopole nicht
monopolisieren können.
Ginge es nach der herkömmlichen Volkswirtschaftslehre, so dürfte es einen
Akteur wie Richard Stallman gar nicht geben: Anstatt seinem Eigeninteresse zu
folgen, unterdrückt er es, um nicht nur dem wirtschaftlichen, sondern auch
dem moralischen Interesse der Gemeinschaft zu dienen.
In der traditionellen Markttheorie sind die effizienteren Neuerer jene, die
vom Gewinnstreben motiviert werden. Ginge es nach der herkömmlichen
Wirtschaftstheorie, so sollten Großunternehmen wie Google und Samsung das
tun, was Bill Gates seinerzeit tat: Sie sollten sich den Markt aneignen und
versuchen, die quelloffene Software zu begraben. Tatsächlich sind Google und
Samsung hartgesottene kapitalistische Unternehmen, aber sie müssen in ihrem
eigenen Interesse dafür kämpfen, dass einige Standards offen und ein Teil der
Software kostenlos bleibt. Weder Google noch Samsung sind
postkapitalistische Unternehmen, aber solange sie dafür sorgen, dass Android
eine quelloffene Software bleibt, zeigen sie ein Verhalten, das ein Vorläufer
nichtkapitalistischer Formen von Eigentum und wirtschaftlichem Austausch
ist.
Die Geburt der freien Software und die kollaborativen Softwareprojekte der
achtziger Jahre waren nur die ersten Scharmützel in einem Krieg, der weiterhin
an wechselnden Fronten tobt. Die Open-Source-Bewegung inspirierte auch
eine Bewegung für Informationsfreiheit: Wikipedia, Wikileaks und die
Entwicklung spezieller Verträge zur Verteidigung von Offenheit und
gemeinsamer Benutzbarkeit.
In diesem Milieu begannen sich Ende der neunziger Jahre einige Personen
systematisch mit einer Frage zu beschäftigen, die Drucker gestellt hatte,
während sie Romer entgangen war: Kann eine auf Informationsnetzen
beruhende Wirtschaft eine neue Produktionsweise jenseits des Kapitalismus
hervorbringen?
»Am Rand des Chaos dahingleiten«

In die Erinnerung der vor 1980 geborenen Generation ist ein Klang
eingebrannt, den man heute nirgendwo mehr hört. Es ist ein hoher, jaulender,
an- und abschwellender Klang, der nach ein paar Sekunden in eine Reihe
knackender Geräusche übergeht und von zwei tiefen brummenden Noten
gekrönt wird. Dies ist der Klang eines Einwahlmodems, das eine Verbindung
herstellt.
Ich hörte diesen Klang erstmals irgendwann in den achtziger Jahren, als ich
versuchte, mich mit Compuserve zu verbinden. Compuserve war ein privates
Internetportal, über das man elektronische Post verschicken, Dateien
übertragen und auf zahlreichen »schwarzen Brettern« Informationen mit
anderen Nutzern austauschen konnte. Es war eine Welt der Worte, eine Welt
in Schwarzweiß. Doch schon dieses Netz war eine Brutstätte der Wut, der
Subversion und der Pornografie.
Im Jahr 1994 wechselte ich von Compuserve zu Easynet, einem der ersten
Internet-Dienstanbieter: Die Technologie war dieselbe, aber das Spiel ein
anderes. Von nun an, hieß es im Benutzerhandbuch, hatte ich Zugang »zum
gesamten Straßennetz, nicht nur zu einer Tankstelle«. Easynet gab seinen
Kunden Zugang zum World Wide Web, einem Netz untereinander
verbundener Computer rund um den Erdball.
Für mich gab es nicht viel zu entdecken in diesem Netz. Der Computer an
meinem Arbeitsplatz war lediglich mit den übrigen Computern im Gebäude des
Verlagshauses Reed Elsevier verbunden. Als wir versuchten, unsere erste
Webpage zu basteln, weigerte sich die EDV-Abteilung, diese Seite auf »ihrem«
Server zu speichern, denn dieser war für die Gehaltsabrechnung reserviert. Auf
dem Mac an meinem Arbeitsplatz hatte ich kein E-Mail-Programm und keinen
Zugang zum Internet. Computer waren zur Datenverarbeitung da;
untereinander verbunden wurden sie nur, um spezifische Aufgaben zu erfüllen.
Wenn wir uns diese Situation vor Augen halten, wird uns bewusst, dass der
amerikanische Journalist Kevin Kelly ein Visionär war. Er schrieb im Jahr 1997:

Die große Ironie unserer Zeit besteht darin, dass die Ära des Computers vorüber ist. Alle bedeutsamen
Auswirkungen des Computers haben bereits stattgefunden. Der Computer hat unser Leben ein wenig
beschleunigt, mehr nicht. Hingegen geht es bei allen vielversprechenden Technologien, die jetzt
auftauchen, um die Kommunikation zwischen Computern, das heißt nicht um Rechenvorgänge,
sondern um Verbindungen.22

Kellys Artikel in Wired öffnete meiner Generation die Augen. Alles, was wir
bis dahin gesehen und gehört hatten – die Fünf-Zoll-Disketten für den
Großrechner in der Universität, die grünen Bildschirme der frühen Amstrads,
das Knacken und Surren des Modems –, war nur das Vorspiel gewesen.
Plötzlich nahm eine Netzwerkökonomie Gestalt an. Kelly schrieb: »Ich ziehe
den Begriff Netzwerkökonomie vor, denn die Information genügt nicht, um die
Brüche zu erklären, die wir beobachten. Im Lauf dieses Jahrhunderts wurden
wir mit einer stetig wachsenden Menge an Information überflutet, […] aber
erst in jüngster Zeit hat eine vollständige Neugestaltung der Information die
gesamte Wirtschaft verändert.«23
Kelly selbst war kein Befürworter des Postkapitalismus. Tatsächlich war sein
Buch New Rules for the New Economy ein atemloser Überlebensratgeber für
herkömmliche Unternehmen, die sich in der vernetzten Welt behaupten
wollten. Aber er leistete einen wichtigen Beitrag. Er öffnete uns die Augen
dafür, dass nicht der Computer, sondern das Netzwerk die »intelligente
Maschine« war und dass dieses Netzwerk den Wandel beschleunigen und
unvorhersehbar machen würde. Kelly definierte unsere Ära: »Gegenwärtig
läuft ein großes Projekt, um die Beziehungen und die Kommunikation
zwischen allen Lebewesen und allen Objekten zu intensivieren, zu erweitern
und zu verbessern.«24
Die Meilensteine, die wir seither gesehen haben, sind der Start von eBay
(1997), der die Dotcom-Blase auslöste, der erste Wifi-fähige Laptop (ein Mac)
im Jahr 1999, die Breitbandinternetverbindung, die rund um die Uhr
funktionierte und zehnmal schneller war als die Einwahlverbindung (2000), die
Expansion von 3G, die ab 2001 das mobile Internet begründete, die Einführung
von Wikipedia im Jahr 2001, das plötzliche Auftauchen billiger, standardisierter
digitaler Werkzeuge – das Web 2.0 – im Jahr 2004.
An diesem Punkt wanderten Programme und Daten ins Netz, anstatt auf
einzelnen Computern zu lagern. Online-Suche, Self-Publishing und Interaktion
(einschließlich der Interaktion mittels Online-Spielen, die einen
Milliardenmarkt entstehen ließen) wurden zu archetypischen Aktivitäten.
Dann kamen die sozialen Netzwerke – MySpace (2003), Facebook (2004),
Twitter (2006) – und das iPhone (2007), das erste wirkliche Smartphone. Im
selben Jahr lösten das iPad und das Kindle das rasante Wachstum des Markts
für E-Books aus, dessen Umfang von weniger als 1,5 Milliarden Dollar im Jahr
2009 auf 15 Milliarden Dollar im Jahr 2015 gewachsen ist. Im Jahr 2008 wurden
erstmals mehr Notebooks als PCs verkauft. Im Jahr 2009 brachte Samsung sein
erstes Android-Smartphone auf den Markt.25
In der Zwischenzeit bewältigte ein Supercomputer von IBM erstmals eine
Billiarde Rechenoperationen pro Sekunde (2008). Sechs Jahre später schaffte
der chinesische Rechner Tianhe-2, der auf Linux lief, 33 Billiarden Operationen.
Im Jahr 2002 überstieg die Menge der digitalen Information erstmals jene der
analogen. Zwischen 2006 und 2012 verzehnfachte sich die globale
Informationsproduktion.26
Es ist schwer zu beurteilen, an welchem Punkt in einer technologischen
Revolution man sich befindet, wenn man mittendrin steckt, aber ich habe den
Eindruck, dass die gleichzeitige Ankunft von Tablets und Video- sowie
Musikstreaming und der Durchbruch der sozialen Medien zwischen 2009 und
2014 einen Schlüsselmoment der Synergie darstellten. In den kommenden zehn
Jahren werden Milliarden neue M2M-Verbindungen (Machine-to-Machine)
hergestellt werden, über die im »Internet der Dinge« Informationen zwischen
Geräten ausgetauscht werden können. Diese Verbindungen werden dafür
sorgen, dass es auf der Erde bald mehr intelligente Maschinen als Menschen
geben wird.
All das zu erleben war atemberaubend genug. Noch faszinierender ist der
Anblick eines Kindes, das sein erstes Smartphone geschenkt bekommt und mit
all der Technologie – Bluetooth, GPS, 3G, Wifi, Videostreaming,
hochauflösende Fotos und Pulsmessgerät – vollkommen selbstverständlich
umgeht.
Die Netzwerkökonomie ist da, und sie hat die Gesellschaft erobert. Im Jahr
1997 hatten nur 2 Prozent der Weltbevölkerung einen Internetanschluss.
Mittlerweile sind es 38 Prozent, und in der entwickelten Welt sind 75 Prozent
der Menschen im Netz. Mittlerweile kommen auf 100 Erdbewohner 96
Mobilfunkanschlüsse, und fast jeder dritte Mensch besitzt ein aktives 3G-
Handy (oder ein leistungsfähigeres Gerät). Gleichzeitig sinkt die Zahl der
Festnetzanschlüsse.27
Innerhalb eines Jahrzehnts wurde unser Leben ins Netzwerk eingeflochten.
Der durchschnittliche Teenager mit einem intelligenten Gerät führt ein
psychologisch stärker vernetztes Leben als der schrägste Computerfreak vor
fünfzehn Jahren.
Als Romer und Drucker Anfang der neunziger Jahre ihre Überlegungen
anstellten, wurde noch über die wirtschaftlichen Auswirkungen intelligenter
Maschinen diskutiert. Mittlerweile leben wir in dem unausgesprochenen
Bewusstsein, dass das Netzwerk die Maschine ist. Und da die Software und die
Daten ins Netzwerk umgezogen sind, steht das Netzwerk heute auch im
Zentrum der Debatte über die wirtschaftlichen Auswirkungen der
Informationstechnologie.
Im Jahr 1997 kündigte Kelly die Entstehung einer neuen Wirtschaftsordnung
mit drei Hauptmerkmalen an: »Sie ist global. Sie rückt nichtgreifbare Dinge –
Ideen, Information und Beziehungen – in den Mittelpunkt. Und sie ist eng
verflochten. Diese drei Merkmale sind Kennzeichen eines neuartigen Markts
und einer neuen Gesellschaft.«28
Kelly akzeptierte als normal, was Romer nur sieben Jahre früher als neuartig
betrachtet hatte: die Tendenz der Informationstechnologie, Daten und
physische Produkte zu verbilligen, so dass die Grenzkosten ihrer Produktion
gegen null sinken. Aber er wies seine Leser darauf hin, dass es ein
Gegengewicht zu unbegrenztem Angebot und sinkenden Preisen gebe, nämlich
eine unbegrenzte Nachfrage: »Technologie und Wissen erhöhen die Nachfrage
schneller, als sie die Preise senken. […] Die einzige Grenze für die Bedürfnisse
und Wünsche des Menschen ist seine Vorstellung, und das bedeutet in der
Praxis, dass es keine Grenze gibt.«29
Kelly schlug folgende Lösung vor: Neue Güter und Dienste mussten
schneller erfunden werden, als sie die Kurve zur Wertlosigkeit hinabrutschen
konnten. Die Unternehmen sollten nicht versuchen, die Preise zu verteidigen,
sondern sich damit abfinden, dass sie im Lauf der Zeit zusammenbrechen
würden, und in der Lücke zwischen eins und null ein Geschäft aufbauen. Die
Unternehmen sollten »am Rand des Chaos dahingleiten« und das kostenlose
Wissen nutzen, das der Kunde ihnen schenke, wenn er mit ihren Websites
interagiere. Ende der neunziger Jahre nahmen jene, die das Problem erkannt
hatten, an, der Kapitalismus werde überleben, weil die Innovation dem Druck
der Technologie auf die Preise entgegenwirken werde. Kelly fragte sich
allerdings nicht, was geschehen würde, wenn das nicht funktionierte.
Dann platzte die Dotcom-Blase. Der spektakuläre Absturz des Nasdaq im
April 2000 veränderte das Weltbild der Generation, die mit dem
Einwahlmodem gekämpft hatte und reich geworden war. Nach der Katastrophe
fällte John Perry Barlow, ein Aktivist, der für ein freies Internet kämpfte und
95 Prozent seines Geldes an der Börse verloren hatte, ein hartes Urteil: »Im
Dotcom-Rummel wurde versucht, die Wirtschaftskonzepte aus dem 19. und
20. Jahrhundert in einer Umgebung anzuwenden, in der sie nutzlos waren, und
das Internet schüttelte sie ab. Dies war ein Angriff einer fremden Streitmacht,
und die Naturgewalten des Internet schlugen ihn zurück.« Er hatte auch eine
Idee, in welcher Richtung sich die Debatte als Nächstes entwickeln würde:
»Auf lange Sicht spielt das den Dot-Kommunisten in die Karten.«30
Eine neue Produktionsweise?

Im Jahr 2006 bezeichnete Yochai Benkler, ein Jurist von der Yale University, die
Netzwerkökonomie als »eine neue Produktionsweise, die sich in den
fortschrittlichsten Volkswirtschaften der Welt entfaltet«.31 Benkler versuchte,
einen als »Creative Commons« bezeichneten Rechtsrahmen für das Open-
Source-Publishing zu entwerfen. In The Wealth of Networks beschreibt er die
wirtschaftlichen Kräfte, die das geistige Eigentum aushöhlen und zur
Ausbreitung von Allmendemodellen und nichtgelenkter Produktion führen.
Er erklärt, zunächst habe der Aufstieg der billigen Rechenleistung und der
Kommunikationsnetze die Mittel zur Produktion intellektueller Güter für eine
große Zahl von Menschen zugänglich gemacht. Die Leute können Blogs
schreiben, Filme drehen und vertreiben, E-Books selbst veröffentlichen (und in
manchen Fällen ein Millionenpublikum gewinnen, bevor die herkömmlichen
Verleger überhaupt von ihrer Existenz erfahren). »Das Ergebnis ist, dass vieles
von dem, was die Menschen schätzen, jetzt von Einzelpersonen bewerkstelligt
werden kann, die nicht als Marktakteure durch das Preissystem, sondern als
menschliche und soziale Wesen miteinander interagieren.«32
Das, so Benkler, führt zur Verbreitung von Nicht-Marktmechanismen, zu
dezentralem Handeln von Individuen, die kollaborative Formen der freiwilligen
Organisation nutzen. Es bringt neue Formen der »Peer-to-Peer«-Ökonomie
hervor, in der das Geld entweder nicht existiert oder nicht der vorrangige
Wertmaßstab ist.
Das beste Beispiel dafür ist Wikipedia. Die im Jahr 2001 gegründete,
kollaborativ geschriebene Enzyklopädie hat mittlerweile 38 Millionen Seiten
und 27 Millionen registrierte Beitragende. Rund 114 000 Personen beteiligen
sich aktiv.33
Wikipedia hat 284 Angestellte.34 Die vielen tausend Redakteure arbeiten
unentgeltlich. Bei einer Umfrage unter den Benutzern stellte sich heraus, dass
71 Prozent von ihnen mitmachen, weil ihnen die Idee gefällt, Wissen freiwillig
mit anderen zu teilen; 69 Prozent sind der Meinung, dass Information kostenlos
verfügbar sein sollten.35 Mit 8,5 Milliarden Besuchen im Monat nimmt
Wikipedia den siebten Rang unter den beliebtesten Websites ein.36 Als
kommerzielle Website, so eine Schätzung, könnte die Online-Enzyklopädie
einen Jahresumsatz von 2,8 Milliarden Dollar erzielen.37
Aber Wikipedia verdient kein Geld. Und da ihr Angebot kostenlos ist, ist es
für praktisch alle anderen Akteure unmöglich, im selben Raum einen Gewinn
zu erzielen. Dazu kommt, dass Wikipedia eine der wertvollsten Lernressourcen
ist, die je erfunden wurden, und bisher hat sie allen Versuchen widerstanden,
sie zu zensieren, zu unterwandern, sie für Desinformation zu nutzen oder zu
sabotieren, denn Dutzende Millionen Augen sind stärker als jeder Staat, jeder
Stalker, jede Interessengruppe und jeder Saboteur.
Die Funktionsweise von Wikipedia beruht auf demselben Prinzip, das die
frühen Open-Source-Programmierer bei GNU und Linux nutzten – nur wird es
hier auf ein Produkt für den Massenkonsum angewandt. Wenn wir auf die
Seite von Amazon gehen und eine Fotokamera oder ein Buch kaufen, wird
unsere Entscheidung aufgezeichnet und erleichtert anderen Benutzern die
Wahl. In der Wirtschaftswissenschaft wird das als positive »Externalität«
bezeichnet, als unbeabsichtigter wirtschaftlicher Nutzen.
Im Fall von Amazon ist es das Unternehmen, das den Großteil des Nutzens
erntet: Die Käufe nehmen zu, Amazons Position als Anbieter wird gestärkt. Im
Fall von Wikipedia haben nur die Menschen einen Nutzen: Kein Kind muss
jemals wieder in einer Kleinstadtbücherei inmitten einer mediokeren und
zufälligen Anhäufung von Wissen hocken, das für immer auf Buchseiten
gefangen ist, die nur aktualisiert oder korrigiert werden können, indem man
ein vollkommen neues Buch druckt.
Benkler zog die wirtschaftliche Lehre aus einem Phänomen wie Wikipedia:
Dank des Netzwerks kann die Produktion unter Verzicht auf den Markt und
eine Managementhierarchie dezentral und kollaborativ erfolgen.
Die Ökonomen demonstrieren die archaische Natur der Planwirtschaft gerne
anhand von Gedankenspielen wie diesem: »Stellen Sie sich vor, die
Sowjetunion würde versuchen, Starbucks zu gründen.« Ich kann ein
interessanteres Gedankenspiel anbieten: Stellen Sie sich vor, Amazon, Toyota
oder Boeing würden versuchen, Wikipedia zu gründen.
Ohne kollaborative Allmendeproduktion und Open Source gibt es nur zwei
Möglichkeiten, das zu bewerkstelligen: Man kann entweder den Markt oder die
Befehlsstrukturen eines Unternehmens nutzen. Da Wikipedia 12 000 aktive
Autoren und Redakteure hat, könnte man eine entsprechende Zahl von
Mitarbeitern engagieren. Vielleicht würde es gelingen, einige Themenkomplexe
in Billiglohnländer auszulagern und diese Mitarbeiter durch besser bezahlte
Manager in den Vereinigten Staaten zu kontrollieren. Sodann könnte man der
Belegschaft Anreize geben, um die beste Enzyklopädie im Internet zu
produzieren. Man könnte den Mitarbeitern Ziele vorgeben, Bonuszahlungen
anbieten, die Leute in Qualitätszirkeln zur Teamarbeit anhalten und
dergleichen mehr.
Man könnte jedoch unmöglich etwas aufbauen, das auch nur annähernd so
dynamisch wäre wie Wikipedia. Zu versuchen, mit 12 000 Mitarbeitern
26 Millionen Wikipedia-Seiten zu produzieren, wäre ebenso unsinnig wie der
Versuch der Sowjetunion, ihre eigene Version von Starbucks zu starten. Eine
Stiftung mit 208 Mitarbeitern wird das immer besser machen. Und selbst wenn
man etwas aufbauen könnte, das so gut wie Wikipedia wäre, hätte man ein
großes Problem: Wikipedia, der größte Konkurrent, bietet die Enzyklopädie
kostenlos an.
Nun könnte man noch versuchen, nicht auf die Unternehmensform zu
setzen, sondern die Marktkräfte zu nutzen, um ein Konkurrenzangebot zu
Wikipedia aufzubauen. Schließlich lehren uns die Wirtschaftsunis doch, dass
der Markt das effizienteste System ist, nicht wahr?
Vielleicht zahlen die Konsumenten einen geringen Betrag für eine kleine
Menge Wissen und stören sich nicht daran, dass die Information auch
kostenlos öffentlich zugänglich ist. Vielleicht freuen sich die Gelehrten,
Amateurwissenschaftler und Freiwilligen, die die Artikel schreiben, über eine
kleine Aufwandsentschädigung für jeden Beitrag.
Das hat noch am ehesten Ähnlichkeit mit dem, was in der Realität
geschieht – nur dass die Beteiligten kein Geld austauschen. Sie tauschen
Geschenke aus. Und wie die Anthropologen seit Langem wissen, ist das
Geschenk nur das dingliche Symbol für etwas nicht Greifbares: Man könnte es
Wohlwollen nennen, oder Freude.
Wie Linux ist auch Wikipedia in zweierlei Hinsicht radikal. Da ist zunächst
das Allmendeprodukt: Es kann frei genutzt werden, ist jedoch unmöglich zu
fassen, zu besitzen und auszubeuten. Sodann ist da der kollaborative
Produktionsprozess: Es gibt keine Zentrale, die entscheidet, was auf den Seiten
stehen sollte; die Angestellten von Wikipedia regeln lediglich die Standards für
das Verfassen und die Bearbeitung der Texte und verteidigen die Plattform
gegen die Erosion durch Urheber- und Managementhierarchien.
Benkler bezeichnet das als »auf dem Gemeingut beruhende
Allmendeproduktion«. Das Konzept der Allmende- oder Peer-Produktion
weckt weitere Zweifel an den Gewissheiten der Mainstream-Ökonomie. Die
heutigen Menschen sind nicht anders als die der Vergangenheit. Nur machen
sie ihr menschliches Bedürfnis, Freundschaften zu schließen, auf Vertrauen
und Verpflichtung beruhende Beziehungen aufzubauen und emotionale und
seelische Bedürfnisse zu erfüllen, jetzt zu einem Bestandteil des
Wirtschaftslebens.
In dem Augenblick, als es möglich wurde, Dinge ohne den Markt und ohne
Unternehmen zu erzeugen, begannen die Menschen, genau das zu tun.
Die Verbilligung der Rechenleistung von Computern und des Zugangs zum
Netzwerk versetzt eine große Zahl von Menschen in die Lage,
Informationsgüter zu produzieren. Als Nächstes braucht man das, was Benkler
als »geplante Modularität« bezeichnet: Eine Aufgabe wird in kleine Teile
zerlegt, die einzelne Menschen bewältigen können, um das Ergebnis
anschließend dem Netzwerk zur Verfügung zu stellen. Eine Wikipedia-Seite ist
das beste Beispiel dafür: Die Ergänzung eines Informationshappens oder die
Löschung fehlerhafter Daten sind modulare Tätigkeiten, die man in London im
Bus auf dem Smartphone oder in einem Internetcafé in einem Slum in Manila
erledigen kann.
Nach Ansicht von Benkler haben billige Technologie und modulare
Produktionsabläufe geeignete Bedingungen für kollaborative Arbeit außerhalb
des Marktes geschaffen. Das ist in seinen Augen keine Modeerscheinung,
sondern ein »nachhaltiges Muster menschlicher Produktion«. Obwohl er von
einer »neuen Produktionsweise« spricht, sagt Benkler nicht, dass dies etwas
anderes als Kapitalismus ist. Stattdessen erklärt er, es werde zu einer
vollkommen anderen und nachhaltigeren Form des Kapitalismus führen. Er
sagt eine Umverteilung von Wohlstand und Macht von den dominanten
Unternehmen und Eliten zu einer vielgestaltigen Gruppe von Personen, Peer-
Netzwerken und Firmen voraus, die sich den neuen Bedingungen anpassen
können.
Das Problem ist, dass Benkler die neuen Formen des
Informationskapitalismus beschreibt, ohne ihre Dynamik zu erklären. Diese
Dynamik ist zwangsläufig widersprüchlich.
Der Informationskapitalismus verdrängt Arbeitskräfte aus dem
Produktionsprozess, drückt den Marktpreis von Gütern, zerstört einige
Profitmodelle und bringt eine Generation von Konsumenten hervor, die an
kostenlose Produkte gewöhnt sind. Aber im ersten Jahrzehnt seines Bestehens
hat er zu einer globalen Krise beigetragen, in der die ärmsten Einwohner der
entwickelten Länder die Müllcontainer durchwühlen müssen, während sie die
letzten Cent Guthaben auf ihren Handys vertelefonieren.
Der Informationskapitalismus ist real, doch wenn wir die Kollision des
neoliberalen Wirtschaftssystems mit der Netzwerktechnologie analysieren,
kommen wir nicht um das Eingeständnis herum, dass er in einer Krise steckt.
Die Ökonomie der kostenlosen Dinge

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts fiel den Ökonomen auf, dass nicht alle
Auswirkungen des Kapitalismus als Ergebnisse des Kaufens und Verkaufens
verstanden werden konnten. Da die meisten Fabriken mittlerweile von
Abfallbergen, Elendsvierteln und stinkenden Flüssen umgeben waren, war
kaum zu übersehen, dass der Kapitalismus auch außerhalb des Marktes Folgen
zeitigte. Sie bezeichneten diese Auswirkungen als »externe Effekte« und
begannen darüber nachzudenken, wie man sie erfassen konnte.
Zunächst konzentrierten sich die Ökonomen auf die »schlechten« externen
Effekte: Wenn man von einem Energieversorger Strom bezieht, der aus Kohle
gewonnen wurde, so stellt die Luftverschmutzung durch die Kohleverbrennung
einen externen Effekt dar. Die Lösung für derartige negative Externalitäten ist
einfach: Man findet einen Weg, um die Kosten zwischen Käufer und Verkäufer
aufzuteilen. Beispielsweise kann man im Fall des schmutzigen Stromkraftwerks
eine Umweltsteuer erheben.
Es gibt jedoch auch »gute« externe Effekte. Ein Beispiel: Wenn sich an
einem Ort ein Cluster ähnlicher Unternehmen ansiedelt, sinken dort die
Personalbeschaffungskosten. Für gute Externalitäten muss keine Lösung
gefunden werden. Sie verringern oft die Kosten und den Arbeitsaufwand.
In einer Informationsökonomie werden die externen Effekte jedoch zum
entscheidenden Problem. In der alten Welt stuften die Ökonomen
Informationen als »öffentliches Gut« ein: Beispielsweise wurden die Kosten
der Wissenschaft von der Gesellschaft getragen, da jedermann davon
profitierte. In den sechziger Jahren wurde den Ökonomen dann allerdings klar,
dass Informationen ein Wirtschaftsgut sind. Im Jahr 1962 erklärte Kenneth
Arrow, der Guru der Mainstream-Ökonomie, der Zweck von Erfindungen
bestehe in einer freien Marktwirtschaft darin, geistige Eigentumsrechte zu
erwerben. »Gerade wenn man bedenkt, wie erfolgreich manche Informationen
sind, fällt auf, dass ihr wirtschaftliches Potenzial nicht voll ausgeschöpft
wird.«38
Betrachtet man die Sache so, kann der Zweck der Patentierung des
fortschrittlichen Aids-Medikaments Darunavir nur darin bestehen, den Preis
bei 1095 Dollar im Jahr zu halten, womit es nach Ansicht von Ärzte ohne
Grenzen »unerschwinglich teuer« ist. Das in diesem Medikament enthaltene
Wissen, das Millionen Menschen eine bessere HIV-Behandlung ermöglichen
könnte, ist vorhanden, aber dank des Patents wird es zu wenig genutzt.
Umgekehrt sind die Kosten anderer moderner Aids-Medikamente aufgrund der
berühmten Weigerung Indiens, die zwanzigjährige Patentlaufzeit, von der die
Pharmaunternehmen profitieren, anzuerkennen, seit dem Jahr 2000 drastisch
gesunken, und das Wissen, wie man entsprechende Medikamente produzieren
kann, wird genutzt.
In einer Volkswirtschaft, in der die Informationen allgegenwärtig sind, sind
auch die Externalitäten allgegenwärtig. Wenn wir uns die Giganten des
Informationskapitalismus ansehen, stellen wir fest, dass ihr Geschäftsmodell
fast vollständig darauf beruht, positive externe Effekte zu nutzen.
Beispielsweise bietet uns Amazon ausgehend von unseren früheren
Kaufentscheidungen Produkte an. Diese Informationen haben wir dem
Unternehmen kostenlos zur Verfügung gestellt – und wir hatten keine
Möglichkeit, sie ihm vorzuenthalten. Supermärkte agieren ganz ähnlich: Indem
sie die Daten ihrer Kunden sammeln und allen anderen Anbietern
vorenthalten, sichern sich große Einzelhandelsketten wie Walmart oder Tesco
beträchtliche kommerzielle Vorteile.
Stellen wir uns vor, was geschähe, wenn Walmart oder Tesco bereit wären,
ihre Kundendaten (angemessen anonymisiert) kostenlos zu veröffentlichen. Die
Gesellschaft würde davon profitieren: Landwirte und Epidemiologen könnten
diese Daten nutzen, um bessere Entscheidungen zu fällen, und die Kunden
könnten auf einen Blick sehen, ob sie rationale oder irrationale
Kaufentscheidungen getroffen haben. Aber die Supermärkte würden einen
Vorteil auf dem Markt einbüßen: Ihre Fähigkeit, das Verhalten der
Konsumenten mit Preispunkten, Haltbarkeitsdaten und Zwei-für-eins-
Angeboten zu manipulieren, würde eingeschränkt. Der Zweck ihrer E-
Commerce-Systeme besteht darin, den potenziellen Nutzen dieser
Kundendaten, wie Arrow es ausdrückte, nicht »voll auszuschöpfen«.
Wenn wir aus einem anderen Blickwinkel über Arrows Erkenntnis
nachdenken, wird klar, dass sie beträchtliche Auswirkungen hat: Wenn eine
freie Marktwirtschaft mit strengen Regeln zum geistigen Eigentum dazu führt,
dass Informationen ungenügend genutzt werden, kann im Umkehrschluss ein
Wirtschaftssystem, in dem Informationen optimal genutzt werden, unter den
Bedingungen des freien Marktes und der unantastbaren geistigen
Eigentumsrechte nicht gedeihen. Wir können das, was Benkler und Drucker
richtig erkannten, also in einem anderen Licht betrachten: Der
Informationskapitalismus untergräbt die Funktionsweise des Kapitalismus in
einem grundlegenden Bereich.
Doch was setzt er an seine Stelle? Soll der Begriff »Postkapitalismus« einen
Sinn haben, muss man genau beschreiben, wie die Netzwerktechnologie den
Übergang zu etwas anderem auslöst und wie die Dynamik einer
postkapitalistischen Welt aussehen wird.
Keinem der hier behandelten Propheten des Postkapitalismus ist das
gelungen. Und das hat einen Grund: Keiner von ihnen arbeitet mit einer
schlüssigen Theorie des Kapitalismus an sich. Aber gibt es wirklich niemanden,
der den von der Information heraufbeschworenen Zusammenbruch des
Kapitalismus vorausgesehen hat? Was, wenn jemand vorausgesagt hätte, dass
die Möglichkeit, Preise festzulegen, verloren geht, wenn Wissen kollektiv
verteilt und auf Maschinen übertragen wird? Wir würden eine solche Person
vermutlich als Visionär preisen. Und tatsächlich gibt es diese Person. Ihr Name
ist Karl Marx.
Der allgemeine Verstand

Der Ort ist Kentish Town in London. Es ist etwa vier Uhr nachmittags an
einem Februartag im Jahr 1858. Karl Marx lebt seit zehn Jahren im Exil, seine
Hoffnung auf die Revolution ist gesunken. Vor Kurzem ist allerdings die New
Yorker Börse abgestürzt, überall in Europa brechen Banken zusammen. Marx
müht sich ab, um ein lange versprochenes Buch über Ökonomie fertig zu
schreiben. »Ich arbeite wie toll die Nächte durch an der Zusammenfassung
meiner ökonomischen Studien«, schreibt er in einem Brief an Engels, »damit
ich wenigstens die Grundrisse im klaren habe bevor dem déluge [der
Sintflut].«39
Seine Mittel sind beschränkt. Dank eines Leseausweises der British Library
hat er Zugang zu aktuellen Daten. Am Tag schreibt er Artikel für die New York
Tribune. Nachts füllt er acht Notizbücher mit kaum entzifferbaren
Überlegungen: mit frei fließenden Beobachtungen, Gedankenexperimenten und
Notizen über Dinge, die er noch recherchieren muss.
Diese Notizbücher, die später unter der Sammelbezeichnung Grundrisse
bekannt werden, bewahrt Engels auf, ohne sie jedoch zu lesen. Sie landen in
der Berliner Zentrale der SPD, bis die Sowjetunion sie in den zwanziger Jahren
des 20. Jahrhunderts kauft. In Westeuropa wird dieses Werk erst Ende der
sechziger Jahre veröffentlicht, in englischer Übersetzung erst 1973. Als die
Gelehrten schließlich zu sehen bekommen, was Marx in jener kalten Nacht im
Februar 1858 schrieb, geben sie zu, dass seine Thesen »Zweifel an allen
bisherigen Interpretationen von Marx« wecken.40 Die Rede ist vom
sogenannten »Maschinenfragment«.
Ausgangspunkt der Analyse im »Maschinenfragment« ist die Beobachtung,
dass die Entwicklung der Industrie die Beziehung zwischen Arbeiter und
Maschine verändert. Anfangs gab es einen Menschen, ein von ihm
gehandhabtes Werkzeug und ein Produkt. Mittlerweile schiebt der Arbeiter
»den Naturprozeß, den er in einen industriellen umwandelt, […] als Mittel
zwischen sich und die unorganische Natur, deren er sich bemeistert. Er tritt
neben den Produktionsprozeß, statt sein Hauptagent zu sein.«41
Marx stellt sich eine Volkswirtschaft vor, in der die vorrangige Funktion der
Maschine in der Produktion und die Hauptaufgabe des Menschen in der
Steuerung und Beaufsichtigung der Maschinen besteht. Ihm ist klar, dass die
wichtigste Produktivkraft in einer solchen Wirtschaft das Wissen ist. Die
Produktivkraft von Maschinen wie der »selbstbetriebenen«
Baumwollspinnmaschine, dem Telegraphen und der Dampflokomotive steht
»in keinem Verhältnis […] zur unmittelbaren Arbeitszeit, die ihre Produktion
kostet«; vielmehr hängt sie ab »vom allgemeinen Stand der Wissenschaft und
dem Fortschritt der Technologie, oder der Anwendung dieser Wissenschaft auf
die Produktion«.42
Organisation und Wissen leisten also einen größeren Beitrag zur
Produktivkraft als die Arbeit, die in Herstellung und Betrieb der Maschinen
investiert wird.
Wenn man bedenkt, in was sich der Marxismus verwandeln wird – eine
Theorie der Ausbeutung, die auf dem Diebstahl von Arbeitszeit beruht –, ist
dies eine revolutionäre Aussage: Wenn das Wissen eine eigenständige
Produktivkraft ist, die sehr viel mehr Gewicht hat als die für den Bau einer
Maschine aufgewandte Arbeit, so lautet die entscheidende Frage nicht mehr, in
welchem Verhältnis Lohn und Profit zueinander stehen sollen. Dann lautet die
Frage, wer das Wissen kontrolliert.
Und nun lässt Marx eine Bombe platzen: In einer Wirtschaft, in der die
Maschinen den Großteil der Arbeit leisten und die menschliche Arbeit
eigentlich in der Gestaltung, Steuerung und Wartung der Maschinen besteht,
muss das in den Maschinen gespeicherte Wissen gesellschaftliches Wissen sein.
Nehmen wir ein modernes Beispiel. Wenn eine Softwareentwicklerin eine
Programmiersprache verwendet, um eine Website mit einer Datenbank zu
verknüpfen, arbeitet sie offenkundig mit gesellschaftlichem Wissen. Hier ist
nicht die quelloffene Programmierung gemeint, sondern die ganz normale
kommerzielle Softwareentwicklung. Auf jeder Ebene des Prozesses werden
Informationen ausgetauscht und gebündelt, um den Code und die
Schnittstellen anzupassen.
Die Programmiererin ist offensichtlich nicht die Eigentümerin des Codes,
mit dem sie arbeitet. Aber auch das Unternehmen, das die Programmiererin
beschäftigt, kann bestenfalls einen Bruchteil des Codes besitzen. Es kann ein
Patent auf jene Teile des Codes anmelden, den die Softwareentwicklerin
produziert. Es kann die Mitarbeiterin sogar zwingen, eine Vereinbarung zu
unterschreiben, in der sie sich verpflichtet, alles, was sie in ihrer Freizeit
entwickelt, dem Unternehmen zu überlassen. Und doch enthält der Code
Tausende Bestandteile, die von anderen Personen geschrieben wurden und
daher nicht patentiert werden können.
Dazu kommt, dass das Wissen, das benötigt wurde, um den Code zu
schreiben, im Kopf der Programmiererin steckt. Wenn es die
Marktbedingungen erlauben, kann sie den Arbeitgeber wechseln und dieselbe
Lösung dort anwenden. Anders als die Güter des Industriezeitalters bleiben
Informationsprodukte teilweise im Besitz der Arbeitskraft.
Dasselbe gilt für das Werkzeug, das die Softwareentwicklerin verwendet: die
Programmiersprache. Sie wurde von Zehntausenden Menschen entwickelt, die
ihr Wissen und ihre Erfahrung beigesteuert haben. Wenn die Programmiererin
die letzte Aktualisierung herunterlädt, enthält diese mit Sicherheit
Änderungen, die auf dem beruhen, was andere bei der Verwendung der
Programmiersprache gelernt haben.
Und dann sind da noch die Konsumentendaten, also jene Daten, die bei jeder
Interaktion mit der Website zurückbleiben und sich eventuell vollständig im
Besitz eines Unternehmens befinden. Sie wurden jedoch gesellschaftlich
produziert: Ich schicke dir einen Link, du folgst ihm oder gibst ihn in einem
Tweet an 10 000 Follower weiter.
Marx konnte sich unmöglich einen Webserver vorstellen. Aber er konnte das
Telegrafensystem studieren. Im Jahr 1858 waren die Telegrafenleitungen, die
entlang der Eisenbahnlinien verliefen und mit jedem Bahnhof und jeder
Firmenzentrale verbunden waren, die bedeutsamste Infrastruktur in der Welt.
In Großbritannien umfasste das Telegrafennetz 1178 Verbindungsknoten
außerhalb Londons, und Hunderte mehr verbanden die City, das Parlament
und den Hafen.43
Die Telegrafisten waren hoch qualifiziert, aber wie bei der
Softwareprogrammiererin war das für die Bedienung des Morsegeräts
erforderliche Wissen unbedeutend verglichen mit dem Wissen, das in der
riesigen, grenzübergreifenden Maschine steckte, die diese Experten bedienten.
Die Erinnerungen der Telegrafisten zeigen deutlich, dass sie mit einer
gesellschaftlichen Technologie arbeiteten. Die erste Regel lautete, dass man die
Informationen nur so schnell übermitteln konnte, wie die Person am anderen
Ende der Leitung sie empfangen konnte. Doch in den komplexen
Telegrafensystemen, wo Räume voll von Sendern und Empfängern um die
beschränkte Leitungskapazität buhlten, über die weit entfernte Telegrafisten
wachten, »gehörte der Umgang mit den Egos ebenso zur Arbeit eines
Telegrafisten wie der Umgang mit der Morsetaste. Rücksichtsvolle, hilfsbereite
Telegrafisten machten die Arbeit leichter. Dominierende, hochmütige oder
selbstgerechte erschwerten die Arbeit.«44
Im »Maschinenfragment« zieht Marx aus diesen beiden Erkenntnissen – das
Wissen ist die entscheidende Produktivkraft, und das in den Maschinen
gespeicherte Wissen ist gesellschaftlich – folgende Schlüsse:
Erstens ist in einem weitgehend mechanisierten Kapitalismus die
Produktivitätssteigerung durch besseres Wissen eine sehr viel attraktivere
Profitquelle als die Verlängerung der Arbeitszeit oder die Beschleunigung der
Arbeit: Längere Arbeitstage verbrauchen mehr Energie, mit der
Beschleunigung der Abläufe stößt man an die Grenzen der menschlichen
Geschicklichkeit und Belastbarkeit. Eine auf dem Wissen beruhende Lösung
hingegen ist billig und hat unbegrenztes Potenzial.
Zweitens, erklärt Marx, kann der auf dem Wissen beruhende Kapitalismus
nicht mit einem Preismechanismus funktionieren, in dem der Wert eines Guts
vom Wert der für seine Erzeugung benötigten Inputs abhängt. Es ist
unmöglich, den Wert der Inputs richtig zu bestimmen, wenn sie die Form von
gesellschaftlichem Wissen haben. Die vom Wissen angetriebene Produktion
schafft unabhängig vom Arbeitseinsatz unbegrenzt Wohlstand. Aber die
Funktionsweise des normalen kapitalistischen Systems beruht darauf, dass die
Preise von den Inputkosten bestimmt werden, sowie auf der Annahme, das
Angebot an sämtlichen Inputs sei begrenzt.
In Marx' Augen besteht im auf dem Wissen beruhenden Kapitalismus ein
Widerspruch zwischen den »Produktivkräften« und den »gesellschaftlichen
Beziehungen«. Diese sind »die materiellen Bedingungen, um [den
Kapitalismus] in die Luft zu sprengen«. Dazu kommt, dass ein solcher
Kapitalismus gezwungen ist, die intellektuellen Fähigkeiten des Arbeiters
weiterzuentwickeln. Dieser Kapitalismus wird die Arbeitszeit verkürzen (oder
ihre Verlängerung stoppen), damit die Arbeitskräfte Zeit haben, um abseits des
Arbeitsplatzes künstlerische und wissenschaftliche Talente zu entwickeln,
ohne die das Wirtschaftssystem nicht funktionieren kann. Und schließlich
bringt Marx ein neues Konzept ins Spiel, das nirgendwo sonst in seinen
Schriften auftaucht: den »general intellect«, den allgemeinen Verstand. Wenn
wir die Entwicklung der Technologie messen, erklärt er, messen wir, »bis zu
welchem Grade das allgemeine gesellschaftliche Wissen, knowledge, zur
unmittelbaren Produktivkraft geworden ist und daher die Bedingungen des
gesellschaftlichen Lebensprozesses selbst unter die Kontrolle des general
intellect gekommen […] sind«.45
In den sechziger Jahren erkannte die Linke im »Maschinenfragment« einen
Gegenentwurf zum klassischen Marxismus. Bis dahin hatten die Marxisten
geglaubt, der Kapitalismus könne nur durch staatliche Planung überwunden
werden. Sie nahmen an, Ursache für die inneren Widersprüche des
Kapitalismus sei die chaotische Natur des zu katastrophalen
Zusammenbrüchen neigenden Marktes, der in ihren Augen unfähig war, die
menschlichen Bedürfnisse zu erfüllen.
Im »Maschinenfragment« stoßen wir auf ein anderes Modell des Übergangs:
auf einen über das Wissen führenden Ausweg aus dem Kapitalismus, dessen
entscheidender innerer Widerspruch der zwischen der Technologie und dem
Marktmechanismus ist. In diesem Modell, das im Jahr 1858 eilig zu Papier
gebracht worden war, aber erst mehr als hundert Jahre später von der Linken
entdeckt wurde, bricht der Kapitalismus zusammen, weil seine Existenz nicht
mit dem gesellschaftlichen Wissen vereinbar ist. Aus dem Klassenkampf wird
ein Kampf um Menschlichkeit und Bildung in der Freizeit.
Der italienische Neomarxist Antonio Negri hat das »Maschinenfragment«
als »Marx jenseits von Marx« beschrieben. Negris Weggefährte Paolo Virno
hat darauf hingewiesen, dass diese Ideen »in keiner seiner anderen Schriften
auftauchen und eine Alternative zur gewohnten Formel darstellen«.46
Die Frage ist: Warum verfolgte Marx diesen Gedanken nicht weiter? Warum
taucht der allgemeine Verstand, abgesehen von diesem von ihm nicht
veröffentlichten Text, nirgendwo in seinem Werk auf? Warum geht das
Modell, in dem der Marktmechanismus vom gesellschaftlichen Wissen
aufgelöst wird, während der Arbeit an Das Kapital verloren?
Sieht man von den inhaltlichen Diskussionen ab, so ist die offenkundige
Antwort, dass die Entwicklung des Kapitalismus der These des
»Maschinenfragments« nicht entsprach. Nach der Panik im Jahr 1858
stabilisierte sich das System wieder. Die Vergesellschaftung des Wissens im
Telegrafen und in der Dampflokomotive genügte nicht, um den Kapitalismus in
die Luft zu sprengen.
Im folgenden Jahrzehnt entwickelte Marx eine Kapitalismustheorie, in der
die Mechanismen des wirtschaftlichen Austauschs nicht durch den allgemeinen
Verstand in die Luft gesprengt werden und in der das Wissen als unabhängige
Profitquelle kein einziges Mal erwähnt wird. Marx hatte die im
»Maschinenfragment« skizzierten Ideen verworfen.
Die Entstehung jenes Marxismus, der im 20. Jahrhundert zur Doktrin des
Staatssozialismus und des von der Krise des Kapitalismus herbeigeführten
Übergangs zum Kommunismus wurde, war kein Zufall: Dieser Marxismus
hatte seinen Ursprung in Das Kapital.
Ich schreibe jedoch keine Geschichte des Marxismus, sondern beschäftige
mich mit folgender Frage: Gibt es einen Weg zum Postkapitalismus, der auf der
Informationstechnologie beruht? Das »Maschinenfragment« zeigt, dass Marx
zumindest über einen solchen Weg nachgedacht hat.
Er stellte sich vor, dass sich das gesellschaftlich produzierte Wissen in den
Maschinen vergegenständlichen werde. Er stellte sich vor, dass dies eine neue
Dynamik auslösen werde, welche die alten Mechanismen zur Erzeugung von
Preisen und Profiten zerstören konnte. Er stellte sich vor, dass der Kapitalismus
gezwungen würde, die geistigen Fähigkeiten des Arbeiters zu entwickeln. Und
er stellte sich vor, dass Information im »general intellect«, im »allgemeinen
Verstand«, gespeichert und geteilt werden würde – gemeint war damit der
Verstand der durch das gesellschaftliche Wissen verbundenen Erdbevölkerung.
Und jede Weiterentwicklung dieses allgemeinen gesellschaftlichen Verstands
würde allen Menschen zugutekommen. Karl Marx stellte sich ein System vor,
das dem Informationskapitalismus nahekommt, in dem wir heute leben.
Darüber hinaus stellte er sich vor, welches das Hauptziel der Arbeiterklasse
sein würde, sollte es diese Welt je geben: Freiheit von der Arbeit. Der utopische
Sozialist Charles Fourier hatte vorausgesagt, Arbeit werde dasselbe wie Spiel
sein. Marx war anderer Meinung. Er schrieb, die Befreiung werde durch die
Freizeit kommen: »Die freie Zeit […] hat ihren Besitzer natürlich in ein andres
Subjekt verwandelt, und als dies andre Subjekt tritt er dann auch in den
unmittelbaren Produktionsprozeß.« Dieser Produktionsprozess ist »materiell
schöpferische und sich vergegenständlichende Wissenschaft mit Bezug auf den
gewordnen Menschen, in dessen Kopf das akkumulierte Wissen der
Gesellschaft existiert.«47
Dies ist möglicherweise die revolutionärste Idee, die Marx je hatte: Die
Verringerung der Arbeit auf ein Mindestmaß könnte einen Menschen
hervorbringen, der imstande sein würde, das gesamte akkumulierte Wissen der
Gesellschaft einzusetzen, einen Menschen, der durch riesige Mengen an
gesellschaftlich produziertem Wissen und durch eine Menge an freier Zeit, die
zum ersten Mal in der Geschichte die Arbeitszeit überstiege, verwandelt würde.
Es ist kein weiter Weg von dem Arbeiter, den sich Marx im
»Maschinenfragment« vorstellte, zur »gebildeten universellen Person«, die
Peter Drucker ankündigte.
Ich vermute, dass Marx dieses Gedankenexperiment aufgab, weil es kaum
Relevanz für die Gesellschaft hatte, in der er lebte. Aber es hat große Relevanz
für unsere Gesellschaft.
Eine dritte Art von Kapitalismus?

Die Neoliberalen sahen in der Entstehung des Informationskapitalismus ihren


größten Erfolg. Sie hielten es für unmöglich, dass er Mängel aufwies. Ihnen
schwebte eine postindustrielle Gesellschaft vor, in der alle Menschen, gestützt
auf intelligente Maschinen, hochwertige Wissensarbeit leisten würden. Die
sozialen Konflikte würden verschwinden.48 Dank des Wissens würde der
ideale Kapitalismus aus den Lehrbüchern – ein Kapitalismus mit Transparenz
und vollkommenem Wettbewerb, der stets im Gleichgewicht wäre – wahr
werden. Ende der neunziger Jahre waren die Sprachrohre der Mainstream-
Ökonomie – von der Zeitschrift Wired bis zur Harvard Business Review – voll
von begeisterten Beschreibungen des neuen Systems. Darüber, wie es
funktionieren sollte, schwiegen sich die Neoliberalen allerdings aus.
Ausgerechnet den neomarxistischen Schülern Antonio Negris, die das
»Maschinenfragment« wiederentdeckt hatten, blieb es überlassen, sich an einer
Theorie des Informationskapitalismus zu versuchen. Sie bezeichneten dieses
System als »kognitiven Kapitalismus«.
Der kognitive Kapitalismus, so die Neomarxisten, ist ein kohärentes neues
System, ein »dritter Kapitalismus«, der auf den Merkantilismus des 17. und
18. Jahrhunderts sowie den Industriekapitalismus der letzten zwei
Jahrhunderte folgt. Seine Säulen sind globale Märkte, finanzialisierter Konsum,
immaterielle Arbeit und immaterielles Kapital.
Der französische Ökonom Yann Moulier-Boutang erklärt, damit der
kognitive Kapitalismus funktionieren könne, müssten sich die Unternehmen
die externen Effekte aneignen. Wenn die Konsumenten digitale Geräte
verwenden, werden sie zu »Koproduzenten« der Unternehmen, die ihnen diese
Geräte verkaufen: Das Unternehmen, das den Dienst anbietet und die
Informationen sammelt, kann den Entscheidungen der Kunden, ihren
Applikationen und Freundeslisten in Facebook einen monetären Wert geben.
»Die Aneignung der positiven Externalitäten«, schreibt Moulier-Boutang,
»wird zum vorrangigen Problem der Wertschöpfung.«49
Im kognitiven Kapitalismus ändert sich die Natur der Arbeit. Körperliche
Arbeit und Industrie verschwinden nicht, aber ihr Platz im System ändert sich.
Da die Unternehmen Profit zunehmend dadurch erzielen, dass sie sich den
durch das Verhalten der Konsumenten erzeugten kostenlosen Wert aneignen,
und da eine auf den Massenkonsum konzentrierte Gesellschaft unentwegt mit
Kaffee versorgt, angelächelt und von Callcentern betreut werden muss, wird im
kognitiven Kapitalismus die gesamte Gesellschaft zur »Fabrik«. In dieser
Theorie ist die »Gesellschaft als Fabrik« ein zentrales Konzept, das benötigt
wird, um nicht nur die Natur der Ausbeutung, sondern auch die des
Widerstands zu verstehen.
Damit ein Paar Nike-Schuhe 179,99 Dollar wert sein kann, müssen 465 000
Arbeiter in 107 Fabriken in Vietnam, China und Indonesien dieselben
Standards einhalten. Darüber hinaus muss der Konsument aber auch glauben,
dass dieses Gebilde aus Kunststoff, Gummi und Schaum wegen des Nike-
Swoosh siebenmal so viel wert ist wie die Arbeitsstunde des durchschnittlichen
amerikanischen Arbeitnehmers.50 Nike gibt 2,7 Milliarden Dollar im Jahr aus,
um uns genau das glauben zu machen (die Herstellung seiner Sportbekleidung
kostet 13 Milliarden Dollar), und mit diesem Marketingbudget wird sehr viel
mehr bezahlt als Werbespots in den Pausen des Superbowl.
Tatsächlich sind Nikes Ausgaben für Werbung in Fernsehen und Presse um
40 Prozent gesunken, seit das Unternehmen zu Beginn des 21. Jahrhunderts die
Regeln des kognitiven Kapitalismus verstanden hat. Stattdessen konzentriert es
sich auf digitale Produkte wie Nike+, das die Leistungen von Läufern mithilfe
des iPods misst. Seit seiner Einführung im Jahr 2006 hat Nike+ 150 Millionen
Jogging-Einheiten aufgezeichnet – und an Nike gemeldet.51 Wie alle
Unternehmen ist Nike dabei, sein Angebot in »Informationen plus Dinge« zu
verwandeln.
Das meinen die Theoretiker des kognitiven Kapitalismus, wenn sie von der
»vergesellschafteten Fabrik« sprechen. Wir leben nicht länger in einer Welt, in
der Produktion und Konsum klar voneinander getrennt sind. Mittlerweile
hängt es vom Verhalten des Kunden und von seiner Interaktion mit der Marke
ab, ob ein Unternehmen Gewinn erzielen kann. Produktion und Konsum
verschmelzen miteinander. Das erklärt teilweise, warum es im Kampf gegen
den neuen Kapitalismus oft um Verbraucherthemen oder den Markenwert geht
(oder um die soziale Verantwortung des Unternehmens) und warum
Protestbewegungen eher »Stämme« in der Marketingdemografie sind, als sich
wie ein einheitliches Proletariat zu verhalten. Die Theoretiker des kognitiven
Kapitalismus sehen die vorrangige Aktivität der Arbeitskräfte – so wie
Drucker – in der »Produktion von Wissen durch Wissen«.52
Die Theorie des kognitiven Kapitalismus weist jedoch einen bedeutsamen
Mangel auf. Eine Sache wäre es, zu sagen: »In der Spätphase des
Industriekapitalismus entsteht ein neuartiger Informationskapitalismus.« Aber
die Verfechter der Theorie des kognitiven Kapitalismus behaupten das
Gegenteil: Viele von ihnen glauben, dass dieser »dritte Kapitalismus« bereits
ein vollkommen funktionstüchtiges System ist. Die Fabriken in Shenzhen, die
Slums von Manila und die metallverarbeitenden Betriebe in Wolverhampton
mögen noch genauso aussehen wie vor zehn Jahren, aber in den Augen dieser
Theoretiker hat sich ihre wirtschaftliche Funktion bereits gewandelt.
Diese Methode ist im europäischen spekulativen Denken durchaus üblich:
Man erfindet eine Kategorie und wendet sie auf die gesamte Wirklichkeit an,
um alles Seiende als Unterkategorien der neuen Vorstellung klassifizieren zu
können. Das erspart uns die Mühe, eine komplexe und widersprüchliche
Realität zu analysieren.
Im Fall der Theoretiker des kognitiven Kapitalismus hat das zur Folge, dass
sie die Bedeutung des Aufstiegs der altmodischen Industrieproduktion in den
BRIC-Ländern (Brasilien, Russland, Indien und China) unterschätzen und die
Finanzkrise seit 2008 teilweise herunterspielen oder als Kinderkrankheit des
neuen Systems abtun.
In Wahrheit ist das System, in dem wir leben, keine neue, kohärente und
funktionierende Version des Kapitalismus. Es ist inkohärent. Es ist instabil,
steht unter Druck und leidet unter Fieberkrämpfen, weil wir in einer Zeit
leben, in der das Netzwerk neben der Hierarchie, der Slum neben dem
Internetcafé existiert. Und um verstehen zu können, in welcher Lage wir uns
befinden, müssen wir sie nicht als fertiges Modell, sondern als nicht
abgeschlossenen Übergang betrachten.
Der Postkapitalismus: Eine Hypothese

Die Debatte über den Postkapitalismus ist seit Peter Druckers Analyse ein
großes Stück vorangekommen, aber in gewissem Sinn hat sie nirgendwohin
geführt. Sie ist von spekulativem Denken, Techno-Gebrabbel und dem
Bemühen geprägt, die Existenz neuer Systeme zu verkünden, anstatt ihre
Beziehung zur alten Realität zu untersuchen.
Benkler, Kelly und Drucker beschrieben etwas, das Ähnlichkeit mit einer
»neuen Produktionsweise« hat, aber keiner von ihnen machte einen Vorschlag
dazu, wie diese Produktionsweise funktionieren könnte. Der Ökonom Nick
Dyer-Witheford präsentierte in seinem 1999 erschienenen Buch Cyber-Marx
eine spekulative Skizze, die einen guten Überblick darüber gibt, wie ein auf
Information beruhender Kommunismus aussehen könnte.53 Eine ökonomische
Debatte über seine Thesen fand jedoch so gut wie nicht statt.
Einer Beschreibung der gegenwärtigen Realität am nächsten gekommen ist
Jeremy Rifkin in Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft (2014).54 Nach Ansicht
dieses einflussreichen Managementberaters sind Peer-Produktion und
Kapitalismus zwei verschiedene Systeme, die gegenwärtig nebeneinander
existieren und sich sogar gegenseitig stärken. Letzten Endes werde die
Allmendeproduktion die kapitalistische Wirtschaft jedoch in einige wenige
Nischen zurückdrängen.
Rifkins bedeutsamste Leistung ist, dass er das Potenzial des Internets der
Dinge verstanden hat. Besonders begeisterte Beratungsfirmen wie McKinsey
schätzen dessen Wirtschaftsleistung auf sechs Billionen Dollar im Jahr,
insbesondere in den Bereichen Gesundheit und produzierendes Gewerbe. Der
Großteil dieses Betrags entfällt allerdings auf Kostensenkungen und
Effizienzsteigerung, da das Netzwerk dazu beiträgt, die Grenzkosten physischer
Güter und Dienstleistungen auf dieselbe Art zu senken, wie »Kopieren und
Einfügen« die Kosten von Informationsgütern senkt.
Rifkin erklärt, dass die Einbindung jedes Menschen und jedes Gegenstands
in ein intelligentes Netzwerk tatsächlich eine exponentielle Wirkung haben
könnte. Sie könnte die Grenzkosten von Energie und materiellen Gütern auf
dieselbe Art senken, wie es das Internet bei digitalen Produkten tut.
Aber wie in allen Büchern, die für die Flughafenbuchhandlung bestimmt
sind, wird auch in Rifkins Arbeit die gesellschaftliche Dimension
vernachlässigt. Er versteht, dass eine Welt der kostenlosen Dinge nicht
kapitalistisch sein kann, und sieht, dass die kostenlosen Dinge nicht nur die
digitale, sondern auch die dingliche Welt durchdringen, er reduziert die
Auseinandersetzung zwischen den beiden Systemen jedoch auf einen Konflikt
zwischen Geschäftsmodellen und guten Ideen.
Die von Sozialtheoretikern, Juristen und Technologiegurus geführte Debatte
über den Postkapitalismus findet parallel zur ökonomischen Debatte über die
Krise des Neoliberalismus und zur Debatte zwischen den Historikern über den
problematische Beginn des fünften langen Zyklus statt. Um voranzukommen,
müssen wir verstehen, wie die neue Info-Tech-Ökonomie, die 2008
ausgebrochene Krise und das Muster der langen Zyklen zusammenpassen. Die
folgende Darstellung ist ein erster Versuch in dieser Richtung. Es handelt sich
um eine Hypothese, die jedoch auf soliden Daten beruht und an der Realität
gemessen werden kann.

Mitte der neunziger Jahre begann eine Revolution der Art und Weise, wie wir
Informationen verarbeiten, speichern und vermitteln. Diese Revolution legte
das Fundament für eine Netzwerkökonomie, die begonnen hat, die
herkömmlichen Eigentumsbeziehungen des Kapitalismus auszuhöhlen. Das
geschieht folgendermaßen:
Die Netzwerkökonomie untergräbt für digitale Güter den Mechanismus zur
Festlegung der Preise für digitale Güter, wie ihn die herkömmliche Ökonomie
versteht. Das tut sie, indem sie die Kosten für die Reproduktion der
Information gegen null drückt.
Sie stattet physische Güter mit einem hohen Informationsgehalt aus, saugt
sie in denselben Nullpreis-Strudel wie reine Informationsgüter und sorgt dafür,
dass der Wert dieser Güter oft weniger von den Kosten der eigentlichen
Produktion, sondern vielmehr von gesellschaftlich erzeugten Ideen (der Marke)
abhängt.
Sie macht die Finanzialisierung erforderlich und erzeugt zwei Profitströme,
die von der Bevölkerung zu den Kapitalisten fließen: Als Arbeitskräfte
produzieren die Menschen Güter, Dienstleistungen und Wissen, als
Kreditnehmer zahlen sie Zinsen. Während man also sagen kann, dass »die
ganze Gesellschaft zur Fabrik geworden ist«, sind die
Ausbeutungsmechanismen weiterhin in erster Linie die Löhne, dann der Kredit
und erst an dritter Stelle unsere geistige Beihilfe zum Aufbau des Markenwerts
oder unsere Bereitschaft, den Technologieunternehmen Externalitäten zu
schenken.
Sie revolutioniert die Produktivität materieller Dinge, Prozesse und
Energienetze, da die Internetverbindungen zwischen Maschinen zahlreicher
werden als die Verbindungen zwischen Menschen.
Die Unternehmen reagieren mit drei Überlebensstrategien auf die
Aushöhlung des Werts durch die Information: Sie errichten
Informationsmonopole und verteidigen hartnäckig ihr geistiges
Eigentumsrecht. Sie versuchen, »am Rand des Chaos dahinzugleiten« und in
der Lücke zwischen erweitertem Angebot und sinkenden Preisen zu überleben.
Und sie versuchen, sich gesellschaftlich erzeugte Informationen wie
Konsumentendaten anzueignen und sie für sich zu nutzen oder
Programmierern Verträge aufzuzwingen, die dem Arbeitgeber das Eigentum an
Softwarecodes sichern, die seine Mitarbeiter in ihrer Freizeit schreiben.
Aber neben der Reaktion der Unternehmen sehen wir den Aufstieg der
Nicht-Marktproduktion. Wir sehen die Entstehung horizontal verteilter
Netzwerke der Allmendeproduktion, die nicht zentral gelenkt werden und
Güter produzieren, die entweder vollkommen kostenlos sind oder – da sie
quelloffen sind – kaum kommerziellen Wert haben.
Gemäß der Allmende-Logik produzierte kostenlose Güter verdrängen
kommerziell erzeugte Güter. Wikipedia ist ein Raum, der nicht kommerziell
genutzt werden kann. Linux und Android werden offenkundig kommerziell
genutzt, aber diese Nutzung findet an den Rändern statt, sie stützt sich nicht
auf den Besitz des Hauptprodukts. Es wird möglich, zugleich Produzent und
Konsument zu sein.
Der Kapitalismus beginnt, sich in einen Verteidigungsmechanismus gegen
die Peer-Produktion zu verwandeln, indem er Informationsmonopole errichtet,
eine Schwächung der Lohnbeziehung zulässt und irrationale, auf der Nutzung
fossiler Energieträger beruhende Geschäftsmodelle verfolgt.
Produktion und Güteraustausch außerhalb des Markts nutzen die Neigung
der Menschen zur Kooperation, zum Austausch von Geschenken, deren Wert
nicht greifbar ist. Diese Neigung existiert seit je, war bisher jedoch auf die
Randgebiete des Wirtschaftslebens beschränkt. Hier handelt es sich nicht
einfach um eine Neugewichtung von öffentlichen und privaten Gütern,
sondern um ein vollkommen neues, revolutionäres System. Die Ausbreitung
dieser wirtschaftlichen Nicht-Marktaktivitäten ermöglicht die Entstehung einer
kooperativen, sozial gerechten Gesellschaft.
Der rasante technologische Wandel verändert das Wesen der Arbeit,
verwischt die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit und zwingt uns, in jedem
Lebensbereich an der Wertschöpfung teilzunehmen. Dabei eignen wir uns
mehrere ökonomische Persönlichkeiten an und werden zu neuen Menschen.55
Das vernetzte Individuum mit seinem vielgestaltigen Selbst ist Träger der
postkapitalistischen Gesellschaft, die jetzt entstehen könnte.
Die technologische Ausrichtung dieser Revolution widerspricht ihrer
gesellschaftlichen Ausrichtung: Technologisch sind wir auf dem Weg zu
kostenlosen Gütern, nichtmessbarer Arbeit, exponentiellen
Produktivitätszuwächsen und der umfassenden Automatisierung
physikalischer Prozesse. Gesellschaftlich sind wir Gefangene einer Welt, die
von Monopolen, Ineffizienz, den Ruinen eines vom Finanzsektor beherrschten
freien Markts und der Ausbreitung von »Bullshit-Jobs« geprägt ist.
Der wesentliche innere Widerspruch des modernen Kapitalismus ist der
zwischen der Möglichkeit kostenloser, im Überfluss vorhandener
Allmendeprodukte und einem System von Monopolen, Banken und Regierungen,
die versuchen, ihre Kontrolle über die Macht und die Informationen
aufrechtzuerhalten. Es tobt ein Krieg zwischen Netzwerk und Hierarchie.
Das geschieht jetzt, weil der Aufstieg des Neoliberalismus das normale
Muster der kapitalistischen Fünfzig-Jahres-Zyklen durchbrochen hat. Und das
bedeutet, dass sich der mittlerweile 240 Jahre dauernde Lebenszyklus des
Industriekapitalismus möglicherweise seinem Ende nähert.
Die Entwicklung kann also in eine von zwei Richtungen führen: Entweder
entsteht tatsächlich eine neue Form von kognitivem Kapitalismus und
stabilisiert sich, gestützt auf eine neue Mischung von Firmen, Märkten und
vernetzter Kooperation, und die Überreste des industriellen Systems finden
einen Platz in diesem »dritten Kapitalismus«. Oder das Netzwerk zerstört
sowohl die Funktionsfähigkeit als auch die Legitimität des Marktsystems.
Wenn das geschieht, wird ein Konflikt ausbrechen, der das Marktsystem
kollabieren lassen und durch den Postkapitalismus ersetzen wird.
Der Postkapitalismus kann verschiedenste Formen annehmen. Dass er
begonnen hat, werden wir daran erkennen, dass zahlreiche Güter billig oder
kostenlos werden, dass man sie jedoch ungeachtet der Marktkräfte weiterhin
produziert. Wir werden wissen, dass wir im Postkapitalismus leben, wenn die
Auflösung der Grenze zwischen Arbeit und Freizeit sowie zwischen Arbeitszeit
und Arbeitseinkommen institutionalisiert ist.
Da Überfluss die Voraussetzung für den Postkapitalismus ist, wird er
spontan soziale Gerechtigkeit herstellen, aber Form und Prioritäten dieser
sozialen Gerechtigkeit werden verhandelbar sein. Während die kapitalistischen
Gesellschaften stets über »Gewehre oder Butter« nachdenken mussten, werden
die postkapitalistischen Gesellschaften über »Wachstum oder Nachhaltigkeit«
nachdenken müssen – oder über den Zeitrahmen für die Bereitstellung
grundlegender sozialer Güter oder über Herausforderungen wie Zuwanderung,
die Befreiung der Frauen und eine alternde Bevölkerung.
Das bedeutet, dass wir den Übergang zum Postkapitalismus gestalten
müssen. Da die meisten Theoretiker des Postkapitalismus entweder einfach
seine Existenz feststellen oder ihn als unvermeidliche Entwicklung
voraussagen, hat kaum einer von ihnen über die Probleme nachgedacht, die der
Übergang zum neuen System verursachen wird. Eine der ersten Aufgaben
besteht also darin, verschiedene Modelle zu entwerfen und zu testen, um
festzustellen, wie die Wirtschaft während der Transitionsphase funktionieren
könnte.
Wir kennen das Wort »Transition« aus Beschreibungen lokaler Versuche,
eine Ökonomie mit einem kleinen CO2-Fußabdruck, örtliche
Währungssysteme, Zeitbanken, »Transition Towns« und dergleichen zu
errichten. Hier geht es jedoch um ein größeres Projekt.
Um es zu verwirklichen, müssen wir die Lehren aus der fehlgeschlagenen
Transition in der Sowjetunion ziehen. Nach 1928 versuchte die Sowjetunion,
den Sozialismus durch die zentrale Planwirtschaft zu verwirklichen. Das
Ergebnis war etwas, das schlimmer als der Kapitalismus war. Die moderne
Linke spricht nur sehr ungern über das Scheitern dieses Projekts.
Um eine postkapitalistische Gesellschaft errichten zu können, müssen wir
verstehen, was in der Sowjetunion schiefgegangen ist, und die grundlegenden
Unterschiede zwischen den hier beschriebenen spontanen Nicht-
Marktphänomenen und den stalinistischen Fünfjahresplänen verstehen.
Um voranzukommen, müssen wir verstehen, wie genau die
Informationsgüter den Marktmechanismus aushöhlen. Wir müssen uns
darüber klar werden, was geschehen wird, wenn diese Tendenz nicht
unterdrückt, sondern gefördert wird. Und wir müssen wissen, welche
Gesellschaftsgruppe ein Interesse an der Transition hat. Kurz gefasst, brauchen
wir eine bessere Definition des Werts und eine detailliertere Geschichte der
Arbeit. An beidem werde ich mich auf den folgenden Seiten versuchen.
6
Auf dem Weg zur kostenlosen Maschine

Ein Zeltlager, eine lärmende Menschenmenge, Tränengasschwaden und ein


Haufen kostenloser Dinge: Das war der Gezi-Park in Istanbul während der
Protestkundgebungen im Jahr 2013. In dem Zeltlager konnten die Menschen
einige Tage leben, wie sie wollten, und die kostenlosen Dinge waren ihre Geste
der Hoffnung.
Am ersten Tag war es ein sehr kleiner Haufen: Die Leute hatten dort ein
paar abgepackte Salamis, Saftpackungen, ein paar Schachteln Zigaretten und
Aspirin deponiert. Am letzten Tag war der Haufen zu einer Pyramide
angewachsen, in der man alles fand, was man brauchte: Nahrung, Kleidung,
Medikamente und Tabak. Junge Leute gingen in Gruppen im Park umher und
drängten jedermann kostenlose Produkte auf. Natürlich waren diese Dinge
nicht wirklich gratis. Sie waren gespendet worden. Aber sie waren Symbole für
den Wunsch, in einer Gesellschaft zu leben, in der einige grundlegende Dinge
geteilt werden.
Dieser Wunsch ist nicht neu. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts
entschloss sich die Linke angesichts eines Systems, das entschlossen war, alles
mit einem Preis zu versehen, utopische Gemeinschaften zu bilden, die auf
Teilhabe, Kooperation und gemeinsamer Arbeit beruhten. Die meisten dieser
Experimente scheiterten, was letzten Endes daran lag, dass alle Güter knapp
waren.
Heute sind nicht mehr allzu viele Dinge knapp. Ein Beleg dafür ist, dass die
Bewohner einer Stadt wie Istanbul einen Berg kostenloser Nahrung anhäufen
können. Die Recyclingcontainer in europäischen Städten sind ein weiterer
Beleg dafür: Neben tatsächlichen Abfällen laden die Leute dort brauchbare
Kleidung, unversehrte Bücher und funktionierende Elektrogeräte ab: Dinge, die
einmal einen Wert hatten, können jetzt nicht mehr verkauft werden, weshalb
sie verschenkt werden, um sie wiederzuverwerten oder zu teilen. Die Energie
bleibt natürlich knapp, zumindest die auf den fossilen Brennstoffen beruhende
Energie, von der wir abhängig sind. Doch das wichtigste Gut des
21. Jahrhunderts ist keineswegs knapp: Informationen sind im Überfluss
vorhanden.
Der Fortschritt von der Knappheit zum Überfluss ist eine bedeutsame
Entwicklung in der Geschichte der Menschheit und die große Leistung des
Kapitalismus in seinem vierten Zyklus. Dieser Fortschritt stellt allerdings eine
große Herausforderung für die Wirtschaftstheorie dar. Der Kapitalismus
machte uns glauben, der Preismechanismus sei ein natürlich gewachsener,
spontaner Bestandteil des Wirtschaftslebens. Jetzt brauchen wir eine Theorie
für das Verschwinden dieses Mechanismus.
Zunächst einmal müssen wir das Konzept von Angebot und Nachfrage
überwinden. Offensichtlich funktioniert das Wechselspiel von Angebot und
Nachfrage: Wenn in Bangladesch mehr Textilfabriken in Betrieb gehen, wird
billige Kleidung noch billiger. Und wenn die Polizei kurz vor Öffnung der
Diskotheken Drogenhändler verhaftet, steigt der Preis von Ecstasy. Aber
Angebot und Nachfrage erklären nur die Schwankungen des Preises. Wenn
Angebot und Nachfrage identisch sind, warum liegt der Preis dann nicht bei
null? Offensichtlich ist das nicht möglich. In einer normalen kapitalistischen
Volkswirtschaft, die auf einem knappen Angebot an Gütern und Arbeitskräften
beruht, muss es einen intrinsisch zu begründenden Preis geben, um den der
Verkaufspreis schwanken kann. Doch wovon wird dieser Preis bestimmt?
In den vergangenen zwei Jahrhunderten wurden zwei gegensätzliche
Antworten auf diese Frage gegeben. Nur eine von ihnen kann richtig sein.
Leider ist es nicht die, die an den Wirtschaftsuniversitäten gelehrt wird.
In diesem Kapitel werde ich einen Ansatz verteidigen, der als
»Arbeitswerttheorie« bezeichnet wird. Sie ist nicht beliebt, weil sie nicht sehr
gut geeignet ist, um die Bewegungen in einem funktionierenden und stabilen
Marktsystem zu berechnen und vorauszusagen. Aber angesichts des Aufstiegs
des Informationskapitalismus, der die Preismechanismen, die
Eigentumsverhältnisse und die Beziehung zwischen Arbeit und
Arbeitseinkommen zerstört, ist die Arbeitswerttheorie die einzige Erklärung,
die funktioniert. Sie ist die einzige Theorie, mit der wir Modelle entwickeln
können, die uns genau zeigen, wo in einer Wissensökonomie Wert erzeugt
wird und wo der Wert landet. Die Arbeitswerttheorie zeigt uns, wie wir den
Wert in einer Volkswirtschaft messen können, in der die Maschinen kostenlos
gebaut werden können und ewig halten.
Die Arbeit ist die Quelle des Werts

Zwischen all den leer stehenden Geschäftslokalen in der heruntergekommenen


Hauptstraße der schottischen Kleinstadt Kirkcaldy gibt es eine Filiale von
Greggs, der die Krise nichts anhaben kann. Diese Kette bietet Speisen mit
hohem Fettgehalt zu niedrigen Preisen an. Greggs ist eines der wenigen Lokale
in Kirkcaldy, in denen zu Mittag emsiges Treiben herrscht. Ein Blick auf die
Karte der Armutsverteilung in Schottland zeigt uns, wie wir dieses Phänomen
einordnen müssen: In dem Städtchen gibt es einige Viertel, deren Bewohner
unter extremem Mangel und schlechter Gesundheit leiden. 1
An der Mauer des Hauses, in dem die Greggs-Filiale untergebracht ist, hängt
eine Gedenktafel: In diesem Haus schrieb Adam Smith Der Wohlstand der
Nationen. Kaum jemandem fällt die Tafel auf. Doch an diesem Ort wurden im
Jahr 1776 die wirtschaftlichen Prinzipien des Kapitalismus formuliert. Ich
bezweifle, dass Smith Gefallen am heutigen Aussehen seiner von der
Deindustrialisierung verwüsteten und von Niedriglöhnen und chronischer
Krankheit gezeichneten Heimatstadt finden würde. Aber er hätte die Ursache
der Malaise verstanden. Denn wie Smith erklärte, ist die Arbeit die Quelle allen
Wohlstands.
Smith schrieb: »Nicht mit Gold oder Silber, sondern mit Arbeit wurde aller
Reichtum dieser Welt letztlich erworben. Und sein Wert ist für die Besitzer, die
ihn gegen neue Güter austauschen möchten, genau gleich der Arbeitsmenge,
die sie damit kaufen oder über die sie mit seiner Hilfe verfügen können.« 2
Dies ist die klassische Arbeitswerttheorie: Sie besagt, dass die Arbeit, die
eingesetzt werden muss, um ein Gut zu erzeugen, den Wert dieses Guts
bestimmt.
Das ist auf eine grundlegende Art folgerichtig. Wenn man ein Wasserrad
lange genug studiert, versteht man, welche physikalischen Kräfte hier am
Werk sind. Wenn man Arbeitern zusieht, die dreizehn Stunden am Tag in einer
Maschinenwerkstatt schwitzen (genau das tat Smith), versteht man, dass die
Arbeiter und nicht die Maschinen den Mehrwert erzeugen. 3
In den herkömmlichen Lehrbüchern liest man, Smith habe die
Arbeitswerttheorie nur auf primitive Gesellschaften angewandt. Im
Kapitalismus sei der »Wert« das gemeinsame Produkt von Löhnen, Arbeit und
Boden.
Das ist falsch. 4 Die Arbeitswerttheorie von Adam Smith ist nicht schlüssig,
aber bei einer sorgfältigen Lektüre von Der Wohlstand der Nationen wird klar,
was er meinte: Die Arbeit ist die Quelle des Werts, den der Markt jedoch nur
ungefähr wiedergeben kann. Auf dem Markt wird der Wert durch
»Aushandeln und Feilschen« bestimmt, wie Smith es ausdrückt. 5 In einer
ausgereiften kapitalistischen Wirtschaft arbeitet das Gesetz also unter der
Oberfläche. Profite und wirtschaftliche Renten werden vom Wert abgeleitet,
den die Arbeit erzeugt.
David Ricardo, der einflussreichste Ökonom des frühen 19. Jahrhunderts,
entwickelte ein umfassenderes Modell. Sein im Jahr 1817 veröffentlichtes
Hauptwerk verankerte die Arbeitswerttheorie so fest im Bewusstsein der
damaligen Gesellschaft, wie die Theorie von Angebot und Nachfrage in
unserem Bewusstsein verankert ist. Ricardo, der den Siegeszug des
Fabriksystems miterlebte, spottete über die Vorstellung, die Maschinen
könnten die Quelle wachsenden Wohlstands sein. Die Maschinen, erklärte er,
übertrügen lediglich ihren Wert auf das Produkt. Nur die Arbeit füge neuen
Wert hinzu.
Die Bedeutung der Maschinen besteht demnach darin, dass sie die
Produktivität erhöhen. 6 Wenn man ein Produkt auch mit geringerem
Arbeitsaufwand erzeugen kann, sollte es billiger und profitabler sein. Wenn
man den für die Produktion von Hüten nötigen Arbeitseinsatz verringern kann,
erklärt Ricardo, so wird ihr Preis »schließlich auf ihren neuen natürlichen Preis
fallen, obgleich die Nachfrage verdoppelt, verdreifacht oder vervierfacht sein
würde«. 7
Ricardos Nachfolger machten die Arbeitswerttheorie zur theoretischen
Grundlage des Industriekapitalismus. Sie wurde benutzt, um den Profit zu
rechtfertigen, der die Belohnung für die Arbeit des Fabrikbesitzers war. Sie
wurde benutzt, um den Landadel anzugreifen, der von den wirtschaftlichen
Renten lebte, anstatt zu arbeiten. Und sie wurde benutzt, um die Forderungen
der Arbeiter nach einer Verringerung der Arbeitszeit und nach dem Recht auf
gewerkschaftliche Organisation mit dem Argument abzuschmettern, dies
würde den Preis der Arbeit auf ein »künstliches« Niveau heben, womit ein
Niveau über dem Minimum gemeint war, das für Nahrung, Kleidung und ein
Dach über dem Kopf benötigt wurde.
Trotz ihres ultrakapitalistischen Grundgedankens erwies sich die
Arbeitswerttheorie jedoch als subversives Konzept. Sie warf die Frage auf, wer
Anspruch worauf hatte, und hier waren die Fabrikbesitzer augenblicklich im
Hintertreffen. In den ersten Gewerkschaftsgruppen, die sich im Kerzenlicht der
Kneipen versammelten, fand David Ricardo plötzlich eine ganz neue
Anhängerschaft.
Die Arbeiterintellektuellen, die sich um das Jahr 1820 mit seiner Theorie
beschäftigten, erkannten deren revolutionäre Tragweite: Wenn die Arbeit die
Quelle allen Wohlstands ist, muss die Frage legitim sein, wie dieser Wohlstand
verteilt werden sollte. Wenn klar ist, dass die Aristokratie in Form
wirtschaftlicher Renten parasitär von der produktiven Wirtschaft lebt, kann
man auch sagen, dass die Kapitalisten Parasiten sind, die von der Arbeit
anderer leben. Der Beitrag der Kapitalisten wird benötigt, aber es sieht so aus,
als wäre das Fabriksystem so ausgelegt, dass es ihnen einen übermäßig hohen
Anteil am Ertrag der Arbeit sichert.
»Der Kapitalist kann seinen Anspruch auf einen Anteil an den Erzeugnissen
nur mit dem Wissen, den Fähigkeiten und der Arbeit begründen, die
erforderlich sind, um eine Fabrik aufzubauen«, schrieb Thomas Hodgskin, ein
Marineoffizier, der sich dem Sozialismus zugewandt hatte, im Jahr 1825. 8
Während die Untergrundgewerkschaften die Doktrin vom »ricardianischen
Sozialismus« verbreiteten, schwand die Begeisterung der Fabrikbesitzer für die
Arbeitswerttheorie. Als die britische Mittelschicht im Jahr 1832 das Wahlrecht
erhielt, brauchten die Kapitalisten keine Theorie mehr, um das System zu
rechtfertigen. Löhne, Preise und Profite waren nicht länger ein
Untersuchungsgegenstand für die Sozialwissenschaften: Sie waren einfach da
und konnten beschrieben und gemessen werden. Ricardo kam aus der Mode,
ersetzt wurden seine Erkenntnisse jedoch nur durch theoretische Verwirrung.
9
Dass die Volkswirtschaftlehre Mitte des 19. Jahrhunderts auf »Beschreibung
und Zählung« reduziert wurde, hat eine Entsprechung in den
Naturwissenschaften. Charles Darwin formulierte seine Evolutionstheorie im
Jahr 1844, Alfred Russel Wallace stellte unabhängig von ihm drei Jahre später
sein eigenes Evolutionskonzept fertig. Diese Theorie hatte so gewaltige
Auswirkungen – im Wesentlichen entkräftete sie den Schöpfungsmythos –,
dass sich die beiden Forscher erst einmal zurückzogen und sich darauf
beschränkten, Proben »zu sammeln, zu benennen und zu kategorisieren«. Erst
im Jahr 1858 gingen beide plötzlich mit einer weltbewegenden Theorie in die
Öffentlichkeit.
In der Ökonomie lieferte Karl Marx die weltbewegende Theorie. Es wird oft
behauptet, Marx habe auf den Theorien von Smith und Ricardo aufgebaut. In
Wahrheit brachte er sie zum Einsturz. Er beschrieb sein Projekt als Kritik der
politischen Ökonomie, das heißt als Kritik an Smith, Ricardo, den
ricardianischen Sozialisten, den liberalen Moralisten und den Erbsenzählern.
Lange bevor sich die Mainstream-Ökonomen ab den siebziger Jahren des
19. Jahrhunderts dazu durchrangen, bezeichnete er Ricardos Version der
Arbeitswerttheorie als Durcheinander. Er würde sie vollkommen neu schreiben
müssen.
Trotz aller Mängel der Arbeitswerttheorie erkannte Marx, dass sie erklären
konnte, wie der Kapitalismus funktionierte – und warum er eines Tages
möglicherweise nicht mehr funktionieren würde. Seine Version der Theorie ist
schlüssig und hat sich bewährt. Tausende Wissenschaftler mit einem Lehrstuhl,
darunter einige weltweit anerkannte Gelehrte, halten sie für korrekt. Das
Problem ist, dass nur wenige von ihnen Wirtschaftswissenschaften
unterrichten dürfen.
Die Arbeitswerttheorie in Zahlen

Wenn ein Einkäufer des Textil-Discounters Primark 100 000 T-Shirts bei einer
Fabrik in Bangladesch bestellt, ist dies eine Transaktion. Wenn eine Arbeiterin
jeden Morgen in dieser Fabrik zur Arbeit erscheint und dafür einen
Monatslohn von 68 Dollar erhält, ist das ebenfalls eine Transaktion.10 Und
auch wenn sie ein Fünftel ihres Tageslohns für ein Kilo Reis ausgibt,11 ist das
eine Transaktion.
Wenn wir Transaktionen abschließen, haben wir eine grobe Vorstellung
vom Wert des Produkts, das wir kaufen. Wenn die Arbeitswerttheorie richtig
ist, bestimmen wir, ohne uns allzu viele Gedanken darüber zu machen, den
Wert ausgehend von einer Schätzung des menschlichen Arbeitsaufwands, den
dieses Produkt oder diese Dienstleistung enthält.
Es folgt eine kurze, vereinfachte Erklärung der Arbeitswerttheorie. Es gibt
ausführliche, komplizierte Versionen, aber um uns eine Vorstellung davon
machen zu können, wie der Postkapitalismus funktionieren könnte, genügt es,
die Grundlagen zu verstehen.
Der Wert eines Wirtschaftsguts kann anhand des durchschnittlichen
Arbeitsaufwands bestimmt werden, der notwendig ist, um dieses Gut zu
erzeugen.12 Der Wert hängt nicht von der tatsächlichen Zahl der
Arbeitsstunden ab, sondern von den in einer Industrie oder Volkswirtschaft
festgelegten »gesellschaftlich notwendigen« Arbeitsstunden. Die grundlegende
Berechnungseinheit kann also als »gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit«
zusammengefasst werden. Wenn wir wissen, wie viel eine Stunde einfacher
Arbeit kostet – in Bangladesch liegt der Mindestlohn bei etwa 0,28 US-Dollar
pro Stunde –, können wir den Wert in Geld ausdrücken. Aber ich werde bei
den Arbeitsstunden bleiben.
Zwei Dinge tragen zum Wert eines Wirtschaftsguts bei: (a) die im
Produktionsprozess geleistete Arbeit (diese beinhaltet Marketing, Forschung,
Entwicklung usw.) und (b) alles Übrige, was man braucht, um Waren
herzustellen (Maschinen, Anlagen, Rohstoffe, Transport usw.). Beides kann
anhand der darin enthaltenen Arbeitszeit gemessen werden.
Die Arbeitswerttheorie behandelt Maschinen, Energie und Rohstoffe als
»vergegenständlichte« Arbeit und überträgt ihren Wert auf das neue Produkt.
Wenn es insgesamt dreißig Minuten gedauert hat, die für ein Kleidungsstück
benötigte Baumwolle anzubauen, zu ernten, zu spinnen, zu weben und zu
transportieren, so wird dieser Wert auf das fertige T-Shirt übertragen. Bei
Maschinen und anderen großen Investitionsgütern erfordert der Prozess jedoch
Zeit: Sie übertragen ihren Wert in kleinen Happen. Wenn also Arbeit im Wert
von einer Million Stunden erforderlich war, um die Maschine zu bauen, und
wenn diese Maschine im Lauf ihres Lebens eine Million T-Shirts produziert,
fließt eine Stunde des Werts der Maschine in jedes T-Shirt ein.
Die tatsächlich im Produktionsprozess aufgewandte Arbeit behandeln wir als
einen neuen Wert, der durch das hinzugefügt wird, was Marx als »lebendige
Arbeit« bezeichnete.
Dieser Mechanismus – die Arbeitszeit bestimmt die Menge an neuem Wert –
läuft auf einer tieferen Ebene ab, unsichtbar für Arbeiter, Manager, Einkäufer
und die Leute, die am Ende bei Primark Shoppen gehen. Wenn wir einen Preis
aushandeln, wirken sich eine Vielzahl anderer Faktoren darauf aus: Angebot,
Nachfrage, kurzfristiger Nutzen, die Gelegenheit, die wir uns entgehen lassen,
wenn wir das Produkt nicht kaufen, die Kosten, die uns entstehen, weil wir
Geld ausgeben, anstatt es zu sparen. Adam Smith fasste all diese Faktoren mit
dem Wort »Feilschen« zusammen. Aber insgesamt ist der Preis sämtlicher
Produkte und Dienstleistungen, die auf einem Markt verkauft werden, lediglich
ein monetärer Ausdruck dafür, wie viel Arbeit aufgewendet wurde, um sie zu
erzeugen.
Das Problem ist, dass wir erst im Nachhinein wissen, ob wir den richtigen
Preis bezahlt haben. Der Markt funktioniert wie eine riesige Rechenmaschine,
die den belohnt, der die gesellschaftlich notwendigen Kosten richtig errät, und
den bestraft, der zu viel Arbeit aufgewendet hat.
Die Preise weichen immer vom zugrundeliegenden Wert der Dinge ab,
letzten Endes werden sie jedoch von ihm bestimmt. Und der Wert wird von der
Menge an Arbeit bestimmt, die erforderlich war, um ein Wirtschaftsgut zu
erzeugen.
Aber wovon hängt der Wert der Arbeit ab? Vom Arbeitseinsatz anderer
Menschen, das heißt von der durchschnittlichen Arbeitsmenge, die aufgewandt
werden muss, um den arbeitsfähigen Arbeiter zum Fabriktor zu bringen. Das
beinhaltet die Arbeit, die in die Erzeugung der von ihm konsumierten Nahrung
und Elektrizität, der von ihm getragenen Kleidung und – mit zunehmender
Entwicklung – der durchschnittlichen Menge an Schul- und Berufsbildung,
medizinischer Versorgung und Freizeit geflossen ist, die er benötigt, um
arbeiten zu können.
Natürlich sind die durchschnittlichen Kosten einer Arbeitsstunde von einem
Land zum anderen unterschiedlich. Diese Unterschiede sind einer der Gründe
dafür, dass Unternehmen ihre Produktion ins Ausland verlegen. Die Betreuung
in einem Betriebskindergarten in Bangladesch kostet weniger als einen halben
Dollar am Tag, während ein Kindermädchen in New York 15 Dollar pro Stunde
kostet. Im vergangenen Jahrzehnt sind die Produktionsstätten aufgrund der
steigenden Löhne in China von dort nach Bangladesch verlegt worden, obwohl
die Produktivität in diesem Land geringer ist. Die Arbeit war in Bangladesch
eine Weile so billig, dass die Ersparnis die Ineffizienz wettmachte.13
Woher kommt also der Profit? Die Arbeitswerttheorie betrachtet den Profit
nicht als Diebstahl, sondern als Übervorteilung. Im Durchschnitt entspricht der
Monatslohn eines Arbeiters tatsächlich der Menge an Arbeit, die andere
aufwenden müssen, um seinen Bedarf an Nahrung, Energie und Kleidung zu
decken. Aber der Arbeitgeber verdient mehr. Er kann den tatsächlichen Wert
der acht Stunden bezahlen, die sein Beschäftigter gerade gearbeitet hat. Es
kann jedoch sein, dass dieser tatsächliche Wert nur vier Stunden sind.
Diese mangelnde Übereinstimmung zwischen In- und Outputs der
menschlichen Arbeit ist der Kern der Theorie. Sehen wir uns ein Beispiel an.
Die Arbeiterin Nazma erklärt sich bereit, in einer Textilfabrik in Bangladesch
für einen Lohn zu arbeiten, der genügt, um einen Monat lang Nahrung, Miete,
Transport, Strom, Freizeitvergnügen usw. zu bezahlen und noch ein wenig
Geld zur Seite zu legen. Nazma würde gerne mehr verdienen, aber die Löhne
für Fabrikarbeit bewegen sich innerhalb einer relativ schmalen Bandbreite,
weshalb der Arbeiterin durchaus klar ist, welchen durchschnittlichen
Stundenlohn sie mit ihren Fähigkeiten erzielen kann.
Ihr Arbeitgeber kauft aber nicht ihre Arbeit an sich. Er kauft ihre
Arbeitstauglichkeit.
Wenn wir für einen Augenblick das Geld vergessen und alles in
»notwendigen Arbeitsstunden« messen, beginnen wir zu begreifen, wie Profit
erzielt wird. Wenn dreißig Arbeitsstunden anderer, über sämtliche
Wirtschaftsbereiche verteilter Menschen erforderlich sind, um Nazma an sechs
Wochentagen arbeitstauglich zum Fabriktor zu bringen – gemeint sind die
Arbeitsstunden, die erforderlich sind, um Nazmas Nahrung, Kleidung, Strom,
Kinderbetreuung, Unterkunft usw. zu erzeugen –, und wenn Nazma sechzig
Stunden pro Woche arbeitet, dann ist der Output ihrer Arbeit doppelt so hoch
wie der Input. Die Differenz streicht ihr Arbeitgeber ein. Die an sich durchaus
faire Transaktion hat also ein unfaires Ergebnis. Das ist, was Marx als
»Mehrwert« bezeichnet. Der Mehrwert ist die Quelle des Profits.
Man kann es auch anders ausdrücken: Die Arbeit ist einzigartig. Unter allen
Dingen, die wir kaufen und verkaufen, ist die Arbeit das Einzige, was Wert
hinzufügen kann. Die Arbeit ist nicht einfach der Maßstab des Werts, sondern
die Quelle, aus der der Profit geschöpft wird.
Dass diese Einschätzung zutrifft, zeigt sich daran, dass die Kapitalisten jede
Gelegenheit nutzen, Arbeitskräfte kostenlos auszunutzen – sei es im
amerikanischen Gefängnissystem oder in den nationalsozialistischen
Konzentrationslagern. Einen weiteren Beleg liefert die Tatsache, dass die
Manager überall dort, wo sie darauf angewiesen sind, die Arbeit unter ihrem
Durchschnittswert zu bezahlen – wie zum Beispiel während des Aufstiegs der
chinesischen Exportindustrie –, dazu übergehen, die Inputs kollektiv
bereitzustellen: Schlafsäle, Uniformen und Kantinen. Die Arbeit von Menschen,
die in Baracken wohnen, kostet sehr viel weniger als im gesellschaftlichen
Durchschnitt, der den Lebenshaltungskosten eines Haushalts entspricht – und
natürlich sind die Arbeitskräfte in der Baracke leichter zu disziplinieren.
Doch warum sollte ich sechzig Stunden arbeiten, wenn der reale
wöchentliche Wert meiner Arbeit dem von dreißig Arbeitsstunden anderer
Menschen entspricht? Die Antwort: Der Arbeitsmarkt ist nie frei. Er ist durch
Zwang entstanden und wird täglich mit Gesetzen, Vorschriften, Verboten,
Geldbußen und Angst vor der Arbeitslosigkeit stabilisiert.
In der Entstehungszeit des Kapitalismus wurden den Arbeitern Arbeitstage
aufgezwungen, die durchschnittlich vierzehn Stunden oder länger dauerten –
und zwar nicht nur Erwachsenen, sondern auch achtjährigen Kindern. Es
wurde ein striktes System zur Einhaltung der Arbeitszeit etabliert: rationierte
Toilettenzeit, Geldbußen für Zuspätkommen, für Produktmängel oder
Unterhaltungen am Arbeitsplatz, strenge Überwachung der Arbeitszeiten und
gnadenlose Fristen. Überall, wo das Fabriksystem neu eingeführt wurde, sei es
in Lancashire im letzten Jahrzehnt des 18. oder in Bangladesch im letzten
Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, wurde ein solches Zwangssystem errichtet.
Selbst in hochentwickelten Ländern beruht das Funktionieren des
Arbeitsmarkts auf unverhohlenem Zwang. Man muss sich nur die Politiker
anhören, die über den Sozialstaat sprechen: Arbeitslosengeld und
Berufsunfähigkeitsrenten sollen gekürzt werden, um die Menschen zu
zwingen, Jobs anzunehmen, die so schlecht bezahlt sind, dass man nicht davon
leben kann. Nirgendwo sonst zwingt uns der Staat zur Beteiligung am Markt;
niemand sagt uns: »Du musst Schlittschuhlaufen gehen, oder die Gesellschaft
wird zusammenbrechen.«
Die Lohnarbeit ist das Fundament des Systems. Wir akzeptieren sie, weil
derjenige, der nicht gehorcht, auch nicht essen wird. Unsere Vorfahren lernten
das auf schmerzhafte Art.
Daher ist unsere Arbeit kostbar. Wer Zweifel daran hat, sollte sich einmal
die Arbeit im Umschlagzentrum eines Internet-Einzelhändlers oder in einem
Callcenter oder den Einsatzplan eines Mitarbeiters einer Heimpflegefirma
ansehen. Die Arbeit ist eingeteilt und organisiert, als wären die Minuten Gold
wert – und tatsächlich sind sie es für den Arbeitgeber. Auf der Ebene des
Arbeitsmarkts, wo hochwertige Kenntnisse gefordert und hohe Gehälter
bezahlt werden, wird der Zwang natürlich nicht mit Zeitplänen oder Disziplin
ausgeübt, sondern mit Zielvorgaben und Qualitätskontrollen.
Die Arbeitswerttheorie hält noch mehr für uns bereit, aber für einen
Augenblick können wir es bei diesen Erkenntnissen belassen. Wir wissen
bereits genug, um diese Theorie mit den Werkzeugen zu attackieren, die man
in der Bibliothek jeder wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät findet.
Einige legitime Einwände …

Ich will Ihnen erklären, warum ich die Arbeitswerttheorie mag. Sie behandelt
den Profit so, als würde er an einem zentralen Ort des Kapitalismus erzielt:
nicht auf dem Markt, sondern am Arbeitsplatz. Und sie behandelt eine unserer
grundlegenden alltäglichen Aktivitäten – die Arbeit – so, als wäre sie von
wirtschaftlicher Bedeutung. Aber es gibt eine lange Liste legitimer Einwände
gegen die Arbeitswerttheorie. Fangen wir an.
Frage: Warum brauchen wir überhaupt eine »Theorie«? Warum begnügen wir
uns nicht mit den Tatsachen, mit den BIP-Daten, den Unternehmensbilanzen, den
Börsenindizes usw.?
Antwort: Weil wir Veränderungen erklären wollen. Die Wissenschaft
beschränkt sich nicht darauf, Schmetterlinge fein säuberlich in einem
Glaskasten aufzureihen, sondern sie will herausfinden, warum sich jede Spezies
geringfügig von den anderen unterscheidet. Wir wollen wissen, warum im
Verlauf von Millionen Wiederholungen ihres normalen Lebenszyklus kleine
Variationen auftreten, die plötzlich zu einer massiven Veränderung führen.
Mit Theorien können wir die Realität beschreiben, die wir nicht sehen
können. Und Theorien ermöglichen uns Voraussagen. Alle Zweige der
Wirtschaftswissenschaft akzeptieren, dass sie notwendig sind. Angesichts der
Schwierigkeit, eine Theorie zu entwickeln und sich mit ihren Auswirkungen
auseinanderzusetzen, wandte sich die Ökonomie jedoch Ende des
19. Jahrhunderts von der wissenschaftlichen Methode ab.
Frage: Warum kann man Wert, Mehrwert und Arbeitszeit nicht »sehen«? Sind
sie nicht nur ein geistiges Konstrukt? Schließlich tauchen sie in den Bilanzen der
Unternehmen nicht auf und werden von den Volkswirten nicht erfasst.
Antwort: Man könnte es auch raffinierter ausdrücken und wie die
Cambridge-Ökonomin Joan Robinson erklären, die Arbeitswerttheorie sei
»metaphysisch« – sie sei ein geistiges Konstrukt, dessen Richtigkeit unmöglich
widerlegt werden könne. Dasselbe sagte Robinson auch über den »Nutzen«,
das zentrale Konzept der herkömmlichen Ökonomie, wobei sie jedoch
einräumte, Metaphysik sei besser als gar nichts.14
Aber die Arbeitswerttheorie ist mehr als Metaphysik. Es ist richtig, dass sie
auf einer abstrakten Ebene arbeitet: Teile der Realität werden herausgefiltert.
Beispielsweise ist sie ein Modell eines reinen Kapitalismus, in dem jedermann
für einen Lohn oder ein Gehalt arbeitet – es gibt also keine Sklaven, keine
Bauern, keine Gangster und keine Bettler. Diese Theorie beschreibt einen
Prozess, der »hinter dem Rücken« der wirtschaftlichen Akteure stattfindet:
Niemand kann berechnen, ob sie mehr oder weniger als die erforderliche
Arbeitszeit aufwenden – obwohl es für das Produktivitätsmanagement
unverzichtbar geworden ist, diesen Aufwand annähernd richtig einzuschätzen.
In der Arbeitswerttheorie ist der Markt der Übertragungsmechanismus
zwischen diesem tiefen, unergründlichen Prozess und dem Ergebnis, das an der
Oberfläche zu sehen ist. Nur der Markt kann die individuellen Entscheidungen
zu einer Gesamtwirkung verschmelzen, nur der Markt kann uns sagen, welches
die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ist. In diesem Sinn ist die
Arbeitswerttheorie die beste Markttheorie, die je formuliert wurde. Sie sieht im
Markt und nur im Markt den Mechanismus, der die zugrundeliegende Realität
greifbar macht.
Ja, diese Theorie ist abstrakt, aber sie ist nicht abstrakter als Adam Smith'
»unsichtbare Hand« oder Einsteins allgemeine Relativitätstheorie, die im Jahr
1916 formuliert, aber erst in den sechziger Jahren empirisch bewiesen wurde.
Bleibt die Frage: Kann die Arbeitswerttheorie bewiesen werden? Könnte
man sie mit empirischen Sachverhalten infrage stellen? Wird sie die
Nagelprobe bestehen, die der Philosoph Karl Popper vorgeschlagen hat? Diese
Probe sieht so aus: Wenn eine einzige Beobachtung der Theorie widerspricht,
ist sie falsch.
Sie wird diese Nagelprobe bestehen – sofern wir die gesamte Theorie
verstehen. Wenn man sagen könnte, dass der Kapitalismus keine Krisen kennt,
wäre die Arbeitswerttheorie falsch. Wenn man beweisen könnte, dass der
Kapitalismus ewig Bestand haben wird, wäre sie ebenfalls falsch. Der Grund
ist, dass die Arbeitswerttheorie (wie wir gleich sehen werden) gleichzeitig
einen regelmäßigen zyklischen Prozess und einen Prozess beschreibt, der
langfristig zum Zusammenbruch führt.
Frage: Warum brauchen wir eine solche Abstraktion? Kann die Theorie nicht
entwickelt werden, indem man Daten sammelt und auswertet? Warum sollte man
die konkrete Welt der Mainstream-Ökonomie überlassen?
Antwort: Zunächst die Antwort auf den letzten Teil der Frage: Das sollte
man nicht. Marx begriff, dass eine schlüssige Arbeitswerttheorie die konkrete
Realität beschreiben musste. Er machte sich daran, das abstrakte Modell in eine
konkretere Beschreibung der Realwirtschaft umzuformen. Dazu entwickelte er
im zweiten Band von Das Kapital ein auf zwei Sektoren (Konsum und
Produktion) beruhendes Wirtschaftsmodell und führte im dritten Band ein
Bankensystem ein. Zudem versuchte er zu zeigen, wie die grundlegenden
Werte auf der konkreten Ebene in Preise umgewandelt werden.
Seine Darstellung dieses sogenannten »Transformationsproblems« ist nicht
schlüssig, was eine hundertjährige Debatte über die Frage auslöste, ob die
Theorie widersprüchlich ist. Da ich kein Lehrbuch über den Marxismus
schreiben, sondern die Theorie auf eine spezifische Frage anwenden will,
werde ich diese Debatte hier beiseitelassen. Ich beschränke mich auf den
Hinweis, dass die »Transformationsdebatte« von einer Gruppe von Vertretern
der »Temporal Single System Interpretation« (zu meiner Zufriedenheit)
beendet worden ist.[1]
Entscheidend ist, dass die Arbeitswerttheorie selbst in ihrer schlüssigen
Form ungeeignet ist, Preisbewegungen zu messen und vorauszusagen. Aber sie
hilft uns zu verstehen, was Preisbewegungen sind. Diese Theorie gehört zu
jener Art von Ideen, die Einstein als »Prinzipientheorien« bezeichnete: Solche
Theorien dienen dazu, das Wesen der Realität in einer einfachen Aussage
zusammenzufassen, die von der Alltagserfahrung losgelöst sein kann. Einstein
zufolge ist es das Ziel der Wissenschaft, die Zusammenhänge zwischen allen
messbaren Daten »in ihrer Gesamtheit« zu erfassen, und zwar »anhand einer
möglichst geringen Zahl primärer Konzepte und Beziehungen«. Er wies darauf
hin, dass diese Grundkonzepte umso weiter von den Daten entfernt seien, je
klarer und logischer sie seien.15
Selbstverständlich war Einstein überzeugt, dass sich die Richtigkeit einer
Theorie daran zeigt, dass sie die Erfahrung richtig voraussagen kann. Aber die
Beziehung zwischen Theorie und Erfahrung kann nur intuitiv verstanden
werden.
Aus Gründen, die wir noch behandeln werden, entwickelte sich die
Mainstream-Ökonomie zu einer Pseudowissenschaft, die nur Aussagen erlaubt,
die auf der Datenauswertung beruhen. Das Ergebnis ist eine Ansammlung von
Lehrbüchern, die sich gegenseitig bestätigen, aber ungeeignet sind, die Realität
zu beschreiben und vorauszusagen.
Frage: Ist die Arbeitswerttheorie nicht übermäßig ideologisch? Ist sie nicht zu
feindselig gegenüber dem Kapitalismus, um einen Nutzen zu haben?
Antwort: Ja, das ist ein Problem. Die ideologische Auseinandersetzung, die
seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts in der Wirtschaftswissenschaft
tobt, ist eine Unterhaltung zwischen Kontrahenten, die beide nicht stumm, aber
taub sind. Wir stehen also vor der Aufgabe, die Ungereimtheit der Mainstream-
Ökonomie und die mangelnde Konkretheit des Marxismus zu überwinden.
Linke Ökonomen tun die Mainstream-Ökonomie häufig als »nutzlos« ab,
aber sie haben unrecht. Sofern man versteht, wo sie an ihre Grenzen stößt,
passt die herkömmliche Preistheorie sehr gut zu den oberflächlichen
Ergebnissen der grundlegenden Prozesse, die von der Arbeitswerttheorie
beschrieben werden.
Das Problem ist, dass die Mainstream-Ökonomie ihre eigenen Grenzen nicht
versteht. Je umfassender sie als akademische Disziplin eine abstrakte, statische
und unveränderliche Realität beschreibt, desto weniger begreift sie die
Veränderung. Sehen wir uns an, woran das liegt. Dazu müssen wir uns mit der
wichtigsten Quelle des Wandels im Kapitalismus beschäftigen, mit jener Kraft,
die den Preis teurer Dinge senkt und mittlerweile begonnen hat, einige Dinge
kostenlos zu machen: mit der Produktivität.
Die Produktivität in der Arbeitswerttheorie

Die Arbeitswerttheorie besagt, dass die Produktivität auf zwei Arten erhöht
werden kann. Erstens kann man die Arbeitskräfte besser ausbilden. Die
Tätigkeit eines Facharbeiters, der eine Metallpresse zu bedienen gelernt hat, ist
wertvoller als die Arbeit eines ungeschulten Mannes, der vom Arbeitsamt
geschickt wurde. Das liegt entweder daran, dass der Facharbeiter eine einfache
Tätigkeit schneller und mit besseren Ergebnissen erledigen kann, oder daran,
dass er eine anspruchsvolle Aufgabe bewältigen kann, die den ungeschulten
Arbeiter überfordert.
Die Kosten von Facharbeitern steigen allerdings durch die Ausbildung
normalerweise proportional zur Erhöhung der Produktivität: Ihre Arbeit ist
mehr wert, weil andere mehr Arbeit aufwenden mussten, um sie zu erzeugen.
Beispielsweise sind die Durchschnittseinkommen von Hochschulabsolventen
in den OECD-Ländern mehr als doppelt so hoch wie die von Arbeitskräften, die
nur eine Grundbildung haben, und sechzig Prozent höher als die von
Arbeitskräften, die lediglich eine »höhere Schulbildung« abgeschlossen
haben.16
Zweitens kann man die Produktivität durch die Einführung neuer
Maschinen, durch eine Reorganisation des Produktionsprozesses oder durch
eine neue Erfindung erhöhen. Zumeist steigt die Produktivität auf diese Art.
Marx beschreibt den Prozess so:
Eine Arbeitsstunde erhöht den Wert des erzeugten Produkts um den Wert
einer Stunde. Eine Erhöhung der Produktivität verringert also den im Produkt
enthaltenen Wert.
Nehmen wir an, eine Fabrik erzeugt 10 000 Kleidungsstücke am Tag.
Nehmen wir weiter an, die Fabrik hat 1000 Arbeiter, die in der Lage sind,
durchschnittlich zehn Stunden täglich zu arbeiten. Somit fließen 10 000
Stunden »lebendiger« Arbeit in den täglichen Output ein. Nehmen wir an, dass
die tägliche Produktion zusätzlich 10 000 Stunden an »vergegenständlichter«
Arbeit enthält: Abnutzung der Maschinen, Verbrauch von Energie, Textilien
und anderer Rohmaterialien, Transport usw. Für die tägliche
Gesamtproduktion der Fabrik werden daher 20 000 Arbeitsstunden aufgewandt
(je eine Hälfte »lebendige« und »vergegenständlichte« Arbeitszeit). Jedes
Kleidungsstück enthält also zwei Stunden Arbeitszeit. Daher sollte es auf dem
Markt für den monetären Gegenwert von zwei Arbeitsstunden gehandelt
werden.
Nehmen wir nun an, dass ein Verfahren eingeführt wird, das die
Arbeitsproduktivität verdoppelt. In eine Charge von 10 000 Kleidungsstücken
fließt weiterhin etwa dieselbe Menge an vergegenständlichter Arbeit ein (10
000 Stunden in diesem Beispiel). Aber die Komponente der lebendigen Arbeit
wird auf 5000 Stunden verringert. Jetzt enthält jedes Kleidungsstück nur noch
1,5 Stunden Arbeitszeit.
Der Markt belohnt das Unternehmen wie folgt für die Innovation: Wenn es
das erste Unternehmen ist, das die Neuerung einführt, kommen die Produkte
auf einen Markt, auf dem die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit für ihre
Erzeugung weiterhin bei 20 000 Stunden liegt. Dies ist der Preis, den das
Unternehmen auf dem Markt erhalten sollte. Es hat jedoch nur 15 000 Stunden
für die Produktion aufgewandt. So streicht das Unternehmen den infolge des
Produktivitätsgewinns erhöhten Profit ein, der dem Kostenunterschied
zwischen zwei und anderthalb Arbeitsstunden entspricht. Alternativ kann der
Fabrikbesitzer die Preise senken und seinen Marktanteil erhöhen. Im Lauf der
Zeit wird die gesamte Branche die Innovation kopieren, wodurch sich der
normale Preis des Produkts bei 1,5 Stunden Arbeitszeit pro Kleidungsstück
einpendeln wird.[2]
Das bringt uns zum entscheidenden Punkt. Um die Produktivität zu steigern,
erhöhen wir den »Maschinenwert« im Verhältnis zum Wert der lebendigen
menschlichen Arbeit. Wir verdrängen Menschen aus dem Produktionsprozess
und steigern kurzfristig – auf der Ebene des Unternehmens oder des Sektors –
die Profite. Da die Arbeit jedoch die einzige Quelle zusätzlichen Werts darstellt,
gib es weniger Arbeitskräfte und mehr Maschinen, sobald eine Innovation im
gesamten Wirtschaftszweig eingeführt und ein neuer, niedrigerer
gesellschaftlicher Durchschnitt festgelegt worden ist. Der Teil der
Unternehmenstätigkeit, der den Mehrwert erzeugt, ist geschrumpft. Und wird
nicht gegengesteuert, so wird dies die Profitrate des Sektors senken.
Innovation, die sich aus der Notwendigkeit ergibt, die Kosten zu senken, die
Produktivität zu erhöhen und die Ressourcen bestmöglich zu nutzen, erhöht
den materiellen Wohlstand. Und sie kann zu einem Anstieg der Profite führen.
Aber hat sich eine Innovation einmal durchgesetzt, so erzeugt sie
notwendigerweise eine »Tendenz der fallenden Profitrate« – sofern der
Rückgang nicht durch andere Faktoren ausgeglichen wird.
Der von Marx postulierten »Tendenz der fallenden Profitrate« haftet eine
Aura des drohenden Untergangs an, aber in Wahrheit ist sie keine Katastrophe
für den Kapitalismus. Wie wir in Kapitel 3 gesehen haben, sind die
ausgleichenden Faktoren normalerweise stark genug, um die Auswirkungen
des sinkenden Arbeitsanteils auszugleichen – in erster Linie durch die
Schaffung neuer Sektoren, in denen höherwertige Inputs erforderlich sind –,
sei es in Form von höherwertigen Wirtschaftsgütern oder durch die Schaffung
von Dienstleistungssektoren.
Im von Marx skizzierten klassischen Modell des Kapitalismus erhöht das
Streben nach höherer Produktivität den materiellen Wohlstand, verursacht
jedoch immer wieder kurzfristige Krisen und erzwingt schließlich große
Mutationen, auf die das System mit freiwilligen Erhöhungen der Arbeitskosten
reagiert. Wenn es die Arbeitskräfte nicht so reich machen kann, dass sie all die
produzierten Güter kaufen können, und wenn es nicht imstande ist, Abnehmer
auf neuen Märkten zu finden, führt die Erhöhung des Maschinenwerts auf
Kosten des Arbeitswerts zu einem Rückgang der Profitrate.
Mit der Arbeitswerttheorie kann man jedoch noch etwas anderes erklären:
Sie zeigt, was geschieht, wenn Produkte und neue Prozesse ohne jeglichen
Arbeitseinsatz erzeugt werden können.
Bevor wir uns diesem Thema zuwenden, müssen wir uns allerdings noch mit
der alternativen Preistheorie der Mainstream-Ökonomie auseinandersetzen,
der sogenannten »Grenznutzentheorie«.
Die Abkehr von der Zukunft

Wie Marx gingen auch die Gründer der herrschenden Volkswirtschaftslehre


von einer Kritik an Ricardo aus. Sie hielten seine Erklärung des Profits für
widersprüchlich und bezweifelten, dass seine Theorie repariert werden konnte.
Daher wandten sie sich einem anderen Gebiet zu und verlegten sich darauf,
beobachtbare Bewegungen von Preisen, Angebot und Nachfrage,
wirtschaftlichen Renten, Steuern und Zinsen zu untersuchen.
Das Ergebnis ihrer Studien war die Grenznutzentheorie. Diese besagt, dass
nichts an sich wertvoll ist. Der Wert eines Wirtschaftsguts hängt ausschließlich
davon ab, was der Käufer in einem gegebenen Augenblick dafür zu zahlen
bereit ist. Léon Walras, einer der Begründer der Grenzkostenschule, erklärte:
»Die Verkaufspreise von Produkten werden abhängig von ihrem Nutzen und
ihrer Menge […] auf dem Markt bestimmt. Andere Bedingungen sind nicht zu
berücksichtigen; dies sind die notwendigen und ausreichenden
Bedingungen.«17
Diese »Nutzentheorie« des Werts galt seit den Tagen von Adam Smith als
veraltet. Dass sie zu neuem Leben erwachte, verdankte sie der Tatsache, dass
sie um das Konzept der Marginalität ergänzt wurde. »Der Wert wird nicht vom
durchschnittlichen, sondern vom letzten oder marginalen Nutzen bestimmt«,
schrieb William Smart, ein englischer Ökonom, der zur Verbreitung der
Theorie beitrug.18 »Marginal« bedeutet einfach, dass der Wert nicht im ganz
allgemeinen Nutzen eines Produkts steckt, sondern in dem Nutzen einer
zusätzlichen Einheit dieses Produkts. Daher ist die letzte Ecstasy-Tablette, die
man in der Diskothek ergattern kann, wertvoller als alle anderen.
Die Vertreter der Grenznutzenschule reduzierten die Entscheidungen, die
wir beim Kauf eines Produkts fällen, auf folgende Frage: »Brauche ich das
nächste Ding – das nächste Glas Bier, die nächste Zigarette, das nächste
Kondom, den nächsten Lippenstift, die nächste Taxifahrt – mehr als den letzten
Zehn-Euro-Schein in meiner Hosentasche?«
William Stanley Jevons, der englische Pionier dieser Schule, zeigte, dass
diese Urteile über den Nutzen – die er als Wahl zwischen Genuss und Schmerz
verstand – berechnet werden konnten. Eine gleitende Skala der
augenblicklichen Preise war das Einzige, was man brauchte, um Angebot und
Nachfrage zu bestimmen. Der Wert konnte in seinen Augen nur als
»Tauschverhältnis« ausgedrückt werden, und er schlug vor, vollkommen auf
den Begriff »Wert« zu verzichten.
Auf den ersten Blick schien es den Vertretern der Grenznutzenschule darum
zu gehen, die Ökonomie aus der Umklammerung der Philosophie zu befreien.
Walras erklärte, man könne den Kapitalismus nicht mit dem Argument
verteidigen, er sei »natürlich«. Die einzige Rechtfertigung könne darin
bestehen, dass er effizient sei und den Wohlstand erhöhe.
Die Grenznutzentheorie enthält jedoch eine ideologische Aussage: Sie
behauptet, der Markt sei »rational«. Walras hielt den Gedanken nicht aus, dass
die wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten unabhängig vom menschlichen Willen
wirkten. Das lief darauf hinaus, die Ökonomie wie die Zoologie zu betreiben
und den Menschen als Tier zu betrachten. »Neben den vielen blinden und
unausweichlichen Kräften des Universums«, erklärte er, »gibt es eine Kraft, die
sich ihrer selbst bewusst und unabhängig ist, nämlich den menschlichen
Willen.«19 Die neue Wirtschaftswissenschaft musste seiner Meinung nach
davon ausgehen, dass der Markt ein Ausdruck unseres kollektiven rationalen
Willens sei. Aber sie sollte mathematisch sein und sich von ihren ethischen
und philosophischen Wurzeln lösen, um alle Fälle anhand abstrakter Modelle
in idealisierter Form zu betrachten.
Die Grenznutzentheorie leistete einen bedeutenden Beitrag: Sie zeigte, dass
Märkte, auf denen ein freier und vollkommener Wettbewerb herrscht, ein
»Gleichgewicht« finden werden. Walras war derjenige, der ein
demonstrierbares Gesetz dazu formulierte: Da jeder Preis das Ergebnis der
Entscheidung eines rationalen Individuums ist (das vor der Wahl steht, den
Lippenstift zu kaufen oder die zehn Euro zu behalten), besteht die rationale
Entscheidung darin, auf den Kauf zu verzichten, sobald das Angebot knapp
wird. Umgekehrt wird es dann, wenn das Angebot größer wird, rational, ein
Produkt zu wollen und zu entscheiden, welchen Preis man dafür zu zahlen
bereit ist. Dieser Theorie zufolge erzeugt das Angebot die Nachfrage, und ein
freier Markt wird so lange zwischen beiden vermitteln, bis die Nachfrage dem
Angebot entspricht. Im Lauf dieses Prozesses ändert sich der Preis.
Wie Marx arbeitete auch Walras auf einer sehr abstrakten Ebene. Sein
Modell beruht auf der Annahme, dass alle Akteure über vollkommene
Information verfügen, dass es keine Unsicherheit bezüglich der Zukunft gibt
und dass der Markt nicht von äußeren Faktoren (wie Monopolen,
Gewerkschaften, Einfuhrzöllen usw.) beeinflusst wird. Diese Abstraktionen
sind legitim, solange man nicht behauptet, dass sie die Realität abbilden. Die
Frage ist: Ist der Grenznutzen die richtige Abstraktion?
Einen ersten Hinweis darauf, dass er nicht die richtige ist, lieferte der
Umgang der Grenznutzenschule mit Krisen. Die Verfechter dieser Theorie
waren so felsenfest von der inneren Tendenz des Kapitalismus zum
Gleichgewicht überzeugt, dass sie annahmen, Krisen müssten das Ergebnis
nichtwirtschaftlicher Faktoren sein. Jevons behauptete allen Ernstes, die Lange
Depression (1873-93) sei einfach die jüngste in einer langen Reihe von
Schwankungen, die durch Sonnenflecken verursacht worden seien.20
Die heutige Volkswirtschaftslehre beruht auf den Entdeckungen der
Grenznutzenschule. Aber im Bemühen, die politische Ökonomie durch die
Mathematik zu ersetzen, begründeten die Verfechter der Grenznutzentheorie
eine Disziplin, die den Produktionsprozess ausblendete. Sie reduzierten die
Psychologie des wirtschaftlichen Austauschs auf eine zweidimensionale
Abwägung zwischen Genuss und Schmerz und gestanden der Arbeit keine
besondere Rolle zu.[3] Sie lehnten die Möglichkeit ab, die wirtschaftlichen
Gesetzmäßigkeiten könnten unabhängig vom rationalen Willen der Menschen
auf einer nicht beobachtbaren, tieferen Ebene wirken, und reduzierten alle
wirtschaftlichen Akteure auf Händler, womit sie Klassen- und andere
Machtbeziehungen ignorierten.
In ihrer reinsten Form leugnete die Grenznutzentheorie nicht nur die
Möglichkeit der Ausbeutung, sondern auch den Profit als spezifisches
Phänomen. Im Profit sahen sie einfach die Belohnung für den Nutzen von
etwas, das der Kapitalist anbot: Dies war seine Sachkenntnis – oder in späteren
Formen der Theorie sein Verzicht, das heißt der »Schmerz«, den er beim
Anhäufen seines Kapitals spürte. Die Grenznutzentheorie war also
ausgesprochen ideologisch. Sie war blind für die Probleme von Verteilung und
Klasse – von dieser Blindheit hat sich die Ökonomie immer noch nicht erholt –
und zeigte nicht das geringste Interesse an dem, was am Arbeitsplatz vorging.
Die Grenznutzentheorie entstand, weil Unternehmensleiter und Politiker
eine Form von Wirtschaftswissenschaft brauchten, die über die Buchhaltung
hinausging, aber keine Geschichtstheorie war. Diese Theorie sollte genau
beschreiben, wie das Preissystem funktionierte – und dabei Fragen der
Klassendynamik und der sozialen Gerechtigkeit vollkommen außer Acht
lassen.
Der österreichische Ökonom Carl Menger fasste die Beweggründe für die
Grenznutzentheorie in einem berühmten Angriff auf Smith und Ricardo
zusammen. Er erklärte, sie seien lediglich »auf die Wohlfahrt des abstracten
Menschen, der Entfernten, der noch nicht Existierenden, der Künftigen
bedacht« gewesen und hätten »in diesem Streben nur allzu oft die lebendigen,
berechtigten Interessen der Gegenwart« übersehen. Menger meinte, Ziel der
Ökonomie müsse es sein, die Realität zu untersuchen, die der Kapitalismus
spontan hervorbringe, und sie gegen eine »einseitig rationalistische
Neuerungssucht« zu verteidigen, die »gegen die Absicht seiner Vertreter
unausweichbar zum Socialismus führt«.21
Die auf die Gegenwart fixierten Vertreter der Grenzkostenschule, die eine
feindselige Haltung gegenüber der Zukunft einnahmen, entwickelten ein
Modell, das sich sehr gut eignete, um alle Formen des Kapitalismus zu
verstehen, die sich nicht verändern und nicht sterben.
Leider gibt es keine solchen Formen.
Warum das bedeutsam ist …

Aber warum sollen wir uns in unserer Zeit der gewaltigen Datenmengen, in
der Ära von Spotify und Hochfrequenzhandel, mit einer Debatte aus dem
19. Jahrhundert herumschlagen?
Nun, zunächst einmal erklärt sie die Starrköpfigkeit der zeitgenössischen
Ökonomie angesichts systemischer Risiken. Der Ökonom Steve Keen meint, die
gegenwärtige Grenznutzentheorie habe zum Zusammenbruch beigetragen,
indem sie alles auf die Doktrin der »effizienten Märkte« reduziert habe. Die
Mainstream-Ökonomie habe »eine bereits erschütterte Gesellschaft noch
schlimmer gemacht: ungleicher, instabiler und weniger ›effizient‹«.22
Es gibt noch einen zweiten Grund für die Auseinandersetzung mit dieser
Frage. Dieser Grund hat damit zu tun, wie wir die Dynamik des
Informationskapitalismus beschreiben. Der Aufstieg der Informationsgüter
stellt die Grundlagen der Grenznutzentheorie infrage: Diese Theorie beruht auf
der Knappheit, aber Information ist im Überfluss vorhanden. Walras sagte es
klipp und klar: »Es gibt keine Produkte, die unbegrenzt vervielfacht werden
können. Alle Dinge, die Teil des sozialen Wohlstands sind […], existieren nur
in begrenzter Menge.«23
Erzählen Sie das einmal den Machern von Game of Thrones: Die zweite Folge
der vierten Staffel wurde 2014 innerhalb von 24 Stunden von 1,5 Millionen
Konsumenten illegal heruntergeladen.24
Informationsgüter existieren in potenziell unbegrenzter Menge, und wenn
das der Fall ist, liegen die realen Grenzkosten der Produktion bei null.
Obendrein sinken auch die Grenzkosten einiger physischer
Informationstechnologien (Speichermedien und Drahtlosbandbreite) gegen
null. Gleichzeitig steigt der Informationsgehalt anderer physischer Güter,
womit es wahrscheinlicher wird, dass die Produktionskosten weiterer
Wirtschaftsgüter abstürzen werden. All das höhlt den Preismechanismus aus,
den die Grenznutzentheorie so schön beschreibt.
In der gegenwärtigen Volkswirtschaft gibt es sowohl knappe als auch im
Überfluss vorhandene Güter. Unser Verhalten ist eine Mischung aus
eigennützigen Vergnügen-oder-Schmerz-Entscheidungen einerseits und Teilen
sowie Kooperation andererseits, was in den Augen der Grenznutzenschule
einem Sabotageakt gleichkommt.
Aber in einer ausgereiften Informationsökonomie, in der ein Großteil des
Nutzens vom Wissen geliefert wird und physische Güter relativ reichlich
vorhanden sind, wird sich der von der Grenznutzentheorie beschriebene
Preismechanismus auflösen. Da es sich bei der Grenznutzentheorie um eine
reine Preistheorie handelt, ist sie einer Welt kostenloser Produkte, gemeinsam
genutzter wirtschaftlicher Räume, der Nicht-Marktorganisationen und der
Produkte, die niemandes Eigentum sind, nicht gewachsen.
Die Arbeitswerttheorie im Sinne von Marx hingegen kann eine solche Welt
verstehen. Implizit sagt diese Theorie sogar ihre eigene Abdankung voraus. Sie
prophezeit nämlich einen Zusammenstoß zwischen den sozialen Verhältnissen,
welche die Produktivität bestimmen, und der Produktivität selbst.
Die marxsche Arbeitswerttheorie prognostiziert, dass die Automatisierung
den notwendigen Arbeitseinsatz derart verringern kann, dass die Arbeit
optional werden wird. Nützliche Dinge, die mit verschwindend geringem
Arbeitsaufwand erzeugt werden können, werden wahrscheinlich gratis sein,
gemeinsam genutzt werden und allen gemeinsam gehören, sagt Marx. Und er
hat recht.
Karl Marx und die Informationsmaschinen

Sehen wir uns das an, was Marx als »Wertgesetz« bezeichnet. Der Preis jedes
Wirtschaftsguts spiegelt die Gesamtmenge der Arbeit wider, die aufgewendet
wurde, um es zu erzeugen. Produktivitätssteigerungen werden durch die
Einführung neuer Prozesse, Maschinen und Organisationsformen erreicht –
und all diese Dinge kosten etwas, nämlich die Menge an Arbeit, die
aufgewendet werden musste, um sie zu entwickeln. In der Praxis vermeidet der
Kapitalismus, dass die Innovation den Arbeitsgehalt der Wirtschaft verringert
und damit die Quelle des Profits austrocknen lässt, indem er neue Bedürfnisse,
neue Märkte und neue Industrien schafft, in denen die Arbeitskosten hoch
sind, so dass die Arbeitskräfte genug Geld verdienen, um die erzeugten Güter
konsumieren zu können.
Die Informationstechnologie ist nur das jüngste Ergebnis eines
Innovationsprozesses, der seit 250 Jahren läuft. Informationen verleihen diesem
Prozess jedoch eine neue Dynamik. Denn die Informationstechnologie bringt
Maschinen hervor, die nichts kosten, ewig halten und nicht zusammenbrechen.
Würde man dem Fabrikbesitzer in Bangladesch eine Nähmaschine anbieten,
die ewig hält, so würde der Mann sicher ziemlich große Augen machen und
sich an seinem Frühstück verschlucken. Software kauft er allerdings, ohne groß
darüber nachzudenken. Und Software ist eine Maschine, die ewig hält. Zwar
kann sie durch neuere Software überflüssig gemacht werden, aber die Welt ist
voll von alter Software, die ewig laufen könnte, wenn es noch Hardware gäbe,
die man mit ihr betreiben könnte.
Sind die Entwicklungskosten einmal angefallen, so sinken die Kosten für die
Produktion von Software auf die Kosten der Speicher- oder
Übertragungsmedien, das heißt auf die Kosten der Festplatte oder des
Breitbandnetzes. Dazu kommen die Kosten für Aktualisierung und Wartung.
Und diese Kosten sinken dramatisch. Vor zehn Jahren kostete es 1 Dollar,
eine Million Transistoren auf einen Siliziumchip zu drucken. Heute kostet das 6
Cent. Im selben Zeitraum sind die Kosten eines Gigabytes Speicherplatz von 1
auf 0,03 Dollar gesunken. Ein Megabit Breitbandverbindung kostete im Jahr
2000 rund 1000 Dollar. Heute bekommt man sie für 23 Dollar. Die
Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsfirma Deloitte, die diese Berechnungen
angestellt hat, bezeichnet den Preisverfall bei Informationstechnologien, die
heute zur Grundausstattung gehören, als exponentiell: »Die gegenwärtige
Geschwindigkeit des technologischen Fortschritts ist beispiellos in der
Geschichte, und es gibt keinerlei Hinweise auf eine Verlangsamung wie bei
früheren technologischen Innovationen, etwa der Elektrizität.«25
Es ist mittlerweile üblich, Information als »immateriell« zu betrachten.
Norbert Wiener, einer der Väter der Informationstheorie, erklärte:
»Information ist Information, weder Materie noch Energie. Kein Materialismus
der dieses nicht berücksichtigt, kann heute überleben.«26
Das ist ein Irrtum. Im Jahr 1961 bewies der IBM-Physiker Rolf Landauer,
dass Information sehr wohl materiell ist.27 Er schrieb: »Information ist keine
körperlose abstrakte Einheit. Sie ist immer an eine physikalische Darstellung
gebunden. Damit ist der Umgang mit Informationen an die Möglichkeiten und
Beschränkungen unserer realen physikalischen Welt, an die Gesetze der Physik
und an den Vorrat verfügbarer Ersatzteile gebunden.«28
Landauer wies nach, dass die Informationsverarbeitung Energie verbraucht
und dass es möglich sein sollte, den Energieaufwand für die Löschung eines
»Informationsbits« zu messen. Im Jahr 2012 baute ein Forscherteam ein
winziges physisches Modell und demonstrierte das »Landauer-Prinzip«.29
Information ist also ein Produkt, dessen Erzeugung Energie verbraucht und
das als Materie existiert. Bits nehmen in der Realität Raum ein: Sie verbrauchen
Strom, geben Wärme ab und müssen irgendwo gespeichert werden. Googles
berühmte »Wolke« füllt in Wahrheit einen Serverpark, der ein Gebiet von
mehreren Hektar einnimmt und aufwändig gekühlt werden muss.
Aber eines erkannte Wiener richtig: Das Produkt eines Rechenprozesses in
einem Computer unterscheidet sich qualitativ von anderen materiellen
Produkten.
Das eigentliche Wunder der Information ist nicht, dass sie immateriell ist,
sondern dass sie das Erfordernis menschlicher Arbeit in unkalkulierbarem Maß
verringert. Die Information tut alles, was eine Maschine tut: Sie ersetzt billige
ungelernte durch qualifizierte Arbeitskräfte, sie beseitigt das Erfordernis von
Arbeit in manchen Tätigkeiten vollkommen, und sie ermöglicht neue
Tätigkeiten, die keine frühere Form von Arbeit bewältigt hätte. Von einem
Computer erzeugte neue Informationen haben einen Nutzen, der den seiner
Bauteile bei weitem übersteigt.
Die Menge des in Informationsgütern enthaltenen Arbeitswerts kann
allerdings verschwindend gering sein. Und wenn das Wissen einmal wirklich
gesellschaftlich wird – was Marx anhand des Konzepts des »allgemeinen
Verstands« beschrieb –, wird ein Teil des Werts kostenlos beigesteuert:
– Informationsgüter nutzen auf natürliche Art die allgemeinen
wissenschaftlichen Kenntnisse.
– Die Nutzer speisen in Echtzeit kostenlose Daten ein, mit denen diese
Informationsgüter verbessert werden können.
– Jede an einem beliebigen Ort vorgenommene Verbesserung kann
augenblicklich in jeder Maschine an jedem anderen Ort der Welt
übernommen werden.

Ein Beispiel: Das im Jahr 1974 entwickelte und kostenlos veröffentlichte


Internetprotokoll ist kein Produkt, sondern ein »Standard«. Aber es ist kein
Standard wie die Sicherheitsnormen, an die sich eine Textilfabrik halten soll.
Dieses Protokoll ist eher mit dem Stromnetz vergleichbar, aus dem eine Fabrik
ihre Energie bezieht: Es ist materiell nützlich. Und es kostet nichts.
Was geschieht, wenn man einige dieser kostenlosen Maschinen in die
Arbeitswerttheorie einfügt? Wie sich herausstellt, hat sich Marx tatsächlich
Gedanken darüber gemacht.
In den Grundrissen erklärt er: Wenn die Herstellung einer Maschine Arbeit
im Wert von 100 Tagen kostet und diese Maschine nach 100 Tagen abgenutzt
ist, erhöht sie die Produktivität nicht. Sehr viel besser ist eine Maschine, die 100
Arbeitstage kostet, aber erst nach 1000 Tagen abgenutzt ist. Je haltbarer die
Maschine, desto geringer der Teil ihres Werts, der auf jedes einzelne mit ihr
erzeugte Produkt übergeht. Führt man diesen Gedanken zu Ende, so wäre es
ideal, eine Maschine zu haben, die sich nie abnutzt oder kostenlos ersetzt
werden kann. Marx erkannte, dass beide Maschinen wirtschaftlich dasselbe
sind: »Könnte das Kapital das Produktionsinstrument ohne Kosten, für 0
haben, was wäre die Folge?« Der Mehrwert würde erhöht, »ohne daß es dem
Kapital das geringste kostete«. Marx beschreibt zwei Arten, wie dem Kapital
schon im 19. Jahrhundert eine solche kostenlose Erhöhung des Mehrwerts
gelang: durch eine Neuanordnung der Arbeitsabläufe und durch
wissenschaftlichen Fortschritt. Marx fährt fort: »Dauerte die Maschine ewig,
bestünde sie nicht selbst aus vergänglichem Material, das reproduziert werden
müßte, […] so entspräche sie am vollständigsten ihrem Begriffe.«30
Angesichts dieser brillanten Erkenntnis, die im Jahr 1858 im Licht einer
Gaslampe niedergeschrieben wurde, müssten uns Schauer der Ehrfurcht über
den Rücken laufen: Die ideale Maschine ist aus einem Stoff gemacht, der sich
nicht abnutzt und nichts kostet. Marx spricht hier nicht über immaterielles,
sondern über nichttransitorisches Material, das heißt über etwas, das keinerlei
Verschleiß kennt.
Maschinen, bei denen Teile des Werts kostenlose Inputs an
gesellschaftlichem Wissen und wissenschaftlichen Erkenntnissen sind, die
öffentlich zur Verfügung stehen, sind der Arbeitswerttheorie nicht fremd. Im
Gegenteil: Sie sind ein zentraler Bestandteil dieser Theorie. Aber Marx glaubte,
dass sie, wenn sie in großer Zahl existierten, das auf dem Arbeitswert
beruhende System »in die Luft sprengen« würden, wie er es im
»Maschinenfragment« ausdrückte.
Das Beispiel, das Marx in den Grundrissen verwendet, verdeutlicht das: Eine
Maschine, die ewig währt oder ohne Arbeitsaufwand erzeugt werden kann,
kann keine Arbeitsstunden zum Wert der von ihr erzeugten Produkte
hinzufügen. Wenn eine Maschine ewig hält, überträgt sie von diesem
Augenblick bis in die Ewigkeit einen Arbeitswert von nahezu null auf das
Produkt, womit der Wert jeder mit ihr erzeugten Einheit sinkt.[4]
Natürlich halten physische Maschinen in der Realität noch nicht ewig. In
den letzten fünfzehn Jahren haben wir allerdings Maschinen gesehen, deren
Nutzen auf den Informationen beruht, die verwendet werden, um sie zu
betreiben, zu entwerfen oder zu bauen. Und nur die Arbeitswerttheorie kann
richtig beschreiben, was es wirtschaftlich bedeutet, wenn die Welt der
materiellen Objekte von Information belebt wird.
Wenn Maschinen denken

Im Jahr 1981 arbeitete ich ein paar Monate in einer kleinen


Maschinenbaufabrik am River Mersey. Ich bediente eine Presse, die teils mit
Strom, teils mit Druckluft betrieben wurde: Zog man an einem Hebel, sauste
ein Maschinenwerkzeug auf eine Metallscheibe herab und presste sie in eine
Form. Meine Arbeit bestand darin, die Scheibe auf die Platte zu legen, den
Hebel umzulegen und meine Hand rechtzeitig wegzuziehen. Es war ungelernte
Arbeit. Ich wiederholte den Vorgang etwa zehnmal in einer Minute, und
zahlreiche Werkstücke kamen fehlerhaft aus der Maschine. Sie hatte keinerlei
Regelungsmechanismus, und abgesehen von diesem einen Umformvorgang
war nichts automatisiert.
Ich war zwei Maschineneinrichtern unterstellt, angelernten Arbeitern, deren
Aufgabe es war, die Metallpresse alle paar Stunden zu justieren und
Reparaturen vorzunehmen. Im angrenzenden Raum bauten Metallarbeiter die
Werkzeuge. Sie sprachen nie mit uns. Aber wir hatten etwas gemeinsam: Ohne
geschickte Hände und einen guten Blick für Mängel, Gefahren und fehlerhafte
Abläufe hätte die Fabrik nicht funktioniert.
Mittlerweile sind die Metallpressverfahren fast vollständig automatisiert.
Der Ablauf wird zunächst am Computer simuliert, der Tausende Datenpunkte
auf dem Metall modelliert, um festzustellen, welchen Belastungen es ausgesetzt
ist. Anschließend wird ein 3-D-Design direkt in den Computer eingegeben, der
die Maschine steuert. Die Form und das Maschinenwerkzeug sind häufig sehr
viel ausgereifter als das Gerät, mit dem ich im Jahr 1981 arbeitete, und
mittlerweile werden sie mit Laserstrahlen justiert, was die Genauigkeit
beträchtlich erhöht. Wenn etwas schiefgeht, registriert der Computer, der die
Maschine steuert, den Fehler. Kommt das defekte Teil aus der Maschine, so
wird es von einem Roboter ausgesondert, analysiert und je nach Ergebnis an
den richtigen Ort gebracht. Muss etwas am Werkzeug geändert werden, so
übernimmt das ein Roboterarm.
Solche Maschinen können die Arbeit, für die wir damals einen Tag
brauchten, in einer Stunde bewältigen, und zwar ohne Defekte. Es gibt auch
keine Fingerabdrücke auf den Teilen – weil es keine Arbeiter gibt. Ermöglicht
wird das durch verschiedene Anwendungen der Informationstechnologie:
computergestützte Analyse und 3-D-Design im Vorbereitungsprozess, Echtzeit-
Feedback sowie Analysen während des Prozesses und Datensammlung für
weitere Verbesserungen des Vorgangs. Die Forscher konzentrieren sich
mittlerweile auf die Frage, wie auch die Produktion der Werkzeuge
automatisiert werden kann, und machen mit Computermodellen sogar ihre
eigene Designarbeit teilweise überflüssig.
Die Maschine steckt voller Information, und dasselbe gilt für das Produkt: In
automatisierten Fabriken müssen selbst kleinste Teile durch Markierungen und
Nummern individuell identifizierbar sein. Die Presse übernimmt auch diese
Aufgabe.
In der Metallbearbeitung, einer der grundlegenden industriellen Aktivitäten,
hat also eine Revolution stattgefunden. Doch niemand hat sich die Mühe
gemacht, sich theoretisch mit dieser Revolution auseinanderzusetzen – die
wissenschaftliche Literatur zur automatisierten Metallpresse findet man in der
Bibliothek der technischen Hochschule, nicht in der der
wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät.31
Der Grund dafür ist, dass niemand weiß, wie der Wert der Information
wirtschaftlich gemessen werden kann. Man kann sehen, wie sich der Kauf
einer automatisierten Metallpresse auf das Betriebsergebnis auswirkt, und man
kann die 3-D-Designs und Computerprogramme als Vermögenswerte
einstufen. Aber wie die Studie des SAS Institute gezeigt hat, sind das im
Grunde nur Vermutungen.
Mit der Arbeitswerttheorie können wir den Wert der Information besser
bestimmen. Dank dieser Theorie können wir uns Software als eine Maschine
vorstellen, und die Information (3-D-Designs, Programme,
Überwachungsberichte) können wir genau wie Werkzeuge und Werkstücke als
vergegenständlichte Arbeit betrachten. Und anhand der Arbeitswerttheorie
können wir den Prozess nachverfolgen, in dem diese »Null-Grenzkosten«-
Logik sich auch auf die Welt der physischen Produkte und der Maschinen
auswirkt, mit denen diese Güter erzeugt werden.
Das Metallwerk, in dem ich Anfang der achtziger Jahre arbeitete,
beschäftigte vielleicht fünfundzwanzig Arbeiter. Heute würde man für einen
vergleichbaren Betrieb keine fünf Mitarbeiter brauchen. Der Grund dafür sind
Software, Lasersensoren und Robotik.
Der Wert dieser Industriesoftware beruht zur Gänze auf dem Patentschutz,
der verhindert, dass sie kostenlos vervielfacht werden kann. Aber obwohl diese
Software schwerer zu stehlen ist als ein Film, ist das Prinzip dasselbe: Die
Reproduktion von Industriesoftware kostet nichts. Zusätzlicher Wert entsteht
dadurch, dass sie bestimmten Maschinen und Prozessen angepasst wird.
Obwohl eine Maschinenwerkstatt heute genauso riecht und klingt wie vor
dreißig Jahren, ist der Unterschied so groß wie der zwischen einem iTunes-
Song und einer Schallplattenaufnahme.
Kostenlose Maschinen in einer gelenkten Volkswirtschaft

Wir haben gesehen, was geschieht, wenn man Produkte mit Null-Grenzkosten
in das Preismodell einführt: Es zerfällt. Sehen wir uns an, was geschieht, wenn
man kostenlose Maschinen in den Zyklus der Kapitalinvestitionen einführt.
Im Interesse der Verständlichkeit werde ich ein extrem vereinfachtes Modell
verwenden, wobei ich mir der Gefahren der übermäßigen Vereinfachung
durchaus bewusst bin.
Nehmen wir an, wir haben eine Tabelle mit vier Zeilen (und Spalten für die
einzelnen Jahre), in der die wirtschaftlichen Inputs, gemessen am Arbeitswert,
modellhaft dargestellt werden. Nehmen wir an, dass die Inputs in Millionen
Arbeitsstunden angegeben werden. Und wir wollen annehmen, dass die Arbeit
in Jahr 1 wie folgt auf das Endprodukt übertragen wird:
– Kapital: 200
– Energie: 200
– Rohmaterial: 200
– Arbeit: 200

Betrachtet man diese vier Faktoren unter dem Gesichtspunkt der anfallenden
Kosten, unterscheiden sich die Maschinen insofern von den anderen, als die
Kosten für Arbeit, Rohstoffe und Energie in der Regel jährlich anfallen,
während eine Maschine in einem bestimmten Jahr gekauft wird; ihr Wert wird
dann über die Folgejahre abgeschrieben.
Nun werden wir mit der Kapital-Zeile eine drastische Operation
durchführen: Nehmen wir an, dass sie für eine einzige Maschine steht, die ewig
hält. In der Arbeitswerttheorie sinkt der aus der Kapital-Zeile übertragene
Arbeitswert damit auf null, und zwar für immer. Gleichgültig, wie viele
Stunden ursprünglich aufgewendet wurden, um die Maschine zu erzeugen:
Wenn sie sich nie abnutzt, überträgt sie fast keinen Wert – denn auch eine
Milliarde geteilt durch »ewig« ist gleich null.
Die insgesamt von allen Produktionsfaktoren übertragenen Arbeitsstunden
sinken also auf 600 Stunden (aufmerksame Marxisten werden bemerken, dass
ich den Profit nicht berücksichtigt habe, aber dazu kommen wir gleich).
Jetzt fügen wir den Faktor Zeit in die Tabelle ein, ergänzen weitere Spalten
und gehen sie nach und nach durch: In Periode 2 wirkt sich der Umstand, dass
in der Kapital-Zeile »0« steht, auch auf die anderen Zeilen aus und verringert
so die Zahl der auf das Endprodukt übertragenen Arbeitsstunden weiter. Das
liegt daran, dass die für die Reproduktion der Arbeitskraft benötigten Stunden
verringert werden (etwa weil die Nahrungsmittel, welche die Arbeiter
konsumieren, ebenfalls billiger werden, da sie mit ewig haltenden Maschinen
produziert werden). Lässt man das Modell weiterlaufen, ohne etwas zu tun, um
dem Druck auf die Arbeitsinputs entgegenzuwirken, liegen bald nicht nur die
Kapitalkosten bei null, sondern auch die Kosten von Arbeit und Rohmaterial
sinken rasch. Natürlich halten die Maschinen in der realen Wirtschaft nicht
ewig. Aber da ihr Informationsgehalt steigt, zirkuliert ein Teil der für ihre
Erzeugung aufgewendeten Arbeit nicht mehr wie früher. Der Wert
verschwindet.
Gehen wir nun in unserer Tabelle ganz nach rechts, zu einem Zeitpunkt also,
bis zu dem nicht nur die Grenzkosten der Reproduktion des Kapitals bei null
liegen, sondern auch die der Reproduktion der Arbeitskraft gegen null
gesunken sind. Arbeit wird jetzt im Wesentlichen für die Bereitstellung von
Energie und Rohmaterial aufgewendet. Geschähe dies in der Realität, so könnte
das Preissystem, da das Wertgesetz unter der Oberfläche wirkt, weiter wie
normal funktionieren und versuchen, den Grenznutzen der Güter zu
berechnen. Die Unternehmen könnten auf den Preisverfall mit dem Versuch
reagieren, Monopolpreise durchzusetzen und auf diese Art zu verhindern, dass
der in der Maschine und ihrem Produkt enthaltene Wert gegen null sinkt. Doch
die Mainstream-Ökonomie wäre ratlos: Sie hätte den Eindruck, als würden
große Teile der wirtschaftlichen Aktivität »gestohlen« und dem normalen
Markt entzogen.
Obwohl wir noch weit von der reinen Informationsökonomie entfernt sind,
die ich in diesem einfachen Modell dargestellt habe, sehen wir diese Effekte
bereits in der Realität: Es entstehen Monopole, die verhindern sollen, dass
Software oder Informationsgüter kostenlos werden, und die
Buchführungsstandards geraten durcheinander, da die Unternehmen bei der
Bewertung ihrer Vermögenswerte auf Vermutungen angewiesen sind. Es gibt
Versuche, den Anstieg der Arbeitseinkommen zu erhöhen, während die
meisten Inputs mittlerweile mit geringerem Arbeitsaufwand erzeugt werden
können.
In der ersten makroökonomischen Studie über das Internet räumte die
OECD im Jahr 2013 ein: »Offenkundig wirkt sich das Internet nachhaltig auf
Markttransaktionen und Wertschöpfung aus, aber seine Auswirkungen auf die
Nicht-Markt-Interaktionen […] sind noch tiefgreifender. Charakteristisch für
die Nicht-Markt-Interaktionen im Internet ist das Fehlen eines Preis- und
Gleichgewichtsmechanismus.« Die Grenznutzentheorie liefert keine Maßstäbe,
kein Modell, das uns helfen könnte zu verstehen, wie sich eine auf Preisen
beruhende Wirtschaft in eine verwandelt, in der es keine Preise mehr gibt. Wie
es die OECD-Forscher ausdrücken: »Den Nicht-Markt-Interaktionen wurde
bisher wenig Aufmerksamkeit gewidmet, da es kaum allgemein anerkannte,
gut definierte und fundierte Maßstäbe für ihre Beurteilung gibt.«32
Wir wollen also zugeben, dass wir nur anhand der Grenznutzentheorie
Preismodelle für eine kapitalistische Wirtschaft entwickeln können, in der alle
Güter knapp sind. Umgekehrt dürfen wir behaupten, dass wir nur anhand der
Arbeitswerttheorie Modelle entwickeln können, die zeigen, wie die Null-
Kosten ausgehend von der Information auf Maschinen und Produkte und
schließlich auf die Arbeitskosten übergreifen.
Sobald man kostenlose Maschinen und Produkte in ein Modell des
Kapitalismus mit kontinuierlichem Zeitverlauf einspeist – und sei es ein
rudimentäres wie dieses –, macht man ebenso faszinierende Entdeckungen wie
bei der Einführung der Zahl Null in die Mathematik.
Eigentlich sollte unsere vierzeilige Tabellenkalkulation um die Rubrik
»Profit« erweitert werden, und die Werte sollten nicht einfach sinken, sondern
einen Anstieg des BIP (beispielsweise um drei Prozent pro Jahr) beinhalten.
Doch was geschieht, wenn wir Profit und Wachstum ergänzen? Sobald der
Null-Grenzkosten-Effekt einsetzt, wären gewaltige Profite und ein hohes
Wachstum erforderlich, um die Auswirkungen auf die Arbeitskosten
wettzumachen. Mit anderen Worten: Wir bräuchten eine neue industrielle
Revolution alle fünfzehn Jahre, ein rasantes nominelles Wachstum und noch
größere Monopolunternehmen.
Aber das ist unmöglich.
Der Kapitalismus funktionierte, solange er angesichts sinkender Kosten in
einem Sektor infolge der technologischen Innovation zu Sektoren mit höheren
Löhnen, höheren Profiten und teureren Inputs übergehen konnte. Der
Kapitalismus reproduziert sich jedoch nicht selbst, wenn das Ergebnis Null-
Kosten sind.
Unser vereinfachtes Modell zeigt auch deutlich, wie sich die wirtschaftliche
Aktivität in einer Volkswirtschaft mit Produktionskosten von null rasch auf
Energie und Rohstoffe konzentriert: In diesem Sektor herrscht immer noch
Knappheit.
Später werden wir uns mit der Frage befassen, wie solche Modelle, die
Aufschluss über das Verschwinden des Arbeitswerts geben, die Gestaltung
tatsächlicher Strategien für die Transition zum Postkapitalismus ermöglichen
können und wie die Energie in solche Modelle passt. Aber zunächst sollten wir
uns ansehen, wie der Kapitalismus sich verwandeln könnte, um auf diese
wirtschaftlichen Herausforderungen zu reagieren.
Wie würde der Informationskapitalismus aussehen?

Der Aufstieg der kostenlosen Information und der freien Maschinen ist etwas
Neues. Aber die Verbilligung der Inputs durch Produktivitätserhöhungen ist so
alt wie der Kapitalismus selbst. Dass der Kapitalismus keinen stetigen
Niedergang erlebt, liegt daran, dass er neue Märkte und neue Bedürfnisse
schafft und die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit aufbringt, um diese
Bedürfnisse zu erfüllen: Wärmende Kluft wird durch Mode ersetzt,
Zeitschriften durch Fernsehgeräte. Dies wiederum erhöht die Menge der in
jeder Maschine, jedem Produkt und jeder Dienstleistung vergegenständlichten
Arbeitszeit.
Würde dieser Reflex auch angesichts der Informationsrevolution richtig
funktionieren, so wäre das Ergebnis ein ausgereifter Informationskapitalismus.
Doch dazu müsste Folgendes geschehen.
Der Preisrückgang der Informationsgüter müsste gebremst werden. Das
kann nur mit Monopolpreisen funktionieren – stellen Sie sich Unternehmen
wie Apple, Microsoft oder Nikon/Canon mit uneingeschränkter Macht vor. Die
Unternehmen müssten in der Lage sein, sich die Externalitäten vollkommen
anzueignen. Aus jeder Interaktion – zwischen Produzent und Konsument,
zwischen Konsumenten, zwischen Freunden – müsste Wert herausgeholt
werden. (Die Arbeitswerttheorie würde sagen, dass unsere Aktivitäten abseits
der Arbeit in Gratisarbeit für die Unternehmen verwandelt werden müssten.)
Der Informationskapitalismus könnte versuchen, die Preise für Energie und
physisches Rohmaterial durch Horten und andere monopolistische Methoden
künstlich hoch zu halten, damit ihre Kosten die durchschnittliche notwendige
Arbeitszeit zur Reproduktion der Arbeit erhöhen. Vor allem müsste er jenseits
der Produktion neue Märkte in den Dienstleistungen schaffen. Die 250-jährige
Geschichte des Kapitalismus ist von dem Bemühen geprägt, die Marktkräfte in
Sektoren zu drängen, in denen es sie vorher nicht gab. Der
Informationskapitalismus müsste diese Methode ins Extrem treiben und
hauptsächlich im Privatsektor neue Formen von Mikrodienstleistungen
zwischen Personen hervorbringen, die mit Mikrozahlungen beglichen würden.
Um sich zu behaupten, müsste der Informationskapitalismus schließlich
Arbeit für Millionen Menschen schaffen, deren Arbeitsplätze automatisiert
werden. Die meisten dieser Tätigkeiten dürften keine Niedriglohnjobs sein,
denn der traditionelle Ausweg besteht darin, die Arbeitskosten zu erhöhen: Das
menschliche Leben muss komplexer werden, und es muss nicht weniger,
sondern mehr Arbeitsinputs erforderlich machen – so wie es in den vier
zyklischen Aufschwüngen geschah, die in der Theorie der langen Zyklen
beschrieben sind.
Wäre all das möglich, so könnte der Informationskapitalismus aufblühen.
Die Bestandteile einer solchen Lösung sind in den modernen Volkswirtschaften
vorhanden: Apple ist der klassische Preismonopolist, Amazons
Geschäftsmodell entspricht der klassischen Strategie zur Aneignung positiver
externer Effekte, die Rohstoffspekulation ist ein klassisches Mittel, um die
Energie- und Rohstoffkosten über ihren Wert hinaus in die Höhe zu treiben.
Der Aufstieg der persönlichen Mikrodienstleistungen – Hundeausführen,
Nagelstudios, persönliche Hausmeister und dergleichen – zeigt, dass der
Kapitalismus Dienste kommerzialisiert, die früher informell oder aus
Freundschaft erbracht wurden.
Aber es gibt unübersehbare strukturelle Hindernisse für den Übergang zu
einer solchen Wirtschaft.
Erstens ist der normale Ausweg – die Innovation bringt teure neue
Technologien hervor, die an die Stelle der Informationstechnologie treten –
blockiert. Die Information ist nicht irgendeine beliebige Technologie, die
auftaucht und wie die Dampfmaschine irgendwann obsolet wird. Sie zwingt
jeder zukünftigen Innovation die Null-Preis-Dynamik auf, sei es in
Biotechnologie, Raumfahrt, Gehirnumbau oder Nanotechnologie – sowie in all
den Branchen, die wir uns nicht einmal vorstellen können. Es gäbe nur eine
Möglichkeit, diese Wirkung der Information auf die kommenden Technologien
zu verhindern: Man könnte wie in Frank Herberts Science-Fiction-Roman Der
Wüstenplanet die Computer verbieten und durch sehr teure menschliche
Rechenexperten ersetzen.
Das zweite Hindernis ist das Ausmaß der Umwälzung auf dem Arbeitsmarkt.
Zu Marx' Zeit gab es in den USA 82 000 Büroangestellte; das waren 0,6 Prozent
der Arbeitskräfte. Im Jahr 1970, kurz vor Beginn der
Informationstechnologierevolution, waren es 14 Millionen, das heißt, fast jeder
fünfte Beschäftigte arbeitete in einem Büro.33 Und obwohl die Automation
zahlreiche Jobs beseitigt hat, die geistige Arbeit erforderten – Bankangestellte,
Stenografen, Bedienpersonal von Rechenmaschinen usw. wurden
wegrationalisiert –, sind »Bürotätigkeiten und Verwaltungsunterstützung« in
den USA mit einem Anteil von 16 Prozent immer noch die größte
Beschäftigungskategorie.34 Danach kommt die Kategorie »Vertrieb«, die
11 Prozent der Beschäftigten umfasst.
Im Jahr 2013 gelangten Forscher der Oxford Martin School in einer Studie zu
dem Ergebnis, dass 47 Prozent aller Arbeitsplätze in den Vereinigten Staaten
von der Automatisierung bedroht seien. Das gilt insbesondere für Verwaltung
und Vertrieb. Die Forscher erwarten in den kommenden zwanzig Jahren zwei
Computerisierungswellen: »In der ersten Welle dürften die meisten
Beschäftigten in Transport und Logistik sowie der Großteil der Büro- und
Verwaltungsangestellten und Arbeiter in der Fertigungsindustrie durch
Computerkapital ersetzt werden.«35
Der zweiten Welle werden alle Tätigkeiten, in denen es auf Fingerfertigkeit,
Beobachtungsgabe und Feedback ankommt, sowie alle Arbeiten auf engem
Raum zum Opfer fallen. Diese Tätigkeiten werden von Robotern übernommen.
Die Forscher gelangten zu dem Schluss, die geringste Gefahr stelle die
Automatisierung für jene Dienstleistungstätigkeiten, in denen
zwischenmenschliche Kompetenz benötigt wird – zum Beispiel für
Pflegeberufe –, sowie für kreative Tätigkeiten dar.
Die Studie löste einen Aufschrei aus. Das Gespenst der Unterkonsumtion
tauchte auf: Die Roboter werden den Kapitalismus zerstören, weil sie
Massenarbeitslosigkeit erzeugen, weshalb der Konsum zusammenbrechen
wird. Die Gefahr ist real. Um sie zu bannen, müsste der Kapitalismus die
Sozialdienste erheblich ausweiten. Wir müssten vieles von dem, was wir heute
kostenlos tun, in bezahlte Tätigkeiten verwandeln. Neben den sexuellen
Dienstleistungen könnten wir »Zuwendungsdienste« aufbauen. Die ersten
derartigen Dienste gibt es bereits: die Mietfreundin, den professionellen
Hundeausführer, die Putzfrau, den Gärtner, den Caterer und den persönlichen
Hausmeister. Reiche Leute sind bereits von solchen postmodernen Dienern
umgeben. Doch um den Verlust der Hälfte aller Arbeitsplätze auszugleichen,
müsste das menschliche Alltagsleben umfassend kommerzialisiert werden.
Und hier stoßen wir auf das dritte Hindernis. Der Sozialphilosoph André
Gorz sprach von den »Grenzen der ökonomischen Vernunft«.36 Auf einer
bestimmten Ebene widersetzen sich das menschliche Leben und die
zwischenmenschlichen Kontakte der Kommerzialisierung. Eine
Volkswirtschaft, in der zahlreiche Menschen Mikrodienstleistungen
füreinander erbringen, ist möglich, aber als eine Form des Kapitalismus wäre
sie ausgesprochen ineffizient und würde kaum Wert schaffen.
Wir könnten die Hausarbeit entlohnen und sämtliche sexuellen Beziehungen
in bezahlte Arbeit verwandeln. Auf dem Spielplatz könnten Mütter einander
zehn Cent für das Anstoßen der Schaukel berechnen. Aber eine solche
Volkswirtschaft würde sich dem technologischen Fortschritt widersetzen.
Als der Frühkapitalismus die Menschen in die Fabriken zwang, musste er
große Teile des Lebens, das außerhalb des Marktes stattfand, strafbar machen:
Wer seinen Arbeitsplatz verlor, wurde als Herumtreiber verhaftet, wer wie
früher im Wald jagte, musste nun damit rechnen, wegen Wilderei hingerichtet
zu werden. Um heute etwas Ähnliches zu bewerkstelligen, müsste man nicht
nur das gesamte Alltagsleben kommerzialisieren, sondern auch den Widerstand
gegen diese Kommerzialisierung unter Strafe stellen. Menschen, die einander
kostenlos küssen, müssten so bestraft werden wie Vagabunden im
19. Jahrhundert. Das ist unmöglich.
Die größte Gefahr, die von der Robotisierung ausgeht, ist also nicht die
Massenarbeitslosigkeit, sondern die Erschöpfung der Fähigkeit des
Kapitalismus, neue Märkte zu schaffen, wenn die alten absterben.
Und dann ist da noch ein weiteres Hindernis: die Eigentumsrechte. Um sich
die positiven Externalitäten in einer von der Information beherrschten
Volkswirtschaft aneignen zu können, muss das Kapital seine
Eigentumsansprüche auf neue Gebiete ausweiten: Es muss sich unsere Selfies,
unsere Playlists und neben unseren veröffentlichten Forschungsarbeiten auch
die Forschung aneignen, die wir dafür betrieben haben. Die Technologie gibt
uns jedoch die Mittel in die Hand, um uns dem zu widersetzen, und verurteilt
diesen Versuch auf lange Sicht zum Scheitern.
Daher kämpft der Informationskapitalismus in Wahrheit ums nackte
Überleben.
Wir sollten mitten in einer dritten industriellen Revolution stecken, aber sie
ist zum Stillstand gekommen. Wer die Gründe für den Stillstand in schlechter
Politik, falschen Investitionsstrategien und der Hybris des Finanzsektors sucht,
verwechselt die Symptome mit der Krankheit. Jene, die versuchen, die
Marktstrukturen zu zähmen, indem sie ihnen kollaborative Normen wie
Creative-Commons-Lizenzen überstülpen, verstehen nicht, wo der springende
Punkt liegt.
Eine auf Wissen beruhende Volkswirtschaft kann aufgrund ihrer Tendenz zu
kostenlosen Produkten und schwachen Eigentumsrechten keine kapitalistische
Volkswirtschaft mehr sein.
Die Arbeitswerttheorie ist nützlich, weil sie dem Rechnung trägt: Sie gibt
uns die Möglichkeit, etwas zu tun, was die Volkswirte der OECD nicht tun
konnten: Wir können denselben Maßstab auf die Produktion innerhalb und
außerhalb des Marktes anwenden. Vor allem aber können wir mithilfe der
Arbeitswerttheorie den Übergang zum Postkapitalismus so gestalten, dass wir
wissen, was wir erreichen wollen: eine Welt, in der die Maschinen nichts
kosten, der Preis grundlegender Güter bei null liegt und die notwendige
Arbeitszeit auf ein Mindestmaß verringert wird.
Die nächste Frage ist: Wer wird dafür sorgen, dass diese Welt Wirklichkeit
wird?
[1]
Sie zeigen, dass die angeblichen logischen Inkonsistenzen in den Berechnungen von Marx
verschwinden, wenn man versteht, dass dieser Prozess nicht – wie in einer einzelnen Spalte einer
Tabellenkalkulation – simultan abläuft, sondern im Lauf der Zeit stattfindet.
[2]
Ein Bestandteil von Marx' Theorie scheint dem gesunden Menschenverstand zu widersprechen:
Muss eine Erhöhung der Produktivität nicht auch die »Qualität« der Arbeit erhöhen? Fast alle neuen
Maschinen und Umgestaltungen des Arbeitsplatzes verleihen unserer Arbeit eine neue Qualität.
Aber wenn man darauf beharrt, dass der Wert der Arbeit nicht von Produktivitätszuwächsen
beeinflusst wird, sagt man lediglich, dass die Produktivität nicht durch eine Änderung der Qualität
der Arbeit an sich, sondern durch Maschinen, Managementtechniken und Wissen erhöht wird. Sie
erhöhen die Wirksamkeit der menschlichen Arbeit, aber diese bleibt im Grunde unverändert.
[3]
Jevons war der Meinung, die Arbeit sei vermutlich eine Mischung aus Vergnügen und Schmerz,
aber die Furcht vor einem größeren Schmerz – dem Hunger – treibe uns jeden Tag zur Arbeit.
[4]
Marx schreibt: »Nimm ein Kapital von 10001. 1/ 5 sei Maschinerie; der Surpluswert der Summe
nach = 50. Der Wert der Maschinerie also gleich 200. Nach 4maligem Umschlage wäre die
Maschinerie bezahlt. Und außerdem, daß das Kapital fortfahren würde, in der Maschinerie
vergegenständlichte Arbeit von 200 zu besitzen, wäre es vom fünften Umschlag an dasselbe, als ob es
mit einem Kapital, das ihm nur 800 kostet, 50 machte.« (Grundrisse, MEW 42, S. 658)
7
Wunderbare Störenfriede

Im Jahr 1980 verkündete der französische Philosoph André Gorz, die


Arbeiterklasse sei tot. Sie sei als soziale Gruppe gespalten und kulturell
enteignet worden und spiele als Agent des gesellschaftlichen Fortschritts keine
Rolle mehr.
Gorz hätte keinen ungünstigeren Zeitpunkt wählen können, um diese These
zu präsentieren. Seit jenem Jahr hat sich die Zahl der Arbeitnehmer weltweit
verdoppelt. Die Verlegung von Arbeitsplätzen in Billiglohnländer, die
Globalisierung und der Eintritt der ehemals sozialistischen Länder in den
Weltmarkt haben die Zahl der Arbeitnehmer auf mehr als drei Milliarden
erhöht. 1 Ein Arbeiter zu sein bedeutet heute etwas anderes als in der
Vergangenheit. Etwa 150 Jahre lang bezeichnete das Wort »Proletarier« vor
allem weiße Männer in den Industrieländern, die körperliche Arbeit
verrichteten. In den letzten dreißig Jahren ist aus dem »Proletariat« eine
ethnisch vielgestaltige, mehrheitlich weibliche Arbeiterschaft geworden, die
überwiegend im Globalen Süden lebt.
In einem gewissen Sinn hatte Gorz allerdings recht: In diesen drei
Jahrzehnten mussten die Gewerkschaften einen deutlichen Rückgang ihrer
Mitgliederzahlen verzeichnen, die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer in der
entwickelten Welt ist geschwunden, und der Anteil der Erwerbseinkommen
am BIP ist gesunken. Das ist die eigentliche Ursache des Problems, das Thomas
Piketty beklagt: Die Arbeitnehmer sind nicht mehr imstande, ihren Anspruch
auf einen möglichst großen Teil des Kuchens durchzusetzen, und das führt zu
wachsender Ungleichverteilung. 2
Neben der materiellen Schwächung hat die Arbeiterbewegung einen
ideologischen Zusammenbruch erlitten. Dieser ist in den Fabriken in Nairobi
und Shenzhen ebenso deutlich zu spüren wie in den heruntergekommenen
Industriestädten Europas und Nordamerikas. Mit dem Kollaps der Sowjetunion
erlitt die Linke eine derart vernichtende politische Niederlage, dass man sich,
wie der Philosoph Fredric Jameson schrieb, eher das Ende der Welt vorstellen
konnte als das Ende des Kapitalismus. 3 Um es schonungslos klar zu sagen: Es
war undenkbar, dass diese Arbeiterklasse, diese desorganisierte Arbeiterklasse,
die dem Konsumismus und Individualismus anheimgefallen war – den
Kapitalismus stürzen könnte.
Die alte Sequenz – Massenstreiks, Barrikaden, Arbeiterräte, Herrschaft der
Arbeiterklasse – wirkt utopisch in einer Welt, in der die größte Stärke der
Arbeiter, die Solidarität, unentschuldigt dem Arbeitsplatz fernbleibt.
Die Optimisten unter den Linken hielten dem entgegen, die Niederlagen
seien einfach zyklisch. Das klang plausibel: In der Geschichte der
Arbeiterbewegung wiederholen sich klare Muster von Entstehung und
Niedergang, die eng mit den Kondratjew-Zyklen zusammenhängen.
Aber die Optimisten haben sich getäuscht. Wir haben es mit einem
strategischen Wandel zu tun. Wer sich an die Vorstellung klammert, nur das
Proletariat könne die gesellschaftliche Entwicklung bis zur Überwindung des
Kapitalismus vorantreiben, der übersieht zwei zentrale Merkmale der
modernen Welt: Der Weg zum Postkapitalismus führt über eine andere Route,
und heute sind alle Menschen auf der Erde potenzielle Agenten der
Veränderung.
Die neue Arbeiterschaft in den Fabriken Bangladeschs und Chinas entsteht
in einem Prozess, der nicht weniger brutal ist als der, den die englischen
Arbeiter vor 200 Jahren durchliefen. Man denke nur an den Vertrag, in dem
sich die Arbeiter in Apples chinesischen Foxconn-Fabriken im Jahr 2010
verpflichteten, sich von der drückenden Arbeitslast nicht in den Selbstmord
treiben zu lassen. 4
Dieses Mal gelingt es der Industrialisierung allerdings nicht, die sozialen und
ideologischen Spinnweben des vorindustriellen Lebens zu zerreißen.
Gewerkschaftsaktivisten stoßen in der südlichen Hemisphäre auf Hindernisse,
die sie nicht überwinden können: auf ethnische Konflikte, das Netzwerk der
Dorfgemeinschaft, religiösen Fundamentalismus und organisiertes Verbrechen.
Und neben diesen alten Problemen taucht ein neues Phänomen auf: Ich
bezeichne es als »größeren Fußabdruck des Individuums«, das sich in der
vernetzten Welt sogar mehrere Identitäten zulegen kann. 5
Vor 25 Jahren spielte diese neue Arbeiterschaft im Globalen Süden,
verglichen mit der Kerngruppe in den westlichen kapitalistischen Ländern,
eine Nebenrolle, aber mittlerweile ist sie selbst in eine Kern- und eine
Randgruppe unterteilt. Als die Internationale Arbeitsorganisation die
Erwerbsbevölkerung in der südlichen Hemisphäre nach Einkommensschichten
analysierte (von fünf US-Dollar am Tag bis zum fünffachen Betrag), stellte sie
fest, dass jeder Schicht derselbe Prozentsatz von Industriearbeitern angehörte,
was bedeutet, dass der moderne Industriesektor sowohl Arbeiter, die in Armut
oder prekären Verhältnissen leben, als auch solche mit höherem Status und
höheren Einkommen enthält. Die Belegschaft einer Fabrik in Nigeria ist
genauso nach Qualifikation und Einkommen unterteilt wie die einer Fabrik in
Köln oder Nashville.
Die alte Arbeiterbewegung lebte vom Zusammenhalt. Sie gedieh in lokalen
Wirtschaftssystemen, die in erster Linie industriell waren, und in
Gemeinschaften mit politischen Traditionen, die den technologischen Wandel
absorbieren und überleben konnten. Der Neoliberalismus hat diese
Gemeinschaften in den entwickelten Ländern gesprengt und ihre Entstehung
in der übrigen Welt erschwert.
Prekäre Arbeitsverhältnisse, extreme Armut, Migration und zerfallende
Gemeinschaften verhindern, dass im Globalen Süden etwas entstehen kann,
das dem Zusammenhalt und dem Klassenbewusstsein der westlichen
Arbeiterbewegung in ihrer Blütezeit vergleichbar wäre. Nur dort, wo eine
nationale Elite die organisierte Unterstützung der Gewerkschaften genießt, übt
die Arbeiterschaft heute denselben Einfluss aus wie im 20. Jahrhundert, so etwa
in Argentinien unter den Kirchners oder in Südafrika unter dem ANC. In der
entwickelten Welt klammert sich ein harter Kern von Gewerkschaftsaktivisten
weiter an die Methoden und die Kultur der Vergangenheit, aber einer
aufstrebenden Klasse junger Arbeitskräfte in prekären
Beschäftigungsverhältnissen fällt es leichter, Gebäude zu stürmen und
Straßenschlachten anzuzetteln, als einer Gewerkschaft beizutreten (siehe
Athen im Dezember 2008).
André Gorz irrte sich in vielem, aber die Ursache der Entwicklung erkannte
er richtig: Die Arbeit, die definierende Aktivität im Kapitalismus, verliert ihre
zentrale Bedeutung für die Ausbeutung auf der einen und den Widerstand auf der
anderen Seite.
Nach Ansicht von Gorz hat der rasante Produktivitätsanstieg dank des
Computers und der Automatisierung die Sphäre jenseits der Arbeit in das
wichtigste Schlachtfeld verwandelt. Er erklärt, dass alle auf der Arbeit
beruhenden Utopien, vor allem der Marxismus, ihren Sinn verloren haben. Sie
müssten durch neue Utopien ersetzt werden, durch Utopien, deren Vorkämpfer
auf die Rückendeckung einer historischen Zwangsläufigkeit und auf die Hilfe
einer Klasse verzichten müssen, die auserkoren ist, unbewusst die Rolle des
Retters zu spielen. In den Ohren derer, die in den achtziger Jahren in den
Streikpostenketten ausharrten, klang diese Botschaft trostlos und ein wenig
abwegig. Mittlerweile kann Gorz' Erkenntnis jedoch mit etwas begründet
werden, das konstruktiver ist als die Enttäuschung.
Wie wir gesehen haben, verdrängt die Informationstechnologie Arbeitskräfte
aus der Produktion, sie zerstört die Preisbildungsmechanismen und begünstigt
den wirtschaftlichen Austausch abseits des Marktes. Und irgendwann wird sie
die Verbindung zwischen Arbeit und Wert endgültig kappen.
Wenn es so ist, dann ist der gegenwärtige Niedergang der organisierten
Arbeiterbewegung kein zyklisches Phänomen und nicht das Ergebnis einer
Niederlage, sondern eine ähnliche historische Umwälzung wie ihr Aufstieg vor
200 Jahren. Wenn die Geschichte des Kapitalismus einen Anfang, eine Mitte
und ein Ende haben muss, so gilt dasselbe für die Geschichte der organisierten
Arbeiterbewegung.
In der Natur – und der dialektischen Logik – ist das Ende normalerweise ein
Augenblick der »Aufhebung«. Dieser Begriff beschreibt die Zerstörung von
etwas, das gleichzeitig als etwas anderes weiterlebt. Die Arbeiterklasse ist nicht
tot, aber sie erlebt eine Aufhebung. Sie wird in einer Form überleben, die sich
so grundlegend von der gegenwärtigen unterscheiden wird, dass sie wie etwas
vollkommen anderes wirken wird. Als historisches Subjekt wird sie von einer
vielgestaltigen globalen Bevölkerung ersetzt, deren Kampf nicht auf die Arbeit
beschränkt ist, sondern in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens
geführt wird, und deren Lebensstil nicht von Solidarität, sondern von
Unbeständigkeit geprägt ist.
Diejenigen, die diese vernetzten Individuen als Erste beschrieben, sahen in
ihnen irrtümlich Nihilisten, die keinen Wandel herbeiführen könnten. Dem
widerspreche ich in meinem Buch Why It's Kicking Off Everywhere (2012), in
dem ich erkläre, dass die neue Welle von Kämpfen, die im Jahr 2012 begann,
ein Beleg dafür ist, dass diese Gruppe sehr wohl kämpft und dass sie überall
dort, wo sie auf die Straße geht, ähnliche und von der Technologie bestimmte
Werte verkörpert.
Wenn diese Einschätzung richtig ist, müssen wir uns einer Tatsache stellen,
die für viele Linke schmerzhaft sein wird: Der Marxismus hat sich in Bezug auf
die Arbeiterklasse getäuscht. Es stimmt, dass die menschliche Gesellschaft nie
etwas hervorgebracht hat, das einem aufgeklärten, kollektiven historischen
Subjekt näher gekommen wäre als das Proletariat. Aber die Erfahrung in den
letzten 200 Jahren zeigt, dass es dem Proletariat nicht darum ging, den
Kapitalismus zu stürzen. Vielmehr wollte es »trotz des Kapitalismus leben«.
Die Arbeiter wurden durch soziale und politische Krisen, deren Auslöser in
vielen Fällen Krieg und unerträgliche Unterdrückung waren, zum
revolutionären Handeln gezwungen. In den seltenen Fällen, in denen die
Arbeiterklasse an die Macht kam, konnte sie sich nicht gegen die
Vereinnahmung durch Eliten wehren, die unter falscher Flagge segelten.
Beispiele dafür sind die Pariser Kommune von 1871, Barcelona im Jahr 1937
und die Revolutionen in Russland, China und Kuba.
Die Literatur der Linken ist voll von Rechtfertigungen für diese seit zwei
Jahrhunderten andauernde Geschichte der Niederlagen: Der Staat war zu stark,
die Führung der Arbeiterklasse war zu schwach, die »Arbeiteraristokratie«
hatte zu viel Einfluss, der Stalinismus ermordete die Revolutionäre und
unterdrückte die Wahrheit. All diese Erklärungen laufen auf zwei Ausreden
hinaus: Schuld waren ungünstige Bedingungen oder unfähige Führer.
Die Arbeiterbewegung schuf in einem unmenschlichen System einen
Freiraum für menschliche Werte. Aus der Tiefe des Elends tauchten Menschen
auf, die für »wunderbaren Ärger« (beautiful trouble) sorgten: Märtyrer,
Autodidakten und säkulare Heilige. Aber die Arbeiterklasse war keineswegs
der unbewusste Träger des Sozialismus, sondern wusste sehr gut, was sie
wollte, und handelte entsprechend. Sie wollte den Kapitalismus erträglich
machen.
Die Arbeiterklasse war nicht geistig rückständig. Sie verfolgte eine klare
Strategie, die auf etwas beruhte, das die Marxisten nie begriffen haben: die
andauernde Bedeutung von Fähigkeiten, Autonomie und Status im Leben der
Arbeiter.
Haben wir einmal verstanden, was in den vier langen Zyklen des
Industriekapitalismus wirklich mit der Arbeit geschah, wird die Bedeutung
ihrer Wandlung im fünften Zyklus klar. Die Informationstechnologie macht die
Abschaffung der Arbeit möglich. Verhindert wird das nur durch die
gesellschaftliche Struktur, die wir als Kapitalismus kennen.
1771-1848: Die Fabrik als Schlachtfeld

Die erste Fabrik, die diesen Namen verdiente, wurde im Jahr 1771 im
englischen Cromford gebaut. Man findet dort immer noch den steinernen
Sockel, auf dem die erste Maschine stand. Diese feuchtkalte Halle sollte ein
Wallfahrtsort für jeden Humanisten sein. An diesem Ort hörte die soziale
Gerechtigkeit auf, ein Traum zu sein, und verwandelte sich zum ersten Mal in
der Menschheitsgeschichte in eine Möglichkeit, für die man kämpfen konnte.
In den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts wimmelte es in diesen Räumen
von Frauen und Kindern, die schweigend in der vom Baumwollstaub schweren
Luft umherliefen (es war den Arbeitern verboten zu sprechen) und Material zu
den komplexen Spinnrahmen trugen. Die Maschinen wurden von Männern
bedient, die als »Spinner« bezeichnet wurden. Die Belegschaft war gezwungen
worden, sich die neue Kultur der Arbeit anzueignen: Die Arbeiter durften nicht
länger ihrer inneren Uhr folgen, sondern mussten sich nach der Uhr ihres
Arbeitgebers richten. Sie hatten sich ausschließlich mit ihrer Arbeit zu
beschäftigen und die Anweisungen ihrer Vorgesetzten blind zu befolgen. Und
sie mussten während des 13-stündigen Arbeitstags die Gefahr schwerer
Verletzungen auf sich nehmen. Alle anderen Gesellschaftsgruppen hatten
Wurzeln, eine Kultur und Traditionen, aber die Fabrikarbeiter hatten nichts
von alledem, denn sie waren eine vollkommen neue Gruppe. So konnte das
System in den ersten dreißig Jahren eine Funktionsweise entwickeln, die das
menschliche Leben rücksichtslos zerstörte.
Doch die Arbeiter setzten sich zur Wehr. Sie schlossen sich zusammen und
organisierten ihre Bildung. Als im Jahr 1818-19 der Aufschwung im ersten
langen Zyklus endete, organisierten sie Massenstreiks, in denen sie die Frage
des Lohns mit der Frage der Demokratie verbanden. Großbritannien schlitterte
in eine politische Krise, die zwei Jahrzehnte dauerte und wiederholte
Ausbrüche revolutionärer Gewalt mit sich brachte.
Marx und Engels, die ihre Werke mehr als zwanzig Jahre nach Beginn dieser
Krise, Anfang der vierziger Jahre, schrieben, fanden in der Arbeiterklasse eine
passende Lösung für ein philosophisches Problem. Die linken Angehörigen des
deutschen Bürgertums waren begeisterte Kommunisten und träumten von
einer klassenlosen Gesellschaft, in der es kein Eigentum, keine Religion und
völlige Freiheit von der Arbeit geben würde. Nun entdeckte Marx in der
Arbeiterklasse die Kraft, die diese Gesellschaft verwirklichen konnte.
Er glaubte, das extrem elende Leben der Arbeiter prädestiniere sie für diese
historische Rolle. Gerade weil das Proletariat keinen Besitz hatte, weil es kein
Gewerbe, keine Kenntnisse, keine Religion und kein Familienleben hatte – und
weil es der respektablen Gesellschaft vollkommen entfremdet war –, eignete es
sich als Träger eines neuen Gesellschaftssystems. Zuerst würde es ein
Klassenbewusstsein entwickeln und anschließend die Macht ergreifen, um die
Armut zu beseitigen, die Entfremdung von der Arbeit zu beenden und den
Kommunismus zu errichten.
Eine bessere Zusammenfassung der Beziehung des Proletariats zum
Schicksal der Gesellschaft wäre: Sie ist kompliziert.
Die Arbeiter wurden sich tatsächlich ihrer kollektiven Interessen bewusst.
Aber dann schufen sie inmitten einer furchtbaren Situation im zweiten
Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts etwas Positives. Dabei handelte es sich jedoch
nicht um ein »sozialistisches Bewusstsein«, sondern um eine revolutionäre
republikanische Bewegung, welche die Prinzipien des Lernens, der Humanität
und der Selbsthilfe auf ihre Fahnen schrieb.
Im Jahr 1818 traten die Baumwollspinner in Manchester massenhaft in den
Ausstand. Im Jahr darauf gründeten Arbeiter überall in Nordengland
Abendschulen und Arbeitervereine, organisierten politische Debatten, wählten
Delegierte für Stadtkomitees und bildeten Frauengruppen. Aus ihren
Diskussionen ging im Sommer 1819 eine demokratische Massenbewegung
hervor: in inoffiziellen öffentlichen Versammlungen wählten sie inoffizielle
Parlamentsabgeordnete. Als am 16. August 1819 100 000 Arbeiter
widerrechtlich auf dem St. Peter's Field in Manchester zusammenströmten,
wurden sie von der Kavallerie angegriffen.
Das Peterloo-Massaker, das ein Dutzend Tote und Hunderte Verletzte
zurückließ, markierte den Beginn der organisierten Arbeiterbewegung. Und es
gab den Anstoß zu einem ersten Versuch, dem Widerstand der Arbeiter mit der
Automatisierung zu begegnen.
Die Spinner mussten theoretisch Männer sein, da man viel Kraft brauchte,
um die Spindeln der Spinnmaschine viermal pro Minute hin- und
herzuschieben. In der Praxis gab es allerdings Frauen, die kräftig genug waren,
um diese Tätigkeit zu verrichten. Dass diese Arbeit Männern vorbehalten blieb,
hatte in Wahrheit eine soziale Funktion: Mit hartgesottenen Männern, die
besser bezahlt wurden und eine zwischengeschaltete Hierarchieebene bildeten,
konnte man die Disziplin in der Fabrik leichter aufrechterhalten, als wenn man
direkt mit Frauen und Kindern gearbeitet hätte. 6
Doch als die qualifizierten Männer um das Jahr 1820 militant wurden, gab es
nur noch eine Lösung: Sie mussten wegautomatisiert werden. Im Jahr 1824
wurde eine selbsttätige Spinnmaschine (der Selfaktor) patentiert, und es
dauerte nicht lange, da standen Tausende dieser Maschinen in den Fabriken.
Die Arbeitgeber kündigten an, dass die Spinnmaschinen in Zukunft
ausschließlich von Frauen und Kindern bedient würden, da das Personal
lediglich die Bewegungen der Maschine beobachten müsse. 7
Doch genau das Gegenteil geschah.
Die Spinner organisierten ab 1819 immer wieder Streiks gegen die
Beschäftigung von Frauen. Sie weigerten sich, Frauen für Arbeiten zu schulen,
die Zugang zu besseren Qualifikationen boten, und verlangten, diese
Arbeitsplätze sollten ihren eigenen Söhnen überlassen werden. In den
zwanziger und dreißiger Jahren wurden jene Frauen, die sich als Spinnerinnen
in den Fabriken durchgesetzt hatten, aus dieser Tätigkeit hinausgedrängt, und
in den vierziger Jahren beherrschten die Männer diesen Bereich vollkommen.
Wie die Historikerin Mary Freifeld gezeigt hat, machten die neuen Maschinen
qualifizierte Arbeitskräfte nicht überflüssig, sondern schufen lediglich eine
neue technische Fähigkeit, welche die alte ersetzte: »Eine komplexe Tätigkeit
war durch eine andere ersetzt worden, während Qualitätskontrolle und
Aufsichtsfunktionen unverändert blieben.« 8
Ich habe diese Episode ausführlich beschrieben, weil sie sich in den
folgenden zwei Jahrhunderten viele Male wiederholen sollte. Die Geschichte
der Arbeit kann nicht auf »Ökonomie plus Technologie« reduziert werden. Sie
muss auch die Wechselbeziehung zwischen der Technologie und den
Organisationen der Arbeiter sowie die Entwicklung von Machtverhältnissen
auf der Grundlage von Alter, Geschlecht und ethnischer Zugehörigkeit
beinhalten.
Konkret widerlegt diese Fallstudie eine Passage in Das Kapital, die den
Marxisten sehr am Herzen liegt. Marx, der sein Werk in den fünfziger Jahren
des 19. Jahrhunderts schrieb, verwendete die selbsttätige Spinnmaschine als
wichtigstes Beispiel für die Tendenz des Kapitalismus zur Herabstufung der
Arbeit als Mittel zur Unterdrückung der Arbeiter. Marx schrieb: »Die
Maschinerie […] wird das machtvollste Kriegsmittel zur Niederschlagung der
periodischen Arbeiteraufstände, strikes usw. wider die Autokratie des Kapitals.
[…] Wir erinnern vor allem an die selfacting mule [selbsttätige
Spinnmaschine], weil sie eine neue Epoche des automatischen Systems
eröffnet.« 9
Die Quelle der Verwirrung war sein Mitarbeiter Friedrich Engels. Als dieser
im Jahr 1842 in Manchester eintraf, war in der Stadt gerade ein Generalstreik
der gesamten Arbeiterschaft gescheitert. Mit Unterstützung seiner Geliebten,
der Arbeiterin Mary Burns, zog der 22-jährige Engels durch Fabriken,
Elendsviertel und Baumwollbörsen, um Material für die erste ernsthafte Studie
zur materialistischen Soziologie zu sammeln: Die Lage der arbeitenden Klasse in
England erschien 1845.
Als Anthropologe beurteilte Engels vieles richtig: die Bedingungen in den
Slums, das fast völlige Fehlen von Religiosität oder Respekt zwischen den
Arbeitern, ihre Abhängigkeit von Alkohol, Opium und beiläufigem Sex. Was er
falsch beurteilte, war die Wirkung der selbsttätigen Spinnmaschine. Er schrieb,
dass »alle Verbesserungen der Maschinen die eigentliche, anstrengende Arbeit
mehr und mehr auf die Maschine werfen und so die Arbeit erwachsener
Männer in eine bloße Aufsicht verwandeln, die ein schwaches Weib oder gar
ein Kind ebensogut tun kann und auch für halben oder Drittellohn tut; daß also
die erwachsenen Männer immer mehr aus der Industrie verdrängt und durch
die vermehrte Fabrikation nicht wieder beschäftigt werden […].«10
Man muss Engels zugutehalten, dass seine Informationen von radikalen
Spinnereiarbeitern stammten, die in der Wirtschaftskrise und nach dem
gescheiterten Streik von 1842 ihre Arbeit verloren hatten. Aber die
Automatisierung festigte am Ende die Position der qualifizierten männlichen
Spinner und schuf neue Arbeitsplätze für sie.11 Zahlreiche Studien, unter
denen vor allem die von William Lazonick von der University of Massachusetts
zu nennen ist, haben gezeigt, wie Qualifikation, männliche Vorherrschaft und
eine komplexe Machtstruktur innerhalb der Belegschaft den Beginn der
Mechanisierung überlebten.12
Die erste Begegnung des Marxismus mit der organisierten Arbeiterklasse
führte also zu einem großen Missverständnis, und dies betraf nicht einfach nur
die Fähigkeiten, sondern das politische Bewusstsein, das sie hervorbringen.
Marx glaubte, die Arbeiter würden das Eigentum abschaffen, weil sie selbst
keines hatten. Sie würden die Klassentrennung beseitigen, weil sie nicht davon
profitieren konnten. Und beides würden sie tun, ohne innerhalb des alten
Systems ein alternatives Wirtschaftssystem errichten zu müssen.
Doch die Geschichte der englischen Arbeiterbewegung widerlegt diese
Einschätzung. Es ist eine Geschichte des positiven Handelns, des
Überlebenswillens und der Entwicklung von Fähigkeiten, von
Massenversammlungen im Freien, Studienzirkeln und Genossenschaftsläden.
Vor allem entstand eine lebendige Arbeiterkultur: Musik, Poesie, Folklore,
Zeitungen und Buchhandlungen. Ein Kästchen, das nach der marxistischen
Theorie leer hätte bleiben müssen, war ausgefüllt worden. Wo Marx eine Null
vermutete, war in Wirklichkeit eine Eins.
Wer die materialistische Betrachtung der Geschichte verteidigen will, muss
akzeptieren, was das bedeutet: Marx irrte sich in Bezug auf die Arbeiterklasse.
Es war ein Irrtum zu glauben, die Automatisierung werde die Fähigkeiten der
Arbeiter zerstören. Es war falsch zu glauben, das Proletariat könne innerhalb
des Kapitalismus unmöglich eine dauerhafte Kultur aufbauen. In Lancashire
hatten die Arbeiter schon eine Kultur entwickelt, als Marx noch an der
Universität studierte.
Als Anhänger Hegels beharrte Marx darauf, Gegenstand der
Sozialwissenschaften müsse »das ganze Ding« sein: das Ding im Prozess des
Werdens und Sterbens, das Ding in seinen Widersprüchen, das offizielle, aber
auch das unterschwellige, verborgene Ding. Er hielt sich beim Studium des
Kapitalismus strikt an diese Methode – aber er verzichtete darauf, als es darum
ging, die Arbeiterklasse zu analysieren.
Die anthropologische Studie zur englischen Arbeiterklasse, die Engels im Jahr
1842 schrieb, ist detailliert, komplex und spezifisch. Die marxistische Theorie
über das Proletariat ist es nicht: Sie reduziert eine ganze Gesellschaftsklasse auf
eine philosophische Kategorie. Und diese Theorie würde umfassend widerlegt
werden.
1848-98: Menschen gegen Maschinen

Ende des 19. Jahrhunderts waren die Gewerkschaften ein fester Bestandteil der
Industriestruktur. Zumeist wurden sie von Facharbeitern geführt, die eher
gemäßigt waren, aber ihre Autonomie am Arbeitsplatz hartnäckig verteidigten.
Engels' Buch über die englische Arbeiterklasse erschien in Großbritannien
erst im Jahr 1892. Zu diesem Zeitpunkt war es längst ein Museumsstück. Das
Vorwort zur ersten englischen Ausgabe, in dem Engels einräumte, dass sein
Werk überholt war, ist eine brillante Beschreibung der Anpassungsfähigkeit
des Kapitalismus – und ein Akt der Selbsttäuschung in Bezug auf die Ursachen
der Mäßigung der Arbeiterschaft.
Nachdem sich der radikale Republikanismus in Großbritannien im Jahr 1848
totgelaufen hatte, blieben die von qualifizierten Arbeitern geführten
Gewerkschaften als stabile Organisationsform der Arbeiterklasse bestehen.
Überall, wo das Fabriksystem eingeführt wurde – insbesondere in der
Metallverarbeitung und im Maschinenbau –, war bald der autonome
Facharbeiter die Norm. Radikalismus und utopischer Sozialismus wurden an
den Rand gedrängt.
Engels versuchte, der Entwicklung zunächst ökonomisch gerecht zu werden.
Als nach 1848 neue Märkte und neue Technologien entstanden und die
Geldmenge wuchs, erkannte er, dass »eine neue industrielle Ära« begonnen
hatte. Diese Ära, die Kondratjew später als zweiten langen Zyklus beschreiben
würde, dauerte bis in die neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Und Engels
entdeckte ein wesentliches Merkmal des technologischen Paradigmas dieser
Ära: die Kooperation zwischen Arbeiterschaft und Kapital.
Das System war mittlerweile so rentabel, dass die britischen Fabrikbesitzer
nicht mehr auf die in Oliver Twist geschilderten Methoden angewiesen waren.
Der Arbeitstag wurde auf zehn Stunden verkürzt, die Kinderarbeit
eingeschränkt, die mit der Armut einhergehenden Krankheiten durch
Stadtplanung zurückgedrängt. Die Arbeitgeber hatten gelernt, dass sie
»unnötige Streitereien vermeiden, sich mit dem Bestand und der Macht der
Trade Unions abfinden« mussten.13
Die britische Arbeiterschaft umfasste jetzt Millionen ungelernte, arme und in
prekären Verhältnissen lebende Menschen. Engels räumte jedoch ein, dass sich
die Lage von zwei spezifischen Gruppen dauerhaft verbessert hatte:[1] Dies
waren die Fabrikarbeiter und die Mitglieder der großen Gewerkschaften,
womit die zumeist männlichen Facharbeiter gemeint waren.
Nach Ansicht von Engels waren die Arbeiter gemäßigter geworden, weil sie
an den Erträgen der imperialen Macht Großbritanniens beteiligt wurden. Das
galt nicht nur für die qualifizierten Arbeiter, die Engels als »Aristokratie der
Arbeiterklasse« bezeichnete, sondern auch für die große Masse, die seiner
Meinung nach von den fallenden Realpreisen profitierte, die der imperialen
Vormachtstellung Großbritanniens zu verdanken waren. Den
Wettbewerbsvorteil Großbritanniens hielt er allerdings für vorübergehend, und
dasselbe galt für die Vorrechte der Facharbeiter.
Bei den Arbeitern in der übrigen entwickelten Welt sah Engels ein Maß an
Rebellion und Entfremdung, wie es in Großbritannien bis 1848 beobachtet
worden war. Ausgehend davon unternahm er Ende der achtziger Jahre einen
zweiten Versuch, das Ausbleiben des Kommunismus plausibel zu erklären:
Großbritannien, so Engels, hatte seine Arbeiter beschwichtigt, indem es seine
imperiale Macht nutzte, um ihren Wohlstand zu erhöhen. Aber sobald die
übrige Welt aufholte, würde die Mäßigung ein Ende haben.
Seine Einschätzung hätte kaum weiter von der Realität entfernt sein können.
Die Entwicklung der Fähigkeiten, die Passivität und die politische Mäßigung
waren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei der gesamten
Arbeiterschaft der entwickelten Welt zu beobachten. Das lässt sich mit einer
Vielzahl von Fallstudien belegen.
Einige der detailliertesten dieser Studien stammen aus Kanada. George
Kealeys Arbeit über die Fassbinder in Toronto zeigt, dass die dortige
Gewerkschaft in jeder einzelnen Werkstatt den Preis der Arbeit festlegte. Es
gab keine Lohnverhandlungen. Die Fassbinder versammelten sich, legten eine
Lohnliste vor, und die Arbeitgeber akzeptierten sie oder gingen zur
Aussperrung über. Eigentlich wurde an sechs Tagen in der Woche gearbeitet,
aber wie die Facharbeiter überall sonst nahmen sich die Fassbinder regelmäßig
einen »Blauen Montag«, das heißt einen inoffiziellen freien Tag, nachdem sie
sich am Sonntagabend betrunken hatten.
In ihrer Arbeit genossen sie völlige Autonomie. Ihre Werkzeuge gehörten
ihnen selbst (tatsächlich war »die Werkzeuge aus der Werkstatt holen« ein
anderer Ausdruck für in Streik treten). Sie entschieden, wer eine Lehrstelle
bekam. Um die Löhne hoch zu halten, drosselten sie in schlechten Zeiten die
Produktion. Und all das erreichten sie durch geheime Absprachen,
freimaurerische Vereinbarungen, Schwüre, Rituale und absolute Solidarität.
Und die Gewerkschaft war lediglich die unterste Schicht in einem
komplexen Geflecht von Institutionen. Bryan Palmer schreibt in einer Studie
über Arbeiter in Hamilton in der Provinz Ontario:

Zur Arbeiterkultur des 19. Jahrhunderts gehörte ein vielfältiges Sozialleben, dessen Institutionen der
Arbeiterverein, das Mechanikerinstitut, Sportbruderschaften und freiwillige Feuerwehrbrigaden waren.
Ergänzt wurden diese formalen Beziehungen durch einen weniger strukturierten, aber ebenso
greifbaren Zusammenhalt in der Nachbarschaft, am Arbeitsplatz oder in der erweiterten Familie, der
beim vertraulichen gemeinsamen Bier oder im gewalttätigen charivari [einem Ritual, bei dem Gruppen
von jungen Leuten vor das Haus vermeintlicher Übeltäter zogen und diese anprangerten, z. B. indem sie
mit Töpfen lärmten] ausgelebt wurde.14

Selbst in den jüngsten Branchen übten die Arbeiter die informelle Kontrolle
aus, und zwar nicht nur über die Löhne, sondern auch über die Arbeit selbst.15
Dieses ungewöhnliche Maß an informeller Arbeiterkontrolle war keine
Hinterlassenschaft früherer Zeiten. Im Gegenteil: Es war ein Ergebnis der Mitte
des Jahrhunderts eingeführten technologischen Neuerungen. Die bedeutenden
Technologien des zweiten langen Zyklus – Telegrafie, Dampflokomotive,
Druck, Eisenbearbeitung und Großmaschinenbau – erforderten ein hohes Maß
an manueller Arbeit, das heißt kräftige Arme und einen geschulten Verstand.
»Der Kopf des Managers unter der Kappe des Arbeiters« lautete ein Slogan der
Arbeiterklasse, der durchaus der Realität entsprach. Der Führer der
Fassbindergewerkschaft von Toronto warnte, um zu verhindern, dass sich die
Fähigkeiten schneller entwickelten als die Automatisierung, bräuchten die
Fabrikbesitzer eine »denkende Maschine«.16 Aber es sollte noch hundert Jahre
dauern, bis sie diese Maschine bekamen.
Sogar in der Abschwungphase des zweiten langen Zyklus, die 1873 begann,
gelang es den Managern nicht, die Rolle der ungelernten Arbeit und der
Automatisierung zu stärken. Kealey schreibt über die Facharbeiter von Toronto
in den neunziger Jahren: »Sie waren der Maschine begegnet und hatten sie
besiegt.«17 Um das Jahr 1890 war eine Schicht qualifizierter, privilegierter und
organisierter Arbeiter ein allgemeines Merkmal des Kapitalismus. Es war nicht
einfach das Ergebnis des Wettbewerbsvorteils einer einzelnen Nation.
Die Wirkung der qualifizierten Autonomie in Kombination mit einem
vielfältigen Sozialleben und dem Aufstieg sozialdemokratischer Parteien würde
den Kapitalismus zur nächsten Anpassung zwingen. Nachdem er »der
Maschine begegnet war und sie besiegt hatte«, begegnete der organisierte
Arbeiter in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dem wissenschaftlichen
Manager, dem Bürokraten – und schließlich dem Aufseher im
Konzentrationslager.
1898-1948: Hebt einen Barren auf und geht damit

Im Jahr 1898 fand auf dem firmeneigenen Güterbahnhof von Bethlehem Steel
in Pennsylvania ein Ingenieur namens Frederick Winslow Taylor eine neue
Lösung für das alte Problem der Autonomie des qualifizierten Arbeiters.
»Heben Sie einen Barren auf und gehen Sie damit«, wies Taylor seine
Arbeiter an. Ein Eisenbarren hatte ein Gewicht von 41 Kilogramm. Taylor hielt
nicht nur fest, wie lange die Arbeiter brauchten, um den Barren zu bewegen,
sondern studierte auch ihre Bewegungen sehr genau. Er fand heraus, dass die
industriellen Tätigkeiten in einzelne erlernbare Schritte zerlegt werden
konnten, und teilte diese Tätigkeiten Arbeitern zu, die weniger qualifiziert
waren als jene, die gegenwärtig damit beschäftigt waren.
Die Ergebnisse waren verblüffend: Die Produktivität stieg beinahe um das
Vierfache. Der Anreiz war eine Lohnerhöhung von 1,15 auf 1,85 Dollar pro
Tag.18 Aus Taylors knapper Beschreibung geht hervor, dass die
»Wissenschaft« darin bestand, einen Manager einzusetzen, der nicht nur die
Ruhepausen streng überwachte, sondern auch kontrollierte, wie schnell sich
die Arbeiter bewegten. Taylor schrieb: »Ein Mann, der sich in dem Beruf eines
Roheisenverladers auf die Dauer wohl fühlt, muß natürlich geistig sehr tief
stehen und recht gleichgültig sein. Ein aufgeweckter, intelligenter Mann ist
deshalb ganz ungeeignet zu einer Arbeit von solch zerreibender
Eintönigkeit.«19 Diese Erkenntnis wurde zur Grundlage der wissenschaftlichen
Betriebsführung. Taylor übertrug seine Methoden auch auf andere
Arbeitsplätze. In einer Kugellagerfabrik führte er neue Verfahren ein, mit
denen die Belegschaft von 120 auf 35 Arbeiter verringert werden konnte; die
Produktion blieb unverändert, die Qualität stieg. Er stellte fest: »Leider
verloren wir so viele von den intelligentesten, fleißigsten und ehrlichsten
Mädchen, lediglich, weil ihnen schnelle Wahrnehmung und Entschlußfähigkeit
fehlten.«20
Vorgeblich ging es dem Taylorismus um Zeitersparnis und effiziente
Bewegungsabläufe. Aber der wahre Zweck der Eingriffe bestand in der
Selektion und Unterteilung der Arbeitskräfte. Eine Schicht besser ausgebildeter
Arbeiter sollte die unteren Schichten kontrollieren, organisieren und schulen.
Die gesamte Belegschaft sollte einer strikten Kontrolle durch das Management
unterworfen werden. »Arbeitsschwierigkeiten irgend welcher Art oder gar ein
Streik waren dadurch ausgeschlossen«, brüstete sich Taylor.21 Das gesamte
Projekt war ein Angriff auf die Autonomie des sachkundigen Arbeiters. Das
Ziel: Die geistige Arbeit sollte so weit wie möglich von der körperlichen
getrennt werden.
Henry Ford hatte nie von Taylor gehört, aber im Jahr 1913 führte er die
zweite große Neuerung ein, die für den Siegeszug der angelernten Arbeit nötig
war: das Fließband. Wie bei Bethlehem Steel wurden auch bei Ford die Löhne
deutlich erhöht, um die Willfährigkeit der Arbeiter zu garantieren. Eine
Rekrutierungspolitik, bei der alle Gewerkschaftsmitglieder aussortiert wurden,
sicherte dem Management die uneingeschränkte Kontrolle. Fords anfängliche
Belegschaft bestand zu drei Vierteln aus überwiegend jungen Einwanderern
der ersten Generation.
Taylor, Ford und ihre Nachahmer bauten die Arbeiterklasse um. Die Gruppe
der Facharbeiter, deren Kern die Werkzeugmacher bildeten, überlebte, aber die
Arbeiterklasse wurde um eine Elite von Büroangestellten erweitert. Diese
Angestellten kamen im neuen System, in dem das Management die Kontrolle
hatte, in den Genuss höherer Gehälter. Hatte man früher familiäre
Verbindungen und eine siebenjährige Lehrzeit gebraucht, um einen Posten als
Techniker oder Spinnereiarbeiter zu bekommen, so konnte man jetzt durch
persönliches Verdienst in die Gruppe der Angestellten aufsteigen, und in
einigen Branchen erhielten auch Frauen Zugang zu diesen Tätigkeiten.
Die angelernten Arbeiter veränderten den Innovationsprozess in einem
wesentlichen Punkt: Sie passten ihre Kenntnisse neuen Maschinen an, und die
Gewerkschaften verloren die Fähigkeit, Neuerungen zu verhindern. Es gab
weiterhin ungelernte Arbeiter, aber die beherrschende Gruppe der
Arbeiterklasse bildeten nun die angelernten Arbeiter.
Wenn der Zweck dieser Eingriffe darin bestand, die Arbeiter zur Passivität
zu bewegen, so wurde das Ziel verfehlt. Niemand hatte vorausgesehen, dass
diese neue Arbeiterklasse gebildeter, radikaler und politischer werden würde.
Taylors »geistig sehr tief stehender« Arbeiter lernte lesen, und er las nicht nur
Groschenromane, sondern auch philosophische Werke. Die Sekretärinnen und
Telefonistinnen verwandelten sich in Agitatorinnen und arbeiteten als
Lehrerinnen für die sozialistischen Parteien.
Die Zahlen zum politischen Aufstieg der Arbeiterklasse zu Beginn des
20. Jahrhunderts sind verblüffend. In Deutschland gewann die SPD 1903 bei
den Reichstagswahlen 31 Prozent der Stimmen. Im Zarenreich gründete eine
Untergrundbewegung im Jahr 1905 Arbeiterräte (Sowjets) und bewaffnete
Milizen. In Frankreich legten Streiks in den Jahren 1905/06 die Industrie lahm,
und die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder verdoppelte sich innerhalb eines
Jahrzehnts. In den USA verdreifachte sich der Organisationsgrad innerhalb von
zehn Jahren, während die Arbeiterschaft um fünfzig Prozent wuchs.22
Die Industriestädte wurden zu Zentren einer hochentwickelten Kultur: Es
entstanden Arbeitervereine, Bibliotheken, Chöre und Kinderkrippen und ein
eigener Lebensstil der Arbeiterklasse. Vor allem aber leisteten die Arbeiter
Widerstand in der Fabrik.
In den Jahren 1910 bis 1913 kam es rund um den Erdball zu einer Welle von
Streiks ungelernter Arbeiter. Es war ein Kampf um die Kontrolle über die
Fabriken. Die Gewerkschaft der walisischen Bergleute entwarf eine Strategie,
die überall verfolgt wurde: »Jede Industrie gut organisiert, um zu kämpfen, die
Kontrolle über diese Industrie zu erringen und sie anschließend zu verwalten,
[…] so dass die Männer selbst bestimmen können, unter welchen Bedingungen
und wie sie ihre Arbeit machen.«23
Es war, als hätten Taylor und Ford mit ihrer Offensive gegen die Kontrolle
der Facharbeiter über den Arbeitsplatz die Arbeiterschaft dazu angespornt, eine
neue und weiter gehende Forderung nach demokratischer Kontrolle zu
erheben.
Gebremst wurde diese weltweite Erhebung durch einen
Wirtschaftsabschwung ab 1913, der mit einer aggressiven Repression
einherging. Als im August 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, schien es, als
wäre diese Phase der sozialen Unruhe nur eine Episode gewesen. Bevor wir uns
den folgenden Geschehnissen zuwenden, sollten wir uns ansehen, was die
Marxisten über die neue Zusammensetzung der Arbeiterschaft dachten.
Zusammenfassend müssen wir sagen, dass sie die neue Arbeiterklasse nicht
verstanden.
Lenin und die Aristokraten

Im Jahr 1902 verfasste der russische Revolutionär Wladimir Iljitsch Lenin eine
Streitschrift, die zu jener Zeit nur geringen Einfluss ausübte, jedoch große
Bedeutung für das Denken der radikalen Linken im 20. Jahrhundert erhalten
sollte. In Was tun? stellte Lenin die kühne Behauptung auf, die Arbeiter seien
nicht imstande, die Rolle zu verstehen, die ihnen im marxistischen Projekt
zukomme. Ein sozialistisches Bewusstsein müsse ihnen »von außen gebracht
werden«. Lenin erklärte: »Die Geschichte aller Länder zeugt davon, daß die
Arbeiterklasse ausschließlich aus eigener Kraft nur ein trade-unionistisches
Bewußtsein hervorzubringen vermag«.24 Die revolutionären Sozialisten
müssten die Arbeiterbewegung von ihren kurzfristigen Orientierungen und
ihrem gemäßigten Weg »abbringen« und zur Machtübernahme bewegen.
Lenin verstand die Arbeiterklasse anders als Marx: Für Marx war sie ein
eigenständiger historischer Agent, für Lenin eher ein Reagens, das den
Katalysator der revolutionären Avantgarde brauchte, um den historischen
Prozess in Gang zu setzen.
Bei Kriegsausbruch im Jahr 1914 sah sich Lenin allerdings mit einem neuen
Problem konfrontiert: Warum reagierten die Arbeiter, die während der
globalen Erhebung so erbittert ihre Löhne und die Demokratie verteidigt
hatten, entweder mit Begeisterung oder Apathie auf den Patriotismus, der die
europäischen Länder erfasst hatte?
Zur Erklärung griff Lenin auf die von Engels aufgestellte Theorie der
»Arbeiteraristokratie« zurück – er stellte sie allerdings auf den Kopf. Anstatt
die qualifizierte Elite in Großbritannien zu beseitigen, erklärte Lenin, habe das
Wettrennen um Kolonien die Arbeiteraristokratie in allen Industrieländern
zum dauerhaften Merkmal des modernen Kapitalismus gemacht. Sie schüre den
Patriotismus und sei für die Mäßigung verantwortlich, welche die
Arbeiterbewegung vergifte. Aber zum Glück gab es noch immer ein großes
Reservoir an ungelernten Arbeitern, und diese würden das Rohmaterial für die
Revolution liefern. Die politische Spaltung zwischen Reformismus und
Revolution, erklärte Lenin, sei das materielle Ergebnis der Aufspaltung der
Arbeiterklasse in Schichten.
Lenin hatte sich weit von Marx und Engels entfernt. Marx hatte die
Arbeiterklasse für fähig gehalten, spontan kommunistisch zu werden. Lenin
traute ihr das nicht zu. Marx glaubte, die Automatisierung werde die
Fähigkeiten zerstören; für Lenin waren die Privilegien der fähigen Arbeiter das
Ergebnis des Kolonialismus.
Lenin befasste sich nicht mit der wirtschaftlichen oder technischen
Grundlage der Privilegien der Schicht qualifizierter Arbeiter: Es ist, als würden
die Kapitalisten diesem Teil der Arbeiter einfach aus politischem Kalkül höhere
Löhne zugestehen. Wie wir gesehen haben, bemühten sich Kapitalisten an
diesem Punkt in Wahrheit darum, die Privilegien und die Autonomie der
qualifizierten Arbeiter zu zerstören.
In den zwanziger Jahren bekräftigte Lenin die Theorie der
Arbeiteraristokratie, deren Angehörige er als »wirkliche Agenten der
Bourgeoisie innerhalb der Arbeiterbewegung« bezeichnete, als »wirkliche
Schrittmacher des Reformismus und Chauvinismus«.25 Diese Behauptung war
im Jahr 1920 vollkommen abwegig: Es tobte seit vier Jahren ein revolutionärer
Kampf der Arbeiterklasse, und zwar unter der Führung von Facharbeitern.
Zwischen 1916 und 1921 startete die Arbeiterklasse einen Frontalangriff auf die
Kontrolle durch das Management. In Deutschland, Italien und Russland nahm
dieser Kampf revolutionäre Ausmaße an, in Großbritannien, Frankreich und
Teilen der USA rückte eine Revolution in greifbare Nähe. Und in all diesen
Ländern wurde der Kampf von der sogenannten »Arbeiteraristokratie«
angeführt.
Es gefällt mir nicht, der Anti-Lenin-Industrie Munition zu liefern. Der Mann
selbst war ein fähiger Revolutionär und ignorierte in der Praxis oft die Zwänge
seiner eigenen Theorien. Doch seine These, der Reformismus werde von einer
Arbeiteraristokratie getragen, war Unfug. So bedauerlich es ist: Die Quelle des
Patriotismus ist der Patriotismus. Das liegt daran, dass die Nationen so wie die
Klassen materiell sind. In seinen Gefängnisheften beschrieb der italienische
Kommunist Antonio Gramsci, dass die entwickelten kapitalistischen
Gesellschaften mehrere Verteidigungslinien haben. Den Staat beschrieb er
einfach als vorgelagerten Schützengraben; dahinter befinde sich ein System
von Festungen und Geschützstellungen.26 Und einer der besten
Verteidigungsmechanismen des Kapitalismus ist seine Reformfähigkeit.
Allerdings enthält Lenins Theorie von 1902 ein Körnchen Wahrheit, das für
die meisten Marxisten jedoch nicht erkennbar ist. Um diese Wahrheit zutage zu
fördern, müssen wir einen Blick auf das beispiellose globale Drama werfen, das
nun seinen Lauf nahm.
Eine furchtbare Schönheit: 1916-39

Im Jahr 1916 geriet die Kriegsmaschine ins Stocken. Der von einem Bündnis
von Sozialisten und Nationalisten angeführte Osteraufstand in Dublin
scheiterte zwar kläglich, aber er war der Startschuss für weltweite Unruhen in
den folgenden fünf Jahren. Der Dichter William Butler Yeats ahnte die
Bedeutung der Ereignisse und schrieb über die einfachen Menschen, die den
Aufstand angeführt hatten: »Alles änderte sich vollständig. Furchtbare
Schönheit entstand.«27
Am 1. Mai 1916 streikten die Berliner Fabrikarbeiter gegen den Krieg und
lieferten sich unter der Führung einer neuen Spezies von
Gewerkschaftsaktivisten Straßenschlachten mit der Polizei: Der Obmann des
Arbeiterausschusses, der zumeist ein Linkssozialist war, wurde von der
Belegschaft gewählt und war unabhängig von den Gewerkschaftsführungen,
die den Krieg befürworteten. In Glasgow wurde die gesamte Führung des
Clyde Workers Committee verhaftet, weil sie sich an die Spitze von Streiks
gesetzt hatte, deren Ziel es war, die Rüstungsindustrie unter die Kontrolle der
Arbeiter zu bringen.28
Im Februar 1917 wuchs sich eine Streikwelle in den Waffenfabriken von
Petrograd zu einer Revolution aus, die ganz Russland erfasste und den Zar zur
Abdankung zwang. Liberale und gemäßigte Sozialisten bildeten eine
provisorische Regierung (Kondratjew wurde kurzzeitig stellvertretender
Minister für Nahrungsmittelversorgung). Die russischen Arbeiter schufen zwei
neue Organisationsformen: Fabrikausschüsse und Sowjets, Arbeiter- oder
Soldatenräte. Der Telegraf, das Telefon und sogar der Militärfunk verbreiteten
die Nachrichten von den Erhebungen der Arbeiter und lösten rund um den
Erdball revolutionäre Bewegungen aus. Im Mai 1917 meuterte die französische
Armee. 49 von 113 Divisionen waren nur noch bedingt einsatzfähig, neun
wurden überhaupt kampfuntauglich.
Man muss diese Ereignisse im Zusammenhang mit einem neuen sozialen
Gefüge am Arbeitsplatz und einer neuen Form des Krieges sehen. Da die
Männer zum Kriegsdienst eingezogen wurden, füllten sich die Werften und
Maschinenfabriken von Seattle bis Petrograd mit Frauen und Jugendlichen, die
an der Seite der verbliebenen Facharbeiter arbeiteten, die aufgrund ihrer
Qualifikation für die Industrie unverzichtbar waren.
Die Gewerkschaften unterstützten den Krieg und lehnten Streiks ab. So
tauchte fast überall die Figur des Obmanns des Arbeiterausschusses auf. Er
gehörte der Ebene der qualifizierten Arbeiter an, organisierte jedoch über die
alten hierarchischen Grenzen hinweg Frauen und junge Männer in der
»Industriegewerkschaft«. Als die Revolutionen ausbrachen, stellten die
Obmänner die Führung der Basisbewegung.
Parallel dazu begann die Radikalisierung in den Schützengräben. An die
Spitze des Widerstands setzten sich junge Männer, die der Grausamkeit des
industrialisierten Krieges ausgesetzt waren. Die Ideale von Mut, Nation und
»Männlichkeit«, die vor 1914 aus der Kultur der Arbeiterschaft nicht
wegzudenken gewesen waren, waren tot.
Wo man auch hinsah, löste sich die Ordnung am Arbeitsplatz auf. Im Juni
1917 gab es in Petrograd 367 Fabrikausschüsse, die 340 000 Arbeiter vertraten.
In der Maschinenfabrik Brenner entschied der Ausschuss: »Da sich die
Betriebsleitung weigert, die Produktion fortzusetzen, hat die Vollversammlung
des Arbeiterausschusses beschlossen, die Aufträge zu erfüllen und die Arbeit
fortzusetzen.«29 In keinem Programm der Bolschewiki war je die Rede davon
gewesen, den Arbeitern die Kontrolle zu übertragen. Lenin fürchtete sich vor
der Arbeiterselbstverwaltung. Anfangs versuchte er, sie als »Veto der Arbeiter
gegen das Management« zu erklären. Später verbot er sie.
Die nächste Großmacht, die zusammenbrach, war das Deutsche Reich. Die
deutsche Arbeiterklasse, die vergeblich versucht hatte, den Krieg zu
verhindern, führte das Ende des Kaiserreichs herbei. Im November 1918
organisierten die Linkssozialisten eine Meuterei in der Kriegsmarine, die Teile
der Flotte innerhalb von 24 Stunden zur Rückkehr in die Häfen zwang.
Tausende aufständische Seeleute zogen bewaffnet durch Deutschland. Eines
ihrer Ziele war der Berliner Funkturm, von wo aus sie sich mit den Matrosen
im russischen Kronstadt in Verbindung setzen wollten.
Überall in Deutschland bildeten sich Fabrikausschüsse und Arbeiterräte nach
dem Vorbild der Sowjets. Innerhalb weniger Tage nach Beginn der Meuterei
hatten sie die Ausrufung der Republik und die Unterzeichnung eines
Waffenstillstands durchgesetzt. Kurz darauf verzichtete der Kaiser auch
offiziell auf den Thron. Die SPD konnte einen Umsturz nach russischem
Vorbild nur verhindern, indem sie sich im letzten Augenblick der Revolution
anschloss.
Im folgenden Jahr begann in Italien ein Massenausstand, den die Arbeitgeber
mit der koordinierten Aussperrung der Automobilarbeiter in Turin, Mailand
und Bologna beantworteten. Die Arbeiter besetzten die Fabriken und
versuchten mit Unterstützung von Sympathisanten unter den Technikern
(insbesondere bei Fiat in Turin), die Produktion selbst fortzusetzen.
Diese Geschehnisse zeigen, dass die soziale Entwicklung sehr viel
interessanter war, als Lenin gedacht hatte. Erstens spielten die qualifizierten
Arbeiter eine zentrale Rolle. Sie kämpften ausdrücklich um die Kontrolle, was
neu war. Der Arbeitssoziologe Carter Goodrich untersuchte das Phänomen in
Großbritannien und bezeichnete es als »ansteckende Kontrolle«:

Die alte Kontrolle im Handwerk wird eigentlich nur in kleinen Gruppen qualifizierter Arbeiter
ausgeübt. Die Verfechter der ansteckenden Kontrolle gehören mehrheitlich den
Industriegewerkschaften an oder sind Anhänge des Industrieunionismus. Die Grundhaltung der alten
Spartengewerkschaften ist monopolistisch und konservativ, die der Industriegewerkschaften
propagandistisch und revolutionär.30

Mit anderen Worten: Die Facharbeiter hatten sich vom »reinen Trade-
Unionismus« gelöst. Sie blieben jedoch skeptisch gegenüber jenen, die eine
politische Revolution forderten. Sie strebten die Kontrolle über ihren
Arbeitsplatz an und wollten eine Parallelgesellschaft innerhalb des
Kapitalismus errichten.
In den folgenden zwanzig Jahren wurden die Obmänner der
Arbeiterausschüsse zu Wechselwählern der radikalen Linken: Sie waren
unentwegt auf der Suche nach einem dritten Weg zwischen Aufstand und
Reform. Sie verstanden, dass die Mehrheit der Arbeiter noch nicht vorhatte,
sich dem Kommunismus anzuschließen, dass viele westliche Gesellschaften
eine politische Widerstandskraft besaßen, die sich Lenin nicht hatte vorstellen
können, und dass sie, die Militanten, Überlebensstrategien brauchten: Sie
mussten die Autonomie und Kultur der Arbeiterklasse stärken und das bereits
Erreichte verteidigen.
Die Geschichte der Fraktionsbildung innerhalb der meisten
kommunistischen Parteien in der Zwischenkriegszeit ist die Geschichte des
Konflikts zwischen den Leninisten, die diesen Parteien die in Moskau
entwickelten Vorhaben, Taktiken und Thesen aufzwingen wollten, und den
militanten Gewerkschaftsobmännern, die versuchten, von innen heraus eine
andere Gesellschaft zu errichten.
Womit wir bei dem Körnchen Wahrheit sind, das in Was tun? steckt: Lenin
täuschte sich, als er behauptete, die Arbeiter seien nicht imstande, sich von
einer Gewerkschaftsbewegung zu lösen, die sich mit Reformen zufriedengab.
Aber er hatte recht mit der Einschätzung, dass der revolutionäre
Kommunismus nicht ihre spontane Ideologie war. Die Bestandteile ihrer
Ideologie waren Kontrolle, soziale Solidarität, Selbstbildung und der Aufbau
einer Parallelwelt.
Das konnte ihnen der Kapitalismus allerdings nicht zugestehen: Die
Abschwungphase des dritten langen Zyklus begann, und es wurde ein
spektakulärer Absturz. Nach dem New Yorker Börsenkrach im Jahr 1929
muteten Staaten in aller Welt der Arbeiterklasse Massenarbeitslosigkeit,
Sozialabbau und Lohnkürzungen zu. Und dort, wo zu viel auf dem Spiel stand
und die Arbeiterklasse zu stark war, entschlossen sich die herrschenden Eliten,
ihren Widerstand endgültig zu brechen.
Der Boden war bereitet für das entscheidende Ereignis in der 200-jährigen
Geschichte der organisierten Arbeiterschaft. Dieses Ereignis war die
Zerstörung der deutschen Arbeiterbewegung durch den Nationalsozialismus,
der die Antwort des deutschen Kapitalismus auf die Macht der organisierten
Arbeiterklasse war: Im Jahr 1933 wurden die Gewerkschaften aufgelöst und die
linken Parteien zerschlagen. Die Katastrophe wiederholte sich in anderen
Ländern. Im Jahr darauf wurde die österreichische Arbeiterbewegung in einem
viertägigen Bürgerkrieg unterworfen. In Spanien führte General Franco
zwischen 1936 und 1939 einen totalen Krieg gegen die Arbeiterschaft und die
radikale Bauernschaft; dieser Auseinandersetzung fielen 350 000 Menschen
zum Opfer. In Griechenland verbot die Metaxas-Diktatur im Jahr 1936 nicht
nur die sozialistischen Parteien und Gewerkschaften, sondern sogar die in der
Arbeiterkultur verwurzelte Musik. In Polen, Ungarn und den baltischen
Ländern wurde die Arbeiterbewegung einschließlich der einflussreichen
jüdischen Arbeiterschaft zunächst von rechtsradikalen Regierungen
unterdrückt und später im Verlauf des Holocaust ausgelöscht.
Nur in drei fortschrittlichen Ländern überlebten und wuchsen die
Arbeiterorganisationen in den dreißiger Jahren: in Großbritannien und seinem
Empire, in Frankreich und in den USA. In den beiden zuletzt genannten
Ländern kam es in den Jahren 1936 und 1937 zu zahlreichen
Fabrikbesetzungen, bei denen es um die Kontrolle ging.
Keine Generation in der 200-jährigen Geschichte des Proletariats war so
klassenbewusst, opferbereit und gebildet wie die der Arbeiter, die gegen den
Faschismus kämpften. Aber in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die
marxistische Theorie der Arbeiterklasse auf die entscheidende Probe gestellt.
Und sie wurde widerlegt. Die Arbeiter wollten etwas Bedeutsameres als die
Macht: Sie wollten die Kontrolle. Und im vierten langen Zyklus sollten sie sie –
für eine Weile – bekommen.
Das Massaker an den Hoffnungen

Im Jahr 2012 besuchte ich in Valencia ein Massengrab von Opfern des
Franquismus. In den Jahren nach Francos Tod hatten ihre Familien kleine
Grabsteine mit Porträtfotos der Ermordeten aufgestellt. Als ich versuchte, mit
meinem iPhone ein Foto zu machen, erkannte die Kamera-App die Gesichter
als menschlich und stellte sie in einem grünen Rahmen scharf.
Die meisten Opfer waren Männer und Frauen mittleren Alters: Stadträte,
Rechtsanwälte, Ladeninhaber. Jüngere Männer und Frauen waren meistens auf
dem Schlachtfeld getötet oder exekutiert worden. Die Massengräber waren den
Übriggebliebenen vorbehalten, die zwischen dem Kriegsende (1939) und dem
Jahr 1953 in Lastwagen zur Hinrichtung gekarrt worden waren, bis es
niemanden mehr zu ermorden gab.
George Orwell, der an der Seite der Republikaner gekämpft hatte, konnte
den Idealismus in ihren Gesichtern nicht vergessen. Sie waren »die Blüte der
europäischen Arbeiterklasse, bedrängt von der Polizei aller Länder […], und
jetzt verrotteten Millionen von ihnen in den Zwangsarbeitslagern«.31 Die Zahl
war nicht übertrieben. Im sowjetischen Gulag-System wurden 1,4 Millionen
Menschen festgehalten; jedes Jahr starben 200 000. In den
nationalsozialistischen Konzentrationslagern wurden mindestens sechs
Millionen Juden ermordet. Rund 3,3 Millionen russische Kriegsgefangene
starben zwischen 1941 und 1945 in deutschen Lagern. Im spanischen
Bürgerkrieg wurden schätzungsweise 350 000 Menschen getötet.32
Das Ausmaß des Sterbens im Zweiten Weltkrieg übersteigt unsere
Vorstellungskraft. Daher wurden seine Auswirkungen auf die politische
Haltung und die soziologische Situation der Arbeiterklasse lediglich mit
entsetztem Schweigen quittiert. Aber wir müssen versuchen, sie uns vor Augen
zu halten. Die osteuropäischen Juden, die dem NS-Regime zum Opfer fielen,
stammten mehrheitlich aus Arbeitergemeinden mit einem reifen politischen
Bewusstsein. Viele von ihnen gehörten entweder prosowjetischen, linken
zionistischen Parteien oder dem antizionistischen Bund an. Der Holocaust
löschte somit innerhalb weniger Jahre ein Milieu aus, das viele wichtige
Theoretiker und Aktivisten der globalen Arbeiterbewegung hervorgebracht
hatte.
In Spanien wurden die Gewerkschaften, Kooperativen und Milizen der
Linken durch Massenmord zerstört, ihre Traditionen bis in die siebziger Jahre
unterdrückt. Unterdessen wurden in der Sowjetunion im Untergrund tätige
Aktivisten der Arbeiterklasse im Archipel Gulag und durch
Massenhinrichtungen ausgerottet.
Die »Blüte der europäischen Arbeiterklasse« war zertreten worden. Selbst
wenn es lediglich eine Frage der Zahlen gewesen wäre, hätte dieses gezielte
Abschlachten der politisierten Arbeiter – zusätzlich zum Tod Dutzender
Millionen Menschen durch die Kriegshandlungen – einen Wendepunkt in der
Geschichte der organisierten Arbeiterbewegung dargestellt. Aber es wurden
nicht nur die Menschen, sondern auch die Hoffnungen massakriert. Als der
Zweite Weltkrieg näher rückte, versuchte die extreme Linke – Trotzkisten und
Anarchisten – an der internationalistischen Linie festzuhalten: Keine
Unterstützung der Kriege zwischen imperialistischen Mächten, Fortsetzung des
Klassenkampfs daheim. Doch spätestens im Mai 1940 hatte der Krieg den
Klassenkampf in den Hintergrund gedrängt.
Als die Alliierten zusammenbrachen und sich in der herrschenden Klasse der
Niederlande, Frankreichs und Großbritanniens beträchtliche Gruppen bildeten,
die dem Nationalsozialismus gewogen waren, begriff jede Arbeiterfamilie, die
ein Radio besaß, dass ihre Kultur nur überleben konnte, wenn Deutschland den
Krieg verlor. Die Politik der Arbeiterklasse hing vom militärischen Sieg der
Alliierten ab. Nach dem Krieg bemühten sich jene, die das Gemetzel überlebt
hatten und wussten, wie nah die Arbeiterbewegung der völligen Auslöschung
gewesen war, um eine strategische Anpassung.
1948-89: Die Arbeit wird »absurd«

Im Zweiten Weltkrieg kam es immer wieder zu Arbeiteraufständen, aber es


war eine andere Art von Erhebungen als in den Jahren 1917-21. Vom
niederländischen Generalstreik im Jahr 1941 bis zu den Streikwellen und
Aufständen, die Mussolini 1943 vorübergehend und 1945 endgültig zu Fall
brachten, waren dies keine antikapitalistischen, sondern antifaschistische
Aktionen. Nach dem Krieg traten in Westeuropa dann vielerorts die
kommunistischen Parteien auf den Plan und beschränkten sich auf die
Wiederherstellung der Demokratie.
Die globale Erhebung von 1917-21 wiederholte sich nicht. Aber die Furcht
vor einer Wiederholung zwang den Kapitalismus, den Lebensstandard der
Arbeiter zu heben und die Verteilung des Wohlstands zu ihren Gunsten zu
ändern.
In einer ersten Phase wurden die weiblichen Arbeitskräfte nach dem Krieg
rasch aus der Industrie verdrängt (wie der Dokumentarfilm The Life and Times
of Rosie the Riveter anschaulich zeigt). Die Folge war, dass die Löhne
männlicher Arbeiter stiegen und die Einkommensunterschiede zwischen
Arbeitern und Mittelschicht schrumpften. Der Soziologe C. Wright Mills hat
festgestellt, dass sich die Einkommen amerikanischer Arbeiter in den zehn
Jahren bis 1948 verdreifachten, während sich jene der Angestellten
verdoppelten.33
Dazu kam, dass die Alliierten den unterlegenen Kriegsgegnern Italien,
Deutschland und Japan tatsächlich Sozialsysteme, Gewerkschaften und
demokratische Verfassungen aufzwangen, um ihre Eliten zu bestrafen und eine
Rückkehr zum Faschismus zu verhindern.
Nach der Demobilisierung entstand eine Schicht von Arbeiterkindern, die
von subventionierter Bildung profitierten und studieren konnten. Die Politik
strebte Vollbeschäftigung an, und Arbeitsämter, Ausbildungssysteme sowie
eine klare Abgrenzung der beruflichen Tätigkeiten stärkten die
Verhandlungsposition der Arbeiter zusätzlich. Als sich das
Wirtschaftswachstum in den fünfziger Jahren beschleunigte, stieg der Anteil
der Arbeitseinkommen am BIP in den meisten Ländern deutlich über das
Vorkriegsniveau, und die höhere steuerliche Belastung von Ober- und
Mittelschicht ermöglichte die Finanzierung von Gesundheitssystemen und
Sozialleistungen.
Im Gegenzug gaben die Arbeiter die Ideologie des Widerstands auf, die sie
im dritten langen Zyklus am Leben erhalten hatte. Kommunismus,
Sozialdemokratie und Trade-Unionismus verwandelten sich ungeachtet aller
Rhetorik in Ideologien der Koexistenz mit dem Kapitalismus. In vielen
Industriezweigen wurde der Betriebsrat de facto zu einem Organ des
Managements.
Ungefähr hier beginnt die Zeit, die das Bewusstsein der heute in der
entwickelten Welt lebenden Arbeitnehmer geprägt hat: Sie sind mit
Sozialleistungen, Gesundheitsfürsorge, kostenloser Bildung, sozialem
Wohnungsbau und gesetzlich verankerten Arbeitnehmerrechten groß
geworden. Die Aufschwungphase des vierten langen Zyklus brachte materielle
Segnungen, von denen frühere Generationen nur hatten träumen können.
Jenen, die die Vorkriegszeit noch erlebt hatten, muss diese Zeit
vorgekommen sein, als seien sie mitten in einem Albtraum erwacht. Der
amerikanische Soziologe Daniel Bell gelangte im Jahr 1955 zu dem Schluss, das
Proletariat werde durch ein »Salariat« ersetzt, eine Entwicklung, die sich auch
auf das Denken der Arbeiter auswirke. Bell, der zu jener Zeit ein Linker war,
warnte angesichts der Tatsache, dass die Gruppe der Angestellten sehr viel
schneller wuchs als die der Arbeiter: »Diese Gehaltsempfänger sprechen die
Sprache der Arbeiter nicht. Und man kann nicht auf die alte Art an ihr
Bewusstsein appellieren.«34 Der Sozialphilosoph Herbert Marcuse urteilte im
Jahr 1961, neue Technologien, Konsumgüter und die sexuelle Befreiung hätten
die Entfremdung des Proletariats vom Kapitalismus entscheidend reduziert:
»Die neue technische Arbeitswelt erzwingt so eine Schwächung der negativen
Position der arbeitenden Klasse: letztere erscheint nicht mehr als der lebendige
Widerspruch zur bestehenden Gesellschaft.«35
In Italien gelangte der Arbeiteraktivist Romano Alquati in einer
bahnbrechenden Studie zu dem Schluss, dass die hochgradige Automatisierung
des Arbeitsplatzes die Arbeiter der Fabrik als Ort der politischen
Selbstverwirklichung entfremdet hatte. Für die Generation, die Mussolini
gestürzt hatte, war die Fabrik ein wichtiges Schlachtfeld. Aber den Jungen kam
vor allem ein Wort in den Sinn, wenn sie den Produktionsprozess beschreiben
sollten: »absurd«. Sie beklagten sich über »ein Gefühl der Lächerlichkeit in
ihrem Leben«.36
Ihren deutlichsten Ausdruck fand diese neue Soziologie der Arbeit in der
weltweiten Auflösung des von der Klassenzugehörigkeit bestimmten
Wahlverhaltens, wie der Alford-Index deutlich zeigt.37 Der Historiker Eric
Hobsbawm, der diesen Prozess später untersuchte, gelangte zu dem Schluss,
der »Vormarsch der Arbeiter« sei in den fünfziger Jahren zum Stillstand
gekommen. Er verwies auf den Verlust eines einheitlichen proletarischen
Lebensstils, die beispiellose Zunahme erwerbstätiger Frauen und die Ersetzung
großer Produktionsstätten durch lange Ketten von kleineren. Entscheidend war
in seinen Augen, dass die neuen Technologien der fünfziger und sechziger
Jahre nicht nur die Angestelltenschicht verbreitert, sondern auch die Höhe der
Löhne von der Qualifikation abgekoppelt hatten. Indem ein angelernter
Arbeiter zwei Jobs annahm, zahlreiche Überstunden machte oder in der
Akkordarbeit herausragende Leistungen brachte, konnte er fast so viel
verdienen wie ein erfahrener Elektriker oder Techniker.38
Gemeinsam bewirkten diese Veränderungen, dass die Arbeitskämpfe
zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und den späten sechziger Jahren,
wie Alquati beklagte, »immer funktional für das System waren. Immer
atomisiert, immer blind«.39 Gorz erklärte düster, der Arbeitsplatz der
Nachkriegszeit habe nie »jene Arbeiterkultur hervorbringen können, die
zusammenfallen sollte mit dem Humanismus der Arbeit und die bis in die
Zwanzigerjahre die große Utopie der sozialistischen und
Gewerkschaftsbewegung war«.40
Verblüffenderweise hatten viele Theoretiker des »Niedergangs der
Arbeiterklasse« den Zenit der Bewegung vor dem Krieg persönlich erlebt.
Marcuse war im Jahr 1919 in Berlin in einen Arbeiterrat gewählt worden.
Hobsbawm hatte sich 1932 der Jugendorganisation der KPD angeschlossen.
Bell war im selben Jahr in einem Armenviertel von New York den Young
Socialists beigetreten. Gorz hatte den Arbeiteraufstand in Wien miterlebt. Ihre
Desillusion war das Ergebnis langjähriger empirischer Erfahrung.
Im Rückblick können wir die Veränderungen, auf die sie reagierten, besser
beurteilen.
Erstens wuchs die Arbeiterklasse. Viele der neuen Angestellten gingen
untergeordneten Bürotätigkeiten nach, verdienten weniger als Arbeiter und
mussten sich einer sinnlosen Disziplin und Routine unterwerfen. Diese
Menschen waren zweifellos immer noch Arbeiter. Das Maß ihrer Entfremdung
wurde in den fünfziger Jahren in populären Romanen thematisiert: Der Held
von Billy Liar ist Angestellter in einem Bestattungsunternehmen, Joe Lampton,
der Protagonist von Room at the Top, arbeitet als Buchhalter bei der Stadtkasse.
[2]

Zweitens wirkte sich die Entstehung neuer Schichten auf das


Klassenbewusstsein dieser wachsenden Arbeitnehmergruppe aus. Die
Büroarbeiter dachten und handelten nicht wie manuelle Arbeiter, selbst wenn
sie gewerkschaftlich organisiert oder entfremdet waren. Und die jungen
manuellen Arbeiter, die unter einer wachsenden Entfremdung von der Arbeit
und der Kultur um sie herum litten, entwickelten ebenfalls eine andere Art von
rebellischem Bewusstsein – die Generation der »Angry Young Men« wird in
Alan Sillitoes Saturday Night, Sunday Morning*[3] beschrieben, einem weiteren
populären Roman der fünfziger Jahre.
Der Zugang zu Konsumgütern machte der Militanz kein Ende. Er war eine
materielle Veränderung, ließ sich jedoch innerhalb der Kultur der
Arbeiterklasse eindämmen. Die Automatisierung hingegen löste eine
langfristige psychologische Veränderung aus. Es gab einen Grund dafür, dass
die von Alquati Anfang der sechziger Jahre befragten Fiat-Arbeiter ihre Arbeit
als »absurd, lächerlich und langweilig« empfanden. Obwohl zu jener Zeit noch
eher rudimentär, war die Automatisierung bereits so weit vorangeschritten,
dass man sich ausmalen konnte, wie die Zukunft der Arbeit aussehen würde.
Obwohl eine von Computern betriebene Fabrik noch Jahrzehnte und die
Robotisierung noch weiter entfernt war, begriffen die Arbeiter, dass diese
Dinge keine Science-Fiction mehr waren, sondern sich in etwas Greifbares
verwandelt hatten. Es würde eine Zeit kommen, da die manuelle Arbeit nicht
mehr benötigt würde.
Fast unmerklich änderte sich die Antwort auf eine grundlegende Frage: Was
bedeutet es, »ein Arbeiter« zu sein? Das verbindende Merkmal der jungen
Arbeiter in den fünfziger Jahren war die Entfremdung von der Arbeit. Gorz
erklärte, die Masse der Arbeiter orientiere sich nicht mehr an der Utopie der
Arbeitermacht, sondern an der Utopie, dass sie aufhören könnten, Arbeiter zu
sein: »[D]er Akzent liegt immer weniger auf der Befreiung in der Arbeit und
immer mehr auf der Befreiung von der Arbeit«.41
Zu Streiks des nun auch im Dienstleistungssektor aktiven Proletariats kam
es erst, als Ende der sechziger Jahre die Krise begann, aber zumeist waren diese
Ausstände zu begrenzt, um Fabriken, Häfen und Gruben vollkommen
lahmzulegen. War ein Streik doch einmal derart wirkungsvoll, kam es zu
Konfrontationen mit dem Staat. Aber der Großteil der Dienstleistungsarbeiter
wollte diese Kämpfe nicht mit letzter Konsequenz ausfechten.
Das Schicksal der Theoretiker des Niedergangs stand unter keinem guten
Stern. Daniel Bell wurde ein Neokonservativer. Marcuse, Mills und Gorz
wollten eine »Neue Linke« aufbauen, die nicht für die Arbeiter, sondern für
unterdrückte Gruppen kämpfen sollte. Und diese Linke haben wir bekommen –
aber erst, nachdem sich die neue Arbeiterklasse zwei Jahrzehnte lang ihrem
angekündigten Niedergang widersetzt und einen Aufstand angezettelt hatte,
der Teile der entwickelten Welt um ein Haar ins Chaos gestürzt hätte.
Wir, die Militanten der siebziger und achtziger Jahre, hatten nur Spott für
die Leute übrig, die den Klassenkampf in seiner alten Form für tot erklärten.
Doch sie waren diejenigen, die in die Zukunft geblickt und etwas Wahres
erkannt hatten.
1967-76: Das heiße Jahrzehnt

In den Jahren 1967-76 geriet der westliche Kapitalismus in die Krise. Wilde
Streiks nahmen ein bis dahin ungekanntes Ausmaß an. Obwohl sich die
Arbeiter mittlerweile Autos, Fernsehgeräte, Hypotheken und teure Kleidung
leisten konnten, gingen sie auf die Straße. Die sozialdemokratischen Parteien
steuerten nach links, und revolutionäre Gruppen fassten in den Fabriken Fuß,
wo sie Tausende Anhänger gewannen.
Die Machthaber in Frankreich und Italien begannen sich vor einer
Revolution zu fürchten, aber auch in Großbritannien und in den
amerikanischen Städten mit schwarzer Bevölkerungsmehrheit tauchte diese
Befürchtung in den dunkelsten Albträumen der herrschenden Elite auf. Wir
wissen, wie die Geschichte ausging: Sie endete mit der Niederlage und
Atomisierung der Arbeiterklasse. Aber wir müssen klären, warum sie so
endete. Lassen Sie mich mit meiner eigenen Geschichte beginnen.
Im Jahr 1980 veröffentlichte der Dachverband der britischen Gewerkschaften
einen Band mit Archivbildern.42 Als ich das Buch meiner Großmutter zeigte,
reagierte sie sichtlich erschüttert auf eines der Fotos. Dieses Bild, das vor dem
Ersten Weltkrieg entstanden war, zeigte ein nacktes Mädchen in einer
Zinnbadewanne. »Darüber brauchst du mir nichts zu erzählen«, sagte meine
Großmutter. »Ich habe den dreimonatigen Streik im Jahr 26 durchgemacht,
und ich habe während des Streiks im Jahr 21 geheiratet.« Bis dahin hatte sie
nie mit mir über die beiden großen Bergarbeiterstreiks gesprochen; auch
meinem Vater hatte sie nie davon erzählt. Der Anblick jener Zinnbadewanne
rief ihr die Armut in Erinnerung, die sie am eigenen Leib erfahren hatte, und
das Bild der Armut weckte die Erinnerung an das Jahr 1926, als ein neuntägiger
Generalstreik in einen dreimonatigen Bergarbeiterstreik übergegangen war.
Jetzt verriet sie mir, dass sie in dieser Zeit gehungert hatte.
Ihr gesamtes Leben vor dem Zweiten Weltkrieg war ein gut gehütetes
Geheimnis: Es war eine Zeit der extremen Not gewesen, eine Zeit der
Erniedrigung, der Gewalt, der Fehlgeburten, der Schulden und der großen
Streiks. Meine Großmutter wollte sich nicht daran erinnern. Aber sie hatte
nicht einfach ein Trauma verdrängt: Als wir uns zusammen die Fotos von den
Hungermärschen, den Barrikaden und den besetzten Kohlegruben ansahen,
wurde mir klar, dass diese Bilder für sie verblüffender waren als für mich.
Geboren im Jahr 1899, hatte sie zwei Weltkriege, eine Weltwirtschaftskrise
und die goldene Zeit der von Hobsbawm beschriebenen kollektiven
proletarischen Identität und der alle Arbeiter verbindenden Lebensweise erlebt.
Sie besaß allerdings keine über ihre persönliche Erinnerung hinausgehende
Kenntnis der Ereignisse und verstand ihre Bedeutung nicht. Trotzdem
klammerte sie sich an eine zwanghafte Ideologie der Rebellion. Das
Klassenbewusstsein meiner Großmutter entsprang einzig und allein ihrer
persönlichen Erfahrung: Es war durch Sprechen, Zuhören und Zuschauen
gewachsen. Diskussionen im Pub, mit Kreide auf Mauern gemalte Slogans,
Protestaktionen. Die Arbeiterstädte waren so weit von jener Welt entfernt, in
der Zeitungsartikel geschrieben oder Radiosendungen gemacht wurden, dass
sie kaum mit der Ideologie der Bourgeoisie in Berührung kamen.
Logisches Denken und Genauigkeit wurden benötigt, um praktische
Aufgaben zu bewältigen: um Rosen zu beschneiden, einen Hundewelpen zu
erziehen oder eine Mörsergranate zusammenzubauen (wie das geht, lernte ich
als Fünfjähriger anhand eines Geschosses, das meine Großmutter im Krieg in
der Fabrik hatte mitgehen lassen). Aber ihr Klassenbewusstsein war
unreflektiert und implizit. Es kam in Redensarten, Liedern, Seufzern,
Körpersprache und alltäglicher Solidarität zum Ausdruck. Es war eine
Solidarität, die in einer Welt industrieller und geografischer Stabilität über
Generationen aufrechterhalten wurde.
Meine Großmutter konnte die Geschichte ihrer Familie bis zum Jahr 1770
zurückverfolgen: Die Namen ihrer Vorfahren standen im Einband ihrer Bibel.
Sie waren allesamt Seidenspinner oder Weber gewesen, einschließlich ihrer
unverheirateten Mutter. Keiner von ihnen hatte weiter als acht Kilometer vom
Geburtsort meiner Großmutter entfernt gelebt. Sie selbst zog nur dreimal in
ihrem Leben um, und alle ihre Wohnungen lagen innerhalb von zwei
Quadratkilometern.
Wenn die Soziologen also fragen, wie wichtig die kollektive Identität und die
räumliche Stabilität des proletarischen Lebens vor 1945 für das
Klassenbewusstsein der Arbeiter waren, würde ich antworten: von ganz
entscheidender Bedeutung.
Obwohl die jungen Arbeiter der sechziger Jahre das Gefühl hatten, in einer
stabilen, 200 Jahre alten Kultur zu leben, verschoben sich die Fundamente
dieser Kultur so schnell, dass die traditionellen Mechanismen der Solidarität
und des Kampfes nicht funktionierten, als diese Arbeiter in den siebziger und
achtziger Jahren darauf zurückgreifen wollten.
Wie Richard Hoggart im Jahr 1957 in seiner brillanten Studie The Uses of
Literacy zeigte, bestand die entscheidende Veränderung darin, dass das formale
Wissen Einzug ins Leben der Arbeiterklasse hielt: Information, Logik und die
Fähigkeit, alles infrage zu stellen. Die geistige Komplexität war nicht länger die
Domäne des von der Fabian-Gesellschaft entsandten Lehrers oder des
kommunistischen Agitators mit seiner Zeitung voller Verkündigungen aus
Moskau. Sie war nun für jedermann zugänglich.43
Die Arbeitergeneration, der mein Vater angehörte, erhielt nach dem Zweiten
Weltkrieg Zugang zum Wissen. Dieses erreichte die Gemeinschaften nicht nur
durch das ausgebaute Bildungssystem und die öffentliche Bibliothek, sondern
auch durch das Fernsehen, die Boulevardzeitung, den Film, das Taschenbuch
und die Texte der Popsongs, bei denen es sich Ende der fünfziger Jahre oft um
Arbeiterlyrik handelte.
Es war Wissen über eine Welt, die plötzlich komplex geworden war. Die
soziale Mobilität nahm zu. Die geografische Mobilität nahm zu. Sex, vor dem
Krieg im öffentlichen Diskurs der Arbeiterklasse tabu, war plötzlich überall.
Und jetzt, am Vorabend der Krise, kam die bedeutsamste technologische
Innovation überhaupt dazu: die Anti-Baby-Pille, die im Jahr 1960 erstmals
verschrieben, aber für alleinstehende Frauen in den meisten Ländern erst Ende
des Jahrzehnts und Anfang der siebziger Jahre legalisiert wurde und einen
»Reproduktionstechnologieschock« verursachte, wie es die Ökonomen
Akerlof, Yellen und Katz ausdrückten.44 Die Frauen eroberten die
Hochschulbildung. Ein Beispiel: Zwischen 1970 und 1980 stieg der Anteil der
weiblichen Jurastudenten an den amerikanischen Universitäten von zehn auf
dreißig Prozent. Und da die Frauen jetzt entscheiden konnten, wann sie
schwanger werden wollten, drängten immer mehr von ihnen auf den
Arbeitsmarkt.45
So wurde ein neuer Arbeiter geboren. Die Generation, die in den siebziger
Jahren den Klassenkampf führte, hatte ein höheres Einkommen, größere
persönliche Freiheit, lockerere soziale Bindungen und einen sehr viel besseren
Zugang zu Informationen. Doch entgegen den Erwartungen der Theoretiker
des Niedergangs sollte all das den neuen Arbeiter nicht davon abhalten zu
kämpfen. Letzten Endes unterlagen sie, und das hatte folgende Gründe.
Das postindustrielle Modell des freien Markts, das die wirtschaftliche Macht
und das traditionelle, auf der Arbeit beruhende Selbstverständnis der
Arbeiterklasse zerstört hatte, war zusammengebrochen. Der Kapitalismus
verfolgte jetzt eine neue Strategie. Es entstand auch ein neuartiges Bewusstsein
der Revolte, das nicht mehr negativ, spontan oder unreflektiert war, sondern
sich auf formales Wissen stützte und die von der kapitalistischen Elite
kontrollierten Kanäle der Massenkommunikation nutzte. Dazu kam die
lähmende Wirkung des Stalinismus und einer Sozialdemokratie, die während
der Mobilisierung der siebziger Jahre alles tat, um den Klassenkampf
aufzufangen und die Arbeiterklasse zum Kompromiss und zur
parlamentarischen Politik zu lenken. Schließlich wurden die Arbeiter durch das
Wissen gebremst, dass die Revolutionen der zwanziger und dreißiger Jahre
gescheitert waren und dass der Faschismus nur mit Unterstützung des
demokratischen Kapitalismus besiegt worden war.
In allen hochentwickelten Industrieländern tobte von den späten Sechzigern
bis in die Mitte der siebziger Jahre ein erbitterter Klassenkampf. Sehen wir uns
das Fallbeispiel Italien an, denn die Entwicklung in diesem Land ist besonders
gut dokumentiert. Und die italienische Erfahrung gibt Aufschluss darüber, wie
sich die Arbeiterklasse von Rückschlägen erholt.
Italien: Eine neue Art von Kontrolle

Bis 1967 lockte das italienische Wirtschaftswunder Millionen Arbeitskräfte aus


dem unterentwickelten, agrarisch geprägten Süden in die Industriezentren des
Nordens. Da es an Sozialwohnungen mangelte, schliefen viele der Zuwanderer
in verwahrlosten Häusern zu sechst oder acht in einem Zimmer. Die
öffentlichen Einrichtungen waren überlastet. Aber die Fabriken waren modern
und mit Spitzentechnologie ausgerüstet. Die Arbeit in diesen Fabriken hatte ein
verlockendes Flair.
Zwischen 1950 und 1960 waren die Reallöhne um 15 Prozent gestiegen.46
Die großen Industrieunternehmen investierten in Kantinen, Sportvereine und
soziale Clubs, Sozialfonds und ließen die Overalls ihrer Arbeiter von
berühmten Designern gestalten. Gewerkschaften und Management einigten
sich auf Branchenebene einvernehmlich auf Löhne, Produktionsmengen und
Arbeitsbedingungen. Auf der Ebene der Fabrik war jedoch »die absolutistische
Herrschaft des Managements die Regel«, wie es in einer Studie hieß.47
Die Kombination von steigenden Arbeitseinkommen und schlechten
Lebensbedingungen außerhalb der Fabriken war die erste Auswirkung des
Aufschwungs. Die zweite war ein Anstieg der Studentenzahlen. Im Jahr 1968
gab es an den italienischen Hochschulen 450 000 Studenten – doppelt so viele
wie zehn Jahre zuvor. Die meisten kamen aus Arbeiterfamilien und waren
mittellos. An den Universitäten fanden sie nutzlose Lehrbücher und archaische
Regeln vor. Der Historiker Paul Ginsborg schrieb: »Indem man ein mit
derartigen Mängeln behaftetes Hochschulsystem frei zugänglich machte,
deponierte man eine Zeitbombe in den Universitäten.«48 Eine bessere Analogie
wäre vielleicht die des »Zünders« gewesen, der nur noch betätigt werden
musste. Ende des Jahres 1967 begannen die Studenten, die Universitäten zu
besetzen, im Jahr darauf griffen die Proteste auf die Straße über. Gleichzeitig
begann in den Fabriken eine Streikwelle, die ihren Höhepunkt im »heißen
Herbst« des Jahres 1969 erreichte.
In der Fabrik des Reifenherstellers Pirelli im Mailänder Viertel Bicocca
bildeten die streikenden Arbeiter ein »vereinigtes Basiskomitee«, das
vollkommen unabhängig von der Gewerkschaft war. Mit der Idee des
Basiskomitees breiteten sich neue Methoden des Arbeitskampfes aus: Serien
von einstündigen Streiks in verschiedenen Abteilungen, Sitzstreiks, Dienst
nach Vorschrift, um die Produktivität zu senken, sowie »Schlangenstreiks«, die
durch Märsche von einer Abteilung in die andere getragen wurden. Ein Fiat-
Arbeiter beschrieb eine dieser Aktionen: »Wir machten uns zu siebt auf den
Weg. Als wir bei den Büros der Firmenleitung ankamen, waren wir etwa 7000!
[…] Nächstes Mal beginnen wir mit 7000 und sind am Ende 70 000, und das ist
dann das Ende von Fiat.«49
Die Kommunistische Partei bildete rasch örtliche Verhandlungskomitees, die
jedoch in vielen Werken bei den Arbeitern auf Ablehnung stießen. Sie
übertönten die Kommunisten mit dem Schlachtruf »Wir sind alle Delegierte!«.
In einer Bar vor dem Fiat-Werk im Turiner Stadtteil Mirafiori organisierten
Studenten eine »Arbeiter- und Studentenversammlung«. Am 3. Juli 1969
brachen sie bei der Fabrik zu einem Marsch auf, um gegen Mieterhöhungen zu
protestieren, und skandierten einen Slogan, der die neue Geisteshaltung
zusammenfasste: »Was wir wollen? Alles!«
Die linke Gruppe Lotta Continua fasste die Empfindungen der Streikenden
zusammen: »Sie beginnen, sich langsam zu befreien. Sie zerstören die
bestehende Autorität in der Fabrik.«50
Wären diese Geschehnisse auf einige Problemviertel in den Industriestädten
eines chronisch chaotischen Landes beschränkt gewesen, so wären sie lediglich
als Kuriosum von Interesse gewesen. Aber die italienische Revolte war
symptomatisch für eine Umwälzung in der gesamten entwickelten Welt. Im
Jahr 1969 begann eine Zeit wirtschaftlicher Konflikte, die immer wieder in
politische Auseinandersetzungen umschlugen und den Anstoß dazu gaben, das
gesamte westliche Wirtschaftsmodell infrage zu stellen.
Es ist wichtig, die Abfolge der Ereignisse richtig zu verstehen, denn in der
populärwissenschaftlichen Literatur wird der Zusammenbruch des
Keynesianismus oft auf einen einzelnen Moment reduziert. Im Jahr 1971 verlor
der lange Wirtschaftsaufschwung, der nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen
hatte, an Kraft. Die Aufgabe der festen Wechselkurse versetzte die Staaten
jedoch paradoxerweise in die Lage, die Probleme mit den hohen Löhnen und
der Produktivität zu »lösen«, indem sie ihre Währungen abwerteten und der
Inflation die Tür öffneten. Als der Ölpreis im Jahr 1973 plötzlich in die Höhe
schoss und eine zweistellige Inflation verursachte, löste sich der
Zusammenhang zwischen Arbeitseinkommen, Preisen und Produktivität
einfach auf.
In den europäischen OECD-Ländern stiegen die Sozialeinkommen
(Familienbeihilfen, Sozialhilfe und Ähnliches), die in den Jahren des
Aufschwungs durchschnittlich 8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts
ausgemacht hatten, bis Mitte der siebziger Jahre auf 16 Prozent des BIP. Die
Staatsausgaben, die in den OECD-Ländern in den fünfziger Jahren bei
durchschnittlich 28 Prozent des BIP gelegen hatten, kletterten auf 41 Prozent.51
Der Anteil der Profite der Industrie- und Dienstleistungsunternehmen am
gesamten Volkseinkommen fiel um 24 Prozent.52
Um die Arbeiter zu beschwichtigen, erhöhten die Regierungen die
Sozialeinkommen auf Rekordhöhe und banden Vertreter der Arbeiterklasse in
die Regierungsarbeit ein. In Italien geschah das im Rahmen des »Historischen
Kompromisses« zwischen der KPI, den kommunistischen Gewerkschaften und
den Christdemokraten, in dessen Folge die KPI bei den Parlamentswahlen 1976
das beste Ergebnis ihrer Geschichte einfuhr und anschließend eine
konservative Minderheitsregierung stützte. In Spanien führte derselbe Prozess
im Jahr 1977 zum Pakt von Moncloa, in Großbritannien zum »Social Contract«
der Regierungen Wilson und Callaghan (1974-79), in den USA zu mehreren
Versuchen der Gewerkschaften, eine strategische Übereinkunft mit der Carter-
Regierung zu schließen.
Ende der siebziger Jahre kämpften sämtliche Protagonisten des alten
keynesianischen Systems – der gewerkschaftlich organisierte Arbeiter, der
paternalistische Manager, der Politiker, der sich für Sozialleistungen einsetzte,
und der Manager eines Staatsunternehmens – gemeinsam dafür, das von der
Auflösung bedrohte Wirtschaftssystem zu retten.
Der vereinheitlichte Produktionsprozess der Nachkriegszeit und die
wissenschaftliche Betriebsführung, von der er abhing, schufen schließlich eine
Arbeiterschaft, die sich nicht länger kontrollieren ließ. Wie sehr sich die Macht
verschoben hatte, zeigte sich vor allem daran, dass Bummelstreiks mittlerweile
eine äußerst wirkungsvolle Form der Sabotage waren. In Wahrheit steuerten
die Arbeiter den Produktionsprozess. Jeder Versuch, die makroökonomischen
Probleme ohne ihre Zustimmung zu lösen, war zum Scheitern verurteilt.
Ein neuer Typus von konservativen Politikern gelangte zu dem Schluss, dass
man die Arbeiter nur wieder unter Kontrolle bringen konnte, indem man das
ganze System beerdigte. Die Gelegenheit dazu bot sich in der zweiten Ölkrise
nach der iranischen Revolution im Jahr 1979. Die Ölkrise löste eine weitere,
tiefere Rezession aus – und diesmal sahen sich die Arbeiter Unternehmen und
Politikern gegenüber, die entschlossen waren, etwas Neues auszuprobieren:
Massenarbeitslosigkeit, die Zerschlagung ganzer Branchen, Lohnsenkungen
und Einschnitte bei den öffentlichen Ausgaben.
Die Arbeiter sahen sich einem neuen Gegner gegenüber, auf dessen
Auftauchen sie sich in den Jahren der Radikalität unzureichend vorbereitet
hatten: Ein Teil der Arbeiterschaft war bereit, gemeinsame Sache mit den
konservativen Politikern zu machen. Frustrierte weiße Arbeiter wählten
Ronald Reagan ins Weiße Haus, und viele britische Facharbeiter, die das Chaos
satthatten, liefen im Jahr 1979 zu den Konservativen über und ermöglichten
Margaret Thatcher zehn Jahre an der Spitze der Regierung. Der
Konservatismus der Arbeiterklasse war nie ganz verschwunden, schließlich
wünschen sich die Arbeiter immer Ordnung und Wohlstand. Im Jahr 1979
glaubte der konservative Teil der Arbeiterschaft nicht mehr, dass das
keynesianische Modell diese Wünsche erfüllen konnte.
Innerhalb von fünfzehn Jahren hatte die Arbeiterklasse der entwickelten
Welt den Zyklus von Passivität über Streiks und halbrevolutionärem Kampf bis
zur Anpassung durchgemacht, um schließlich Mitte der achtziger Jahre eine
strategische Niederlage zu erleiden.
Der westliche Kapitalismus, der fast zwei Jahrhunderte mit der organisierten
Arbeiterklasse koexistiert hatte und von ihr geformt worden war, konnte nicht
länger mit einer Arbeiterkultur der Solidarität und des Widerstands leben. Also
machte er sich daran, diese Kultur zu zerstören, indem er die Produktion in
Billiglohnländer verlagerte, die Industrie abbaute, die Gewerkschaften in eine
Zwangsjacke steckte und einen unablässigen ideologischen Krieg mit der
Linken vom Zaun brach.
Digitale Rebellen, analoge Sklaven

Obwohl sie seit mehr als dreißig Jahren auf dem Rückzug ist und unter
fortschreitender Atomisierung leidet, hat die Arbeiterklasse überlebt. Sie hat
sich jedoch grundlegend gewandelt.
In den alten Industrieländern ist das in Japan entwickelte Kern-Peripherie-
Modell mittlerweile zur Norm geworden und hat die Kategorien von
»Ungelernt« und »Qualifiziert« als wichtigste Instrumente zur Unterteilung
der Arbeiterklasse abgelöst. Der Kern der Arbeitnehmer klammert sich an
stabile, dauerhafte Arbeitsplätze, an die neben dem Gehalt auch weitere
Leistungen (Versicherungsschutz usw.) gekoppelt sein können. Die Peripherie
setzt sich aus Arbeitnehmern zusammen, die bei Zeitarbeitsfirmen anheuern
oder sich bei einem Subunternehmer verdingen müssen. Aber der Kern
schrumpft: Sieben Jahre nach Beginn der Krise im Jahr 2008 hat sich ein fester
Arbeitsvertrag mit einem angemessenen Einkommen für viele Menschen in ein
unerreichbares Privileg verwandelt. Bis zu einem Viertel der
Erwerbsbevölkerung hat mittlerweile am eigenen Leib erfahren, was es
bedeutet, dem »Prekariat« anzugehören.
Der wichtigste Vorzug beider Gruppen ist die Flexibilität. Bei Facharbeitern
wird großer Wert auf die Fähigkeit gelegt, sich ständig neu zu erfinden, sich
den kurzfristigen Unternehmenszielen anzupassen, in der Lage zu sein, alte
Kenntnisse zu vergessen und neue zu erwerben, im Netzwerk arbeiten zu
können und vor allem den Traum des Unternehmens zu teilen. Diese
Eigenschaften, die im Jahr 1890 in einer Druckerei in Toronto einen
Streikbrecher ausgezeichnet hätten, sind seit etwa zwanzig Jahren unerlässlich
geworden, wenn man Teil des Kerns bleiben will.
Die Flexibilität der peripheren Arbeitskräfte wird in erster Linie durch den
allgemeinen und abstrakten Charakter ihrer Tätigkeiten erzwungen. Da ein
Großteil der Arbeit automatisiert ist, müssen sie in der Lage sein, einen
automatisierten Ablauf rasch zu erlernen und eine Formel anzuwenden. Das
bringt oft langweilige und schmutzige körperliche Arbeit mit sich – ein
Beispiel ist die Heimpflege, die für den Mindestlohn anhand einer strikten
Checkliste in fünfzehn Minuten geleistet wird – und setzt im Extremfall
voraus, dass man seine Persönlichkeit und seine Emotionen der
Arbeitsdisziplin unterwirft. Die Mitarbeiter der Sandwichkette Pret a Manger
müssen stets lächeln und fröhlich sein und sind angehalten, »einander
anzufassen«. Auf der offiziellen Liste der Verbote stehen Vergehen wie das,
»nur wegen des Geldes zu arbeiten«, oder das, »die Dinge übermäßig
kompliziert zu machen«. Ein Mitarbeiter berichtet: »Nach einem Tag
Probearbeiten stimmen deine Kollegen darüber ab, ob du dem
Anforderungsprofil entsprichst. Wenn du zu wenig Begeisterung versprühst,
wirst du mit ein paar Pfund nach Hause geschickt.«53
In allen entwickelten Ländern haben die Dienstleistungen mittlerweile den
größten Anteil an der Beschäftigung. Nur in den großen Exportnationen
Deutschland, Südkorea und Japan stellten die Beschäftigten in der Industrie
noch ungefähr ein Fünftel der Gesamtzahl; in den übrigen wirtschaftlich
hochentwickelten Ländern liegt ihr Anteil zwischen zehn und zwanzig
Prozent.54
Auch in den Entwicklungsländern sind nur rund zwanzig Prozent der
Beschäftigten in der Industrie tätig.55 Insgesamt gibt es etwa drei Milliarden
Arbeitnehmer auf der Welt, und in Asien und Lateinamerika ist es üblich, dass
die Menschen in großen Produktionsanlagen arbeiten, aber die Vorstellung, die
Globalisierung habe einfach das fordistische/tayloristische Modell in den
Globalen Süden verlegt, ist falsch.
Der Anteil der Arbeitseinkommen am globalen BIP schrumpft. In den USA
erreichte er im Jahr 1970 einen Höhepunkt von 53 Prozent; mittlerweile ist er
auf 44 Prozent gesunken. Diese Entwicklung hat die gesellschaftliche Folge,
dass die Arbeitskräfte zu einem finanzialisierten Verhalten gezwungen werden
(obwohl diese Wirkung in Ländern mit exportorientierter Wirtschaft
schwächer ausfällt). Wie wir in Teil I gesehen haben, steigt jener Teil der
Profite, die mit dem Konsum und der Verschuldung der Arbeiterklasse erzielt
werden, zulasten der auf Arbeit beruhenden Gewinne.56
Diese »finanzielle Enteignung« – so nennt es Costas Lapavitsas, der an der
School of Oriental and African Studies der Universität London
Wirtschaftswissenschaften unterrichtet – hat erhebliche Auswirkungen auf die
Arbeiterklasse.57 Viele Arbeitnehmer kommen – physisch wie ideologisch –
eher durch Konsum und Kreditaufnahme als durch Arbeit in Berührung mit
dem Kapital.
Das wirft ein neues Licht auf die seit 1989 zu beobachtende Tendenz des
Kapitalismus, die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit zu verwischen. In
einigen Tätigkeiten, die keineswegs alle hochwertig sind, müssen die
Mitarbeiter zunehmend zwischen der Erfüllung ihrer Projektarbeit und
persönlichen Aktivitäten am Arbeitsplatz (E-Commerce, Social Media, Dating)
abwägen: Die Abmachung lautet, dass der Mitarbeiter zu Hause E-Mails
beantworten, auf Reisen arbeiten, Überstunden machen und außerhalb der
Dienstzeiten arbeiten muss, um die Ziele zu erreichen.
In Tätigkeiten mit einem hohen Informationsgehalt – insbesondere solchen,
für die mobile Geräte genutzt werden – verschmelzen Arbeits- und Freizeit
miteinander. Das hat innerhalb kurzer Zeit die Entlohnung von der Arbeitszeit
gelöst. Der hochwertige Mitarbeiter wird im Grunde dafür bezahlt, dass er
existiert und seine Ideen beiträgt, um die Ziele der Firma zu erreichen.
Parallel dazu wurde die Geografie des Arbeiterlebens umgestaltet. Lange
Anfahrten zum Arbeitsplatz aus Vororten, deren Kultur keine spezifische
Beziehung zur Arbeit hat, sind mittlerweile normal. Das Pendeln zwang die
Arbeitskräfte ursprünglich, eine physische Gemeinschaft aufzubauen, indem
sie Orte der Begegnung abseits der Arbeit fanden: das Fitnessstudio, die
Kinderkrippe, die Bowlingbahn usw. Mit dem Vormarsch der
Informationstechnologie ist ein Teil dieser Aktivitäten zur Pflege des sozialen
Zusammenhalts ins Internet verlegt worden, was die physische Isolation
zusätzlich fördert. In der Folge ist die alte Solidarität, die darauf beruhte, dass
die Bindungen am Arbeitsplatz durch den Zusammenhalt einer Gemeinschaft
gefestigt wurden, heute so schwach wie nie zuvor in der Geschichte des
Kapitalismus.
Für die Jüngeren, die in unsicheren Arbeitsverhältnissen leben, gewinnt
stattdessen die physische Nähe im urbanen Raum an Bedeutung: Sie sammeln
sich in den Stadtzentren und akzeptieren einen deutlich eingeschränkten
Lebensraum, weil sie ein Netz von Kontakten brauchen, in dem sie Partner,
sporadische Arbeitsverhältnisse und Unterhaltung finden können. Ihr Kampf –
etwa die Revolte der Anarchisten im Athener Stadtteil Exarchia oder die
Studentenproteste in London im Jahr 2010 – ist oft an einen physischen Ort
gebunden.
Im Bemühen, diese qualitative Veränderung des Arbeitslebens zu verstehen,
konzentrierten sich die Soziologen zunächst auf den Raum. Barry Wellman
untersuchte, wie aus Gemeinschaften, die auf dem Gruppenzusammenhalt
beruhten, zunächst physische und anschließend digitale Netzwerke wurden,
und bezeichnete das Ergebnis dieses Prozesses als »vernetzten
Individualismus«, der aus seiner Sicht im Zusammenhang mit der erhöhten
beruflichen Flexibilität zu sehen war.58 Richard Sennett, der unter anderem an
der London School of Economics lehrt, hat die neuen Merkmale der
Beschäftigten im Hochtechnologiesektor studiert.59 Er hat herausgefunden,
dass ein neuer Arbeiter entsteht, wenn die Arbeit Bindungslosigkeit und
oberflächliches Engagement belohnt, der Anpassungsfähigkeit den Vorzug vor
der Qualifikation gibt und der Vernetzung größeren Wert beimisst als der
Loyalität. Der neue Arbeiter konzentriert sich im privaten und beruflichen
Leben auf den kurzfristigen Erfolg und fühlt sich Hierarchien und Strukturen
weder als Arbeitskraft noch als Aktivist verpflichtet.
Sennett und Wellman haben beobachtet, dass Menschen, die diesen
vernetzten Lebensstil pflegen, dazu neigen, mehrere Identitäten anzunehmen,
und zwar nicht nur online, sondern auch in der Realität. Sennett erklärt: »Die
Bedingungen der Zeit im neuen Kapitalismus haben einen Konflikt zwischen
Charakter und Erfahrung geschaffen. Die Erfahrung einer
zusammenhangslosen Zeit bedroht die Fähigkeit der Menschen, ihre
Charaktere zu in sich schlüssigen Erzählungen zu formen.«60
Der Arbeiter der keynesianischen Ära hatte nur eine Persönlichkeit: Er war
am Arbeitsplatz, in seiner Stammkneipe, im Arbeiterverein und auf dem
Stehplatz im Fußballstadion im Wesentlichen dieselbe Person. Das vernetzte
Individuum lebt in einer komplexeren Wirklichkeit: Es führt in der Arbeit, in
zahlreichen bruchstückhaften Subkulturen und im Internet mehrere parallele
Leben.
Diese Veränderungen zu dokumentieren ist eine Sache. Die eigentliche
Herausforderung besteht jedoch darin, ihre Auswirkungen auf die Fähigkeit
der Menschen zu verstehen, sich gegen Ausbeutung und Unterdrückung zu
wehren. Michael Hardt und Antonio Negri haben es in ihrem Buch Demokratie!
Wofür wir kämpfen gut zusammengefasst:

Der Schwerpunkt der kapitalistischen Produktion hat sich vor die Tore der Fabrik verlagert. Die
Gesellschaft selbst ist zur Fabrik geworden […]. Damit verändert sich auch die Beziehung zwischen
Kapitalisten und Arbeitenden. […] Die Ausbeutung funktioniert heute nicht mehr über den (gleichen
oder ungleichen) Tauschhandel, sondern über Schulden […].61

In den siebziger Jahren war es voreilig von Negri und der italienischen Linken,
das »Ende« des Arbeitsplatzes als Ort des Klassenkampfs zu verkünden und
»die Gesellschaft als ganze« zur Arena dieses Kampfes zu erklären. Aber heute
trifft diese Einschätzung zu.
Wie sieht die Zukunft der Arbeiterklasse aus, wenn sich der
Informationskapitalismus weiterhin in derselben Richtung entwickelt wie
bisher?
Zunächst einmal ist die gegenwärtige globale Arbeitsteilung zweifellos
vorübergehend. Der Lebensstandard der Arbeitskräfte im Globalen Süden wird
steigen, und irgendwann wird das Kapital reagieren und in den
Schwellenländern die Automatisierung vorantreiben, um die Produktivität zu
erhöhen. Die Arbeitsmärkte in China und Brasilien werden sich wie die in den
reichen Ländern entwickeln: Der Dienstleistungssektor wird eine
Führungsrolle einnehmen, die Arbeitskräfte werden in einen qualifizierten
Kern und ein peripheres Prekariat aufgespalten, und in beiden Gruppen wird
die Arbeit teilweise von den Einkommen abgekoppelt werden. Wenn sich die
Prognose der Oxford Martin School bewahrheitet, droht den
geringqualifizierten Arbeitskräften im Dienstleistungssektor in den
kommenden zwei Jahrzehnten zudem die völlige Automatisierung ihrer
Tätigkeiten. Die globale Arbeiterklasse wird nicht für immer in Arbeitsbienen
in den Fabriken Chinas und Softwareentwickler in den USA unterteilt bleiben.
Der Kampf am Arbeitsplatz ist allerdings nicht länger das einzige oder
wichtigste Drama.
In vielen Industriestädten und Handelszentren rund um den Erdball ist das
vernetzte Individuum kein soziologischer Sonderfall mehr. Es ist zum Archetyp
geworden. Sämtliche Merkmale, die den Soziologen in den neunziger Jahren an
den Arbeitskräften im Technologiesektor auffielen – Lebhaftigkeit, spontane
Vernetzung, mehrere Persönlichkeiten, Bindungslosigkeit, scheinbare
Unterwürfigkeit, hinter der sich ein heftiger Groll verbarg –, sind mittlerweile
typische Eigenschaften aller jungen, wirtschaftlich aktiven Menschen.
Und diese Eigenschaften findet man trotz der Unterdrückung am
Arbeitsplatz sogar in China, dessen Fabrikarbeiter die Linke zum Alter Ego des
verdorbenen westlichen Konsumenten auserkoren hatte. In den
Arbeitervierteln der exportorientierten Städte Chinas schossen im ersten
Jahrzehnt des neuen Jahrtausends Internetcafés mit Hunderten Plätzen aus
dem Boden. Die Soziologen studierten die jungen Migranten und stellten fest,
dass sie das Internet für zwei Dinge nutzten: Sie knüpften Kontakt zu anderen
Arbeitern aus ihren Heimatstädten und ließen bei Computerspielen Dampf ab.
Das Internetcafé veränderte das Leben dieser jungen Menschen, die nie
woanders als auf einem Bauernhof oder im Wohnheim einer Fabrik geschlafen
hatten. »Unser Vorarbeiter ist ein harter Hund. Aber wenn ich ihm im
Internetcafé begegne, fürchte ich mich nicht vor ihm«, erklärte eine Arbeiterin
im Jahr 2012 im Gespräch mit Forschern. »Hier kann er mich nicht
kontrollieren. Hier ist er nur ein Internetbenutzer wie ich.«62
Mittlerweile klingt das wie eine Beschreibung prähistorischer Bedingungen.
Dank des Smartphones trägt jeder chinesische Arbeiter das Internetcafé heute
in seinem Blaumann mit sich herum. Im Jahr 2012 wurden in China erstmals
mehr mobile Internetverbindungen als Desktop-Anschlüsse gezählt;
mittlerweile haben 600 Millionen Menschen Zugang zu solchen Verbindungen.
Und mobiles Internet bedeutet soziale Netzwerke. Im Jahr 2014 organisierten
30 000 Arbeiter in der Schuhfabrik Yue Yuen in Shenzhen erstmals einen
großen Streik mit Group Messaging und Mikroblogging. Die dörflichen
Beziehungsnetze, die in analoger Form genutzt wurden, um in einer Fabrik
informell Tätigkeiten zu verteilen, werden heute digital genutzt, um über ganze
Industriezweige hinweg Löhne und Arbeitsbedingungen zu vergleichen und
Informationen zu verbreiten.
Zum Entsetzen der chinesischen Machthaber nutzten die Fabrikarbeiter in
Shenzhen dieselbe Technologie wie die liberalen, vernetzten Studenten, die im
Jahr 2014 unter der Bezeichnung »Occupy Central« die Demokratiebewegung
in Hongkong auf die Beine gestellt hatten.
Wenn man davon ausgeht, dass die wichtigste Verwerfungslinie in der
modernen Welt jene zwischen Netzwerken und Hierarchien ist, dann verläuft
diese Linie genau durch China. Und die chinesischen Arbeiter – die digitale
Rebellen, aber analoge Sklaven zu sein scheinen – stehen im Brennpunkt der
vernetzten Revolte. Diese vernetzten Bewegungen sind ein Beleg dafür, dass es
ein neues historisches Subjekt gibt. Dieses Subjekt ist nicht einfach die
Arbeiterklasse in neuem Gewand: Es ist die vernetzte Menschheit.
Und hier haben wir das Gegenmittel, mit dem wir den Pessimismus der
Generation von Gorz bekämpfen können. Gorz glaubte, mit dem Tod der
»wahren« Arbeiterklasse sei der große Widersacher des Kapitalismus
verschwunden. Wer einen Postkapitalismus wollte, musste eine Utopie
anstreben: eine gute Idee, die funktionieren konnte oder auch nicht. Und es
würde keine große gesellschaftliche Kraft mehr geben, welche die Werte dieser
Utopie verkörpern würde.
In den letzten zwanzig Jahren hat der Kapitalismus eine neue soziale Kraft
hervorgebracht, die ihn beerdigen wird, so wie er im 19. Jahrhundert das
Fabrikproletariat hervorbrachte. Die vernetzten Individuen sind diejenigen, die
in den Stadtzentren Protestlager errichten, die Fracking-Anlagen blockieren,
Punkrock-Konzerte auf den Dächern russischer Kathedralen veranstalten, im
Gezi-Park mit Bier anstoßen, um den Islamismus herauszufordern, eine Million
Menschen auf die Straßen Rios und São Paulos bringen und Massenstreiks in
den Industriebezirken Südchinas organisieren.
Sie sind die »aufgehobene« Arbeiterklasse, die verbesserte Version, welche
die alte ersetzt. Mag sein, dass sie von Strategie so wenig verstehen wie die
Arbeiter des frühen 19. Jahrhunderts, aber sie sind dem System nicht mehr
hörig. Sie sind sehr unzufrieden mit ihm. Die vielfältigen Interessen dieser
Gruppe fließen zu dem Bedürfnis zusammen, den Postkapitalismus
herbeizuführen und die Informationstechnologierevolution zu nutzen, um ein
neuartiges Wirtschaftssystem zu errichten. In diesem System wird möglichst
viel kollaborativ und kostenlos für die gemeinsame Nutzung produziert
werden, um die Ungleichverteilung rückgängig zu machen. Der
Neoliberalismus kann ihnen nur stagnierendes Wachstum und den
Staatsbankrott offerieren: Austerität bis zum Tod, aber mit einer verbesserten
Version des iPhone. Und die Freiheit, nach der sich diese Menschen sehnen,
wird vom neoliberalen Staat eingeschränkt – von der Massenüberwachung der
NSA bis zur Kontrolle durch die chinesische Internetpolizei. Über ihre Köpfe
hinweg wird die Politik in vielen Ländern von einer kleptokratischen Mafia
gesteuert, deren Strategie darin besteht, Wirtschaftswachstum als
Gegenleistung für die Unterdrückung der Freiheit und wachsende Ungleichheit
anzubieten.
Dieser neuen Generation vernetzter Menschen ist bewusst, dass sie eine
dritte industrielle Revolution durchlebt – und sie begreift, warum diese
Revolution zum Stillstand gekommen ist: Da das Kreditsystem kaputt ist, kann
der Kapitalismus das mögliche Ausmaß an Automatisierung und die durch die
neuen Technologien ermöglichte Arbeitsplatzvernichtung nicht verwirklichen.
Die Wirtschaft produziert und reproduziert bereits einen vernetzten
Lebensstil und ein vernetztes Bewusstsein, und beides ist unvereinbar mit den
kapitalistischen Hierarchien. Die Sehnsucht nach einem radikalen
wirtschaftlichen Kurswechsel ist groß.
Die nächste Frage ist: Was müssen wir tun, um ihn herbeizuführen?
[1]
»Eine dauernde Hebung findet sich nur bei zwei beschützten Abteilungen der Arbeiterklasse.«
(Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, MEW 2, S. 645)
[2]
Keith Waterhouse' Roman Billy Liar erschien auf Deutsch als Billy, der Lügner (Stuttgart: Klett-
Cotta 1989 [1959]); John Braines Roman erschien in deutscher Übersetzung unter dem Titel Der Weg
nach oben (München: dtv 1981 [1957]).
[3]
* Deutsch als: Samstagnacht und Sonntagmorgen (Reinbek: Rowohlt 1961 [1958]).
TEIL III

Aber es war ebenfalls klar, daß ein allgemein wachsender Wohlstand die
Fortdauer einer hierarchischen Gesellschaft bedrohe, ja, in gewissem Sinne
ihren Untergang bedeutete.
Aus dem fiktiven Werk von Emmanuel Goldstein in George Orwells 1984
8
Transitionen

Die Entdeckung, dass es den Kapitalismus nicht immer gab, kann schockierend
sein. Die Ökonomen stellen den »Markt« als natürlichen Zustand der
Menschheit dar. Für Fernsehdokumentationen werden die ägyptischen
Pyramiden oder das Peking des Kaiserreichs mit phantastischer Detailtreue
rekonstruiert, aber es wird kaum erwähnt, dass die Hochkulturen, die diese
prachtvollen Bauten errichteten, vollkommen andere Wirtschaftssysteme
hatten. »Sie waren eigentlich wie wir«, erklären Väter ihren Kindern im
Brustton der Überzeugung, während sie durch die Herculaneum-Ausstellung
im British Museum schlendern – bis sie auf eine Statue von Pan stoßen, der
eine Ziege vergewaltigt, oder vor einem Wandgemälde stehen, das ein Paar bei
einem flotten Dreier mit seiner Sklavin zeigt.
Hat man einmal begriffen, dass es eine Zeit gab, in der der Kapitalismus
nicht existierte – weder als Wirtschafts- noch als Wertsystem –, taucht ein
Gedanke auf, der noch schockierender ist: Könnte es sein, dass es ihn nicht
ewig geben wird? Wenn es so ist, sollten wir verstehen, wie Transitionen
funktionieren, und uns fragen: Was macht ein Wirtschaftssystem aus, und wie
wird ein solches System durch ein anderes ersetzt?
In den vorhergehenden Kapiteln habe ich gezeigt, wie der Aufstieg der
Informationstechnologie die tragenden Säulen des Kapitalismus untergraben
hat: Preise, Eigentum und Arbeitseinkommen. Ich habe erklärt, dass der
Neoliberalismus nur eine Schimäre war und dass die Krise seit 2008 das
Ergebnis von Mängeln des Wirtschaftsmodells ist, die verhindern, dass die
neuen Technologien genutzt werden können, um einen fünften langen Zyklus
einzuleiten.
Da der Kapitalismus nicht mehr funktioniert, wird der Postkapitalismus
möglich, aber wir haben kein Modell für den Übergang. Der Stalinismus
hinterließ uns eine Blaupause für die Katastrophe. Die Occupy-Bewegung hat
einzelne gute Ideen gehabt. Die sogenannte P2P-Bewegung (Peer-to-Peer) hat
im kleinen Maßstab Kooperationsmodelle eingeführt, und Umweltschützer
haben Konzepte für den Übergang zu einer CO2-neutralen Wirtschaft
entwickelt, die sie jedoch nicht mit einer Überwindung des Kapitalismus
verknüpfen.
Bei der Planung des Übergangs von einem Wirtschaftssystem zu einem
anderen können wir uns also nur auf Erfahrungen mit zwei sehr
unterschiedlichen Vorgängen stützen: dem Aufstieg des Kapitalismus und dem
Zusammenbruch der Sowjetunion. In diesem Kapitel werde ich mich mit der
Frage beschäftigen, was wir aus diesen beiden Prozessen lernen können.
Anschließend werde ich versuchen, diese Lehren auf die Gestaltung eines
»Projektplans« für die Überwindung des Kapitalismus anzuwenden.
Nach 25 Jahren des Neoliberalismus können wir uns kaum noch einen
umfassenden Wandel vorstellen. Aber wenn wir kühn genug sind, uns
vorzustellen, dass wir den Planeten retten können, sollten wir uns auch
vorstellen können, uns von einem Wirtschaftssystem zu befreien, das nicht
funktioniert. Tatsächlich ist die Phase der Imagination entscheidend.
Ein Bolschewik auf dem Mars

In Alexander Bogdanows Science-Fiction-Roman Der rote Planet (1909) wird


der Held, ein Funktionär der russischen bolschewistischen Partei, in einem
Raumschiff zum Mars gebracht. Dort findet er beeindruckende moderne
Fabriken vor. Die erstaunlichste Entdeckung macht er jedoch im
Kontrollzentrum: Auf einer Tafel wird einmal in der Stunde angezeigt, in
welchen Fabriken des Planeten Arbeitskräftemangel herrscht und in welchen
Sektoren überschüssige Arbeiter zur Verfügung stehen. Das Ziel ist, dass sich
die Arbeiter freiwillig dorthin begeben, wo sie gebraucht werden. Da es keinen
Mangel an Gütern gibt, wird die Nachfrage nicht gemessen. Es gibt auch kein
Geld: Jedermann »nimmt, was er braucht und so viel er möchte«, erklärt ihm
sein Führer. Die Arbeiter, die die riesigen Maschinen steuern, aber nie
berühren, faszinieren den Abgesandten der Erde ebenfalls: Sie scheinen
»neugierige gelehrte Beobachter zu sein, die im Grunde mit alledem nichts zu
tun hatten. […] Die Fäden, die das empfindliche Hirn des Menschen mit den
unzerstörbaren Organen des Mechanismus verband, blieben unsichtbar.« 1
In Der rote Planet beschrieb Bogdanow nicht nur, wie eine postkapitalistische
Wirtschaft funktionieren könnte, sondern stellte sich auch vor, was für
Menschen benötigt würden, um dieses Wirtschaftssystem zu verwirklichen:
Man brauchte Informationsarbeiter, deren Gehirne durch etwas »Subtiles und
Unsichtbares« verbunden waren. Mit seiner Beschreibung der
kommunistischen Zukunft verstieß Bogdanow allerdings gegen die
Konventionen seiner Zeit: Keine der Fraktionen des Sozialismus war bereit,
sich mit Luftschlössern zu beschäftigen. Dabei war diese Utopie keineswegs
bloße Spielerei.
Der Arzt Bogdanow zählte zu den 22 Gründungsmitgliedern der
bolschewistischen Fraktion der Sozialdemokratischen Partei. Er saß einige Zeit
im Gefängnis, wurde ins Exil geschickt, führte die Bolschewisten im
Petrograder Sowjet, gab die Parteizeitung heraus, verwaltete ihre Gelder und
organisierte die Finanzierung (durch Banküberfälle). Auf einem berühmten
Foto, das im Jahr 1908 in der Parteischule auf Capri entstand, ist Bogdanow
beim Schachspielen mit Lenin zu sehen. 2 Aber nicht einmal ein Jahr nachdem
diese Aufnahme gemacht worden war, wurde Bogdanow aus Lenins Partei
verstoßen. Er hatte sich in Opposition zu Lenin begeben. Das Zerwürfnis
kündigte die Tragödie an, die bald darauf beginnen sollte.
Nach Ansicht Bogdanows hatte die Revolution von 1905 gezeigt, dass die
Arbeiterklasse noch nicht reif genug war, um die Gesellschaft zu führen. Da die
postkapitalistische Gesellschaft in seinen Augen eine Wissensgesellschaft sein
musste, würde jeder Versuch, sie durch eine Revolution zu errichten, lediglich
eine technokratische Elite an die Macht bringen. Um das zu verhindern,
forderte Bogdanow, müsse man »eine neue proletarische Kultur unter den
Massen verbreiten, eine proletarische Wissenschaft aufbauen, eine
proletarische Philosophie entwickeln«. 3
Für Lenin kam das nicht infrage. Der Marxismus war eine Doktrin
geworden, und diese Doktrin kündigte einen unmittelbar bevorstehenden
Zusammenbruch des Kapitalismus und eine Revolution an. Und die Arbeiter
würden diese Revolution machen, egal welches ihre Vorstellungen und
Vorurteile waren. Bogdanow hatte auch gewagt vorzuschlagen, der Marxismus
solle sich dem neuen wissenschaftlichen Denken anpassen. Er sagte voraus, die
geistige Arbeit werde die körperliche ersetzen und alle Arbeit werde
technologisch werden. Wenn es erst einmal so weit sei, werde unser
Verständnis der Welt über die dialektische Methode hinausgehen müssen, die
Marx von Hegel übernommen hatte. Die Wissenschaft werde an die Stelle der
Philosophie treten und die Menschheit werde lernen, die Realität als
untereinander verbundene »Erfahrungsnetze« zu betrachten. Verschiedene
Disziplinen würden in einer »universellen Organisationswissenschaft«
aufgehen, das heißt im Studium von Systemen.
Zur Strafe dafür, dass er sich in den ersten Systemtheoretiker verwandelt
und eine hellsichtige Warnung vor der möglichen Entwicklung in Russland
ausgesprochen hatte, wurde Bogdanow im Jahr 1909 in einer Fraktionssitzung
in Lenins Pariser Wohnung ausgeschlossen. Wenige Monate später erschien
sein Roman Der rote Planet, der sich unter den russischen Arbeitern rasch
verbreitete. Angesichts der Geschehnisse unter dem Stalinismus muss man
feststellen, dass Bogdanows Beschreibung der postkapitalistischen Gesellschaft
sehr weitblickend war.
Der im Roman beschriebene Kommunismus auf dem Mars beruht auf dem
Überfluss: Es gibt von allem mehr als genug. Die Produktion richtet sich nach
einer transparenten Echtzeitberechnung der Nachfrage. Der Konsum ist gratis.
Das System funktioniert, weil ein Geist der Zusammenarbeit unter den
Arbeitern herrscht, ermöglicht durch ihren hohen Bildungsstand und die
Tatsache, dass sie in erster Linie geistige Arbeit verrichten. Sie wechseln
zwischen dem männlichen und dem weiblichen Geschlecht hin und her,
bleiben angesichts von Belastungen und Gefahren gelassen und selbstlos und
führen ein emotional und kulturell erfülltes Leben.
Auch die Geschichte, die Bogdanow skizziert, ist provokant: Der Mars wurde
unter dem Kapitalismus industrialisiert. Es begann ein Kampf um die Kontrolle
über die Industrie, gefolgt von einer Revolution, die jedoch weitgehend
friedlich war, weil sie nicht von Bauern, sondern von Arbeitern durchgeführt
wurde. In einer Übergangsphase, die einhundert Jahre dauerte, wurde die
Arbeit Schritt für Schritt überflüssig gemacht, indem der Arbeitstag von sechs
auf null Stunden verkürzt wurde.
Jeder, der mit dem orthodoxen Marxismus vertraut ist, versteht die
Botschaft, die Bogdanow zwischen den Zeilen vermitteln wollte: Er nutzte das
Genre des Romans, um eine Alternative zu jenen Vorstellungen vorzuschlagen,
die das Denken der Linken im 20. Jahrhundert beherrschen würden. Er
betrachtete die technologische Reife als Vorbedingung der Revolution und
sprach sich für eine friedliche Entmachtung der Kapitalisten durch
Kompromisse und Entschädigungen aus. Er hielt die Technologie für
notwendig, um den Arbeitseinsatz auf ein Mindestmaß zu verringern, und
beharrte darauf, dass sich nicht nur die Wirtschaft, sondern auch der Mensch
wandeln müsse. Und er verlangte, die postkapitalistische Gesellschaft müsse
die Ressourcen des Planeten nachhaltig nutzen: Die Marsianer in seinem
Roman begehen freiwillig Selbstmord, wenn sie sehen, dass ihr
Bevölkerungswachstum den roten Planeten überlastet. Als die natürlichen
Ressourcen knapp werden, beginnen sie, über eine Kolonisierung der Erde
nachzudenken.
Wenn Sie sich jetzt fragen, was wohl aus Russland geworden wäre, wäre
Lenin auf dem Weg zu der Sitzung, in der Bogdanow ausgeschlossen wurde,
von der Straßenbahn überfahren worden, so sind Sie nicht der Erste.
Zahlreiche Autoren haben mit Blick auf Bogdanows Schicksal die Frage »Was
wäre gewesen, wenn …?« gestellt. Es ist eine berechtigte Frage. Bogdanow
konnte sich keinen Computer vorstellen, aber er stellte sich jenen
Kommunismus vor, den eine auf geistiger Arbeit, Nachhaltigkeit und
vernetztem Denken beruhende Gesellschaft errichten konnte.
Nach 1909 zog sich Bogdanow aus der aktiven Politik zurück und arbeitete
zehn Jahre lang an einem bahnbrechenden Buch über Systemtheorie. In den
ersten Jahren der Sowjetunion gründete er die Bewegung Proletkult, die eine
proletarische Kultur errichten wollte. Proletkult wurde jedoch unterdrückt,
nachdem sich Bogdanow einer Oppositionsgruppe angeschlossen hatte, die
sich für die Arbeiterselbstverwaltung einsetzte. 4 Er wandte sich wieder der
Medizin zu und starb im Jahr 1928 bei einem Selbstversuch. 5
Als die sowjetischen Planer in den dreißiger Jahren begannen, den
Sozialismus per Diktat zu errichten, verwiesen sie gerne auf Der rote Planet als
Inspiration. 6 Aber zu diesem Zeitpunkt entsprachen die Fakten schon nicht
mehr der Utopie.
Der russische Albtraum

Die russische Revolution kam in mehreren Etappen vom Weg ab. Im


Bürgerkrieg (1918-21) wurden Banken und wichtige Industriezweige
verstaatlicht. Die neuen Machthaber legten die Leitung der Produktion in die
Hände von Volkskommissaren, unterwarfen die Gewerkschaften einer
militärischen Disziplin, verboten die Fabrikkomitees und konfiszierten die
Ernte einfach bei den Bauern. Die Folge war, dass die Produktion auf ein
Fünftel des Vorkriegsniveaus fiel. Auf dem Land brachen Hungersnöte aus. Der
Rubel verlor rasch an Wert. Ein Teil der Unternehmen ging zum Tauschhandel
über, die Löhne mussten in Sachleistungen ausgezahlt werden.
Im März 1921 sah sich die sowjetische Führung gezwungen, eine Art von
Marktsozialismus auszuprobieren, die als »Neue Ökonomische Politik« (NEP)
bekannt wurde. Die Bauern durften ihre Ernte wieder behalten und verkaufen,
was der Wirtschaft Auftrieb gab, aber zwei Gefahren heraufbeschwor, die zu
verstehen den bedrängten Revolutionären schwerfiel: Erstens floss das Geld zu
bessergestellten Bauern, die als »Kulaken« bezeichnet wurden, und die
Landwirtschaft erhielt in der Praxis ein Vetorecht bei Entscheidungen über die
Geschwindigkeit der industriellen Entwicklung. Das Ergebnis war ein
»Sozialismus im Schneckentempo«. Zweitens festigte die neue Politik die
Position einer privilegierten Bürokratie, die den Betrieb der Fabriken, die
Verteilung der Güter, das Militär, die Geheimpolizei und die staatliche
Verwaltung kontrollierte.
In der Auseinandersetzung mit den reichen Bauern und den Bürokraten
forderte die Arbeiterklasse mehr Demokratie, eine forcierte Industrialisierung
mittels zentraler Planung und einen entschlossenen Kampf gegen die
Spekulanten. Bald konnte sich auch die Kommunistische Partei dieser
dreifachen gesellschaftlichen Auseinandersetzung nicht mehr entziehen.
Es brach ein innerparteilicher Konflikt aus. Die Protagonisten waren die von
Trotzki geführte linke Opposition, die mehr Demokratie und Planung forderte,
ein von Bucharin geführter Flügel, der die Marktwirtschaft befürwortete und
die Industrialisierung hinauszögern wollte – diese Gruppe rief den Bauern
»Bereichert euch!« zu –, und die von Stalin geführte Gruppe, welche die
Interessen der Bürokratie verteidigte.
Bei der Parade am Jahrestag der Revolution im November 1927 trugen rund
20 000 Anhänger der linken Fraktion Spruchbänder, auf denen gefordert wurde,
die Kulaken, Spekulanten und Bürokraten zu unterdrücken. Als sich die
Belegschaften mehrerer Moskauer Fabriken dem Marsch anschließen wollten,
wurden sie von der Polizei attackiert, und es kam zu Straßenkämpfen.
Stalin schloss Trotzki und die anderen Führer der linken Opposition aus dem
Politbüro aus und zwang sie, ins Exil zu gehen. Anschließend vollzog er einen
jener abrupten Kurswechsel, die Orwell später in 1984 parodierte, und setzte
das Programm der Linken um, wenn auch in einer sehr viel extremeren Form
und mit ungeheurer Brutalität. Im Jahr 1929 war Bucharin an der Reihe: Er fiel
gemeinsam mit dem marktfreundlichen rechten Parteiflügel der nächsten
Säuberung zum Opfer. Es begann die Zwangskollektivierung der
Landwirtschaft, die Kulaken wurden »liquidiert«. Es gibt widersprüchliche
Schätzungen über das Ausmaß des Terrors, aber der Kombination von
Hungersnot und Massenexekutionen fielen auf dem Land innerhalb von drei
Jahren etwa acht Millionen Menschen zum Opfer. 7
Welch ehrgeizige Ziele Stalin mit dem ersten Fünfjahresplan (1928-32)
verfolgte, zeigt eine seiner Erklärungen: »Wir sind hinter den fortgeschrittenen
Ländern um 50 bis 100 Jahre zurückgeblieben. Wir müssen diese Distanz in
zehn Jahren durchlaufen. Entweder bringen wir das zustande, oder wir werden
zermalmt.« 8
Aus den amtlichen Zahlen geht hervor, dass die Produktion in den ersten
fünf Jahren rasant stieg: Der Output von Kohle, Stahl und Erdöl verdoppelte
sich, und gigantische Infrastrukturprojekte wurden vorzeitig abgeschlossen.
Doch anders als in der fiktiven Welt des Roten Planeten stießen die
sowjetischen Planer auf zwei große Hindernisse: Die Wirtschaft war immer
noch agrarisch geprägt, und das technische Fundament der Industrie war
marode und durch zehn Jahre des Chaos geschwächt. Die Planung erfolgte
keineswegs unter den Bedingungen des Überflusses, sondern Stalin zwang die
Planwirtschaft einem unter Knappheit leidenden Land mit einem halbfeudalen
Agrarsystem auf. Fortschritte waren nur dank einer brutalen Umverteilung
möglich: vom Land zur Industrie und von der Konsum- zur Schwerindustrie.
Die Industrialisierungsziele wurden erreicht, aber der Preis dafür waren
Hungersnöte, Massenexekutionen und Sklavenarbeit in vielen
Wirtschaftssektoren. Am Ende stand eine erneute Wirtschaftskrise. 9
Es gelang der Sowjetunion nicht, innerhalb von zehn Jahren mit dem Westen
gleichzuziehen. Aber im Jahr 1977 erreichte sie ein Pro-Kopf-BIP, das bei
57 Prozent des US-amerikanischen lag – womit die Sowjetunion Italien
einholte. Zwischen 1928 und 1985 wuchs die sowjetische Wirtschaft laut einer
von der CIA in Auftrag gegebenen Studie um durchschnittlich 4,2 Prozent pro
Jahr. »Das ist ein rekordverdächtiges nachhaltiges Wachstum«, erklärten die
Forscher der RAND Corporation.10
Dieses Wachstum hatte jedoch kaum etwas mit der Produktivität zu tun. Die
RAND-Studie zeigte, dass nur ein Viertel davon technologischen
Verbesserungen zu verdanken war. Der Rest beruhte einfach darauf, dass der
Input an Maschinen, Rohstoffen und Energie erhöht wurde. Ab 1970 stieg die
Produktivität überhaupt nicht mehr: Wollte man die Zahl der erzeugten Nägel
verdoppeln, so stellte man eine neue Nagelfabrik neben die alte. Die
Produktivität war kein Thema.
Ein solches »extensives Wachstum« ist das Gegenteil jenes intensiven
Wachstums, das tatsächlich den Wohlstand steigert. Mittelfristig ist ein auf
extensivem Wachstum beruhendes System nicht überlebensfähig. Selbst wenn
das sowjetische System nicht dem Druck des Westens ausgesetzt gewesen
wäre, wäre es aufgrund der stagnierenden Produktivität vermutlich
irgendwann unter seinen inneren Problemen zusammengebrochen.
Anarchisten, Agrarsozialisten wie Kondratjew und marxistische Dissidenten
wie Bogdanow erkannten frühzeitig, dass es ein Fehler war, den Sozialismus in
einem rückständigen Land einzuführen. Der Ökonom Holland Hunter wertete
sowjetische Daten aus und stellte fest, dass die Ziele des ersten Fünfjahresplans
nur um den Preis eines Rückgangs des Konsums um 24 Prozent erreicht
worden waren.11 Die sowjetischen Planer hatten sich auf einen Blindflug
eingelassen: Sie legten aufs Geratewohl ein Ziel fest, setzten es herauf, um den
Druck auf ihre Untergebenen zu erhöhen, verfehlten das Ziel – und versuchten
mit gewaltigem Aufwand, die Defizite zu korrigieren oder den Misserfolg zu
vertuschen. Sie weigerten sich anzuerkennen, dass sogar für
Wirtschaftssysteme im Übergang objektive Gesetze gelten, die hinter dem
Rücken der Planer wirken und sich ihrem Willen widersetzen. »Es ist
unmöglich, die Kausalität als Achse für das Studium der sowjetischen
Wirtschaft heranzuziehen«, hieß es Mitte der zwanziger Jahre im
Wirtschaftslehrbuch der Partei.12 In der stalinistischen Phantasiewelt waren
selbst Ursache und Wirkung irrelevant.
Da die Sowjetunion eine Weile schneller wuchs als die westlichen Länder,
blickte die keynesianische Ökonomie voll Ehrfurcht gen Osten. Es waren die
Propheten des Neoliberalismus – Mises und Hayek –, die von Anfang an das
Scheitern der Planwirtschaft voraussagten. Wenn wir einen Projektplan für
den Übergang zum Postkapitalismus entwerfen wollen, müssen wir Hayeks
und Mises' Kritik ernst nehmen. Sie kritisierten nicht nur die sowjetische
Realität, sondern beharrten darauf, dass selbst in einem entwickelten Land jede
Form der Planwirtschaft scheitern werde.
Die Debatte über die Wirtschaftsrechnung

So sonderbar es klingen mag, dass der Sozialismus möglich sei, war einmal eine
zentrale These der Mainstream-Ökonomie. Da die Grenznutzenschule den
Markt für den vollkommenen Ausdruck der menschlichen Vernunft hielt,
hatten ihre Vertreter – solange das nur ein Gedankenexperiment war – kein
Problem mit der Vorstellung, dass ein allwissender Staat dieselben Ergebnisse
erzielen konnte wie ein vollkommener Markt. »Beide Systeme unterscheiden
sich nicht in der Form und führen zum selben Punkt«, schrieb der italienische
Soziologe Vilfredo Pareto. »Das Ergebnis ist sehr bemerkenswert.«13
Im Jahr 1908 beschrieb der Ökonom Enrico Barone genau, wie ein
sozialistischer Staat exakt dieselben Ergebnisse, die der Markt blind erreiche,
durch Berechnung erzielen könne. Barone hielt es für möglich, anhand linearer
Funktionen die effizientesten Formen von Produktion, Konsum und Austausch
zu entdecken: »Es wäre eine ungeheure, eine gewaltige Arbeit […], aber es ist
nicht unmöglich.«14
Dies war ein Glaubensgrundsatz der Grenznutzenschule: Theoretisch war
ein vollkommener Plan, entworfen von einem Staat mit vollkommenem Wissen
und der Fähigkeit, alle Variablen in Echtzeit zu berechnen, ebenso gut wie ein
vollkommener Markt.
Aber es gab einen Haken: So wie der Markt konnte auch der Staat
unmöglich im Voraus berechnen, was benötigt wird. Damit wurde jeder Plan
zu einem Experiment – zu einem gewaltigen Experiment. Der Markt konnte die
Ungleichgewichte in Echtzeit korrigieren; der Plan brauchte dafür länger. Ein
kollektivistisches Regime wird daher Barone zufolge genauso anarchisch sein
wie der Markt, nur in größerem Maßstab. Und in der Praxis konnte der Staat
nie vollkommenes Wissen haben und er konnte die Berechnungen nie schnell
genug anstellen – womit die ganze Debatte akademisch blieb.
Die globale Erhebung der Arbeiterklasse in den Jahren 1917-21 machte die
Frage der »sozialistischen Wirtschaftsrechnung« zu einem konkreten Thema
der Ökonomie. Im Jahr 1919 begannen Deutschland und Österreich ihre
unglückselige »Vergesellschaftung«, die sowjetische Kriegswirtschaft wurde
als eine Form des Kommunismus gepriesen, und in der kurzlebigen
bayerischen Räterepublik wurde ernsthaft über die Möglichkeit diskutiert, das
Geld unverzüglich abzuschaffen. Die Planwirtschaft war kein Gedankenspiel
mehr, sondern eine realistische Möglichkeit, die mit einem gehörigen Maß an
Fanatismus angestrebt wurde.
In diesem Kontext erschien 1921 Ludwig von Mises' Artikel »Die
Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Gemeinwesen«. Der Markt, erklärte
Mises, funktioniere wie eine Rechenmaschine: Die Menschen fällen
Entscheidungen, kaufen und verkaufen Dinge zu einem bestimmten Preis, und
der Markt stellt fest, ob ihre Entscheidungen richtig waren. Über einen
längeren Zeitraum hinweg sorgt dieser Mechanismus für die vernünftigste
Zuteilung der knappen Ressourcen. Aber sobald man das Privateigentum
beseitigt und mit der Planung der Wirtschaft beginnt, gerät die
Rechenmaschine ins Stocken: »Ohne Wirtschaftsrechnung keine Wirtschaft.
Im sozialistischen Gemeinwesen kann es, da die Durchführung der
Wirtschaftsrechnung unmöglich ist, überhaupt keine Wirtschaft in unserem
Sinne geben.«15
Zur Entschlossenheit der radikalen Linken, das Geld abzuschaffen, erklärte
Mises, das werde nichts ändern. Wenn man weiterhin Geld verwende, während
man den Marktmechanismus durch Planung unterdrücke, so verringere man
die Fähigkeit des Geldes, Preissignale zu geben. Wenn man das Geld jedoch
abschaffe, beseitige man den Maßstab für Angebot und Nachfrage: Die
Verteilung werde zu einem Ratespiel: »Jede wirtschaftliche Veränderung wird
so im sozialistischen Gemeinwesen zu einem Unternehmen, dessen Erfolg
weder im vorhinein abgeschätzt noch auch später rückschauend festgestellt
werden kann. Alles tappt hier im Dunkeln. Sozialismus ist Aufhebung der
Rationalität der Wirtschaft.«16
Mises entlarvte die drei entscheidenden Schwächen der Planung in der
Realität: Der Staat kann die wirtschaftlichen Variablen nicht so schnell
berechnen wie der Markt. Der Staat kann die Innovation nicht belohnen. Und
die Verteilung des Kapitals unter den Wirtschaftssektoren wird ohne
Finanzsystem schwerfällig und willkürlich. Mises sagte voraus, dass die
Planung daher zum Chaos führen werde, konkret zur Überproduktion
minderwertiger Güter, die niemand brauche. Eine Weile könne das
funktionieren, weil die »Erinnerung« an die angemessenen Preise im System
gespeichert sei, doch sobald diese Erinnerung verblasse, werde das System
zerfallen. Da das Leben und der Tod der sowjetischen Wirtschaft diese
Prognose bestätigten, wurde Mises' Arbeit später zu einer Bibel der rechten
Anhänger des freien Markts. Seine Zeitgenossen beeinflusste sie allerdings
kaum.
Erst in den dreißiger Jahren kam die Debatte über die sozialistische
Wirtschaftsrechnung angesichts der Weltwirtschaftskrise, des Aufstiegs des
Faschismus und des zweiten sowjetischen Fünfjahresplans in Gang. Die
sowjetische Wirtschaft sei aus den bekannten Gründen ineffizient, erklärte der
Mises-Schüler Friedrich Hayek: Die Konsumenten hätten keine Wahl, die
Ressourcen würden nicht richtig zugeteilt, Innovation werde nicht belohnt.
Aber an Mises' Hauptargument, der Staat könne nie so gut rechnen wie der
Markt, wollte Hayek nicht festhalten. Er glaubte, ein sozialistischer Staat könne
durchaus den Markt ersetzen, wie Barone erklärt hatte. Voraussetzung dafür
sei, dass er die richtigen Informationen habe. Das Problem sei, dass er die
Berechnungen nie schnell genug anstellen könne.
Hayeks Mitarbeiter Lionel Robbins von der London School of Economics
erklärte, um den Plan richtig berechnen zu können, müsse man »Millionen
Gleichungen auf der Grundlage von Millionen statistischer Daten aufstellen,
die ihrerseits auf vielen Millionen einzelner Berechnungen beruhen müssten.
Zu dem Zeitpunkt, da die Gleichungen gelöst wären, hätte die Information, auf
der sie beruhen, keinen Wert mehr, weshalb alles von Neuem berechnet
werden müsste.«17
Diese These löste eine heftige Debatte aus. Der linke polnische Ökonom
Oskar Lange war der Meinung, Hayek und Robbins hätten der Linken
tatsächlich ein großes Zugeständnis gemacht.18
Lange gehörte einer Gruppe von Sozialdemokraten an, die den Marxismus
ablehnten und glaubten, der Sozialismus könne auf der Grundlage der
Grenznutzentheorie errichtet werden. Wenn man einen Konsummarkt
aufrechterhalte und den Menschen die Wahl ihres Arbeitsplatzes überlasse,
gleichzeitig jedoch die Produktion aller Güter plane, dann unterscheide sich
der Prozess von Versuch und Irrtum in einer sozialistischen Ökonomie
konzeptuell nicht vom Preismechanismus. Anstatt in Preisbewegungen zutage
zu treten, kämen die unbefriedigten wirtschaftlichen Bedürfnisse hier in
Versorgungsengpässen und Überschüssen zum Ausdruck. Und die zentrale
Versorgungsstelle könne die Produktionsquoten entsprechend anpassen.
Die meisten unabhängigen Beobachter hielten Langes Argumentation für
überzeugend. Nach dem Krieg erklärte sogar der CIA-Experte für die
Sowjetwirtschaft: »Selbstverständlich kann der Sozialismus funktionieren. […]
In diesem Punkt hat Lange zweifellos recht.«19
Aus einem naheliegenden Grund müssen wir uns heute erneut mit der
Debatte über die Wirtschaftsrechnung befassen: Mittlerweile höhlt die
Technologie den Preismechanismus aus, ohne dass sich gleichzeitig eine
Planwirtschaft entwickeln würde. Superrechner und Big Data machen jene Art
von Echtzeitberechnungen, die Robbins für unmöglich hielt, zu einer
realistischen Option. Robbins sprach von einer Million mal eine Million mal
eine Million Daten. Das wäre ein Exaflop – zufälligerweise die Einheit, in der
wir laut Branchenexperten schon bald die Leistung von Superrechnern messen
werden: Ein Exaflop sind eine Trillion Gleitkommaoperationen pro Sekunde.
Die Leistungsfähigkeit der Supercomputer hat bei den Linken neue Hoffnung
geweckt, dass die Planung doch funktionieren könnte – wenn man nur in der
Lage wäre, das Rechenproblem mit Technologie zu lösen. Tatsächlich gibt es in
einer postkapitalistischen Gesellschaft jedoch kein Rechenproblem. Den Grund
dafür erklärte Mises in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts.
In der »Debatte über die Wirtschaftsrechnung« in den dreißiger Jahren
lehnten beide Lager die Arbeitswerttheorie ab. Der Sozialist Lange und der
Ultrakapitalist Hayek glaubten beide, der Grenznutzen sei das Einzige, was
Wert schaffe. Daher war die Vorstellung einer Transition – in der ein auf der
Knappheit beruhendes System einem auf dem Überfluss beruhenden weicht –
für beide Seiten Neuland. Wenn Kapitalismus und Staatssozialismus lediglich
zwei verschiedene Systeme zur rationalen Zuteilung von Gütern sind, um
einen Gleichgewichtszustand zu erreichen, dann ist der Übergang zwischen
ihnen keine Revolution, sondern einfach eine technische Herausforderung.
Doch wie Mises bereits gezeigt hatte, gibt es überhaupt kein
Berechnungsproblem, wenn die Arbeitswerttheorie stimmt. Die Zuteilung der
Güter, die Entscheidung über Prioritäten und die Belohnung der Innovatoren
haben allesamt Platz in einem auf dem Arbeitswert beruhenden System, denn
dort kann alles am selben Maßstab gemessen werden. Mises hielt den
Sozialismus für möglich – allerdings nur, »wenn es eine objektiv erkennbare
Wertgröße geben würde, die die Wirtschaftsrechnung auch in der verkehr- und
geldlosen Wirtschaft ermöglichen würde. Als solche könnte aber
denkbarerweise nur die Arbeit in Betracht kommen.«20
Die Arbeitswerttheorie lehnte Mises allerdings ab, und zwar aus den
bekannten Gründen, die in den zwanziger Jahren des vergangenen
Jahrhunderts vorgebracht wurden: Es sei unmöglich, mit den Arbeitswerten
unterschiedliche Qualifikationsniveaus zu messen, und sie seien ungeeignet,
um den natürlichen Ressourcen einen Marktwert zuzuordnen. Aber diese
Einwände sind leicht zu widerlegen – tatsächlich beruhen sie auf einem
falschen Verständnis der Theorie von Marx. Marx erklärte, dass
hochqualifizierte Arbeit als ein Vielfaches geringqualifizierter Arbeit gemessen
werden kann und dass der in den Rohstoffen enthaltene Arbeitswert einfach
der Arbeit entspricht, die aufgewandt werden muss, um diese Rohstoffe zu
gewinnen und zu transportieren.
Mises' Arbeit über die Wirtschaftsrechnung enthält noch eine zweite
wertvolle Erkenntnis: Die Zuteilung von Angebot und Nachfrage in einer
Marktwirtschaft erfolgt nicht im Handel zwischen Unternehmen, sondern im
Finanzsystem, denn dieses setzt den Preis des Kapitals fest. Diese scharfsinnige
Erkenntnis ist auch heute bedeutsam: Wenn wir eine postkapitalistische
Gesellschaft wollen, müssen wir nicht nur eine bessere Lösung als den Markt
finden, um die Güter zu verteilen, sondern wir brauchen auch eine bessere
Lösung als das Finanzsystem, um das Kapital zuzuteilen.
Transitionen haben ihre eigene Dynamik

Die linke Opposition in der Sowjetunion verstand als Einzige, wie wichtig die
Arbeitswerttheorie für den Übergang zum Kommunismus war. Für diese
Gruppe und insbesondere ihren führenden Wirtschaftstheoretiker Jewgeni
Preobraschenski bestand das Ziel einfach darin, kostenlose, im Überfluss
vorhandene Güter anzubieten und den »notwendigen Arbeitseinsatz« als
Maßstab des Austauschs zu beseitigen. Wie in Der rote Planet wollten die
sowjetischen Planer anfangs möglichst viele Güter produzieren, um die Arbeit
von den Löhnen und von der Fähigkeit zu konsumieren abzukoppeln. Sie
wollten »das Wertgesetz abschaffen«.
Das konnte die russische Linke allerdings nur erreichen, indem sie die
Schwerindustrie förderte und die staatliche Lenkung vorantrieb. Anfang der
zwanziger Jahre mangelte es in Russland an allem: Um Konsumgüter erzeugen
zu können, brauchte man Schwerindustrie und Elektrizität, und um die
Bevölkerung zu ernähren, musste die Landwirtschaft industrialisiert werden.
Also wurden die Ressourcen in den Sektoren gebündelt, die ins Zentrum der
sowjetischen Propaganda rückten: Stromkraftwerke, Stahlwerke,
Maschinenbau. Aber es war den Planern klar, dass es kaum gelingen würde, ein
Gleichgewicht herzustellen. Die Planung würde wahrscheinlich chaotisch
werden.
Die wohl wichtigste wirtschaftliche Erkenntnis, die uns die trotzkistische
Linke hinterlassen hat, ist die, dass eine Übergangsphase ihre eigene Dynamik
entwickelt: Die Transition ist nie einfach die Auflösung eines Systems und der
Aufstieg eines anderen.
Trotzki war der Meinung, in der ersten Phase des Übergangs zur
sozialistischen Wirtschaft müssten die Privatwirtschaft und der Konsummarkt
erhalten bleiben. Es sei anmaßend zu glauben, dass der Plan in diesem Stadium
die Konsumgüter besser zuteilen könne als der Markt. Außerdem müsse der
Rubel auf dem Weltmarkt konvertierbar bleiben. Und obendrein seien alle
Pläne im Grunde Hypothesen. »Der Plan«, erkläre Trotzki, »wird vom Markt
geprüft und weitgehend umgesetzt.«21
Selbst für grobe Korrekturen wurden Echtzeitinformationen benötigt. Aber
in einer hochgradig bürokratischen Gesellschaft, in der leicht im Gulag enden
konnte, wer eine abweichende Meinung äußerte, wurde solches Feedback
unterdrückt. Deshalb forderte Trotzki eine Rückkehr zur Demokratie am
Arbeitsplatz. Man brauchte einen anpassungsfähigen Plan, das heißt eine
Kombination von Plan und Markt, und das Geld musste sowohl als
Tauschmittel als auch als Wertspeicher erhalten werden. Und man brauchte
Arbeiterdemokratie.
Preobraschenski glaubte, das Geld werde in den Sektoren, die man nicht
planen konnte, weiterhin seine normale Funktion erfüllen, während es sich in
den geplanten Sektoren in ein technisches Abrechnungsinstrument
verwandeln würde. Das Ziel des Plans war es, den Markt mit Gütern zu
überschwemmen, aber man musste davon ausgehen, dass der Markt den Plan
ständig »verunreinigen« würde.
In einer denkwürdigen Passage, deren Relevanz für das 21. Jahrhundert
offenkundig ist, erklärte Trotzki:

Gäbe es einen universellen Verstand […], der sämtliche natürlichen und gesellschaftlichen Prozesse
gleichzeitig registrieren, die Dynamik ihrer Bewegung messen und die Ergebnisse ihrer Interaktionen
voraussagen könnte – ein solcher Verstand könnte selbstverständlich im Voraus einen fehlerfreien und
umfassenden Wirtschaftsplan entwerfen, von der für den Weizenanbau benötigten Fläche bis zum
letzten Westenknopf.22

Da es diesen »universellen Verstand« nicht gab, musste stattdessen die


Arbeiterdemokratie gefördert werden – die jedoch abgeschafft worden war.
Nur wenn sich Menschen, die ihre Meinung frei äußern konnten, in die
Sensoren und Rückkoppelungsmechanismen des Planungssystems
verwandelten, konnte diese plumpe Rechenmaschine funktionieren.
Preobraschenski, Trotzki und ihre Mitarbeiter waren die letzten Marxisten
mit politischer Macht, die sich bei der Transition zum Sozialismus auf die
Arbeitswerttheorie stützen wollten. Preobraschenski wurde 1937 hingerichtet,
Trotzki 1940 ermordet. Ihre Überlegungen sind jedoch bedeutsam für die
Auseinandersetzung mit der heutigen Welt.
Im neoliberalen System ist der Marktsektor um ein Vielfaches komplexer, als
er in den zwanziger und dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts war.
Die USA des Jahres 1933 unterschied sich erheblich von der Sowjetunion des
Jahres 1933, aber die beiden Länder waren einander sehr viel ähnlicher als die
heutige USA der USA vor dreißig Jahren. Der heutige Konsumsektor ist nicht
nur sehr viel größer, sondern auch weitgehend atomisiert. Produktion und
Konsum überschneiden sich, und es sind bereits Informationsgüter in Umlauf,
deren Produktionsgrenzkosten bei null liegen.
Und wir müssen uns mit der von Negri beschriebenen »Gesellschaft als
Fabrik« auseinandersetzen: mit einer finanzialisierten und granularen
Konsumgesellschaft, in der die Identität eines Menschen von den Dingen
abhängt, die er kauft.
Daraus können wir zunächst folgende Lehre ziehen: Der Marktsektor ist
heute sehr viel komplexer, was es schwieriger macht, ihn durch Planung zu
replizieren oder zu verbessern.
Sodann müssen wir uns den Staatssektor ansehen. Der moderne Staat
erbringt sehr viel umfassendere Dienste als jeder kapitalistische Staat im Jahr
1935. Gleichgültig, ob die Steuereinnahmen nun für Dienstleistungen privater
Anbieter oder für staatliche Dienste verwendet werden: Der Staat hat die
wirkliche Privatwirtschaft – in der Privatunternehmen Güter für in der
Privatwirtschaft beschäftigte Konsumenten produzieren – in einen kleineren
Raum gedrängt. Dazu kommt eine beträchtliche Peer-to-Peer-Wirtschaft (auch
wenn sie gemessen am Gewinn und am Beitrag zum BIP nicht groß ist). Die
zweite Lehre lautet also: Jeder Versuch, über den Markt hinauszugehen, muss
an einem anderen Ort beginnen als in den dreißiger Jahren des
20. Jahrhunderts.
Wenn wir die Erkenntnisse richtig deuten, können wir aus der Debatte über
die Wirtschaftsrechnung und aus den Überlegungen der Planungsexperten der
sowjetischen Linken aber durchaus etwas lernen. Doch bevor wir uns den
richtigen Schlüssen zuwenden, müssen wir verstehen, weshalb die
Planwirtschaft trotz aller Supercomputer und Server-Parks nicht die
vorrangige Lösung zur Überwindung des Kapitalismus sein kann.
Angriff der Cyberstalinisten

Der Computerwissenschaftler Paul Cockshott und der Ökonom Allin Cottrell


arbeiten seit zwanzig Jahren unermüdlich an einem Problem, das wir für
unlösbar hielten: Wie kann man eine Wirtschaft planen? Ihre Arbeit ist der
breiten Öffentlichkeit nicht bekannt, aber sie haben sorgfältige Studien
durchgeführt, die uns eine wertvolle Erkenntnis liefern: Ihr Vorschlag zeigt
uns, was wir nicht tun sollten.
Cockshott und Cottrell sind überzeugt, dass der Einwand von Hayek und
Robbins – der Planer kann nie bessere Echtzeitinformation haben als der
Markt – im Prinzip nicht mehr gilt, weil wir heute sehr viel leistungsfähigere
Computer haben und fortschrittliche mathematische Methoden sowie die
Informationstheorie nutzen können. Obendrein erklären sie anders als
seinerzeit die Linken in der Debatte über die Wirtschaftsrechnung, für ein
Computermodell zur Planung der Produktion sollte die Arbeitswerttheorie
herangezogen werden, anstatt zu versuchen, die Ergebnisse von Angebot und
Nachfrage zu simulieren.
Damit lösen sich Cockshott und Cottrell von den Ergebnissen Langes. Sie
haben verstanden, dass uns die Arbeitswerttheorie einen Maßstab liefert,
anhand dessen sowohl die Interaktionen der Marktakteure als auch die
außerhalb des Markts stattfindenden Interaktionen gemessen werden können.
Das würde die Feinjustierung der Transition erleichtern. Sie vergleichen den
Planungsprozess mit einem modularen Computerprogramm. Dieses Programm
würde die Bedürfnisse von Konsumenten und Produzenten abgleichen, die
Kosten ihrer Erfüllung berechnen und die benötigten Ressourcen ermitteln,
Ziele vorgeben, die Auswirkungen auf die Ressourcen berechnen, die
Machbarkeit des Plans prüfen und anschließend Produzenten und Anbieter von
Dienstleistungen anweisen, die Ziele zu erreichen.23
Aber anders als die russische Linke in den zwanziger Jahren betrachten
Cockshott und Cottrell den Plan nicht als Provisorium. Auch soll der
Staatssektor ihn nicht allein umsetzen, sondern er muss bis hinab auf die Ebene
der Unternehmen und Produkte im Detail entworfen und getestet werden.
Ist der Markt einmal abgeschafft, erklären die beiden, so gibt es keine Signale
mehr, nach denen sich der Betreiber einer Fabrik, eines Pflegeheims oder eines
Cafés richten kann. Er muss genau wissen, was er produzieren soll. Cockshott
und Cottrell entwerfen also eine Methode für einen allumfassenden Plan, wie
ihn Trotzki in den dreißiger Jahren beschrieb (und verspottete).
Selbstverständlich gelang es der Sowjetunion nie, einen derart komplexen
Plan zu entwerfen: Um das Jahr 1980 gab es in der Sowjetunion 24 Millionen
verschiedene Produkte, aber der gesamte Planungsapparat konnte nur die
Preise und Mengen von 200 000 dieser Produkte verfolgen, und im eigentlichen
zentralen Plan wurden nur 2000 erfasst. Das Ergebnis war, dass die Fabriken
die Vorgaben für die wenigen Güter erfüllten, die sie liefern sollten, während
sie den Bedarf an allen anderen Produkten chaotisch oder überhaupt nicht
befriedigten.24
Im Modell von Cockshott und Cottrell existiert das Geld in Form von
»Arbeitswertzeichen«, die jedermann abhängig von der geleisteten Arbeit
erhält; von diesem Betrag wird eine Pauschalsteuer für die staatlichen Dienste
abgezogen. Das schafft Spielraum für Konsumentscheidungen. Wenn Angebot
und Nachfrage bei einem Produkt auseinanderlaufen, passen die Planer den
Preis an, um das Gleichgewicht kurzfristig wiederherzustellen. Anschließend
vergleichen sie über einen längeren Zeitraum hinweg die von einem Sektor
oder einer Produktionseinheit verlangten Preise mit der tatsächlichen
Arbeitsleistung. In der nächsten Planungsrunde erhöhen sie die Produktion in
den Bereichen, in denen die Preise höher sind als der Arbeitseinsatz, und
senken sie dort, wo sie unter der aufgewandten Arbeit liegen. Der Plan wird
laufend angepasst. Es ist jedoch nicht einfach ein Prozess von Versuch und
Irrtum: Cockshott und Cottrell glauben, dass In- und Output im Voraus
berechnet werden können, und sie schlagen einen detaillierten Algorithmus
vor, um das zu bewerkstelligen.
Die erste Herausforderung besteht darin, den Wert einer Arbeitsstunde zu
berechnen: In einer gigantischen Tabellenkalkulation wird festgehalten, wie
viel Arbeit in jedem Produkt steckt. Nach Ansicht der beiden Forscher ist das
mit einem Supercomputer zu bewerkstelligen, allerdings nur, wenn
Datenverarbeitungstechniken angewandt werden, mit denen die relevante
Information herausgefiltert werden kann.
Cockshott und Cottrell sehen die schwierigste Aufgabe darin, den Wert
einer Arbeitsstunde zu bestimmen. Der eigentliche Plan, das heißt die
Zuteilung der Ressourcen, ist einfacher, da man das Programm nicht mehr
blind laufen lässt. Man kann ihm Fragen wie diese stellen: Wie hoch ist die zu
erwartende Nachfrage? Wie viel sollten wir ausgehend von der vergangenen
Erfahrung bestellen? Die Forscher gelangen zu folgendem Schluss: »Mit
modernen Computern könnte man täglich aktualisierte Arbeitswerte
berechnen und wöchentlich einen neuen Perspektivplan entwerfen – womit
der Plan etwas schneller reagieren würde als eine Marktwirtschaft.«25
Cockshott und Cottrell haben sogar ein Konzept für eine Planwirtschaft in
der Europäischen Union vorgelegt. Sie erklären nicht nur, wie der Plan zu
berechnen wäre, sondern auch, wie die Wirtschaft umgebaut werden müsste,
um ihn umsetzen zu können. Und hier wird klar, auf welchen Annahmen ihre
Methode beruht: Obwohl sie die Fehler kritisieren, die in den dreißiger Jahren
in der Sowjetunion begangen wurden, ist ihr Vorschlag eine Form von Cyber-
Stalinismus.
In ihrem Modell wird die Abschaffung des Marktes in Europa nicht in erster
Linie durch Verstaatlichungen, sondern durch eine Reform des monetären
Systems bewerkstelligt, damit das Geld beginnen kann, die Arbeitswerte
widerzuspiegeln.26 Auf die Banknoten wird die Zahl der Arbeitsstunden
gedruckt, so dass die Menschen in der Lage sind, das Missverhältnis zwischen
ihrem Arbeitseinkommen und dem Preis der Produkte zu sehen, die sie mit
ihrer Arbeitszeit erwerben können. Im Lauf der Zeit werden die Menschen
daher Produkte wählen, deren Preis ihrem wirklichen Wert eher entspricht –
die Konsumentscheidungen werden zu einem Mechanismus, um den Profit aus
dem System zu pressen. Ein gesetzliches Verbot der Ausbeutung erlaubt es den
Arbeitskräften, sich gegen übermäßiges Profitstreben der Arbeitgeber zur
Wehr zu setzen. Auf diese Art wird der Profit schließlich vollkommen
abgeschafft. Zur Kapitalbildung werden keine Banken mehr gebraucht; das
übernimmt der Staat durch direkte Besteuerung. Die Finanzindustrie wird
ausgelöscht.
Cockshott und Cottrell liefern eine wertvolle Erkenntnis – wenn auch nicht
die, die sie beabsichtigt haben. Sie zeigen, dass man eine entwickelte
Volkswirtschaft des 21. Jahrhunderts nur umfassend planen kann, indem man
sie ihrer Komplexität beraubt, den Finanzsektor vollkommen beseitigt und eine
radikale Änderung des Konsumverhaltens, der Mitbestimmung am Arbeitsplatz
und der Investitionsmuster erzwingt.
Die Frage, wo in dieser Planwirtschaft wirtschaftliche Dynamik und
Innovation herkommen sollen, beantworten die beiden Forscher nicht. Sie
klären auch nicht, wie die deutlich vergrößerte Kulturwirtschaft in das System
passen soll. Stattdessen behaupten sie, eine Planwirtschaft werde aufgrund
ihrer geringeren Komplexität weniger Berechnungen erfordern als eine
Marktwirtschaft.
Das Problem ist: Damit die Planwirtschaft funktionieren kann, muss die
Gesellschaft in einen »planbaren« Zustand zurückkehren. Die Arbeitskräfte
sind über »ihren« Arbeitsplatz mit sämtlichen Aspekten des Plans verwoben –
was geschieht also mit dem Arbeitnehmer, der drei unsichere Arbeitsplätze hat,
oder mit der alleinstehenden Mutter, die sexuelle Dienste per Webcam
anbietet? Die Antwort: Es kann sie nicht geben. Und auch die finanzielle
Komplexität, die das moderne Leben kennzeichnet, muss verschwinden – und
zwar nicht schrittweise, sondern auf einen Schlag. In dieser Welt kann es keine
Kreditkarten und keine Überbrückungskredite geben, und der E-Commerce
würde wahrscheinlich deutlich schrumpfen. Und selbstverständlich ist in
diesem Modell auch kein Platz für Netzwerke und in Allmendeproduktion
entstandene Gratisprodukte.
Die beiden Forscher werfen den sowjetischen Planern dogmatische Idiotie
vor, halten jedoch selbst an einem hierarchischen Gesellschaftskonzept,
physischen Produkten und einem einfachen System fest, in dem
Veränderungen nur langsam stattfinden. Ihr Modell ist der bisher beste Beleg
dafür, dass jeder Versuch, den Postkapitalismus durch staatliche Planung und
Unterdrückung des Markts zu erreichen, zum Scheitern verurteilt ist.
Aber glücklicherweise gibt es einen anderen Weg. Um ihn beschreiten zu
können, müssen wir keinen Plan entwickeln, im Gegenteil: Wir müssen einen
spontanen Mikroprozess verfolgen. Unsere Lösung muss zu einer Welt der
Netzwerke, der Informationsgüter, der Komplexität und der exponentiellen
Veränderung passen.
Selbstverständlich werden wir auf dem Weg zum Postkapitalismus nicht
ohne Planung auskommen. Große Teile der kapitalistischen Welt – von der
Stadtplanung über Bauvorhaben bis zu den integrierten Lieferketten großer
Supermärkte – werden bereits heute effektiv geplant. Möglich gemacht wird
das durch die rasant wachsende Rechenleistung der Computer, die
Verwendung riesiger, komplexer Datenmengen und die digitale Verfolgung
individueller Objekte und Komponenten anhand von Barcodes oder RFID-
Etiketten. Für den Teil unseres Projekts, der geplant werden müsste, ist also
gesorgt.
Die Natur der modernen Gesellschaft verändert allerdings das Problem. In
einer komplexen, globalisierten Gesellschaft, in der die Arbeitskräfte zugleich
die Konsumenten von Finanzdienstleistungen und Mikrodiensten anderer
Arbeitskräfte sind, kann der Plan nur besser als der Markt funktionieren, wenn
wir die Komplexität zurückschrauben und zur Hierarchie zurückkehren. Ein
computergestützter Plan kann der Schuhindustrie sagen, dass sie Schuhe
produzieren solle, aber selbst wenn er alles in Arbeitswerten misst, kann er
Beyoncé nicht sagen, dass sie ein Überraschungsalbum über die Social Media
vermarkten soll (genau das tat sie im Jahr 2013). Und der Plan könnte auch den
interessantesten Bestandteil der modernen Wirtschaft nicht erfassen: die
kostenlosen Dinge. Der Plan würde die Zeit, die jemand darauf verwendet, eine
Wikipedia-Seite zu warten oder ein Update für Linux zu schreiben, genauso
behandeln wie der Markt: Er würde sie als verschwendete und nicht
kalkulierbare Zeit betrachten.
Wenn der Aufstieg der vernetzten Wirtschaft beginnt, das Wertgesetz
auszuhöhlen, kann die Planung nur eine Ergänzung zu einer umfassenderen
Lösung sein.
André Gorz erklärte, die Überlegenheit des Kapitalismus gegenüber dem
sowjetischen Sozialismus beruhe auf seiner »Instabilität, seiner Vielfalt, […]
seinem komplexen, vielgestaltigen Charakter, der dem eines Ökosystems
vergleichbar ist, in dem es unentwegt zu neuen Konflikten zwischen teilweise
autonomen Kräften kommt, die weder kontrolliert noch ein für allemal in den
Dienst einer stabilen Ordnung gestellt werden können«.27
Was wir zu errichten versuchen, sollte noch komplexer, autonomer und
instabiler sein.
Aber der Übergang von einem Wirtschaftssystem zu einem anderen
erfordert Zeit. Wenn die These zutrifft, dass wir in der Übergangszeit zum
Postkapitalismus leben, wird das, was uns bevorsteht, sehr viel größere
Ähnlichkeit mit dem Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus haben als
mit der Veränderung, die den sowjetischen Planern vorschwebte. Diese
Transition wird lange dauern, sie wird Wirren auslösen, und das gesamte
Konzept des »Wirtschaftssystems« wird neu definiert werden müssen.
Und deshalb denke ich immer an Shakespeare, wenn ich mich daran hindern
will, allzu marxistisch über die Zukunft zu denken.
Umwälzungen: Shakespeare oder Marx

Würde man Shakespeares historische Dramen von König Johann bis Heinrich
VIII. an einem Stück sehen, so könnte man glauben, es mit einer Netflix-Serie
zu tun zu haben, durch die sich ein roter Faden aus Mord, Krieg und
Verwüstung zieht, eingewoben in scheinbar sinnlose Auseinandersetzungen
zwischen Königen und Herzögen. Aber hat man einmal die Idee der
»Produktionsweise« verstanden, so wird die Bedeutung klar: Wir haben es mit
dem Zusammenbruch des Feudalismus und der Entstehung des
Frühkapitalismus zu tun.
Die Produktionsweise ist eines der wichtigsten Konzepte der marxistischen
Wirtschaftstheorie. Dieses Konzept hat eine Vielzahl von Historikern
beeinflusst und unsere Einschätzung der Vergangenheit geprägt. Sein
Ausgangspunkt ist die Frage: Welches ist die Grundlage des vorherrschenden
Wirtschaftssystems?
Der Feudalismus war ein System, das auf Verpflichtungen beruhte: Die
Bauern waren verpflichtet, einen Teil der Ernte an den Grundherrn abzutreten
und Militärdienst für ihn zu leisten. Der Grundherr wiederum hatte Steuern an
den König zu zahlen und auf dessen Verlangen Soldaten bereitzustellen. Aber
in dem England, das in Shakespeares historischen Dramen beschrieben ist, war
das Fundament dieses Systems erschüttert. Zu der Zeit, als Richard III. seine
Rivalen im wirklichen Leben abschlachten ließ, war das auf Verpflichtungen
beruhende Machtnetz bereits durch Geld kontaminiert: Die Pacht wurde in
Geld bezahlt, der Militärdienst wurde mit Geld abgegolten, und die Kriege
wurden mit Unterstützung eines grenzüberschreitenden Bankennetzes
finanziert, das sich von Florenz bis Amsterdam erstreckte. Shakespeares
Könige und Herzöge töteten einander, weil das Geld die auf der Loyalität
beruhende Macht destabilisiert hatte.
Shakespeare begriff, worum es ging, lange bevor die Worte »Feudalismus«
und »Kapitalismus« erfunden wurden. Der entscheidende Unterschied
zwischen seinen Historiendramen und den Komödien und Tragödien ist, dass
Letztere die Gesellschaft beschrieben, in der sein Publikum lebte. In den
Komödien und Tragödien sehen wir plötzlich eine Welt der Bankiers und
Kaufleute, es gibt Gesellschaften, Söldner und Republiken. Der typische
Schauplatz dieser Stücke ist keine Burg mehr, sondern eine blühende
Handelsstadt. Der typische Protagonist ist eine bürgerliche Person, die sich
ihre Stellung verdient hat, sei es durch Mut (Othello), Humanismus (Prospero)
oder Kenntnis des Gesetzes (Portia im Kaufmann von Venedig).
Aber Shakespeare hatte keine Ahnung, wohin die Entwicklung führen
würde. Er sah, was das neue Wirtschaftssystem mit dem menschlichen Wesen
machte: Es gab dem Menschen Eigenständigkeit durch Wissen, machte ihn
jedoch in einem bis dahin ungekannten Ausmaß anfällig für Gier, Leidenschaft,
Selbstzweifel und Machthunger. Es dauerte jedoch noch weitere 150 Jahre, bis
der Merkantilismus, der auf Handel, Eroberung und Sklaverei beruhte, den
Weg zum Industriekapitalismus ebnete.
Sieht man sich Shakespeares Werke an und fragt ihn, wie sich seine Zeit von
der Vergangenheit unterscheidet, so lautet die implizite Antwort: »Ideen und
Verhaltensweisen«. Die Menschen messen einander mehr Wert bei, Liebe ist
wichtiger als die Pflicht gegenüber der Familie, und für Werte wie Wahrheit,
wissenschaftliche Erkenntnis und Gerechtigkeit zu sterben lohnt sich sehr viel
eher als der Tod für Hierarchie und Ehre.
Shakespeare ist ein scharfsinniger Beobachter des Augenblicks, in dem eine
Produktionsweise einer anderen weicht. Aber um diese Transition zu
verstehen, brauchen wir auch Marx. In einem materialistischen
Geschichtsverständnis besteht der Unterschied zwischen Feudalismus und
Frühkapitalismus nicht nur in Ideen und Verhaltensweisen. Entscheidend ist
der Wandel des sozialen und ökonomischen Systems. Und im Grunde wird die
Veränderung durch neue Technologien angetrieben.
Marx definiert eine Produktionsweise als ein Gefüge aus wirtschaftlichen
Beziehungen, Gesetzen und Traditionen, die das Regelwerk einer Gesellschaft
darstellen. Im Feudalismus war das Konzept der Macht des Herrn und der
Verpflichtung allgegenwärtig. Im Kapitalismus stellen Markt, Privateigentum
und Löhne den entsprechenden Faktor. Um eine Produktionsweise zu
verstehen, kann man folgende Frage stellen: »Was reproduziert sich spontan?«
Im Feudalismus ist es das Konzept von Treue und Verpflichtung, im
Kapitalismus ist es der Markt.
Und an diesem Punkt wird das Konzept der Produktionsweise anspruchsvoll:
Die Veränderungen sind so gewaltig, dass nie Gleiches mit Gleichem
verglichen werden kann. Daher sollten wir nicht erwarten, dass das
Wirtschaftssystem, das an die Stelle des Kapitalismus treten wird, auf etwas
rein Wirtschaftlichem wie dem Markt oder auf einer Zwangsordnung wie der
Feudalmacht beruhen wird.
Marx leitete aus dem Konzept der Produktionsweise eine klare historische
Sequenz ab: Es gibt mehrere vorkapitalistische Formen der
Gesellschaftsorganisation, und in diesen Systemen werden die Reichen durch
gesetzlich legitimierte Gewalt reich. Dann kommt der Kapitalismus, in dem die
Reichen durch technische Innovation und durch den Markt reich werden. Und
schließlich kommt der Kommunismus, in dem die ganze Menschheit reicher
wird, weil der Überfluss an die Stelle der Knappheit tritt. Dieses Konzept bietet
zwei Angriffspunkte für Kritik: Erstens könnte man sagen, dass es eine Art von
Mythologie ist: Das vorherbestimmte Schicksal der Menschheit erfüllt sich in
drei folgerichtigen Stadien. Zweitens heftet man, indem man das Konzept
retrospektiv anwendet, allzu leicht komplexen Gesellschaften einfache
Etiketten an oder man unterstellt den Akteuren wirtschaftliche Motive, die gar
nicht existierten.
Wenn wir jedoch auf den Mythos der Unausweichlichkeit verzichten und
einfach feststellen, dass »eine Zeit kommen muss, in der es verglichen mit der
Knappheit, die alle vorangegangenen Wirtschaftsmodelle kennzeichnete,
relativen Überfluss geben wird«, dann sagte Marx lediglich dasselbe, was
Keynes Anfang der dreißiger Jahre sagte: Eines Tages wird es ausreichende
Güter geben, womit das Problem der Ökonomie gelöst sein wird. »Zum ersten
Mal seit seiner Schöpfung«, schrieb Keynes, »wird der Mensch mit seinem
wirklichen, seinem dauerhaften Problem konfrontiert: Wie kann er seine
Freiheit von drängenden wirtschaftlichen Sorgen nutzen […], um klug,
verträglich und gut zu leben.«28
Tatsächlich wird die Einteilung der Weltgeschichte in drei Phasen durch
neuere Daten zu Demografie und Bruttoinlandsprodukt bestätigt (die Marx und
Keynes nicht zur Verfügung standen). Bis etwa 1800 wuchs das Pro-Kopf-BIP
nur in Westeuropa nennenswert, was vor allem auf die Eroberung Amerikas
zurückzuführen war. Dann löste die industrielle Revolution in Europa und
Amerika einen spektakulären Anstieg der Wirtschaftsleistung aus, und ab etwa
1950 beschleunigte sich der Zuwachs erneut. Wie das Diagramm zeigt, steigt
das Pro-Kopf-BIP heute rund um den Erdball. Das Stadium, in dem sämtliche
Linien nahezu vertikal anzusteigen beginnen, stellten sich Keynes und Marx
vor. Und dasselbe sollten wir tun.29
Was die Transition vorantreibt

Was verursachte den Zusammenbruch des Feudalismus und den Aufstieg des
Kapitalismus? Diese Frage ist selbstverständlich Gegenstand einer großen
historischen Debatte. Wenn wir jedoch annehmen, dass der Übergang zum
Postkapitalismus von ähnlichen Umwälzungen begleitet sein wird, können wir
einiges über das Wechselspiel zwischen internen und externen Faktoren, über
den relativen Einfluss von Technologien und Ideen und darüber lernen, warum
Transitionen so schwer zu verstehen sind, wenn man mittendrin steckt.
Ausgestattet mit den neuen Erkenntnissen von Genetikern, Epidemiologen
und Sozialhistorikern, können wir vier wahrscheinliche Ursachen für das Ende
des Feudalismus auflisten.
Etwa bis 1300 entwickelte sich die feudale Landwirtschaft dynamisch und
erhöhte das Pro-Kopf-BIP in Westeuropa rascher als irgendwo sonst in der
Welt. Im 14. Jahrhundert häuften sich dann aber die Hungersnöte, was ein
Zeichen dafür war, dass die landwirtschaftlichen Flächen im Feudalsystem
nicht effizient genug genutzt wurden: Die Produktivität konnte nicht mit dem
Bevölkerungswachstum Schritt halten. Im Jahr 1345 stellte der englische König
Eduard III. den Schuldendienst ein, womit er die florentinischen Banken
auslöschte, die ihm Kredite gewährt hatten. Das System konnte die Krise
auffangen, aber sie war ein weiteres Symptom für eine allgemeine Malaise und
ein Hinweis darauf, dass sich eine Krise in einem Teil des feudalen Europa auf
den ganzen Kontinent ausweiten konnte.
Im Jahr 1347 brach eine Pestepidemie aus. Innerhalb von fünf Jahren löschte
der Schwarze Tod mindestens ein Viertel der europäischen Bevölkerung aus.30
Jene, die diese Katastrophe erlebten, wurden durch die Erfahrung spirituell
verwandelt: Es war, als würden sie Zeugen des Endes der Welt. Die
Katastrophe hatte gewaltige wirtschaftliche Auswirkungen: Das
Arbeitskräfteangebot schrumpfte deutlich. Plötzlich konnten die Landarbeiter,
die in der sozialen Hierarchie ganz unten gestanden hatten, höhere Löhne
verlangen.
Als die Epidemie vorüber war, rollte eine Welle wirtschaftlicher
Auseinandersetzungen über den Kontinent: Bauernaufstände in Frankreich und
England, Arbeiterrebellionen in den Handwerkszentren Florenz und Gent.
Historiker bezeichnen dies als »allgemeine Krise des Feudalismus«. Obwohl die
Aufstände scheiterten, wuchs die wirtschaftliche Macht der städtischen
Arbeiter und der Bauern. Der Historiker David Herlihy schreibt: »Die
Renteneinkommen der Grundherren brachen nach dem Schwarzen Tod ein,
während die Löhne in den Städten auf das Doppelte und teilweise Dreifache
des Niveaus vor der Epidemie stiegen.«31
Angesichts der hohen Wollpreise gingen viele Grundherren vom Ackerbau
zur Schafzucht über – und anders als der Weizen war die Wolle nicht für den
Konsum, sondern für den Handel bestimmt. Die traditionellen Armeen, die aus
zum Dienst verpflichteten Bauern bestanden, wurden durch Söldnerheere
ersetzt, die mit Geld entlohnt wurden. Und da es an Arbeitskräften mangelte,
wurden Geräte erfunden, die den Arbeitsaufwand verringerten.
So löste die Ratte, die im Jahr 1347 den Schwarzen Tod nach Venedig
brachte, einen externen Schock aus, der dazu beitrug, ein innerlich
geschwächtes System zum Einsturz zu bringen.
Der zweite Faktor, der den Wandel vorantrieb, war der Aufstieg des
Bankwesens. Im Bankgeschäft konnte man im nicht abgegrenzten Raum
zwischen den offiziellen Klassen des Feudalismus – Adel, Ritter, städtisches
Bürgertum, Bauern usw. – ein Vermögen anhäufen. Die Medici errichteten im
15. Jahrhundert ein länderübergreifendes Unternehmensimperium, und als ihr
Einfluss schwand, nahmen die Fugger ihren Platz ein.
Die Banken pumpten nicht nur systematisch Kredite in die Feudalwirtschaft,
sondern entwickelten sich zu einem alternativen Netzwerk von Macht und
Geheimhaltung. Obwohl ihre Aktivitäten als beinahe unchristlich galten, übten
die Fugger und die Medici mit Krediten inoffiziellen Einfluss auf Könige aus.
Alle Beteiligten machten gemeinsame Sache, um innerhalb der offiziellen
Feudalwirtschaft einen unterschwelligen Kapitalismus zu errichten.
Der dritte wichtige Faktor, der die Entwicklung des Kapitalismus vorantrieb,
war die Eroberung und Plünderung Amerikas. Ab 1503 flossen auch
Nichtadeligen Reichtümer zu, die alles, was der spätfeudalistische Markt
erzeugte, deutlich überstiegen. Bei einem einzigen Raubzug stahlen die
Konquistadoren in Peru 1,3 Millionen Unzen Gold. Die gewaltigen Reichtümer,
die auf diese Art ins frühneuzeitliche Europa importiert wurden, kurbelten den
Markt, das Handwerk und das Bankwesen an. Und sie stärkten die Macht der
Monarchien über die unabhängigen Städte und die verarmten Herzöge in ihren
Burgen.
Und dann war da die Druckerpresse. Gutenberg nahm die erste Maschine im
Jahr 1450 in Betrieb. In den folgenden fünfzig Jahren wurden acht Millionen
Bücher gedruckt – mehr als die Schreiber der Christenheit seit der römischen
Zeit hatten produzieren können. Elizabeth Eisenstein, die große
Sozialhistorikerin des Buchdrucks, hat seinen revolutionären Charakter erklärt:
Er brachte Gelehrte, Priester, Autoren und Metallarbeiter in einer
Geschäftsumgebung zusammen, die der Feudalismus nirgendwo sonst
hervorbringen konnte. Mit dem gedruckten Buch wurden überprüfbares
Wissen und nachweisbare Autorschaft eingeführt. Es begünstigte die
Verbreitung des Protestantismus, der wissenschaftlichen Revolution und des
Humanismus. Die mittelalterliche Kathedrale war eine Anhäufung von Wissen,
aber der Buchdruck machte diese in Stein gemeißelte Enzyklopädie überflüssig
und veränderte die Art und Weise, wie die Menschen dachten.32 Der Philosoph
Francis Bacon schrieb im Jahr 1620, Buchdruck, Schießpulver und Kompass
hätten »die Gestalt der Dinge und die menschlichen Zustände auf der Erde
verändert«.33
Wenn wir diese auf vier Faktoren beruhende Erklärung akzeptieren, müssen
wir feststellen, dass die Auflösung des Feudalismus nicht in erster Linie von
der Technologie herbeigeführt wurde. Sie erfolgte in einem komplexen
Wechselspiel von wirtschaftlichem Zerfall und äußeren Schocks. Ohne den
Siegeszug eines neuen Denkens und ohne die externen Störungen, die neue
Verhaltensweisen möglich machten, wären die neuen Technologien nutzlos
gewesen.
Wenn wir über die Möglichkeit einer Transition nachdenken, die über den
Kapitalismus hinausführen wird, müssen wir davon ausgehen, dass uns ein
ähnlich komplexes Wechselspiel zwischen Technologie, gesellschaftlichen
Konflikten, neuen Ideen und externen Schocks bevorsteht. Aber das Ausmaß
eines solchen Umbruchs macht uns Angst, so wie es uns Angst macht, wenn
man uns zeigt, wie gewaltig unsere Galaxie und wie unermesslich das
Universum ist. Die Folge ist eine fatale Neigung, die Dynamik eines solchen
Übergangs auf einfache Kategorien und Kausalketten zu reduzieren.
Die klassische marxistische Erklärung für die Zerstörung des Feudalismus
lautet, dass er seinen »inneren Widersprüchen« zum Opfer fiel, das heißt dem
Klassenkampf zwischen Bauern und Adel.34 Spätere materialistische Historiker
hingegen konzentrierten sich auf das Versagen und die Stagnation des alten
Systems und die »allgemeine Krise«, die daraus resultierte. Perry Anderson,
ein Historiker der Neuen Linken, hat einen wichtigen Schluss daraus gezogen:
Das wesentliche Symptom für die Ablösung einer Produktionsweise ist nicht
das plötzliche Auftauchen eines neuen Wirtschaftsmodells. »Im Gegenteil, im
typischen Fall tendieren die Produktivkräfte dazu, innerhalb der existierenden
Produktionsverhältnisse zu verharren und zurückzugehen.«35
Welche weiteren allgemeinen Lehren können wir aus dem Untergang des
Feudalismus ziehen?
Zunächst einmal können wir daraus lernen, dass unterschiedliche
Produktionsweisen auf verschiedenartigen Strukturen beruhen: Die Struktur
des Feudalismus stützte sich auf Bräuche und Gesetze, deren wichtigstes Gebot
die Pflicht war. Die Struktur des Kapitalismus beruhte auf etwas ausschließlich
Wirtschaftlichem: auf dem Markt. Ausgehend davon können wir voraussagen,
dass der Postkapitalismus – dessen Voraussetzung der Überfluss ist – nicht
einfach eine modifizierte Form einer komplexen Marktwirtschaft sein wird.
Aber wir können uns nur eine grobe Vorstellung davon machen, wie er
aussehen wird.
Das bedeutet nicht, dass ich mich um eine Prognose drücken will: Im
nächsten Kapitel werde ich zeigen, wie die ökonomischen Parameter einer
postkapitalistischen Gesellschaft im Jahr 2075 aussehen könnten. Wenn das
Gefüge dieser Gesellschaft jedoch nicht auf der Wirtschaft, sondern auf dem
befreiten Menschen beruhen wird, werden unvorhersehbare Dinge geschehen.
Vielleicht wird ein Shakespeare des Jahres 2075 zu der Erkenntnis gelangen,
dass die Beziehungen zwischen den Geschlechtern, die Sexualität oder die
Gesundheit auf den Kopf gestellt wurden. Vielleicht wird es auch keine
Dramatiker mehr geben: Vielleicht wird sich das Wesen der Medien, die wir
verwenden, um Geschichten zu erzählen, bis dahin vollkommen geändert
haben – so wie es zu Shakespeares Zeit geschah, als die ersten öffentlichen
Theater gebaut wurden.
Der Marxismus, der darauf beharrt, die Veränderung müsse vom Proletariat
vorangetrieben werden, lässt eine wichtige Frage außer Acht: Wie müssen sich
die Menschen ändern, damit der Postkapitalismus entstehen kann? Genau diese
Frage müssen wir uns bei der Auseinandersetzung mit dem Übergang vom
Feudalismus zum Kapitalismus stellen.
Nehmen wir beispielsweise den Unterschied zwischen Horatio aus
Shakespeares Hamlet und einer Figur wie Daniel Doyce aus Klein Dorrit von
Charles Dickens. Beides sind Nebenfiguren, die dem Protagonisten als
Resonanzboden dienen, und beide schleppen eine charakteristische Obsession
ihrer Zeit mit sich herum: Horatio ist von der humanistischen Philosophie
besessen, Doyce von der Patentierung seiner Erfindung. In einem Werk von
Shakespeare konnte es keine Figur wie Doyce geben; sie hätte lediglich eine
winzige komische Rolle als Vertreter der Arbeiterklasse spielen können. Doch
zu der Zeit, als Dickens Klein Dorrit schrieb, kannte jeder seiner Leser einen
Menschen wie Daniel Doyce. So wie sich Shakespeare Doyce nicht vorstellen
konnte, können wir uns nicht vorstellen, welche Art von Menschen die
Gesellschaft hervorbringen wird, sobald sich nicht mehr das ganze Leben um
die Ökonomie dreht.
Halten wir erneut fest, was wir über den Verlauf der letzten Transition
wissen. Anschließend können wir nach Parallelen suchen.
Das feudale Landwirtschaftsmodell stieß zunächst an natürliche Grenzen
und wurde anschließend durch einen massiven externen Schock – die Pest –
erschüttert, der zu einem demografischen Einbruch führte: Da es in der
Landwirtschaft nun an Arbeitskräften mangelte, stiegen die Löhne, und das
System der feudalen Verpflichtungen konnte nicht aufrechterhalten werden.
Der Arbeitskräftemangel erzwang auch technologische Innovationen. Die
Einführung neuer Technologien, die den Aufstieg des Merkantilismus
begleitete, regte die Wirtschaft (Druck und Buchführung), die Schaffung von
Wohlstand durch Handel (Bergbau, Kompass, schnellere Schiffe) und die
Produktivität an (Mathematik und wissenschaftliche Methode).
Bestandteil des gesamten Prozesses ist etwas, das im alten System
nebensächlich scheint, jedoch die Grundlage des neuen Systems bilden wird:
Geld und Kreditwesen. Tatsächlich lassen viele Gesetze und Bräuche der
Feudalzeit das Geld vollkommen außen vor, und der Geldverleih gilt als Sünde.
Daher wirkt es wie eine Revolution, als Geld und Finanzwesen die Grenzen
durchbrechen und ein Marktsystem begründen. Das neue System profitiert
zusätzlich von der Entdeckung einer praktisch unerschöpflichen Quelle
kostenlosen Wohlstands in Amerika.
Die Kombination dieser Faktoren verschaffte einer Gruppe, die im
Feudalsystem verfolgt oder marginalisiert worden war – Humanisten,
Wissenschaftler, Handwerker, Rechtsanwälte, radikale Prediger und
unkonventionelle Dramatiker wie Shakespeare –, eine Führungsrolle bei der
Verwandlung der Gesellschaft. In entscheidenden Momenten behinderte der
Staat den Wandel nicht mehr, sondern förderte ihn – wenn auch anfangs
zögerlich.
Der Übergang zum Postkapitalismus wird nicht genauso verlaufen, aber
grobe Parallelen sind zu beobachten.
Die Kraft, die den Kapitalismus zersetzt, ohne dass die Mainstream-
Ökonomen es bemerken würden, ist die Information. Das moderne Gegenstück
zur Druckerpresse und zur wissenschaftlichen Methode ist die
Informationstechnologie, die auf alle anderen Formen der Technologie
übergreift, von der Genetik über das Gesundheitswesen und die Landwirtschaft
bis zum Film.
Das moderne Äquivalent der langen Stagnation des Spätfeudalismus ist der
Stillstand des fünften Kondratjew-Zyklus: Es kommt nicht zu einer raschen
Beseitigung der menschlichen Arbeit durch die Automatisierung, sondern es
entstehen nur noch geringbezahlte Bullshit-Jobs. Viele Volkswirtschaften
stagnieren.
Und welches ist das Gegenstück zu Amerika als Quelle kostenloser
Reichtümer? Es sind nicht direkt Reichtümer, sondern externe Effekte – die
kostenlosen Dinge und das Wohlergehen dank der vernetzten Interaktion. Es
ist der Aufstieg der Produktion abseits des Marktes, der Informationen, die
niemand besitzen kann, der Peer-Netzwerke und der Unternehmen ohne
Management. Das Internet, das wir zur Eroberung einer neuen Welt nutzen, ist
»Schiff und Ozean zugleich«, wie es der französische Ökonom Yann Moulier-
Boutang ausdrückt. Tatsächlich ist es das Schiff, der Kompass, der Ozean und
das Gold.
Worin die heutigen externen Schocks bestehen, liegt auf der Hand:
Erschöpfung der Energiequellen, Klimawandel, alternde Bevölkerung und
Migration. Diese Schocks verändern die Funktionsweise des Kapitalismus –
und machen ihn auf lange Sicht funktionsuntüchtig. Bisher haben sie noch
keine vergleichbare Wirkung gehabt wie die Pest im Mittelalter, aber jede
weitere Finanzkrise könnte leicht verheerende Auswirkungen auf unsere
empfindlichen urbanen Gesellschaften haben. Wie der Hurrikan Katrina im
Jahr 2005 in New Orleans zeigte, bedarf es keiner Pestepidemie, um die
gesellschaftliche Ordnung und die Infrastruktur einer modernen Stadt zu
zerstören.
Haben wir einmal verstanden, dass die Transition begonnen hat, so
brauchen wir keinen von Supercomputern berechneten Fünfjahresplan,
sondern ein graduelles und modulares Projekt. Unser Ziel sollte sein, die
Technologien, Geschäftsmodelle und Verhaltensweisen zu verbreiten, die den
Markt auflösen, die Notwendigkeit der Arbeit beseitigen und die
Weltwirtschaft zum Überfluss führen. Das bedeutet nicht, dass wir auf
kurzfristige Eingriffe verzichten sollten, um Risiken abzufedern oder
Ungerechtigkeit zu beseitigen. Aber es bedeutet, dass wir uns des Unterschieds
zwischen strategischen Zielen und kurzfristigen Maßnahmen bewusst sein
müssen.
Wir müssen den Prozess, der spontan begonnen hat, gezielt gestalten, damit
er unumkehrbar wird und möglichst rasch sozial gerechte Ergebnisse zeitigt.
Dazu bedarf es einer Mischung aus Planung, staatlichen Beiträgen,
Marktwirtschaft und Peer-Produktion. Es muss allerdings auch Raum für
moderne Gegenstücke zu Gutenberg und Columbus bleiben. Und für einen
modernen Shakespeare.
Die meisten Linken des 20. Jahrhunderts hielten eine gesteuerte Transition
für unmöglich. Einer ihrer Glaubensgrundsätze lautete, dass kein Bestandteil
des kommenden Systems im alten existieren könne – obwohl die
Arbeiterklasse stets versuchte, im Kapitalismus ein alternatives Leben zu
gestalten. Als die Möglichkeit einer Transition nach sowjetischer Art in weite
Ferne rückte, begann sich die moderne Linke darauf zu beschränken, sich
Änderungen zu widersetzen: der Privatisierung des Gesundheitswesens, der
Einschränkung der Gewerkschaftsrechte, dem Fracking usw.
Die Linke muss wieder lernen, positiv zu handeln: Anstatt nur einzelne
Elemente des alten Systems zu verteidigen, muss sie innerhalb des Systems
Alternativen entwickeln, die Regierungsmacht zu radikalen Veränderungen
nutzen und sich auf den Übergang konzentrieren.
Die Sozialisten des frühen 20. Jahrhunderts hielten es für vollkommen
unmöglich, das neue System innerhalb des alten vorzubereiten. »Das
sozialistische System«, erklärte Preobraschenski einmal kategorisch, »kann
nicht molekular in der Welt des Kapitalismus errichtet werden.«36
Eine anpassungsfähige Linke muss den Mut aufbringen, sich von dieser
Überzeugung zu lösen. Es ist durchaus möglich, die Elemente des neuen
Systems in kleinen Schritten innerhalb des alten zusammenzufügen. Diese
Elemente sind bereits vorhanden: die Kooperativen, die
Genossenschaftsbanken, die Peer-Netzwerke, die Unternehmen, die ohne
Management auskommen, und die Parallelwirtschaft der Subkultur. Wir
müssen aufhören, darin sonderbare Experimente zu sehen. Wir müssen
beginnen, diese Neuerungen durch geeignete Rechtsvorschriften so
entschlossen zu unterstützen, wie der Kapitalismus im 18. Jahrhundert das
Gesetz einsetzte, um die Bauern von ihrem Land zu vertreiben oder das
Handwerk zu zerstören.
Und schließlich müssen wir lernen, was dringend getan werden muss und
was wichtig ist – und wir müssen verstehen, dass das Dringende und das
Wichtige nicht immer dasselbe sind.
Würden uns in den kommenden fünfzig Jahren keine externen Schocks
drohen, so könnten wir es uns leisten, die Dinge ruhig anzugehen: In einem
friedlichen Übergang würde der Staat die Veränderung ordnungspolitisch
steuern. Aber da die äußeren Schocks gewaltig sein werden, müssen wir einige
drastische Eingriffe sofort und zentralisiert vornehmen.
9
Rationale Gründe zur Panik

Wo auch immer ich hinkomme, stelle ich Fragen zur Wirtschaft – und erhalte
Antworten zum Klima. Im Jahr 2011 begegnete ich auf den Philippinen
landlosen Bauern, die in einem Elendsviertel in Manila hausten. Was war
geschehen? »Die Taifune«, antworteten sie. »Wenn die Taifune häufiger
werden, wächst der Reis nicht mehr gut. Es gibt nicht mehr genug Sonnentage
zwischen Aussaat und Ernte.«
In der chinesischen Provinz Ningxia, die durch einen kargen Gebirgszug von
der Wüste Gobi getrennt ist, traf ich Schafhirten, die ihre Tiere mit
Trockenfutter füttern mussten, da das Grasland austrocknete. Im Jahr 2008
schwärmten Wissenschaftler in den Bergen aus, um herauszufinden, was mit
den 144 Quellen und Bergbächen geschehen war, die auf den Karten
eingetragen waren. Sie berichteten: »Infolge des Klimawandels und der
Umweltzerstörung gibt es in den gebirgigen Regionen im Süden keine Quellen
und Bäche mehr.« 1
In New Orleans wurde ich im Jahr 2005 Zeuge, wie sich im reichsten Land
der Erde in einer bereits angeschlagenen modernen Stadt die gesellschaftliche
Ordnung auflöste. Der unmittelbare Auslöser war ein Wirbelsturm; die tiefere
Ursache war, dass die Infrastruktur die Veränderung des Witterungsmusters
nicht bewältigen konnte und dass ein von der Armut geschwächtes soziales
und ethnisches Gefüge den Schlag nicht verkraftete.
Ökonomen und Ökologen führen eine sinnlose Debatte darüber, welche der
beiden Krisen wichtiger ist: die der Biosphäre oder die der Wirtschaft. Die
materialistische Antwort ist, dass ihre Schicksale miteinander verwoben sind.
Wir lernen die Natur nur kennen, indem wir mit ihr interagieren und sie
verändern: So hat uns die Natur gemacht. Selbst wenn es der Erde ohne uns
besser ginge, wie manche Anhänger der »Tiefenökologie« behaupten, sind wir
die Einzigen, die sie retten können.
In der Welt der Anzugträger und Klimagipfel herrscht eine selbstgefällige
Ruhe. Es werden Szenarien dafür entwickelt, »was geschehen wird«, für die
Klimakatastrophe, die uns erwartet, wenn wir zulassen, dass die globale
Durchschnittstemperatur um mehr als zwei Grad über das vorindustrielle
Niveau steigt. Doch in den Randgebieten der Welt vollzieht sich die
Katastrophe bereits. Würden wir den Menschen zuhören, deren Leben schon
heute von Überschwemmungen, Entwaldung und der Ausbreitung der Wüsten
zerstört worden ist, so verstünden wir besser, was uns bevorsteht: der
Zusammenbruch unserer Welt.
Der Weltklimarat (IPCC) ließ in seinem fünften Bericht im Jahr 2013 keinen
Zweifel daran: Der Planet erwärmt sich. »In den fünfziger Jahren«, erklären die
angesehensten Klimaforscher der Welt, »begannen Veränderungen, die über
Jahrzehnte, ja Jahrtausende beispiellos sind. Die Erdatmosphäre und die
Ozeane erwärmen sich, die Schnee- und Eisdecken schrumpfen, der
Meeresspiegel steigt, und die Konzentration von Treibhausgasen wächst.« 2
Der Weltklimarat ist überzeugt, dass diese Veränderungen in erster Linie vom
Menschen verursacht worden sind, der fossile Brennstoffe nutzt, um das
Wirtschaftswachstum anzutreiben – und zwar in einem Ausmaß, das die
Klimaexperten dazu veranlasst hat, die Wahrscheinlichkeit von höheren
Temperaturen, mehr Sonnentagen und häufigeren Hitzewellen in diesem
Bericht von »hoch« auf »sehr hoch« heraufzusetzen. Wissenschaftler
verwenden solche Begriffe nicht leichthin; die geänderte Wortwahl zeigt, dass
sie ein höheres Maß an Gewissheit haben.
Unser Ökosystem ist so komplex, dass wir unmöglich jede Störung des
Klimas mit absoluter Sicherheit auf die menschliche Einflussnahme
zurückführen können. Aber nach Ansicht des Weltklimarats können wir mit
einiger Sicherheit feststellen, dass extreme Wetterphänomene – Hurrikans,
Überschwemmungen, Taifune, Dürrephasen – in der zweiten Hälfte des
Jahrhunderts zunehmen werden.
In seiner aktualisierten Prognose aus dem Jahr 2014 warnt der IPCC
unmissverständlich: Gelingt es uns nicht, den Anstieg der CO2-Emissionen zu
stoppen, so wird die Wahrscheinlichkeit »gravierender, umfassender und
irreversibler Auswirkungen auf Menschen und Ökosysteme« steigen. Ich weise
erneut darauf hin, dass dies aus einem Bericht von Wissenschaftlern stammt,
die ihre Worte stets sorgfältig abwägen.
Mainstream-Ökonomen werden in dem, was auf uns zukommt, einen
»exogenen Schock« erkennen, eine zusätzliche Quelle des Chaos in einer
ohnehin bereits chaotischen Situation. Die philippinischen Bauern,
Afroamerikaner in Louisiana und die Bewohner der Provinz Ningxia leiden
schon heute unter diesen Schocks.
Klimapolitiker und Nichtregierungsorganisationen haben zahlreiche
Szenarien entwickelt, die zeigen, was wir tun müssen, um den Klimawandel
aufzuhalten. Doch obwohl sie die Erde als komplexes System begreifen, neigen
sie dazu, die Wirtschaft als einfache Maschine mit In- und Outputs,
Energieerfordernissen und einem rationalen Markt darzustellen, der alles wie
eine unsichtbare Hand steuert. Wenn sie vom »Übergang« sprechen, meinen
sie eine mehrstufige Evolution der Energiepolitik, die anhand eines
modifizierten Marktmechanismus zur Verbrennung von weniger CO2 führen
wird.
Die Wirtschaft ist jedoch ihrerseits komplex. So wie das Wetter in der
Hurrikan-Saison neigt sie zu sich unkontrollierbar beschleunigenden
Reaktionen und komplexen Rückkopplungsschleifen. Wie das Klima bewegt
sich auch die Wirtschaft durch eine Mischung von kurz- und langfristigen
Zyklen. Aber wie wir gesehen haben, führen diese Zyklen zu Mutationen und
über einen Zeitraum von 50 oder auch 500 Jahren schließlich zum
Zusammenbruch.
Bisher habe ich es vermieden, die Klimakrise in meine Argumentation
»einzubauen«. Ich wollte zeigen, dass allein der Zusammenstoß zwischen
Informationstechnologie und Marktstrukturen unser gesamtes
Wirtschaftssystem verändert. Selbst wenn die Biosphäre in einem stabilen
Zustand wäre, würde uns die Technologie über den Kapitalismus hinausführen.
Aber der Industriekapitalismus hat im Zeitraum von 200 Jahren das Klima
um 0,8 Grad Celsius wärmer gemacht, und mit Sicherheit wird er die
Temperatur bis zum Jahr 2050 zwei Grad über den vorindustriellen
Durchschnittswert heben. Daher müssen wir die Prioritäten eines Projekts, das
uns über den Kapitalismus hinausführen wird, der vordringlichen
Herausforderung des Klimawandels anpassen. Entweder wir reagieren
rechtzeitig und nehmen diese Herausforderung relativ geordnet in Angriff,
oder wir schlittern in die Katastrophe.
Mittlerweile lacht alle Welt über die absurden Behauptungen derer, die den
Klimawandel leugnen, aber ihre Antwort hat durchaus etwas Rationales. Sie
wissen, dass die Klimaforschung ihre Autorität, ihre Macht und ihre
ökonomische Welt zerstört. In gewisser Weise haben sie verstanden: Wenn der
Klimawandel real ist, ist der Kapitalismus am Ende.
Wirklich absurd sind nicht die Theorien derer, die den Klimawandel
leugnen, sondern die Vorstellungen jener Politiker und Ökonomen, die
glauben, die bestehenden Marktmechanismen könnten den Klimawandel
stoppen, der Markt müsse die Grenzen für klimaschonende Maßnahmen ziehen
und die Marktstruktur könne angepasst werden, um das größte Umbauprojekt
in der Geschichte der Menschheit zu bewältigen.
Im Januar 2014 eröffnete der Diplomat John Ashton, ehemaliger
Sonderbeauftragter der britischen Regierung für den Klimawandel, dem Einen
Prozent die schonungslose Wahrheit: »Ein sich selbst überlassener Markt kann
das Energieversorgungssystem und die Wirtschaft nicht innerhalb einer
Generation umgestalten.« 3
Selbst wenn alle angekündigten Pläne zur Verringerung der Emissionen
verwirklicht, alle Umweltsteuern umgesetzt und alle Ziele für den Ausbau der
erneuerbaren Energien erreicht werden – selbst wenn die Konsumenten nicht
gegen höhere Steuern revoltieren und wenn es nicht zu einer Entglobalisierung
kommt –, wird der CO2-Ausstoß nach Berechnungen der Internationalen
Energieagentur bis 2035 um zwanzig Prozent steigen. So kann die
Erderwärmung nicht auf zwei Grad beschränkt werden, sondern die
Durchschnittstemperatur wird um 3,6 Grad steigen. 4
Und wie haben die Mächtigen auf die Erkenntnis reagiert, dass wir unseren
4,5 Milliarden Jahre alten Planeten destabilisieren? Sie sind zu dem Schluss
gelangt, dass eine 25 Jahre alte Wirtschaftsdoktrin die Lösung ist. Sie haben
sich entschlossen, Anreize für eine geringere Nutzung der fossilen Brennstoffe
zu schaffen, indem sie diese rationieren und besteuern und die Alternativen
subventionieren. Da sie im Markt den höchsten Ausdruck der menschlichen
Vernunft sehen, glauben sie, er werde die richtige Ressourcenallokation
anregen, um das Ziel einer Begrenzung des Temperaturanstiegs auf zwei Grad
zu erreichen. Doch das ist pure Ideologie, und sie erweist sich als vollkommen
falsch.
Wenn wir unter der Schwelle von zwei Grad bleiben wollen, darf die
Weltbevölkerung nach Einschätzung der Internationalen Energieagentur in
den Jahren 2000 bis 2050 nicht mehr als 886 Milliarden Tonnen an fossilen
Energieträgern verbrennen. Die Öl- und Gasunternehmen schätzen die
Reserven allerdings auf 2,8 Billionen Tonnen, und ihre Aktien werden so
bewertet, als wären diese Reserven nutzbar. Die NGO Carbon Tracker Initiative
warnt die Investoren: »Sie müssen verstehen, dass sechzig bis achtzig Prozent
der Kohle-, Erdöl- und Erdgasreserven der börsennotierten Unternehmen nicht
genutzt werden können.« 5 Das bedeutet, dass sich die Temperatur der Erde
auf ein katastrophal hohes Maß erhöhen wird, wenn wir diese fossilen
Brennstoffe tatsächlich nutzen.
Doch steigende Energiepreise sind ein Marktsignal. Sie signalisieren den
Energieproduzenten, dass es eine gute Idee ist, in neue und teurere
Fördermethoden zu investieren. Im Jahr 2011 investierten die Produzenten
647 Milliarden Dollar in die Exploration und Förderung fossiler Brennstoffe:
Teersande, Fracking und Tiefseelagerstätten. Als die globalen Spannungen
zunahmen, entschloss sich Saudi-Arabien, den Ölpreis zu drücken, um die neue
amerikanische Förderindustrie ausbluten zu lassen, und trieb nebenbei Putins
Russland in eine Haushaltskrise.
Und damit sandten sie ein Marktsignal an die amerikanischen Autofahrer:
Kauft mehr Autos und fahrt mehr Kilometer damit. Allem Anschein nach gibt
der Markt nicht immer die besten Signale.
Wir können es auch als Investitionsproblem betrachten: Entweder die Öl-
und Gaskonzerne sind in Wahrheit sehr viel weniger wert, als ihre
Börsenkapitalisierung besagt – oder niemand glaubt, dass wir den Verbrauch
fossiler Energieträger drosseln werden. Der Börsenwert der 200 Konzerne, die
über die größten Vorräte an Öl, Kohle und Gas verfügen, beläuft sich auf
insgesamt vier Billionen Dollar. Ein Großteil dieses Werts würde sich in Luft
auflösen, sollten wir uns dazu durchringen, auf diese Energieträger zu
verzichten. Und das ist keine Panikmache nervöser Klimaschutz-NGOs: Im Jahr
2014 warnte der britische Zentralbankgouverneur Mark Carney die
Versicherungskonzerne der Welt, eine erhebliche Überschreitung des Zwei-
Grad-Ziels werde »die Überlebensfähigkeit ihres Geschäftsmodells
bedrohen«. 6
Daraus können wir folgende Lehre ziehen: Eine auf dem Marktmechanismus
beruhende Strategie gegen den Klimawandel ist utopisch.
Welches sind die Hindernisse für eine Strategie, die nicht auf den Markt
setzt? Da ist zunächst einmal die Lobbymacht der Energiekonzerne. Zwischen
2003 und 2010 erhielten Lobbygruppen, die den Klimawandel leugnen, in den
USA 558 Millionen Dollar an Spenden. ExxonMobil und die ultrakonservativen
Koch-Brüder zählten bis 2007 zu den größten Spendern; von da an flossen
zahlreiche Spenden über anonyme Dritte, um sie vor den
Enthüllungsjournalisten zu verstecken. 7 Das Ergebnis? Die Welt gibt jährlich
schätzungsweise 544 Milliarden Dollar für die Subventionierung der Industrie
aus, die von fossilen Energieträgern lebt. 8
Das ist allerdings nur der sichtbare Teil des Klimawahnsinns. Nachdem auf
dem Kopenhagener Gipfel im Jahr 2009 keine globale Einigung über den Weg
zum Zwei-Grad-Ziel gefunden worden war, taten sich die Energiekonzerne
zusammen, um Druck auf die nationalen Regierungen auszuüben und die
Festlegung klarer Emissionsziele hinauszuzögern oder Ausnahmeregelungen
für bestimmte Unternehmen durchzusetzen.
Doch entschlossene positive Aktionen können durchaus effektiv sein. In
Deutschland hat der plötzliche Atomausstieg nach dem Unfall in Fukushima in
Kombination mit Investitionen in erneuerbare Energien auf die
Energieversorger dieselbe Wirkung gehabt, die eine strikte Anwendung von
Emissionsgrenzen auf die Marktkräfte haben würde: Er hat sie in ihren
Grundfesten erschüttert.
Im deutschen System haben Wind- und Sonnenenergie sowie andere
erneuerbare Energieträger Vorrang bei der Stromversorgung. Scheint die
Sonne und weht eine kräftige Brise, was zum Beispiel am 16. Juni 2013 der Fall
war, so können die Erneuerbaren mehr als die Hälfte des benötigten Stroms
liefern. An solchen Tagen müssen die Gas- und Kohlekraftwerke – die nicht
wirklich in der Lage sind, ihre Produktion anzupassen, da sie eigentlich nur an-
und abschalten können – hundert Euro pro Megawatt an die Netzbetreiber
zahlen, damit sie ihnen die nicht benötigte Energie abnehmen. Das Ergebnis
sind negative Preise für fossile Energie. Wie es The Economist ausdrückt: »Für
die etablierten Stromversorger […] ist das eine Katastrophe […]. Bei negativen
Preisen kann man kein normales Geschäft betreiben, in dem die Kunden
abhängig von ihrem Konsum bezahlen.« 9
In vielen Ländern ist die Energiepolitik gelähmt, was nicht nur an der
Lobbymacht der Öl- und Gasindustrie liegt, sondern auch daran, dass es
schwierig ist, mit Marktmechanismen – zum Beispiel mit Preiserhöhungen –
Verhaltensänderungen zu erzwingen. Besser wäre es, das gesamte System
umzubauen.
Die Befürworter des grünen Kapitalismus können sich eher das Ende der
Welt vorstellen als eine nicht vom Markt gesteuerte Wirtschaft mit einem
geringeren CO2-Ausstoß.
Wir müssen uns also etwas Besseres ausdenken.
Wie wir die Klimakatastrophe abwenden können

Die Klimaforscher haben herausgefunden, dass es nur einen Weg gibt, um die
Erderwärmung auf zwei Grad Celsius zu beschränken: Wir müssen die CO2-
Emissionen bis zum Jahr 2050 halbieren. Die Internationale Energieagentur
stellt klar, wie wichtig diese Frist ist: »Kommt der Anstieg der Emissionen
nicht um das Jahr 2020 zum Stillstand, um von da an zu sinken, so wird die
erforderliche Verringerung um fünfzig Prozent bis 2050 sehr viel kostspieliger.
Es besteht sogar die Möglichkeit, dass wir die Gelegenheit dann komplett
verpassen.«10 Je später wir den Höhepunkt der Emissionen erreichen, desto
schwieriger wird es, sie zu halbieren.
Angesichts dessen haben zahlreiche Umweltschutzorganisationen und
Forschungseinrichtungen Szenarien entworfen, die zeigen, wie wir es schaffen
könnten, die CO2-Emissionen zu halbieren. Diese Szenarien beruhen auf
unterschiedlichen Vorstellungen von der idealen Zusammensetzung der
alternativen Energieträger und beinhalten verschiedene Modelle für
Energieeffizienz, aber sie haben einen gemeinsamen Nenner: Die meisten von
ihnen laufen darauf hinaus, dass eine Senkung der CO2-Emissionen langfristig
Geld sparen wird.
Das »Blue Map Scenario« der Internationalen Energieagentur zeigt, dass die
Welt 46 Billionen Dollar mehr in die Energiegewinnung investieren müsste,
um die CO2-Emissionen bis zum Jahr 2050 um fünfzig Prozent zu reduzieren.
Aber da gleichzeitig weniger Treibstoff verbrannt wird, ergibt sich sogar bei
der konservativsten Schätzung insgesamt eine Ersparnis von acht Billionen
Dollar.
Greenpeace, dessen »Energy (R)evolution Scenario« als wichtiger
Bezugspunkt in der Debatte gilt, möchte das Ziel ohne neue Atomkraftwerke
erreichen und weitgehend auf die CO2-Abscheidung und -Speicherung
verzichten, so dass bis zum Jahr 2050 85 Prozent der Energie mit Wind-,
Gezeiten-, Sonnen- und Biomassekraftwerken gewonnen werden können.
Selbst wenn wir diesen Weg beschreiten, was sehr viel höhere Investitionen
und einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel erfordern würde, werden
wir letzten Endes Geld sparen.11 In sämtlichen Szenarien, in denen die CO2-
Emissionen halbiert werden, besteht ein Zusatznutzen darin, dass dieser
Umbau neue Arbeitsplätze schafft. Der Bau und die Wartung der Maschinen,
die benötigt werden, um aus Wellen-, Gezeiten-, Wind- und Sonnenenergie
Strom zu gewinnen, ist technologisch anspruchsvoller als die Verbrennung von
Erdgas oder Kohle.
Selbst wenn man die Kosten misst, ist es also technologisch machbar und
wirtschaftlich vernünftig, den Planeten zu retten. Das einzige Hindernis ist der
Markt.
Damit will ich nicht sagen, dass wir nichts erreicht haben. Sieht man von
China ab, das die Entwicklung der globalen Emissionen verzerrt hat, indem es
zu Beginn des Jahrtausends Hunderte Kohlekraftwerke gebaut hat, überstieg
die Zahl der mit erneuerbaren Energien arbeitenden Stromkraftwerke, die ans
Netz gingen, im Jahr 2009 jene der Kraftwerke, die fossile Brennstoffe nutzten.
Dies ist ein klares Signal dafür, dass staatliche Eingriffe in den Markt –
finanzielle Anreize für die Erneuerbaren und Zielvorgaben für die Senkung des
CO2-Ausstoßes – funktionieren können.
Das Problem ist, dass ein vom Markt vorangetriebener Übergang zu lange
dauert und von den Konsumenten (die natürlich billigen Strom wollen) sowie
von den Produzenten fossiler Energie gebremst werden kann. Zweitens wird
die Energie zu einer geopolitischen Frage, da der Druck auf die Regierungen
steigt. Deutschland zahlt einen hohen Preis für seine Entscheidung, sich von
der Atomenergie zu lösen: Es hat sich in Abhängigkeit von Russland begeben,
das die deutsche Wirtschaft während der Ukrainekrise in Geiselhaft nehmen
konnte. Die Hinwendung der Vereinigten Staaten zum Fracking veränderte –
abgesehen von den Auswirkungen auf die Umwelt – das globale
Machtgleichgewicht so nachhaltig, dass sich die Saudis zu einem Gegenangriff
gezwungen sahen, der innerhalb eines Jahres den Ölpreis um mehr als fünfzig
Prozent absacken ließ.
Angesichts zunehmender geopolitischer Spannungen wurden auf der Pariser
Klimakonferenz im Dezember 2015 ganz bewusst nur überschaubar
ambitionierte Beschlüsse mit begrenzter Reichweite gefasst. Es handelt sich
nicht um einen Vertrag, es gibt keine verbindlichen Ziele, nur freiwillige
Verpflichtungen der einzelnen Staaten. Auch wenn das Klimaziel nun
ehrgeiziger ist (statt auf eine Begrenzung des Temperaturanstiegs auf zwei
Grad gegenüber dem Niveau vor Beginn der Industrialisierung, einigte man
sich auf 1,5 Grad), erinnert dieser Kompromiss doch an die Ergebnisse der
Friedenskonferenzen, die den Weg zum Zweiten Weltkrieg ebneten.
Gleichzeitig vertreten selbst die Radikaleren unter den Umweltschützern
teils konfuse Positionen gegenüber dem Markt. Greenpeace zum Beispiel zieht
folgenden Vergleich zwischen China und Europa: Indem China das
Wirtschaftswachstum mit Kohle antrieb, erhöhte es die Emissionen deutlich,
während die Privatisierung in Europa und den USA den Umstieg auf Erdgas
begünstigte, das weniger schädlich für die Umwelt ist als Kohle. Darin sieht
Greenpeace einen Beleg dafür, dass der Markt besser zur Verringerung der
Emissionen geeignet ist als eine zentrale staatliche Lenkung.12
Wenn wir die lebenswichtigen Emissionsziele erreichen wollen, werden wir
jedoch um ein gewisses Maß an zentraler Kontrolle nicht herumkommen. Die
Behörden auf nationaler und regionaler Ebene werden die Zügel in die Hand
nehmen müssen, und vermutlich wird kein Weg an der Verstaatlichung aller
großen CO2-Emittenten vorbeiführen. Wenn die Stromnetze »intelligent«
werden und Technologie verfügbar wird, mit der sich die Nachfrage
voraussagen und das Angebot entsprechend anpassen lässt, ist es sinnvoll, die
Stromnetze zu einer öffentlichen Ressource zu machen.
Wenn es nicht möglich ist, mit einem vom Staat beeinflussten
Preismechanismus für die richtige Mischung von Investitionen in Erneuerbare,
Atomenergie und fossile Energieträger zu sorgen, so müssen wir auf
Verstaatlichung, direkte Kontrolle und Zielvorgaben zurückgreifen. Dies ist der
Schluss, den wir aus John Ashtons Aussage ziehen müssen: Wenn der Markt
nicht funktioniert, muss angesichts der dringlichen Herausforderungen der
Staat die Zuteilung übernehmen.
Greift man anstelle von Marktanreizen auf staatliche Planung zurück, wird
es leichter, eine Mischung von Atomenergie und fossilen Energieträgern mit
einem geringeren CO2-Gehalt zur Abdeckung des »Grundbedarfs« zu nutzen
und die übrige Energie aus erneuerbaren Energiequellen zu beziehen: Wie die
Szenarien von Greenpeace und der Internationalen Energieagentur zeigen, ist
dies der einzige Weg, um das Zwei-Grad-Ziel zu erreichen.
Es liegt auf der Hand, dass der Aufbau einer Nicht-Marktwirtschaft und die
Bemühungen um ein System mit geringem CO2-Ausstoß zusammenhängen.
Aber während es zahlreiche Wege zu einer postkapitalistischen Wirtschaft
gibt, ist die Bandbreite an Maßnahmen, die wir ergreifen können, um die
Klimakatastrophe abzuwenden, beschränkt.
Wenn es um den Klimawandel geht, gibt es also rationale Argumente für
Panik. Und obendrein hängt der Klimawandel mit einer weiteren wichtigen
Variablen zusammen, die außer Kontrolle geraten ist: dem
Bevölkerungswachstum.
Die demografische Zeitbombe

Den meisten unserer Vorfahren blieb das Privileg versagt, alt zu werden. Ein
Blick in die Geschichte der Städte zeigt uns, dass Menschen, die in den alten
Industriemetropolen lebten – sei es nun Manchester, Chicago oder Shanghai –,
im Durchschnitt nicht älter als vierzig Jahre wurden.13 In den Städten, die von
der Stahlerzeugung oder vom Bergbau abhingen – von West Virginia bis nach
Nordchina –, findet man auf den Friedhöfen mehrheitlich Grabsteine, deren
Inschriften zeigen, dass die Arbeiter in der Regel spätestens im Alter von
fünfzig Jahren starben – und zwar nicht in einer fernen Vergangenheit,
sondern in der Ära nach 1945. In der Frühzeit des Kapitalismus fielen die
Menschen den schmutzigen, ungesunden Städten zum Opfer. Im
20. Jahrhundert waren chronische Berufskrankheiten, Stress, schlechte
Ernährung und Umweltverschmutzung die großen Killer.
Mittlerweile haben wir ein neues Problem: die alternde Bevölkerung. Es gibt
keine Aktivisten, die Spruchbänder an Fassaden aufhängen, um gegen die
Überalterung zu protestieren. Es gibt keine Ministerien für den demografischen
Wandel. Es gibt keine wissenschaftlichen Beiräte und keine globalen
Konferenzen, die sich mit diesem Problem befassen. Aber es ist ein ebenso
großer externer Schock wie der Klimawandel, und seine wirtschaftlichen
Auswirkungen werden wir sehr viel schneller zu spüren bekommen.
Die Prognosen der UNO sind nicht umstritten: Laut ihrer mittleren Prognose
wird die Weltbevölkerung bis zum Jahr 2050 von gegenwärtig gut sieben
Milliarden auf 9,6 Milliarden Menschen anwachsen. Der Großteil des
Wachstums wird auf die südliche Hemisphäre entfallen. Im Jahr 2050 werden
in den Entwicklungsländern mehr Menschen leben als gegenwärtig auf der
Erde insgesamt. Die Zukunft der Menschheit wird sich also vor allem in
Städten wie Manila, Lagos und Kairo entscheiden.
Weltweit wird der Anteil der alten Menschen gegenüber dem der
Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter steigen. Im Jahr 1950 waren fünf Prozent
der Weltbevölkerung älter als 65 Jahre; ein Jahrhundert später werden mehr als
dreimal so viele Menschen, nämlich 17 Prozent, dieser Altersgruppe
angehören. In den reichen Ländern werden die mit der Alterung der
Bevölkerung einhergehenden Probleme einen Schock auslösen.
Das zentrale Problem zeigt der sogenannte »Abhängigenquotient«, der die
Zahl der Menschen im Ruhestand ins Verhältnis zur Erwerbsbevölkerung setzt.
In Europa und Japan kommen gegenwärtig drei Erwerbspersonen auf einen
Rentner. Im Jahr 2050 wird ein Verhältnis von eins zu eins erreicht werden.
Und während die Bevölkerung der meisten Entwicklungsländer weiterhin jung
sein wird, kommt es in China aufgrund der Ein-Kind-Politik zu einer
Trendumkehr. Bis 2050 wird China mit einem mittleren Alter von 53 Jahren zu
den »ältesten« der großen Volkswirtschaften gehören.14
Das wachsende Missverhältnis zwischen den Generationen ist unumkehrbar.
Nicht nur, dass die Menschen aufgrund der besseren medizinischen
Versorgung und der höheren Einkommen länger leben: Die wichtigste Ursache
für das Ungleichgewicht sind die sinkenden Geburtenraten, denn die Frauen
haben dank der Empfängnisverhütung die Kontrolle über ihren Körper, und
wachsende Bildung, Fortschritte bei den Menschenrechten und Verstädterung
sichern ihnen größere Unabhängigkeit.
Nach Ansicht des Volkswirts George Magnus, der unter anderem die UBS
berät, stellt die rasante Alterung vieler Gesellschaften »eine existentielle
Bedrohung für das nach dem Zweiten Weltkrieg errichtete Gesellschafts- und
Wirtschaftssystem« dar.15 In der entwickelten Welt wird der demografische
Wandel in drei wesentlichen Bereichen des Wirtschaftslebens zu einer großen
Belastung: auf den Finanzmärkten, in den öffentlichen Haushalten und bei der
Migration.
Während des Wirtschaftsaufschwungs nach dem Zweiten Weltkrieg wurde
die private, betriebliche und staatliche Altersversorgung erheblich ausgeweitet.
Obwohl ein Teil der Vorsorgepläne – bei denen die von den Einkommen
abgezogenen Rücklagen durch Arbeitgeberbeiträge ergänzt und an der Börse
angelegt wurden – nur eine Minderheit der Beschäftigten einschloss, wurden
sie zu einer wichtigen Stütze des Finanzsystems. Vor Beginn der Globalisierung
investierten die Rentenfonds normalerweise in die Staatsanleihen des eigenen
Landes und in Aktien großer Unternehmen, die an der heimischen Börse
notierten, wobei ein kleiner Teil der Mittel taktisch angelegt wurde, um die
erwarteten Erfordernisse erfüllen zu können. Die Profite waren teilweise
steuerbefreit, und in einigen Ländern war die Altersvorsorge verpflichtend.
Letztendlich handelte es sich um etwas, das Marx wohl als »kapitalistischen
Kommunismus« bezeichnet hätte.
Im Zeitalter des Fiatgeldes änderte sich das. Der wiederholte Einsatz von
Zinssenkungen zur Überwindung von Wachstumsschwächen machte die
Investition in Aktien zu einer Einbahnstraße. Die Aktienkurse stiegen
unablässig, und die Fondsmanager vertrauten ungeachtet des demografischen
Problems darauf, dass das Finanzsystem seinen Verpflichtungen stets
nachkommen würde. Einige hielten die Aussichten sogar für so rosig, dass sie
erklärten, die Arbeitgeber könnten einen »Beitragsurlaub« nehmen, da die
Einzahlungen der Arbeitnehmer zur Absicherung genügen würden.
Das erste Land, das den Höhepunkt der Aufschwungphase überschritt, war
Japan. Zwischen 1985 und 1990 stieg der Nikkei um das Dreifache, doch dann
begann eine Krise. In den folgenden zehn Jahren halbierte sich der Wert des
japanischen Leitindexes.
Im Westen, wo das Bruttoinlandsprodukt Ende der neunziger Jahre
überdurchschnittlich stark stieg, begann eine neue Börsenrallye. Der Londoner
FTSE-Index kletterte zwischen 1995 und Ende 1999 von 3000 auf einen
Rekordstand von 6390. Der amerikanische S & P 500 verdoppelte sich im selben
Zeitraum, und der Dax stieg sogar um das Vierfache. Ein Blick auf die
langfristige Entwicklung dieser Börsenindizes seit Mitte der neunziger Jahre
zeigt zwei rasante Anstiege, auf die jeweils ebenso steile Abstürze folgten, und
dann eine erneute Rallye, die, getrieben vom billigen Geld, das die
Zentralbanken in den Markt pumpen, die zu den aktuellen Höchstständen
geführt hat.
Das Platzen der Dotcom-Blase war der Weckruf. Die Unternehmen machten
sich daran, die Belastung durch die Altersversorgung zu verringern: Sie
senkten die Erträge für zukünftige Rentenbezieher, ließen neue Mitarbeiter
nicht mehr in die Vorsorgepläne einsteigen – und trotzdem brachen einige von
ihnen unter den Lasten zusammen. Auf der Suche nach höheren Erträgen
begannen die Rentenfonds ihre Investitionen zu diversifizieren und ihr Geld in
Hedgefonds, Immobilien, Wagniskapitalfirmen und Rohstoffen anzulegen. Auf
diese Art wollten sie die schwankenden Aktienrenditen ausgleichen. Das
Ergebnis ist bekannt: Diese großen institutionellen Investoren trugen, teilweise
ohne ihr Wissen, wesentlich zur wachsenden Instabilität bei – von den
spektakulären Implosionen mehrerer Hedgefonds, die im August 2007 die
Kreditklemme auslösten, bis zum Anstieg der Rohstoffpreise, der zum
Arabischen Frühling führte.
Seit dem Crash investieren die meisten großen Rentenfonds 15 Prozent ihres
Geldes in Alternativen zu Aktien (zum Beispiel in Immobilien oder Rohstoffe)
und verleihen mehr als 55 Prozent ihres Geldes an Staaten, indem sie deren
Anleihen kaufen, die aufgrund der quantitativen Lockerung keine oder sogar
negative Zinsen abwerfen.
Insgesamt verwalten Rentenfonds, Versicherungsfonds und öffentliche
Rentensysteme in den OECD-Ländern etwa fünfzig Billionen Dollar, ein
Betrag, der das gemeinsame jährliche Bruttoinlandsprodukt dieser Länder
deutlich übersteigt. Aus den in Kapitel 1 beschriebenen Gründen – ein
gescheitertes Wirtschaftsmodell hängt am Tropf – bezeichnet die OECD in
ihrer jüngsten Studie das Risiko für diese Geldanlagen als »hoch« und die
Belastungen durch die Renten als »erhöht«.16
Diese fünfzig Billionen Dollar sind nicht unbedingt bereits heute das
Problem. Das Problem ist, dass eine alternde Bevölkerung gleichbedeutend mit
einer schrumpfenden Erwerbsbevölkerung, geringerem Wachstum und einer
geringeren Produktion pro Beschäftigtem ist. Die Situation stellt sich von Land
zu Land unterschiedlich dar – einige kleinere, reiche Länder wie Norwegen
sind sehr gut gerüstet –, aber auf globaler Ebene sieht die Zukunft düster aus:
Wenn das Finanzsystem keine spektakulären Erträge liefert, werden die
kommenden Generationen mit sehr viel geringeren Renten auskommen
müssen. Für höhere Erträge muss man jedoch höhere Risiken eingehen. Würde
ein größerer Teil der Altersvorsorge von der öffentlichen Hand übernommen
und mit Steuern bezahlt werden, könnten die Auswirkungen dieses Dilemmas
abgefedert werden. Aber das Gegenteil geschieht.
Der zweite Bereich, den die Alterung der Bevölkerung unter großen Druck
setzen wird, sind die Staatshaushalte. Die Staatsschulden werden steigen. Eine
alternde Bevölkerung treibt die öffentlichen Ausgaben für Gesundheit, Renten
und Pflege in die Höhe. Im Jahr 2010 rechnete die Ratingagentur Standard &
Poor's aus, dass die Staatsschulden bis 2050 die Weltwirtschaft ersticken
werden, sollte es den Regierungen nicht gelingen, die öffentlichen
Rentensysteme unter Kontrolle zu bringen.
Seit damals haben die Staaten tatsächlich die Belastung durch die Renten
verringert: In vielen Ländern wurden die Kriterien für den Rentenbezug
verschärft, das Rentenalter angehoben und die Inflationsanpassung beseitigt.
Als Standard & Poor's nach diesen Einschnitten die potenziellen Schäden neu
berechnete, stellte die Agentur fest, dass die mittlere Staatsverschuldung der
entwickelten Länder bis zum Jahr 2050 auf 220 Prozent des BIP steigen werde,
wobei die großen entwickelten Länder eine durchschnittliche Schuldenquote
von 130 Prozent erreichen würden. Auch im Jahr 2050 wird Japan mit einer
Staatsschuldenquote von 500 Prozent (gegenüber derzeit 250 Prozent) den
»Spitzenplatz« einnehmen, und der Schuldenberg der Vereinigten Staaten wird
auf das Dreifache des gegenwärtigen Betrags von 17 Billionen Dollar
anwachsen.
Wenn diese Prognose zutrifft, wird die Alterung der Bevölkerung dafür
sorgen, dass die Staatsfinanzen der entwickelten Länder außer Kontrolle
geraten. Die Analysten von Standard & Poor's sagen voraus, dass sechzig
Prozent aller Staaten im Jahr 2050 kein erstklassiges Kredit-Rating mehr haben
werden, selbst wenn sie die Renten kürzen: Nur sehr risikofreudige Anleger
werden dann noch bereit sein, die Staatsschulden dieser Länder zu finanzieren.
Sind Sie bereits in rational begründete Panik geraten? Warten Sie, das
Erschreckendste kommt erst.
Gegenwärtig haben die privaten Rentenfonds mehr als fünfzig Prozent ihres
gesamten Geldes in Staatsanleihen angelegt. Obendrein stecken normalerweise
zwei Fünftel davon in den Anleihen ausländischer Staaten. So sicher der
Pensionsfonds eines Unternehmens heute auch aussehen mag: Wir müssen uns
darüber im Klaren sein, dass das private Rentensystem nicht überleben wird,
wenn sechzig Prozent aller Staatsanleihen als Ramschpapiere eingestuft
werden, so dass nur noch tollkühne Investoren diesen Staaten Geld leihen
werden.
Gleichzeitig könnten die sozialen Auswirkungen der bisherigen Einschnitte
»die Beziehung zwischen dem Staat und dem Wahlvolk erheblich belasten und
den gesellschaftlichen Zusammenhalt auf eine harte Probe stellen«, erklären
die Analysten von Standard & Poor's.17 In aller Welt haben Staaten endgültig
den ungeschriebenen Vertrag gekündigt, den sie in der Nachkriegszeit mit
ihren Bürgern geschlossen hatten: Damals versprachen sie, entweder der Markt
oder der Staat werde den Menschen im Alter einen angemessenen
Lebensstandard garantieren. Dass dieses Versprechen gebrochen wurde, wird
noch in Jahrzehnten zu spüren sein. Wenn eine Regierung für sich in Anspruch
nimmt, den Staatshaushalt stabilisiert zu haben, indem sie das Rentenalter
angehoben oder die Renten von der Inflation abgekoppelt hat, ist das so, als
beglückwünsche sich jemand für den Kauf eines Diätplans: Das Leiden beginnt
erst, wenn er den Plan umsetzt.
Das Ergebnis wird nach Ansicht der Volkswirte des IWF »gesellschaftlich
und politisch kaum tragbar sein«.18
Und es gibt etwas, das wir noch nicht berücksichtigt haben. Im Jahr 2013
reiste ich durch Marokko und Griechenland und hörte mir die Berichte von
Menschen an, die versuchten, illegal nach Nord- oder Westeuropa
einzuwandern. In Marokko trennte sie ein mehrere Meter hoher, mit
rasiermesserscharfem Nato-Stacheldraht bewehrter Zaun von der spanischen
Exklave Melilla; in Griechenland fristeten sie monatelang ein
Obdachlosendasein in den Häfen, in der Hoffnung, irgendwann auf ein Schiff
zu gelangen, das sie nach Italien bringen würde. Sie waren Erpressung,
Übergriffen, sexueller Gewalt und extremer Armut ausgeliefert. Und auf dem
Meer setzten sie oft ihr Leben aufs Spiel.
Ich fragte einige dieser Menschen, warum sie trotz der Gefahren des Transits
und ungeachtet der Fremdenfeindlichkeit in Europa eine monate- oder
jahrelange Wanderung auf sich nahmen. Sie reagierten mit Unverständnis: In
Tanger auf nacktem Beton zu schlafen oder in Marseille zu fünft in einem
Zimmer in irgendeiner Bruchbude zu hausen war zweifellos besser als das
Leben, das sie in ihren Heimatländern zurückgelassen hatten.
Aber das, was ich in jenem Sommer sah, war nichts, verglichen mit dem, was
uns bevorsteht. Bis zum Jahr 2050 wird die Erwerbsbevölkerung der Welt um
1,2 Milliarden Menschen wachsen, und die meisten dieser Menschen werden
unter ähnlichen Umständen leben, wie sie in den Ländern herrschen, denen die
Flüchtlinge, die ich kennengelernt habe, entkommen wollten.
Im marokkanischen Oujda traf ich zwei Maurer aus Niger, die vor einer
Moschee auf dem Boden hockten und bettelten. Sie waren erst Anfang
zwanzig. Niger ist derart unterentwickelt, dass man nur selten Bewohner
dieses Landes irgendwo anders auf der Erde am Straßenrand findet. Nachdem
ich mit ihnen gesprochen und einen Blick auf die UN-Prognosen für ihr Land
geworfen hatte, wurde mir das Ausmaß der kommenden Herausforderung klar.
Die Bevölkerung Nigers wird bis 2050 von gegenwärtig 20 auf 72 Millionen
Menschen wachsen. Die Einwohnerzahl des Nachbarlands Tschad wird sich im
selben Zeitraum auf 35 Millionen Menschen beinahe verdreifachen. Die
Bevölkerung Afghanistans, dessen Einwohner aus ihrem vom jahrzehntelangen
Krieg zerstörten Land in das Menschenhandelssystem geflohen sind, das sich
über Griechenland, die Türkei und Libyen erstreckt, wird von 33 auf
56 Millionen Menschen anwachsen.
Eine weitere verblüffende Zahl: Die Hälfte des Bevölkerungswachstums bis
2050 wird in nur acht Ländern stattfinden,[1] von denen sechs im
subsaharischen Afrika liegen.19 Auf der Suche nach Arbeit werden die
Menschen in den rasant wachsenden Ländern in die Städte abwandern, denn
wie wir gesehen haben, werden die ländlichen Gebiete zunehmend unter dem
Klimawandel leiden. Die Bevölkerung der Elendsviertel, in denen bereits heute
eine Milliarde Menschen leben, wird weiter anschwellen – und eine wachsende
Zahl dieser Menschen wird versuchen, illegal in die reichen Länder
einzuwandern.
Der Ökonom Branko Milanovic, der früher unter anderem für die Weltbank
arbeitete, hat sich mit der enormen und weiter wachsenden Ungleichheit in
den Entwicklungsländern beschäftigt und spricht von einer »nicht-marxschen
Welt, in der zwei Drittel der Ungleichheit nicht von der Klassenzugehörigkeit,
sondern vom Geburtsort abhängen«. Sein Fazit: »Entweder die armen Länder
werden reicher, oder die Armen wandern in die reichen Länder aus.«20
Um reicher zu werden, müssen sich die armen Länder jedoch aus der »Falle
des mittleren Einkommens« befreien. Gemeint ist damit, dass die
wirtschaftliche Entwicklung von Staaten an einem bestimmten Punkt zum
Stillstand kommt. Das liegt einerseits daran, dass sie auf dem Weltmarkt ab
diesem Moment mit den alten, weiter fortgeschrittenen Industriemächten
konkurrieren müssen, und hat andererseits damit zu tun, dass ihre oftmals
korrupten Eliten den Aufbau funktionierender moderner Institutionen
behindern. Nur 13 von 100 Ländern, die im Jahr 1960 ein »mittleres
Einkommen« erreicht hatten, verwandelten sich bis 2012 in Länder mit hohem
Einkommen. Unter den erfolgreichen Ländern waren vor allem die von
Südkorea angeführten asiatischen »Tigerstaaten«, die das vom globalen System
vorgegebene Entwicklungsschema ignorierten und mit einer nationalistischen
Wirtschaftspolitik ihre eigene Industrie und Infrastruktur aufbauten.
Auch George Magnus weist darauf hin, dass es nicht nur wirtschaftliche
Hindernisse gibt: »Hat ein Land einmal ein mittleres Einkommen erreicht, wird
es schwieriger, das Pro-Kopf-Einkommen zu erhöhen, und […] hier geht es
nicht darum, Tabellenkalkulationen zu erstellen, sondern darum,
wirtschaftlichen Nutzen aus der stetigen Entwicklung inklusiver Institutionen
zu ziehen.«21 Aber gerade die Länder, in denen die Bevölkerung am
schnellsten wächst, sind zugleich die Länder mit den korruptesten und
ineffizientesten Institutionen.
Würden der Klimawandel, die alternde Bevölkerung und der
Arbeitsplatzmangel in den Entwicklungsländern nicht mit der Stagnation eines
fragilen Wirtschaftsmodells einhergehen, so könnten diese Probleme vielleicht
einzeln gelöst werden. Sie hängen jedoch zusammen. Daher werden sie
wahrscheinlich das gesamte globale System auf eine Belastungsprobe stellen.
Und so gerät die Demokratie an sich in Gefahr.
Die globale Elite im Zustand der Verleugnung

»Unser Zeitalter ist seinem Wesen nach ein tragisches, also weigern wir uns, es
tragisch zu nehmen. […] Wir müssen leben, gleich wie viele Himmel
eingestürzt sind.«22 D. H. Lawrence beschrieb die englische Aristokratie, die
sich nach dem Ersten Weltkrieg, der ihre Ideologie erschüttert hatte, in eine
Welt der vornehmen Häuser und archaischen Manieren zurückzog. Aber die
Beschreibung passt genauso gut auf die moderne Elite nach der Katastrophe
von 2008: Die Finanzaristokratie ist entschlossen weiterzuleben, als gäbe es die
oben beschriebenen Bedrohungen nicht.
Ende des 20. Jahrhunderts wuchs eine Generation von Unternehmern,
Politikern, Energiebaronen und Bankiers in einer scheinbar spannungsfreien
Welt auf. Im vorangegangenen Jahrhundert hatten ihre Vorgänger mit ansehen
müssen, wie sich eine sorgfältig gestaltete Ordnung samt ihrer Illusionen
auflöste. Von der Niederlage Frankreichs 1870/71 bis zum Fall Vietnams und
dem Zusammenbruch des Kommunismus lehrten die Geschehnisse die vor
1980 Geborenen, dass schlimme Dinge geschehen konnten und überwältigende
Umwälzungen möglich waren.
Im Jahr 2000 hatte es den Anschein, als gehörte diese Instabilität für immer
der Vergangenheit an. Vielleicht war es nicht das »Ende der Geschichte«, aber
die Generation, welche unter der neoliberalen Ordnung sozialisiert worden
war, gewann den Eindruck, die Geschichte sei endlich beherrschbar geworden.
Jede Finanzkrise konnte mit einer Erhöhung der Geldmenge überwunden, jede
terroristische Bedrohung mit einem Drohnenangriff beseitigt werden. Die
Arbeiterbewegung als unabhängige politische Variable gab es nicht mehr.
Das psychologische Nebenprodukt in den Köpfen der politischen Elite war
die Vorstellung, dass es keine unkontrollierbaren Situationen mehr gab: Man
hatte immer eine Wahl, selbst wenn manche Entscheidungen schwierig waren.
Es gab immer eine Lösung, und normalerweise war die Lösung der Markt.
Die beschriebenen externen Schocks sollten jedoch ein Weckruf sein. Der
Klimawandel gibt uns keine Möglichkeit, zwischen marktwirtschaftlichen und
Nicht-Marktlösungen zu wählen, um die Emissionsziele zu erreichen. Entweder
wir beseitigen die Marktwirtschaft geordnet, oder sie wird in abrupten Schüben
ungeordnet zusammenbrechen. Die Alterung der Bevölkerung droht die
Finanzmärkte zu überfordern, und einige Länder werden einen sozialen Krieg
gegen ihre eigenen Bürger führen müssen, wenn sie zahlungsfähig bleiben
wollen. Im Vergleich dazu werden die Geschehnisse in Griechenland nach 2010
wie ein ärgerliches Zwischenspiel wirken.
In den ärmsten Ländern werden Bevölkerungsentwicklung, institutionelle
Korruption, verzerrtes Wachstum und die Auswirkungen des Klimawandels
mit Sicherheit zur Folge haben, dass Dutzenden Millionen landlosen Armen
nur eine Wahl bleibt: die Auswanderung.
In den entwickelten westlichen Ländern sind bereits Verteidigungsreflexe zu
beobachten: der klingenbewehrte Stacheldraht und die Massenausweisungen in
der spanischen Exklave Melilla, die rechtswidrigen Einsätze der australischen
Kriegsmarine gegen Flüchtlingsboote aus Indonesien, das wenig durchdachte
Setzen der USA auf das Fracking im Bemühen um energiepolitische Autarkie,
der militärische Wettlauf Russlands und Kanadas in der Arktis, Chinas
Versuch, sich ein Monopol auf die für die moderne Elektronik unerlässlichen
Seltenerdmetalle zu sichern. Wir sehen einen Rückzug aus der multilateralen
Kooperation und ein neues Streben nach Autonomie.
Wir haben gelernt, Wirtschaftsnationalismus als große Gefahr für die
Globalisierung zu betrachten: Die Bevölkerung eines oder mehrerer
fortschrittlicher Länder nimmt die Sparpolitik nicht hin und zwingt ihre
politische Klasse – wie in den dreißiger Jahren des vergangenen
Jahrhunderts –, die Krise zu bewältigen, indem sie »den Nachbarn anpumpt«.
Aber die externen Schocks erzeugen eine Instabilität, die über eine bloße
wirtschaftliche Rivalität hinausgeht. Das Streben nach energiepolitischer
Unabhängigkeit führt zu einer Regionalisierung der globalen Energiemärkte.
Der diplomatische Konflikt zwischen Russland und dem Westen über die
Ukraine und die russische Drohung, Europa den Gashahn zuzudrehen,
bewegen die Europäer, sich ebenfalls um Unabhängigkeit von externen
Energielieferanten zu bemühen.
Und parallel zur Balkanisierung des globalen Energiemarkts findet im
Internet ein ähnlicher Prozess statt.
Fast ein Fünftel der Weltbevölkerung muss bereits damit leben, dass seine
Informationen von der Zensur der chinesischen Kommunisten kontrolliert
werden. Ein Politiker wird wegen Korruption verhaftet? Sein Name
verschwindet aus den Suchmaschinen. Reimt sich dieser Name zufällig auf den
Namen einer Instant-Nudelmarke (so geschehen im Fall des Politikers Zhou
Yongkang im Jahr 2014), muss auch dieses Produkt gelöscht werden – und die
beliebteste chinesische Nudelmarke verschwindet vom Markt.23
Jetzt droht dem Internet die weitere Fragmentierung, da verschiedene
Staaten auf die Enthüllungen über die massenhafte Online-Überwachung durch
den amerikanischen Nachrichtendienst NSA reagieren. Obendrein versuchen
mehrere Regierungen, darunter jene der Türkei und Russlands, seit 2014,
Dissidenten zu unterdrücken, indem sie Internetfirmen zwingen, sich nach
ihrem nationalen Recht registrieren zu lassen, womit sie sie einer offiziellen
und inoffiziellen politischen Zensur unterwerfen.
Im ersten Stadium des Zerfalls des globalen Systems werden also die Welt
der Information und der Energiesektor fragmentiert. Aber es droht auch eine
Aufsplitterung von Staaten.
Im Jahr 2014 berichtete ich aus Schottland, dessen Bevölkerung in einem
Referendum über die Unabhängigkeit von Großbritannien entschied. Die von
den Medien verbreitete Darstellung, es handle sich um eine nationalistische
Bewegung, ist ein Mythos. In Wahrheit war es eine linksgerichtete
Volksbewegung. Um ein Haar hätte das schottische Volk die Gelegenheit
genutzt, sich von einem neoliberalen Staat zu lösen, der sich für das kommende
Jahrzehnt der Austerität verschrieben hat. Damit hätten die Schotten auch die
älteste kapitalistische Volkswirtschaft der Welt aufbrechen können. In der
Krise des politischen Systems Spaniens wächst der Zulauf zur
Unabhängigkeitsbewegung in Katalonien (gegenwärtig wird sie vom
plötzlichen Aufstieg der linken Bewegung Podemos überlagert). Und wir sind
nur noch einen politischen Unfall vom Kollaps der EU entfernt. Als eine
linksradikale Partei die Wahl in Griechenland gewann, griffen alle EU-
Institutionen sie an, wie das Immunsystem eines Körpers einen Virus angreift.
Die griechische Krise geht weiter, aber sie wird nebensächlich werden, wenn
die radikale Rechte in Frankreich an die Macht kommt – und das ist tatsächlich
eine reale Möglichkeit.
In Peking, Washington und Brüssel dürften die alten Herrscher in den
kommenden fünf Jahren ein letztes Mal versuchen, das alte System zu
reparieren. Aber je länger wir zögern, das neoliberale Experiment zu beenden,
desto mehr wird die vom Neoliberalismus ausgelöste Krise mit den großen
Bedrohungen verschmelzen, die ich in diesem Kapitel beschrieben habe.
Für sich genommen, hätte der Informationskapitalismus verschiedene
Möglichkeiten eröffnet. Gäbe es die demografische Krise nicht, könnte man
sich ein stagnierendes westliches Wirtschaftssystem vorstellen, das mit hohen
Schulden, Bankenrettungen und lockerer Geldpolitik am Leben erhalten wird.
Gäbe es den Klimawandel nicht, so könnte man sich einen Übergang zum
Postkapitalismus vorstellen, der durch eine graduelle, spontane Entwicklung
des wirtschaftlichen Austauschs außerhalb des Marktes und der
Allmendeproduktion vorangetrieben wird, während das alte System an seinen
inneren Widersprüchen zerbricht. Wir werden weitere Wikipedias, weitere
Linux-Projekte, weitere Generika und mehr öffentliche Wissenschaft, die
Einführung von quelloffenen Formen der Arbeit und rechtliche Schranken für
die Informationsmonopole sehen. Wir setzen eine gute Idee in einer
krisenfreien Umgebung um und bestimmen das Tempo der Veränderung
selbst – so ein Szenario für den Übergang zum Postkapitalismus steht vielleicht
in populärwissenschaftlichen Sachbüchern, wie man sie in der
Flughafenbuchhandlung kaufen kann.
Die äußeren Schocks machen jedoch zentralisierte, strategische und rasche
Eingriffe erforderlich. Zu solchen Eingriffen sind nur der Staat und die
Staatengemeinschaft fähig. Das Klimaziel ist so anspruchsvoll und die
technischen Wege, die wir einschlagen müssen, sind so klar, dass mehr
Planung und mehr staatliche Lenkung erforderlich sein werden, als
irgendjemand erwartet oder wünscht. Die Aussicht auf eine Welt, in der
sechzig Prozent der Staaten von den Kosten der Versorgung ihrer alternden
Bevölkerung in den Bankrott getrieben werden, bedeutet, dass wir keine
finanziellen, sondern strukturelle Lösungen brauchen.
Aber die Illusionen, die in den vergangenen 25 Jahren geschürt wurden,
lähmen uns. Werden wir mit Emissionszielen konfrontiert, so versuchen wir
ihnen auszuweichen, indem wir dafür bezahlen, dass in der Wüste eines
anderen Landes Bäume gepflanzt werden, anstatt unser eigenes Verhalten zu
ändern. Werden wir mit Belegen für die Alterung der Weltbevölkerung
konfrontiert, so geben wir Dutzende Milliarden Dollar im Jahr für
Schönheitsoperationen aus. Würde man einen Vorstandsvorsitzenden, ein
Softwaregenie oder den Statistiker einer Bank mit einem Risiko konfrontieren,
das dem hier beschriebenen entspricht, so würden diese Experten sagen: Ihr
müsst handeln! Ihr müsst das Risiko unverzüglich verringern!
Würde man sich der Methode der Ingenieure – der Ursachenanalyse –
bedienen, um herauszufinden, warum das System an drei Stellen gleichzeitig
aus den Fugen gerät (Finanzen, Klima, Demografie), so fände man rasch die
Ursache: Es liegt an einem Wirtschaftsmodell, das nicht mit seiner Umwelt im
Gleichgewicht ist und die Bedürfnisse einer sich rasch wandelnden Menschheit
nicht erfüllen kann.
Ruft man aber nach sofortigen Maßnahmen, um das Klima zu retten, das
kaputte Finanzsystem zu reparieren oder die in ihrer gegenwärtigen Form
untragbaren Staatsschulden zu sanieren, so wird man als Revolutionär
gebrandmarkt. Ein solcher Aufruf reißt die in Davos versammelte Elite aus
ihren schönen Träumen, vergiftet die Atmosphäre in den Jachtclubs am
Mittelmeer und stört die Stille in dem politischen Mausoleum, das die Zentrale
der chinesischen KP beherbergt. Schlimmer noch: Er zerstört die Illusionen von
Millionen Menschen, die glauben, dass »alles gut werden wird«. Und die
Aktivisten zwingt er zu einem Schritt, vor dem sie sich mit Recht fürchten: Sie
müssen sich mit dem Mainstream einlassen, politische Strategien entwerfen
und ein stabiles Projekt entwickeln, das konkreter ist als der Schlachtruf »Eine
andere Welt ist möglich!«.
Was wir brauchen, ist »revolutionärer Reformismus«. Spricht man diese
Worte laut aus, so begreift man, dass sie eine große Herausforderung für beide
Seiten des politischen Spektrums darstellen. Hört sie ein Sozialdemokrat im
Anzug, so beginnt er sich zu winden. Spricht man sie in einem Protestlager von
Occupy-Aktivsten aus, so beginnen sie sich zu winden. Aber das Unwohlsein
beider Seiten hat diametral entgegengesetzte Gründe.
Angesichts der Herausforderungen wäre Panik vollkommen rational, aber
dank der technologischen und wirtschaftlichen Veränderungen verfügen wir
über die Werkzeuge, die wir brauchen, um die ungeheuren Aufgaben zu
bewältigen – wenn wir begreifen, dass der Postkapitalismus sowohl ein
langfristiger Prozess als auch ein dringendes Vorhaben ist.
Wir müssen den Umweltschutzbewegungen und den Gruppen, die für
soziale Gerechtigkeit kämpfen, also Eigenschaften einimpfen, die 25 Jahre lang
das alleinige Eigentum der Rechten zu sein schienen: Willenskraft, Zuversicht
und einen klaren Plan.
[1]
Nigeria, Tansania, Kongo, Äthiopien, Uganda, Niger sowie Indien und die USA.
10
Das »Projekt Null«

Wenn Sie glauben, dass es ein besseres System als den Kapitalismus gibt, haben
Sie sich in den letzten 25 Jahren vermutlich wie »ein auf der Erde gestrandeter
Marsianer« gefühlt, um es mit Alexander Bogdanow zu sagen. Sie haben eine
klare Vorstellung davon, wie die Gesellschaft aussehen sollte, aber keine
Möglichkeit, diese Gesellschaft zu verwirklichen.
In Bogdanows Roman Der rote Planet beschließen die Marsianer, die
Erdbevölkerung auszulöschen, da sich die Menschheit als unfähig erwiesen hat,
die postkapitalistische Gesellschaft zu errichten. Diese drastische Lösung war
Ausdruck von Bogdanows Verzweiflung über das Scheitern der Revolution von
1905.
Die Möglichkeiten, die ich in diesem Buch beschrieben habe, sollten uns
helfen, diese Verzweiflung zu überwinden. Um zu verstehen warum, müssen
wir Bogdanows Metapher aktualisieren: Nehmen wir an, die Marsianer würden
wirklich auf der Erde landen, um uns zu vernichten: Welche Art von
Wirtschaft würden sie vorfinden?
Ein entsprechendes Gedankenexperiment spielte der Nobelpreisträger
Herbert Simon im Jahr 1991 in einem berühmten Artikel mit dem Titel
»Organisations and markets« durch. Simon erklärte, die Marsianer würden in
der irdischen Ökonomie drei Dinge vorfinden: Organisationen, die für sie wie
große grüne Flecken aussehen würden; Märkte, die diese Flecken wie dünne
rote Linien verbinden; und blaue Linien innerhalb der grünen Flecken, die
Aufschluss über die hierarchischen Beziehungen geben. Wohin die Marsianer
auch blicken, sehen sie ein von der Farbe Grün beherrschtes System. Also
werden sie folgende Beobachtung zum Mars funken: Diese Gesellschaft besteht
hauptsächlich aus Organisationen – nicht aus Märkten. 1
Das war in dem Jahr, in dem der Triumph des Marktes verkündet wurde,
eine ausgesprochen politische Deutung. Simon beschäftigte sich sein Leben
lang mit der Frage, wie Organisationen funktionieren. Seine Arbeit wurde
herangezogen, um zu zeigen, dass das kapitalistische System bei allem Gerede
über den freien Markt in erster Linie aus Organisationen besteht, die Güter
intern planen und zuteilen, ohne direkt von den Marktkräften gelenkt zu
werden.
Wendet man Simons Modell jedoch mit einem stärkeren Realitätsbezug an,
so zeigt es noch etwas anderes: Der Neoliberalismus hat den Postkapitalismus
möglich gemacht. Fügen wir ein paar Details hinzu:
1. Der Umsatz eines grünen Flecks (eines Unternehmens) bestimmt seine
Größe. Vom Geld, das bei Transaktionen zwischen Organisationen bewegt
wird, hängt der Durchmesser der roten Linien ab, welche die grünen
Flecken miteinander verbinden.
2. Die blauen Linien, die Aufschluss über die interne Hierarchie einer
Organisation geben, enden an kleinen Punkten – das sind die Arbeitskräfte:
Kellner, Programmiererinnen, Flugzeugingenieure, Textilarbeiterinnen.
Simon hielt es nicht für nötig, die Arbeitskräfte in seinem Modell eigens
darzustellen, aber wir wollen es tun. Sie sind also blaue Punkte.
3. Wenn das Modell realistisch sein soll, muss jeder blaue Punkt der
Mittelpunkt eines Netzes roter Linien sein, die den Arbeiter als
Konsumenten mit Einzelhändlern, Banken und Dienstleistungsfirmen
verbinden.
4. Jetzt sieht die Erde schon sehr viel roter aus als in Simons Darstellung. Es
gibt Billionen feiner roter Linien.
5. Nun wollen wir die Dimension der Zeit hinzufügen: Was geschieht
während eines typischen Zyklus von 24 Stunden? Wenn es sich um eine
normale kapitalistische Volkswirtschaft handelt, sehen wir, dass die blauen
Punkte (die Arbeitskräfte) zu Beginn eines Tages in die Organisationen
strömen und sie später wieder verlassen. Außerhalb der Organisationen
beginnen sie, rote Linien auszusenden: Sie geben ihr Einkommen aus. (Am
Arbeitsplatz tun sie das eher nicht, schließlich sind wir im Jahr 1991.)

Zum Abschluss wollen wir eine Simulation von 1991 bis in die Gegenwart
laufen lassen. Wie verändert sich das Bild?
Erstens taucht eine Vielzahl zusätzlicher roter Linien auf. Eine junge Frau in
Bangladesch verlässt den Hof ihrer Familie, um in einer Fabrik arbeiten zu
gehen, und ihr Lohn erzeugt eine neue rote Linie. Sie bezahlt eine andere Frau
dafür, dass sie auf ihre Kinder aufpasst, und diese Markttransaktion erzeugt
eine weitere rote Linie. Ihr Manager verdient genug, um sich eine
Krankenversicherung leisten zu können und Zinsen für einen Bankkredit zu
zahlen, mit dem er seinem Sohn ein Studium finanziert. Die Globalisierung und
die freien Märkte erzeugen eine Vielzahl weiterer roter Linien.
Zweitens teilen sich die grünen Flecken in kleinere Farbkleckse, da
Unternehmen und Staaten beginnen, Aktivitäten auszulagern, die nicht zu
ihrem Kerngeschäft zählen. Einige blaue Punkte werden grün: Beschäftigte
werden zu Selbstständigen. In den USA sind mittlerweile zwanzig Prozent der
Beschäftigten »Soloselbstständige«. Diese erzeugen ebenfalls mehr rote Linien.
Drittens werden die roten Linien länger und erstrecken sich über die ganze
Welt. Und sie lösen sich nicht mehr auf, wenn die Menschen zur Arbeit gehen:
Mittlerweile wird auch während des Arbeitstags digital gekauft und verkauft.
Schließlich tauchen irgendwann gelbe Linien auf.
»Seht euch das an!«, ruft der Kommandant der marsianischen Flotte. »Was
bedeuten diese gelben Linien?«
»Interessant«, erklärt der Volkswirt an Bord des Raumschiffs. »Wir haben
ein vollkommen neues Phänomen beobachtet. Die gelben Linien zeigen
offenbar Menschen, die Güter, Arbeit und Dienstleistungen austauschen, aber
sie tun das nicht auf dem Markt und nicht in typischen Organisationen. Vieles
von dem, was sie austauschen, scheint gratis zu sein. Daher wissen wir nicht,
wie dick diese Linien sein sollten.«
Nehmen wir an, ein marsianischer Kanonier bittet in diesem Moment um
Feuererlaubnis, um die Menschheit zu attackieren, weil sie nicht in der Lage ist,
den Kommunismus zu verwirklichen.
Wahrscheinlich wird der Kommandant antworten: »Nein, warten Sie noch.
Diese gelben Linien sind interessant.«
Die fünf Prinzipien der Transition

Die gelben Linien in diesem Modell dienen lediglich dazu, Güter, Arbeit und
Dienstleistungen sichtbar zu machen, die abseits des Marktes kollaborativ
bereitgestellt werden. Es sind feine Linien, aber sie zeigen, dass es eine neue
Möglichkeit zur Überwindung des Kapitalismus gibt. Sie besteht darin, gestützt
auf die Informationstechnologie die Allmendeproduktion und den Austausch
abseits des Marktes zu fördern.
Bis zu diesem Punkt habe ich den Postkapitalismus als einen spontanen
Prozess beschrieben. Nun stehen wir vor der Herausforderung, auf der
Grundlage dieser Erkenntnisse ein Projekt zu entwickeln.
Fast alle Bestandteile des Wandels haben den Charakter von Projekten:
Wikipedia, Open Source, offene Informationsstandards, Stromerzeugung mit
geringem CO2-Ausstoß. Aber kaum jemand hat sich die Mühe gemacht zu
fragen, wie ein Projekt in großem Maßstab aussehen müsste, ein Projekt, das
die Weltwirtschaft über den Kapitalismus hinausführen könnte.
Das liegt teilweise daran, dass viele Mitglieder der traditionellen Linken von
derselben Verzweiflung gelähmt werden wie Bogdanows gestrandeter
Marsianer. Andere – die Umweltschutzbewegung, die NGOs,
Nachbarschaftsaktivisten und Peer-to-Peer-Ökonomen – sind derart bemüht,
»große Ankündigungen« zu vermeiden, dass sie nicht über radikale Reformen
im kleinen Maßstab hinauskommen.
In diesem Kapitel werde ich versuchen zu erklären, wie ein großangelegtes
postkapitalistisches Projekt aussehen könnte. Ich bezeichne es als das »Projekt
Null«: Seine Ziele sind eine Energieversorgung mit Null-Emissionen, die
Erzeugung von Maschinen, Produkten und Dienstleistungen mit Null-
Grenzkosten und die weitgehende Beseitigung der Arbeit. Bevor wir mit der
Beschreibung dieses Projekts beginnen, sollten wir gestützt auf die Lehren, die
wir aus früheren Fehlschlägen ziehen können, einige Prinzipien skizzieren.
Zunächst einmal müssen wir die Grenzen der menschlichen Willenskraft
angesichts eines komplexen und fragilen Systems verstehen. Die Bolschewisten
verstanden das nicht – der Fairness halber muss man jedoch sagen, dass es
auch die meisten Mainstream-Politiker des 20. Jahrhunderts nicht verstanden.
Mittlerweile sind wir uns dieses Problems bewusst. Die Lösung besteht darin,
alle Vorschläge im kleinen Maßstab zu testen und ihre makroökonomischen
Auswirkungen mehrmals virtuell durchzuspielen, bevor wir uns daranmachen,
sie im großen Maßstab umzusetzen.
Der sowjetische Ökonom Jewgeni Preobraschenski sagte voraus, die
Ökonomie, die bisher nur die Vergangenheit analysiere, werde ein Instrument
zur Gestaltung der Zukunft werden, wenn die Marktkräfte zu verschwinden
begännen. Diese Art von Ökonomie bezeichnete er als »soziale Technologie«.
2
Diese Bezeichnung hat etwas Beängstigendes, beschwört sie doch die Gefahr
herauf, die Gesellschaft wie eine Maschine zu behandeln. Aber
Preobraschenskis Beschreibung der Werkzeuge dieser »sozialen Technologie«
ist weitblickend und ausgereift. Er fordert ein »extrem komplexes und
verzweigtes Nervensystem aus gesellschaftlichem Vorausblick und geplanter
Leitung«. Man achte auf die Wortwahl: Er spricht nicht von Kommando und
Lenkung, sondern von Vorausblick und Leitung. Und man beachte das Bild:
keine Hierarchie, sondern ein Nervensystem. Die sowjetische Führung musste
auf eine bürokratische Hierarchie zurückgreifen, um die Kommandowirtschaft
zu lenken, aber mittlerweile haben wir das Netzwerk. Wenn es um die
Organisation des Wandels geht, funktioniert das Netzwerk besser als die
Hierarchie, aber nur, wenn wir seine Komplexität und Fragilität
berücksichtigen.
Das zweite Prinzip, das wir bei der Gestaltung des Übergangs zum
Postkapitalismus anwenden müssen, ist das der ökologischen Nachhaltigkeit.
Die in Kapitel 9 beschriebenen externen Schocks werden vermutlich nach und
nach eintreten: kurzfristige, örtlich begrenzte Energieknappheit im
kommenden Jahrzehnt, Alterung der Bevölkerung und Migrationswellen in den
nächsten dreißig Jahren und anschließend die katastrophalen Auswirkungen
des Klimawandels. Unsere Aufgabe ist es also, Technologien zu entwickeln, die
diese Probleme durch nachhaltiges Wachstum lösen. Wir müssen den
Fortschritt nicht rückgängig machen, um den Planeten zu retten.
Das dritte Prinzip lautet, dass die Transition nicht nur eine wirtschaftliche
Transition sein kann. Es bedarf auch einer menschlichen Transition. Die neuen
Typen von Menschen, die in der vernetzten Wirtschaft entstehen, haben neue
Zweifel und Prioritäten. Wir haben bereits eine andere Selbstwahrnehmung als
unsere Großeltern. 3 Unsere Rollen als Konsumenten, romantische Partner
und Kommunikatoren sind uns ebenso wichtig wie unsere Rolle am
Arbeitsplatz. Daher kann das Projekt nicht auf wirtschaftliche und soziale
Gerechtigkeit beschränkt werden.
Der französische Sozialphilosoph André Gorz hatte recht, als er erklärte, der
Neoliberalismus habe eine auf der Arbeit beruhende Utopie unmöglich
gemacht. Dennoch sind wir mit einer ähnlichen Herausforderung konfrontiert
wie die frühen Räterepubliken angesichts der Bedürfnisse der Arbeiter:
Bestimmte soziale Gruppen können kurzfristige Prioritäten haben, die mit den
Prioritäten der Volkswirtschaft und der Biosphäre unvereinbar sind. Dafür sind
die Netzwerke da: Dort können Debatten ausgetragen und alternative
Optionen vorgeschlagen werden. Wir werden neue Formen der Demokratie
brauchen, um einen Ausgleich zwischen konkurrierenden legitimen
Ansprüchen herzustellen. Aber das wird nicht einfach sein.
Ein viertes Prinzip sollte lauten: Das Problem muss aus allen Richtungen in
Angriff genommen werden. Aufgrund des Aufstiegs der Netzwerke ist die
Möglichkeit, sinnvolle Maßnahmen zu ergreifen, nicht mehr auf Staaten,
Unternehmen und politische Parteien beschränkt. Auch einzelne Menschen
und zeitweilige Schwärme von Individuen können Veränderungen
vorantreiben.
Gegenwärtig konzentriert sich die Gemeinschaft der Vordenker und
Aktivisten der Peer-to-Peer-Bewegung auf kleine experimentelle Projekte wie
Genossenschaftsbanken und Kooperativen. Der Staat hat in ihren Augen im
Wesentlichen die Funktion, den Peer-to-Peer-Sektor durch Gesetze zu schützen
und sein Wachstum zu fördern. Sieht man von Denkern wie Michel Bauwens 4
und McKenzie Wark 5 ab, hat sich bislang kaum jemand mit der Frage
beschäftigt, wie ein vollkommen neues System des Regierens und der
Ordnungspolitik für diese neue Produktionsweise aussehen könnte.
Wir müssen jedoch im größeren Rahmen denken. Wir müssen Experimente
im kleinen Maßstab mit bewährten Modellen, die allgemein angewandt werden
können, sowie zentralisierten staatlichen Maßnahmen kombinieren.
Wenn die Lösung für den Finanzsektor also darin besteht, ein vielgestaltiges,
vergesellschaftetes Bankensystem aufzubauen, so können wir das Problem
durch die Gründung von Genossenschaftsbanken aus einer Richtung, durch das
Verbot bestimmter Formen der Spekulation aus einer anderen und durch eine
Änderung unseres finanziellen Verhaltens aus einer dritten Richtung in Angriff
nehmen.
Das fünfte Prinzip für einen erfolgreichen Übergang zum Postkapitalismus
lautet, dass wir die Wirkung der Information maximieren müssen. Der
Unterschied zwischen einer Smartphone-App und den vor zwanzig Jahren auf
Computern installierten Programmen ist, dass die modernen Applikationen
Selbstanalysen durchführen und Leistungsdaten sammeln. Ihr Telefon und Ihr
Computer schicken Informationen über Ihre Entscheidungen an ein
Unternehmen. Bald werden Informationen aus »intelligenten« Stromzählern,
U-Bahn-Tickets und computergesteuerten Autos fließen. Die gesammelten
Daten unseres Lebens – zu denen in naher Zukunft unsere
Fahrgeschwindigkeit, unsere Ernährungsgewohnheiten, unser Body-Mass-
Index und unsere Herzfrequenz zählen werden – könnten selbst eine sehr
wirksame »soziale Technologie« sein.
Wenn das Internet der Dinge erst einmal voll entwickelt ist, werden wir zum
eigentlichen Ausgangspunkt der Informationsökonomie. Dann wird unsere
vorrangige Aufgabe darin bestehen, die demokratische gesellschaftliche
Kontrolle über die gesammelten Informationen zu erringen, um ihre
Monopolisierung oder ihren Missbrauch durch Staaten und Unternehmen zu
verhindern.
Das Internet der Dinge wird eine riesige soziale »Maschine«
vervollständigen. Seine Analysekapazität könnte die Ressourcennutzung
optimieren und den Konsum von fossilen Brennstoffen, Rohstoffen und
Arbeitskraft deutlich verringern. Der Aufbau »intelligenter« Strom- und
Straßennetze und eines »intelligenten« Steuersystems sind lediglich einige
naheliegende Vorhaben. Aber diese riesige Maschine hat nicht nur die
Fähigkeit, zu steuern und Feedback zu liefern. Durch die Vergesellschaftung
des Wissens kann sie auch die Ergebnisse kollektiver Aktionen potenzieren.
Die Sozialisten der Belle Époque fanden Gefallen an Monopolen und
Kartellen: Sie hofften, die Gesellschaft zentral lenken zu können, indem sie die
Monopole übernahmen. Wir hingegen wollen die Lenkung dezentralisieren –
und es gibt kein besseres Werkzeug dafür als die gewaltige
Informationsmaschine, die derzeit zusammengebaut wird.
Haben wir sie einmal unter unsere Kontrolle gebracht, so können wir einen
Großteil der gesellschaftlichen Wirklichkeit der kollaborativen Kontrolle
unterstellen. Beispielsweise konzentriert sich die Epidemiologie mittlerweile
darauf, die Rückkoppelungsschleifen von Armut, Wut, Stress, atomisierten
Familien und schlechter Gesundheit zu durchbrechen. 6 Die moderne
Sozialmedizin versucht, diese Probleme zu erfassen und zu beheben. Wie viel
wirkungsvoller könnte diese Medizin sein, wenn es gelänge, die Armut und die
Krankheiten, unter denen benachteiligte Gemeinschaften leiden, unter
Einbindung der Betroffenen in Echtzeit zu erfassen, zu verstehen und
kollaborativ zu beseitigen?
Das Bemühen, möglichst viel aus der Information herauszuholen und sie
allgemein zugänglich zu machen, muss uns zur zweiten Natur werden. Die
optimale Nutzung der Information ist ein wesentlicher Bestandteil des Projekts.
Übergeordnete Ziele

Ausgehend von den zuvor erläuterten Prinzipien möchte ich etwas


vorschlagen, das kein politisches Programm, sondern eher ein verteiltes Projekt
ist: eine Reihe untereinander verknüpfter, modularer, nichtlinearer
Maßnahmen, die zu einem wahrscheinlichen Ergebnis führen. Die
Entscheidungen werden dezentral gefällt. Die für die Umsetzung erforderlichen
Strukturen entstehen im Verlauf der Umsetzung. Die Ziele werden in Reaktion
auf Echtzeitinformation formuliert. Und wir sollten so umsichtig sein, die
neuartigen Simulationsinstrumente zu verwenden, um jeden Vorschlag virtuell
durchzuspielen, bevor wir ihn in die Tat umsetzen.
Ich könnte die Modularität und Interdependenz der Projekte besser
darstellen, indem ich den Rest dieses Kapitels auf Post-its schriebe und an eine
Tafel hängte. Die beste Methode zur Durchführung eines verteilten Projekts
besteht darin, dass sich kleine Gruppen eine Aufgabe aussuchen, ein wenig
daran arbeiten, ihre Ergebnisse dokumentieren und weitergehen.
Da Post-its jedoch nicht infrage kommen, werde ich mich an eine Liste
halten. Die übergeordneten Ziele eines postkapitalistischen Projekts sollten
sein:
1. Wir müssen die CO2-Emissionen rasch verringern, damit sich die Erde bis
2050 um höchstens zwei Grad erwärmt; außerdem können wir so eine
Energiekrise vermeiden und das durch den Klimawandel verursachte Chaos
eindämmen.
2. Wir müssen das Finanzsystem bis 2050 vergesellschaften und stabilisieren,
damit die Alterung der Bevölkerung, der Klimawandel und die
Überschuldung nicht einen neuen Zyklus von Spekulationsblasen und
Crashs auslösen und die Weltwirtschaft zerstören.
3. Wir müssen der Mehrheit der Menschheit materiellen Wohlstand sichern.
Dazu müssen wir vor allem die Technologien mit hohem
Informationsgehalt nutzen, um große gesellschaftliche Herausforderungen
wie schlechte Gesundheit, Abhängigkeit von Sozialhilfe, sexuelle
Ausbeutung und unzureichende Bildung zu bewältigen.
4. Wir müssen die Technologie auf die Verringerung des Arbeitsaufwands
ausrichten, um den raschen Übergang zu einer automatisierten Wirtschaft
voranzutreiben. Die Arbeit wird schließlich freiwillig sein, grundlegende
Güter und öffentliche Dienste werden kostenlos zur Verfügung stehen, und
im wirtschaftlichen Betrieb wird es darum gehen, nicht länger in erster
Linie Kapital und Arbeit zu verwalten, sondern Energie und Ressourcen.

Bei Gesellschaftsspielen würde man hier von »Siegbedingungen« sprechen.


Vielleicht können wir nicht alle diese Bedingungen schaffen, aber wie alle
Spieler wissen, kann man auch ohne den totalen Sieg viel erreichen.
Auf dem Weg zu diesen Zielen müssen wir mit allen wirtschaftlichen
Veränderungen transparente Signale senden. Das System von Bretton Woods
funktionierte gut, weil es auf klaren Regeln beruhte. Unter dem
Neoliberalismus gelten seit 25 Jahren nur unausgesprochene Regeln in der
Weltwirtschaft, und in der Eurozone werden die Regeln laufend gebrochen.
Der Soziologe Max Weber schrieb den Aufstieg des Kapitalismus nicht der
Technologie, sondern dem »Geist des Kapitalismus« zu – nicht den Finanzen,
den Maschinen und der Arbeit an sich, sondern einer neuen Einstellung zu
diesen Bestandteilen der Wirtschaft. Damit sich ein »Geist des
Postkapitalismus« entwickeln kann, müssen wir uns auf die Frage
konzentrieren, wo die Externalitäten erzeugt und wie sie verteilt werden, und
wir müssen das Verständnis dieser Phänomene aktiv verbreiten. Wir müssen
Antworten auf die folgenden Fragen geben: Was geschieht mit dem
gesellschaftlichen Nutzen der vernetzten Interaktionen, den die kapitalistische
Wirtschaftsrechnung normalerweise nicht erfasst? Und wie können wir diesen
Nutzen messen?
Sehen wir uns ein konkretes Beispiel an. Cafés werben oft damit, dass sie
»nur Bohnen aus ökologischem Anbau verwenden«, womit diese Ketten und
wir als Konsumenten ihres Kaffees dem gesellschaftlichen Wohl dienen.
Unterschwellig sagen sie zu uns: »Und du als Konsument zahlst ein wenig
mehr für das gute Gefühl, zum Umweltschutz beizutragen.« Aber das Signal ist
nur teilweise transparent.
Stellen wir uns den Coffee-Shop jetzt als Kooperative vor, die ihre Arbeiter
gut bezahlt und den Gewinn in Initiativen zur Stärkung des sozialen
Zusammenhalts, in Alphabetisierungskampagnen, in die Resozialisierung von
Straftätern oder in die öffentliche Bildung investiert. Wichtig ist, dass die
Kooperative klar sagt, welche sozialen Güter sie erzeugt und wer davon
profitiert. Diese Signale müssen so klar sein wie das Ökosiegel auf der
Kaffeepackung.
Das ist mehr als eine Geste: Es ist ein transparentes Signal, so wie die
geladene Kanone, die im Jahr 1771 vor der Textilfabrik in Cromford aufgestellt
wurde. Man kann ein Schild aufstellen, auf dem steht: »Wir verkaufen Kaffee,
um einen Gewinn zu erzielen, mit dem wir eine kostenlose psychosoziale
Beratung finanzieren können.« Oder man könnte einfach stillschweigend ein
Netzwerk von Essensausgaben organisieren wie Syriza in Griechenland.
Auf den nächsten Seiten finden Sie meine Ideen für einen Projektplan auf
der Grundlage der beschriebenen Prinzipien und der fünf übergeordneten
Ziele. Ich würde mich freuen, wenn er von einer wütenden Menge in der Luft
zerrissen und vollkommen überarbeitet würde.
Erst das Modell, dann das praktische Handeln

Als Erstes brauchen wir eine offene, präzise und umfassende


Computersimulation der gegenwärtigen wirtschaftlichen Realität. Als Quellen
können wir die makroökonomischen Modelle von Banken, IWF und OECD, die
Klimamodelle der Internationalen Energieagentur und andere Szenarien
verwenden. Wir müssen jedoch bedenken, dass diese Modelle sehr einseitig
sind.
In den Klimamodellen wird die Erdatmosphäre anhand der neuesten
mathematischen Methoden dargestellt, während ihre volkswirtschaftlichen
Simulationen eher Ähnlichkeit mit einer Modelleisenbahn haben. Die meisten
professionell gestalteten Wirtschaftssimulationen, die als dynamisch-
stochastische Gleichgewichtsmodelle (DSGE) bezeichnet werden, beruhen auf
einem doppelten Irrtum: Sie nehmen an, dass ein Gleichgewicht möglich ist
und dass alle wirtschaftlichen Akteure einfach zwischen Genuss und Schmerz
wählen.
Ein Beispiel: Im neuesten Modell der EZB für die Eurozone gibt es nur drei
Akteure – private Haushalte, Unternehmen und die Zentralbank. Wie die
gegenwärtigen Ereignisse zeigen, wäre es vielleicht hilfreich gewesen, auch
einige Faschisten und korrupte Oligarchen oder mehrere Millionen Wähler zu
berücksichtigen, die bereit sind, die radikale Linke an die Macht zu bringen.
Wenn man bedenkt, dass wir mittlerweile seit mehreren Jahrzehnten in der
Ära der Informationstechnologie leben, ist es verwunderlich, dass es keine
Modelle gibt, die das Wechselspiel der wirtschaftlichen Prozesse abbilden
können, während es durchaus möglich ist, so komplexe Vorgänge wie Wetter,
Bevölkerungsentwicklung, Epidemien oder Verkehrsströme zu simulieren. 7
Zudem trägt normalerweise niemand die Verantwortung für die
kapitalistische Planung und Modellierung: Wenn ein großes
Infrastrukturprojekt zwanzig Jahre nach den Prognosen zu seinen
Auswirkungen erste Ergebnisse liefert, gibt es keine Person oder Organisation
mehr, die Schlüsse daraus ziehen könnte. Das hat zur Folge, dass die meisten
ökonomischen Modelle im Marktkapitalismus ausgesprochen spekulativ sind.
Eine radikale – und unerlässliche – Maßnahme bestünde also darin, ein
globales Institut oder Netzwerk einzurichten, das den langfristigen Übergang
zum Postkapitalismus simulieren könnte.
Diese Einrichtung müsste zunächst eine gute Simulation des gegenwärtigen
Wirtschaftssystems erstellen. Diese Simulation müsste »quelloffen« sein: Jeder
kann sie verwenden, jeder kann Verbesserungen vorschlagen, und die
Ergebnisse stehen der Allgemeinheit zur Verfügung. Dazu müssten wir
vermutlich eine als »agentenbasierte Modellierung« bezeichnete Methode
anwenden: In Computermodellen werden Millionen virtuelle Arbeitskräfte,
Haushalte und Unternehmen simuliert, die innerhalb realistischer Grenzen
spontan interagieren können. Ein solches Modell könnte schon heute mit
Echtzeitdaten arbeiten. Wettersensoren, Monitore zur Überwachung des
öffentlichen Verkehrs, Stromnetze, demografische Daten für
Postleitzahlsysteme und die von globalen Supermarktgruppen für das
Management ihrer Lieferketten verwendeten Instrumente liefern allesamt
nützliche makroökonomische Echtzeitdaten. Wenn einmal jedes Objekt auf der
Erde adressierbar und »intelligent« ist und Informationen liefert, erhält man
ein Wirtschaftsmodell, das die Realität nicht nur simuliert, sondern abbildet.
Die Agenten im virtuellen Modell werden wie bei den Wettersimulationen
schließlich durch granulare Daten aus der Realität ersetzt.
Sind wir erst einmal in der Lage, die wirtschaftliche Realität auf diese Art zu
erfassen, so können wir einschneidende Veränderungen nachvollziehbar
planen. So wie die Ingenieure Millionen verschiedene Belastungen der
Heckflosse eines Flugzeugs simulieren, könnte man auch Millionen Einflüsse
berechnen, die darüber entscheiden werden, wie es sich auswirken wird, den
Preis von Nike-Schuhen auf einen bestimmten Punkt zwischen dem
gegenwärtigen Ladenpreis von 190 Dollar und dem Herstellungspreis von
weniger als 20 Dollar zu senken.
Wir würden unserem Supercomputer laterale Fragen stellen: Geraten junge
Männer in eine Depression, wenn die Marke Nike untergeht? Leidet die globale
Sportindustrie, wenn Nikes Marketingausgaben nicht länger sprudeln? Sinkt
die Qualität, wenn im Herstellungsprozess kein Markenwert mehr bewahrt
werden muss? Und wie sähen die Auswirkungen auf das Klima aus? Um seine
Marke zu stärken, hat sich Nike sehr bemüht, die CO2-Emissionen zu senken.
Wir könnten zu der Überzeugung gelangen, dass es gut ist, den Preis der Nike-
Schuhe hoch zu halten. Oder nicht.
Nicht für die detaillierte cyberstalinistische Planung, sondern für solche
Entscheidungen würde ein postkapitalistischer Staat Superrechner nutzen. Und
sobald wir verlässliche Prognosen haben, können wir handeln.
Die Wikipolis

Die schwierigste Aufgabe ist die Gestaltung des Staats. Wir müssen umdenken
und begreifen, dass er einen positiven Beitrag zur Errichtung des
Postkapitalismus leisten kann.
Wir sollten von folgender Prämisse ausgehen: Staaten sind riesige
Wirtschaftsgebilde. Weltweit beschäftigen sie etwa eine halbe Milliarde
Menschen und haben einen durchschnittlichen Anteil von 45 Prozent an der
Wirtschaftsleistung (zwischen 60 Prozent des BIP in Dänemark und 25 Prozent
in Mexiko). Seine Beschaffungsentscheidungen und die Hinweise auf sein
zukünftiges Verhalten haben großen Einfluss auf das Verhalten der Märkte.
Im sozialistischen Projekt wurde der Staat selbst als Wirtschaftssystem
betrachtet. Im Postkapitalismus wird sich der Staat eher wie die Belegschaft der
Wikipedia-Stiftung verhalten: Seine Aufgabe wird es sein, die neuen
Wirtschaftsformen zu fördern, bis diese eigenständig funktionieren können.
Wie in der ursprünglichen Vision des Kommunismus wird der Staat
»absterben« – aber hier sollen nicht nur seine ordnungspolitischen und
Verteidigungsfunktionen absterben, sondern auch die ökonomischen.
Es gibt eine Veränderung, die jede Regierung sofort und kostenlos
herbeiführen könnte: Die neoliberale Privatisierungsmaschine muss
abgeschaltet werden. Die Behauptung, im Neoliberalismus spiele der Staat eine
passive Rolle, ist ein Mythos: In Wahrheit kann das neoliberale System nicht
existieren, ohne dass der Staat laufend aktiv eingreift, um Vermarktlichung,
Privatisierung und Finanzinteressen zu fördern. Der neoliberale Staat
dereguliert die Finanzen, lagert öffentliche Dienste aus und lässt das öffentliche
Gesundheitswesen, die Bildung und den Verkehr verwahrlosen, womit er die
Bevölkerung zwingt, private Dienste in Anspruch zu nehmen. Eine Regierung,
die es mit dem Aufbau des Postkapitalismus ernst meint, müsste deutlich
signalisieren, dass sie die Marktkräfte nicht aktiv fördern wird. Die relativ
konventionellen Linken des griechischen Syriza-Bündnisses wurden offen
sabotiert, weil sie das versuchten. Die EZB zettelte in Griechenland einen
Bankensturm an und verlangte als Gegenleistung für eine Stützung der Banken
weitere Privatisierungen und eine verstärkte Auslagerung und Aushöhlung der
öffentlichen Dienstleistungen.
In einem weiteren Schritt könnte der Staat die Märkte umbauen, um
nachhaltige, kooperative und sozial gerechte Ergebnisse zu erzielen. Wenn man
den Tarif für den ins Netz eingespeisten Solarstrom hoch ansetzt, werden die
Bürger auf ihren Dächern Solarpanele installieren. Aber wenn man nicht
vorschreibt, dass die Module aus Fabriken mit hohen sozialen Standards
kommen müssen, werden sie in China erzeugt werden und, abgesehen vom
Wechsel des Energieträgers, einen geringen gesellschaftlichen Nutzen haben.
Schafft der Staat Anreize für den Aufbau lokaler Energiesysteme, damit der
überschüssige Strom an Unternehmen in der näheren Umgebung verkauft
werden kann, so kann er weitere positive Externalitäten ernten.
Wir müssen die Rolle des Staates in einem Wirtschaftssystem, das sowohl
kapitalistische als auch postkapitalistische Strukturen beinhaltet, neu
definieren. Der Staat sollte neue Technologien und Geschäftsmodelle fördern,
dabei jedoch stets prüfen, ob sie den beschriebenen strategischen Zielen und
Prinzipien entsprechen.
Peer-to-Peer-Projekte, kollaborative Geschäftsmodelle und Aktivitäten ohne
Gewinnzweck sind normalerweise klein und fragil. Rund um diese Vorhaben
ist eine Gemeinschaft von Ökonomen und Aktivisten entstanden, aber
verglichen mit dem Marktsektor ist das Ausgangsmaterial derart beschränkt,
dass der Staat unbedingt im kapitalistischen Dschungel eine Lichtung roden
muss, auf der die neuen Pflanzen wachsen können.
Im postkapitalistischen Projekt muss der Staat auch die Infrastruktur
koordinieren und planen: Gegenwärtig handelt er planlos und unter
erheblichem Druck der CO2-Lobby. In der Zukunft könnte er es demokratisch
und mit vollkommen anderen Ergebnissen tun. Vom sozialen Wohnungsbau in
den Städten, der unter der Immobilienspekulation leidet, bis zu Fahrradwegen
oder medizinischer Versorgung werden sogar die progressivsten
Infrastrukturprojekte den Interessen der Reichen angepasst – und sie beruhen
auf der Annahme, dass der Markt für die Ewigkeit ist. Das Ergebnis ist, dass die
Infrastrukturplanung zu den Disziplinen zählt, in denen das vernetzte Denken
kaum eine Rolle spielt. Das müssen wir ändern.
Angesichts des globalen Charakters der Probleme muss sich der Staat die
Planung der Reaktionen auf die Herausforderungen des Klimawandels, der
Bevölkerungsentwicklung, der Energiesicherheit und der Migration
»aneignen«: Wir können zahlreiche Schritte auf der Mikroebene unternehmen,
um diese Probleme anzugehen, aber lösen können wir sie nur durch Eingriffe
nationaler Regierungen und durch multilaterale Vereinbarungen.
Damit die Staaten zum Aufbau eines neuen Wirtschaftssystems beitragen
können, müssen sie vor allem das Problem der Verschuldung lösen. Die
entwickelten Länder werden von gewaltigen Schulden gelähmt. Wie wir in
Kapitel 9 gesehen haben, werden die Staatsschulden aufgrund der Alterung der
Bevölkerung auf ein unerträgliches Maß steigen. Im Lauf der Zeit wird die
Kombination von Austerität und Stagnation zu einer Schrumpfung der
Wirtschaft führen, mit deren Produktion die Schulden zurückgezahlt werden
sollen.
Daher müssen die Regierungen entschlossen handeln, um die Schuldenlast
zu beseitigen. Eine Möglichkeit wäre, dass Länder wie Griechenland, die ihre
Schulden unmöglich zurückzahlen können, den Schuldendienst einseitig
einstellen. Das Ergebnis wäre jedoch eine Deglobalisierung, da die Staaten und
Investoren, die diesen Ländern das Geld geliehen haben, Vergeltung üben und
den Schuldnern den Marktzugang abschneiden oder sie aus Währungs- und
Wirtschaftszonen ausschließen würden.
Ein Teil des durch die quantitative Lockerung erzeugten Geldes könnte
verwendet werden, um die Schulden aufzukaufen und zu beseitigen, aber selbst
diese sogenannte »Monetarisierung« der Schulden anhand der zusätzlichen
Geldmenge von mittlerweile 12 Billionen Dollar würde die globalen
Staatsschulden von 54 Billionen Dollar und die Gesamtschulden von fast 300
Billionen Dollar gemessen an der Wirtschaftsleistung nicht ausreichend
verringern.
Vernünftiger wäre es, kontrollierte Schuldenerlässe mit einer auf zehn bis
fünfzehn Jahre angelegten globalen »Finanzrepression« zu kombinieren: Die
Staaten müssten die Inflation ankurbeln, die Zinsen unterhalb der
Inflationsrate halten und den Bürgern die Möglichkeit nehmen, ihr Geld in
nichtfinanzielle Vermögenswerte zu investieren oder ins Ausland zu bringen.
Auf diese Art könnten sie die Schulden weginflationieren, um anschließend die
Restschulden abzuschreiben.
Um es mit brutaler Deutlichkeit zu sagen: Dadurch würden die
Vermögenswerte in den Rentenfonds und damit der materielle Wohlstand der
Mittelschicht und der Rentner schrumpfen, und mit Kapitalverkehrskontrollen
würde man die Finanzen teilweise deglobalisieren. So würde allerdings auf
kontrollierte Art getan, was der Markt ansonsten auf chaotische Art tun wird,
wenn die Schulden von sechzig Prozent aller Länder bis 2050 auf
Ramschniveau herabgestuft werden (wie Standard & Poor's voraussagt). Wenn
die Wirtschaft beinahe stagniert und die langfristigen Zinsen bei null liegen,
werfen die Investitionen der Rentenfonds ohnehin kaum noch Erträge ab.
Aber mit staatlichen Eingriffen allein kann nicht einmal die Hälfte der
Probleme gelöst werden.
Ausweitung der kollaborativen Arbeit

Um den Übergang zum Postkapitalismus zu beschleunigen, müssen wir zu


kollaborativen Geschäftsmodellen übergehen. Dazu müssen wir die ungleichen
Machtbeziehungen beseitigen, welche die kollaborative Arbeit in der
Vergangenheit unmöglich gemacht haben.
Die klassischen Arbeiterkooperativen scheiterten stets, weil sie keinen
Zugang zu Kapital hatten und ihre Mitglieder in Krisensituationen nicht dazu
bewegen konnten, Lohnkürzungen hinzunehmen oder weniger Stunden zu
arbeiten. Erfolgreiche moderne Kooperativen wie Mondragon in Spanien
funktionieren, weil sie die Unterstützung einer örtlichen Genossenschaftsbank
genießen und komplexe Gebilde sind, die ihre Belegschaft von einem Sektor in
einen anderen umschichten oder kurzfristige Arbeitslosigkeit durch nicht vom
Markt abhängige Vergünstigungen für Entlassene mildern können. Mondragon
ist kein postkapitalistisches Paradies, sondern die Ausnahme, welche die Regel
veranschaulicht: Sieht man sich die Liste der 300 größten Kooperativen der
Welt an, so stellt man fest, dass viele von ihnen einfach
Genossenschaftsbanken sind, die sich der Übernahme durch einen Konzern
widersetzten. Sie spielen das Spiel der finanziellen Ausbeutung mit sozialem
Gewissen.
In einer von Netzwerken getragenen Transition müssen wir in erster Linie
kollaborative Geschäftsmodelle fördern. Diese müssen sich jedoch ebenfalls
erst entwickeln. Es genügt nicht, dass die Unternehmen einfach auf den
Gewinnzweck verzichten: Die postkapitalistische Form der Kooperative wird
versuchen, ausgehend von der Marktaktivität marktferne, nicht gemanagte,
nicht auf Geld beruhende Aktivitäten auszuweiten. Wir brauchen
Kooperativen, deren Rechtsform durch eine wirkliche Allmendeproduktion
oder durch einen Allmendekonsum mit klaren sozialen Ergebnissen ergänzt
wird.
Wir dürfen den Verzicht auf den Gewinnzweck nicht zu einem Fetisch
machen. Es kann durchaus rentable Peer-to-Peer-Kreditfirmen,
Taxiunternehmen und Vermittler von Urlaubsunterkünften geben, aber solche
Unternehmen müssten Vorschriften unterworfen werden, die ihre Fähigkeit
einschränken, zur sozialen Ungerechtigkeit beizutragen.
Auf staatlicher Ebene könnte eine Behörde für die Nicht-Marktwirtschaft
eingerichtet werden, deren Aufgabe es wäre, jene Betriebe zu fördern, die
kostenlose Güter erzeugen oder teilen und Allmendeproduktion zu einem
wesentlichen Bestandteil ihrer Tätigkeit gemacht haben. Auf diese Art könnte
die Behörde den Umfang der wirtschaftlichen Aktivität außerhalb des
Preissystems erhöhen. Relativ geringe Anreize würden genügen, um
bedeutsame Synergien zu erzeugen und das Wirtschaftssystem umzubauen.
Beispielsweise gründen viele Leute Unternehmen – ein Drittel der Start-ups
scheitert –, weil das Steuersystem Anreize dazu bietet. Oft entstehen so
Unternehmen, die nur geringbezahlte Arbeitsplätze schaffen – Fast-Food-
Restaurants, Bauunternehmen und Franchise-Filialen –, weil das System die
billige Arbeit bevorzugt. Indem wir das Steuersystem so umbauen, dass es die
Gründung von Non-Profit-Organisationen und die Allmendeproduktion
belohnt, und indem wir die Vorschriften für die Betriebstätigkeit ändern, um
den Aufbau von Niedriglohnunternehmen zu erschweren, gleichzeitig jedoch
die Gründung von Firmen zu erleichtern, die Arbeitsplätze schaffen, mit denen
man seinen Lebensunterhalt verdienen kann, können wir zu geringen Kosten
viel verändern.
Auch Großunternehmen sind gut geeignet, um die Veränderung
voranzutreiben, was nicht zuletzt an ihrer Größe liegt. McDonald's zum
Beispiel nähme, wäre es ein Land, nicht nur den 38. Rang unter den
Volkswirtschaften der Welt ein (seine Wirtschaftsleistung ist höher als die
Ecuadors), sondern ist auch der größte Spielzeugvertrieb in den Vereinigten
Staaten. Dazu kommt, dass jeder achte Mensch in den USA schon einmal für
McDonald's gearbeitet hat. Man stelle sich vor, was geschähe, wenn dieses
Unternehmen neuen Mitarbeitern bei der Einschulung in ihre Tätigkeit einen
einstündigen Kurs in Gewerkschaftsarbeit anbieten müsste. Man stelle sich vor,
Walmart würde seine Mitarbeiter nicht beraten, wie sie staatliche Zulagen für
Beschäftigte beantragen können, um die Lohnkosten zu senken, sondern
müsste ihnen erklären, wie sie ihren Lohn erhöhen können. Oder man stelle
sich vor, McDonald's würde kein Plastikspielzug mehr verteilen.
Wie kann man Unternehmen dazu bewegen, solche Dinge zu tun? Nun, mit
Gesetzen und Vorschriften. Indem wir die Rechte der Beschäftigten global
tätiger Konzerne stärken, zwingen wir ihre Arbeitgeber, Geschäftsmodelle zu
entwickeln, die auf hohen Löhnen, Wachstum und Hochtechnologie beruhen.
Die seit den neunziger Jahren aus dem Boden geschossenen Konzerne, die sich
auf Niedriglöhne, geringqualifizierte Jobs und geringe Qualität stützen,
existieren nur, weil der Staat ihnen freie Hand dazu gegeben hat. Wir müssen
den Prozess lediglich umkehren.
Der Vorschlag, bestimmte Geschäftsmodelle zu verbieten, mag radikal
klingen, aber nichts anderes geschah mit der Sklaverei und der Kinderarbeit.
Das gegen den Widerstand von Plantagenbesitzern und Fabrikeigentümern
durchgesetzte Verbot dieser Praktiken regulierte den Kapitalismus und
erzwang seine Weiterentwicklung.
Unser Ziel sollte es sein, den Postkapitalismus zu regulieren: Wir müssen
dem kostenlosen Wifi-Netz im Bergdorf Vorrang vor den Rechten des
Telefonmonopols geben. Aus solchen geringfügigen Veränderungen können
neue Systeme hervorgehen.
Monopole unterdrücken oder verstaatlichen

Der wichtigste Verteidigungsreflex des Kapitalismus gegen den


Postkapitalismus besteht darin, Monopole zu errichten, um zu verhindern, dass
die Preise auf null sinken.
Um den Übergang zum Postkapitalismus zu erleichtern, muss dieser
Verteidigungsmechanismus unterdrückt werden. Wo immer das möglich ist,
müssen wir Monopole verbieten und die Vorschriften gegen Preisabsprachen
streng durchsetzen. Ein Vierteljahrhundert lang wurde der öffentliche Sektor
gezwungen, Dienste auszulagern und sich aufzuspalten. Jetzt sind Monopole
wie Apple und Google an der Reihe. Wo die Zerschlagung eines Monopols
schädliche Auswirkungen hätte – beispielsweise bei Flugzeugbauern oder
Wasserwerken –, würde die vor hundert Jahren von Rudolf Hilferding
vorgeschlagene Lösung genügen: die Vergesellschaftung.
In seiner ursprünglichen Form, das heißt als gemeinnützige öffentliche
Einrichtung, verleiht das Staatsunternehmen dem Kapital großen
gesellschaftlichen Nutzen, indem es die Inputkosten der Arbeit verringert. In
der postkapitalistischen Wirtschaft könnte es dies und mehr leisten. Das
strategische Ziel – das im Vorstandszimmer jedes Staatsunternehmens in
Großbuchstaben auf Powerpoint-Präsentationen prangen sollte – bestünde
darin, die Kosten von Gütern des grundlegenden Bedarfs zu senken und auf
diese Art die gesamte gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit zu verringern
und mehr Güter kostenlos zu erzeugen.
Würden Strom, Wasser, Wohnung, Transport, Gesundheitswesen,
Telekommunikationsinfrastruktur und Bildung in einer neoliberalen
Volkswirtschaft wirklich von der öffentlichen Hand bereitgestellt, so käme dies
einer Revolution gleich. Durch die Privatisierung dieser Sektoren in den
vergangenen dreißig Jahren leiteten die Neoliberalen die Rentabilität in den
Privatsektor um: In Ländern ohne produktive Industrien sind solche
Dienstleistungsmonopole der Kern des Privatsektors und bilden gemeinsam
mit den Banken das Rückgrat des Aktienmarkts.
Diese öffentlichen Dienste zum Selbstkostenpreis zu erbringen wäre eine
strategische Umverteilungsmaßnahme, die sehr viel wirkungsvoller wäre als
eine Anhebung der Reallöhne.
Fassen wir zusammen: Eine Regierung, die den Postkapitalismus anstrebt,
könnte mit relativ billigen ordnungspolitischen Eingriffen und einem radikalen
Schuldenabbau die öffentliche Verwaltung, den Unternehmenssektor und die
Staatsbetriebe dazu bewegen, vollkommen andere Ziele zu verfolgen.
Aber die eigentlichen postkapitalistischen Wirtschaftsformen werden nicht
in diesem Bereich entstehen. So wie der britische Staat Anfang des
19. Jahrhunderts das Wachstum des Industriekapitalismus anregte, indem er
neue Regeln aufstellte, könnte heute eine Mischung von staatlichen
Einrichtungen und streng regulierten Unternehmen die Rahmenbedingungen
für ein neues Wirtschaftssystem schaffen. Die Substanz dieses Systems muss
jedoch aus einer anderen Quelle kommen.
Lasst die Marktkräfte verschwinden

In einer vernetzten, konsumorientierten Gesellschaft, deren wirtschaftliche


Vorstellungen um die Bedürfnisse des Individuums kreisen, sind die Märkte
nicht der Feind. Dies ist der wichtigste Unterschied zwischen einem auf der
Informationstechnologie und einem auf der zentralen Planung beruhenden
Postkapitalismus. Es gibt keinen Grund, die Märkte per Diktat abzuschaffen;
wir müssen lediglich das Machtungleichgewicht beseitigen, das sich hinter dem
Begriff des »freien Markts« verbirgt.
Ist es den Unternehmen erst einmal verboten, Monopolpreise festzulegen,
und erhalten erst einmal sämtliche Bürger ein Grundeinkommen (siehe unten),
so wird der Markt zum Vermittler des »Null-Grenzkosten-Effekts«, der sich in
sinkenden Arbeitszeiten niederschlägt.
Um den Übergang zum Postkapitalismus steuern zu können, müssen wir
allerdings klare Signale an den Privatsektor senden, darunter vor allem dieses:
Der Profit ist das Ergebnis unternehmerischer Tätigkeit. Profit durch
wirtschaftliche Renten ist unzulässig.
Gegenwärtig werden Unternehmen für Innovation und Erzeugung neuer
Produkte – seien es neuartige Düsentriebwerke oder Musikhits – durch
kurzfristige Erträge in Form von höheren Umsätzen oder geringeren Kosten
belohnt. Aber wir müssen die Patente und geistigen Eigentumsrechte so
gestalten, dass sie rasch erlöschen. In der Praxis wird dieses Prinzip trotz der
Proteste von Filmproduzenten und Pharmariesen bereits anerkannt. Patente
auf Medikamente laufen nach zwanzig Jahren ab, werden jedoch oft bereits
früher durch die Produktion in Ländern unterlaufen, die das Patent nicht
anerkennen; oder der Patentinhaber erklärt sich wie im Fall der HIV-
Medikamente angesichts eines dringenden Bedarfs bereit, die Produktion von
Generika zu erlauben.
Gleichzeitig muss die Nutzung von Creative-Commons-Lizenzen – bei denen
Erfinder und Urheber freiwillig einen Teil ihrer Rechte im Voraus abtreten –
gefördert werden. Würde der Staat darauf bestehen, dass die Ergebnisse
staatlich finanzierter Forschung im Wesentlichen kostenfrei genutzt werden
können – womit alles, was mit öffentlicher Förderung produziert wird, in die
öffentliche Sphäre geholt würde –, so würde das geistiges Eigentum rasch vom
Privatsektor auf das Gemeinwesen übergehen. Jene, die nur an materiellen
Belohnungen interessiert sind, werden weiter Dinge entwickeln, weil der
Markt weiterhin Unternehmertum und Erfindergeist belohnen wird. Doch in
eine Volkswirtschaft, in der die Innovationsrate exponentiell steigt, wird der
Zeitraum schrumpfen, in dem die Erträge eingeheimst werden können.
Der einzige Sektor, in dem die Marktkräfte vollkommen unterdrückt werden
müssen, ist die Energieversorgung. Um rasch gegen den Klimawandel
vorgehen zu können, muss der Staat das Stromnetz und all jene
Stromproduzenten übernehmen, die fossile Energiequellen ausbeuten. Diese
Konzerne sind bereits am Ende, denn der Großteil ihrer Reserven kann nicht
genutzt werden, ohne den Planeten zu zerstören. Um Investitionen in die
erneuerbaren Energien zu fördern, müssen die entsprechenden Technologien
subventioniert werden, und die Unternehmen, die sie bereitstellen, sollten nach
Möglichkeit von der Verstaatlichung ausgenommen werden.
Gleichzeitig könnte man den Strompreis für die Konsumenten hoch halten,
um die Nachfrage zu unterdrücken und die Verbraucher zur Änderung ihres
Verhaltens zu zwingen. Der Staat muss jedoch auch Einfluss darauf nehmen,
wie die Haushalte Strom verbrauchen. Die Verbrauchsseite des Strommarkts
müsste dezentralisiert werden, damit sich Technologien wie Kraft-Wärme-
Kopplung und örtliche Stromnetze durchsetzen können.
Energieeffizienz muss in jeder Phase belohnt, Ineffizienz bestraft werden –
sei es bei der Isolierung und Heizung von Gebäuden oder in den
Verkehrsnetzen. Es stehen bereits zahlreiche bewährte Techniken zur
Auswahl, und indem wir die Dezentralisierung vorantreiben und örtlichen
Gemeinschaften erlauben, den Ertrag von Effizienzsteigerungen zu behalten,
können wir die Marktkräfte auf dem Endverbrauchermarkt nutzen, um ein klar
definiertes und messbares Ziel zu erreichen.
Außerhalb des Energiesektors und der strategischen öffentlichen Dienste
müssen wir einen großen Raum erhalten, in dem sich der von Keynes
beschriebene »animalische Instinkt« des Innovators weiterhin entfalten kann.
Hat die Informationstechnologie einmal die physische Welt erobert, so bringt
uns jede Innovation einer Welt näher, in der keine Arbeit mehr nötig ist.
Vergesellschaftung des Finanzsektors

Die soziale Technologie muss auch für die Vergesellschaftung des


Finanzsystems genutzt werden. Die finanzielle Komplexität ist ein zentraler
Bestandteil des modernen Wirtschaftslebens. Dieses beinhaltet
Finanzinstrumente wie Futures und Optionen und rund um die Uhr geöffnete
globale Finanzmärkte mit hoher Liquidität. Und es beinhaltet die neue
Beziehung, die wir als Arbeitskräfte und Konsumenten zum Finanzkapital
unterhalten. Daher sind die Staaten in jeder Finanzkrise gezwungen, die
unausgesprochene Garantie zu bekräftigen, dass sie die Banken, Rentenfonds
und Versicherungsgesellschaften retten werden, wobei die dafür notwendigen
Summen immer weiter steigen werden.
Wenn wir die Risiken vergesellschaften, so wäre es aus moralischer Sicht
nur logisch, dasselbe auch mit den Belohnungen zu tun. Wir müssen die
finanzielle Komplexität allerdings nicht vollkommen beseitigen. Wo komplexe
Finanzmärkte die Spekulation schüren und die Geldströme unnötig
beschleunigen, können sie an die Leine gelegt werden. Die folgenden
Maßnahmen wären wirksamer, wenn sie rund um den Erdball ergriffen
würden, aber in Anbetracht des in Kapitel 1 beschriebenen Szenarios ist es
wahrscheinlicher, dass einzelne Staaten zur Tat schreiten werden. Hier die
Maßnahmen:
1. Die Zentralbanken werden verstaatlicht. Von nun an haben sie die Aufgabe,
für nachhaltiges Wachstum und eine hohe Inflation zu sorgen. Das
Ergebnis ist eine sozial gerechte Finanzrepression, die dazu beiträgt, den
gewaltigen globalen Schuldenberg kontrolliert abzubauen. In einer globalen
Wirtschaft, die sich aus Staaten oder Währungsblöcken mit
unterschiedlichen Interessen zusammensetzt, wird dies Konflikte auslösen,
aber wenn ein für das globale System unverzichtbares Land diesen Schritt
tut, werden die meisten Länder wie im Bretton-Woods-System nicht
umhinkönnen, seinem Vorbild zu folgen.
Neben ihren klassischen Funktionen – Geldpolitik und Wahrung der
Finanzstabilität – erhalten die Zentralbanken den Auftrag, die Nachhaltigkeit
zu gewährleisten: Sie müssen die Auswirkungen sämtlicher Entscheidungen
auf Klima, Bevölkerungsentwicklung und soziale Gerechtigkeit
berücksichtigen. Und natürlich müssen ihre Leitungsgremien demokratisch
gewählt und der demokratischen Kontrolle unterworfen werden.
So wird die
Geldpolitik, das
vermutlich
wirkungsvollste
politische
Instrument im
modernen
Kapitalismus,
transparent gemacht
und der politischen
Kontrolle
unterworfen. Im
Endstadium des
Übergangs zum
Postkapitalismus
werden die
Zentralbanken und
das Geld eine andere
Funktion
übernehmen (dazu
später mehr).

2. Das Bankensystem wird umgebaut. Die Bestandteile des


neuen Systems müssen Versorgungsunternehmen mit
begrenztem Gewinn, gemeinnützige lokale und regionale
Banken, Genossenschaftsbanken sowie Peer-to-Peer-
Kreditgeber und ein staatlicher Anbieter von
Finanzdienstleistungen sein. Der Staat steht diesen
Banken als Kreditgeber letzter Instanz zur Seite.
3. Es wird ein gut regulierter Freiraum für komplexe
finanzielle Aktivitäten geschaffen. So wird dafür gesorgt,
dass das globale Finanzsystem kurz- bis mittelfristig
wieder seine historische Funktion übernehmen kann, die
darin besteht, Unternehmen, Wirtschaftssektoren,
Sparern, Kreditgebern usw. effizient Kapital zuzuteilen.
Die Vorschriften könnten sehr viel einfacher sein als die
von Basel III, da sie mit einer strikten strafrechtlichen
Verfolgung von Verstößen und klaren Regeln für
Bankwesen und Buchführung einhergehen. Innovation
muss belohnt, Rent-Seeking bestraft und unattraktiv
gemacht werden. Beispielsweise würde es einen Verstoß
gegen die Berufsethik darstellen, wenn ein
Rechnungsprüfer oder ein Rechtsanwalt seinem Klienten
eine Methode zur Steuervermeidung vorschlägt oder
wenn ein Hedgefonds Uran auf Lager legt, um den Preis
in die Höhe zu treiben.

In Ländern mit global ausgerichtetem Finanzsektor – Beispiele sind


Großbritannien, Singapur, die Schweiz und die USA – könnte die Regierung
den verbliebenen gewinnorientierten Finanzunternehmen, die riskanten
Aktivitäten nachgehen, begrenzte letztinstanzliche Kreditfazilitäten anbieten,
wenn diese Firmen im Gegenzug ihr Geschäft klar und transparent im Inland
ansiedeln. Firmen, die nicht dazu bereit sind, werden wie finanzielle
Gegenstücke zu al-Qaida behandelt. Wenn sie das Angebot einer Amnestie
ausschlagen, müssen sie sich auf schwierige Zeiten einstellen.

Mit solchen strategischen Eingriffen könnte die tickende Zeitbombe im


globalen Finanzwesen rasch entschärft werden. Ein tragfähiges Gerüst für ein
wirkliches postkapitalistisches Finanzsystem sind sie jedoch nicht.
Ein postkapitalistisches Projekt würde anders als der geldpolitische
Fundamentalismus nicht versuchen, das Mindestreservesystem zu beseitigen.
Erstens würde ein solcher Schritt als kurzfristige Maßnahme gegen die
Finanzialisierung lediglich dazu führen, dass die Nachfrage einbricht. Zudem
brauchen wir eine Ausweitung der Kredit- und der Geldmenge, wenn wir den
Schuldenberg abtragen wollen, der das Wachstum erstickt.
Zunächst müssen wir die Globalisierung retten, indem wir dem
Neoliberalismus ein Ende machen. Ein vergesellschaftetes Bankensystem und
eine um Nachhaltigkeit bemühte Zentralbank könnten das mit Fiatgeld
bewerkstelligen – in Kapitel 1 haben wir gesehen, dass das Fiatgeld so lange
funktioniert, wie die Menschen dem Staat vertrauen.
Wenn der Aufbau des Postkapitalismus jedoch voranschreitet, wird sich ein
komplexes Finanzsystem als untauglich erweisen. Die Kreditschöpfung
funktioniert nur, wenn sie ein Wachstum des Marktsektors bewirkt, denn nur
so können die Kreditnehmer das geliehene Geld mit Zinsen zurückzahlen.
Beginnt der Nicht-Marktsektor schneller zu wachsen als der Marktsektor, so
kann die innere Logik des Bankwesens nicht mehr funktionieren. Wollen wir
eine komplexe Volkswirtschaft bewahren, in der das Finanzsystem als
Abrechnungsstelle für eine Vielzahl von Vorgängen dient, so muss der Staat
(mittels der Zentralbank) die Aufgabe übernehmen, Geld zu schöpfen und
Kredit bereitzustellen, wie die Befürworter des sogenannten »positiven
Geldes« erklären. 8
Aber das Ziel ist nicht ein mythischer Kapitalismus im
Gleichgewichtszustand. Das Ziel ist ein Wirtschaftssystem, in dem viele Dinge
gratis sind und die Investitionen teils monetäre, teils nicht monetäre Erträge
abwerfen.
Nach einigen Jahrzehnten werden Geld und Kreditwesen an Bedeutung für
die Volkswirtschaft verlieren, aber die Funktionen der Buchführung,
Abrechnung und Ressourcenmobilisierung, die gegenwärtig von Banken und
Finanzmärkten erfüllt werden, müssten in einer anderen institutionellen Form
weiterexistieren. Dies ist eine der größten Herausforderungen für den
Postkapitalismus.
Ich möchte erklären, wie wir diese Aufgabe meiner Meinung nach
bewältigen können.
Wir müssen komplexe, liquide Märkte für handelbare Instrumente erhalten
und gleichzeitig die Möglichkeit eines monetären Ertrags beseitigen (da das
System von Profit und Eigentum verschwindet). Als Vorbild könnte der
Umgang mit den CO2-Emissionen dienen.
Obwohl der Emissionshandel den Klimaschutz nicht entscheidend
vorangebracht hat, ist er nicht nutzlos. In Zukunft dürften verschiedenste
gesellschaftlich nützliche Instrumente auf dem Markt gehandelt werden,
darunter zum Beispiel Zertifikate für bessere Ergebnisse im Bereich der
Gesundheit. Wenn der Staat einen Emissionsmarkt schaffen kann, kann er
auch einen Markt für jedes beliebige andere Gut schaffen. Er kann die
Marktkräfte nutzen, um Verhaltensänderungen zu bewirken, aber letzten
Endes wird er diese Instrumente – die in der Praxis eine Parallelwährung
darstellen – mit einer Kaufkraft ausstatten müssen, die jene des Geldes
übersteigt.
Wenn sich die Menschen von ihrem Geld trennen, weil der Markt durch die
Allmendeproduktion ersetzt wird, besteht die Möglichkeit, dass sie sich mit
»technologischen Bezugsmarken« zufriedengeben, bis ein vom Staat
betriebenes Auktionssystem für Güter und Dienstleistungen errichtet ist, wie
es Bogdanow in Der rote Planet beschrieb.
Auf kurze Sicht geht es nicht darum, die Komplexität zu verringern (wie es
die monetären Fundamentalisten fordern) oder einfach das Bankwesen zu
stabilisieren. Vielmehr müssen wir die komplexeste Form der kapitalistischen
Finanzen fördern, die mit dem Fortschritt zu einem hochgradig automatisierten
Wirtschaftssystem mit geringem Arbeitseinsatz und einem unerschöpflichen
Angebot an kostenlosen Gütern und Dienstleistungen vereinbar ist.
Wenn der Energiesektor und die Banken vergesellschaftet sind, muss unser
mittelfristiges Ziel darin bestehen, jenseits der Finanzbranche einen möglichst
großen Privatsektor zu bewahren und für vielfältige innovative Unternehmen
offenzuhalten.
Da der Neoliberalismus sehr tolerant gegenüber Monopolen ist, unterdrückt
er Innovation und Komplexität. Indem wir die Technologiemonopole und die
Banken zerschlagen, können wir Freiräume für kleinere Unternehmen
schaffen, damit sie endlich das Versprechen der Informationstechnologie
einlösen können.
Wo dies wünschenswert ist, kann der öffentliche Sektor Funktionen an den
Privatsektor abtreten, dem es jedoch verboten sein muss, durch abweichende
Löhne und Arbeitsbedingungen seine Wettbewerbsposition zu verbessern.
Indem man Wettbewerb und Vielfalt im Dienstleistungssektor fördert, bewirkt
man auch, dass die Unternehmen die technische Innovation beschleunigen
müssen, da sie nicht über geringere Arbeitskosten konkurrieren können. So
würde die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit verringert.
Und damit wären wir bei der vermutlich größten aller strukturellen
Veränderungen, die Voraussetzung für den Postkapitalismus sind: Wir
brauchen ein universelles, staatlich garantiertes Grundeinkommen.
Ein Grundeinkommen für jeden

Das Grundeinkommen an sich ist nicht unbedingt eine radikale Forderung. Es


wurden bereits verschiedene Vorstöße in dieser Richtung unternommen, um
das Arbeitslosengeld zu ersetzen und die Verwaltungskosten zu senken, und
oft waren es rechte oder Mitte-links-Regierungen, die das versuchten. Aber im
postkapitalistischen Projekt dient das Grundeinkommen einem radikalen
Zweck: Es soll erstens die Trennung von Arbeit und Einkommen
institutionalisieren und zweitens den Übergang zu einem kürzeren Arbeitstag
oder Arbeitsleben subventionieren. Auf diese Art würden die Kosten der
Automatisierung vergesellschaftet.
Das Konzept ist einfach: Jeder Mensch im erwerbsfähigen Alter erhält vom
Staat ein Grundeinkommen, das nicht an Bedingungen geknüpft ist und mit
Steuermitteln finanziert wird. Dieses Grundeinkommen ersetzt die
Arbeitslosenhilfe, während andere Formen von sozialer Unterstützung wie
Familienbeihilfe, Behindertenunterstützung und Kindergeld als verringerte
Zuzahlungen zum Grundeinkommen weiterbestehen.
Warum sollte man die Menschen einfach dafür bezahlen, dass sie existieren?
Weil wir den technologischen Fortschritt erheblich beschleunigen müssen.
Wenn in den fortschrittlichen Volkswirtschaften 47 Prozent aller Arbeitsplätze
der Automatisierung zum Opfer fallen werden, wie die Studie der Oxford
Martin School nahelegt, dann wird das Prekariat im neoliberalen System
erheblich wachsen.
Ein mit den Einnahmen aus der Besteuerung der Marktwirtschaft
finanziertes Grundeinkommen eröffnet den Menschen die Möglichkeit, sich
eine Position in der Nicht-Marktwirtschaft zu sichern. Es erlaubt ihnen, als
Freiwillige tätig zu werden, Kooperativen zu gründen, Artikel für Wikipedia zu
schreiben, Software für das 3-D-Design zu bedienen oder einfach zu existieren.
Es erlaubt ihnen, ihre Arbeitszeit zu verteilen, zu einem späteren Zeitpunkt ins
Erwerbsleben ein- oder früher auszusteigen und ein Engagement in
anspruchsvollen, stressigen Jobs von ihren Bedürfnissen abhängig zu machen.
Ein Grundeinkommen ist eine große Belastung für den Staatshaushalt –
deshalb dürften Versuche, es unabhängig von einem umfassenden
Transitionsprojekt einzuführen, zum Scheitern verurteilt sein, obwohl dem
Thema eine wachsende Zahl von Forschungsarbeiten und globalen
Konferenzen gewidmet wird. 9
Ein Beispiel: Der britische Staat gibt jedes Jahr 160 Milliarden Pfund für
Sozialleistungen aus, von denen etwa 30 Milliarden Pfund auf Behinderte,
Schwangere, Kranke usw. entfallen. Die ärmsten Empfänger sind aktuell die
Rentner, die eine Grundsicherung von etwa 6000 Pfund pro Jahr erhalten.
Würde man 51 Millionen volljährigen Briten ein jährliches Grundeinkommen
von 6000 Pfund zugestehen, so würde das den Staat 306 Milliarden Pfund
kosten, also fast das Doppelte der derzeitigen Kosten des Sozialsystems. Das
wäre finanzierbar, würde man verschiedene Steuerbefreiungen abschaffen und
gleichzeitig andere öffentliche Ausgaben senken, aber es wäre in jedem Fall
eine große Belastung.
Das Grundeinkommen beruht auf der Erkenntnis, dass es insgesamt nicht
genug Arbeitsstunden für alle Arbeitskräfte gibt, weshalb wir »Liquidität« in
den Zuteilungsmechanismus pumpen müssen. Die Rechtsanwältin und der
Angestellte der Kindertagesstätte müssen die Möglichkeit haben,
Arbeitsstunden zum vollen Gehalt gegen vom Staat bezahlte Freizeit zu
tauschen.
Nehmen wir an, wir führen in Großbritannien ein jährliches
Grundeinkommen von 6000 Pfund ein und heben den Mindestlohn auf 18
000 Pfund an. Offensichtlich ist es vorteilhaft, trotz des Grundeinkommens
arbeiten zu gehen, aber es hat auch seine Vorteile, nicht zu arbeiten: Man kann
sich um seine Kinder kümmern, Gedichte schreiben, ein Studium aufnehmen,
eine chronische Krankheit unter Kontrolle bringen oder Menschen ausbilden,
die im selben Bereich wie man selber tätig sind.
In diesem System wird man nicht stigmatisiert, weil man nicht arbeitet. Auf
dem Arbeitsmarkt würde das Angebot von gut bezahlten Tätigkeiten und gut
zahlenden Arbeitgebern wachsen.
Das universelle Grundeinkommen ist also ein Mittel gegen jene Art von
Arbeitsplätzen, die der Anthropologe David Graeber als »Bullshit-Jobs«
bezeichnet: gegen jene geringbezahlten Dienstleistungstätigkeiten, die der
Kapitalismus in den vergangenen 25 Jahren geschaffen hat. Sie nehmen den
Arbeitskräften ihre Würde, und wahrscheinlich brauchen wir diese Jobs
überhaupt nicht.10 Das Grundeinkommen ist allerdings vorläufig nur eine
Übergangslösung für das erste Stadium des postkapitalistischen Projekts.
Das eigentliche Ziel besteht darin, die Arbeitsstunden, die notwendig sind,
um die von der Menschheit benötigten Dinge zu erzeugen, auf ein Mindestmaß
zu verringern. Ist das einmal geschafft, so werden im Marktsektor nicht mehr
genug Erträge erwirtschaftet, die besteuert werden können, um das
Grundeinkommen zu finanzieren. Die Einkommen werden zusehends sozial
sein – in Form von kollektiv bereitgestellten Diensten – oder verschwinden.
Das Grundeinkommen wäre also die erste Sozialleistung der Geschichte,
deren Erfolg man daran erkennen könnte, dass die Ausgaben dafür gegen null
sinken.
Das entfesselte Netzwerk

Im sozialistischen Projekt war eine lange erste Phase vorgesehen, in welcher


der Staat den Markt gewaltsam unterdrücken musste; so wollte man die Zahl
der zur Versorgung der Menschheit notwendigen Arbeitsstunden schrittweise
senken. Anschließend sollte es dank des technologischen Fortschritts möglich
werden, einige Dinge zu sehr geringen Kosten oder gratis zu erzeugen, so dass
die zweite Phase eingeleitet werden konnte: der »Kommunismus«.
Ich bin sicher, dass sich die Arbeiter in der Generation meiner Großmutter
eher für die erste als für die zweite Phase interessierten, und das mit gutem
Grund. In einer in erster Linie auf physischen Gütern beruhenden
Volkswirtschaft konnte der Staat den Wohnraum verbilligen, in dem er
Sozialwohnungen baute und zu erschwinglichen Mieten bereitstellte. Der Preis
dafür war Uniformität: Die Bewohner durften ihr Haus nicht selbst
instandhalten oder verbessern, ja, sie durften nicht einmal die Eingangstür in
einer anderen Farbe anstreichen. Aber meine Großmutter, die in einem
stinkenden Elendsviertel aufgewachsen war, litt nicht allzu sehr darunter, dass
sie ihre Haustür nicht anmalen durfte.
Im postkapitalistischen Projekt besteht unsere vorrangige Aufgabe darin,
Dinge bereitzustellen, die ebenso greifbar sind und das Leben ebenso
verbessern, wie das vom Staat gebaute Häuschen mit seinem kleinen Garten
und seinen soliden Mauern das Leben meiner Großmutter verbesserte. Wir
können viel erreichen, indem wir die Beziehung zwischen Macht und
Information ändern.
Der Informationskapitalismus beruht auf einer Asymmetrie: Die globalen
Konzerne verdanken ihre Marktmacht der Tatsache, dass sie mehr wissen als
ihre Kunden, Lieferanten und kleineren Konkurrenten. Der Postkapitalismus
sollte auf dem einfachen Grundsatz beruhen, dass Informationsasymmetrien
schlecht sind – es sei denn, es geht um Privatsphäre, Anonymität und
Sicherheit.
Darüber hinaus sollten wir Information und Automation in Tätigkeiten
integrieren, in denen sie gegenwärtig unterdrückt werden, was daran liegt,
dass billige Arbeitskräfte Innovationen überflüssig machen.
In einem modernen Automobilwerk gibt es trotz der Fertigungsstraße immer
noch Arbeiter mit Schraubenschlüsseln und Bohrmaschinen. Die
Fertigungsstraße steuert die Tätigkeit der Arbeiter allerdings intelligent: Auf
einem Computerbildschirm sehen sie, welchen Schraubenschlüssel sie
einsetzen sollen, ein Sensor warnt sie, wenn sie nach dem falschen Werkzeug
greifen, und ihr Handgriff wird auf einem Server registriert.
Es gibt nur einen Grund dafür, dass die hochmodernen
Automationstechniken nicht auch auf die Handgriffe der Arbeiter in
Lebensmittelfabriken oder Fleischverpackungsanlagen angewandt werden:
Ausbeutung. Solche Geschäftsmodelle existieren nur noch, weil billige, nicht
organisierte Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, deren Tätigkeit teilweise mit
staatlichen Zulagen finanziert wird. In vielen Branchen wird die alte
Arbeitsdisziplin – Arbeitszeiten, Gehorsam, Anwesenheit, Hierarchie – nur
aufrechterhalten, weil der Neoliberalismus die Innovation unterdrückt.
Technologisch ist sie nicht mehr nötig.
In Unternehmen, deren Tätigkeit vor allem auf Wissen beruht, beginnt das
herkömmliche Management archaisch zu wirken. Zu managen bedeutet,
gegebene Ressourcen – Arbeitskraft, Ideen und Dinge – zu organisieren, um
ein geplantes Ergebnis zu erzielen. Aber viele nützliche Ergebnisse der
Netzwerkökonomie entstehen ungeplant. Und die beste Methode, um
unerwartete Ergebnisse zu nutzen, ist die Teamarbeit, die früher als
»Zusammenarbeit« bezeichnet wurde.
Sehen wir uns an, was das bedeutet: Nicht hierarchische, selbstverwaltete
Teams stellen die technologisch fortschrittlichste Form der Arbeitsorganisation
dar. Doch ein Großteil der Arbeitskräfte ist in einer von Bußgeldern, Disziplin,
Gewalt und Machthierarchien geprägten Welt gefangen – einfach weil es so
viele billige Arbeitskräfte gibt, dass diese Welt weiterbestehen kann.
Daher muss in der Transition eine dritte Managementrevolution eingeleitet
werden: Wir müssen Managern, Gewerkschaften und Menschen, die Abläufe in
der Industrie designen, die Augen für Chancen öffnen, die sich bieten, wenn
wir zu vernetzter, modularer, nicht linearer Teamarbeit übergehen.
»Die Arbeit kann nicht Spiel werden«, erklärte Marx.11 Aber die
Atmosphäre in einer Werkstatt, in der Videospiele entwickelt werden, zeigt
deutlich, dass durchaus ein produktives Wechselspiel von Arbeit und Spiel
möglich ist. Auch an einem Arbeitsplatz, an dem die Beschäftigten zwischen
Gitarren, Sofas und mit leeren Pizzaschachteln beladenen Billardtischen ihrer
Tätigkeit nachgehen, gibt es natürlich weiterhin Ausbeutung. Eine modulare,
zielorientierte Arbeit, in der die Beschäftigten ein hohes Maß an Autonomie
genießen, kann jedoch weniger entfremdend, freudvoller und sozialer sein –
und bessere Ergebnisse liefern.
Es liegt einzig und allein an unserer Sucht nach billigen Arbeitskräften und
Ineffizienz sowie an der Behauptung, in einer Fleischpackanlage sei nicht
gemanagte, modulare Arbeit – in der die Arbeit buchstäblich mit dem Spiel
abwechselt und in der es ein Recht auf Zugang zu vernetzter Information gibt –
unmöglich. Dass der Neoliberalismus in eine Sackgasse führt, sieht man nicht
zuletzt daran, dass viele Manager und die meisten Investoren das Ideal einer
produktiven, erfüllenden Arbeit ablehnen. Die Manager vor dem Ersten
Weltkrieg glaubten an dieses Ideal.
Während wir danach streben, das postkapitalistische Ideal zu verwirklichen,
wird vermutlich ein allgemeines Muster erkennbar: Der Übergang wird von
überraschenden Entdeckungen vorangetrieben, die das Ergebnis von
Teamarbeit sind. Gruppen von Menschen werden entdecken, wie sie mit
kollaborativem Denken und vernetzter Arbeit alte Prozesse verändern können.
Unser Ziel sind rasche technologische Sprünge, welche die Produktion von
Gütern verbilligen und diese in den Dienst der gesamten Gesellschaft stellen.
Die Aufgabe der Entscheidungsknoten in einer vernetzten Wirtschaft (von der
Zentralbank bis zur örtlichen Wohngenossenschaft) besteht darin, das
Wechselspiel zwischen Netzwerken, Hierarchien, Organisationen und Märkten
zu verstehen, sie in Modellen in verschiedenen Zuständen darzustellen, eine
Veränderung vorzuschlagen, ihre Auswirkungen zu beobachten und die
Vorhaben entsprechend anzupassen.
Aber es wird kein kontrollierter Prozess sein, sosehr wir uns auch um ein
rationales Vorgehen bemühen. Die bedeutsamste Leistung der Netzwerke (und
ihrer individuellen Mitglieder) besteht darin, dass sie alle übergeordneten
Strukturen aufbrechen. Angesichts von Gruppendenken und der Tendenz zur
Angleichung – sei es im Entwicklungsstadium oder in der Ausführung eines
wirtschaftlichen Vorhabens – eignen sich Netzwerke sehr gut, um nicht nur
abweichende Vorstellungen zu äußern, sondern sie erlauben uns auch, uns
abzuspalten und einen anderen Weg einzuschlagen.
Wir müssen ungeniert unsere Utopien verfolgen. Genau das taten die
erfolgreichsten Unternehmer im Frühkapitalismus und sämtliche Pioniere der
Befreiung der Menschheit.
Wie wird der Endzustand aussehen? Nun, dies ist die falsche Frage. Sieht
man sich das Diagramm zur Entwicklung des Pro-Kopf-BIP in Kapitel 8 an, so
ist die Kurve während der gesamten Menschheitsgeschichte flach, beginnt in
der industriellen Revolution rasch zu steigen und geht nach dem Zweiten
Weltkrieg in einigen Ländern exponentiell nach oben. Der Postkapitalismus ist
einfach ein Ergebnis dessen, was geschieht, wenn die Kurve auf der ganzen
Welt vertikal ansteigt. Er ist ein Anfangsstadium.
Sobald der exponentielle technologische Wandel von den Siliziumchips auf
Lebensmittel, Bekleidung, Transportsysteme und Gesundheitswesen übergreift,
werden die Reproduktionskosten der Arbeitskraft rasant fallen. An diesem
Punkt wird das ökonomische Problem, das die Menschheitsgeschichte
beherrscht hat, an Bedeutung verlieren oder vollkommen verschwinden.
Stattdessen werden wir uns vermutlich mit den Problemen der wirtschaftlichen
Nachhaltigkeit und damit beschäftigen müssen, wie wir mit der Vielzahl
konkurrierender Muster des menschlichen Lebens umgehen sollen.
Anstatt nach einem Endzustand Ausschau zu halten, müssen wir uns also
fragen, wie wir Rückschläge bewältigen oder im Fall der Fälle aus einer
Sackgasse herauskommen können.
Eine spezifische Frage lautet, wie wir Fehlschläge verarbeiten und stabile
Datensätze anlegen können, die es uns erlauben, unsere Schritte
zurückzuverfolgen, zu ändern und die Lehren auf das gesamte
Wirtschaftssystem anzuwenden. Netzwerke haben ein schlechtes Gedächtnis:
Sie sind so gestaltet, dass Aktivität und Erinnerung in getrennten Teilen der
Maschine sitzen. Hierarchien haben ein gutes Gedächtnis. Daher müssen wir
unbedingt herausfinden, wie wir die Lehren aus Fehlern speichern und
verarbeiten können. Vielleicht besteht die Lösung einfach darin, eine
Aufzeichnungs- und Speicherungsfunktion in sämtliche Aktivitäten
einzubauen – vom Café bis zur staatlichen Verwaltung. Der Neoliberalismus
mit seiner Vorliebe für die kreative Zerstörung verzichtete gerne auf das
Gedächtnis, denn niemand wollte Spuren auf Papier hinterlassen, genau das
kennzeichnete ja Tony Blairs hemdsärmeligen Regierungsstil und das war auch
eine der Ideen hinter der Zerschlagung alter Konzernstrukturen.
Am Ende wollen wir einfach einen möglichst großen Teil der menschlichen
Aktivität auf eine Ebene heben, auf der immer weniger Arbeit notwendig ist,
um das reichhaltige und komplexe menschliche Leben auf dem Planeten zu
erhalten, während die Freizeit zunimmt. Und im Verlauf dieses Prozesses wird
die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit weiter verschwimmen.
Ist das wirklich möglich?

Das Ausmaß der Aufgabe ist beängstigend. Ist es wirklich möglich, dass wir es
zusätzlich zu einer der alle fünfzig Jahre wiederkehrenden Krisen mit einer
jener Umwälzungen zu tun haben, die nur alle 500 Jahre stattfinden? Ist es
wirklich möglich, dass sich Gesetze, Märkte und Geschäftsmodelle so
grundlegend ändern, dass wir das Potenzial der Informationstechnologie
wirklich ausschöpfen können? Und ist es wirklich möglich, dass wir
unbedeutenden Individuen Einfluss auf diese Entwicklung nehmen können?
Ja, es ist möglich. Jeden Tag nimmt ein großer Teil der Menschheit an einer
sehr viel größeren Veränderung teil, die durch eine andere Art von
Technologie ermöglicht wurde. Diese Technologie ist die Anti-Baby-Pille. Wir
erleben die einmalige und unumkehrbare Beseitigung der biologischen Macht
des Mannes. Es ist eine traumatische Entwicklung: Man muss sich nur die
Hasstiraden ansehen, mit denen die Internet-Trolle mächtige Frauen auf
Twitter und Facebook verfolgen. Oder man nehme die »#Gamergate«-
Kampagne, die darauf zielte, die geistige Gesundheit von Frauen in der
Computerspielbranche zu zerstören. Aber die Befreiung findet statt.
Es ist absurd: Wir zweifeln nicht daran, dass sich ein 40 000 Jahre altes
System der geschlechtsabhängigen Unterdrückung auflöst, aber die
Abschaffung eines 200 Jahre alten Wirtschaftssystems halten wir für eine
realitätsferne Utopie.
Uns bietet sich eine große Chance: Es ist tatsächlich möglich, den freien
Markt, die von fossilen Brennstoffen abhängige Energieversorgung und die
verpflichtende Arbeit kontrolliert zu beseitigen.
Was geschieht mit dem Staat? Er verliert im Lauf der Zeit vermutlich an
Einfluss – und schließlich übernimmt die Gesellschaft seine Funktionen. Ich
habe versucht, ein Projekt zu skizzieren, das sowohl für jene, die den Staat als
nützlich betrachten, als auch für jene, die seinen Nutzen bestreiten, akzeptabel
ist. Ausgehend von diesem Modell kann man eine anarchistische oder eine
etatistische Version gestalten und ausprobieren. Es gibt vermutlich sogar eine
konservative Version des Postkapitalismus, und ich wünsche denen, die es
damit versuchen möchten, viel Glück.
Befreien wir das Eine Prozent

Was geschieht mit dem Einen Prozent? Es wird ärmer und daher glücklicher.
Denn es ist kein Honigschlecken, reich zu sein.
In Australien sieht man die Frauen, die dem Einen Prozent angehören, jeden
Morgen vom Bondi Beach zum Tamarama Beach joggen. Sie hüllen sich in
billiges Elastan, das – wie sollte es anders sein – durch einen goldenen
Schriftzug teuer wird. Ihre Ideologie sagt ihnen, dass sie ihren Erfolg ihrer
Einzigartigkeit verdanken, aber sie sehen alle gleich aus und verhalten sich
gleich.
Die Erde dreht sich weiter, und am frühen Morgen füllen sich die
Fitnesscenter in den Wolkenkratzern von Shanghai und Singapur mit
Managern, die sich auf den Laufbändern auf den täglichen Wettbewerb mit
Managern vorbereiten, die genau wie sie sind. Und dann beginnen die von
Leibwächtern beschützten Reichen Zentralasiens, an einem weiteren Tag die
Welt abzuzocken.
Und hoch über ihnen schwebt die globale Elite in der ersten Klasse der
Langstreckenflugzeuge, den Blick wie immer kritisch auf den Laptop gerichtet.
Sie sind das lebendige Bild der Welt, wie sie sein sollte: gebildet, tolerant,
wohlhabend. Aber sie nehmen nicht an dem großen Experiment in sozialer
Kommunikation teil, das die Menschheit gerade durchführt.
Nur acht Prozent der amerikanischen Vorstandsvorsitzenden haben wirklich
einen eigenen Twitter-Account. Natürlich kann ein Untergebener einen
Account für sie führen, aber da sie die Regeln für Online-Sicherheit und die
Preisgabe finanzieller Informationen respektieren müssen, können die
Mächtigen nie wirklich in den Social Media aktiv sein. Sie können so viele
Ideen haben, wie sie wollen – solange diese Ideen der neoliberalen Doktrin
entsprechen: Die Besten setzen sich aufgrund ihrer Fähigkeiten durch, der
Markt ist Ausdruck der Rationalität, die Arbeitskräfte in den entwickelten
Ländern sind zu faul, und es führt zu nichts, die Reichen zu besteuern.
In der Überzeugung, dass nur die Klugen Erfolg haben werden, schicken sie
ihre Kinder auf teure Privatschulen, um ihrer Individualität gerecht zu werden.
Doch ihre Sprösslinge kommen alle gleich aus diesen Schulen heraus, als kleine
Milton Friedmans und Christine Lagardes. Sie besuchen Eliteuniversitäten, aber
die wohlklingenden Namen auf ihren Pullis – Harvard, Cambridge, MIT –
bedeuten nichts. Es könnte genauso Standard Neoliberal University darauf
stehen. Der Kapuzenpulli der Eliteuniversität ist nichts weiter als eine
Eintrittskarte zu dieser eintönigen Welt.
Hinter der Fassade des Erfolgs werden sie von Zweifeln geplagt. Sie glauben,
der Kapitalismus sei gut, weil er dynamisch ist – aber seine Dynamik ist
eigentlich nur dort zu sehen, wo es im Überfluss billige Arbeitskräfte gibt, die
Demokratie unterdrückt wird und die Ungleichheit zunimmt. In einer Welt zu
leben, die so tief gespalten und durch und durch vom Mythos der
Einzigartigkeit beherrscht, in Wahrheit jedoch vollkommen uniform ist, und
ständig fürchten zu müssen, alles zu verlieren, ist schwer. Und das meine ich
vollkommen ernst.
Zu allem Überfluss wissen sie jetzt, wie nah das System am Zusammenbruch
gewesen ist, wie viel von dem, was sie noch besitzen, in Wahrheit vom Staat
bezahlt wurde, der sie rettete.
Heute besteht die Ideologie der westlichen Bourgeoisie darin, sozialliberal zu
sein, sich zu Kunst, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu bekennen, für
wohltätige Zwecke zu spenden und die eigene Macht unter einer einstudierten
persönlichen Zurückhaltung zu verbergen.
Die Gefahr ist, dass sich das Bekenntnis der Elite zum Liberalismus im
weiteren Verlauf der Krise verflüchtigen wird. Die erfolgreichen Gauner und
Diktatoren in den aufstrebenden Ländern haben sich bereits Einfluss und
Ansehen gekauft: Man spürt ihre Macht, wenn man die Büros bestimmter
Anwaltskanzleien, PR-Agenturen und sogar Konzerne betritt.
Wie lange wird es dauern, bis die westliche Elite die Kultur der Putins und
Xi Jinpings übernimmt? »China beweist, dass der Kapitalismus ohne
Demokratie besser funktioniert« – in der einen oder anderen Universität wird
darüber schon diskutiert. Das Eine Prozent droht den Glauben an das System
zu verlieren, das schon bald einer unverhohlenen Oligarchie weichen könnte.
Aber es gibt auch eine gute Nachricht.
Die 99 Prozent eilen ihm zur Hilfe.
Der Postkapitalismus wird euch befreien.
Anmerkungen
Einleitung
1 Vgl. zur wirtschaftlichen Situation Moldawiens die Daten, die auf einer Überblicksseite der Weltbank
online verfügbar sind: {http://www.worldbank.org/en/country/moldova/overview} (Stand Dezember
2015).
2 Henrik Braconier/Giuseppe Nicoletti/Ben Westmore, »Policy challenges for the next 50 years«, OECD
Economic Policy Paper 9 (Juli 2014), online verfügbar unter: {http://www.oecd.org/economy/Policy-
challenges-for-the-next-fifty-years.pdf} (Stand Dezember 2015).
3 Vincenzo Scarpetta, »Deutschland sagt Nein« (19. Februar 2015), online verfügbar unter: {http://
openeurope.org.uk/blog/greece-folds-this-hand-but-long-term-game-of-poker-with-eurozone-
continues/} (Stand Dezember 2015).
4 Laurence Cox/Alf Gundwald Nilsen, We Make Our Own History: Marxism and Social Movements in the
Twilight of Neoliberalism, London: Pluto 2014.
5 John Thelwall, The Rights of Nature against the Usurpations of Establishments [1796], online verfügbar
unter: {http://oll.libertyfund.org/titles/2593#Thelwall_RightsNature1621_16} (Stand Dezember 2015).
6 Manuel Castells, »On the rise of alternative economic cultures«, Interview von Paul Mason
(31. Oktober 2012), online verfügbar unter: {http://www.bbc.com/news/business-20027044} (Stand
Dezember 2015).
7 Malcolm Barr/David Mackie, »The Euro-area adjustment: About halfway there« (28. Mai 2013), J.
P. Morgan, Europe European Research.
1 Der Neoliberalismus ist kaputt
1 Charles P. Kindleberger, Comparative Political Economy: A Retrospective, Cambridge, MA: MIT Press
1999, S. 319.
2 Vgl. Paul Mason, »Bank balance sheets become focus of scrutiny« (28. Juli 2008), online verfügbar
unter: {http://www.bbc.co.uk/blogs/newsnight/paulmason/2008/07/
bank_balance_sheets_become_foc.html} (Stand Dezember 2015).
Bill Gross, »Beware our shadow banking system« (28. November 2007), online verfügbar unter:
3 {http://archive.fortune.com/2007/11/27/news/newsmakers/gross_banking.fortune/index.htm?
postversion=2007112810} (Stand Dezember 2015).
Vgl. Paul Mason, Meltdown: The End of the Age of Greed, London: Verso 2009.
4
Damian Reece, »Davos 2012: Prudential chief Tidjane Thiam says minimum wage is a ›machine to
5 destroy jobs‹« (26. Januar 2012), online verfügbar unter: {http://www.telegraph.co.uk/finance/
financetopics/davos/9041442/Davos-2012-Prudential-chief-Tidjane-Thiam-says-minimum-wage-is-a-
machine-to-destroy-jobs.html} (Stand Dezember 2015).
Cardiff Garcia, »A lesson from Japan's falling real wages« (7. Februar 2014), online verfügbar unter:
6 {http://ftalphaville.ft.com/2014/02/07/1763792/a-lesson-from-japans-falling-real-wages/}; Ronald
Janssen, »Real wages in the Eurozone: Not a double but a continuing dip« (27. Mai 2013), online
verfügbar unter: {http://www.socialeurope.eu/2013/05/real-wages-in-the-eurozone-not-a-double-but-
a-continuing-dip/}; David Blanchflower/Stephen Machin: »Falling real wages« (Frühjahr 2014),
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11 Dan Jones, »›Done … for you big boy‹: The Barclays LIBOR messages« (27. Juni 2012), online
verfügbar unter: {http://www.investmentweek.co.uk/investment-week/news/2187554/-done-for-boy-
barclays-libor-messages} (Stand Dezember 2015).
12 John Maynard Keynes, Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, Berlin:
Duncker & Humblot 2006 [1936], S. 248.
13 »Total global debt crosses $ 100 trillion: QE programs will not stop the collapse« (29. Oktober 2014),
online verfügbar unter: {http://www.ftense.com/2014/10/total-global-debt-crosses-100-trillion.html}
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14 »Internet growth statistics«, online verfügbar unter: {http://www.internetworldstats.com/
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15 Zachary Shahan, »World solar power capacity increased 35 % in 2013 (charts)« (13. April 2014),
online verfügbar unter: {http://cleantechnica.com/2014/04/13/world-solar-power-capacity-
increased-35-2013-charts/} (Stand Dezember 2015).
16 Laurence H. Summers, »Reflections on the ›New Secular Stagnation Hypothesis‹«, in: Secular
Stagnation: Facts, Causes, and Cures, herausgegeben von Coen Teulings und Richard Baldwin,
London: CEPR Press 2014, S. 27-38; online verfügbar unter: {http://www.voxeu.org/sites/default/files/
Vox_secular_stagnation.pdf} (Stand Dezember 2015).
17 Robert J. Gordon, »The Turtle's Progress: Secular stagnation meets the headwinds«, in:
Teulings/Baldwin (Hg.), Secular Stagnation, S. 47-59.
18 Alan Greenspan, »Gold and economic freedom« [1966], online verfügbar unter: {http://
www.constitution.org/mon/greenspan_gold.htm} (Stand Dezember 2015).
19 Terence P. Jeffrey, »Foreign ownership of U. S. government debt passes $ 6 trillion« (2. September
2014), online verfügbar unter: {http://www.cnsnews.com/news/article/terence-p-jeffrey/foreign-
ownership-us-government-debt-passes-6-trillion} (Stand Dezember 2015).
20 Richard Duncan, The New Depression: The Breakdown of the Paper Money Economy, Wiley: Singapur
2012.
21 N. N., »The Fed's 2007 crisis response: Twinkies, pessimism pills, and missed warnings« (18. Januar
2013), online verfügbar unter: {http://www.washingtonpost.com/blogs/wonkblog/wp/2013/01/18/
breaking-inside-the-feds-2007-crisis-response/?wprss=rss_ezra-klein} (Stand Dezember 2015).
22 »Don't you miss the Greenspan put?« (11. August 2011), online verfügbar unter: {http://
www.economist.com/blogs/freeexchange/2011/08/markets-and-fed} (Stand Dezember 2015).
23 Robert J. Shiller, Irrational Exuberance, Princeton: Princeton University Press 2015, S. 7.
24 Ben S. Bernanke, »Deflation: Making sure ›it‹ doesn't happen here« (21. November 2002), online
verfügbar unter: {http://www.federalreserve.gov/boardDocs/speeches/2002/20021121/default.htm}
(Stand Dezember 2015).
25 Richard Dobbs/Susan Lund, »Quantitative easing, not as we know it« (24. November 2013), online
verfügbar unter: {http://www.economist.com/blogs/freeexchange/2013/11/unconventional-monetary-
policy} (Stand Dezember 2015)
26 Detlev S. Schlichter, Das Ende des Scheins: Warum auch unser Papiergeldsystem zusammenbricht,
Weinheim: Wiley 2013, S. 24.
27 David Graeber, Schulden: Die ersten 5000 Jahre, Stuttgart: Klett-Cotta 2012.
28 Greta R. Krippner, »The financialization of the American economy«, in: Socio-Economic Review 3/2
(Mai 2005), S. 173-208, S. 173.
29 Costas Lapavitsas, »Financialised capitalism: Crisis and financial expropriation«, in: Historical
Materialism 17/2 (2009), S. 114-148.
30 Anton Brender/Florence Pisani, Global Imbalances and the Collapse of Globalised Finance, Brüssel:
Center for European Policy Studies 2010, online verfügbar unter: {https://www.ceps.eu/system/files/
book/2010/02/Global%20Imbalances%20final%20consolidated.pdf} (Stand Dezember 2015)
31 Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15. - 18. Jahrhunderts, Bd. 3: Aufbruch zur Weltwirtschaft,
München: Kindler 1986, S. 268.
32 Internationaler Währungsfonds, World Economic Outlook. Transitions and Tensions, Washington, DC:
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33 Brender/Pisani, Global Imbalances, S. 2.
34 Barry Eichengreen, »A requiem for global imbalances« (13. Januar 2014), online verfügbar unter:
{http://www.project-syndicate.org/commentary/barry-eichengreen-notes-that-a-decade-after-
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37 Luciano Floridi, The Philosophy of Information, Oxford: Oxford University Press 2011, S. 4.
38 Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität, Bd. 2: Die Geburt der Biopolitik: Vorlesung am
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40 OECD, »Measuring the internet economy: A contribution to the research agenda« (2013), OECD
Digital Economy Workings Papers 226, online verfügbar unter: {http://dx.doi.org/
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41 Henrik Braconier/Giuseppe Nicoletti/Ben Westmore, »Policy challenges for the next 50 years«
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Policy-challenges-for-the-next-fifty-years.pdf} (Stand Dezember 2015).
2 Lange Wellen, kurzes Gedächtnis
Nikolai Kondratieff, »Brief vom 17. November 1937«, in: Natalia Makasheva/Warren
1 J. Samuels/Vincent Barnett (Hg.), The Works of Nikolai D. Kondratiev, Bd. IV, London: Routledge
1998, S. 313.
Makasheva/Samuels/Barnett (Hg.), The Works of Nikolai D. Kondratiev, Bd. I, S. 108.
2
Edwin Mansfield, »Long waves and technological innovation«, in: The American Economic Review
3 73/2 (1983), S. 141; online verfügbar unter: {http://www.jstor.org/stable/1816829?seq=2} (Stand
Dezember 2015).
Gerard Lyons, The Supercycle Report, 2010, online verfügbar unter: {https://www.sc.com/id/
4 _documents/press-releases/en/The%20Super-cycle%20Report-12112010-final.pdf} (Stand Dezember
2015).
Carlota Perez, »Financial bubbles, crises and the role of government in unleashing Golden Ages«,
5 FINNOV Discussion Paper (Januar 2012), online verfügbar unter: {http://policydialogue.org/files/
events/FINNOV_DP212_Perez.pdf} (Stand Dezember 2015).
Nikolai Kondratieff, The Long Wave Cycle, New York: E. P. Dutton 1984, S. 104f.; eine gekürzte
6 deutsche Fassung der sogenannten »Spezialstudie« erschien 1926 unter dem Titel »Die langen
Wellen der Konjunktur« in der Zeitschrift Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik (Nr. 56,
S. 573-609); diese Version der Arbeit enthält jedoch die zitierten Stellen nicht, weshalb hier nach der
englischen Übersetzung der gesamten Studie zitiert wird (Anmerkung des Übersetzers).
Ibid., S. 99.
7
Ibid., S. 68.
8
Ibid.
9
10 Ibid., S. 93.
11 Leo Trotzki, »Die Kurve der kapitalistischen Entwicklung«, in: Die langen Wellen der Konjunktur.
Beiträge zur Marxistischen Konjunktur- und Krisentheorie, Berlin: Edition Prinkipo 1972, S. 128.
12 Ibid.
13 Makasheva/Samuels/Barnett (Hg.), The Works of Nikolai D. Kondratiev, Bd. I, S. 116.
14 Ibid., S. 113.
15 Judy L. Klein, »The rise of ›non-October‹ econometrics: Kondratiev and Slutsky at the Moscow
conjuncture institute«, in: History of Political Economy 31/1 (1999), S. 137-68.
16 Jewgeni Sluzki, »The summation of random causes as the source of cyclical processes«, in:
Econometrica 5 (1937), S. 105-146, zitiert in: Vincent Barnett, »Chancing an interpretation: Slutsky's
random cycles revisited«, in: European Journal of the History of Economic Thought 13/3 (September
2006), S. 416.
17 Klein, »Rise of ›non-October‹ econometrics«, S. 157.
18 Sluzki, »The summation of random causes as the source of cyclical processes«, S. 156.
19 Für eine Zusammenfassung statistischer Kritiken an Kondratjew vgl. Rainer Metz, »Do Kondratieff
waves exist? How time series techniques can help to solve the problem«, in: Cliometrica 5 (2011),
S. 205-238.
20 Andrey V. Korotayev/Sergey V. Tsirel, »A spectral analysis of world GDP dynamics: Kondratieff
waves, Kuznets swings; Juglar and Kitchin cycles in global economic development and the 2008-09
economic crisis«, in: Structure and Dynamics 4/1 (2010), S. 3-57.
21 Cesare Marchetti, »Fifty year pulsation in human affairs: an analysis of some physical indicators«,
in: Futures 17/3 (1987), S. 376.
22 Joseph A. Schumpeter, Konjunkturzyklen. Eine theoretische, historische und statistische Analyse des
kapitalistischen Prozesses, Bd. I, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1961, S. 93.
23 Ibid., S. 263ff.
24 Carlota Perez, Technological Revolutions and Finance Capital: The Dynamics of Bubbles and Golden
Ages, Cheltenham: Edward Elgar Publishing 2002, S. 5.
3 Hatte Marx am Ende doch recht?
Karl Marx, Das Kapital, Bd. 3, Kap. 15, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 25, Berlin: Dietz 2008 [1894].
1
Marx, Das Kapital, Bd. 3, S. 457.
2
Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, »Vorwort«, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 13, Berlin:
3 Dietz 2008 [1859], S. 8.
Karl Kautsky, Das Erfurter Programm in seinem grundsätzlichen Teil erläutert [1892], Kap. III, »Die
4 Kapitalistenklasse«, online verfügbar unter: {https://www.marxists.org/deutsch/archiv/kautsky/1892/
erfurter/3-kapitalisten.htm} (Stand Dezember 2015).
Henry und Josephine M. Tudor, Marxism and Social Democracy: The Revisionist Debate, 1896-1898,
5 Cambridge: Cambridge University Press 1988.
Gabriel Kolko, The Triumph of Conservatism: A Reinterpretation of American History 1900-1916, New
6 York: Free Press 1963, S. 13.
Tim Wu, »The great American information emperors« (7. November 2010), online verfügbar unter
7 {http://www.slate.com/articles/technology/technology/features/2010/
the_great_american_information_emperors/how_theodore_vail_built_the_att_monopoly.html}
(Stand Dezember 2015).
Jeffrey Fear, »Cartels and competition: Neither markets nor hierarchies« (2006), online verfügbar
8 unter: {http://www.hbs.edu/faculty/Publication%20Files/07-011.pdf} (Stand Dezember 2015).
Lon L. Peters, »Managing competition in German coal, 1893-1913«, in: The Journal of Economic
9 History 49/2 (1989), S. 419-433.
10 Hidemasa Morikawa, Zaibatsu: Rise and Fall of Family Enterprise Groups in Japan, Tokio: University
of Tokyo Press 1992.
11 Kolko, The Triumph of Conservatism, S. 6.
12 Kevin O'Rourke, »Tariffs and growth in the late 19th century«, in: The Economic Journal 110 (2000),
S. 456-483.
13 »Maddison historical GDP data«, online verfügbar unter: {http://www.worldeconomics.com/Data/
MadisonHistoricalGDP/Madison%20Historical%20GDP%20Data.efp} (Stand Dezember 2015).
14 Rudolf Hilferding, Das Finanzkapital. Eine Studie über die jüngste Entwicklung des Kapitalismus
[1910], online verfügbar unter: {https://archive.org/stream/
DasFinanzkapital.EineStudieZurJngstenEntwicklungDesKapitalismus/Hilferding19101955-
DasFinanzkapital_djvu.txt} (Stand Dezember 2015).
15 Panayotis Michaelides/John Milios, »Did Hilferding influence Schumpeter?«, in: History of Economics
Review 41 (Winter 2005), S. 98-125.
16 Hilferding, Das Finanzkapital, Kap. 25.
17 Wladimir I. Lenin, »Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus«, in: ders., Werke, Bd. 23,
Berlin: Dietz 1957 [1916], S. 102-118, online verfügbar unter: {http://marxists.catbull.com/deutsch/
archiv/lenin/1916/10/spaltung.html} (Stand Dezember 2015).
18 Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals: Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des
Imperialismus, in: dies., Gesammelte Werke, Bd. 5, Berlin: Dietz 1975 [1913], S. 411.
19 Tim Bentinck, »Berlin cinemas« (12. Juni 1975), online verfügbar unter: {http://www.bentinck.net/
writing/berlin.html} (Stand Dezember 2015).
20 Wladimir I. Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, in: ders., Werke, Bd. 22,
Berlin: Dietz 1960 [1917], online verfügbar unter: {http://marxists.catbull.com/deutsch/archiv/lenin/
1917/imp/kapite10.htm} (Stand Dezember 2015).
21 Nikolai Bucharin, Imperialismus und Weltwirtschaft, Wien/Berlin: Verlag für Literatur und Politik
1929, online verfügbar unter: {http://marxists.catbull.com/deutsch/archiv/bucharin/1917/imperial/15-
schluss.htm} (Stand Dezember 2015).
22 Karl Kautsky, »Der Imperialismus«, in: Die Neue Zeit 32 (September 1914), Bd. 2, S. 908-922.
23 Max Ried, »A decade of collective economy in Austria«, in: Annals of Public and Cooperative
Economics, Bd. 5 (1929), S. 70.
24 Eugen Varga, Die wirtschaftlichen Probleme der proletarischen Diktatur, Wien: Genossenschaftsverlag
der »Neuen Erde« 1920, S. 83.
25 John Maynard Keynes, Krieg und Frieden: Die wirtschaftlichen Folgen des Vertrages von Versailles,
Berlin: Berenberg 2014 [1919], S. 40.
26 Eugen Varga, Die Krise des Kapitalismus und ihre politischen Folgen, Frankfurt am Main: Europäische
Verlagsanstalt 1974, S. 5f.
27 Leo Trotzki, Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der 4. Internationale [1938], online
verfügbar unter: {http://marxists.catbull.com/deutsch/archiv/trotzki/1938/uebergang/ueberg1.htm}
(Stand Dezember 2015).
28 Nikolai Bucharin, »New forms of the world crisis«, in: The Labour Monthly (September 1928), S. 533-
543, online verfügbar unter: {http://www.marxists.org/archive/bukharin/works/1928/09/x01.htm}
(Stand Dezember 2015).
29 Michel Husson, »The debate on the rate of profit« (13. Juli 2010), online verfügbar unter: {http://
www.internationalviewpoint.org/spip.php?article1894} (Stand Dezember 2015).
30 Lawrence H. Summers, »U. S. economic prospects: Secular stagnation, hysteresis, and the zero lower
bound« (24. Februar 2014), online verfügbar unter: {http://larrysummers.com/wp-content/uploads/
2014/06/NABE-speech-Lawrence-H.-Summers1.pdf} (Stand Dezember 2015).
31 Carlota Perez, Technological Revolutions and Finance Capital: The Dynamics of Bubbles and Golden
Ages, Cheltenham: Edward Elgar Publishing 2002.
32 Berechnet anhand von Daten von Angus Maddison für das Jahr 1950. Die Daten sind online
verfügbar unter: {http://www.worldeconomics.com/Data/MadisonHistoricalGDP/Madison
%20Historical%20GDP%20Data.efp} (Stand Dezember 2015).
4 Ein unterbrochener langer Zyklus
Alistair Horne, Macmillan: The Official Biography, Bd. II, London: Macmillan 1989.
1
Nicholas Crafts/Gianni Toniolo, »Postwar growth: An overview«, in: dies., Economic Growth in
2 Europe Since 1945, Cambridge: Cambridge University Press 1996, S. 4.
»Maddison historical GDP data«, online verfügbar unter: {http://www.worldeconomics.com/Data/
3 MadisonHistoricalGDP/Madison%20Historical%20GDP%20Data.efp} (Stand Dezember 2015).
Crafts/Toniolo, Economic Growth in Europe, S. 2.
4
Sidney Pollard, The International Economy Since 1945, London: Routledge 1997, S. 232.
5
Russell Sage Foundation, »Chartbook of social inequality«, online verfügbar unter: {http://
6 www.russellsage.org/sites/all/files/chartbook/Income%20and%20Earnings.pdf} (Stand Dezember
2015).
Siehe »Figure 1« zu Chiaki Moriguchi/Emmanuel Saez, »The evolution of income concentration in
7 Japan, 1885-2002: Evidence from income tax statistics«, online verfügbar unter: {http://
www.esri.go.jp/jp/workshop/050914/050914moriguchi_saez-2.pdf} (Stand Dezember 2015).
Giovanni Federico, Feeding the World: An Economic History of Agriculture 1800-2000, Princeton:
8 Princeton University Press 2005, S. 59; Carolyn Dmitri/Anne Effland/Neilson Conklin, »The 20th
century transformation of US agriculture and farm policy«, USDA Economic Information Bulletin 3,
2005, online verfügbar unter: {http://www.ers.usda.gov/media/259572/eib3_1_.pdf} (Stand Dezember
2015).
Charles T. Evans, »Debate in the Soviet Union? Evgenii Varga and his analysis of postwar capitalism,
9 1946-1950«, in: Essays in History 32 (1989), S. 1-17.
10 Eugen Varga, Izmenenija v ekonomike kapitalizm v itoge vtoroj mirovoj vojni, Moskau: 1946.
11 Ted Grant, The Unbroken Thread. The Development of Trotskyism Over 40 Years, 1989, online
verfügbar unter: {http://www.marxist.com/TUT/} (Stand Dezember 2015). Das Zitat stammt aus
einem Resolutionsentwurf des Internationalen Sekretariats der Vierten Internationale im Vorfeld
einer Konferenz im Jahre 1946 und findet sich in der Einleitung zum 5. Kapitel von Grants The
Unbroken Thread.
12 Anthony Crosland, The Future of Socialism, London: Jonathan Cape 1956.
13 Paul A. Baran/Paul Sweezy, Monopolkapital. Ein Essay über die amerikanische Wirtschafts- und
Gesellschaftsordnung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973.
14 Das Zitat findet sich in dem kurzen Text »Atlantic City to Bretton Woods«, der auf einer Website
zum 60-jährigen Jubiläum der Bretton-Woods-Institutionen verfügbar ist: {http://
external.worldbankimflib.org/Bwf/60panel2.htm} (Stand Dezember 2015).
15 Henry Hazlitt, »For world inflation?« [24. Juni 1944], in: ders., From Bretton Woods to Inflation: A
Study of Causes and Consequences, Chicago: Regnery Gateway 1984, S. 39.
16 Joshua N. Feinman, »Reserve requirements: history, current practice, and potential reform«, Federal
Reserve Bulletin (Juni 1993), S. 587, online verfügbar unter: {http://www.federalreserve.gov/
monetarypolicy/0693lead.pdf} (Stand Dezember 2015).
17 Carmen M. Reinhart/M. Belen Sbrancia, »The liquidation of government debt«, NBER Working
Paper 16893 (März 2011), S. 21, online verfügbar unter: {http://www.nber.org/papers/w16893.pdf}
(Stand Dezember 2015).
18 Ibid., S. 38.
19 Irvin Stewart, Organising Scientific Research for War. The Administrative History of the Office of
Scientific Research and Development, Boston: Little, Brown and Company 1948, S. 19.
20 Ibid., S. 59.
21 James Gleick, Die Information: Geschichte, Theorie, Flut, München: Redline 2011, S. 206, 225.
22 Andrew Glyn et al., »The rise and fall of the Golden Age«, WIDER Working Paper 43 (April 1988),
S. 2.
23 Victor Zarnowitz/Geoffrey H. Moore, »The recession and recovery«, in: Explorations of Economic
Research 4 (1977), S. 485-486, online verfügbar unter: {http://www.nber.org/chapters/c9101.pdf}
(Stand Dezember 2015).
24 Glyn et al., »The rise and fall of the Golden Age«, S. 112.
25 Ibid., S. 23.
26 Vgl. z. B. Peter M. Garber, »The collapse of the Bretton Woods fixed exchange rate system«, in:
Michael Bordo/Barry Eichengreen (Hg.), A Retrospective on the Bretton Woods System. Lessons for
International Monetary Reform, Chicago: Chicago University Press 1993, S. 461-494.
27 Muto Ichiyo, »Class struggle and technological innovation in Japan since 1945«, in: Notebooks for
Study and Research 5 (1987), S. 10.
28 N. N., »The sick man of the euro«, in: The Economist (3. Juni 1999), online verfügbar unter: {http://
www.economist.com/node/209559} (Stand Dezember 2015).
29 Rick Noack, »Germany's economy is the envy of Europe. So why are record numbers of people living
in poverty?«, in: Washington Post (20. Februar 2015), online verfügbar unter: {http://
www.washingtonpost.com/blogs/worldviews/wp/2015/02/20/germanys-economy-is-the-envy-of-
europe-so-why-are-record-numbers-of-people-living-in-poverty/} (Stand Dezember 2015).
30 Gerald Mayer, »Union membership trends in the United States«, Congressional Research Service,
2004, online verfügbar unter: {http://digitalcommons.ilr.cornell.edu/cgi/viewcontent.cgi?
article=1176&context=key_workplace} (Stand Dezember 2015)
31 Jelle Vissier, »Union membership statistics in 24 countries«, in: Monthly Labor Review (Januar 2006),
S. 38, online verfügbar unter: {http://www.bls.gov/opub/mlr/2006/01/art3full.pdf} (Stand Dezember
2015).
32 Engelbert Stockhammer, »Why have wage shares fallen? A panel analysis of the determinants of
functional income distribution«, ILO Research Paper (2013), online verfügbar unter: {http://
www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/---ed_protect/---protrav/---travail/documents/publication/
wcms_202352.pdf} (Stand Dezember 2015).
33 Andrey V. Korotaev/Sergey V. Tsirel, »A spectral analysis of world GDP dynamics: Kondratieff
Waves, Kuznets swings, Juglar and Kitchin cycles in global economic development and the 2008-09
economic crisis«, in: Structure and Dynamics, 4 (1) (2010).
34 N. N., »United States average monthly prime lending rate«, online verfügbar unter: {http://
www.tradingeconomics.com/united-states/bank-lending-rate} (Stand Dezember 2015).
35 John F. Papp et al., Cr, Cu, Mn, Mo, Ni, and Steel Commodity Price Influences, Version 1.1, US
Geological Survey Open-File Report 2007-1257, Columbus: BiblioGov 2013, S. 112.
36 S. Ali Abbas/Nazim Belhocine/Asmaa El-Ganainy/Mark Horton, »A history of world debt«, in:
Finance & Development 48/1 (2011), online verfügbar unter: {http://www.imf.org/external/pubs/ft/
fandd/2011/03/picture.htm} (Stand Dezember 2015).
37 Mike Hewitt, »Growth of global money supply« (12. Januar 2009), online verfügbar unter: {http://
www.safehaven.com/article/12305/growth-of-global-money-supply} (Stand Dezember 2015).
38 Siehe dazu die Grafiken auf: {www.the-crises.com} (Stand Dezember 2015).
39 Sameer Khatiwada, »Did the financial sector profit at the expense of the rest of the economy?
Evidence from the United States«, ILO Research Paper (2010), online verfügbar unter: {http://
digitalcommons.ilr.cornell.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1101&context=intl} (Stand Dezember
2015).
40 Die Abbildung beruht auf Daten der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung.
Die Daten sind online verfügbar unter: {http://unctadstat.unctad.org/wds/ReportFolders/
reportFolders.aspx} (Stand Dezember 2015).
41 Die Daten stammen ebenfalls von der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und
Entwicklung.
42 Douglas McWilliams, »The greatest ever economic change«, Gresham Lecture (13. September 2012),
online verfügbar unter: {http://www.gresham.ac.uk/lectures-and-events/the-greatest-ever-economic-
change} (Stand Dezember 2015).
43 Vgl. z. B. Samir Amin, Unequal Development: An Essay on the Social Formations of Peripheral
Capitalism, New York/London: Monthly Review Press 1976.
44 Branko Milanovic, »Global income inequality by the numbers: In history and now«, Policy Research
Working Paper 6259, Weltbank (November 2012), S. 13.
45 Richard B. Freeman, »The new global labor marketing«, in: Focus 26/1 (2008), University of
Wisconsin – Madison Institute for Research on Poverty, online verfügbar unter: {http://
www.irp.wisc.edu/publications/focus/pdfs/foc261a.pdf} (Stand Dezember 2015).
46 Steven Kapsos/Evangelia Bourmpoula, »Employment and economic class in the developing world«,
ILO Research Paper 6, Juni 2013, online verfügbar unter: {http://www.ilo.org/wcmsp5/groups/
public/---dgreports/---inst/documents/publication/wcms_216451.pdf} (Stand Dezember 2015).
5 Die Propheten des Postkapitalismus
Kevin Kelly, »New rules for the new economy«, in: Wired (5. September 1997), online verfügbar
1 unter: {http://www.wired.com/1997/09/newrules/} (Stand Dezember 2015).
Riti Singh, »Civil aero gas turbines; technology and strategy«, Vortrag an der Cranfield University
2 (24. April 2001), S. 5.
John Leahy, »Navigating the future«, Global Market Forecast 2012-2031, Airbus, 2011.
3
David S. Lee et al., »Aviation and global climate change in the 21st century«, in: Atmospheric
4 Aviation 43 (2009), S. 3520-3537.
Maurice Gell et al., »The development of single crystal supperalloy turbine blades«, in: John K. Tien
5 et al. (Hg.) Superalloys 1980, Materials Park, OH: American Society for Metals 1980, S. 205-214, S. 205.
Jörg Sieber, »Aero engine roadmap 2050«, Präsentation auf der Aerospace Industry Exhibition in
6 Tokio (26. bis 28. Oktober 2011).
N. N., »Data on the balance sheet«, SAS Institute/CEBR (Juni 2013), online verfügbar unter: {http://
7 www.cebr.com/reports/data-on-the-balance-sheet/} (Stand Dezember 2015).
Peter F. Drucker, Die postkapitalistische Gesellschaft, Düsseldorf: Econ 1993, S. 73.
8
Ibid., S. 276f.
9
10 Ibid., S. 302.
11 Yinni Peng, »Internet use of migrant workers in the Pearl River Delta«, in: Pui-lam Law (Hg.), New
Connectivities in China: Virtual, Actual and Local Interactions, Dordrecht: Springer 2012, S. 94.
12 Paul M. Romer, »Endogenous technological change«, in: Journal of Political Economy 98/5, 2 (1990),
S. S71-S102.
13 Ibid., S. S72.
14 Ibid., S. S71-S102.
15 Glenn Peoples, »Business matters: Average iTunes account generates just $ 12 in music revenue per
year« (20. Juni 2013), online verfügbar unter: {http://www.billboard.com/biz/articles/news/digital-
and-mobile/1567869/business-matters-average-itunes-account-generates-just} (Stand Dezember
2015).
16 David Warsh, Knowledge and the Wealth of Nations: A Story of Economic Discovery, New York: W.
W. Norton & Co. 2007.
17 Anand Lal Shimpi, »The iPhone 5s Review« (17. September 2013), online verfügbar unter: {http://
anandtech.com/show/7335/the-iphone-5s-review} (Stand Dezember 2015).
18 Bill Gates' »An open letter to hobbyists« aus dem Jahr 1976 ist online verfügbar unter: {https://
de.wikipedia.org/wiki/Open_Letter_to_Hobbyists#/media/File:Bill_Gates_Letter_to_Hobbyists.jpg}
(Stand Dezember 2015).
19 Richard Stallman, »GNU-Manifest« (März 1985), online verfügbar unter: {http://www.gnu.org/gnu/
manifesto.de.html} (Stand Dezember 2015).
20 Vgl. dazu die regelmäßig aktualisierte Statistik auf der Website www.browser-statistik.de.
21 Jay Yarow, »It's official: Apple is just a niche player in smartphones now« (2. November 2012),
online verfügbar unter: {http://www.businessinsider.com/android-market-share-2012-11} (Stand
Dezember 2015).
22 Kelly, »New rules for the new economy«.
23 Ibid.
24 Ibid.
25 Simon Hill, »A history of Samsung's Galaxy phones and tablets, from the S1 to the S4« (14. März
2013), online verfügbar unter: {http://www.digitaltrends.com/mobile/history-of-samsungs-galaxy-
phones-and-tablets/} (Stand Dezember 2015).
26 John Gantz/David Reinsel, »The Digital Universe in 2020: Big data. Bigger digital Shadows, and
biggest growth in the far East« (Dezember 2012), online verfügbar unter: {http://www.emc.com/
collateral/analyst-reports/idc-the-digital-universe-in-2020.pdf} (Stand Dezember 2015).
27 Daten dazu sind auf der Website der Internationalen Fernmeldeunion verfügbar: {http://www.itu.int/
en/ITU-D/Statistics/Pages/stat/default.aspx} (Stand Dezember 2015).
28 Kelly, »New rules for the new economy«.
29 Ibid.
30 Rachel Konrad, »Trouble ahead, trouble behind«, in: cnet (22. Februar 2002).
31 Yochai Benkler, The Wealth of Networks: How Social Production Transforms Markets and Freedom,
New Haven: Yale University Press 2006.
32 Ibid.
33 »Statistics«, online verfügbar unter: {https://en.wikipedia.org/wiki/Special:Statistics} (Stand Januar
2016).
34 Siehe den sogenannten »Staff-Count« der Wikimedia Foundation: {https://wikimediafoundation.org/
wiki/Staff_and_contractors} (Stand Dezember 2015).
35 »Wikipedians«, online verfügbar unter: {https://en.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Wikipedians}
(Stand Januar 2016).
36 Stand Dezember 2015; die Rangfolge der jeweils beliebtesten Websites ist online verfügbar unter:
{http://www.alexa.com/topsites}.
37 Michael Johnston, »Wikipedia revenue analysis: how a wiki could make $ 2.8b a year« (25. Juni
2013), online verfügbar unter: {www.monetizepros.com/blog/2013/analysis-how-wikipedia-could-
make-2-8-billion-in-annual-revenue/} (Stand Dezember 2015).
38 Kenneth J. Arrow, »Economic welfare and the allocation of resources for invention«, in: The Rate
and Direction of Inventive Activity: Economic and Social Factors, NBER (1962), S. 609-626.
39 Karl Marx, »Schreiben an Engels vom 8. Dezember 1857, London«, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 29,
Berlin: Dietz 1978, S. 225.
40 Martin Nicolaus, »Foreword«, in: Karl Marx, Grundrisse. Foundations of the Critique of the Political
Economy, Harmondsworth: Penguin 1973, S. 9.
41 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 42, Berlin:
Dietz 1953 [1857-1858], S. 601.
42 Ibid., S. 600.
43 Steven Robert, Distant Writing. A History of the Telegraph Companies in Britain Between 1838-1868,
2006, online verfügbar unter: {http://distantwriting.co.uk/TelegraphStations1862.html} (Stand
Dezember 2015).
44 Shirley Tillotson, »We may all soon be ›first-class men‹: Gender and skill in Canada's early
twentieth century urban telegraph industry«, in: Labor/Le Travail 27 (Frühjahr 1991), S. 97-123.
45 Marx, Grundrisse, S. 602.
46 Paolo Virno, »General intellect«, in: Adelino Zanini/Ubaldo Fadini (Hg.), Lessico Postfordista,
Mailand: Feltrinelli 2001.
47 Marx, Grundrisse, S. 607.
48 Nick Dyer-Witheford, Cyber-Marx: Cycles and Circuits of Struggle in High-technology Capitalism,
Illinois: University of Illinois Press 1999.
49 Yann Moulier-Boutang, Cognitive Capitalism, Cambridge: Polity 2011, S. 53.
50 Der durchschnittlich Stundenlohn in den USA wird auf der Website YCharts dokumentiert:
{http://ycharts.com/indicators/average_hourly_earnings} (Stand Dezember 2015).
51 Scott Cendrowski, »Nike's new marketing mojo« (13. Februar 2012), online verfügbar unter:
{http://management.fortune.cnn.com/2012/02/13/nike-digital-marketing/} (Stand Dezember 2015).
52 Carlo Vercellone, »From formal subsumption to general intellect: Elements for a Marxist reading of
the thesis of cognitive capitalism«, in: Historical Materialism 15 (2007), S. 13-36.
53 Dyer-Witheford, Cyber-Marx.
54 Jeremy Rifkin, Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft: Das Internet der Dinge, kollaboratives Gemeingut
und der Rückzug des Kapitalismus, Frankfurt am Main/New York: Campus 2014.
55 Vgl. Paul Mason, »WTF is Eleni Haifa?« (20. Dezember 2014), online verfügbar unter: {http://
www.versobooks.com/blogs/1801-wtf-is-eleni-haifa-a-new-essay-by-paul-mason} (Stand Dezember
2015).
6 Auf dem Weg zur kostenlosen Maschine
Siehe den »Scottish Index of Multiple Deprivation« auf der Website Scottish Neighbourhood
1 Statistics: {http://www.sns.gov.uk/Simd/Simd.aspx} (Stand Dezember 2015).
Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen, München: dtv 1993 [1776], S. 28.
2
Adam Smith, Lectures on Jurisprudence, Oxford: Oxford University Press 1978, S. 351.
3
Das zeigt John F. Henry in »Adam Smith and the theory of value: chapter six considered«, in: History
4 of Economics Review 31 (Winter 2000).
Smith, Der Wohlstand der Nationen, S. 29.
5
David Ricardo, Über die Grundsätze der politischen Ökonomie und der Besteuerung, Marburg:
6 Metropolis 2006 [1817], Kapitel 1.
Zitiert in: Alfred Ammon, Ricardo als Begründer der theoretischen Nationalökonomie, Jena: Gustav
7 Fischer 1924, S. 83.
Thomas Hodgskin, »Labour defended against the claims of capital« [1825], online verfügbar unter:
8 {http://avalon.law.yale.edu/19th_century/labdef.asp} (Stand Dezember 2015).
Für eine umfassende Beschreibung der Debatte über den Wert vgl. Isaac I. Rubin, A History of
9 Economic Thought, London: Pluto Press 1989.
10 N. N., »CCC disappointed at new Bangladesh minimum wage level« (20. November 2013), online
verfügbar unter: {http://www.cleanclothes.org/news/2013/11/20/clean-clothes-campaign-
disappointed-at-new-bangladesh-minimum-wage-level} (Stand Dezember 2015).
11 Gemessen an einem Mindestlohn von 5300 Taka (2014) und einem Einzelhandelspreis von 34 Taka
für ein Kilo Reis.
12 In diesem Abschnitt stütze ich mich auf die vereinfachte Darstellung der Theorie in: Andrew Kliman,
Reclaiming Marx's »Capital«: A Refutation of the Myth of Inconsistency, Plymouth: Lexington Books
2007.
13 Kate Allen, »The butterfly effect: Chinese dorms and Bangladeshi factory fires«, in: Financial Times
(25. April 2013), online verfügbar unter: {http://blogs.ft.com/ftdata/2013/04/25/the-butterfly-effect-
chinese-dorms-and-bangladeshi-factory-fires/?} (Stand Dezember 2015).
14 Joan Robinson, Economic Philosophy, London: C. A. Watts 1962.
15 Albert Einstein, »Physics and reality«, in: Journal of the Franklin Institute, Bd. 221 (1936), S. 349-382.
16 OECD, »Education at a glance 2014: OECD indicators«, OECD, 2014, S. 14, online verfügbar unter:
{http://www.oecd.org/edu/Education-at-a-Glance-2014.pdf} (Stand Dezember 2015).
17 Léon Walras, Elements of Pure Economics: Or the Theory of Social Wealth, London/New York: 2005
[1874], S. 399.
18 William Smart, »Translator's preface«, in: Eugen von Böhm-Bawerk, The Positive Theory of Capital,
New York: G. E. Stechert & Co. 1930, S. xviii.
19 Walras, Elements of Pure Economics, S. 61.
20 William S. Jevons, »The periodicity of commercial crises, and its physical explanation«, in: Robert
L. Smyth (Hg.), Essays in the Economics of Socialism and Capitalism: Selected Papers Read to Section F
of the British Association for the Advancement of Science, 1886-1932, London: Duckworth 1964, S. 125-
140.
21 Carl Menger, Untersuchungen über die Methode der Socialwissenschaften und der politischen
Oekonomie insbesondere, in: Friedrich A. Hayek (Hg.), Carl Menger. Gesammelte Werke, Bd. IV,
Tübingen: J. C. B. Mohr 1969 [1883], S. 207f.
22 Steve Keen, Debunking Economics: The Naked Emperor Dethroned, London: Zed Books 2011, S. XV.
23 Walras, Elements of Pure Economics, S. 399.
24 David Gilbert, »Game of Thrones ›purple wedding‹ becomes most shared illegal download ever«
(16. April 2014), online verfügbar unter: {http://www.ibtimes.co.uk/game-thrones-purple-wedding-
becomes-most-shared-illegal-download-ever-1445057} (Stand Dezember 2015).
25 John Hagel et al., »From exponential technologies to exponential innovation« (2013), online
verfügbar unter: {http://dupress.com/articles/from-exponential-technologies-to-exponential-
innovation/} (Stand Dezember 2015).
26 Norbert Wiener, Kybernetik: Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der
Maschine, 2. Aufl., Düsseldorf: Econ 1965, S. 166.
27 Rolf Landauer, »Irreversibility and heat generation in the computing process« (Januar/März 2000),
online verfügbar unter: {http://www.pitt.edu/~jdnorton/lectures/Rotman_Summer_School_2013/
thermo_computing_docs/Landauer_1961.pdf} (Stand Dezember 2015).
28 Rolf Landauer, »The physical nature of information«, in: Physics Letters A 217 (1996), S. 188-193.
29 Samuel K. Moore, »Landauer limit demonstrated« (7. März 2012), online verfügbar unter: {http://
spectrum.ieee.org/computing/hardware/landauer-limit-demonstrated} (Stand Dezember 2015).
30 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 42, Berlin:
Dietz 1953 [1857-1858], S. 658.
31 Vishal Naranje/Shailendra Kumar, »AI applications to metal stamping die design; A review«, in:
World Academy of Science, Engineering and Technology 4 (2010).
32 OECD, »Measuring the internet economy: a contribution to the research agenda«, OECD Digital
Economy Papers 226, OECD Publishing (2013), online verfügbar unter: {http://www.oecd-
ilibrary.org/docserver/download/5k43gjg6r8jf.pdf?
expires=1449493475&id=id&accname=guest&checksum=0D4A7D6D020A6F657CA8C8C1CCCF6805}
(Stand Dezember 2015).
33 Harry Braverman, Labor and Monopol Capital. The Degradation of Work in the Twentieth Century,
New York: Monthly Review Press 1998, S. 204.
34 Bureau of Labor Statistics, »Occupational employment and wages – May 2014«, online verfügbar
unter: {http://www.bls.gov/news.release/pdf/ocwage.pdf} (Stand Dezember 2015).
35 Carl B. Frey/Michael A. Osborne, »The future of employment: How susceptible are jobs to
computerisation?«, Oxford Martin School Working Paper, 2013, S. 38, online verfügbar unter: {http://
www.oxfordmartin.ox.ac.uk/downloads/academic/The_Future_of_Employment.pdf} (Stand
Dezember 2015).
36 André Gorz, Kritik der ökonomischen Vernunft. Sinnfragen am Ende der Arbeitsgesellschaft, Zürich:
Rotpunktverlag 2010, S. 143.
7 Wunderbare Störenfriede
Richard Freeman, »The great doubling: Labor in the new global economy«, Usery Lecture in Labor
1 Policy, University of Atlanta, GA, 2005.
Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, München: C. H. Beck 2014.
2
Fredric Jameson, »Future City«, in: New Left Review 21 (Mai/Juni 2003), online verfügbar unter:
3 {http://newleftreview.org/II/21/fredric-jameson-future-city} (Stand Dezember 2015): »Heute können
wir uns die völlige Zerstörung der Erde und der Natur leichter vorstellen als den Zusammenbruch
des Spätkapitalismus.«
N. N., »Translation: What will Apple think of Foxconn's employee non-suicide pact?« (26. Mai 2010),
4 online verfügbar unter: {http://shanghaiist.com/2010/05/26/translated_foxconns_employee_non-
su.php} (Stand Dezember 2015).
Vgl. Paul Mason, »WTF is Eleni Haifa?« (20. Dezember 2014), online verfügbar unter: {http://
5 www.versobooks.com/blogs/1801-wtf-is-eleni-haifa-a-new-essay-by-paul-mason} (Stand Dezember
2015).
Douglas A. Galbi, »Economic change and sex discrimination in the early English cotton factories«
6 (1994), online verfügbar unter: {http://papers.ssrn.com/paper.taf?abstract_id=239564} (Stand
Dezember 2015).
Andrew Ure, The Cotton Manufacture of Great Britain Systematically Investigated, Bd. II, London:
7 C. Knight 1836, S. 176.
Mary Freifeld, »Technological change and the ›self-acting‹ mule: A study of skill and sexual division
8 of labour«, in: Social History 11 (1986), S. 322.
Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, Kap. 13, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 23, Berlin: Dietz 2008 [1867], S. 459.
9
10 Friedrich Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 2, Berlin:
Dietz 1962 [1845], S. 362.
11 Michael Winstanley, »The factory workforce«, in: Mary Rose (Hg.), The Lancashire Cotton Industry:
A History since 1700, Lancashire: Lancashire County Books 1996, S. 130.
12 William Lazonick, Competitive Advantage on the Shop Floor, Harvard, MA: Harvard University Press
1990.
13 Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse, S. 639.
14 Bryan Palmer, A Culture in Conflict: Skilled Workers and Industrial Capitalism in Hamilton, Ontario,
1860-1914, Montreal: McGill-Queen's University Press 1979.
15 Kealey zeigt in seiner Studie über die Eisengießer in Toronto, dass ihre Gewerkschaft die Löhne für
jedes neue Design festlegten und branchenweit durchsetzten; vgl. Gregory Kealey, »The honest
working man and workers control: the experience of Toronto skilled workers 1860-1892«, in:
Labor/Le Travail 1 (1976), S. 50.
16 Zitiert ibid., S. 39.
17 Ibid., S. 58.
18 Frederick W. Taylor, Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung, Weinheim: Beltz 1977 [1911],
S. 50.
19 Ibid., S. 62.
20 Ibid., S. 94.
21 Ibid., S. 102.
22 Gerald Friedman, »Revolutionary unions and French labor: The rebels behind the cause; or, why did
revolutionary syndicalism fail?«, in: French Historical Studies 20/2 (Frühjahr 1997).
23 Unofficial Reform Committee (Hg.), »The miner's next step« [1912], online verfügbar unter: {http://
www.llgc.org.uk/ymgyrchu/Llafur/1926/MNS.pdf} (Stand Dezember 2015).
24 Wladimir I. Lenin, Was tun? [1902], online verfügbar unter:
{http://marxists.catbull.com/deutsch/archiv/lenin/1902/wastun/kap2a.htm#parta} (Stand Dezember
2015).
25 Wladimir I. Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, »Vorwort zur
französischen und deutschen Ausgabe« [1921], online verfügbar unter:
{http://marxists.catbull.com/deutsch/archiv/lenin/1917/imp/vorwort2.htm} (Stand Dezember 2015).
26 Zitiert in: Antonio Santucci, Antonio Gramsci, New York: Monthly Review Press 2010, S. 156.
27 W. B. Yeats, »Ostern 1916«, in: Marcel Beyer, Gerhard Falkner, Norbert Hummelt (Hg.), Die Gedichte,
München: Luchterhand 2005, S. 204.
28 John Simkin, »Clyde Workers' Committee«, (August 2014) online verfügbar unter: {http://spartacus-
educational.com/TUcwc.htm} (Stand Dezember 2015).
29 Marc Ferro, October 1917: A Social History of the Russian Revolution, London: Routledge and Kegan
Paul 1980, S. 151.
30 Carter Goodrich, The Frontier of Control, New York: Harcourt, Brace and Howe 1920, S. 264.
31 George Orwell, »Looking back on the Spanish War«, in: ders., A Collection of Essays, Orlando:
Harcourt 1981, S. 207.
32 N. N., »Never forget«, in: The Economist (22. März 2012), online verfügbar unter: {http://
www.economist.com/node/21550764} (Stand Dezember 2015).
33 C. Wright Mills, »The sociology of stratification«, in: Irving L. Horowitz (Hg.), Power, Politics &
People: The Collected Essays of C. Wright Mills, Oxford: Oxford University Press 1967, S. 309.
34 Daniel Bell, »The capitalism of the proletariat«, in: Encounter (Februar 1958), S. 17-23.
35 Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch: Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen
Industriegesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 52.
36 Steve Wright, Storming Heaven: Class Composition and Struggle in Italian Autonomist Marxism,
London: Pluto Press 2002, S. 54.
37 Robert Alford, »A suggested index of the association of social class and voting«, in: Public Opinion
Quarterly 26/3 (Herbst 1962), S. 417-425.
38 Eric Hobsbawm, »The forward march of labour halted«, in: Marxism Today (September 1978), S. 279.
39 Romano Alquati, Sulla Fiat e Altri Scritti, Mailand: Feltrinelli 1975, S. 83.
40 André Gorz, Kritik der ökonomischen Vernunft. Sinnfragen am Ende der Arbeitsgesellschaft, Zürich:
Rotpunktverlag 2010, S. 102.
41 Ibid., S. 106.
42 John Gorman, To Build Jerusalem: A Photographic Remembrance of British Working Class Life, 1875-
1950, London: Scorpion Publications 1980.
43 Richard Hoggart, The Uses of Literacy: Aspects of Working-Class Life, London: Transaction Publishers
1957.
44 George Akerlof/Janet Yellen/Michael Katz, »An analysis of out-of-wedlock childbearing in the
United States«, in: The Quarterly Journal of Economics 111/2, S. 277-317.
45 Claudia Goldin/Lawrence Katz, »The power of the pill: Oral contraception and women's career and
marriage decisions«, NBER Working Paper 7527 (Februar 2000).
46 Oscar Ornati, »The Italian economic miracle and organised labor«, in: Social Research 30/4 (Winter
1953), S. 519-526.
47 Ibid.
48 Paul Ginsborg, A History of Contemporary Italy: Society and Politics 1943-1988, London: St. Martin's
Griffin 2003, S. 298f.
49 N. N., »Class struggle in Italy: 1960s to 70s«, S. 22, online verfügbar unter: {http://www.prole.info/
pamphlets/autonomousitaly.pdf} (Stand Dezember 2015).
50 Lotta Continua #18, November 1970, zitiert in: ibid., S. 52.
51 Andrew Glyn et al., »The rise and fall of the Golden Age«, WIDER, Working Paper 43 (April 1988).
52 Ibid.
53 Paul Myerscough, »Short cuts«, in: London Review of Books 35/1 (3. Januar 2013), S. 25.
54 Bureau of Labor Statistics, »International comparisons of annual labor force statistics, 1970-2012«,
online verfügbar unter: {http://www.bls.gov/fls/flscomparelf/lfcompendium.pdf} (Stand Dezember
2015).
55 International Labour Organization, World of Work Report 2014: Developing with Jobs, Genf: ILO 2014,
S. 45; online verfügbar unter: {http://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/---dgreports/---dcomm/
documents/publication/wcms_243961.pdf} (Stand Dezember 2015).
56 Costas Lapavitsas, »Financialised capitalism: crisis and financial expropriation«, RMF Paper 1
(15. Februar 2009).
57 Ibid.
58 Siehe die kurze Übersicht auf der Website des »NetLab«:
{http://groups.chass.utoronto.ca/netlab/barry-wellman/} (Stand Dezember 2015).
59 Vgl. Richard Sennett, Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin: Berlin Verlag 2006.
60 Richard Sennett, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin: Siedler 1998, S. 37.
61 Antonio Negri und Michael Hardt, Demokratie!: Wofür wir kämpfen, Frankfurt am Main/New York:
Campus 2013, S. 17f.
62 Yinni Peng, »Internet use of migrant workers in the Pearl River Delta«, in: Knowledge, Technology,
and Policy, 21, 2008, S. 47-54.
8 Transitionen
Alexander Bogdanow, Der rote Planet, II, 2 [1908], online verfügbar unter:
1 {http://nemesis.marxists.org/bogdanow-der-rote-planet12.htm} (Stand Dezember 2015).
Das Foto ist z. B. auf der Website marxist.org zu sehen: {http://www.marxists.org/archive/lenin/
2 photo/1908/007.htm} (Stand Dezember 2015).
Zitiert in: John E. Marot, »Alexander Bogdanov, Vpered and the role of the intellectual in the
3 workers' movement«, in: The Russian Review 49/3 (1990), S. 241-264.
Siehe den Eintrag zu »Workers opposition« im Glossar der Website marxist.org: {http://
4 www.marxists.org/glossary/orgs/w/o.htm#workers-opposition} (Stand Dezember 2015).
Nikolai Krementsov, A Martian Stranded on Earth: Alexander Bogdanov, Blood Transfusions and
5 Proletarian Science, Chicago: Chicago University Press 2011.
Richard Stites, »Fantasy and revolution: Alexander Bogdanov and the origins of bolshevik science
6 fiction«, Vorwort zur englischen Übersetzung, in: Alexander Bogdanov, Red Star,
Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press 1984, S. 15.
Michael Ellman, »The role of leadership perceptions and of intent in the Soviet famine of 1931«, in:
7 Europe-Asia Studies, Bd. 57 (6) (2005), S. 823-841.
Josef Stalin, »Über die Aufgaben der Wirtschaftler«, Rede auf der ersten Unionskonferenz der
8 Funktionäre der »sozialistischen« Industrie am 4. Februar 1931, online verfügbar unter:
{http://marxists.catbull.com/deutsch/referenz/stalin/1931/02/wirtschaft.htm} (Stand Dezember 2015).
Mark Harrison, »The Soviet economy in the 1920s and 1930s«, in: Capital & Class 2/2 (1978), S. 78-94.
9
10 Gur Ofer, »Soviet economic growth 1928-1985«, RAND/UCLA Center for the Study of Soviet
International Behavior, JRS-04 (1998).
11 Holland Hunter, »A test of five-year plan feasibility«, in: Judith Thornton, Economic Analysis of the
Soviet-Type System, Cambridge: Cambridge University Press 1976, S. 296.
12 A. Kon, »Political economy syllabus«, zitiert in: Yevgeni Preobrazhensky, The New Economics,
Oxford: Clarendon Press 1964, S. 57.
13 Vilfredo Pareto, Cours d'économie politique, Bd. 1, Lausanne: F. Rouge 1896, S. 59.
14 Enrico Barone, »The ministry of production in the collectivist state«, in: Friedrich A. Hayek (Hg.),
Collectivist Economic Planning: Critical Studies on the Possibilities of Socialism, London: Routledge &
Kegan Paul 1935, S. 245-290.
15 Ludwig von Mises, »Die Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Gemeinwesen«, in: Archiv für
Sozialwissenschaften 47 (1920), S. 86-121, online verfügbar unter:
{http://docs.mises.de/Mises/Mises_Wirtschaftsrechnung.pdf} (Stand Dezember 2015).
16 Ibid.
17 Lionel Robbins, The Great Depression, London: Macmillan 1934, S. 151.
18 Oskar Lange, »On the economic theory of socialism«, in: The Review of Economic Studies 4/1 (1936),
S. 53-71.
19 Zitiert in: Johanna Bockman, Markets in the Name of Socialism. The Left-Wing Origins of
Neoliberalism, Stanford: Stanford University Press 2011, S. 46.
20 Ludwig von Mises, »Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Gemeinwesen« [1920], online verfügbar
unter: {http://docs.mises.de/Mises/Mises_Wirtschaftsrechnung.pdf} (Stand Dezember 2015).
21 Leo Trotzki, »The Soviet economy in danger«, in: The Militant (Oktober 1932), online verfügbar
unter: {https://www.marxists.org/archive/trotsky/1932/10/sovecon.htm} (Stand Dezember 2015).
22 Ibid.
23 W. Paul Cockshott/Allin Cottrell, »Economic planning, computers and labor values«, Working Paper
(Januar 1999), online verfügbar unter: {http://ricardo.ecn.wfu.edu/~cottrell/aer.pdf} (Stand Dezember
2015).
24 Oleg Yun, Improvement of Soviet Economic Planning, Moskau: Progress Publishers 1988.
25 Cockshott/Cottrell, »Economic planning, computers and labour values«, S. 7.
26 W. Paul Cockshott/Allin Cottrell/Heinz Dieterich, Transition to 21st Century Socialism in the European
Union, 2010, S. 1-20, online verfügbar unter: {http://reality.gn.apc.org/econ/Berlinpaper.pdf} (Stand
Dezember 2015).
27 André Gorz, Capitalism, Socialism, Ecology, London: Verso 1994, S. 1.
28 John Maynard Keynes, »The economic possibilities for our grandchildren«, in: ders., Essays in
Persuasion, New York: W. W. Norton 1963 [1930], S. 358-373.
29 Derek Thompson, »The economic history of the last 2000 years: Part II«, in: The Atlantic (20. Juni
2012).
30 Stephanie Haensch et al., »Distinct clones of Yersinia pestis caused the Black Death« (7. Oktober
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info%3Adoi%2F10.1371%2Fjournal.ppat.1001134} (Stand Dezember 2015).
31 David Herlihy, The Black Death and the Transformation of the West, Cambridge, MA: Harvard
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32 Elizabeth L. Eisenstein, Die Druckerpresse: Kulturrevolutionen im frühen modernen Europa, Berlin:
Springer 1997 [1979].
33 Francis Bacon, Große Erneuerung der Wissenschaft (Novum Organon) [1620], Erstes Buch, online
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Gro%C3%9Fe+Erneuerung+der+Wissenschaften/Neues+Organon/Erstes+Buch} (Stand Dezember
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34 Paul M. Sweezy/Maurice Dobb, »The transition from feudalism to capitalism«, in: Science & Society
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35 Perry Anderson, Von der Antike zum Feudalismus: Spuren der Übergangsgesellschaften, 2. Aufl.,
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36 Preobrazhensky, The New Economics, S. 79.
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IPPC, Climate Change 2013. The Physical Science Basis, New York: Cambridge Unitersity Press 2013, S. 4, online verfügb
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12 Ibid.
13 »Fifth Annual Report of the Registrar General«, London, 1843, online verfügbar unter: {http://www.histpop.org/ohpr/s
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14 United Nations, World Population Prospects. The 2015 Revision, New York 2015, online verfügbar unter:
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15 Zitiert nach: N. N., »Our judges' pick of the ideas most likely to shape tomorrow's world of business«, in:
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20 Branko Milanovic, »Global income inequality by the numbers: In history and now«, in: Global Policy 4/2
21 George Magnus, »Emerging markets demographic drivers«, Vortrag, gehalten auf der IFC and Johns Hopkins Medicin
Conference 2013 (19. März), S. 3; online verfügbar unter: {http://www.ifc.org/wps/wcm/connect/6d0b56004f081ebf99d4
George+Magnus'+Keynote+Speech+-+190313.pdf?MOD=AJPERES} (Stand Dezember 2015).
22 D. H. Lawrence, Lady Chatterleys Liebhaber, Zürich: Diogenes 2004 [1928], S. 5.
23 Jason Q. Ng, »How Chinas internet censorship works, sometimes« (17. März 2014), online verfügbar unter:
2014/03/17/china-internet-censorship_n_4981389.html} (Stand Dezember 2015).
10 Das »Projekt Null«
Herbert Simon, »Organisations and markets«, in: The Journal of Economic Perspectives 5/2 (1991),
1 S. 25-44.
Jewgeni Preobraschenski, The New Economics, Oxford: Clarendon Press 1964 [1926], S. 55.
2
Vgl. z. B. Paul Mason, »WTF is Eleni Haifa?« (20. Dezember 2014), online verfügbar unter: {http://
3 www.versobooks.com/blogs/1801-wtf-is-eleni-haifa-a-new-essay-by-paul-mason} (Stand Dezember
2015).
Vasilis Kostakis/Michel Bauwens, Network Society and Future Scenarios for a Collaborative Economy,
4 London: Palgrave Macmillan 2014.
McKenzie Wark, Das Hacker-Manifest, München: C. H. Beck 2005.
5
Vgl. z. B. »Fair society, healthy lives« (The Marmot Review), UCL Institute of Health Equity (Februar
6 2010), online verfügbar unter: {http://www.instituteofhealthequity.org/projects/fair-society-healthy-
lives-the-marmot-review} (Stand Dezember 2015).
J. Doyne Farmer, »Economics needs to treat the economy as a complex system« (3. Mai 2012), online
7 verfügbar unter: {http://www.inet.ox.ac.uk/library/view/595} (Stand Dezember 2015).
Jaromir Benes/Michael Kumhof, »The Chicago Plan revisited« (August 2012), IMF Working Paper
8 12/202, online verfügbar unter: {https://www.imf.org/external/pubs/ft/wp/2012/wp12202.pdf} (Stand
Dezember 2015).
Vgl. zu diesem Thema z. B. die Informationen auf der Website des Basic Income Earth Networks
9 (www.basicincome.org) sowie die Beiträge in der neuen, zweimal jährlich erscheinenden Zeitschrift
Basic Income Studies.
10 David Graeber, »On the phenomenon of bullshit jobs« (17. August 2013), online verfügbar unter:
{http://strikemag.org/bullshit-jobs/} (Stand Dezember 2015).
11 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 42, Berlin:
Dietz 1953 [1857-1858], S. 607.
Danksagung

Ich danke meinem Lektor bei Penguin Random House, Thomas Penn, sowie
Shan Vahidy und Bela Cunha für ihre redaktionellen Arbeiten an meinem
Manuskript. Ebenfalls danken möchte ich meinem Agenten Matthew Hamilton,
seinem Vorgänger Andrew Kidd und dem Team bei Aitken Alexander. Die
folgenden Personen und Organisationen haben mir ein Forum gegeben, um
frühere Versionen dieses Buches zu präsentieren und zu diskutieren: Pat Kane
von NESTA FutureFest, Mike Haynes von der Wolverhampton University,
Robert Brenner vom Center for Social Theory and Comparative History der
University of California in Los Angeles, Marianne Maeckelbergh und Brandon
Jourdan, die 2013 die Global-Uprisings-Konferenz in Amsterdam organisiert
haben, und die Opera North in Leeds. Ein ganz besonderer Dank gilt Aaron
Bastani, Eleanor Saitta, Quinn Norton, Molly Crabapple, Laurie Penny, Antonis
Vradis und Dimitris Dalakoglou, Ewa Jaskiewicz, Emma Dowling, Steve Keen,
Arthur Bough und Syd Carson von der Morson Group. Sie alle haben mein
Denken über die in diesem Buch behandelten Fragen beeinflusst. Ein Dank
geht auch an meinen Redakteur bei Channel 4 News, Ben de Pear, der mir
einen Monat unbezahlten Urlaub gab, um den ersten Entwurf fertigzustellen.
Ich danke Channel 4 für den geistigen Freiraum, der nötig war, um ihn zu
schreiben, und Malik Meer, der als Redakteur beim Guardian für die Rubrik
»G2« zuständig ist und mir Platz zur Verfügung stellte, so dass ich einige
meiner Ideen veröffentlichen konnte. Und schließlich gilt mein Dank meiner
Frau Jane Bruton. Ohne ihre Unterstützung, Liebe und Brillanz wäre dieses
Buch nicht möglich gewesen.
Register

Abe, Shinzō
Ägypten
Afghanistan
Afrika
Akerlof, George
Aktien siehe Kapitalbeteiligungen und Aktien
Allmendeproduktion siehe auch kollaborative Produktion
Alquati, Romano
Altair-8800-Computer
Altersvorsorge
Amazon
Anderson, Perry
Android-Smartphone
antikapitalistische Bewegung
Apple
Arabischer Frühling
Arbeit
– Adam Smith über
– billige Arbeitskräfte als Grundlage der Wirtschaft
– »Bullshit-Jobs«
– Einstellung der Grenznutzenschule zur
– Flexibilität und
– Geschlecht und
– Informationsökonomie und
– kognitiver Kapitalismus und
– Marx über die
– Verdopplung der globalen Erwerbsbevölkerung
– vernachlässigte Geschichte der
– Verwischung der Grenze zwischen Freizeit und
– Ziele des »Projekts Null« für den Arbeitsmarkt
– Zwang auf dem Arbeitsmarkt
– siehe auch Arbeiterbewegung und Gewerkschaften; Arbeitswerttheorie
Arbeiterbewegung und Gewerkschaften
– Bergarbeiterstreik in Großbritannien (1984/85)
– Bergarbeiterstreiks in Großbritannien (1921, 1926)
– Erhebung der Arbeiter im 19. Jahrhundert
– Erhebung der Arbeiter im Jahr 1919
– erste Massenbewegungen
– ideologischer Zusammenbruch
– im Zeitraum 1967-76
– in den dreißiger Jahren (USA/Großbritannien/Frankreich)
– Lenin über
– Macht der Arbeiterschaft im Zeitraum 1967-76
– Niedergang der
– Obmann des Arbeiterausschusses
– Streik der Fluglotsen in den USA (1981)
– Zerschlagung durch den Neoliberalismus
– Zerstörung durch den Faschismus in den dreißiger Jahren
– Zerstörung durch den Nationalsozialismus
Arbeiterklasse
– André Gorz über die
– Angestellte
– Arbeiterselbstverwaltung
– »Aufhebung« der
– Auswirkung der Pest auf die
– Entfremdung in den fünfziger Jahren
– Erhebung Anfang des 20. Jahrhunderts
– »finanzielle Enteignung« und
– formales Wissen und
– Geschichte (1771-1848)
– Geschichte (1848-98)
– Geschichte (1898-1948)
– Geschichte (1948-89)
– Globalisierung und
– im Globalen Süden
– in der revolutionären Periode (1916-21)
– in der Sowjetunion
– in der Theorie der langen Zyklen
– Kampf gegen den Faschismus
– Kern-Peripherie-Modell
– Klassenbewusstsein der
– Koexistenz mit dem Kapitalismus
– kollektive Identität (Hobsbawm)
– Konservatismus der
– Kultur der
– Lenin über die
– Marxismus und
– nach dem Zweiten Weltkrieg
– neoliberale Zerschlagung der
– Netzwerkökonomie und
– Niederlage in der postindustriellen Ära
– Niederschlagung in den dreißiger und vierziger Jahren
– Pendeln und
– soziale und geografische Mobilität der
– Theoretiker des »Niedergangs der Arbeiterklasse«
– und die Studentenrevolte Ende der sechziger Jahre
– Verlust der Solidarität in den Arbeitergemeinden
Arbeitswerttheorie
– bei Marx
– Debatte über die Wirtschaftsrechnung und
– Informationsökonomie und
– legitime Einwände gegen die
Argentinien
Arktis
Arrow, Kenneth
Ärzte ohne Grenzen
Ashton, John
asiatische Tigerstaaten
– Arbeiterschaft
– Entwicklungsmodelle nach dem Zweiten Weltkrieg
– Krise (1997)
– mit Leistungsbilanzüberschuss
– siehe auch Einträge für die einzelnen Länder
Asien
Athen
äußere/externe Schocks
– neoliberale Leugnung der
– Theorie der langen Wellen
Australien
Automobilindustrie
– Fiat
– Ford Motor Company
– Hybridfahrzeuge
– in Japan
Automation und Mechanisierung
– Arbeitswerttheorie und
– Entfremdung der Arbeiter und
– in der Baumwollindustrie des 19. Jahrhunderts
– Marx über
– »Projekt Null« und
– Stillstand des fünften Kondratjewzyklus und
– vierter langer Zyklus und
– wachsende Ungleichheit und

Bacon, Francis
Bahrain
Bangladesch
Bank of England
Banken
– Aufhebung des Glass-Steagall Act (1999)
– Bankenrettung
– Deregulierung
– Eigenkapitalquoten
– Geldmärkte und
– Geldschöpfung durch die
– Genossenschaftsbanken
– griechische
– Kriminalität und Korruption
– Mindestreservesystem
– Reform des Bankwesens im »Projekt Null«
– »Repo 105« (Taktik)
– unzureichende Regulierung nach 2008
– Vollreserve-System
– Wachstum der Investmentbanken
Barcelona
Barclays
Barlow, John Perry
Barone, Enrico
Basler Akkord
– Basel I (1988)
– Basel II (2004)
– Basel III (2010)
Baumwollindustrie
Bauwens, Michel
bayerische Räterepublik
Bell, Daniel
Bell Laboratories
Bell Telephone
Benkler, Yochai
Berlin
Bernanke, Ben
Beteiligungen und Aktienanteile
– Börsenkrach
– Rückkauf
Bethlehem Steel, Pennsylvania
Bevölkerung und Demografie
– Abhängigenquotient
– alternde Bevölkerung
– Altersvorsorge und
– Auswirkung der Migration
– Lebenserwartung
– Wachstum der Weltbevölkerung
Beyoncé
Billy Liar
Blair, Tony
Bletchley Park
Bogdanow, Alexander
Bogdanow, V. E.
Böhm-Bawerk, Eugen von
Bolschewismus
Brand, Stewart
Brasilien
Braudel, Fernand
Brender, Anton
Bretton Woods, Konferenz von (1944)
Bretton-Woods-System
– Zerstörung durch Nixon
BRIC-Länder
britisches Empire
Bucharin, Nikolai
Burns, Mary

Carbon Tracker Initiative


Carney, Mark
Carry on At Your Convenience (Ist ja irre – Ein Streik kommt selten allein)
Castells, Manuel
Chartisten (Bewegung)
Chile
China
– Abhängigenquotient
– Arbeitsbedingungen in
– Fremdwährungsreserven
– Handelsüberschuss von
– Informationskapitalismus und
– Internet in
– Internetzensur in
– kommunistische Revolution in
– »Neomerkantilismus«
– Produktionsverlagerung nach Bangladesch
– Rohstoffverbrauch in
– Seltenerdmetalle und
– Spannungen zwischen Japan und
– Verlangsamung des Wachstums
– »vernetzte Individuen« in
– »weiche« Kredite
Clyde Workers Committee
Cockshott, Paul
Compuserve
Cottrell, Allin
Creative Commons
Cromford (Textilfabrik)
Crosland, Anthony
Cupertino
Currency School, Ökonomen der

Dampflokomotive
Dänemark
Darunavir
Darwin, Charles
Demokratie
– Aushöhlung der
– Bedrohung durch externe Schocks
– Demokratiebewegungen des frühen 19. Jahrhunderts
– »Great Unrest« (globale Erhebung, 1910-13)
– im Zweiten Weltkrieg unterlegene Mächte und
– Notwendigkeit neuer Formen der
– Occupy-Proteste
– Trotzkis »linke Opposition« und
– Vormarsch des Rechtsextremismus
Derivatemärkte
Deutsche Demokratische Republik (DDR)
Deutschland
– Energiepolitik
– Hartz-Reformen (2002/03)
– nationalsozialistische Ära
– Reparationsleistungen nach dem Ersten Weltkrieg
– Revolutionszeit (1916-21)
– Sozialdemokratie
– Unterdrückung des Markts (ca. 1890-1914)
– Weimarer Republik
Dickens, Charles
Dienstleistungsbranche
– Auslagerung
– geringqualifizierte Tätigkeiten in
– Niedriglohnjobs
– persönliche Mikrodienstleistungen
digitale Technologie siehe Informationstechnologie
Dnjestr
Dotcom-Blase
Dotcom-Crash (2001)
Drucker, Peter
– Kondratjew-Zyklen bei
– Post-Capitalist Society (Die postkapitalistische Gesellschaft)
– The Concept of the Corporation (Das Großunternehmen)
DSGE-Modelle
Düsentriebwerk
Dyer-Witheford, Nick

Easynet
eBay
E-Commerce-Systeme
Ecuador
Eduard III., englischer König
Eigentumsrechte
– geistiges Eigentum
Einstein, Albert
Einwahlmodem
Eisenstein, Elizabeth
Eliten
– Einstellung zum Klimawandel
– Reaktion auf die Krise von 2008
– Schwellenländer siehe auch Entwicklungsländer
– Verleugnung externer Schocks
Empfängnisverhütung
Energie
– Atomenergie
– auf fossilen Energieträgern beruhende Geschäftsmodelle
– Emissionsgrenzen und
– erneuerbare Energien siehe auch Klimawandel
– geopolitische Spannungen
– »Landauer-Prinzip«
– negative Externalitäten und
– Nutzung fossiler Energieträger
Engels, Friedrich
– Die Lage der arbeitenden Klasse in England
– Theorie der »Arbeiteraristokratie«
Enron-Bankrott (2001)
Entwicklungsländer
– Bevölkerungswachstum
– institutionelle Korruption
– Unterdrückung des Globalen Südens nach dem Zweiten Weltkrieg
– Verlangsamung des Wirtschaftswachstums
– wachsende Erwerbsbevölkerung der
Erderwärmung siehe Klimawandel
erdölexportierende Länder
– Ölpreismanipulation
– Ölkrise (Oktober 1973)
Erster Weltkrieg
Europa
– Abhängigenquotient
– Bevölkerungseinbuße im Zweiten Weltkrieg
– Krise 1917-21
– »Lange Depression« (1873-96)
– Pestepidemie (14. Jahrhundert)
– revolutionäre Krise 1847-51
– und Migration
– siehe auch Einträge für einzelne Länder
Europäische Union
Europäische Zentralbank (EZB)
Eurozone
Exxon Mobil

Facebook
Faschismus
Federal Reserve
Feudalismus
Fiat-Arbeiter
Fiatgeld
Filmindustrie
Finanzialisierung
Finanzinstrumente
Finanzkapitalismus
– angelsächsisches Modell
– billiges Geld
– Börsenkrach (1973)
– deutsches/japanisches Modell
– Entstehung ab 1890
– »finanzieller Herbst« (Theorie)
– Finanzrepression nach Bretton Woods
– globale Schulden
– Hilferdings Analyse des
– Imperialismustheorie Lenins
– Kriminalität und Korruption
– marxistische Theorie und
– neoliberale Deregulierung des
– Notwendigkeit der Vergesellschaftung
– Schattenbanksystem
– Unterdrückung nach 1930
– Unterdrückung nach dem Zweiten Weltkrieg
– Ziele des »Projekts Null« für die
Finanzkrise (2008)
– anschließende Krise
– Bankenrettung und quantitative Lockerung
– Reaktion der globalen Elite auf
– Rehabilitierung von Marx nach der
– Ursachen der
Finanzrepression
Florenz
Floridi, Luciano
Ford Motor Company
Ford, Henry
Foucault, Michel
Fourier, Charles
Fracking
Franco, Francisco
Frankreich
– Arbeiterbewegung in
– Front National
– Meuterei des Heeres (Mai 1917)
Frauen
– am Arbeitsplatz
– auf dem Arbeitsmarkt im Zeitraum 1771-1848
– Befreiung der
– Geburtenkontrolle und
– in der höheren Bildung
– Schikane gegen Frauen durch Internet-Trolle
Freeman, Richard
Freizeit
– Marx über die
– Vermarktlichung der
Freifeld, Mary
Fugger
Fukushima, Kernkraftwerk

Game of Thrones
»#Gamergate«-Kampagne
Gates, Bill
Gaza
geistiges Eigentum
Geithner, Tim
Geld
– Angebot
– billiges Geld
– digitale Systeme und
– Erhöhung der Geldmenge vor 2008
– Natur des
– neoliberale Illusionen in Bezug auf Spekulationserträge
– »Projekt Null« und
– quantitative Lockerung
– rechte monetäre Fundamentalisten
– Schöpfung durch die Banken
– Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus
– Vollreserve-System
General Motors
Generalstreik (1842)
Generalstreik (1926)
Genossenschaftsbanken
Gent
Genua (Republik)
Gesellschaftsvertrag in der Nachkriegszeit
Gezi-Park, Istanbul
Ginsborg, Paul
Gipfel von Kopenhagen (2009)
Glasgow
Glass-Steagall Act (1932)
globales Ungleichgewicht
Globalisierung
– Alternativlosigkeit der
– Gefahr der Entglobalisierung
– Gewinner und Verlierer der
– Konstruktionsfehler der
– Ungleichgewichte als Grundlage der
Glyn, Andrew
GNU
Goldman Sachs
Goldstandard
Goodrich, Carter
Google
Gordon, Robert
Gorz, André
Graeber, David
Gramsci, Antonio
Greenpeace
– Energie(r)evolution (Szenario)
Greenspan, Alan
Greggs, Filiale in Kirkcaldy
Grenada
Grenznutzentheorie
– Doktrin der »effizienten Märkte«
– Informationsökonomie und
– Sozialismus und
Griechenland
– Exarchia (Stadtteil von Athen)
– illegale Einwanderung und
– Jugendproteste
– Metaxas-Diktatur
– neoliberales Diktat
– Sparprogramm in
– Staatsschulden
– Syriza-Regierung
Großbritannien
– Abwertung des Pfund (1949)
– Arbeiterbewegung der dreißiger Jahre
– Aufstieg des Finanzkapitalismus
– Bergarbeiterstreik (1984/85)
– britisches Empire
– Entwicklung des Fabriksystems
– »Gesellschaftsvertrag« der Labour-Regierungen der siebziger Jahre
– Krise 1967-76
– Mitgliederschwund der Gewerkschaften
– Theorie des »finanziellen Herbstes« und
– urbane Landschaft
– Wirtschaftsaufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg
Gutenberg, Johannes
Guyana

Hamilton, Provinz Ontario


Hardt, Michael
Harvard Business Review
Hayek, Friedrich
Hazlitt, Henry
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich
Herbert, Frank
Herlihy, David
Hilferding, Rudolf
– Das Finanzkapital
– Tod
Hobsbawm, Eric
Hodgskin, Thomas
Hoggart, Richard
höhere Bildung
– Ausweitung nach dem Zweiten Weltkrieg
– Frauen in der
– Privatisierung der
– Studentenproteste (Ende der sechziger Jahre)
Holocaust
Hongkong
Hunter, Holland
Hurrikan Katrina (2005)
Husson, Michel

IBM
Ichiyo, Muto
Indien
Indignados (spanische Protestbewegung)
Indonesien
Industriekapitalismus
– Arbeitswerttheorie des
– Aufstieg in den BRIC-Ländern
– erste Fabrik in Cromford
– Frühzeit des
– Geschichte der Arbeit in den vier langen Zyklen
– Geschichte des (1771-1848)
– Geschichte des (1848-98)
– Geschichte des (1898-1948)
– Geschichte des (1948-89)
– Kinderarbeit
– klassische Ökonomie und
– Klimawandel und
– schrumpfende Erwerbsbevölkerung
– Schwerindustrie
industrielle Revolution
Inflation
– Anfang der zwanziger Jahre
– Beitrag zur Verringerung der Staatsschulden
– Preis- und Lohnpolitik der siebziger Jahre
– Stagflation der siebziger Jahre
– Wirtschaftsaufschwung nach 1945 und
Informationskapitalismus
– Arbeitswerttheorie und
– Entstehung des
– Grenznutzentheorie und
– »kognitiver Kapitalismus« und
– Vorwegnahme durch Marx
– siehe auch Informationsökonomie; Informationstechnologie; Netzwerkökonomie
Informationsökonomie
– aggregierte Daten unseres Lebens
– Allmendeproduktion
– Arbeitswerttheorie und
– »Ausschluss« zur Verteidigung des Eigentums
– Beseitigung der Notwendigkeit von Arbeit
– demokratische Kontrolle über die
– Externalitäten als Problem
– gesellschaftlicher Archetyp der
– gesellschaftliches Wissen
– globale Krise und
– »immaterielle Güter«
– Information als physisches Gut
– Karl Marx und
– Kollision mit dem Neoliberalismus
– Monopol als Gleichgewichtszustand
– »Netzwerkeffekt«
– Paul Romer und
– physische Güter und
– Prinzip des Überflusses
– Produktivität des Wissens
– Technobourgeoisie
– Theorie der langen Zyklen und
– Unvereinbarkeit mit dem Marktsystem
– utopischer Sozialismus und
– Verlust des sozialen Zusammenhalts und
– Wachstumsaussichten
– Zersetzung des Kapitalismus durch die
– Zusammenarbeit in der
– siehe auch Informationskapitalismus; Informationstechnologie, Netzwerkökonomie
Informationstechnologie
– 3G-Telekommunikationskonzerne
– als »gemeinsam nutzbar«
– als grundlegende Technologie des fünften Zyklus
– Betriebssysteme
– Bewegung für freie Software
– einschneidende Veränderungen durch
– Entwicklung unter dem Neoliberalismus
– exponentielle Preisrückgänge dank der
– frühe Computer
– »Internet der Dinge«
– Notebooks
– Null-Grenzkosten der Reproduktion
– Open-Source-Software
– Raubkopien und
– Software
– Supercomputer
– Tablets
– Unterschiede zu allen früheren Technologien
– Web 2.0
– Wirtschaftsmodelle
– siehe auch Informationskapitalismus; Informationsökonomie; Netzwerkökonomie
Informationstheorie
Infrastruktur
– asiatische Tigerstaaten und
– im öffentlichen Eigentum
– in Kondratjews Theorie
– Klimawandel und
– Planung
– Sparprogramme und
– Stalinismus und
Innovation und technologischer Fortschritt
– als endogener Faktor in der Wachstumstheorie
– Anti-Baby-Pille
– Arbeitswerttheorie und
– Erfindung des Transistors
– exponentielles Wachstum
– Fließband
– im zweiten langen Zyklus
– Information als Kerntechnologie des fünften Zyklus
– Markttheorie und
– nach dem Zweiten Weltkrieg
– Null-Preis-Dynamik und
– »Projekt Null« und
– Schumpeters Innovationszyklus
– seit der Krise von 2008
– staatliche Kontrolle im Zweiten Weltkrieg
– Theorie der langen Zyklen und
– Übergang zum Postkapitalismus und
Internationale Arbeitsorganisation (ILO)
Internationale Energieagentur (IEA)
Internationaler Währungsfonds (IWF)
Internet
– in China
– Internetprotokoll
– Zensur
Investitionszyklus
iPad
iPhone
iPod
Irak
Iran
– iranische Revolution (1979)
»Islamischer Staat«
Islamismus
Italien
– Entfremdung der Arbeiter nach dem Zweiten Weltkrieg
– Kommunistische Partei (KPI)
– Krise 1967-76
– revolutionärer Kampf nach dem Ersten Weltkrieg
– Studentenproteste Ende der sechziger Jahre
– Sturz Mussolinis
Israel
iTunes

Jameson, Fredric
Japan
– Abhängigenquotient
– Kern-Peripherie-Modell
– Manga-Version von Das Kapital
– Platzen der Immobilienblase (1990)
– Reallöhne in
– Spannungen mit China
– Staatsschulden
– Unterdrückung des Markts (ca. 1890-1914)
– Wirtschaftsblüte nach 1945
Jevons, William Stanley
J. P. Morgan
JSTOR (Website)
Juden

Kalter Krieg
Kanada
Kapitalismus
– Anpassungsfähigkeit des
– Bedeutung der »Außenwelt« für den
– Blüte nach dem Zweiten Weltkrieg
– chaotische Entwicklung nach dem Ersten Weltkrieg
– »Dahingleiten am Rand des Chaos« (Methode)
– Externalitäten und
– Geschäftsmodelle auf der Grundlage fossiler Energieträger
– Gorz über den
– Grenzen der Kommerzialisierung des Lebens
– Grenznutzentheorie und
– Kautskys Imperialismus-These
– Kommerzialisierung von Nicht-Marktaktivitäten
– Marx und
– massiver Aufschwung des (1890-1914)
– Max Webers »Geist des …«
– Monopole als Verteidigungsmechanismus
– Notwendigkeit der Vergesellschaftung
– Suche nach dem »Trendbruch«
– Theorie der Unterkonsumtion
– Übergang vom Feudalismus zum
– Unterdrückung des Marktes (ca. 1890-1914)
– »Vargas Gesetz«
– wissensgestützter
– Zeit vor der Existenz des
– siehe auch Theorie der langen Zyklen
Katz, Michael
Kautsky, Karl
Kealey, Gregory
Keen, Steve
Kelly, Kevin
Keynes, John Maynard
keynesianische Wirtschaftstheorie
Kinderarbeit
Kindle
Kindleberger, Charles P.
King, Mervyn
Klasse
– Bretton Woods und
– Feudalismus und
– Informationstechnologie und
– Grenznutzentheorie und
– Lösung des Wahlverhaltens von der Klassenzugehörigkeit
– Mittelschicht in den Entwicklungsländern
Klein, Judy
Klimawandel
– Beitrag der Luftfahrt zum
– »Blue Map Scenario« der IEA
– COP (Klimakonferenz in Paris, Dezember 2015)
– Emissionsmarkt
– Energiepolitik Deutschlands
– Leugnung des
– lokale Energiesysteme
– Marktmechanismen und
– Notwendigkeit der Unterdrückung der Marktkräfte
– »Projekt Null« und
– Selbstgefälligkeit der Elite angesichts des
Knappheit
Knudsen, Alfred
»kognitiver Kapitalismus«
kollaborative Produktion
Kolonialismus
– Eroberung und Plünderung Amerikas
– Kondratjews Theorie und
– Rosa Luxemburg über den
– Wettlauf um Kolonien
Kolumbus, Christoph
Kommunismus
– chinesische Revolution
– ehemals sozialistische Länder
– kommunistische Parteien Europas
– Übergang zum
– Zusammenbruch des
– siehe auch linke Politik; Marx; Marxismus; Sozialismus; Sowjetunion
Kondratjew, Nikolai
– 1. Zyklus (ab 1780)
– 2. Zyklus (ab 1849)
– 3. Zyklus (ab 1890)
– 4. Zyklus (ab Ende der 1940er Jahre)
– 5. Zyklus (ab Ende der 1990er Jahre)
– auslösende Ereignisse
– Die langen Zyklen der Konjunktur
– »Erschöpfung der Investitionen« (Theorie)
– Haft und Hinrichtung
– K-Welle (Wall Street)
– Marxismus und
– Methode
– Sluzkis zufällige Daten
– Sowjetunion und
– Ursachen der langen Zyklen
– Voraussage der Weltwirtschaftskrise ab 1930
– Zusammenfassung der Theorie von
Kooperativen
Korngesetze
Korotajew, Andrei V.
Kredit
– Fiatgeld und
– globales Ungleichgewicht und
– Kreditklemme im August 2007
– Marx über den
– »positives Geld« (Konzept)
– »Projekt Null« und
– Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus
– Vollreserve-System und
– siehe auch Finanzialisierung
Krisentheorie
kubanische Revolution

Labour Party, Großbritannien


Landauer, Rolf
Landwirtschaft
– feudale
– in den Kolonien
– in der Sowjetunion
– Klimawandel und
– Produktivität der
– Schrumpfung des Anteils der Arbeitskräfte in der
Lange, Oskar
Lapavitsas, Costas
Lateinamerika
Lawrence, D. H.
Lazonick, William
Lehman Brothers
– »Repo 105« (Taktik)
– Zusammenbruch (15. September 2008)
Leigh (Nordwestengland)
Lenin, Wladimir Iljitsch
– Theorie der »Arbeiteraristokratie«
– Was tun?
Libor-Zinssatz
Libyen
Linke
– Abneigung gegen die Auseinandersetzung mit der Sowjetunion
– antikapitalistische Bewegungen
– Idee der »Endkrise«
– in der Krise (1967-76)
– internationalistische Ausrichtung in den dreißiger Jahren
– Konzentration auf die Opposition
– nach dem Zweiten Weltkrieg
– Niederlage in der postindustriellen Ära
– Ökonomen der Neuen Linken
– Problem von Arbeiterselbstverwaltung oder Planung
– Theoretiker des »Niedergangs der Arbeiterklasse«
– Theorie der Unterkonsumtion
– Theorie des staatlichen Monopolkapitalismus
– Verzweiflung und
– Zerstörung in den dreißiger und vierziger Jahren
– siehe auch Kommunismus; Marx; Marxismus; Sozialdemokratie
Linux (Betriebssystem)
Logan, James
Löhne
– Anstieg in den Entwicklungsländern
– Anstieg nach dem Zweiten Weltkrieg
– Arbeitswerttheorie und
– Auswirkungen der Pest auf die
– Druck auf die
– Kürzungen in den zwanziger Jahren
– Mindestlohn
– Offshoring und
– Sparprogramme und
– Stagnation
– universelles Grundeinkommen
London
– Studentenrevolte 2010
– »vernetzte Individuen« in
Londoner U-Bahn
Lotta Continua
Luftfahrt
Luxemburg, Rosa
– Die Akkumulation des Kapitals
– Ermordung (1919)

Machteliten siehe Eliten


Macmillan, Harold
Magnus, George
Mainstream-Ökonomie
– als Pseudowissenschaft
– Angebot und Nachfrage
– Datenauswertung und
– Dotcom-Blase und
– Grenzen der
– Gründerväter der
– Information als Massengut
– klassische Ökonomie
– Klimawandel und
– Preismechanismus
– »rationaler« Markt und
– Wirtschaftsrechnung (Debatte)
– siehe auch Arbeitswerttheorie; Grenznutzentheorie; Neoliberalismus
Managementtheorie
Manchester
Marchetti, Cesare
Marcuse, Herbert
Markenwert
Marktrisiken
Marokko
Marshall-Plan
Marx, Karl
– Arbeiterklasse und
– Arbeitswerttheorie
– Das Kapital
– dialektische Methoden
– Drei-Phasen-Konzept der Geschichte
– gesellschaftliche Archetypen und
– Grundrisse
– Informationsökonomie und
– Konzept der Produktionsweise
– Konzept des »allgemeinen Verstands« (general intellect)
– Krisentheorie
– »Maschinenfragment«
– materialistische Betrachtung der Geschichte
– Mehrwert
– Rehabilitierung nach der Finanzkrise
– Theorie des durchschnittlichen Profits
– »Transformationsproblem«
– über das gesellschaftliche Wissen
– über die Arbeit
Marxismus
– Aktualisierung durch Hilferding
– Alexander Bogdanow und
– als revolutionäre Doktrin
– Arbeiterklasse und
– Grenzen des
– historische Epochen
– komplexe anpassungsfähige Systeme und
– Konzept der »relativen Autonomie«
– Krise von 2008 und
– Krisentheorie
– Theorie der langen Zyklen und
– Überproduktionskrisen und
– Wirtschaftsblüte nach 1945 und
McDonald's
McWilliams, Douglas
Medici
Melilla
Menger, Carl
Menschenhandelssysteme
Merkantilismus
Metaxas-Diktatur in Griechenland
Metcalfe, Robert
Mexiko
Microsoft
Migration
Milanovic, Branko
Mills, C. Wright
Minitel
Mirafiori-Fabrik Turin, Fiat
Mises, Ludwig von
Mitsui
Modelle, agentenbasierte
Moldawien
Mondragon (Kooperative, Spanien)
Monopole
– als Gleichgewichtszustand der Informationstechnologieökonomie
– als kapitalistischer Verteidigungsmechanismus
– Beseitigung der
Moulier-Boutang, Yann
Mussolini, Benito
MySpace

Nachhaltigkeit
Nachimson, Miron
Nahostkrise
National Security Agency (NSA)
– Massenüberwachung
Nato
Negri, Antonio
neoliberaler Kapitalismus
– Abhängigkeit von Überschussländern
– als nicht alternativlos
– Annahme, jede Krise könne bewältigt werden
– Anstieg der Profite ab etwa 1985
– Atomisierung und
– Beginn der Ära des
– Brutalität in Japan
– Doktrin und Prinzipien
– Entstehung des Informationskapitalismus
– Fiatgeld
– für die Durchsetzung zuständige Institutionen
– globale Ungleichgewichte
– Herbert Simons Modell
– Klimawandel und
– Liebe zur schöpferischen Zerstörung
– Mythos des passiven Staats
– Theorie der langen Zyklen und
– Ungleichheit und
– Unterdrückung der Demokratie durch den
– Unterdrückung der Innovation durch den
– Unvereinbarkeit mit der Informationsökonomie
– Verleugnung angesichts externer Schocks
– Versagen des
– Wachstum des Pro-Kopf-BIP (1989-2012)
– Zerschlagung der organisierten Arbeiterklasse
– Zusammenstoß mit der Netzwerkökonomie
– siehe auch Finanzialisierung
»Netzwerkeffekt«
Netzwerkökonomie
– Auswirkungen auf physische Güter
– Entstehung der
– »Externalitäten« und
– Gedächtnis und
– »geplante Modularität«
– Märkte und
– multiple Identitäten und
– Planung und
– Prägung des Begriffs durch Kevin Kelly
– Überlebensstrategien von Unternehmen
– Wohlwollen
– Yochai Benkler und
– Zusammenstoß mit dem Neoliberalismus
– siehe auch Informationskapitalismus; Informationsökonomie; Informationstechnologie
New Orleans
Nexus
Nickel
Niederlande
Niger
Nike
Nikon/Canon
Ningxia (Provinz, China)
Nixon, Richard
Nordkorea
Norwegen

Occupy-Bewegung
OECD
Offshoring
ökonomische Simulationen und Modelle
Oparin, Dmitri
OPEC
Open-Source-Bewegung
Orwell, George
– 1984
Osteraufstand, Dublin (1916)
Österreich
Oxford Martin School

Palmer, Bryan
Pareto, Vilfredo
Pariser Kommune (1871)
Patente
Patriotismus
Peer-to-Peer-Bewegung
Pendeln
Perez, Carlota
Peru
Pestepidemie (im 14. Jahrhundert)
Peterloo-Massaker (1819)
Pharmaindustrie
Philippinen
Piketty, Thomas
Pinochet, Augusto
Pirelli Bicocca, Mailand
Pisani, Florence
Planwirtschaft
– Arbeiterselbstverwaltung oder Planung
– im Zweiten Weltkrieg
– Theorie von Cockshott und Cottrell
Podemos
Polen
Popper, Karl
Portugal
Postkapitalismus
– Alexander Bogdanow und
– Befreiung des Einen Prozent
– die »gebildete universelle Person«
– gesellschaftlicher Archetyp des
– Herbert Simons Modell und
– Informationsasymmetrie und
– Kooperativen und
– modulares Projektdesign für
– offene Informationsstandards
– ökologische Nachhaltigkeit und
– Paul Romer und
– Peter Drucker und
– soziale Gerechtigkeit und
– Überfluss als Voraussetzung für
– Übergang zum
– »vernetzte Individuen« und
– siehe auch »Projekt Null«
Pratt & Whitney
Preobraschenski, Jewgeni
Pret a Manger
Privatisierung
Produktionsweise
»Projekt Null«
– als verteiltes Projekt
– aus früheren Fehlschlägen abgeleitete Prinzipien
– Beseitigung von Monopolen
– Dezentralisierung der Kontrolle
– Einsatz von Rechtsvorschriften und Ordnungspolitik
– Finanzsystem und
– Großunternehmen und
– Grundeinkommen, Vorschlag
– kollaborative Produktion und
– Kooperation und Teamarbeit
– menschliche Transition
– Notwendigkeit transparenter Signale
– Projektplan
– Rolle des Staates
– übergeordnete Ziele
– Unternehmertum statt wirtschaftlichen Renten
Protektionismus und Einfuhrzölle
Prudential
Putin, Wladimir

Quantitative Lockerung

Ratingagenturen
Reagan, Ronald
rechte Ökonomie
– Abschwung von 1973 und
– Bretton Woods und
– Fiatgeld und
– Vollreserve-System
– siehe auch neoliberaler Kapitalismus
rechte Politik
– amerikanische Rechte
– Demontage des keynesianischen Systems
– Ermordung von Rosa Luxemburg
– Faschismus
– in Frankreich
– Konservatismus der Arbeiterklasse
– Verwirklichung des Neoliberalismus
– siehe auch neoliberaler Kapitalismus
Rechtsvorschriften und Ordnungspolitik
Reed Elsevier
Reinhart, Carmen
Rheinisch-Westfälisches Kohlen-Syndikat
Ricardo, David
Rifkin, Jeremy
Robbins, Lionel
Robinson, Joan
Rohstoffpreise
Romer, Paul
Room at the Top (Braine)
Russland
– Ölpreise und
– Revolution von 1905
– Revolution von 1917
– Ukrainekrise
– Zarenreich
– siehe auch Sowjetunion

säkulare Stagnation
Samsung
Samuelson, Paul
Sarkozy, Nicolas
SAS Institute
Saudi-Arabien
Sbrancia, Maria Belen
Schattenbanksystem
Schlichter, Detlev
Schönheitschirurgie
Schottland
Schumpeter, Joseph
– Konjunkturzyklen
Schweden
Schweiz
Seltenerdmetalle
Sennett, Richard
Sex
Shaikh, Anwar
Shakespeare, William
Shanghai
Shannon, Claude
Shenzhen, China
Sillitoes, Alan
Simon, Herbert
Sklaverei
Sluzki, Jewgeni
Smart, William
Smartphones
Smith, Adam
– Der Wohlstand der Nationen
Sowjetunion (UDSSR)
– Arbeiterselbstverwaltung oder Planung
– Arbeitslager und Massenexekutionen
– Bürgerkrieg (1918-21)
– erster Fünfjahresplan (1928-32)
– »extensives Wachstum« in der
– Grundrisse und
– Kondratjew und
– »Kulaken«
– Landwirtschaft in der
– linke Opposition
– Luxemburg und
– Neue Ökonomische Politik (NEP, 1921)
– privilegierte Bürokratie
– »Sozialismus in einem Land«
– »Vargas Gesetz«
– zentrale Planwirtschaft in der
– Zerfall der
– zweiter Fünfjahresplan
Sozialdemokratie
– in Deutschland
– Linksruck im Zeitraum 1967-76
Soziale Gerechtigkeit
Sozialismus
– Aufstieg der Massenparteien
– gewaltsame Unterdrückung des Marktes durch den
– Gewerkschaftsobmänner und
– Grenznutzentheorie und
– Hilferding und der
– in der Belle Époque
– in Deutschland
– Luxemburg und der
– revolutionäre Periode (1916-21)
– »ricardianischer«
– Sozialisierungskommission in der Weimarer Republik
– und Debatte über die Wirtschaftsrechnung
– utopische Bewegungen
– siehe auch Kommunismus; Marx; Marxismus; Sowjetunion
Sozialmedizin
Sozialsysteme
– Abbau der
– in der Theorie der langen Zyklen
– Kürzungen nach dem Börsenkrach
– und das »Projekt Null«
– Zwang auf dem Arbeitsmarkt und
Spanien
– Franco-Zeit
Sparprogramme
Staat
– Einstellung der Linken zum Staat im 20. Jahrhundert
– Finanzierung der Innovation
– Geld als Maßstab des Vertrauens in den
– Klimawandel und
– Kontrolle der Innovation im Zweiten Weltkrieg
– kontrollierte Schuldenabschreibung und
– neoliberale Abhängigkeit vom
– neoliberale Einstellung zum
– Sozialausgaben vor 1975
– »staatlicher Monopolkapitalismus«
– Staatskapitalismus
– Übergang zum Postkapitalismus und
– Überwachung und
– Unterdrückung des Marktes durch den (1890-1914)
– wirtschaftliche Rolle im 19. Jahrhundert
Staatsschulden
– Alterung der Bevölkerung und
– Anstieg seit ca. 1970
– in den siebziger Jahren
– Notwendigkeit einer kontrollierten Abschreibung
– Rentensysteme und
– Zweiter Weltkrieg und
Stadtplanung
Stalin, Josef
Stalinismus
Stallman, Richard, »GNU-Manifest«
Standard & Poor's (S & P)
Standard Oil
Start-up-Unternehmen
Steuern
– Besteuerung des Außenhandels
– schrumpfende Steuerbasis
– Umweltsteuern
– Vermeidung von
Stiglitz, Joseph
Stockhammer, Engelbert
Südafrika
Südkorea
Summers, Larry
Supercomputer
Superlegierungen
Supermärkte
Sweezy, Paul
Syrien

Tafeln (Essensausgaben)
Taylor, Frederick Winslow
Teersande
Telegrafensystem
»Temporal Single System Interpretation«
Terrorangriff am 11. September 2001
Tesco
Texas, Republik
Thatcher, Margaret
The Economist (Zeitschrift)
The Life and Times of Rosie the Riveter (Field)
Thelwall, John
Theorie der langen Zyklen
– Drucker und
– Entwicklung durch Kondratjew
– gescheiterte Anpassungen
– Geschichte der Arbeit in den ersten vier Zyklen
– Information als zentrale Technologie des 5. Zyklus
– Konzept von »Agenten«/Klassen
– Krise von 2008 und
– Modell einer normalen Welle
– Schumpeter und
– Stillstand des 5. Zyklus
– Ursachen von langen Zyklen
– siehe auch Kondratjew, Nikolai
Thiam, Tidjane
Tianhe-2 (Computer)
Tokio
Tornado (Kampfflugzeug)
Tourre, Fabrice
Toyota
Transistor
Transition
– Cockshott und Cottrell (Theorie)
– externe Schocks
– vom Feudalismus zum Kapitalismus
– vom Kapitalismus zum Kommunismus
– zu erneuerbaren Energieträgern
– zum Postkapitalismus siehe auch »Projekt Null«
Transnistrien
Trotzki, Leo
– Arbeiterselbstverwaltung und
– Ermordung
Trotzkismus
Tschad
Turin
Turing, Alan
Türkei
Twitter
Typhoon (Kampfflugzeug)

Ukraine
Umweltschutz
Ungarn
Ungleichheit
– globale Zunahme der
– langfristige Entwicklung der
– neoliberaler Kapitalismus und
– Zunahme seit der Krise von 2008
United States Geological Survey
United States Steel Corporation
Unix (Betriebssystem)
Unterkonsumtion (Theorie)
US Envelope Company
utopische sozialistische Bewegungen

Vail, Theodore
Valencia
Varga, Eugen
Vereinigte Staaten (USA)
– als Kreditnehmer in der gegenwärtigen Krise
– Annexion von Texas (1845)
– Arbeiterbewegung der dreißiger Jahre
– Aufgabe des Goldstandards (1971)
– Aufhebung des Glass-Steagall Act (1999)
– Börsenkrach von 1929
– Bretton Woods und
– Dollar als Weltwährung
– Finanzialisierung
– Fluglotsenstreik (1981)
– Fracking
– Fracking-Industrie
– Gewerkschaften
– Hegemonie nach dem Zweiten Weltkrieg
– Krise 1967-76
– Marshall-Plan
– New Yorker Textilarbeiter
– Office of Scientific Research and Development (OSRD)
– Reallöhne
– Republikanische Partei
– säkulare Stagnation in den
– sinkender Anteil der Löhne am BIP
– staatliche Lenkung der Innovation im Zweiten Weltkrieg
– Staatsschulden
– Überwachung durch die NSA
– Ungleichheit in den
– Unterdrückung des Globalen Südens nach dem Zweiten Weltkrieg
– Unterdrückung des Marktes (1890-1914)
– Wirtschaftsaufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg
– Wirtschaftskrise nach dem Ersten Weltkrieg
Vereinte Nationen (UNO)
»vernetzte Individuen«
Versailles, Konferenz (1919)
Verstädterung
Verteilung
Victor Talking Machine Company
Videospiele, Entwicklung von
Vietnam
Vietnamkrieg
Virno, Paolo
vollkommener Wettbewerb

Währungssystem, internationales
– Abwertungspolitik
– Aufgabe des Goldstandards durch die USA
– Bretton-Woods-Regeln
– feste Wechselkurse
– frei konvertierbare Währungen
– Fremdwährungsreserven
– Goldbindung des Dollar
– Stabilität nach dem Zweiten Weltkrieg
walisische Bergarbeitergewerkschaft
Wall Street, Börsenkrach
Wallace, Alfred Russel
Walmart
Walras, Léon
Wark, McKenzie
Warsh, David
Web 2.0
Weber, Max
Wechselkurse siehe Währungssystem, internationales
Weimarer Republik
Wellenform
Wellman, Barry
Weltbank
Welthandelsorganisation (WTO)
Weltklimarat (IPCC)
Werbung und Marketing
Wien
Wiener, Norbert
Wikileaks
Wikipedia
Windows (Betriebssystem)
Wired (Zeitschrift)
Wirtschaftsblüte nach 1945
Wirtschaftskrisen
– Asienkrise von 1997
– Börsenkrach von 1929
– Einstellung der Grenznutzenschule zu
– Globalisierung und
– kurze, wiederkehrende Krisen der sechziger Jahre
– »Lange Depression« ab 1873
– marxistische Krisentheorie
– neoliberale Annahmen zu
– »Profitklemme« vor 1973
– Rezession ab 1980
– Rezessionen nach 1970
– Schumpeters Konzept der »schöpferischen Zerstörung« und
– »Vargas Krisengesetz«
– Weltwirtschaftskrise nach 1930
– Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg
– Zeit vor dem Ersten Weltkrieg
Wirtschaftsrechnung, Debatte über
wissenschaftliche Betriebsführung
wissenschaftliche Methode
World Wide Web

Xi Jinping

Yeats, William Butler


Yellen, Janet

Zentralbank
– Bank of England
– Europäische Zentralbank (EZB)
– Federal Reserve Bank
Zhou Yongkang
Zinsen
– Anfang der achtziger Jahre
– Anfang der zwanziger Jahre
– Finanzrepression und
– Kondratjew und
– Marx und
– nach dem Zweiten Weltkrieg
– Subprime-Hypotheken in den USA
Zirel, Sergej V.
Zölle und Protektionismus
Zufallszahlen
Zweiter Weltkrieg
– Nachkriegsaufschwung
– Staatsschulden nach dem
– staatliche Kontrolle über die Innovation während des Kriegs
Zypern

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