Verschiedene: Die Gartenlaube (1889) | |
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Er erinnerte sich ganz genau, daß sein Vater einmal der ihn
strafenden Erzieherin gesagt hatte: „Unterscheiden Sie wohl zwischen
den wirklichen Unarten, die schlechten Instinkten entspringen, und
den Scheinunarten, die aus dem Beschäftigungstrieb des erfinderischen
Kindergeistes kommen!“
Und all sein Thun jetzt? Was war es denn mehr als ein ungleicher Thätigkeitsdrang, ein Trieb, sich geistig zu rühren, ohne reife, feste und streng geregelte Form? Aus dem kleinen, unfertigen Menschen mit den ahnungsvoll umhersuchenden Gedanken war ein großer unfertiger Mensch geworden, der ganz gerade so wie der kleine einst auch immer nach Neuem suchte, den Tag auszufüllen.
Alfred seufzte tief auf.
„Was hast Du, Papa?“ fragte Sascha.
„Ich habe Dich, mein Kind!“ rief Alfred plötzlich laut und heftig aus. Er schloß den Knaben an seine Brust. Ja, da war sie endlich, die ausfüllende Aufgabe, nach der er immer gesucht. Diese junge Seele zu überwachen und zur Reife zu bringen, das war es, was ihm ein Gefühl vollkommener Zufriedenheit geben mußte.
Es ist eine Errungenschaft der neueren Medizin, daß sie vermittelst der verfeinerten Untersuchungsmethoden, welche der Wissenschaft gegenwärtig zur Verfügung stehen, krankhafte Vorgänge im Organismus früh im Beginn zu entdecken und zuweilen schon ganz geringe Veränderungen im Getriebe des menschlichen Stoffwechsels nachzuweisen vermag. Der Laie pflegt sich halb im Scherze, halb im Ernste darüber verwundert auszudrücken: „Die Aerzte erfinden immer neue Krankheiten!“ Nun, mit diesem „Erfinden“ hat es seine guten Wege. Die Krankheiten haben wohl so ziemlich von jeher bestanden, nur vermögen sie sich jetzt nicht mehr so lange der ärztlichen Beobachtung zu entziehen wie früher, als die Hilfsmittel zur Krankheitserkenntniß ungenügende waren. Physikalische und chemische Instrumente, das Mikroskop und Reagensglas, das Hörrohr und der Spiegel, die Untersuchung am Gesunden wie das Experiment am Thiere müssen jetzt herhalten, um die Krankheitskeime in ihren sichersten Schlupfwinkeln zu entdecken, um jede Abweichung vom gesunden Zustande aufs rascheste festzustellen.
Zu den krankhaften Zuständen, deren Erkenntniß gegenwärtig bereits in den frühesten Stadien ermöglicht ist, und deren Vorkommen schon darum jetzt ein viel häufigeres zu sein scheint als früher, gehört auch die Zuckerkrankheit (Diabetes), eine Stoffwechselveränderung, welche viel Interesse bietet, obgleich ihr Wesen noch nicht ganz aufgeklärt erscheint.
Zucker wird bekanntlich als Nahrungsstoff dem menschlichen Organismus zugeführt und zwar in den verschiedenen Formen des Rohrzuckers, Traubenzuckers, Malzzuckers, Milchzuckers, Fruchtzuckers. Er bildet sich aber auch im Körper selbst und zwar beim Verdauungsprozesse im Darmkanale durch Zersetzung der stärkehaltigen Nahrungsmittel, ferner in der Leber durch Umwandlung eines zuckerbildenden Stoffes (des Glykogens). Der eingeführte wie der auf die bezeichnete Art erzeugte Zucker wird normalerweise im Organismus ganz verbrannt und giebt schließlich Kohlensäure und Wasser. Durch krankhafte Verhältnisse des Stoffwechsels kann es aber geschehen, daß dieser kostbare Brennstoff, der Zucker, nicht seiner Bestimmung gemäß verwerthet, sondern auf dem natürlichen Wege ausgeschieden wird, und jene Allgemeinerkrankung, bei der es zur Zuckerausscheidung kommt, wird als Zuckerkrankheit bezeichnet.
In welcher Weise die abnormen Vorgänge zustande kommen, ist noch nicht völlig klar; aber sichergestellt ist, daß dieselben durch eine große Reihe von Ursachen verschuldet werden können. In erster Linie stehen dabei krankhafte Nervenbeeinflussung durch Verletzungen und Erkrankungen des Gehirnes und Rückenmarkes, sowie durch anhaltende ungünstige psychische Eindrücke, durch Kummer, Gram, Angst, Schreck. Experimente am Thiere haben nachgewiesen, daß durch Verletzungen, welche an bestimmten Stellen des Gehirnes, am Boden des untern Theiles der sogenannten Rautengrube, beigebracht werden, sowie nach Durchschneidung gewisser Nervenbahnen sich künstlich Zuckerkrankheit erzeugen läßt; und einzelne Untersuchungen an, Personen, welche durch Unfälle Gehirnverletzungen erlitten hatten, bestätigten den Thierversuch. Häufig ist der Ausgangspunkt der Krankheit eine deutlich nachweisbare erbliche Anlage, und in manchen Familien sind mehrere Geschwister oder andere blutsverwandte Mitglieder zuckerkrank. Es vererbt sich diese Anlage zuweilen unmittelbar von den Eltern auf die Kinder, zuweilen überspringt sie eine Generation und tritt erst wieder bei den Enkeln zu Tage. Häufig habe ich die Beobachtung gemacht, daß in gewissen Familien ein durch erbliche Anlage vermittelter Zusammenhang von übermäßiger Fettleibigkeit und Zuckerkrankheit besteht, und zwar derart, daß einige Familienmitglieder, die schon in der Jugend sehr starke Fettentwicklung aufwiesen, zwischen dem 30. und 40. Lebensjahre zuckerkrank wurden, oder daß bei einigen Individuen derselben Familie sich Fettsucht, bei anderen aber die Zuckerkrankheit entwickelte. Hochgradig fette Personen werden in auffallend vielen Fällen zuckerkrank.
Nicht ohne Einfluß auf das Zustandekommen der Zuckerkrankheit scheint die Diät zu sein, besonders der übermäßige Genuß von stärkehaltigen Nahrungsmitteln, von Mehlspeisen und Süßigkeiten. Die außerordentlich viel Zucker schleckernden Südländer haben große Neigung, zuckerkrank zu werden. Vielleicht ist in diesem Umstande auch der Grund gelegen, daß die Zuckerkrankheit ganz bedeutend häufiger bei Wohlhabenden auftritt als in den ärmeren Schichten der Bevölkerung. Hingegen stimmt mit dieser Annahme nicht die durch Erfahrung festgestellte Thatsache, daß dreimal so viel Männer als Frauen zuckerkrank werden, während doch zweifelsohne das schöne Geschlecht mehr Vorliebe für Naschen von Süßigkeiten besitzt. Es spielen übrigens individuelle und Stammesverhältnisse, klimatische Eigenthümlichkeiten u. s. w. eine nicht klar gelegte, aber doch nicht zu unterschätzende Rolle. Auffällig ist beispielsweise die große Verbreitung der in Rede stehenden Krankheit unter den Israeliten.
Die Zuckerkrankheit ist zumeist ein langsam sich entwickelndes, schleichend auftretendes Leiden. Das erste und auffallendste Symptom ist in der Regel ungewöhnlich vermehrte Harnabsonderung, sowie heftiger, schwer zu stillender Durst. Es sollte dieses Zeichen immer ein Wink sein, die Absonderung behufs Nachweisung von Zucker chemisch untersuchen zu lassen. Denn erst viel später treten auffallende äußere Erscheinungen ein, welche mit der Grundkrankheit in Verbindung stehen: die Gesichtsfarbe wird gelblich, der Gesichtsausdruck erscheint gealtert, ängstlich bekümmert, die Haut wird trocken, faltig, zuweilen tritt heftiges Hautjucken ein oder die Bildung von Hautschwären. Dem Durste gesellt sich oft das Gefühl von Heißhunger zu; dabei magern die Kranken sichtlich ab, sind schwach und matt, fühlen sich elend, zur Arbeit unfähig, bei jedem Anlasse leicht gereizt und erregt. Bei längerer Dauer können sich die verschiedensten Organerkrankungen anschließen, welche zuletzt das Leben in Gefahr bringen.
So weit braucht es aber mit der Krankheit nicht zu kommen. Viele Fälle erfahren, wenn das Leiden im Beginn erkannt und rechtzeitig geeignet behandelt wird, so bedeutende Besserung, daß durch eine lange Reihe von Jahren behagliches Wohlbefinden herrscht, ja es kann auch wirkliche Heilung erzielt werden.
Das diätetische Heilverfahren, das heißt die Anordnung der für den Einzelfall geeigneten Ernährungsweise sowie der passenden Art der Lebensführung, feiert bei der Zuckerkrankheit die größten Triumphe. Der Diätetik fällt hier vor allem die Aufgabe zu, zur Ernährung solche Nahrungsstoffe zu wählen, aus denen gar kein oder nur sehr wenig Zucker im Organismus gebildet wird. Nun wissen wir, daß solche Zuckerbildner besonders alle stärkehaltigen Pflanzentheile (Getreidekörner, Hülsenfrüchte, Wurzelknollen, Kastanien) und der Zucker selbst sind. Sie müssen daher vom Tische jedes zuckerkranken möglichst verbannt werden. Die Durchführung dieses Verbotes hat aber große Schwierigkeiten, und auf die Dauer verträgt niemand eine ausschließliche Fleischkost. Am schwersten entbehren begreiflicherweise die Zuckerkranken das Brot, das uns von Jugend auf als eines der täglichen Bedürfnisse am
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 298. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_298.jpg&oldid=- (Version vom 29.3.2020)