Verschiedene: Die Gartenlaube (1884) | |
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Haar. „Gieb das Else, und mach’ Dich dann zurecht.“ Sie schob ihr den Brief hin.
„Willst Du gleich reisen, Tante? Soll ich es Else sagen?“
„Else?“ Sie fuhr aus den Kissen empor. „Was geht mich Else an!“ rief sie mit lauter Stimme. „Wer Wind säet, wird Sturm ernten! Undankbarkeit und Starrsinn hasse ich bis in den Grund meiner Seele!“
„Tante!“ schrie Lili auf, zum Tode erschrocken über den Ausdruck des Frauengesichtes.
„Geh’!“ rief die alte Dame, „in einer Stunde reisen wir!“
Das Mädchen stand zitternd vor Else, die eben ihre blonden Zöpfe aufsteckte. „Lies,“ sagte sie, „o mein Gott, Tante ist so böse, so böse.“
Die kleine Mädchenhand ließ die schweren Flechten fallen und griff nach dem Papier.
„Meine gnädige Frau!
In aller Eile; — der Brief soll noch mit dem Postzuge
gehen. Ich bitte Sie, meiner Nichte in meinem Namen die
Freiheit zurückzugeben. Das Andere mündlich — später.
Ihr ergebenster
H. von Hegebach.“
Einen Moment hob sich des Mädchens Brust wie befreit von einem furchtbaren Druck. Dann schlug sie die Hände vor das Gesicht, und ein Zittern lief über ihre Gestalt.
„Else! Else!“ rief Lili, und umschlang sie; aber sie machte sich los und faßte die Klinke zu Frau von Ratenow’s Zimmer. Da war die Thür verschlossen.
„Bist Du es, Lili?“[1] fragte die alte Dame.
„Nein, Else ist es, Tante!“ rief sie flehend.
Es blieb still drinnen.
„Tante!“ schluchzte das Mädchen halb erstickt.
Wieder keine Antwort. Man hörte nur Schritte und das eilfertige Rüsten zur Abreise.
„Tante, ein Wort!“ Ihre Hand zerrte und riß an der Thür wie in Todesangst. Vergebens. Da wandte sie sich um, einen Augenblick verharrte sie regungslos, die starren Augen zum Fenster gewandt; dann sah sie Lili an; es war, als wollte sie lächeln, aber die Thränen stürzten ihr dabei aus den Augen; die ganze Wucht des Verlassenseins überkam sie in diesem Augenblick. Nun hatte sie wirklich nichts mehr auf der Welt. —
Eine Stunde später schritt Frau von Ratenow an Lili’s Arm, den Zug erwartend, auf dem Perron des Bahnhofes mühsam auf und ab. Die alte Dame hatte Schmerzen, man sah es an dem fest zusammengepreßten Munde; es war ihr nicht gut, sie hätte weinen mögen, wenn sie allerwege zu weinen überhaupt im Stande war. Sie hatte nur einmal geweint; das war nicht, als sie ihren Mann in die Grube legte, das war, als sie einst ein kleines schreiendes Kindchen von der todten Mutter hinweg in ihre Arme nahm. „Ach was, es hat noch niemals Dankbarkeit gegeben in der Welt!“ Und sie begann zu schelten auf den Zug, der so lange blieb, auf den Kellnerjungen, der sie so angaffte, auf den niederträchtigen Kaffee in der Pension und auf ihren schmerzenden Kopf, und Lili ging still neben ihr mit einem jammervollen Gesicht und verweinten Augen, und sie wandte sich so oft als möglich nach dem spitzen Giebelhause zurück hinter den maigrünen Bäumen, als müsse sich dort ein Fenster öffnen und ein Mädchenkopf herauslugen, um mit sehnsüchtigen Augen herüberzuschauen.
„Nichts weiter mehr hab’ ich bergab und bergan,
Als zwei braune Augen, daß weinen ich kann —.“
Die Worte, die Else einst gesungen, sie wollten Lili nicht aus dem Sinn heute. Und dann kam der Zug. —
In den letzten vier Jahren zogen Kriegsschiffe der französischen Marine auf Eroberungen aus, um welche sie die ganze civilisirte Welt beneidete, denn sie sollten Gebiete aufschließen, in welche bis jetzt kein Sterblicher gedrungen war und welche seit uralten Zeiten die Mythologien der Völker und die Phantasie der Dichter mit den Wundern und Ungeheuern der Sage bevölkerten. Unter der Leitung Gelehrter steuerte viermal ein Dampfer in die weite See hinaus, um die Tiefen des Oceans zu ergründen, das Geheimniß zu erforschen, welches die See birgt auf ihrem tiefsten Grunde.
Der berühmte Zoologe Alph. Milne-Edwards hat diese Expeditionen in’s Leben gerufen. Mit dem kleinen Raddampfer „Le Travailleur“ durchquerte er in den Jahren 1880, 1881 und 1882 den Meerbusen von Biscaya, einen Theil des Mittelländischen Meeres und den offenen Ocean von Frankreichs Gestaden bis zu den Canarischen Inseln. Ueberall warf er seine Netze aus und hob ungeahnte Schätze, neue Thierformen, welche Niemand kannte. Der Erfolg seiner Untersuchungen war so überraschend, daß die französische Regierung kein Bedenken trug, dem ausgezeichneten Forscher und seinen Freunden im vorigen Jahr Mittel an die Hand zu geben, mit welchen sie eine neue großartige Expedition ausrüsten konnten.
Ein vorzüglicher Schraubendampfer, der „Talisman“, wurde den Gelehrten zur Verfügung gestellt und mit allen den Apparaten versehen, welche zur Tiefseeforschung nach den gesammelten Erfahrungen nöthig erschien. An Stelle der alten Hanfseile zum Aufziehen der Schleppnetze traten starke biegsame Stahlkabel, welche ein Gewicht von circa 4500 Kilogramm tragen konnten, Dampfmaschinen wurden zum Niederlassen und Heraufziehen der Netze eingerichtet, besondere Apparate für Lothungen und Messungen der Temperatur der Tiefe construirt; eine elektro-dynamische Maschine befand sich an Bord, mit deren Hülfe die Edisonlampen unter den Wogen des Meeres den Grund erhellen sollten.
So ausgerüstet, stach der „Talisman“ am 1. Juni 1883 in See, um diesmal das Meer längs der afrikanischen Küste bis zum Senegal, dann die Gewässer bei den Capverdischen und Canarischen Inseln und bei den Azoren zu untersuchen. Drei Monate lang dauerte die Reise, und wiederum war ihr Erfolg geradezu überraschend.
Ueber die ungeheueren Tiefen des Meeres herrschen unter den Laien die wunderbarsten Begriffe. Versuchen wir dieselben ein wenig zu klären und unsern Lesern gleichzeitig eine Vorstellung zu ermöglichen von den großen Schwierigkeiten, mit welchen die Tiefseeforschung verbunden ist.
Es klingt so unverständlich die Mittheilung, daß die Forscher eine Tiefe von 6000 Metern ergründet, oder daß sie Schleppnetze in Tiefen von 4000 bis 5000 Metern ausgeworfen haben, denn schwer nur kann man sich diese Zahlen verkörpern. Ein Blick auf die Zeichnung an der Spitze unseres Artikels wird Jedem die Bedeutung dieser Zahlen verständlich machen. Links am Rande des Bildchens erbebt sich ein schematisch gezeichneter Bergkegel, er soll die bekannteste Bergspitze Deutschlands, den Brocken, darstellen, dessen Höhe bekanntlich 1143 Meter beträgt. Wie klein ist aber diese Höhe im Vergleiche zu der angedeuteten Meerestiefe von 6265 Metern, welche das Loth des „Talisman“ unter dem 25° nördlicher
- ↑ WS: In der Vorlage fehlt das Hochkomma
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 241. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_241.jpg&oldid=- (Version vom 7.3.2024)