Frank Bösch / Thomas Hertfelder / Gabriele Metzler (Hgg.): Grenzen des Neoliberalismus. Der Wandel des Liberalismus im späten 20. Jahrhundert (= Zeithistorische Impulse; Bd. 13), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2018, 371 S., 2 s/w-Abb., 6 Tbl., ISBN 978-3-515-12085-2, EUR 64,00
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Die Rückkehr des Staates, wie sie allenthalben im Zuge der anhaltenden Finanzkrise seit 2008 zu beobachten ist, beschäftigt längst die Zeitgeschichtsforschung. Seit gut eineinhalb Jahrzehnten versteht sich die Zeitgeschichte auch als eine Vorgeschichte der Gegenwart und sucht intensiv nach den tieferen Ursachen und Auswirkungen jenes Strukturbruchs, der unsere Gegenwart prägend einleitete. In dem hier zu besprechenden Sammelband verbindet sich die Ursachenforschung mit einer noch zu schreibenden Geschichte des Liberalismus im 20. Jahrhundert. Nach dem gängigen Narrativ ging die Zeit des keynesianisch geprägten Booms und der wohlfahrtsstaatlichen Konsensideologie in den 1970er Jahren zu Ende und wurde von einer neoliberalen Ideologie des Marktes abgelöst. Für viele ist der Neoliberalismus nicht nur ursächlich für die Finanz- und Schuldenkrise, sondern auch für Wohnungsnot und Immobilienpreise, den wachsenden Populismus und den Klimawandel.
Umso spannender wirkt die erkenntnisleitende Fragestellung der politik-, sozial-, ideen- und wirtschaftsgeschichtlichen Beiträge des Bandes, die sich mit den sprichwörtlichen "Grenzen des Neoliberalismus" beschäftigen und die Wechselbeziehung von Staat und Wirtschaft seit den 1980er Jahren hinterfragen. Wie sehr eine moderne Geschichte des Liberalismus im 20. Jahrhundert Not tut, zeigen bereits die einleitenden Ausführungen der Herausgeber. Ausgehend von den semantischen Veränderungen seit den 1960er Jahren, machen sie vor allem eine Zuspitzung auf die Begriffe neo- und linksliberal aus, während der allgemeine Begriff des Liberalismus seltsam in der Schwebe geblieben sei. Dennoch erscheint Neoliberalismus, obgleich eine inzwischen weitverbreitete Kampfvokabel, den Herausgebern angesichts seines vermeintlichen Siegeszuges in den 1980er Jahren als analytischer Begriff weiterführend.
So widmet sich Frank Bösch zunächst der Sprache der marktliberalen britischen Tories und der ökologischen Politik der deutschen Grünen als typischen Krisenkindern der 1970er Jahre und stellt fest, dass beide eine dominante "Melange aus Marktwirtschaft und Ökologie" hervorgebracht hätten (60). Wencke Meteling wiederum kommt in ihrem Beitrag zur Presserezeption der Wirtschaftspolitik Margaret Thatchers zu dem Befund, dass diese insgesamt keinesfalls per se als nachahmenswert eingestuft wurde und vielfacher Kritik auf beiden Seiten des Ärmelkanals ausgesetzt gewesen sei. Ähnliches gilt für die Wirkmächtigkeit jener "young urban professionals" der Finanzmärkte, die als popkulturelle Repräsentanten des Thatcherismus schlechthin gelten. Auch die Yuppies, so zeigt Sina Fabian, spielten jenseits der Filmleinwände keine nachhaltig prägende Rolle in der Bundesrepublik der 1980er Jahre.
Scheinen die medialen wie kulturellen Grenzen des Neoliberalismus demnach sehr eng gesteckt gewesen zu sein, so zeigt Dierk Hoffmann am Beispiel des Wirtschaftsliberalismus der Grünen, wie sehr es noch weiterer Detailforschungen zu einzelnen wirtschafts- und sozialpolitischen Bereichen bedarf, um eindeutige Ergebnisse über die Reichweite marktliberalen Denkens zu erzielen. Gerade die Grünen hätten beispielsweise in der Rentenpolitik einen langen Weg von einem Konzept der Grundsicherung hin zu einer teilweise privaten Vorsorge zurückgelegt.
Mit der Entstaatlichung greift der Beitrag von Thomas Handschuhmacher einen Klassiker der neoliberalen Idee eines schlankeren Staates auf. Dem Aufsatz geht es dabei jedoch weniger um konkrete politische Maßnahmen als vielmehr um den Debattengang rund um Privatisierung und Deregulierung. Dem Autor gelingt es dabei, den diskursiven Dreiklang, bestehend aus der Diagnose einer schweren Krise der Sozialen Marktwirtschaft, der Revitalisierung ordoliberaler Wurzeln als Lösungsansatz sowie der Revision wirtschaftstheoretischer Annahmen aufzuzeigen, der die Politik der Entstaatlichung als neoliberales Projekt kennzeichnete.
Wie bei den übrigen Beiträgen auch, so vermisst man jedoch das zeitgenössische Alternativmodell zur "Schlankheitskur für den Staat", etwa in Form der Idee einer "gelenkten Marktwirtschaft", wie sie im "Orientierungsrahmen '85" oder in der "Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik" ab Mitte der 1970er Jahre diskutiert wurde. Auch die mitunter scharfen Auseinandersetzungen in der Union oder in den Ministerien bleiben letztlich ohne Einblicke in das Aktenmaterial nur im Ungefähren. In jedem Fall aber deutet Handschuhmachers Beitrag an, was auch Peter Beule [1] zuletzt unterstrichen hat: dass von einer neoliberalen Ära in der Bundesrepublik kaum die Rede sein kann.
Zu einer fundamentalen Wende kam es nämlich auch in der Steuerpolitik nicht, wie Marc Buggeln nachweisen kann. Zwar wurde die Ausgabenquote gesenkt, die Staatsverschuldung nahm gleichwohl weiter zu. Schließlich blieb auch die schwarz-gelbe Regierung um die sogenannte soziale Symmetrie bemüht. Vielmehr, so Buggeln, handelte es sich unter Schwarz-Gelb um eine Rückkehr zu den klassischen Werten des Liberalismus, der katholischen Soziallehre und des Ordoliberalismus, kurz zu einer Rückkehr der soliden Haushaltsführung nach einer etwa zehnjährigen keynesianischen Party. Ein wirklicher Rückzug des Staates, so auch Ralf Ahrens über die Industriepolitik, wurde in den 1980er Jahren kaum vollzogen. Vielmehr erkennt er eher die Züge eines US-amerikanisch geprägten Konsensliberalismus von liberaler Marktordnung und staatlichen Interventionen gleichermaßen.
Das ist insofern bedeutsam, da damit auch die vorschnellen Urteile zur Finanzkrise als direktes Resultat eines vermeintlich ungezügelten Marktradikalismus mit dicken Fragezeichen zu versehen sind. Einen solchen Zusammenhang stellt lediglich Philipp Ther mit Blick auf Ostmitteleuropa nach 1989 her und kritisiert auf Deutschland bezogen vor allem die allzu hastige Privatisierung durch die Treuhand, ohne freilich den politisch schwierigen Gesamtzusammenhang der Wiedervereinigung zu berücksichtigen. Dass etwa die enormen Transfer- und Sozialleistungen in die neuen Bundesländer alles andere als Belege für die von ihm erkannten marktradikalen "Schocktherapien" (8) gelten können, geht ebenso unter, wie die Frage, ob die Wirtschaftsreformen Gerhard Schröders oder nicht vielmehr das Schüren illusionärer Hoffnungen, ein grundsätzlich fehlgeleitetes Anspruchsdenken oder ein mangelhaftes Demokratie- und Wirtschaftsverständnis ursächlich für den Aufstieg populistischer Strömungen waren.
Im Abschnitt "linksliberale Ikonen" behandelt Thomas Hertfelder Ralf Dahrendorfs Zeitdiagnostik in Richtung eines Dritten Weges und Jacob S. Eder Hildegard Hamm-Brüchers Hadern mit dem Sozialliberalismus und der parteipolitischen Orientierung der FDP. Wenngleich es sich auch hier um lesenswerte Beiträge handelt, so wären mit Blick auf die Fragestellung aber wohl Betrachtungen zu Otto Graf Lambsdorff, Lothar Späth oder Kurt Biedenkopf vielversprechender gewesen. Ähnliches gilt für die Beiträge Gabriele Metzlers zur inneren Sicherheit und Larry Frohmans zum Datenschutz. Beide behandeln das für eine Geschichte des Liberalismus generell konstitutive Spannungsverhältnis zwischen Sicherheit und Freiheit. Für die "Grenzen des Neoliberalismus" bieten sie hingegen weniger an, außer der Erkenntnis, dass bei genauerer Betrachtung auch in Fragen der Sicherheit und des Datenschutzes von einem Laissez-faire bis heute nicht die Rede sein kann.
Insgesamt handelt es sich um einen informativen, weiterführenden Band, der wichtige Fragen für zukünftige Forschungen aufwirft. Beispielhaft seien hier der europäische Rahmen bzw. der europäische Druck in Richtung Privatisierung und Deregulierung im Zuge des sich entwickelnden Binnenmarktes in den 1990er Jahren, der wirtschaftswissenschaftliche Beratungshintergrund der federführenden Wirtschaftsinstitute und die letztlich doch fehlende konzeptionelle Einordnung in das Modell der Sozialen Marktwirtschaft genannt.
Obwohl längst ein politischer Kampfbegriff, erweist sich der Neoliberalismus als wichtige analytische Kategorie im Sinne einer marktliberalen Ordnung ohne überbordenden normativen Überschuss. Der Chimäre Neoliberalismus wird auf diese Weise das vermeintlich Ungeheuerliche genommen. Vielmehr erscheint das dahintersteckende wirtschaftspolitische Modell als erprobtes Korrektiv zu einem sich aktuell wieder andeutenden neuen Merkantilismus.
Anmerkung:
[1] Peter Beule: Auf dem Weg zur neoliberalen Wende? Die Marktdiskurse der deutschen Christdemokratie und der britischen Konservativen in den 1970er Jahren (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien; Bd. 180), Düsseldorf 2019.
Andreas Rose