Veronika Nickel: Widerstand durch Recht. Der Weg der Regensburger Juden bis zu ihrer Vertreibung (1519) und der Innsbrucker Prozess (1516-1522) (= Forschungen zur Geschichte der Juden. Abteilung A: Abhandlungen; Bd. 28), Wiesbaden: Harrassowitz 2018, XIV + 421 S., 8 s/w-Abb., ISBN 978-3-447-11122-5, EUR 72,00
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Veronika Nickel zeichnet in ihrer als Dissertation entstandenen Studie die Vorgänge um die Vertreibung der Regensburger Juden von 1519 nach, einer der letzten großen Vertreibungen jüdischer Gemeinden in der Phase des Übergangs vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit. Zudem geht sie auf den sogenannten Innsbrucker Prozess ein, in dem die Regensburger Juden gegen die Stadt Regensburg klagten, um die Vertreibung rückgängig zu machen.
Nickel greift auf Quellen des Tiroler Landesarchivs sowie auf Bestände des Regensburger Stadtarchivs und des Münchener Hauptstaatsarchivs zurück. Dabei bezieht sie für ihre Analyse die Originale vieler einschlägiger Quellen ein, die in älteren Quelleneditionen nur stark gekürzt ediert sind. Zusätzlich erschließt sie bislang völlig unbekannte Archivalien. Fraglich erscheint, warum sie nicht auch Quellen des Bestandes "Maximiliana" des Haus-, Hof- und Staatsarchives in Wien konsultierte.
Erkenntnisleitend für die Analyse des Materials ist für die Autorin die Frage, wie sich in einer Phase, in der viele jüdische Gemeinden von Vertreibungen bedroht waren, ein derartiger Prozess entwickeln konnte. Diese Frage ist in der Tat interessant, da die Juden zwar nicht die Rückkehr in ihre Heimatstadt, aber eben doch erhebliche Prozesserfolge erzielen konnten. Nickel fragt daher gezielt nach den Handlungsoptionen der Juden, die sie ausloten möchte.
Um gerade für Gerichtsprozesse die notwendige Kontextualisierung und damit einen Beitrag zur Entstehung des Prozesses zu leisten, schildert Nickel einleitend die Situation der Judengemeinde bis zum Jahr 1500, als die Spannungen zwischen Stadt und Gemeinde offen ausbrachen. Sie geht dabei auf die grundlegenden Rechtsverhältnisse der Regensburger Juden als Stadtbewohner mit Bürgerrecht ein und schildert deren Stellung als kaiserliche Kammerknechte mit städtischen Schutzbriefen sowie die Umstände ihrer mehrmaligen Verpfändungen. Eine detaillierte Schilderung der finanziellen Verpflichtungen der Regensburger Juden schließt sich diesen Ausführungen ebenso an wie eine Darstellung ihres Gerichtsstandes. Ergänzt wird dies durch die Darstellung des Wirtschaftslebens jüdischer Bürger in Regensburg. Auf innerstädtische Konflikte und solche zu den umliegenden Landesherrschaften geht die Autorin dagegen nur am Rande ein. Gleichwohl zeichnet Nickel auf diese Weise das für das Mittelalter und vor allem die Frühe Neuzeit bekannte Bild sich überlagernder Rechtsverhältnisse und -sphären jüdischer Bewohner einer Stadt- oder Territorialherrschaft nach. Auf diese Weise kann sie die jüdische Gemeinde in Regensburg als eine der vielen Privilegiengemeinschaften innerhalb einer Herrschaft definieren. Dabei zeigt sie, dass Gewalt gegen Juden zwar toleriert wurde, die jüdische Gemeinde aber gleichzeitig kein passives Objekt war. Vielmehr suchte die Gemeinde bei den Pfandherren immer wieder Hilfe, die ihr auch gewährt wurde.
Im dritten Teil geht Nickel auf die Auseinandersetzungen um die Rechte und Pflichten der Judengemeinde in den Jahren unmittelbar vor der Vertreibung und dem Innsbrucker Prozess ein. Hier kann sie die unterschiedlichen Interessenslagen der Beteiligten nachzeichnen. Dabei werden vor allem die Bemühungen der kaiserlichen Gewalt deutlich, den Status der Juden zu bewahren und damit eigene Judenschutzrechte zu betonen.
Der vorletzte Teil des Buches widmet sich schließlich dem Innsbrucker Prozess. Hier schildert Nickel die Hintergründe zum Verfahren in Innsbruck. Auch in diesem Kapitel kann die Autorin deutlich machen, wie konsequent das Kaisertum zum Schutz von Juden im Reich eingreifen konnte, wenn es dafür die Notwendigkeit sah. Es ging Maximilian I. dabei weniger um Geldeinnahmen aus dem Judenschutz, als vielmehr um die Wahrung der Interessen des Kaisertums und des Hauses Österreich. Hierdurch ergaben sich dann wiederum Handlungsspielräume für die jüdischen Kläger, die in ihren Supplikationen immer wieder auf den Aspekt hinwiesen, dass der Judenschutz genuine Aufgabe des Kaisers sei und die Stadt Regensburg dieses Recht eben nur auf der Basis kaiserlicher Privilegien ausübe. Dass die Autorin, obwohl sie es benennt (246, Anm. 531), nicht auf die Motive des Kaisers eingeht, ist als analytische Lücke der Studie zu bezeichnen.
Großen Raum in diesem Teil nimmt zudem die chronologische Schilderung des Prozessverlaufes ein. Interessant ist zu sehen, wie die Stadt Regensburg versuchte, den Prozess an das Reichskammergericht zu ziehen, während die Juden beim kaiserlichen Gerichtsort verbleiben wollten. Diese rechtsstrategischen Handlungen können auch zu späteren Zeiten beobachtet werden und scheinen insofern ein Phänomen von langer Dauer zu sein. An dieser Stelle wäre zu eruieren gewesen, inwiefern die Erfolge der jüdischen Gemeinde zu Regensburg gegen die Reichsstadt ein Präzedenzfall für spätere Prozesse von Juden gerade in Fällen von Gewaltanwendung war.
Im letzten Teil der Arbeit gelingt es der Autorin, ihre durchweg interessanten Ergebnisse komprimiert zusammenzufassen und bisherige Forschungsergebnisse zur Vertreibung der Regensburger Juden und zum Innsbrucker Prozess zu revidieren bzw. zu korrigieren. Dass die Arbeit durch eine englischsprachige Zusammenfassung, einen Anhang, in dem die wichtigsten Urkunden zum Prozess verzeichnet sind, und ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis abgerundet wird, wird für weitere Forschungen zur Frage nach der Stabilisierung jüdischen Lebens zu Beginn der Frühen Neuzeit wichtig, gerade auch mit Blick auf ihre internationale Sichtbarkeit.
Neben kleineren Monita, wie dem Fehlen von Zwischenergebnissen in den meisten der großen Kapitel, müssen ungeachtet der Forschungsleistung von Nickel dennoch einige Aspekte kritisch angemerkt werden: Anstelle des Versuchs, Ereignisgeschichte zu rekonstruieren, wäre es heuristisch interessanter gewesen, die Argumentationsmuster und die Diskurse der Prozessparteien in das Zentrum der Arbeit zu stellen und deren Wirkung zum Beispiel auf die Gerichts- bzw. Herrschaftsinstanzen zu analysieren. [1] Hierzu hätte in der Methodik auf die Bedeutung von Diskursen als Konstruktionselement sozialer Wirklichkeit eingegangen werden müssen. Ebenso hätte intensiver auf die Eigenart von Suppliken und ihrem generellen Aussagewert eingegangen werden müssen. Ein solches Vorgehen entspräche auch der derzeitigen Richtung aktueller Forschungsvorhaben im Bereich der Rechtsgeschichte zu den obersten Reichsgerichten. [2] Für spätere Studien wäre vor allem zu überlegen, die Erkenntnisse Nickels mit denen anderer prominenter Judenvertreibungen wie der im Rahmen des Fettmilch-Aufstandes in Frankfurt rund hundert Jahre später zu vergleichen.
Anmerkungen:
[1] Zum Beispiel André Griemert: Jüdische Klagen gegen Reichsadelige. Prozesse am Reichshofrat in den Herrschaftsjahren Rudolfs II. und Franz I. Stephan (= bibliothek altes Reich; Bd. 16), München 2014; Verena Kasper: "vor Euer Kayserlichen Mayestät Justiz-Thron". Die Frankfurter jüdische Gemeinde am Reichshofrat in josephinischer Zeit (1765-1790) (= Schriften des Centrums für Jüdische Studien; Bd. 19), Innsbruck 2012.
[2] Thomas Dorfner: Mittler zwischen Haupt und Gliedern. Die Reichshofratsagenten und ihre Rolle im Verfahren (1658-1740) (= Verhandeln / Verfahren / Entscheiden - Historische Perspektiven; 2), Münster 2015; Ulrich Hausmann: Sich ahn höhern Orten beclagen unnd das kayserliche Recht darüber ahnrueffen. Herkunft, Zielsetzung und Handlungsstrategie supplizierender Untertanen am Reichshofrat Kaiser Rudolfs II. (1576-1612) unter Einbeziehung der Überlieferung süddeutscher Archive, in: Frühneuzeitliche Supplikationspraxis und monarchische Herrschaft in europäischer Perspektive (= Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs), hgg. von Gabriele Haug-Moritz / Sabine Ullmann, Wien 2015, 191-213; Eva Ortlieb: Untertanensuppliken am Reichshofrat Kaiser Karls V., in: Frühneuzeitliche Supplikationspraxis und monarchische Herrschaft in europäischer Perspektive (= Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs), hgg. von Gabriele Haug-Moritz / Sabine Ullmann, Wien 2015, 263-282; Tobias Schenk: Das frühneuzeitliche Kaisertum - ein Faktor der Alltagsgeschichte? Überlegungen auf Grundlage der Reichshofratsakten, in: Frühneuzeitliche Supplikationspraxis und monarchische Herrschaft in europäischer Perspektive (= Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs), hgg. von Gabriele Haug-Moritz / Sabine Ullmann, Wien 2015, 245-261.
André Griemert