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"Wurzbach revisited oder Das ÖBL 1815–1950?" Die böhmischen Länder und die österreichische Biographik

Wien, Festsaal der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 23.03.2023

Festvortrag, gehalten anlässlich des 70-jährigen Jubiläums des Österrechischen Biographischen Lexikons und des Abschlusses der Print-Version mit dem 16. Band

Václav Petrbok (Prag): Wurzbach revisited oder Das ÖBL 1815– 1950? Die böhmischen Länder und die österreichische Biographik Meine Damen, meine Herren, liebe Freunde, Es ist für mich eine große Ehre und Freude, dass ich hier vor Ihnen aus Anlass des siebzigsten Jahrestags des ÖSTERREICHISCHEN BIOGRAPHISCHEN LEXIKONS auftreten kann. Ich möchte Ihnen das Thema – die böhmischen Länder und die österreichische Biographik nach 1989 – nicht nur aus der fachlichen, sondern auch aus einer etwas subjektiv gefärbten Perspektive näher vorstellen. Am Anfang gestatten Sie mir bitte, dass ich Sie mit einer kurzen persönlichen Geschichte, verbunden mit einem historischen Exkurs in die tschechische literarische Lexikographik, in medias res führe: Es war wohl im Winter 2002, als ich, noch ein Grünschnabel, „wissenschaftlicher Assistent“ und Doktorand, zu meinem Chef, dem gefürchteten, anspruchsvollen und verehrten Großen Jiří Opelík in „einer dringenden Sache“ gerufen wurde. Opelík, eine der markantensten Persönlichkeiten der tschechischen Literaturwissenschaft und -Kritik, betreute seine Autorinnen und Autoren mit größter Kompetenz, zuverlässig und mit einer gewissen Zuversicht, selbst in einer Zeit, in der es aus verschiedenen Gründen überhaupt nicht einfach war. Aus dem journalistischen und dem universitären Betrieb nach 1968 ausgeschlossen, wurde Opelík schließlich doch erlaubt, und zwar „als Strafe“, in seiner früheren 1 lexikographischen Arbeit fortzufahren. Opelík war sich nach dem Jahr 1968, das im Westen eher mit Flower Power und Woodstock als mit sowjetischen Panzern verbunden ist, sehr wohl bewusst, dass auch die Lexikographie und Biographik keine unschuldigen Angelegenheiten sind, und widmete sich daraufhin den politisch scheinbar weniger brisanten Themen der tschechischen Literatur des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts sowie der Zwischenkriegszeit. Zusammen mit anderen ähnlich politisch „unzuverlässigen“ Kolleginnen und Kollegen aus dem Institut für tschechische Literatur der – damals – Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften arbeitete er dreißig Jahre lang an einem umfassenden lexikographischen Projekt, dem Lexikon české literatury. Osobností, díla, instituce [Lexikon der tschechischen Literatur. Persönlichkeiten, Werke, Institutionen]. Ein großzügiges Enzyklopädieprojekt, das mit mehr als 3.700 Einträgen das bisher umfangreichste enzyklopädische Werk zur tschechischen Literatur in vier Teilen und sieben Bänden darstellt und den gesamten Zeitraum ihrer Existenz, von ihren altkirchenslawischen und lateinischen Ursprüngen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts enthält. Der bereits erwähnte Neuling, der jetzt etwas gealtert vor Ihnen steht, ist nicht wegen der Biographik an die Akademie gekommen. Er wollte sich – etwas naiv – ausgewählten Themen der facettenreichen tschechisch-deutsch-österreichischen Literaturbeziehungen widmen. Mehrsprachigkeit. Kulturvermittlung. Historische Poetik. Kultursoziologie. Philosophie. Stattdessen wurde ihm schon im Herbst 1996 „befohlen“, sich aus der bereits sorgfältig vorbereiteten Liste von 2 Biografien zehn Stück auszuwählen und nach analogen Mustern die neuen Stichwörter für das Lexikon der tschechischen Literatur vorzubereiten. Seiner Dissertation und der erträumten Universitätslehre könne er ja in seinen Mußestunden nachgehen. Nach all diesen Jahren kann ich sagen, dass mir nichts Besseres hätte passieren können, meine Damen und Herren. Dieses – bildlich gesprochen – Werfen eines Nichtschwimmers ins kalte Wasser half mir allmählich nicht nur, mich im scheinbar grenzenlosen Material unterschiedlicher zeitlicher und räumlicher Herkunft zu orientieren, sondern auch die bunten literarischen, kulturellen, sozialen und natürlich politischen Wechselfälle einer ganzen Reihe von Persönlichkeiten nicht nur des langen 19. Jahrhunderts kennenzulernen. Ich lasse die unendliche Übung des passenden Formulierens und natürlich eine gewisse Skepsis gegen allzu einfache Lösungen und Urteile außer Acht. Summa summarum: ich bin mir sicher, dass meine Dissertation und andere wissenschaftliche Arbeiten, der Unterricht an der Universität und die Popularisierung meiner Kenntnisse ohne diese Erfahrung ganz anders ausgesehen hätten. Zurück jedoch zur „dringenden Sache“ und Herrn Opelík. Nach einem schwierigen Start schien ich mich doch bewährt zu haben. Deshalb hat mich Opelík, der mit seinem Prager Mentor Rudolf Havel und anderen Mitarbeiter:innen schon Mitte der 60er Jahre das sogenannte blaue Lexikon Slovník českých spisovatelů [Lexikon der tschechischen Schriftsteller] herausgab, beauftragt, Frau Dr. Elisabeth Lebensaft aus dem Österreichischen biographischen Lexikon zu kontaktieren. „Sie 3 haben schon einige Stichwörter für das Lexikon geschrieben, und zwar nicht schlecht. Sie können Deutsch und mehr Erfahrung kann Ihnen auch nicht schaden,“ meinte er. Mit klopfendem Herzen habe ich also Frau Lebensaft angeschrieben. Ihre Antwort kam sofort, der Ton war von Anfang an der gleiche: ein offener, neugieriger, unterstützender. Meine erste Biographie, sorgfältig und, mit viel Geduld, mehrmals redigiert, folgte: (ich lese den Kopf des Artikels): Šimáček, Matěj Anastasia; Ps. Martin Havel, J. Orlov (1860-1913), Schriftsteller und Journalist (…) Viele weitere sind allmählich hinzugekommen. Insgesamt wurden es bis 2021 zweihundertsechs, einschließlich der Online-Biographien und gemeinsamen Biographien mit sehr verehrten Co-Autorinnen: Daniela Angetter, Elisabeth Lebensaft, Jitka Ludvová, Irene Nawrocka, Eva Offenthaler. Unter den behandelten Persönlichkeiten waren Koryphäen, Autorinnen und Autoren von Bestsellern, sowie halbvergessene dekadente Dichter. Ein futuristischer Dramatiker und Zahnarzt, in den ersten Kriegstagen im Sommer 1914 an der Ostfront gefallen. Sozialdemokratisch gesinnte Journalisten, oft Juden, im KZ ermordet. Katholische und evangelische Priester. Deutschsprachige Juden, tschechischsprachige Christen. Ein vertriebener „Sudetendeutscher“. Der viersprachige Václav Alois Svoboda/Wenzel Aloys Swoboda/Venceslaus Aloysius Svoboda/Venceslao Aloisio Svoboda. Eine antisemitische tschechische Frauenrechtlerin neben einer adeligen deutsch-tschechischen Gönnerin von Rilke und Karl Kraus oder von den böhmischen Verhältnissen enttäuschte polnische Pädagogin und Ethnographin. Tatorte: Böhmen, 4 Mähren, Niederösterreich, Texas, Wien, Ungarn, Alaska, Galizien, Tirol, Bayern, Sachsen, Lombardei, England, Paris, Russland… Fast hat man das Gefühl, dass der Petrbok mit seinen BiographieVorschlägen das alte böse Lied Telefonbuchpolka von seinem Liebling Georg Kreisler abgeschrieben hätte: Denn „Alle seine Freind stehn drin Und zwar auf Seite "Vau": Vorel, Vorlíček, Vrťátko, Vrzal, Vyhnis, Vykoukal, Vymazal, Vyskočil, in: ÖBL 1815-1950, Bd. 15 (Lfg. 70, 2019), S. 113f. A propos Havel alias Gallus: es ist nicht nur Pseudonym für meinen ersten Biographierten, und Familienname eines tschechischen Präsidenten, sondern auch der Familienname eines tschechischen Literaturwissenschaftlers, Herausgebers und Biographen. Rudolf Havel, den ich flüchtig im Zusammenhang mit seinem Schüler Jiří Opelík erwähnt habe. Denn Rudolf Havel war es, der für das Österreichische biographische Lexikon schon in den „golden sixties“ mehrere Biographien verfasst hat. Wann genau und unter welchen Umständen es zu dieser Mitarbeit gekommen ist, weiß ich nicht. Ich kann mir jedoch vorstellen, dass die „Rekrutierung“ von Verfasserinnen und Verfassern aus den betreffenden Ländern zur Erstellung individueller Biografien dabei geholfen hat und hilft, die wissenschaftlich fundierten, auf Grundlage von überprüften und relevanten Fakten und Sekundärliteratur basierten Beiträge zu liefern. Und damit komme ich zum zweiten Teil meines Vortrags: nämlich die tschechische Biographik im österreichischen Kontext, besonders nach 5 1989. Denn erst die politische Wende in der Tschechoslowakei hat es ermöglicht, schrittweise eine intensivere Zusammenarbeit zu beginnen – das gilt vor allem für die tschechische Seite, aber auch die Stellung und Konzeption der böhmischen, mährischen, tschechischen Biographien in der Redaktion des ÖBL war zu überdenken. Die Vorurteile beiderseits sind in einem historischen Kontext entstanden und ihre Dauer war in manchen Fällen überraschend ununterbrochen. Man lese z.B. die Biographie von Karel Havlíček Ende der 50er Jahre, er sei ein „einflußreicher Journalist von radikal nationaltschechischer und panslawistischer Gesinnung“. Da hat man das Gefühl, dass die Charakteristik aus einem dogmatisch marxistisch-stalinistischen Werk abgeschrieben war, jedoch mit ganz entgegengesetzter Bewertung! Oder hat man da vielleicht die Einschätzung des zur tschechischen Elite manchmal etwas überheblichen und unfairen Vater Wurzbach versteckt zitiert? Um es klar zu sagen: als Historiker kann ich mir gut erklären, warum der altösterreichisch gesinnte Liberalkonservative gegen die tschechische Nationalbewegung und den tschechischen politischen Föderalismus, wenn auch im Havlíčeks Fall eindeutig im österreichischen Rahmen, eingestellt war, meines Erachtens ist diese Behauptung aber einfach falsch. Das bestätigte übrigens schon 1955 Richard Plaschka in seinem bahnbrechenden Werk Von Palacký Bis Pekař: Geschichtswissenschaft und Nationalbewußtsein bei den Tschechen. Auf tschechischer Seite war und ist natürlich auch vieles zu revidieren. Ich denke hier an viele Kulturschaffende, die sich nicht nur der 6 tschechischen Sprache, sondern auch – und oft ausschließlich – der deutschen Sprache bedient haben. Der Linguozentrismus, etwas überspitzt würde ich sogar sagen, die Sprachobsession meiner Landsleute mag unter gewissen Gesichtspunkten historisch verständlich sein, fachlich ist diese Prämisse jedoch unhaltbar. Und für Verständnis und Orientierung in der heutigen Zeit ist sie sogar gefährlich. Man denke z.B. an den Krieg etwa tausend Kilometer ostwärts und die angebliche „Befreiung“ der „russischen“ Bevölkerung in der Ostukraine. Das erwähnte Lexikon české literatury konzentrierte sich auf die Autoren der tschechischen Literatur, nur ihr tschechischsprachiges Schaffen wurde analysiert. Meine Damen und Herren! Ausgerechnet in den böhmischen Ländern, wo viele Generationen – geboren etwa zwischen den 1770er- und den 1850er Jahren – in der deutschen Sprache ausgebildet wurden und damit Mitglieder des deutschsprachigen oder utraquistischen – asymmetrisch zweisprachigen – Bildungsbürgertums mit dem Deutschen als Hegemonialsprache geworden sind. Jan Erazím/Johann Erasmus Wocel, Josef Wenzig, Alfred Waldau, Franz Trojan von Bylanfeld… Und natürlich die böhmischen und mährischen Juden, vor allem – aber nicht ausschließlich – die deutschsprachigen, die nicht nur in der tschechischen, sondern auch in der österreichischen Literaturgeschichtsschreibung bisher keinen gebührenden Platz gefunden haben – Kafka, Brod, Werfel ausgenommen. Hier denke ich an Ludwig Winder, Hermann Ungar, den tschechisch schreibende Ervín Taussig. … 7 Vielleicht war ich im letzten Fall doch etwas unfair. Denn über Ervín Taussig findet man eine Biographie im ÖBL. Das betrifft jetzt auch die deutschsprachigen Mährer Winder und Ungar, die auch noch auf ihre Leserschaft warten. Last, but not least – und damit komme ich zum Schluss – soll noch der symbolische Wert unserer Arbeit zur Sprache kommen: Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die Veröffentlichung des blauen Lexikons in der Tschechoslowakei in den goldenen Sechzigern von großer gesellschaftlicher Bedeutung war. Es trug dazu bei, das kulturelle Gedächtnis wiederherzustellen, das nach dem Jahr 1948, also dem kommunistischer „Machtübernahme“, unterbrochen worden war. Die Sprache und die schriftliche Kultur haben in den letzten zweihundertfünfzig Jahren in den böhmischen Ländern – und insbesondere bei den Tschechen – eine wichtige Rolle bei der Herausbildung der „nationalen Identität“ gespielt, und die Schriftsteller haben dabei fast als das "Gewissen der Nation" gegolten. In aller Ambivalenz, natürlich! Eine ähnliche Rolle hat auch der Abschluss unserer langjährigen Arbeiten an dem Lexikon im Jahre 2008 gespielt. Aus mehreren Gründen ist es uns leider nicht gelungen, das Projekt fortzusetzen. Schade, allzu schade, dass man ausgerechnet heute, in Zeiten der Informationsflut und Fake news, die Biographik unterschätzt! Und natürlich hat auch die Vollendung eines imposanten Projekts – des Österreichischen Biographischen Lexikons – eine große symbolische 8 Bedeutung. Denn: das alte Österreich im Kleinen, um ein Gleichnis zu gebrauchen, heißt nicht nur Zentrum, sondern auch Peripherie – und diese Begriffe ändern sich im Laufe der Zeit oft, wie wir wissen. Und auch eine ethische Botschaft möchte ich hinzufügen: im alten Österreich strebte man – sich wohl bewusst der Präferenzen, Differenzen und Widersprüche – nach Kompromissen. Das war auch häufig der Fall bei der Fertigstellung meiner Biographien. Meine lieben Redakteurinnen und Redakteure, Sie wissen es und ich danke Ihnen nochmals sehr herzlich dafür! Die Biographik verstehe ich als immerwährende Aufgabe, und zwar in zweierlei Art. Erstens – wie es schon mein verehrter Redakteur Hubert Reitterer auf den Punkt gebracht hat – „als die Beschäftigung mit dem Einzelmenschen für das Verstehen geschichtlicher Abläufe und für alle Wissenschaften, die sich mit dem Menschen und seinen Werken beschäftigen“ Und zweitens Als eine Art der Erinnerungsarbeit angesichts der Leistungen unserer Vorfahren, in all ihrer Widersprüchlichkeit und Ambivalenz, Komplexität des Geschehens. Als Versuch unsere Position zu definieren und neue Wege für unsere gemeinsame Zukunft zu suchen. Meine Damen, meine Herren, liebe Freunde, vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! 9 10