Malte Hagener
Filmerfahrung und Zuschauer
Man geht nie zweimal
in denselben Film
Die Cinephilie, das Kino, sein
(Nach-)Leben und die Zeit
Von Malte Hagener
inephilie ist – wenn man den Begriff direkt
übersetzen und auf simple Weise erklären
möchte – die Liebe zum Kino. Man mag zur Erläuterung noch hinzufügen, dass es sich bei den
Cinephilen um solche Zeitgenossen handelt, die
besonders gerne ins Kino gehen und Vergnügen
dabei empinden, Filme zu sehen. Doch ganz so
einfach scheint mir die Sache dann doch nicht zu
sein. Denn Cinephilie ist nicht einfach ein Hobby
oder eine Liebhaberei, wie etwa Orchideenzucht
oder Alpinistik, sondern eine Haltung dem Leben
und dem Film gegenüber, die die Weigerung umfasst, diese als vollständig getrennte Felder anzusehen. Die Cinephilie nimmt Kino und Film nicht
nur als Wirtschaftsfaktor, Darstellungsmittel sozialer Ungerechtigkeiten oder Ausdruck nationaler Beindlichkeit ernst, sondern versteht diese
als ästhetische Erfahrung und radikal unhintergehbaren Horizont von biograischer Kontingenz
und Subjektivität.1
Wenn man Film und Kino also nicht als eine
apparative Anordnung versteht, sondern als eine
soziale Praxis und ästhetische Erfahrungsform, so
kann uns – dies ist der Ausgangspunkt meiner Betrachtungen – die Beschäftigung mit diesem Konzept helfen, die gegenwärtigen Erschütterungen
und Veränderungen eines einstmals vermeintlich
stabilen Mediums besser zu verstehen. Erst vor
dem Hintergrund ihrer Geschichte kann man einzuschätzen versuchen, wie sich die Cinephilie in
C
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den letzten 20 Jahren radikal gewandelt hat. Deshalb ist die Auseinandersetzung mit der Cinephilie auch über mentalitäts- und ideengeschichtliche
Fragen hinaus von Interesse für die Film- und Medienwissenschaft. Ich werde im Folgenden anhand
des Begriffs der Cinephilie versuchen, die Transformationen des Kinos in den letzten 100 Jahren
nachzuzeichnen. Während es in den 1920er Jahren
unter der Überschrift der »photogénie« erstmals
darum ging, den ästhetisch-kulturellen Gehalt des
Kinos zu bestimmen, so ist die Phase der klassischen Cinephilie (1950er bis 1970er Jahre) geprägt
von einer nostalgisch gefärbten Retroaktivität und
Nachträglichkeit. Heute, im Zeitalter der ubiquitären Datennetze und der ständigen Verfügbarkeit,
steht die Cinephilie im Zeichen einer permanenten
Gegenwärtigkeit und des allzeit möglichen Zugriffs,
aber bemächtigt sich auch des Kinos als kulturellem Speicher des 20. Jahrhunderts.
Photogénie – die Unabgeschlossenheit
von Sinn
In den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden
in Paris die ersten Versuche, der lüchtigen Erfahrung des Kinos sprachlich habhaft zu werden, die
Magie des projizierten Lichtbildes jenseits von inhaltistischen Nacherzählungen zu fassen. Der Begriff der photogénie wurde dabei von Jean Epstein,
Ricciotto Canudo, Louis Delluc und anderen Vertretern einer ambitionierten Film- und Kinokultur
verwendet, um den eigentlich unbestimmbaren
Kern der Kinoerfahrung begriflich dingfest zu machen.2 Photogénie ist notorisch schwer zu deinieren und das Konzept hat Kritik auf sich gezogen,
weil es sich bewusst einer klaren Zuschreibung
verweigert.3 Wie Paul Willemen jedoch zu Recht
bemerkt hat, kreist der Begriff gerade um eben diese Weigerung, Bedeutung sprachlich festzulegen
(und diese damit überindividuell und überzeitlich
stabil reproduzierbar zu machen):
»Photogénie bezieht sich auf das Unaussprechliche
in der Blickbeziehung. Sie operiert durch die Aktivierung einer Fantasie, die der Zuschauer oder die
Kino
Zuschauerin sich auszusprechen weigert. In diesem
Sinne bedarf die Photogénie der Einwilligung des Zuschauers, das Fallen in die symbolische Signiikation
(der Sprache) zu verweigern – als wäre eine solche
Verweigerung hinreichend zu ihrer Löschung. Damit einher geht eine Privilegierung der Sehnsucht
nach dem Prä-Symbolischen, als in einem Prozess
der Symbiose mit der Mutter ›Kommunikation‹ noch
ohne Sprache möglich war.«4
Auch wenn man der psychoanalytischen Wendung
von Willemens Lesart nicht folgen mag, so hat sich
doch als wegweisend erwiesen, dass die Bedeutungskonstruktion zwischen Film und Zuschauer
suspendiert bleibt. Weder diktiert und oktroyiert
der Film als monolithische Einheit seine Bedeutung
dem hillosen Zuschauer, wie dies etwa in ideologiekritischen Lesarten bis heute anklingt, noch
kann sich der Betrachter völlig frei den Text aneignen, wie sich dies gelegentlich in Ansätzen der
Cultural Studies zeigt. Stattdessen bleiben beide
fundamental aufeinander angewiesen, verklammern und verschränken sich ineinander wie siamesische Zwillinge.
Die Kunstfähigkeit des Films, denn darum ging
es in den ilmtheoretischen und -ästhetischen Debatten der 1920er Jahre, musste jenseits des Apparativ-Medialen gesucht werden, denn technische
Reproduktion, so der breite Konsens zu jener Zeit,
konnte nicht Kunst sein, die den subjektiven und
menschlichen Faktor benötigte. Entscheidend dafür wurde eine zeitliche Beziehung der Nachträglichkeit und der Sinnverschiebung, die sich niemals vollständig vollziehen kann, sondern immer
als eine Struktur des Begehrens offen und letztlich
unerfüllt bleiben muss. Erst in der Nachträglichkeit der subjektiven Rekonstruktion entfaltet sich
die Bedeutung des Erfahrenen, doch ist die Erfahrung dann als solche nicht mehr direkt greifbar,
sondern lediglich noch als Erinnerung präsent. Bereits hier klingt also ein Moment an, der dann in
der Cinephilie der 1950er und 1960er Jahre zentral
werden wird, nämlich dass die herkömmliche Kinoerfahrung stets in der Vergangenheit liegt (und
sei es in der antizipierten Vergangenheit des Films,
Man geht nie zweimal in denselben Film
den ich gesehen haben werde), lüchtig bleibt und
als Bedeutung niemals endgültig zu stabilisieren
ist, egal wie oft man einen Film sieht. Mit Heraklit
gesprochen: Man geht nie zweimal in denselben
Film. Somit indet sich bereits in der Vorstellung
der photogénie eine subjektiv-nostalgisch gefärbte
Struktur des Verlustes, weil Erfahrung als solche
immer uneinholbar der Festlegung von Bedeutung voraus eilt.
Cinephilie – Geschichte eines Blicks
Die klassische Cinephilie war zunächst eine soziale
und kulturelle Praxis, die im Paris der 1950er Jahre erstmals in Erscheinung trat und sich als eine
speziische Betrachtungsweise von Filmen äußerte. In seiner kulturhistorischen und mentalitätsgeschichtlichen Studie zur Cinephilie hat Antoine
de Baecque die Cinephilie als einen Blick, eine Art
des Sprechens und als Verbreitung eines Diskurses
bezeichnet, die dem Kino einen Kontext verschaffen.5 In den Filmvorführungen der Cinémathèque
française, wo die Redaktion der Cahiers du Cinéma
den Ton angab, aber auch in anderen Pariser Kinos wie etwa dem MacMahon, bildete sich eine Geschmackskultur, die das Kino als Kunstform wie als
Erfahrungsweise ernst nahm. Flankiert von Zeitschriften und verknüpft mit bestimmten Orten –
die Kinos selbst, darin bestimmte Sitzplätze, die
Einzelne zu besetzen plegten, die Cafés und Redaktionen als Treffpunkte und Orte der Debatten
– entstanden feste Gruppenstrukturen, die, auch
das muss gesagt werden, männerbündlerisch und
hierarchisch strukturiert waren. Das Sehen von
Filmen, nicht selten mehrere am Tag, galt als ein
Ersatz für eine Filmschule, die die Protagonisten
der Nouvelle Vague nicht besucht hatten; das Schreiben von Texten stand ein für das Filmemachen,
wobei die Aktivitäten nicht selten darauf zielten,
über das Lancieren bestimmter Positionen in der
Öffentlichkeit selbst als aktiv Filmschaffende in
die Praxis vorzustoßen.
Insofern kann die Cinephilie als eine theoretische Praxis (beziehungsweise eine praktisch
angewandte Theorie) gesehen werden. Wie schon
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Malte Hagener
im Fall der photogénie wird die Ereignishaftigkeit
der Kinoerfahrung betont, also die (theoretische)
Unwiederholbarkeit jeder Filmprojektion. Mit der
Vorstellung, dass Film nicht stabiler Text und reproduzierbares Artefakt ist, sondern ein einmaliges Ereignis darstellt, geht einher, dass das Kino
weniger als Teil der Unterhaltungsindustrie oder
als Medium der gesellschaftlichen Kommunikation begriffen wird, sondern als Teil der Biograie
wie zufällige Begegnungen oder andere vermeintlich kontingente Dinge des Lebens. Das Kino ist
der Ort der Freisetzung von Energie, die das Individuum mit dem Film und damit weiteren Diskursen und affektiven Dimensionen koppelt und
kurzschließt. In diesem Sinne sieht die Cinephilie
das Kino als trans-subjektiv an, als ein Medium,
das Grenzen zwischen Individuen infrage stellt,
dekonstruiert und neu zusammensetzt. Damit ist
auch die Prozessualität und Instabilität, ja sogar
die Widersprüchlichkeit und das logische Scheitern jedes Prozesses von Subjektivierung angedeutet, die das Kino eben auch aufdeckt und zum
Thema macht. Zugleich ist es aber gerade das
Kino als eine Art »virtueller« Welt, die parallel
zur »eigentlichen« realen Welt existiert, über die
Kommunikation ermöglicht wird. Damit wird das
Kino auch zu einem sozialen Ort des Austauschs
und der intersubjektiven Anknüpfung.
Konstitutiv ist dabei, wie gesagt, dass jede Vorführung eines Films als singuläres Ereignis verstanden wird. Die Orts- und Zeitspeziik der Vorstellung – wann sehe ich den Film in welcher Kopie, in welchem Saal, auf welchem Platz und mit
wem? – transzendiert dabei etwa den semiotisch
ixierbaren Sinn oder die Reproduzierbarkeit des
Mediums. Sinngebend sind nämlich vielmehr Aspekte der Ansteckung und Übertragung zwischen
Film und Zuschauer, der Intensität und Interaktion von Publikum und Projektion, die ebenso vom
speziischen Zustand des Individuums wie vom
Film als ästhetischem Objekt abhängen. Dass dies
immer schon im Modus einer retroaktiven Zeitlichkeit stattindet, macht etwa auch Antoine de
Baecque deutlich, der sein Bedauern darüber, zu
spät geboren zu sein, um selbst ein aktiver Teil30
Filmerfahrung und Zuschauer
nehmer der Hochphase gewesen zu sein, zum Ausgangspunkt für seine umfassende Geschichte der
klassischen Cinephilie macht: »Diese Liebe konnte
meine Generation nicht neu erinden: Die ›Autoren‹ waren geweiht, die Artikel geschrieben, die
Interviews aufgezeichnet, die Filme gesehen und
schon im Fernsehen wiedergesehen. Alles hatte
sich schon ereignet.«6
Bezeichnend ist etwa auch die Selbstbeschreibung von Jean Douchet, einem Weggefährten der
Nouvelle Vague, wichtigen Autor der Cahiers du cinéma und in den 1970er Jahren Lehrender an der
Filmhochschule IDHEC, der den Kinobesuch als
eine kultische und rituelle Erfahrung beschreibt,
bei der jede Aktion voller Bedeutsamkeit ist und
nichts dem Zufall überlassen werden kann:
»Ich muss den Kinosaal durch die Treppe und den
Gang auf der rechten Seite betreten. Ich sitze dann
rechts der Leinwand, am liebsten auf einem Platz
am Gang, so dass ich meine Beine ausstrecken kann.
Es geht dabei nicht um Fragen des körperlichen
Wohlbeindens oder des freien Blicks: Ich habe diese Blickstruktur für mich geschaffen. Lange Zeit
saß ich in der Cinémathèque in der Mitte der ersten Reihe, so dass mich niemand vor mir ablenken
konnte, um völlig in die Vorführung einzutauchen,
immer alleine. Selbst heute [1993, Anm. M.H.] ist es
mir unmöglich, mit jemandem ins Kino zu gehen;
es bringt meine Gefühle durcheinander. Doch über
die Jahre hinweg und nach vielen Filmen habe ich
mich ein wenig nach hinten und nach rechts bewegt, wo ich meine Blickachse zur Leinwand gefunden habe. Zugleich habe ich meinen Zuschauerkörper mit allergrößter Sorgfalt positioniert und
nehme drei Positionen ein: auf dem Boden ausgestreckt, mit den Beinen über dem Vordersitz und
schließlich, meine Lieblingsposition, aber auch
die schwierigste, den Körper eingefaltet mit den
Knien gegen den Vordersitz gepresst.«7
Jean Douchets Fötus-Position war so legendär, dass
etwa ein britischer Cinephile wie Thomas Elsaesser
bereits in London davon gehört hatte. Er schreibt
in einem Text zu seiner eigenen cinephilen Ges-
Kino
chichte: »Gerüchte von der Fötusposition, die Jean
Douchet jeden Abend in der zweiten Reihe der Cinémathèque einnehmen würde, hatten bereits die
Runde gemacht, als ich 1967 zum Studieren nach
Paris kam und es mit eigenen Augen sah.«8
Entscheidend für das Verständnis der Cinephilie erscheint mir, wie sie Subjektivität und Objektivität zu verbinden vermag, wie sie eine radikal
subjektive Praxis in eine intersubjektive Struktur
verwandelt: Einerseits wird eine radikale Zentrierung auf das Selbst vorgenommen, andererseits wird
gemeinsam nach geteilten Werturteilen gesucht.
Die Bestätigung des Selbst in seinem insularen Solipsismus trifft sich also mit der Veräußerlichung
der Werturteile, die sich wiederum im Angesicht
der Erfahrung anderer bewähren müssen. In diesem Spannungsfeld von radikaler Individualität
auf der einen Seite und Kennerschaft und Geschmackskultur als soziale Distinktionsmarkierungen auf der anderen Seite bewegt sich die französisch geprägte Cinephilie, deren Endpunkt nicht
nur Antoine de Baecque im Jahr 1968 ansetzt, als
die politische Affäre um die Cinémathèque sich als
Generalprobe für den scheiternden Aufbruch herausstellen sollte. Die Absetzung von Henri Langlois
durch den französischen Kulturminister André
Malraux im Februar 1968 beschwor öffentliche
Proteste von Künstlern, Intellektuellen und Cinephilen herauf, sodass der französische Staatsapparat zurückstecken musste. Dieser Triumph über
die Obrigkeit sollte sich allerdings wenige Monate
später im Mai 1968 nicht wiederholen.
In den 1970er Jahren trat dann die akademische Filmwissenschaft ihren Siegeszug an, die anstelle der libidinösen Besetzung des Objektes Kino
von einem tiefen Misstrauen geprägt war, das sich
ebenso in Jean-Louis Baudrys Apparatus-Theorie
zeigte wie in Laura Mulveys Thesen zum männlich
kodierten Blick des Films. Baudry zufolge ist die
räumlich-apparative Anordnung des Kinos, ganz
gleich, welchen Film sie zeigt, Teil eines Herrschafts- und Verblendungszusammenhangs, mit
dem sich die Filmzuschauer auf der Suche nach
prä-symbolischen Glückszuständen in frühkindliche Zeit zurück fantasieren. Mulvey setzte die
Man geht nie zweimal in denselben Film
dem Film eingeschriebene Blickanordnung in Beziehung zur jahrhundertealten, gesellschaftlichen
Benachteiligung von Frauen. Ob dies nun aus enttäuschter Liebe entstand oder doch eher eine Reaktion auf das Ausbleiben radikaler gesellschaftlichpolitischer Veränderungen in den 1970er Jahren
war, sei dahin gestellt.9 Die Cinephilie jedenfalls
war bis in die 1990er Jahre hinein kein Begriff, der
politisch-kulturellen Mehrwert versprach, sondern galt – so er denn überhaupt verwendet wurde – als romantisch-apolitischer Topos, den es zu
überwinden galt.
Verfall des Kinos?
Als Susan Sontag 1996 in der New York Times den
Verfall des Kinos verkündete, war dies auch ein Eingeständnis der Unvereinbarkeit einer bestimmten
Vorstellung von Cinephilie mit der veränderten
Filmkultur. In ihrem einlussreichen Artikel The
Decay of Cinema stellt sie zwei Rezeptionsformen
gegenüber: die Zeit, als »der Vollzeit-Cinephile
immer darauf hoffte, einen Platz so nah wie möglich an der Leinwand zu inden, idealerweise in der
Mitte der dritten Reihe« und die Gegenwart, in der
man diese speziische Zuneigung, »jene entschieden cinephile Zuneigung zu den Filmen, wenigstens unter den jungen Leuten« kaum noch inden
kann.10 Die Liebe zum Film reicht Sontag nämlich
nicht aus, für sie gehört dazu auch ein »bestimmter Geschmack« wie auch ein fortgesetztes Interesse an »der glorreichen Vergangenheit des Kinos«.
Sontag hängt der traditionellen Cinephilie an, die
die Pariser Praxis der 1950er und 1960er Jahre als
impliziten Goldstandard gesetzt hat. Da sie neuere
Entwicklungen daran misst, kann sie nur zum Ergebnis von Verfall und Tod kommen.
War die Cinephilie in den 1950er und 1960er
Jahren auf wenige Orte beschränkt, an denen es
eine gewisse Dichte an Kinos mit anspruchsvollem
Programm gab, so sind inzwischen solche räumlichen Beschränkungen weitgehend aufgehoben.
Gerade die cinephile Debatte hat sich ins Internet
verlagert. Dort nehmen unabhängig vom Wohnort in den vergangenen zehn Jahren viel breitere
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Malte Hagener
Schichten an ihr teil. So bilden sich im englischsprachigen Teil des Internets Gemeinschaften
rund um aktive Websites, wie etwa Senses of Cinema, Rouge oder Film-Philosophy, die weltumspannend auf hohem Niveau Debatten führen, während
im deutschsprachigen Raum mit nachdemilm.de
oder new ilmkritik (in der Nachfolge der legendären Zeitschrift Filmkritik) Schritte in die gleiche
Richtung unternommen werden.
Bewusst habe ich bestimmte Momente der
klassischen Debatte um photogénie und Cinephilie
betont, nämlich jene, die auf ihre Instabilität und
Unabschließbarkeit hindeuten, auf die Tatsache,
dass Sinnerzeugung ein offener und unwiederholbarer Prozess ist, der sich nie restlos intersubjektiv vermitteln lässt, sowie auf die Logik der Nachträglichkeit. Misst man diese Kategorien an der
heutigen Filmkultur, so zeigt sich eine epochale
Umwälzung: Bis in die 1990er Jahre hinein war
der Zeithorizont des Kinos jener des Verlustes und
der Nostalgie, heute steht der Film im Zeichen von
Verfügbarkeit und Beherrschung. Besitz ist an die
Stelle von Erinnerung getreten, Zugriff und »access
for all« ersetzt die kostbare Rarität. An die Stelle
der Flüchtigkeit der Erfahrung ist die Dauerhaftigkeit des Besitzes (als DVD, als Datei) getreten, statt
Antizipation und Verschiebung in die Nachträglichkeit (»Ich werde gesehen haben.«) gibt es den
Framegrab und Screenshot als Nachweis solcher
Details, die man unmöglich in einer »normalen«
Rezeption des Films hätte bemerken können.
Der Besitz ermöglicht aber auch den kreativen,
eigenen Umgang mit dem Film und damit eine ganz
andere Anverwandlung als die nostalgisch gefärbte
Erinnerung der 1950er und 1960er Jahre. Auf den
Videoplattformen im World Wide Web inden sich
zahllose Beispiele solcher kreativer Aneignungen,
die als »meme«, also als viral in sozialen Netzwerken weiterempfohlenes Medienobjekt kursieren.
Ob im Modus der Verbeugung und Hommage oder
als Parodie und Satire – stets ist es die unerwartete Kombination von Material oder die Bearbeitung und Verfremdung. Natürlich gab es schon
in Zeiten vor DVD und Internet die Möglichkeit,
Kompilationen solcher Art zu montieren – erin32
Filmerfahrung und Zuschauer
nert sei etwa an Matthias Müllers home stories,
der bereits 1990 Melodramen der 1950er Jahre im
Hinblick auf stetig wiederkehrende Situationen zusammenstellte. Doch die massenhafte Verbreitung
von nicht-linearen Schnittprogrammen wie die Vertriebsstruktur des Internets haben zumindest die
Sichtbarkeit solcher Montagen erhöht, vermutlich
auch ihre Zahl exponentiell wachsen lassen. Diese
Clips ließen sich als Beispiel für die Selbstermächtigung der Verbraucher anführen, wie dies in der
Rede vom »Prosumer« (Kreuzung von Produzenten
und Konsumenten) ihren Ausdruck indet.11 Mich
interessiert allerdings eher, wie solche Beispiele
eine temporale Struktur erzeugen, in der Film als
ein Archiv des 20. Jahrhunderts iguriert. Als Kreuzungspunkt von populärer Musik und populärem
Film, Mode und Populärkultur weisen diese Clips
stets auch auf die eigene Biograie zurück, in der
die eigene Sozialisation eng verknüpft ist mit Bestandteilen der Populärkultur. Die Konfrontation
mit einem früheren Stadium des Selbst, das im Gedächtnis nicht zuletzt auch an Film- und Musikerfahrungen gekoppelt ist, evoziert die alltäglichen
Details von Biograien. So fungiert die Populärkultur – insbesondere der Film – als Wissensspeicher
und Reservoir, der weniger die vermeintlich großen Ereignisse der Weltgeschichte festhält, sondern als Ankerpunkt für die individuelle Biograie
dient. Zugleich wird aber auch eine intersubjektive
Dimension eröffnet: Von James Bond bis zu Avatar, von Bruce Lee bis Borat, stellt das populäre
Kino ein Arsenal an Figuren, Situationen und Geschichten bereit, durch die Kommunikation auch
dann möglich wird, wenn uns sonst zunächst wenig mit anderen Menschen zu verbinden scheint.
War die Pariser Version der Cinephilie noch an
eine Geschmackskultur geknüpft, in der man die
Feinheiten der Mise-en-scène von Otto Preminger
erkennen können musste, aber eben auch in Paris
leben musste, um überhaupt die Filme sehen zu
können, so reicht heute ein handelsüblicher Rechner und der Zugriff auf ein mittelgroßes Arsenal
an populären Klassikern. Konstant bleibt jedoch in
diesen unterschiedlichen Formen der Cinephilie,
dass auf das Kino als eine speziische ästhetische
Kino
Form rekurriert wird, die zwischen individueller
Erfahrung, die zunächst einmal un(mit)teilbar ist,
und kollektiver Urteilsbildung vermittelt.
Doch ganz so einfach wie bisher angedeutet ist
die Rede von der ständigen Verfügbarkeit dann
vielleicht doch wieder nicht, denn auch wenn die
großen Klassiker und kanonisierten Meisterwerke inzwischen in vielen Versionen und Formaten
greifbar sind, so geht mit Wissen immer das NichtWissen einher. Tatsächlich ist nach wie vor nur
ein Bruchteil der kommerziellen Spielilme digital
greifbar – zu bodenlos sind doch die unbekannten
Tiefen der unerforschten Filmbestände, zu groß
die Mengen der im Laufe des 20. Jahrhunderts
aufgenommenen Bewegtbilder. Eine Gefahr im
Zeitalter von Internet und digitaler Reproduzierbarkeit besteht gerade darin, dass im Gefühl der
allgegenwärtigen Verfügbarkeit vergessen wird,
dass vier Fünftel des Eisberges noch immer unter
Wasser sind, dass Google und Youtube eben nicht
die Bibliothek von Babel und das Gedächtnis der
Welt sind, sondern privatwirtschaftliche Unternehmen, die in ihrer Politik der Speicherung und
des Zuganges nach kommerziellem Kalkül handeln.
In dieser Hinsicht kann das Kino ein Ort sein, an
dem die Konfrontation mit radikal anderen und
unerwarteten ästhetischen Formen möglich ist,
die in den algorithmischen Routinen von Suchmaschinen unwahrscheinlich ist/wird.
Heutzutage sind für jemanden mit einem DVDSpieler, einem Internetzugang und einer Kreditkarte so viele Filme erhältlich wie niemals zuvor.
Dennoch kann man noch immer auteuristische Entdeckungen machen, die dem Modus nach eher der
klassischen Cinephilie entsprechen. Ein anschauliches Beispiel hierfür bietet Ekkehard Knörer in einem Artikel der Zeitschrift Cargo, in dem er den im
Westen praktisch unbekannten iranischen »Meisterregisseur« Bahram Beizai porträtiert:
»Ich wüsste von kaum einem anderen großen Meister des Kinos der letzten Jahrzehnte, dessen Werk
außerhalb (und zu größeren ja auch innerhalb) des
eigenen Landes so komplett unzugänglich ist [...].
Von Beizai dagegen gibt es, so weit ich sehe, derzeit
Man geht nie zweimal in denselben Film
eine französische DVD von bashu [1990], es gab einmal eine Facets-Edition von reisende (mosaferan;
1992), deren Spur verliert sich jedoch inzwischen
im Nichts. Das heißt: Wer sich für Beizai interessiert, hat entweder ganz großes und sehr seltenes
Glück auf einem Festival (in Istanbul bekam er 2004
einen Preis für sein Lebenswerk) oder bestellt seine DVDs, z.B. bei iranmovies.com, aus dem Iran,
allerdings gibt es die verbotenen Filme natürlich
gar nicht, andere nur im Originalton und keinen
in wirklich überzeugenden Editionen. Was man im
Internet indet, teils auf Youtube, teils an verborgeneren Orten, ist von mäßiger bis unterirdischer
Qualität. Ich habe keinen einzigen Beizai-Film je
auf der großen Leinwand gesehen. Andere hat mir
eine des Persischen mächtige Freundin sozusagen
simultan übersetzt. Immerhin zwei, der rabe [kalagh; 1976) und ballade von tara [chariké-ye
tara; 1979], habe ich bislang in keiner Form auftreiben können. Den Rest kenne ich in vorwiegend
verwaschenen Bildern und verpixelten Schemen,
mit klirrenden Tonspuren und den zitternden Linien des Rips uralten VHS-Materials.«12
So etwas wäre noch in den 1980er Jahren undenkbar gewesen – ein werkmonograischer Artikel in
einer angesehenen ilmkulturellen Zeitschrift, mit
der eine Neuentdeckung angekündigt wird, ohne
dass der Autor auch nur einen einzigen Film davon auf der Leinwand gesehen hätte. Doch gerade
in der Mischung aus biograischer Anekdote, fetischistischer Materialversessenheit und detaillierter Analyse zeigt sich ein cinephiler Zugriff, der
sich ganz selbstverständlich auch der neuesten
Aufzeichnungs- und Distributionstechnologien
annimmt. Was Knörer hier beschreibt, ist die Cinephilie unter den Bedingungen von Filesharing
und sozialen Netzwerken, die sich eben nicht mehr
primär mit den Meistern der populären Genres
beschäftigt (Howard Hawks, John Ford, Alfred
Hitchcock – die Cahiers-Tradition) oder an den
Rändern des US-Studiosystems nach übersehenen
Großregisseuren sucht (Samuel Fuller, Nicholas
Ray, Edgar Ulmer – die Positif-Tradition), sondern
nunmehr die letzten Weltregionen durchstreift
33
Malte Hagener
und dabei versucht, den Scouts der Filmfestivals
zumindest einen Schritt voraus zu sein.
Überhaupt nehmen die Festivals eine ambivalente Rolle in Bezug auf die Transformation
der Cinephilie in den letzten 20 Jahren ein.13 Als
Orte der – wenn man so will – postklassischen Cinephilie tragen diese einerseits zur Entdeckung
und Durchsetzung von Autoren bei, deren Weg
von Debüts in Rotterdam und Wien über Locarno und Toronto nach Berlin, Venedig oder vor
allem Cannes führt (Tsai Ming-Liang, Jean-Pierre
und Luc Dardenne, Apichatpong Weeraseethakul,
Brillante Mendoza). Andererseits sind die Festivals aber auch gezwungen, in immer kürzeren
Abständen immer neue Wellen auszurufen – auf
Iran und Taiwan folgten Korea und Argentinien
und es scheint nur eine Frage der Zeit, ehe Rumänien als derzeit »heißestes« Filmland wiederum verdrängt wird. Doch selbst mit Entdeckungen von Autoren und neuen Wellen ist es heute
nicht mehr getan, die großen Festivals haben inzwischen alle eigene Förderprogramme aufgelegt
(Huub-Bals-Fonds in Rotterdam, World Cinema
Funds in Berlin, Cinéfondation in Cannes), sodass sie selbst die Filme (co-)produzieren, die sie
dann anschließend als Neuheit der internationalen Community der Kritiker und Filmschaffenden
vorstellen. Zugleich treiben Festivals auch den
Trend voran, dass das Kino immer stärker seine
Ereignishaftigkeit in den Vordergrund rücken
muss. Da inzwischen in vielen Haushalten aufwändige Beamer mit Surround-Sound-Anlagen
zur Wiedergabe von DVDs und Blurays stehen, bei
denen man Optionen in Bezug auf Sprache und
Bild hat und zusätzlich zahlreiche Extras geliefert
bekommt, muss sich das Kino auf andere Weise
differenzieren und seine Einzigartigkeit herausstellen. Der Siegeszug von Filmfestivals wie auch
der (vor allem kommerziell motivierte) Triumph
der 3D-Technologie tragen dazu bei, das Außergewöhnliche des Kinoerlebnisses zu unterstreichen. Was dabei zunehmend gefährdet wird, ist
das Dasein des kulturell anspruchsvollen Kinos
in seiner Alltäglichkeit jenseits von Festivals und
besonderen Aktivitäten.
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Filmerfahrung und Zuschauer
Stellt man vor dem Hintergrund der Cinephilie die Frage nach dem Ort des Films14, so ist dieser
nicht länger eindeutig zu bestimmen, konkurrieren
doch heute Computer- und Fernsehbildschirme,
Tablets und Smartphones, Galerien und Großbildleinwände mit dem Filmtheater. Im Kunstbereich
ist der Film längst zu einem zentralen Referenzpunkt geworden, wie sich in den Installationen,
etwa von Douglas Gordon, Monica Bonvicini, Eija-Liisa Ahtila, Harun Farocki, Shirin Neshat oder
Johan Grimonprez, zeigt. Auch Christian Marclays
Arbeit The Clock ist ohne den reichen Fundus der
Filmgeschichte undenkbar. Nach Stationen in London, New York, Glasgow und Plymouth wurde die
Arbeit auf der (Kunst-)Biennale in Venedig 2011
mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. Marclays
Installation – eine Montage von Einstellungen aus
(nicht nur, aber ganz überwiegend) kommerziellen Spielilmen – basiert auf einem ebenso einfachen wie wirksamen Prinzip: dem der Echtzeit,
das auf den Film übertragen wird. Die Installation
besteht aus Ausschnitten von Filmen, die sich mit
Zeit beschäftigen, in denen Uhren zu sehen sind
oder sich Hinweise auf die Uhrzeit inden. Diese
Hinweise können subtil und versteckt sein, wie
eine im Hintergrund sichtbare Kirchturmuhr, oder
auffällig und direkt, wie die Detailaufnahme einer
Armbanduhr, während die Zeit zusätzlich von einer Filmigur genannt wird. Die intradiegetische
Zeit stimmt dabei mit der extradiegetischen Zeit
überein, sodass eine Einstellung, in der es 12:05 Uhr
ist, in der Installation genau um 12:05 Uhr läuft.
Insgesamt hat die Installation eine Laufzeit von 24
Stunden, reproduziert also durch die zweite Natur
des Films einen kompletten Tagesablauf und perpetuiert sich damit prinzipiell endlos, weil immer
wieder ein neuer Tag an den alten anschließt.
Schon früh äußerten sich Kommentatoren15
kritisch bis bewundernd zu dieser Installation und
untermauerten damit ihren kanonischen Status. The
Clock ist bisher ausschließlich im Kunstkontext als
installative Arbeit präsentiert worden, auch wenn
sie sich im Internet zum Herunterladen (etwa in
Abschnitten von einer Stunde) anbieten ließe und
man sie natürlich auch auf DVD verkaufen könnte.
Kino
Man geht nie zweimal in denselben Film
Marclay hingegen verknappt sein
Werk, sodass etwa das Los Angeles
County Museum of Art (LACMA)
für eine Kopie eine knappe halbe
Million Dollar bezahlte, wie Thom
Anderson atemlos berichtet, wobei sich die Empörung angesichts
des hohen Preises mischt mit dem
Wissen um die Exklusivität, die
sich daraus für den Betrachter
ergibt. Die künstliche Verknappung eines Werkes, natürlich der
ökonomischen Logik des Kunstmarkts geschuldet, resultiert in
einer Haltung, die die Einmaligkeit des Projektionsereignisses
hervorhebt. Man kann den Film
nicht auf DVD erwerben oder auf The Clock (Christian Marclay; 2011)
andere Weise Zugang erhalten,
sondern ist auf spezielle Orte und
Zeiten angewiesen, um die Arbeit sehen zu können. von wenigen Minuten sieht man gelegentlich den
In einer früheren Phase des Kinos, als die Möglich- gleichen Darsteller in Filmen, die mit mehreren
keit, einen bestimmten Film zu sehen, eine seltene, Jahrzehnten Abstand gedreht wurden. Innerhalb
womöglich sogar einmalige Gelegenheit darstellte, einer immer wiederkehrenden Struktur des Tanahmen Cinephile nicht selten aufwändige Reisen gesablaufs scheint also noch eine andere zyklische
auf sich, um ein bestimmtes Werk oder eine Retro- Temporalität auf, nämlich jene des Menschenalspektive zu besuchen.16
ters von der Geburt und Jugend über das ErwachDas Warten auf und diese Reisen zu Werken, sensein bis hin zu Verfall und Tod.
Auch die Differenz zwischen Filmstilen und
die man nur vom Hörensagen und aus der Literatur kennt, die atemlose Anspannung und Antizi- Produktionskontexten erschließt sich sinnfällig
pation vor der Projektion, der Versuch, jedes Bild in der Kombinatorik der Installation, die ebensolund jeden Ton als kostbar aufzusaugen, weil man che Grenzen nicht anerkennt, weil die Ordnung
um die Einmaligkeit der Erfahrung weiß, kann auf andere Art hergestellt wird. Und schließlich
somit als eine cinephile Haltung verstanden wer- evoziert die Installation Beziehungen zwischen
den, die sich heute in anderer Form wiederholt. der Welt des Films und jene der Zuschauer, wenn
Noch auf eine andere Weise unterstützt The Clock man etwa morgens die Installation betritt und in
eine Rezeptionshaltung der (klassischen) Cinephi- zahlreichen Ausschnitten Figuren aufwachen und
lie, nämlich im Erkennen von Schauspielern und frühstücken. Insofern ist Marclays Werk eine ReFilmen. Die Arbeit basiert auf einer sehr direkten lektion der unterschiedlichen Formen von TemGratiikationsstruktur, weil man ständig zum Ra- poralität und Subjektivität in einer medialisierten
ten (der Darsteller und Filmtitel) angehalten wird; Welt, in der Zeit nicht mehr jenseits von Medien
und da die Ausschnitte ausnahmslos sehr kurz sind, denkbar ist. Es fällt auf, dass die Kritiken zu The
bleibt dies auch zunächst kurzweilig. Im Laufe der Clock stets angeben, zu welcher Uhrzeit und unter
Betrachtungszeit schieben sich dann jedoch ande- welchen Umständen die Arbeit besucht wurde – so
re Temporalitäten in den Vordergrund: Innerhalb blickt Zadie Smith, die ihre Kinder vom Kinder35
Malte Hagener
garten abholen muss, neidisch auf die Londoner
Hipster, die scheinbar den ganzen Tag in der Installation vertrödeln können, so schildert Thom
Anderson von seinem nächtlichen Kampf mit dem
Schlaf in Los Angeles, während Bert Rebhandl zur
Mittagszeit in Glasgow detailliert seinen Weg zur
Galerie beschreibt. Stets geht es um die Schnittstelle zwischen individueller, biograischer Erfahrung und kollektiven Identitätsformen, die in
Bezug auf das Kino entscheidend sind.
Fazit
Das Kino als Kreuzungspunkt kultureller Praktiken, ästhetischer Traditionen, technologischer
Entwicklungen und ökonomischer Interessen war
niemals so stabil, wie man im Nachhinein vielleicht
glauben mag. Insofern ermöglicht eine Beschäftigung mit der Cinephilie die Öffnung einer Filmund Kinogeschichte, die weniger an den großen
Meisterwerken interessiert ist, als vielmehr die
vielfältigen Aneignungs- und Umwertungsprozesse
in den Blick nimmt. Es wäre ein Missverständnis,
wollte man die Cinephilie als eine gänzlich subjektive Rezeptionsform ansehen. Vielmehr geht es
bei aller Idiosynkrasie stets darum, einen radikal
subjektiven Zugang in Hinblick auf intersubjektive Prozesse zu öffnen. Insofern impliziert Cinephilie auch stets eine Konfrontation mit radikal
anderen Lesarten und Rezeptionsformen im öffentlichen Raum des Kinos.
Versteht man die plakative Frage »Was ist
Kino?« als »Was ist die Rolle und Funktion von
Kino im Zeitalter der Netzwerkmedien?«, so lässt
sich darauf verweisen, dass das Kino im Gegensatz auch gerade zum »Heimkino«, das zwar in
Bezug auf Bildgröße und Tonqualität dem Kino
Konkurrenz machen will, noch immer ein öffentlicher Ort ist, an dem sich eben unterschiedliche
Stimmen und Identitätsentwürfe, unterschiedliche Menschen und Diskurse treffen und miteinander in Kontakt treten können. Im Gegensatz
zum Privatraum, wo ich als Gastgeber vollständige Kontrolle über Programm und Gäste habe,
eröffnet das Kino immer wieder die Möglichkeit
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Filmerfahrung und Zuschauer
der Kontingenz. Das Überraschungsmoment tritt
hier in anderer Form auf den Plan, weil durch Begegnungen mit anderen Filmen und Menschen
die Differenzerfahrung potentiell größer ist, als
wenn man den Algorithmen der Suchmaschinen
vertraut. Hier wäre dann die künftige Aufgabe
des Kinos zu suchen: Neben der Aufrechterhaltung der Filmkultur als alltägliche Kulturpraxis,
die auch jenseits von Festivals und Symposien
eine ständige Heimat braucht, geht es um einen
öffentlichen Ort, an dem Alterität kulturell, diskursiv und ästhetisch eine Heimstatt indet. Und
die Cinephilie, die sich immer wieder der neuesten
medialen und technologischen Mittel bemächtigt,
ist trotz aller Veränderungen noch immer eine
Kraft, welche die individuelle Erfahrung eines
Films mit kollektiven Vorstellungen von Kultur
in Verbindung zu setzen vermag.
Anmerkungen
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Für neuere Publikationen zur Cinephilie siehe Antoine
de Baecque: La cinéphilie. Invention dʼun regard, histoire dʼune culture. 1944–1968. Paris 2003; Jonathan
Rosenbaum / Adrian Martin (Hg.): Movie Mutations.
The Changing Face of World Cinephilia. London 2003;
Marijke de Valck / Malte Hagener (Hg.): Cinephilia –
Movies, Love, and Memory. Amsterdam 2005; Christian Keathley: Cinephilia and History, or The Wind in
the Trees. Bloomington; Indianapolis, IN 2006; Jason
Sperb / Scott Balcerzak (Hg.): Cinephilia in the Age of
Digital Reproduction. Film, Pleasure and Digital Culture. London 2009.
Siehe zur Theoriebildung im Frankreich der 1920er
Jahre Richard Abel (Hg.): French Film Theory and Criticism. 1907–1939. A History/Anthology. Volume I:
1907–1929. Princeton, NJ 1988; und Oliver Fahle: Jenseits des Bildes. Poetik des französischen Films der
zwanziger Jahre. Diss. Mainz 2000.
Zur Kritik am Begriff der »Photogénie« siehe David
Bordwell: French Impressionist Cinema. New York
1980.
»Photogénie, then, refers to the unspeakable within the
relation of looking and operates through the activation of a fantasy in the viewer which he or she refuses to verbalise. In this sense, it requires the viewerʼs
complicity in refusing – as if refusal were suficient to
obliterate it – the fall into symbolic signiication (language) and the corresponding privileging of a nostalgia for the pre-symbolic when ›communication‹ was
Kino
possible without language in a process of symbiosis
with the mother.« (Paul Willemen: Photogénie and
Epstein. In: P.W.: Looks and Frictions. Essays in Cultural Studies and Film Theory [1982]. London 1994, S.
129 [Übersetzung M.H.]).
5 »La cinéphilie, considérée comme une manière de voir
les ilms, dʼen parler, puis de diffuser ce discours, est
ainsi devenue pour moi une nécessité, la vraie manière
de considérer le cinéma dans son contexte.« (de Baecque 2003, a.a.O., S. 11).
6 »Cet amour, ma génération ne pouvait pas le réinventer: les ›auteurs‹ étaient consacrés, les articles écrit,
les entretiens enregistrés, les ilms vus, parfois revus
à la télévision. Tout sʼétait passé avant.« (de Baecque
2003, a.a.O., S. 9. [Übersetzung M.H.]).
7 »I have to enter the auditorium by the right-hand
stairway and aisle. Then I sit to the right of the screen,
preferably in the aisle seat, so that I can strech my legs.
This is not just a matter of physical comfort, or the
view: I have constructed this vision for myself. For a
long time, at the Cinémathéque, I sat in the front row,
in the middle, with no one in front to disturb me, in
order to be completely immersed in the show, always
alone. Even today, it’s impossible for me to go to the
cinema with anyone; it disrupts my emotion. But over
the years and after many ilms, I’ve drawn back a bit, off
to the right, and I’ve found my axis toward the screen.
At the same time, I’ve positioned my spectatorial body
with minute care, adopting three basic positions: streched out on the ground, legs draped over the seat
in front of me, and, inally, my favorite but the most
dificult position to achieve, the body folded in four
with the knees pressed against the back of the seat in
front of me.« (Jean Douchet: La fabrique du régard. In:
Vertigo, Nr. 10, 1993 [Übersetzung M.H.], S. 34; zitiert
nach: Keathley 2006, a.a.O., S. 6f.)
8 »Stories about the fetal position that Jean Douchet
would adopt every night in the second row of the Cinémathèque Palais de Chaillot had already made the
rounds before I became a student in Paris in 1967 and
saw it with my own eyes [...]« (Thomas Elsaesser: Cinephilia or The Uses of Disenchantment. In: de Valck /
Hagener (Hg.) 2005, a.a.O. [Übersetzung M.H.], S 27–43,
hier S. 29)
9 Siehe dazu Elsaesser 2005, a.a.O., S. 27–43 und ders.:
Von der Filmwissenschaft zu den Cultural Studies und
zurück. Der Fall Großbritannien. In: Zeitschrift für
Kulturwissenschaften, Heft 2, 2007 (Sondernummer:
Filmwissenschaft als Kulturwissenschaft), S. 85–106.
10 Susan Sontag: The Decay of Cinema. In: New York
Times, 25.2.1996, section 6: S. 60.
11 Siehe etwa Axel Bruns: Blogs, Wikipedia, Second Life
and Beyond. From Production to Produsage. New York;
Man geht nie zweimal in denselben Film
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u.a. 2008; und, schon wesentlich differenzierter, als
locus classicus des zuversichtlichen Ausblicks auf die
Selbstermächtigung der Verbraucher Henry Jenkins:
Convergence Culture. Where Old and New Media Collide. New York 2006.
Ekkehard Knörer: Den Kreis nicht schließen. Über das
Werk des im Westen allzu unbekannten iranischen Meisterregisseur Bahram Beizai. In: Cargo, Nr. 11, 2011,
S.: 55–59, hier 57.
Zum Festival als zentralem Element der Filmkultur
siehe Marijke de Valck: Film Festivals. From European
Geopolitics to Global Cinephilia. Amsterdam 2007; Dina
Iordanova / Ragan Rhyne (Hg.): Film Festival Yearbook
1. The Festival Circuit. St. Andrews 2009; und Dina Iordanova / Ruby Cheung (Hg.): Film Festival Yearbook
2. Film Festivals and Imagined Communities. St. Andrews 2010.
Grundsätzliches dazu in Malte Hagener: Wo ist Film
(heute)? Film/Kino im Zeitalter der Medienimmanenz.
In: Gudrun Sommer / Vinzenz Hediger / Oliver Fahle
(Hg.): Orte ilmischen Wissens. Filmkultur und Filmvermittlung im Zeitalter digitaler Netzwerke. Marburg
2011 (Zürcher Filmstudien; Band 26), S. 43–57.
Siehe Thom Andersen: Random Notes on a Projection
of The Clock by Christian Marclay. In: Cinemascope,
Nr. 48, http://cinema-scope.com/wordpress/webarchive-2/issue-48/random-notes-on-a-projection/;
Zadie Smith: Killing Orson Welles at Midnight. In:
The New York Review of Books, 28.4.2011, www.nybooks.com/articles/archives/2011/apr/28/killingorson-welles-midnight/; Bert Rebhandl: Raum-ZeitKontinuum. 24 Stunden sind alle Tage. Christian
Marclays Filminstallation »The Clock«. In: Cargo, Nr.
11, September 2011, S. 32–35; Daniel Zalewski: The
Hours. How Christian Marklay Created the Ultimate
Digital Mosaic. In: The New Yorker, 12.3.2012, www.
newyorker.com/reporting/2012/03/12/120312fa_
fact_zalewski?currentPage=1; A. O. Scott: In »The
Clock« You Always Know the Time. In: The New York
Times, 16.7.2012, www.nytimes.com/2012/07/17/movies/in-the-clock-you-always-know-the-time.html?_
r=1&nl=movies&emc=edit_fm_20120720.
Der Übergang von der Black Box des Kinos zum White
Cube der Galerie ist in den letzten Jahren vielfach diskutiert worden, sodass hier nur auf einige wenige aktuelle Publikationen verwiesen sei: Lilian Haberer /
Ursula Frohne (Hg.): Kinematographische Räume. Installationsästhetik in Film und Kunst. Paderborn 2012;
Henry Keazor / Fabienne Liptay / Susanne Marschall
(Hg.): FilmKunst. Studien an den Grenzen der Künste
und Medien. Marburg 2011; Gertrud Koch / Volker
Pantenburg / Simon Rothöhler (Hg.): Screen Dynamics. Mapping the Borders of Cinema. Wien 2012.
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