Friedhelm Roth-Lange
Theater sehen lernen mit Standbildern und Szenenfotos
1 Standbilder und Szenenfotos im aktuellen Dramenunterricht –
überfordernde Rätselbilder und unterfordernde Bilderrätsel
Ein Schwarzweißfoto zeigt zwei Männer in enger Umarmung. Unter
der Überschrift „Don Karlos und Marquis Posa – Die
Figurenbeziehung analysieren“ findet sich die Aufgabe: „Erläutern Sie,
inwiefern das Szenenfoto zum zweiten Auftritt des ersten Aktes
passt.“ Und im übernächsten Schritt heißt es: „Bauen Sie ein
Standbild, das die Qualität dieser Freundschaft zu diesem Zeitpunkt
zum Ausdruck bringt.“1. Zur Methode „Ein Standbild bauen“ erfährt der
Leser in einem Kasten, dass „ein Schüler oder eine Schülerin
sozusagen als ‚Bildhauer’ mit den Mitspielerinnen und Mitspielern das
Bild (aufbaut), indem er die Haltung der Mitspieler so lange formt, bis
die gewünschte Position eingenommen ist. Dann erstarren die Spieler
für 30 bis 60 Sekunden(…)“2.
Diese Anordnung von Material, Methode und Arbeitsaufträgen ist in
zweierlei Hinsicht symptomatisch für aktuelle Tendenzen in der
Behandlung dramatischer Literatur im Deutschunterricht. Zum einen
zeigt sie, dass mit der Aufnahme szenischer Verfahren wie dem
Erarbeiten von Sprechhaltungen, Standbildern oder Tableaus das
Drama endlich als Theatertext verstanden und durch die
Einbeziehung von Szenenfotos der Inszenierungsaspekt wenigstens
ansatzweise im Unterricht behandelt wird. Andererseits macht das
Beispiel aber auch deutlich, dass eine solche nachlässige und
methodisch unreflektierte Thematisierung der theatralen Dimension
deren Potenzial an ästhetischer Erfahrung verschenkt. Damit soll nicht
kritisiert werden, dass hier ein komplexer emotionaler Vorgang auf
eine Geste, die Beziehung zwischen Freunden auf eine
Momentaufnahme reduziert wird. Diese Reduktion der Komplexität
szenischer Vorgänge auf ein prägnantes Bild gehört gerade zu den
Vorteilen dieser Verfahren. Problematisch in dem zitierten Beispiel
sind vielmehr der Suggestivcharakter der ersten 3, die Redundanz und
1
2
Botor - Don Karlos, S. 11
ebd.
Ungenauigkeit der zweiten
Aufgabenstellung 4, die fehlenden
Angaben zu dem Gestaltungsvorgang 5 sowie zur Auswertung und zu
möglichen Bewertungskriterien.
An ähnlichen Negativbeispielen ist leider in neueren Lehrwerken für
den Deutschunterricht kein Mangel. Wenn Schüler etwa bei der
Besprechung von Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“ die Aufgabe
bekommen, „in einem Standbild die Tötung Ills“ darzustellen 6, ist der
Unterhaltungswert - in dem Fall genauer gesagt wohl eine
‚Mordsgaudi’ - sicher garantiert. Aber welche Einsichten sollen
dadurch gewonnen, welche spezifischen theaterästhetischen
Erfahrungen dabei gemacht werden? Mindestens ein Dutzend
Darsteller müssen da in eine szenische Form gebracht werden, selbst
für einen erfahrenen Regisseur ist eine solche Massenszene eine
Herausforderung. Der Eindruck der Überforderung und Beliebigkeit
entsteht allerdings genauso, wenn den Schülern die Wahl der
Situation überlassen bleibt, die sie in einem Standbild gestalten
sollen7.
Ähnliche Defizite lassen sich bei der Einbeziehung von Szenenfotos in
neueren Unterrichtsmaterialien feststellen. Bilder einer Aufführung
erleichtern es zweifellos, den dramatischen als inszenierten Text
begreifbar zu machen. Aber: welcher Lernfortschritt kann in der
Sekundarstufe II damit erreicht werden, dass Schüler Szenenfotos
aus einer Laien-Aufführung „dem Woyzeck-Plot“ zuordnen 8 oder zu
einer Serie von fünf Fotos vom Sterben der Mutter Peer Gynts die
3
Da das Foto den Dramentext wörtlich nimmt („In dieser Umarmung / heilt mein
krankes Herz“ V 133 f.), kann hier kaum mehr als eine affirmative Antwort gegeben
werden.
4
Die Angabe „zu diesem Zeitpunkt“ lässt nicht erkennen, welcher Moment der Szene
für die Erstellung eines Standbildes gewählt werden soll.
5
Bei einem Standbild ist nicht nur in eine „gewünschte Position“, sondern auch die
Haltung, die Blickrichtung, die Gestik, der Gesichtsausdruck zu gestalten.
6
Bekes - Kompetenzen, S. 92. Nur unter didaktischen Kuriosa verbucht werden kann
auch der Vorschlag auf einer Internetseite von „Der Lehrerfreund.de“, dass beim
Erstellen des Standbilds durch eine Gruppe alle nicht beteiligten „SchülerInnen der
Klasse (auch: die Lehrperson) die Augen schließen oder aus dem Fenster schauen“
sollen.
http://www.lehrerfreund.de/in/schule/1s/standbild-bauen-praesentation/
7
Schurf - Texte S.174. Die übrigen Angaben zur Methode des Standbilds in diesem
Lehrbuch sind dagegen durchaus brauchbar.
8
Aleker - Blickfeld, S. 267
passenden Textstellen suchen?9 Szenenbilder verkommen hier zum
Bilderrätsel. Da ist es nicht überraschend, wenn an anderer Stelle die
Bilder von neueren Woyzeck-Inszenierungen mit der Aufgabe
versehen werden: „Stellen Sie Vermutungen an, welche Geschichte
des underdogs in unserer Gegenwart jeweils erzählt werden soll.“ 10
Da man im Buch nicht einmal erfährt, welche Figuren auf den Fotos
zu sehen sind, von Aussagen über das rätselhafte Material in der
Bühnenmitte und die Art der Videoeinspielungen ganz zu schweigen,
kann die Aufgabe als Einladung zum wilden Spekulieren verstanden
werden. Interesse an modernem Theater wird dadurch kaum zu
wecken sein. Es sei denn, der Lehrer ist neugierig genug und entdeckt
bei einer Recherche im Internet, dass im Web-Archiv des
Staatstheaters Stuttgart diese und weitere Fotos der Inszenierung mit
Kennzeichnung der Figuren bzw. der Darsteller sowie einem knapp
informierenden Begleittext zu finden sind 11. Auch diese zusätzlichen
Informationen und Bilder werden aber selbst einen theatererfahrenen
Schüler kaum dazu befähigen, nun das “jeweilige Regiekonzept“ zu
beschreiben, selbst wenn die Aufgabe dann im nächsten Satz auf das
Bühnenbild, Kostüme und Licht eingeschränkt wird. 12
2 Vorschläge für eine theaterdidaktisch orientierte Verwendung von
Standbildern und Szenenfotos
„Das Bauen von Standbildern ist einfach, verführt aber zur
Oberflächlichkeit. Wenn nicht präzise gearbeitet wird, bleiben die
Bilder beliebig, es wird nicht erfahrbar, was das Verfahren leisten
kann“13. Diese warnenden Feststellungen Ingo Schellers werden von
9
a.a.O., S. 71. Die Fragestellungen sind auch deshalb problematisch, weil sie implizit
von der Annahme ausgehen, dass Inszenierungen in einem Abbildverhältnis zum Text
stehen, sozusagen seine Illustration darstellen. Insbesondere für die gegenwärtige
Theaterästhetik trifft das nicht zu, denn hier werden die theatralen Zeichen zum Teil
bewusst kontrastierend zum Text, jedenfalls aber weitgehend autonom eingesetzt.
10
a.a.O., S. 271
11
Vgl.:
http://www.staatstheater.stuttgart.de/schauspiel/spielplan/bild_popup.php?
stid=340&id=837
12
Aleker – Blickfeld, S. 271
13
Scheller – Szenisches Spiel, S. 63. Scheller hat (in Anlehnung an den brasilianischen
Theaterpädagogen Augusto Boal) die Arbeit mit Standbildern und mögliche
Auswertungsprozesse im Rahmen seiner Methodik des szenischen Interpretierens
überaus detailliert erläutert. Seine Vorschläge sind allerdings in den mir vorliegenden
den angeführten Beispielen auf erschreckende Weise bestätigt. Es
besteht
offensichtlich weiterer Klärungsbedarf. Dem sollen die
folgenden Empfehlungen dienen. Sie verstehen sich in einem
doppelten Sinn als Beitrag zu einer weiterführenden Didaktisierung
der szenischen Verfahren:
Zum einen wollen sie deren theaterdidaktische Möglichkeiten
akzentuieren. Denn diese Verfahren ermöglichen es, nicht nur
dramatische Figuren und Konstellationen besser zu verstehen und zu
interpretieren, sie sind auch geeignet, szenische Vorgänge in ihrer
medialen Eigenart zu begreifen, Theater sehen zu lernen. Anders als
bei Scheller, der mit der „szenischen Interpretation“ vor allem einen
erfahrungsbezogenen Zugang zur Welt der dramatischen Figuren
eröffnen will, steht hier also der Wahrnehmungs- und
Gestaltungsaspekt im Vordergrund, die Sensibilisierung für das
Verhalten im Raum als einem Teilbereich der Theaterästhetik.
Zum anderen geht es darum, die Alltagstauglichkeit der szenischen
Verfahren zu sichern: der ‚normale’ Literaturunterricht mit seinen
organisatorischen und curricularen Rahmenbedingungen schränkt die
Anwendung
der
von
Scheller
vorgeschlagenen,
extrem
zeitaufwendigen Verfahren erheblich ein. 14 Um im Unterricht
praktikabel zu sein, müssen die Verfahren daher deutlich reduziert
und auf exemplarische Aspekte konzentriert werden.
1. In den Lehrwerken werden die Begriffe Standbild, Statue, lebendes
Bild, Tableau (vivant) und Soziogramm oft recht undifferenziert
gebraucht. Problematischer noch als die fehlende terminologische
Festlegung erscheint mir, dass dadurch die Unterschiede der damit
jeweils gemeinten Verfahrensweisen unklar bleiben. Während das
Standbild als Momentaufnahme das Verhalten von einer oder
mehreren Personen in einer konkreten Situation fixiert, etwa wenn
Karlos im zweiten Auftritt des ersten Aktes zu Posa sagt: „Jetzt zum
König, / Ich fürchte nichts mehr – Arm in Arm mit dir /So fordr’ ich
mein Jahrhundert in die Schranken“, bringt die Statue abstrahierend
eine Beziehung, ein Gefühl oder eine Einstellung bildlich auf den
Begriff, z.B. die Freundschaft zwischen Karlos und Posa. 15 Auch das
Soziogramm abstrahiert von einer bestimmten Situation, dabei geht es
Unterrichtswerken nur sehr oberflächlich rezipiert worden.
14
Unterrichtspraktisch wenig praktikabel sind insbesondere seine Vorschläge zur
Deutung der Standbilder, aber auch die Kapitel über die „Durchführung physischer
Handlungen“ oder „die szenische Demonstration“. Scheller – Szenische Interpretation,
S. 71 und 79
aber um die bildliche Darstellung der Beziehungsstruktur oder –
konstellation in einer Gruppe. 16 Meist genügt hier eine skizzenhafte
Darstellung als Grafik, eine räumliche Gestaltung als Standbild ist nur
dann sinnvoll, wenn damit ein weiterführender Auftrag verbunden ist,
etwa die Beziehungen untereinander in einem improvisierten
Rollentext aus der Perspektive einer Figur zu deuten 17. Das Tableau
ist ebenfalls eine abstrahierende Form des Arrangements mehrerer
Figuren, allerdings in bewusster kompositorischer Gestaltungsabsicht
und mit besonderer Berücksichtigung der theatralen Wirkung auf ein
Publikum, etwa die Anordnung der glücklich vereinten Paare am
Schluss einer Komödie.18 Die Entscheidung für eine dieser Bildformen
hängt wesentlich davon ab, welche Intentionen der Unterricht mit
diesen Methoden verfolgt.
2. Gewöhnlich werden Standfotos und Standbilder als „Einstieg in die
Figurenanalyse“19 benutzt und dienen folglich dazu, die Haltungen und
Einstellungen der Figuren in einer bestimmten Situation sowie ihre
Beziehungen zu anderen Figuren zu erfassen. Sie können aber auch
eine Konstellation zuspitzend und abstrahierend verdeutlichen oder
das Augenmerk auf dramen- und theatertechnische Besonderheiten,
etwa das Belauschen, die Teichoskopie, die vierte Wand, das Spiel
mit dem Publikum oder das Spiel im Spiel, lenken.
3. Von der mit dem Standbild verfolgten Intention hängt entscheidend
ab, für welche Stelle im Handlungsverlauf man sich entscheidet. Diese
sollte gut überlegt sein und nicht der Lerngruppe überlassen bleiben.
In dem Arbeitsauftrag muss auch deutlich werden, aus welcher
Perspektive das Bild gebaut werden soll, aus der einer beteiligten
Figur oder der eines Regisseurs, der seine Sicht der Beziehungen im
Hinblick auf eine bestimmte Publikumswirkung gestalten will 20. Der
15
„Statuen werden wie Standbilder gebaut, sind aber, da sie Strukturen zeigen, in der
Regel gröber, überzeichneter, manchmal auch klischeehafter als diese“. Scheller –
Szenisches Interpretieren, S. 69.
16
a.a.O., S. 96
17
a.a.O. S. 93, 95 und 96
18
Vgl. Poloni – Tableau, S 904. Im Oberstufenunterricht empfehlenswert sind in
diesem Zusammenhang Lessings Bemerkungen zum bildnerisch „fruchtbaren Moment“
in seinem Laokoon-Aufsatz.
19
Botor – Don Karlos, S. 33
20
Als Muster für einen entsprechend differenzierten Arbeitsauftrag formuliert Scheller:
„Marie und Margreth stehen am Fenster, der Tambourmajor marschiert mit dem
Zapfenstreich vorbei. Lest euch die Rollentexte zu den Figuren durch und entscheidet
euch für eine Figur, aus deren Perspektive ihr das Geschehen wahrnehmen wollt. Zeigt
letzte Gesichtspunkt etwa spielt bei Scheller fast keine Rolle, da es
hier vor allem um „Einfühlung“ in Rollen und Situationen geht 21, das
heißt ein mit Hilfe von szenischen Verfahren vertieftes Verständnis der
im Drama dargestellten inneren und zwischenmenschlichen
Vorgänge, nicht aber um das Erkennen und Reflektieren bestimmter
theatraler Wirkungsmechanismen.
4. Für Lerngruppen, die im Umgang mit Standbildern und Szenenfotos
ungeübt sind, erscheint es unerlässlich, die Methode nicht nur verbal
einzuführen22, sondern den Blick der Schüler für Besonderheiten des
Raumverhaltens zu schärfen und ihnen damit zugleich Kriterien für die
Beschreibung, Auswertung und Beurteilung an die Hand zu geben.
Die Proxemik, die das Raumverhaltens als Teil der nonverbalen
Kommunikation systematisch erfasst, liefert dazu wertvolle Hilfen:
etwa mit der Unterscheidung der Aspekte Distanz, Augenhöhe,
Ausrichtung des Blicks, Ausrichtung des Körpers, Formen der
Berührung.23. Wenn Schüler gelernt haben, unter diesen
Gesichtspunkten Menschen in einem Raum wahrzunehmen und
Raumbeziehungen als soziale und emotionale Beziehungen zu
deuten, sind sie auch zu einer differenzierten Lösung von
entsprechenden Gestaltungsaufgaben in der Lage.
5. Klare Vorgaben zur Organisation des Arbeitsvorgangs müssen die
räumlichen und zeitlichen Rahmenbedingungen sowie die
Gruppenstruktur berücksichtigen Sie werden dazu verhelfen, dass die
szenische Arbeit an dem Arrangement der Figuren und ihrem
Körperausdruck im Mittelpunkt steht. Für eine gründliche Erarbeitung
eines Standbildes sollten mindestens 10 Minuten veranschlagt
werden, vorausgesetzt, der Handlungskontext und die Rollenprofile
sind bereits von den Schülern erarbeitet. Sinnvoll ist es auch, mehrere
Kleingruppen gleichzeitig an einer Aufgabe arbeiten zu lassen, um die
Ergebnisse am Ende miteinander vergleichen zu können. Ob dabei
ein Regieteam ohne Worte, nur ‚modellierend’ mit passiven
im Standbild, wie die Figur die Situation wahrnimmt und bewertet.“ Scheller – Szenische
Interpretation, S. 84
21
a.a.O., S. 43 f.
22
Scheller bietet dazu eine sehr wortreiche Demonstration an, die in der Form im
Unterrichtsalltag aus Zeitgründen kaum praktikabel ist. Vgl. Scheller – Szenisches
Spiel, S. 63 – 68
23
Poggendorf – Proxemik, 137 f. Eine Unterrichtsskizze „Standbilder bauen“ mit
anschaulichem Bildmaterial für die Klasse 6 findet sich auch auf
http://www.schulebw.de/unterricht/faecher/deutsch/projekte/itg5_6/standards5_6/standbilderue.htm
Darstellern 24 ggf. im Wechsel arbeitet oder die Darsteller selbst
Vorschläge einbringen, über die eine Regiegruppe dann entscheidet,
hängt von der Erfahrung und dem Alter der Lerngruppe ab.
Wichtiger ist es, bei komplexen Situationen mit mehreren Figuren eine
feste Reihenfolge der Arbeitsschritte vorzugeben: zunächst die
Positionen im Raum unter Berücksichtigung wichtiger Raumelemente
(z.B. Türen, Fenster, Möbel) und der Blickachse der Zuschauer
festzulegen, dann die Körperhaltung zu modellieren, die Blickrichtung
zu fixieren und schließlich den Gesichtsausdruck zu gestalten.
Sobald das Standbild fertig und alle Darsteller „eingefroren“ sind,
sollte das Ergebnis mit einer Digitalkamera aus verschiedenen
Perspektiven, aber immer alle Darsteller einschließend, festgehalten
werden. Diese von vornherein angekündigte fotografische
Dokumentation erleichtert die vergleichende Auswertung, die oft nicht
in der gleichen Unterrichtsstunde stattfinden kann. Sie unterstreicht
auch, dass es sich bei dem Standbild nicht bloß um einen
spielerischen didaktischen Impuls, sondern um ein bewusst zu
gestaltendes Produkt handelt, das einem kritischen Vergleich
standhalten soll und auch noch in späteren Phasen des Unterrichts
nützlich sein kann.
6. Bei der Präsentation von Standbildern mit zahlreichen Randfiguren
haben sich folgende Zwischenschritte bewährt: zunächst stellen sich
die Schüler mit dem Namen ihrer Figur vor und erklären kurz, was sie
in der im Standbild erfassten Situation gerade tun. Diese Einführung
entlastet die Zuschauer von dem Rätseln darüber, wer in welcher
Funktion auftritt, und lenkt die Aufmerksamkeit auf das ‚Wie’ der
Darstellung. Sie hilft aber auch den Darstellern bei der Fokussierung
auf ihre Aufgabe. Anschließend gehen die Figuren in die verabredete
Position und zwar sukzessive von den Protagonisten zu den
Randfiguren. Der Vorschlag, jede „Figur sagt dann in der
eingenommenen Haltung, was sie gerade denkt und fühlt“ 25
überfordert nach meiner
Erfahrung insbesondere Schüler der
Sekundarstufe I, denn nicht nur der verabredete Gesichtsausdruck
und die Blickachse, sondern oft auch die Haltung werden dadurch
sofort verloren gehen. Ein entsprechender Selbstkommentar sollte
also in knapper mündlicher Form auf jeden Fall nach dem
Fotografieren erfolgen. Keinesfalls sollte darauf verzichtet werden,
24
Scheller – Szenisches Interpretieren, S. 67. Diese Vorgehensweise ist in den meisten
Unterrichtswerken übernommen worden.
25
Bierman - Deutschbuch 8, S. 261
denn diese Äußerungen sind eine wichtige Hilfe, beispielsweise um
den Unterschied von äußerer und innerer Handlung zu thematisieren
oder komödienspezifische Verstellungsspiele zu begreifen.
7. Für das Auswertungsgespräch liegen den Schülern die Fotos aller
Standbilder zur gleichen Situation als Kopie oder in einer Projektion
vor.26 Statt einer vorschnellen Deutung sollte zunächst einmal genau
beobachtet, sollten auffällige Besonderheiten und Unterschiede
beschrieben, einzelne Aspekte der Proxemik und Mimik kommentiert
werden, bevor es um Fragen der Stimmigkeit und der Wirkung geht.
Ein wichtiger Impuls ist abschließend der Vergleich der Standbilder
mit
Szenenfotos
professioneller
Inszenierungen
von
der
entsprechenden Stelle im Handlungsverlauf. Nach dem eigenen Tun
werden die Schüler nun die Besonderheiten eines szenischen
Arrangements mit wacherem Blick erfassen. Empfehlenswert sind
dabei insbesondere Szenenfotos, die eine Situation nicht nur im Einszu-eins-Verhältnis illustrieren, sondern diese verdichten, verfremden,
reduzieren, kommentieren oder besonders eigenwillig interpretieren.
So können diese szenischen Verfahren im günstigsten Fall auch zu
einem tieferen Verständnis von neuen Theaterformen führen.
Schließlich hat sich ja im Theater der Gegenwart neben dem
dramatischen und epischen auch ein Theateransatz etabliert, der das
Spiel auf der Bühne nicht mehr als eine Als-ob-Welt versteht, die auf
eine andere Wirklichkeit verweist, sondern auf die dem Theater
innewohnende performative Dimension fokussiert, indem er den
Schauspieler mit seinem realen Körper und die sinnliche Qualität
visueller und akustischer Zeichen erfahrbar macht. 27
3 Theater und Theatralität in einer Molière-Komödie sehen lernen 28
Am Beispiel einer Unterrichtssequenz zu Molières „Der eingebildete
Kranke“ für die 8. Jahrgangsstufe möchte ich demonstrieren, wie
26
Die Vorschläge Schellers zur Auswertung erscheinen mir dagegen problematisch,
weil die Schüler zunächst noch „rätseln“ sollen, auf welche Situation sich das Standbild
bezieht und es dann in seiner Beziehung zum Text deuten: „Anschließend diskutieren
sie die Deutung der Textstelle durch das Standbild, wobei sie eigene Deutungen in
Form von Standbildern dagegen setzen können“. Scheller – Szenisches Interpretieren,
S. 67. Damit wird das Verfahren im Unterricht sicher überstrapaziert.
27
Vgl. dazu den instruktiven Überblick über die „Ästhetik des Performativen“ bei
Paule – Theaterdidaktik, S. 188 – 202
28
Vgl. zu diesem theaterdidaktischen Ansatz: Roth-Lange – Theater lesen, S. 2-4
diese Empfehlungen bei einer „aufführungsbezogenen Lektüre“ 29, die
den Dramentext unter der Perspektive seiner Aufführung liest und
szenische Verfahren als Hilfsmittel für die Textinterpretation einsetzt,
konkret umgesetzt werden können.
Das Deutschbuch 8 des Cornelsen-Verlags bietet für die Erarbeitung
der Moliere-Komödie neben textanalytischen auch eine breite Palette
von Methoden der szenischen Interpretation an: Rollenprofile
erstellen, Kostüme, Bühnenbilder entwerfen, eine Szene parallel zum
Lesen durch andere Schüler pantomimisch darstellen lassen sowie
Inszenierungsvorschläge (Strichfassung, Regiebuch) entwerfen. 30 Zu
den sehr stark gekürzt abgedruckten Szenen 5 und 6 des zweiten
Aktes schlagen die Autoren eine „Leseprobe“ vor, also das
charakterisierende Lesen mit verteilten Rollen, In dieser Szene spitzt
sich der Konflikt zwischen Argan, der seine Tochter mit einem jungen
Arzt verheiraten will, und seiner Tochter Angélique auf unerwartete
Weise zu. Deren Liebhaber Cléante hat sich nämlich als Musiklehrer
ausgegeben und Zutritt zum Hause Argans verschafft, wo er nun
miterleben darf, wie der zukünftige Schwiegersohn seine gestelzte
Aufwartung macht. Eine weitere
Aufgabe
lautet:
„Baut
ein
Abb.1
Standbild zu dem Moment am
Ende der Szene, als Angelika
geht“31. Dieser vorgeschlagene
Ablauf vom Rollenprofil über das
szenische Lesen zum Standbild
ist methodisch durchaus stimmig.
Mir erscheint es allerdings
sinnvoll, an dieser Stelle noch
einen methodischen Schritt zur
Einführung
in
proxemische
Verfahren vorzuschalten. Um den
Blick der Schüler für die soziale
und emotionale Bedeutung des
Verhaltens im Raum zu schärfen,
erhalten sie das Standfoto 32 aus einer Theaterinszenierung, das die
29
Payrhuber zit nach Paule – Theaterdidaktik, S. 102
Biermann – Deutschbuch 8, S. 255-263
31
a.a.O., S. 261
32
Vgl. Abbildung 1.Das Original-Foto stand 2008 im Netz, ist leider aber dort
inzwischen nicht mehr auffindbar und deshalb vom Vf. nachgestellt worden.
30
Beziehung zwischen Argan und seiner Frau Béline sehr prägnant
darstellt und im Zusammenhang der Figurenexposition besprochen
wird. Es ist besonders geeignet, Kriterien für die Beschreibung des
Raumverhaltens einzuführen. Die fehlende Distanz zeigt hier
körperliche Nähe in mehrfacher Bedeutung: als Aufdringlichkeit des
Notars, als Zuneigung seitens Bélines, als Konvention und
Vertrautheit zwischen den Eheleuten. Die Höhe der Köpfe ergibt eine
klare Rangordnung mit dem Notar als dominierendem ‚Drahtzieher’.
Dem entspricht die Ausrichtung der Körper in die gleiche Richtung, die
eine einseitige, manipulierende Form der Beziehung erkennen lässt.
Der Blick ist in allen Fällen genussvoll nach innen gerichtet. Das Spiel
der Hände und die Art der Berührungen zeigen erotische Zärtlichkeit
(die Hand des Notars am Hals von Béline) und sanfte, beruhigende
Kontrolle ( die Hand Bélines auf Argans Kopf). Interessant ist auch die
große Ähnlichkeit des Gesichtsausdrucks mit dem halb geöffneten
Mund: bei Béline Ausdruck ihrer leidenschaftlichen Erregung, bei
Argan Zeichen seiner momentanen Zufriedenheit. Weiterhin sollte
eine deutende Beschreibung des Bildes die raumsprachliche
Metaphorik der Alltagssprache bewusst machen, die in
Formulierungen wie „hintergehen“, „etwas hinter dem Rücken tun“,
„Dreiecksbeziehung“, „sich in Sicherheit wiegen“, „unter einer Decke
stecken“ zu beobachten ist. Schließlich macht das Szenenfoto auch
den semantischen Eigenwert inszenatorischer Details deutlich, denn
der Text selbst gibt keine Anhaltspunkte für eine intime Beziehung
zwischen Béline und dem Notar Monsieur Bonnefoy. 33 Vielmehr hat
der Regisseur dieses szenische Arrangement gewählt, um das
doppelte Spiel, die Hinterhältigkeit und die nicht nur
erbschleicherische Interessenlage Bélines schon zu Beginn
klarzustellen. In der vorliegenden Szene, in der es um die
testamentarischen Verfügungen Argans geht, entfaltet der
Wissensvorsprung des Zuschauers zweifellos eine situationskomische
Wirkung. Es wird dabei auch zu fragen sein, welche Folgen die frühe
Demaskierung Bélines für die Wahrnehmung ihrer weiteren Aktionen
hat und ob diese Eindeutigkeit der Figurenzeichnung den Genuss an
der Verstellungskomödie wirklich steigert.
Die Intentionen, die im Deutschbuch 8 zur Wahl der Situation 34 am
Ende der Szene II, 6 geführt haben, lassen sich aus dem Kontext der
33
34
Molière – Kranke, S. 21 – 24 (I,7)
a.a.O. S. 44
Reihenplanung erschließen: es geht den Autoren um eine vor allem
an der Psychologie der Figuren und ihren Konflikten orientierte
Erarbeitung der Komödie. Dafür ist dieser zugespitzte Moment, in dem
Angélique zum ersten Mal offenen Widerstand gegenüber ihrem Vater
zeigt, der sie vor die Alternative Zwangsheirat oder Kloster stellt,
zweifellos geeignet.
Da es mir neben der Erarbeitung der – übrigens recht einfach
gestrickten - Psychologie der Figuren dieser Komödie genauso wichtig
erscheint, das Funktionieren der komödienspezifischen Theatermittel
zu vermitteln, habe ich einen anderen Moment für die Standbildarbeit
gewählt, und zwar das Ende des improvisierten Schäferspiels, das
Cléante als angeblicher Musiklehrer mit Angélique vor dem dadurch
bald peinlich berührten Zuschauern Argan und seinem auserwählten
Schwiegersohn mit dessen Vater aufführt. Diese Situation hat nicht
nur den Vorteil, dass hier die Unterbrechung einer Handlung bereits
vorgegeben ist35, sie ermöglicht durch die statische Theatralik des
Liebesduetts auch eine besonders kontrollierte, opernhafte Gestik der
Sänger, während die ‚Zuschauer’ Argan, der zukünftige
Schwiegersohn mit seinem Vater sowie Antoinette in einer statischen
Beobachterpose verharren. Vor allem spricht für diese Situation, dass
sie als eine Form des „Spiels im Spiel“ besondere Möglichkeit
eröffnet, das theatrale ‚Als-ob’, die spezifische mediale Qualität des
Theaters, damit aber auch ein spezifisches Strukturprinzip dieser
Komödie zu thematisieren, in der das „Theatermachen“, das Sich-inSzene-Setzen ein zentrales Motiv darstellt.
Abbildung 2
35
Abbildung 3
„Cléante (will fortfahren zu singen): Oh! Meine Liebe… / Argan: Nein, nein, genug
davon! Diese Komödie ist ein schlechtes Beispiel.“ A.a.O. S. 39
Angélique, Béline, Argan, Toinette,
Thomas, Cléante, Dr. Diafoirus
Cléante, Toinette, Argan, Béline, Dr.
Diafoirus, Thomas, Angélique
Die fertigen Standbilder36 zeigen deutlich, dass die Schüler den
Tableau-Charakter der Schäferspielszene erfasst haben. Vater und
Sohn Diafoirus werden als Zuschauergruppe neben Argan positioniert,
das Dienstmädchen hält sich in der Nähe ihres Herrn, ist aber mit
ihrem Blick ebenfalls dem Liebespaar zugewandt, Béline bleibt eher
unbeteiligt und in deutlicher Distanz zu ihrem Gatten im Hintergrund.
Bei der Auswertung kann an diesem Beispiel anschaulich der Begriff
des ‚Spiels im Spiel’ eingeführt und die besondere Wirkung dieses
wichtigen dramaturgischen Gestaltungsmittels besprochen werden,
das durch die Verdoppelung der Spielebenen die Bühnenillusion
steigert und das Theater selbst zum Thema macht.37
Die besondere situationskomische Raffinesse der Schäferspielszene
ist damit aber noch nicht erfasst. Theater ‚machen’ Cléante und
Angélique hier ja in einem doppelten Sinn: Sie führen eine Szene vor,
spielen aber damit gleichzeitig ihre Situation als Verliebte. Das müsste
in der Haltung, auf jeden Fall aber in dem Kommentar von Toinette als
Verbündete des Liebespaars deutlich werden. Als einzige ist sie ja in
das doppelbödige Spiel eingeweiht, kennt die wahre Identität des
angeblichen Musiklehrers und wird ihren besonderen Spaß daran
haben, die als Gesangsdarbietung verkleidete Liebeserklärung zu
durchschauen, während die drei männlichen Beobachter des
Singspiels davon nichts ahnen und mit ihrer Ahnungslosigkeit
lächerlich gemacht werden. Das gilt auch für Argan, selbst wenn
dieser leisen Verdacht zu schöpfen scheint und in der Handlung des
Singspiels einen indirekten Angriff auf seine Autorität verspürt 38.
Diese Aspekte können in der Auswertung natürlich durch Fragen etwa
nach der besonderen Beziehung Toinettes zu den übrigen Figuren in
dieser Situation erarbeitet werden. Ich selbst habe dazu einen
Bildimpuls gewählt, der verdeutlichen kann, welche Vorteile es hat, die
Standbilder der Schüler mit einem entsprechenden Szenenfoto aus
einer professionellen Inszenierung zu vergleichen. In einer
Inszenierung an der Comédie francaise 39 wird Toinette in dieser
Szene auffallend deutlich in die Nähe des Liebespaares gerückt, sie
36
Vgl. Abbildungen 2 und 3
Vgl. Pfister – Drama, S. 300 f.
38
„Diese Komödie ist ein schlechtes Beispiel (..) und die Schäferin Philis ein
ungezogenes Ding, wenn sie so von ihrem Vater spricht.“ Molière – Kranke, S. 39 (II,5)
37
spielt und singt bei dem Duett des Liebespaares schließlich auch
animierend mit. Wie das Publikum im Saal ist sie eine ‚aufgeklärte’
Zuschauerin, die im Wissen um die wahren Zusammenhänge den
besonderen Reiz
der anspielungsreichen Gesangsnummer
auskosten kann.
Abbildung 4 (Toinette, Thomas, Cléante, Angélique, Dr. Diafoirus, (Argan rechts)
Zur Vertiefung dieser Beobachtungen und im Rückgriff auf das
Szenenfoto mit Béline und dem Notar (Abb. 1) lässt sich das Spiel mit
Als-ob-Situationen in dieser Komödie als ein Strukturprinzip
erarbeiten, das hier ganz besonders häufig für komische Wirkungen
genutzt wird. Schon in ihrem ersten Auftritt zeigt Toinette ihr
schauspielerisches Talent40
und macht deutlich, welchen
Unterhaltungswert das inszenierte Jammern im Hause Argan hat:
„Wenn Ihr das Vergnügen habt zu schimpfen, muß ich wohl das
Vergnügen haben zu weinen“ 41. Wenig später zieht Béline alle
schauspielerischen Register, um ihre erbschleicherischen Absichten
39
Abb. 4. Screenshot aus: Molière: Le Malade imaginaire. Mise en scène par JeanLaurent Cochet (1976) dvd - edition montparnasse 2007 .
40
Molière – Kranke, S. 7 (I,2): Toinette „tut so, als hätte sie sich den Kopf gestoßen“.
41
a.a.O. S. 8 (I,2)
hinter gespieltem Mitgefühl zu verbergen. Die jüngere Tochter Argans
„stellt sich tot“, um der Prügelstrafe des Vaters zu entkommen. 42 Auch
die entscheidende Wende des Konflikts zwischen Vater und Tochter
verdankt sich einem doppelten Theatercoup, den Toinette ‚inszeniert’:
nachdem sie zunächst in einem virtuosen Rollen- und Kleiderwechsel
als reisender Arzt Argans Vertrauen in seinen Hausarzt und
Apotheker erschüttert hat, überredet sie ihn, sich tot zu stellen um so
die wahren Gefühle seiner Frau und seiner Tochter zu erfahren. In
beiden Fällen führt das inszenierte Trauerspiel zur Erkenntnis der
wahren Gefühle: im ersten Fall entlarvt sich Béline als Heuchlerin, im
zweiten Fall lernt der Vater die Anhänglichkeit und Liebe seiner
Tochter anzuerkennen. Die Gestaltung dieser ‚Leichenschauszene’ ist
für Schüler eine besonders motivierende Aufgabe: für Béline ist es ein
Verstellungsspiel, während Béralde dessen verabredeten Charakter
kennt und wie das Publikum im Saal den Theatervorgang genießt,
aber auch gespannt auf die Reaktion wartet.
Abb. 5
Béline, Béralde, Argan, Toinette
42
Abb 6
Béralde, Toinette, Argan, Béline
a.a.O., S. 47 (II,8). Alle diese „Verstellungsspiele“ gehören nach Pfister zu einer
Sonderform des Spiels im Spiel. Die Vereinbarung, dass es sich um ein Spiel handelt,
ist hier nur einem Teil der Beteiligten Akteure und Zuschauer bekannt. Insofern die
Figuren auf der Bühne zu Darstellern und Zuschauern gruppiert werden, sind diese
dramaturgischen Muster mit dem Modell einer klaren Verschachtelung von Spielebenen
durch den Auftritt von Schauspielern im Rahmen einer Theaterhandlung verwandt. Das
Besondere des Verstellungsspiels besteht darin, dass „hier (…) Figuren des Spiels
zusätzliche Rollen vor anderen Figuren (spielen), doch sind diese Rollen nicht fiktional,
sondern fingiert. Als fingiertes Rollenspiel zielt dieses Spielen im Spiel darauf ab,
andere Figuren des Spiels zu täuschen.“ Vgl. Pfister – Drama, S. 306
Am Ende des zweiten Aktes kündigt Béralde seinem
hypochondrischen Bruder Argan an, ein Zwischenspiel aufgetrieben
zu haben, in dem „Ägypter, als Mohren verkleidet, tanzen und singen.
Die werden Euch sicher gefallen“43. Und in der Schlussszene der
Komödie wird schließlich das Spiel im Spiel auch expressis verbis
zum ‚Theater auf dem Theater’, wenn Béralde den Auftritt von
Schauspielern ankündigt, die als Vertreter einer medizinischen
Fakultät ein „Intermezzo“ über die „Verleihung der medizinischen
Doktorwürde“ an Argan vorbereitet haben, der dabei „die Hauptrolle“
spielen soll.44
Am Ende erweist sich, dass das Spiel mit Theatermitteln nicht nur die
Struktur dieser Komödie kennzeichnet, sondern auch ins thematische
Zentrum dieses Dramas vom imaginierten Kranksein führt: werden
doch hier der Hypochonder und seine professionellen Helfer als
‚Theatermacher’ entlarvt. Und gleichzeitig erweist sich das Theater als
die bessere Medizin, denn Béralde weiß von seinen Intermezzi: „eine
Verordnung von Herrn Purgon wiegen sie allemal auf“. 45 Dank
Toinettes geschickten ‚Inszenierungen’ gelingt es, Argan von seinen
eingebildeten Krankheiten zu heilen und obendrein die falschen von
den echten Liebesbeweisen zu unterscheiden. Natürlich könnte man
diese Aspekte auch textanalytisch erarbeiten. Doch warum sollte man
Schülern bei einem Theaterstück, das so demonstrativ das
Theaterspielen selbst zum Thema, eine Erfahrung verweigern, die
Molière selbst seiner Titelfigur gestattet: „Was spiele ich doch für eine
komische Rolle hier!“46
43
Molière – Kranke, S. 49 (II,9)
Molière- Kranke, S. 74 (III,14)
45
a.a.O. S. 49 (II,9)
46
a.a.O. S. 42 (II,6).
44
4 Literatur
Aleker, Wolfgang u.a.(Hg.): Blickfeld Deutsch. Oberstufe. Paderborn
2010
Biermann, Heinrich u.a. (Hg.): Deutschbuch 8. Sprach- und Lesebuch.
Berlin 1998
Bekes, Peter u.a.: Kompetenzen, Themen, Training. Deutsch S II.
Braunschweig 2006
Botor, Michael: Friedrich Schiller – Don Karlos. Kopiervorlagen. Texte,
Themen und Strukturen. Berlin 2008
Molière, Jean Baptiste: Der eingebildete Kranke. Komödie in drei
Aufzügen. Übersetzung und Nachwort von Doris Distelmaier-Haas.
Stuttgart1986
Paule, Gabriela: Kultur des Zuschauens. Theaterdidaktik zwischen
Textlektüre und Aufführungsrezeption. München 2009
Pfister, Manfred: Das Drama. Theorie und Analyse. 9. Auflage 1997
Pogggendorf, Armin: Proxemik – Raumverhalten und
Raumbedeutung, in: Umwelt & Gesundheit 4/2006, S. 137- 140
Poloni, Bernhard: Tableau, in: Brauneck, Manfred u.a.(Hg.):
Theaterlexikon. Begriffe und Epochen, Bühnen und Ensembles.
Hamburg3 1992, S. 903 f.
Roth-Lange, Friedhelm: Theater lesen – Texte sehen und hören, in:
Der Deutschunterricht 4/2004, S. 2-4
Scheller, Ingo: Szenisches Spiel. Handbuch für die pädagogische
Praxis. Berlin 1998
Scheller, Ingo: Wir machen unsere Inszenierungen selber (I).
Szenische Interpretation von Dramentexten. Oldenburg 1993
Schurf, Bernd u.a. (Hg.): Texte, Themen und Strukturen. Deutschbuch
für die Oberstufe. Berlin 2009