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Utopie macht Geschichte. Ein Rückblick in die Zukunft [de]

2012, Voltaire. Magazin für instabile Verhältnisse. Issue 1 (2012)

Utopie macht Geschichte. Ein Rückblick in die Zukunft Peter Seyferth Wird es bald noch schlimmer, hässlicher und trostloser? Werden immer nur die Alpträume Wirklichkeit? Können wir uns etwas besseres als das Vorhandene überhaupt noch vorstellen? Um es kurz zu machen, die Antworten lauten: schon möglich; nein; ja. Freilich kann das ein jeder behaupten, daher muss ich das etwas gründlicher ausführen. Dabei werde ich mich auf intellektuell gefährliches Terrain begeben, nämlich in den Bereich der Zukunft und der sie betreffenden Wünsche. Allzu leicht fällt man hier in die Gruben des spekulativen Unsinns, denn anders als bei Wanderungen im Raum, bei denen unser Gesicht praktischerweise in die Richtung der Bewegung blickt und so eine gewissen Orientierung, mithin ein Vermeiden gefährlicher Untiefen erlaubt, ist unser Gesicht bei Wanderungen in der Zeit stets auf das gerichtet, von wo wir herkamen – weshalb jeder nächste Schritt ins Unbekannte gewagt werden muss. Die Vergangenheit liegt einigermaßen klar und übersichtlich vor uns, doch wir eilen rückwärts und so gut wie blind in die Zukunft. Was wir dort antreffen werden, können wir jetzt noch gar nicht wissen. Als besonders hellsichtige Wahrsager gelten daher üblicherweise gerade die, deren Prognosen so unscharf und widersprüchlich formuliert sind, dass man sie auf nahezu jede Zukunft anwenden kann (was sie streng genommen völlig nutzlos macht, abgesehen vom Placebo-Effekt und dem Verkaufswert an Leichtgläubige). Der berühmteste solche Seher ist Nostradamus, und der kann uns bei der Beantwortung der Fragen nicht helfen. Zugegeben: Manchmal schreibt einer was, das dann später tatsächlich passiert. Jules Vernes Reisen um die Erde und zum Mond, Herbert George Wells’ futuristische Technikstädte und der Luftkrieg, Karel Čapeks Roboter und die Atombombe: sie alle wurden erst phantasiert und später Wirklichkeit. Es ist aber kein Verlass darauf, dass die Science Fiction (dieser oder anderer Autoren) realisiert wird – weder sind wir bisher zum Mittelpunkt der Erde noch ins Jahr 802701 gereist, und schon gar nicht überschwemmen faschistische Nordmolche die Welt. Bis jetzt jedenfalls. Prophezeiungen vermögen bestenfalls Auskunft über den Geisteszustand ihrer Anhänger zu geben und auch Science Fiction behandelt nicht die Zukunft, sondern erlaubt bestenfalls einen besonders scharfen Blick auf die Gegenwart. Welches Hilfsmittel erlaubt es mir dann, die anfangs gestellten Fragen zu beantworten? Wenn es in den Fragen um etwas ginge, das schon in der Vergangenheit liegt, dann könnte ich die Antwort von jemandem erhalten, der sich daran erinnert, z.B. von einem Geschichtsschreiber. Es geht aber um etwas, das erst in der zukünftig zu schreibenden Geschichte auftauchen kann. Keine Beschreibung konkreter historischer Tatsachen kann mich ohne weiteres auf die Antworten bringen. Aber vielleicht liegt das ja daran, dass Geschichte bisher auf die falsche Art und Weise geschrieben wurde? Es wäre doch praktisch, wenn man aus der Geschichte tatsächlich lernen könnte! Wie muss man Ge1 schichte verstehen, dass aus diesem Verständnis wenigstens ein ahnungsvoller Umgang mit dem, was noch passieren wird, entstehen kann? Ich muss Geschichtsphilosophie betreiben. Ausnahmsweise lasse ich mich dabei vom Erfinder des Begriffs „Geschichtsphilosophie“ inspirieren, von Voltaire. Dieser kritisierte die herkömmliche Historiographie, die auf Wunder, Fabeln und das Eingreifen Gottes in die Weltgeschehnisse zurückgriff; stattdessen sollte man die Ursprünge der sozialen Begebenheiten in der Natur suchen. Außerdem warnte er davor, sich in der Fülle der Einzelheiten zu verlieren. Ich will jetzt nicht Voltaires Programm beschreiben, sondern seine aufklärerische Kritik auf die heutige Zeit erneut anwenden. Ich plädiere für ein Geschichtsverständnis, das auf allgemeinen Prinzipien des sozialen Handelns beruht, die in der menschlichen Natur begründet sind. Allgemeine Prinzipien und menschliche Natur, das sind Minenfelder der Philosophie, in denen sich so mancher verirrt und ungewollte Explosionen ausgelöst hat. Für ihre je eigenen Argumentationszwecke waren die von Polybius und Marx aufgestellten allgemeinen Prinzipien der Geschichte – ein sich ewig wiederholender Kreislauf respektive ein durch Klassenkämpfe vorangetriebener stufig-stetiger Fortschritt – hervorragend brauchbar, und die politischen Programme des Aristoteles und des Hobbes haben aus ihren jeweiligen Menschenbildern – das sprachbegabte soziale Tier respektive der asoziale machtgeile Egoist – immensen Nutzen gezogen, doch die Verallgemeinerung dieser geschichtsphilosophischen Grundannahmen hat immer wieder zu Paradoxien, wenn nicht gar zu politischem Verbrechertum geführt. Ich muss also den Gültigkeitsbereich der folgenden Behauptungen über die Funktionsweise der Geschichte und des Menschen einschränken: sie sind nützlich und auch als wahr anzusehen bei der Untersuchung des Zusammenhangs von Zukunftswünschen und alternativen Vorstellungen der Welt mit den zu erwartenden Veränderungen der Welt; für andere Zwecke mögen sie ganz unbrauchbar und irreführend sein. Mein Vorhaben ist gewissermaßen vergleichbar mit den Versuchen Jared Diamonds und Ian Morris’, die globalen Wohlstandsunterschiede zu erklären, ohne auf herkömmliche rassistische Fabeln zurückzugreifen. Diamond arbeitet in Guns, Germs, and Steel mit einem komplexen geographischen Determinismus als allgemeinem historischem Prinzip, demzufolge es von der Form der Landschaft abhänge, welche Spezies dort vorkommen, und von geologischen und biologischen Faktoren hänge es ab, wie viel Domestikation, Krankheitsresistenz und Waffenstahl zur Eroberung der Welt genutzt werden kann. Morris arbeitet in Why the West Rules—For Now mit einer Annahme über die menschliche Natur, dass der Mensch nämlich faul, ängstlich und habgierig sei, um Fortschritt zu erklären, und mit der Annahme eines Entwicklungsparadoxes, dass der Fortschritt nämlich stets Probleme erzeuge, um Stagnation und Rückschritt zu erklären; die globalen Wohlstandsunterschiede führt er schließlich wie Diamond auf geographische Besonderheiten zurück. Insbesondere die geographischen Faktoren können Plausibilität beanspruchen, allerdings nur für Fragen der ungleichen Verteilung von Reichtum auf dem 2 Globus. Wollte man Diamonds oder Morris’ geschichtsphilosophische Grundannahmen etwa zur Erklärung von politischen Erbfolgeregeln, literarischen Moden, religiösen Zwisten oder ökonomischen Üblichkeiten – die allesamt von Menschen gemacht, zeitlichen Veränderungen ausgesetzt und von signifikantem Einfluss auf das, was in der Zukunft passieren wird, sind – verwenden, so wären keine überzeugenden Ergebnisse zu erwarten. Die Hilfsmittel müssen passen. Welche allgemeinen historischen Prinzipien und welche Annahmen über die menschliche Natur können mir dabei helfen herauszufinden, ob alles schlimmer wird, ob nur Alpträume (nicht aber Wunschträume) wirklich werden, und ob Alternativvorstellungen überhaupt möglich sind? Was das Menschenbild anbelangt, werde ich mich an der philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners orientieren, derzufolge der Mensch ein exzentrisches Wesen ist, das aufgrund seiner biologischen Ausstattung zur Reflexion über sein Leben verurteilt ist. Anders als jedes andere Tier verhält sich der Mensch immer nur vermittelt (über das Bewusstsein) zur Welt, die ihm von Natur aus als Kunstwerk erscheint und in der er einen utopischen Standpunkt einnimmt, also selbst der Erschaffer von Geschichte und Gesellschaft ist. Im Unterschied zu eschatologischen Vorstellungen, nach denen man (mit oder ohne Gottes Zutun) eine letzte, endgültige Gesellschaft errichten kann, mit der dann die Geschichte endet – eine solche Philosophie des beendbaren utopischen Fortschreitens vertrat der berühmte Ernst Bloch –, ist das endlose In-Frage-Stellen gesellschaftlicher Ordnung, die festverdrahtete Entfremdung des Menschen von seinen Produkten bei Plessner eine anthropologische Konstante, die zwar durch Religion politisch unwirksam gemacht, niemals aber wirklich überwunden werden kann. Dazu kompatibel ist das Geschichtsbild Gustav Landauers, dessen Begriffspaar Topie—Utopie ich als Grundprinzip der Geschichte übernehmen möchte. Landauer zufolge gären in allen Gesellschaften Unzufriedenheiten, die die Form von Utopien annehmen können, also Wunschvorstellungen davon, wie es besser sein könnte. Werden die Utopien drängend und dringend genug, so kommt es zur Revolution, in der die Utopie zur Topie wird, das ortlose Verlangen also als neue gesellschaftliche Ordnung einen Ort findet. Der Witz dabei ist, dass schon alle vorherigen Ordnungen Topien waren und auch für alle zukünftigen gilt: sie enthalten übriggebliebene Elemente früherer Zeiten/Topien/Gesellschaften, denen einige (aber nicht alle) Aspekte der revolutionierenden Utopien hinzugefügt wurden. Plessner und Landauer haben überhistorisch gültige Gesetze des Menschseins und des Geschichte-Machens aufgestellt, die es mir erlauben, auch für die Zukunft zu behaupten: Einige werden mit dem Vorhandenen unzufrieden sein, sich bessere Zustände ausdenken und alles in ihrer Macht stehende tun, die Welt zu verbessern; andere werden aus fast denselben Gründen dagegen ankämpfen; und so werden ohne Verschnaufpause stets die Träume der einen und die Alpträume der anderen verwirklicht, ohne je Reinheit oder Perfektion erreichen zu können. Uns erwarten instabile Verhältnisse. 3 Gegen eine solche Geschichtsphilosophie können mehrere Einwände erhoben werden. So war das Weltverbesserertum nicht in allen Epochen der Menschheitsgeschichte gleich stark. Manche würden sogar argumentieren, im Mittelalter etwa hätte man sich die Zukunft als etwas von den Menschen Gestaltetes gar nicht vorstellen können, man habe die gesellschaftliche Ordnung als gottgegeben hingenommen. Folglich dürfte man Plessners und Landauers Theorien nicht universalisieren, schließlich seien sie nicht mehr als der Ausdruck einer bestimmten Denkmode Anfang des 20. Jahrhunderts. Es hat den Anschein, dass eine utopische Geschichtsphilosophie die Voraussetzung für ihre Gültigkeit sei: Man muss wissen, dass verschiedene Welten möglich sind und dass man darauf Einfluss haben kann, welche davon Wirklichkeit wird, damit man nach einer besseren Welt streben kann. Doch auch herkömmliche Historiker halten soziale Veränderungen für das akkumulierte Ergebnis zielgerichteten Handelns (selbst wenn die Folgen des Handelns unerwünschte waren). Angenommen, Papst Gregor VII. und Kaiser Heinrich IV., die Gegner im Investiturstreit des späten 11. Jahrhunderts, hätten stets ausschließlich durch Frömmigkeit motiviert gehandelt und die Handlungsfolgen immer Gott zugesprochen, weil sie weder zu Vorstellungen gewünschter sozialer Zustände noch zu transformatorischen Strategien in der Lage gewesen wären – so handelten sie doch zielgerichtet und so als ob sie einer Utopie nachstrebten, in der die päpstliche Suprematie respektive die kaiserliche Oberherrschaft das mittelalterliche Machtgefüge dominiert. Die utopische Geschichtsphilosophie behauptet nicht, dass sich die Akteure der Geschichte ihres utopischen Denkens in Plessnerschen und Landauerschen Begriffen bewusst sind, sondern dass es sich lohnt, in diesen Begriffen die Geschichte zu erklären – ganz wie die Psychologie, die Gregor und Friedrich auch dann ein Unterbewusstes unterstellt, wenn sie nie etwas von Freud gehört hatten. Gegen meinen Argumentationsgang könnte man zweitens einwenden, dass er sich zu Unrecht auf Voltaire beruft, da dieser eine ganz andere Art Geschichtsschreibung im Sinn hatte und praktizierte. Das stimmt schon. Von Voltaire übernehme ich lediglich die Haltung, eine kleinteilige, abergläubische, unphilosophische Konkurrenzmethode der Handlungsprognose anzugreifen und ein aufklärerisches neues Verständnis anzubieten. In den Sozialwissenschaften ist es eine weitverbreitete Unsitte, eine in gewissen Nischen durchaus brauchbare ökonomische Theorie vom wirtschaftlichen Handeln nutzenmaximierender Egoisten – die auf der Theorie der rationalen Entscheidung basierende Spieltheorie – für die Wahrheit über den Menschen und sein Wirken in der Welt zu halten. Der Mensch wird als homo oeconomicus verstanden, und man kann ausrechnen, was als nächstes passieren wird, wenn man die Präferenzen und Strategien der Individuen kennt. Dazu muss man annehmen, dass alle Handlungen im Grunde ökonomisch sind und sich jeder nur für sich selbst interessiert. Diese Vorstellung vom unverbundenen Individuum ohne Mythen und Träume ist nicht nur inhärent kleinteilig, sie ist auch abergläubisch, da sie sich trotz ständiger empirischer Widerlegungen in den Lehrbüchern und Köpfen 4 hält. Die utopische Geschichtsphilosophie leugnet freilich nicht, dass Machtkalkül, Profitstreben und Egoismus bedeutende, ja zentrale Antriebe für das historische und zukünftige Geschehen sind – und auch Päpste und Kaiser waren machtgeil und geldgierig –; sie leugnet aber, dass rationale Nutzenerwägungen eine ausreichende Erklärung bieten können. Es sind gerade die Wunschvorstellungen, Träumereien, Grillen, blauen Blumen und Utopien, die den Präferenzordnungen der sozial Handelnden zugrunde liegen und so jedem ökonomischen Kalkül erst Sinn geben. Ein philosophisch tiefes Verständnis von den geschichtlichen Vorgängen muss Visionen, Fantasien und Utopien in die Betrachtungen einbeziehen. Aber so etwas Flüchtiges, Immaterielles und Transzendentes wie eine Utopie kann doch überhaupt nicht wissenschaftlich untersucht werden, sie ist unsichtbar, unmöglich, unwirklich und unwirksam. Folglich ist die Utopieerforschung unsinnig, selbst wenn sie amüsant sein sollte. So lautet der dritte Einwand gegen die utopische Geschichtsphilosophie. Ich habe den Begriff „Utopie“ für einen mentalen Vorgang verwendet, für die im Geist stattfindende Vorstellung einer besseren Welt. Eine solche kann man nur bei sich selbst beobachten. Kritische Distanz und Nachvollziehbarkeit sind so kaum herzustellen. Aber wir kennen beispielsweise ein paar Gedanken Papst Gregors VII. zu den Beziehungen zwischen Kirche und Reich aus dem Dictatus Papae, einem Schriftstück, das einem Wunschzettel der kirchlichen Machtfülle gleicht. Viele Visionäre schreiben ihre Visionen nieder. Schon in der Antike gab es Vorstellungen von idealen Städten, mal lustig wie in Aristophanes’ Ornithes, mal ernst wie in Platons Politeia. Aus dem Mittelalter sind uns kaum literarische Utopien bekannt – nur die wenigsten Menschen konnten schreiben. Erst ab der beginnenden Neuzeit, als ständig neue Länder entdeckt wurden, verbreitete sich die Sitte, fiktionale Alternativgesellschaften zu beschreiben. Den Anfang machte 1516 Thomas Morus’ Utopia. Der Humanist erfand damit den paradox-scherzhaften Begriff des Nicht-Orts (aus dem altgriechischen ou = nicht und topos = Ort). Morus prägte auch das typische literarische Muster, zeitgenössische Sozialkritik mit einem Entwurf einer besseren Gesellschaft zu kontrastieren; in der Utopia wird erst das soziale Elend in England, das durch die Privatisierung der Allmendewiesen entstand, angeprangert und dann eine kommunistische Insel beschrieben, auf der viele soziale Missstände überwunden sind. Andere Autoren hatten jeweils eigene Ideen darüber, inwiefern eine bessere Gesellschaft vorstellbar ist: Francis Bacon etwa dachte sich 1624 die Gelehrteninsel Nova Atlantis aus, die einem naturwissenschaftlichen Forschungsinstitut gleicht, Johann Gottfried Schnabel ersann 1731– 1743 die Insel Felsenburg, deren aufgeklärt-patriarchaler Pietismus vor den europäischen Lastern schützt. Typisch für diese klassischen Utopien sind die isolierte Lage ganz woanders und die Unveränderlichkeit der utopischen Sozialstruktur. Noch dienten die alternativen Gesellschaftsentwürfe als Gedankenexperimente, die in ihrer typischen Perfektion noch nicht als Blaupause für Reformen funktionieren konnten, aber immerhin den Gedanken in die Welt gesetzt haben, dass es auch anders geht. 5 Als gegen Ende des 18. Jahrhunderts alle fremden Länder entdeckt waren und Utopia nicht dabei war, änderte sich die Funktion der literarischen Utopien: bessere Alternativgesellschaften wurden nun in die Zukunft versetzt und dadurch nicht mehr durch Reisen, sondern durch Reformen oder Revolutionen erreichbar. Es verbreitete sich das Wissen, dass soziale Ordnungen Menschenwerk sind. Nach wie vor gab es ein breites ideologisches Spektrum – religiöse und atheistische, autoritäre und anarchistische, technophile und naturverbundene Utopien –, doch die meisten Utopien waren nun sozialistisch ausgerichtet. Nicht nur dafür sind Edward Bellamys Looking Backward (1888) und William Morris’ News from Nowhere (1890) herausragende Beispiele, sondern auch für den Utopiediskurs, der sich nun entwickelte: es werden nicht mehr nur die Übel der realen Staaten kritisiert, sondern auch die Mängel der bisherigen Utopien. Die schärfsten und wirkungsvollsten Utopiekritiken erschienen in der Form der Dystopien, in denen aus der Sicht eines der utopischen Ordnung unterworfenen Individuums und Außenseiters offenbar wird, dass gerade die Fehlerfreiheit einer perfekten Ordnung Auslöser für inhumane Herrschaftspraktiken ist. Die bekanntesten klassischen Dystopien sind Jewgeni Samjatins Wir (1921), Aldous Huxleys Brave New World (1932), George Orwells Nineteen Eighty-Four (1949) und Margaret Atwoods The Handmaid’s Tale (1985). Der den meist statischen klassischen Utopien inhärente Totalitarismus wurde durch diese Alptraumvisionen so eindringlich beschrieben, dass viele Kritiker des utopischen Denkens glaubten, damit das Ende der sozialplanerischen Hybris verkünden zu dürfen. Doch der literarische Utopiediskurs, schon immer dialektisch in seiner Natur, überwand diesen Graben, als in den 1970er Jahren wieder positive, wenn auch kritische Utopien entstanden, in denen zwar bessere Gesellschaften entworfen wurden, diese aber nicht mehr durch perfekte Harmonie gekennzeichnet waren, sondern charakteristische Fehler und dynamische Veränderlichkeit aufwiesen. In den einflussreichsten Texten dieser Art – Ursula K. Le Guins The Dispossessed (1974), Marge Piercys Woman on the Edge of Time (1976) und Samuel R. Delanys Trouble on Triton (1976) – werden Gesellschaften dargestellt, deren Institutionen fraglos besser als unsere, aber dennoch fragwürdig und verbesserungsbedürftig sind, was sie viel glaubwürdiger wirken lässt als die klassischen Utopien. Der zuvor hegemoniale Staatssozialismus hatte inzwischen durch den „real existierenden Sozialismus“ stark an Attraktivität verloren und musste feministischen und posthumanen Anarchismusvarianten Platz machen. Erst jetzt entsprechen die Sozialfiktionen der utopischen Geschichtsphilosophie, denn wenn auch die Romane Utopien, also Wunschträume sind, so sind doch die darin beschriebenen Gesellschaften Topien in all ihrer Zwiespältigkeit – und die Utopier fangen selbst an, über noch schönere Alternativen nachzudenken. Ab den 1980er Jahren fing der Neoliberalismus an, verwirklicht zu werden und die Stimmung wurde wieder düsterer. Anstatt der kritischen Utopien erschienen nun kritische Dystopien, die wie die klassischen Dystopien Alptraumgesellschaften beschrieben, diese aber wie die kritischen 6 Utopien relativierten und als überwindbar darstellten. Das böse System war nun nicht mehr kommunistisch (oder, wie bei Atwood, christlich-fundamentalistisch), sondern kapitalistisch. Als typische Beispiele möchte ich Kim Stanley Robinsons The Gold Coast (1988), Marge Piercys He, She and It (1991) und Starhawks The Fifth Sacred Thing (1993) nennen. Insbesondere Robinson betont, wie kontingent die Form der Gesellschaft in Zukunft sein könnte, denn The Gold Coast ist nur der mittlere Teil seiner Three Californias Trilogy, in der er mit Varianten experimentiert und explizit den Nutzen utopischer Literatur für realweltliche soziale Verbesserungen diskutiert. Seine Mars Trilogy (1992–1996) schließlich lässt sich gar nicht mehr eindeutig zwischen Utopie und Dystopie verorten sondern schwankt zwischen den Extremen hin und her, jeweils abhängig vom utopisch motivierten Handeln der Protagonisten. Diese Science Fiction ist eine future history, die sich besonders gut als Illustration für die utopische Geschichtsphilosophie eignet. Aber – so lautet nun der vierte Einwand – dass Landauersche und Plessnersche Begrifflichkeiten am besten auf die phantastischen Abenteuer einer Science-Fiction-Geschichte passen, sei ein deutlicher Hinweis darauf, dass die utopische Geschichtsphilosophie nur ins Wolkenkuckucksheim führen könne, für die reale Welt aber wirkungslos bleiben müsse! Mehr noch: Wer an politischen Veränderungen interessiert sei, müsse sich doch realistisch an der etablierten Politik orientieren – die Beschäftigung mit SF sei fauler Eskapismus, der falsches Bewusstsein und Passivität erzeuge. Ohne leugnen zu wollen, dass man sich in andere Welten flüchten kann und dass das sogar zu einer prägenden Angewohnheit werden kann, muss ich betonen, dass Utopien mehr sind als „pie in the sky“. Erstaunlich oft wird versucht, eine beschriebene Utopie in die Wirklichkeit umzusetzen; viel weniger erstaunlich ist es, wie häufig die Utopisten dabei scheitern. Schon Platon hatte wenig Glück damit, den Tyrannen von Syrakus von seinen Idealstaatsplänen zu überzeugen. Étienne Cabet schrieb 1840 eine Utopie über das Land Ikarien und fand in wenigen Jahren genug Anhänger, um in Nauvoo, Illinois eine Kommune nach den von ihm beschriebenen Prinzipien zu gründen. Allerdings dauerte es nur wenige weitere Jahre und seine Jünger hatten genug von ihm und warfen ihn raus; insgesamt lief das Experiment keine 50 Jahre. Noch in den 1890er Jahren gab es Bellamy-Clubs, die seine sozialistischen Industriearmee-Entwürfe realisieren wollten, und von den 1950er bis 1970er Jahren wurde mehrfach versucht, B. F. Skinners Utopie Walden Two (1948) in die Realität umzusetzen. Das Zeitgeist Movement, das das Venus Project Jacque Frescos propagiert, könnte man als heutigen Nachfolger dieser Utopisten verstehen. Um die utopische Geschichtsphilosophie aber realpolitisch relevant zu machen, muss ich größere und augenscheinlich erfolgreichere Beispiele nennen können. Die Sowjetunion und andere vermeintlich naheliegende Beispiele auslassend, beschränke ich mich auf den Neoliberalismus. Dessen Ausgangspunkt war die vorherige Topie, die von einigen mit ihr Unzufriedenen, am prominentesten vielleicht von Friedrich August von Hayek, als „Kollektivismus“ 7 bezeichnet wurde, womit sowohl die Sowjetunion und das Dritte Reich als auch die New-Deal-USA und britische Labour-Regierungen gemeint waren. Für Weltverbesserer wie von Hayek war der Kollektivismus ein aus staatlicher Planung resultierendes Hindernis für individuelle Freiheit. Mit Gleichgesinnten gründete er eine Aktionsgruppe (die Mont Pelerin Society) und verfasste zahlreiche Texte, in denen für eine neue liberale Utopie geworben wurde. Die einflussreichste literarische Utopie dieser Weltanschauung dürfte Milton Friedmans Capitalism and Freedom (1962) sein. Während die alte Topie Schulden und Arbeitslosigkeit anhäufte, verbreiteten sich die nun „Neoliberalismus“ genannten utopischen Ideen über Think Tanks, Universitäten und andere Eliteinstitutionen, bis schließlich mit Thatcher, Reagan und Kohl ihre Anhänger in den wichtigsten Industriestaaten die Macht übernahmen und über politische Maßnahmen wie Deregulierung der Finanzmärkte, Schwächung der Gewerkschaften und sozialen Sicherungssysteme etc. eine neue Topie schufen. Auch in dieser Topie entwerfen Menschen Utopien und streben deren Verwirklichung an, eben weil sie exzentrische Wesen sind, die aufgrund ihrer Natur dazu getrieben werden, und auch diese Topie wird eines Tages durch eine neue ersetzt werden, weil keine soziale Ordnung die letzte sein kann – das behauptet jedenfalls die utopische Geschichtsphilosophie. Dass der Neoliberalismus das Gegenteil behauptet, indem er das Ende der Geschichte verkündet, sich selbst als alternativlos erklärt und alle, zumindest aber die entscheidenden Menschen zu homines oeconomici erziehen will, ist ein Zeichen dafür, dass er eine klassische, starre, perfektionistische Utopie ist; aus diesem Grund trägt die neoliberale Topie auch so viele totalitäre Kennzeichen in sich. Es bleibt zu hoffen, dass die Utopien der Gegner der herrschenden Weltordnung kritischer und selbstreflexiver sind, sich also eher an Le Guin als an Orwell orientieren. Wenn man zusätzlich zu diesem aktuell-historischen Beispiel der politischen Wirksamkeit von Utopien bedenkt, dass Utopien nicht nur in literarischer Form auftreten können, sondern auch als Kunstwerke, Photographien und emotional aufgeladene Medieninhalte Mythen bilden und als Baupläne, Stadtentwürfe, Organigramme und Terminkalender sehr effektiv die soziale Ordnung in der Zeit strukturieren, ist es nicht mehr abwegig, die utopische Geschichtsphilosophie als funktionstüchtige Methode zur Beantwortung bestimmter Fragen anzuerkennen. Wird es bald noch schlimmer, hässlicher und trostloser? Das ist schon möglich, weil es niemals einen geschichtlichen Endpunkt geben kann, ab dem sich nichts mehr ändert; und weil die Werte und Wunschvorstellungen, die die Menschen unweigerlich haben, sehr unterschiedlich sind, ist eine Veränderung zum Schlechteren nicht auszuschließen. Aber werden immer nur die Alpträume Wirklichkeit? Nein – selbst der Alptraum Neoliberalismus mit all seinem Elend ist für einige Menschen der wahr gewordene Traum von stratifizierter Freiheit und phantastischem Reichtum, und auch egalitärere Wunschträume können in die Wirklichkeit umgesetzt werden. Dabei werden sie allerdings selbst zur Wirklichkeit, also rauer und grauer als der Wunsch, und hören auf, Träume zu sein. Die Utopie wird zur Topie. Und können wir uns etwas besse8 res als das Vorhandene überhaupt noch vorstellen? Ja, das können wir, und wir tun es die ganze Zeit, selbst beim Betrachten von Reklame. Wir können uns nach persönlichem Glück oder der guten Gesellschaft sehnen. Und wenn wir das ein bisschen verlernt zu haben scheinen, können literarische Utopien als Nachhilfe gelesen werden. Es steht außer Frage, ob sich das Stadtviertel, das Land und die Welt ändern werden – sie tun es auf jeden Fall. Die Frage ist nur, welche Rolle wir dabei spielen. In seinem Candide warnt Voltaire vor übertriebenem Optimismus und metaphysischen Luftschlössern; gegen das Unglück helfe nur die Arbeit. Tatsächlich ist die Verbesserung der Welt eine mühsame Arbeit voller Rückschläge. Aber ohne Utopien haben wir keine Orientierungspunkte am Horizont und überlassen es bald anderen, voranzuschreiten und die Richtung zu bestimmen – denjenigen nämlich, die noch Utopien haben. [Erschienen in Voltaire. Magazin für instabile Verhältnisse Heft 1 (2012), S. 182–189.] 9