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Nr. 134 r 2019 e Dezemb  8,00 L e l l e r Kultu n e m h a n d an WIE SI V I S R E SUBV ND TS R A N A URB ? HipHop – potenziale einer urbanen Jugendkultur Dr. Sina Nitzsche, beschäftigt sich in ihrer Forschung mit der Institutionalisierung der globalen HipHop-Kultur im Spannungsfeld von Universität, Stadt und Szene. Kreative Kultur Der SelbStermächtiguNg HipHop ist in den 1970er-Jahren in der New Yorker Bronx entstanden. Diese Zeit ist in den USA geprägt von wirtschaftlicher Stagnation, Deindustrialisierung und dem Beinahe-Bankrott New Yorks. Afroamerikanische und lateinamerikanische Jugendliche wendeten sich gegen diese urbane und soziale Krise, indem sie HipHop als kreative Protestform erfunden haben. Laut seinem Gründungsmythos besteht HipHop aus mehreren Elementen, wie zum Beispiel Emceeing/Rappen, DJing, Graffiti und Tanz. Rapmusik als Stimme gegen Rassismus und Unterdrückung ist sicherlich das bedeutsamste Element, aber die Kultur ist von Anfang an gleichzeitig auch von Ironie, Humor und Erfindungsreichtum geprägt. Sie zeigt daher eindrucksvoll, dass gesellschaftliche Krisen ein Nährboden für kreative Ausdrucksformen und einen kulturellen Neubeginn sein können. HipHop ist eine afro-diasporische und transnationale Kultur. Die sogenannten Gründerväter Afrika Bambaata, Kool Herc und Grandmaster Flash haben ihre Wurzeln in der afrikanischen Diaspora und sind – wie zum Beispiel DJ Kool Herc – als Kinder von Einwanderern nach New York gekommen. Herc nutzte die jamaikanische Soundsystem-Kultur für seine legendären Block Parties. HipHop ist somit Teil einer langen afro-diasporischen Kulturtradition, die bis zurück an die Küsten Afrikas reicht, wie Griots, Sprituals, Gospels, Jazz und Blues. HipHop ist eine Kultur der kollektiven Selbstermächtigung. Der Gründungsmythos offenbart, dass Lernen und Wissen wichtige Bestandteile dieser Kultur sind. Afrika Bambaataa beispielsweise gründete die Universal Zulu Nation als friedliche Reaktion auf die Ganggewalt in der Bronx. Die pseudoreligiöse Vereinigung versteht »Knowledge« als ein wichtiges Element der HipHop-Kultur. Vor dem Hintergrund der Unsichtbarkeit afroamerikanischer Geschichte und Kultur in den Bildungsinstitutionen der USA der 1970er-Jahre versteht HipHop das Wissen um die eigene Geschichte, Tradition und Herkunft als zentral für die Konstruktion einer individuellen und kollektiven Identität. Seit den 1970erJahren hat sich die HipHop-Kultur zudem global über Filme, Musikfernsehen und Clubs verbreitet. Künstler*innen auf der ganzen Welt haben die US-amerikanischen Vorbilder mit lokalen Traditionen verbunden und sich angeeignet, um ihre Geschichten von Marginalisierung und Ermächtigung zu erzählen. Aus diesem Grund ist jede HipHop-Kultur auf der Welt einzigartig. infodienst - Das Magazin für kulturelle Bildung Nr. 134 HipHop ist zweifelsfrei eine der derzeit wichtigsten urbanen Jugend- und Popkulturen der Welt. Der Berliner Rapper Capital Bra hatte 2018 und 2019 18 Nummer-eins-Hits in den deutschen Charts. Er ist damit der kommerziell erfolgreichste Künstler aller Zeiten in Deutschland, noch vor den Beatles mit elf Nummer-eins-Hits in den 1960er-Jahren oder der schwedischen Popgruppe ABBA mit zehn Nummer-eins-Hits in den 1970erJahren. Letztes Jahr hat der US-amerikanische Rapper Kendrick Lamar den PulitzerPreis, einen der renommiertesten Kunstpreise der Welt, für sein Album »D.A.M.N.« erhalten. Die Jury begründete die Wahl Lamars damit, dass er es wie kein anderer vermag, die afroamerikanische Erfahrung mit großer Poesie einzufangen. Diese Beispiele zeigen, dass Rapmusik und die ihr übergeordnete HipHop-Kultur in den letzten 40 Jahren zu einem globalen Phänomen aufgestiegen ist und von Jugendlichen, jungen und älteren Erwachsenen gleichermaßen gehört, gelebt und praktiziert wird. Damit eröffnen sich vielfältige Möglichkeiten für den Einsatz in der kulturellen Bildung. Was ist das Besondere an HipHop und welche Potenziale ergeben sich für die kulturelle Bildung? 13 Wie subversiv sind Urban Arts? Fotos: UZWEI – Kulturelle Bildung im Dortmunder U infodienst - Das Magazin für kulturelle Bildung Nr. 134 vielfalt alS StärKe Diese Traditionen sind wichtig, um das Potenzial für die kulturelle Bildung zu verstehen, denn HipHop ist ein künstlerischer Kampf gegen Rassismus und Ausgrenzung. Er spricht diasporische Gemeinschaften auf der ganzen Welt an und versteht Migration und kulturelle Vielfalt als Stärke. Werte wie Respekt, friedlicher Wettstreit, die Idee der demokratischen Weitergabe von Wissen (»each-one-teach-one«), Realness (Authentizität) und Spaß stehen im Vordergrund der Kultur. Sie bieten damit einen idealen Ausgangspunkt für die kulturelle Bildung. Das Bildungspotenzial der HipHop-Kultur findet immer mehr Aufmerksamkeit in Schulen und an Universitäten. Seit den 1990er-Jahren gibt es in den USA die HipHop-Forschung, die sich in den letzten Jahren zunehmend mit der pädagogischen Rolle der HipHop-Kultur beschäftigt. Autor*innen wie Christopher Emdin, Bettina Love und Emery Petchauer untersuchen zum Beispiel die Bedeutung von HipHop in der Schule. Im Rahmen der kulturellen Bildung bietet die Beschäftigung mit HipHop daher eine einzigartige Möglichkeit, Jugendliche mit Handlungskompetenzen in den gesellschaftlich relevanten Themengebieten wie Teilhabe und Demokratie, Digitalisierung und Medialität, Migration und kulturelle Vielfalt sowie in der performativen Identitätskonstruktionen auszustatten. 14 zwischen den drei Workshops »Rap«, »Tanz« und »Swag«. Anerkannte Künstler*innen der lokalen und internationalen Szene leiten die Workshops, wie zum Beispiel der New Yorker Rapper Mikal Lee. Wissenschaftlich begleitet wird die Veranstaltung von Lehramts-Studierenden der TU Dortmund. Die HipHop Summer School Ruhr befindet sich daher an der Schnittstelle von universitärer und kultureller Bildung. Alle Workshops setzten sich mit der Komplexität der HipHop-Kultur auseinander, indem sie auch Themen wie Hypermaskulinität, Misogynie, Homo- und Transphobie sowie Gewaltverherrlichung erörtern. Das einwöchige Projekt schließt mit einer gemeinsamen, öffentlichen Abschlussperformance mit den Künstler*innen ab. Die HipHop Summer School Ruhr fördert Teilhabe und Demokratie. Grundlegendes Ordnungsprinzip der HipHop-Kultur und der HipHop Literaturhinweise Klein, Gabriele/Friedrich, Malte. Is this real? Die Kultur des HipHop. Suhrkamp, 2003. Chang, Jeff. Can‘t Stop Won‘t Stop: A History of the HipHop Generation. St. Martin’s Press, 2005. Nitzsche, Sina/Grunzweig, Walter (Hrsg.). Hip-Hop in Europe: Cultural Identities and Transnational Flows und Popular Music, 2013 Nitzsche, Sina/Dunkel, Marco (Hrsg.). Public Diplomacy: hiphop Summer School ruhr Transnational and Transdisciplinary Perspectives, 2018 Die von mir konzipierte – und seit 2017 in Zusammenarbeit mit der Emdin, Christopher. For White Folks Who Teach in the Hood … and the Rest Etage »UZWEI – Kulturelle Bildung im Dortmunder U« – organisierte of Y’all Too: Reality Pedagogy and Urban Education. Beacon, 2016. HipHop Summer School Ruhr soll das Potenzial der HipHop-Kultur für Love, Bettina. We Want to Do More Than Survive: Abolitionist Teaching and the Pursuit of Educational Freedom. Beacon, 2019. die kulturelle Bildung verdeutlichen. Das Ziel der ersten Sommerakademie zum Thema HipHop im deutsch- Hill, Marc Lamont und Emery Petchauer. Schooling Hip-Hop: Expanding Hip-Hop Based Education Across the Curriculum. Teachers College Press, 2013. sprachigen Raum ist es, die Vielfalt der HipHop-Kultur jenseits gängiger Klischees aufzuzeigen. Die HipHop Summer School Ruhr zeigt den Seidel, Sam. Hip Hop Genius: Remixing High School Education. R & L Education, 2013. Jugendlichen Alternativen zum Schul-Curriculum, indem das Erlernen der Kultur und ihrer verschiedenen Elemente im Vordergrund steht. Dortmunder Jugendliche im Alter von zehn bis 14 Jahren wählen musikalischen und künstlerischen Positionen über ihre jeweiligen Lebenswelten zu entwickeln. Im Rap-Workshop lernen die Jugendlichen das Schreiben mehrsprachiger Raptexte, um ihre eigenen Geschichten über Freundschaft, Liebe, Politik und Lokalpatriotismus zu erzählen. HipHop bietet neue performative Identitätskonstruktionen an. Die Workshops eröffnen einen Raum, in dem Identitäten abseits von essentialistischen Identitätskriterien neu verhandelt werden können. Im Tanz-Workshop, geleitet von den Tänzern Souhail Jalti und Amandip Singh, lernen die Jugendlichen verschiedene Tanzstile der HipHop-Kultur, wie beispielsweise HipHop, Breakdance und Locking. Die Beschäftigung mit Tanz schärft das Körpergefühl und die Koordination. Das Performen einer einstudierten Choreografie vor einem öffentlichen Publikum steigert das Selbstwertgefühl. Weitere hiphop-iNitiativeN Workshops für Jugendliche zwischen 13 und 25 Jahren aus den Elementen der HipHopKultur an. Die HipHop Academy an der Universität Wuppertal beschäftigt sich aus musikpädagogischer Perspektive seit 2008 mit der Kultur. In unregelmäßigen Abständen werden Workshops von bekannten Künstler*innen für Studierende und Wuppertaler Jugendliche angeboten und Material für den Musikunterricht veröffentlicht. Im Bereich Tanz und Performance ist der Verein Pottporus e. V. in Herne die erste urbane Tanzkompagnie NordrheinWestfalens. Gegründet im Jahr 2003 bietet Pottporus Kurse in zeitgenössischen Tanzstilen an, entwirft HipHop-Theaterproduktionen und organisiert Urban Art Festivals. Als kreative und partizipative Kultur knüpft HipHop direkt an die Lebenswelten der Jugendlichen an. Eine stärkere Wertschätzung und die institutionelle Verankerung der HipHop-Kultur sind daher nicht nur wünschenswert, sondern auch erstrebenswert. Durch die Beschäftigung mit der HipHopKultur in der kulturellen Bildung wird die Medienkompetenz, die interkulturelle Kompetenz sowie ein grundlegendes Demokratieverständnis gefördert. Dieses wird immer häufiger in den verschiedensten BildungsDr. Sina Nitzsche und Kulturkontexten erkannt, was sich in Kulturwissenschaftleweiteren Initiativen wie der HipHop Academy rin (Ruhr-Universität Hamburg, der HipHop Academy Wuppertal und dem Verein Pottporus e. V. zeigt. Seit Bochum/TU Dortmund) ist Gründerin des 2007 bietet die HipHop Academy Hamburg »European HipHop Studies Network«. infodienst - Das Magazin für kulturelle Bildung Nr. 134 Summer School Ruhr ist die sogenannte Cypher. Die Cypher ist eine kreisförmige Ansammlung aus Künstler*innen, um gemeinsam zu tanzen, zu rappen oder zu beatboxen. Alle können dieser Cypher beiwohnen und die eigenen Fähigkeiten, Kompetenzen und das eigene Wissen unter Beweis stellen. Die Cypher ist ein demokratischer und partizipativer Raum, an dem Jugendliche aus den verschiedensten kulturellen, ethnischen, geschlechtlichen oder sexuellen Hintergründen teilnehmen können. Jugendliche erlangen in der HipHop Summer School Ruhr sowohl Digitalisierungs- als auch Medienkompetenzen, die sie auch kritisch hinterfragen. Der Medien-Workshop »Swag« setzt sich zum Beispiel mit der medialen Inszenierung kommerziell erfolgreicher Künstler*innen auseinander. Swag beinhaltet Style und Coolness in der Körperhaltung und als Lebensgefühl, um Authentizität zu erreichen. Jugendliche analysieren im Workshop Fotografien und Musikvideos der Künstler*innen sowie Auftritte in den sozialen Medien. Anschließend entwickeln sie eigene visuelle Positionen. Die Wertschätzung von Migrationsgeschichten und kultureller Vielfalt sind weitere Potenziale, die sich im Rahmen der kulturellen Bildung eröffnen. Besonders Rap als musikalische Ausdrucksform, bei der über rhythmische Beats und musikalische Samples gesprochene Texte vorgetragen werden, eröffnet Jugendlichen die große Chance, ihre eigenen sprachlichen, 15