Wolf Wucherpfennig
Drei Studien zum Bildungswesen
Birkerød 2021
Vorbemerkung
Die drei Studien, die ich vor zwei Jahren ins Internet gestellt habe, erneut
herauszugeben, rechtfertigt sich dadurch, dass sich nichts Grundsätzliches
geändert hat. Im Gegenteil. Bildung und Kultur sind nur mehr verstaubte,
unbrauchbare Begriffe. An die Stelle meines Ideals, mehr Mensch zu werden,
ist ganz selbstverständlich das Ideal gerückt, mehr sich selbst verwertendes
Humankapital zu werden. Oder, um auf das alte Motiv der Verwandlung von
Mensch in Maschine aufzunehmen, den Menschen in eine Bitcoine Mining Machine zu verwandeln.
Der Trend, Wissenschaft in Reklame zu verwandeln, hat sich verstärkt.
In einem Land wie Dänemark zeigt sich das vielleicht am deutlichsten in der
Agrarwissenschaft. In einem langdauernden Prozess kam neulich ans Tageslicht, dass die Universität Aarhus nicht nur ein fehlerhaftes Gutachten über
die Umweltverträglichkeit der Produktion von Ochsenfleisch herausgebracht
hatte – es war teilweise von der auftraggebenden Institution selbst geschrieben –, sondern nachher alles versuchte, um den Skandal und die Verantwortung dafür zu vertuschen. Bezeichnender noch ist vielleicht die Tatsache, dass
ein Professor von Aarhus, der in einer Zeitungsdiskussion den Stickstoffausstoß der Landwirtschaft höher beziffert hatte als eine landwirtschaftliche Organisation, von dieser deswegen angezeigt wurde. Natürlich soll die Wissenschaft, wie seit langem gefordert, ihren Elfenbeinsturm verlassen, aber nur,
wenn es der Reklame für die involvierten Institutionen dient. Sonst wird sie
als „politisierend“ oder „aktivistisch“ kritisiert.
In den humanistischen Fächern ist der Verfall weniger deutlich, vor
allem deswegen, weil sie abgeschafft werden.
Birkerød 2021
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Krise der Finanzen – Krise der Bildung
(2011)
Die Krise des Bildungswesens läuft nicht einfach neben der Finanzkrise her.
Beide hängen eng zusammen als zwei Aspekte der einen großen Krise der
westlichen Zivilisation, man kann auch sagen: des Kapitalismus.
In einer neueren Publikation (Der große Krach oder Die Jahrhundertkrise von Wirtschaft und Finanzen, von Politik und Natur, Münster 2010) bezieht Elmar Altvater sich auf Friedrich Engels, der den Staat als „ideellen Gesamtkapitalisten“ bezeichnet habe, „weil er alle jene Funktionen übernimmt,
die für das System insgesamt zwar wichtig und notwendig sind, aber von den
Privaten nicht ausgeführt werden, weil dabei kein Profit zu machen ist“ (S.
213). Ob Engels das ganz so gemeint hat, wollen wir dahingestellt sein lassen.
Doch lässt sich von dem so definierten Begriff her die neoliberale Zerstörung
des Bildungswesens gut und ihrem Zusammenhang mit der Finanzkrise verständlich machen
Welche profitlosen Funktionen für das System nötig waren, und vor
allem in welchem Ausmaß sie erforderlich waren, darüber war man sich nie
ganz einig. Grundlegend gehörten Bildungswesen und Logistik (Post und Eisenbahn) dazu, sowie die Versorgung mit Wasser, Wärme und Strom. In Europa, vor allem in den skandinavischen „Wohlfahrtsstaaten“ und anders als
in den USA, auch das Gesundheitswesen. Die Einwanderung bereits ausgebildeter Arbeitskräfte haben es in den USA überflüssig erscheinen lassen, die
Bevölkerung so auszubilden und körperlich instand zu halten, wie man es in
Europa allmählich für nötig befand. Allmählich wohlgemerkt, in Preußen gehörte sogar der Hinweis des Militärs dazu, dass man nicht mehr genügend
brauchbare Rekruten bekam.
In den USA herrschte von Anfang an eine Ideologie der Selbstverwirklichung durch Teilnahme an kapitalistischer Kolonisierung, Kolonisierung der
westlichen USA durch den Osten mit Hilfe der Eisenbahnen (die nie staatlich
waren), der südlichen USA durch den Norden mit Hilfe der Banken. Diese
Eroberung vollzog sich nicht durch den Staat, sondern durch die Macht des
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Marktes, der, wenn es um Gebiete außerhalb der USA ging, notfalls allerdings
auch militärisch nachgeholfen wurde. Grundsätzlich aber, so schien es, war
dies eine befreiende Macht, denn sie bot dem Tüchtigen die Möglichkeit, wo
auch immer er herkam, es zum Selfmademan zu bringen. Wie viele dabei vor
die Hunde gingen, übersah man angesichts des strahlenden Zieles. Der Einfluss des Staates schien diese Möglichkeiten eher einzuschränken. Anders in
Europa. Hier erhob sich eine Kritik noch vom Adel geprägter Intellektueller
gegen die vom Markt durchgesetzte Gleichmacherei, die Quantifizierung aller
Qualitäten – Marx liebt das Beispiel von Bibel und Schnapsflasche, die auf
dem Markt den gleichen Wert haben können – und man erhoffte sich die
Sicherung sozialer Unterschiede durch den Staat. Darin treffen sich bei allen
sonstigen wesentlichen Unterschieden die konservativen Gesellschaftsvorstellungen. (Nicht so bei Marx natürlich, der die Auflösung aller gesellschaftlichen
Unterschiede bis auf den von Kapital und Arbeit als Voraussetzung für die
Befreiung aller zur Selbstbestimmung ansah.) Dort also Angst vor der Gleichmacherei des Staates, hier Angst vor der Gleichmacherei des Marktes.
Da das Ventil der inneren Kolonisierung – go west young man! – in
Europa fehlte, das Ausweichen in die äußere Kolonisierung nur durch die begrenzt mögliche Einreihung ins Militär bzw. die Militärverwaltung möglich
war, und die Auswanderung in die USA sich auf die Dauer als ein unerwünschter Aderlass erwies, konnte man vor dem Elend, das der Siegeszug des
Marktes mit sich führte, nicht die Augen verschließen. Dem sollte das sozialdemokratische Modell des „Wohlfahrtsstaates“ Einhalt gebieten. Hier sorgt der
„ideelle Gesamtkapitalist“ durch aktive Neutralität dafür, dass die Auseinandersetzung zwischen Kapital und Gewerkschaften in einigermaßen geregelten
Bahnen verläuft, ohne dass Organisationen wie die Pinkertons und andere
Schlägerbanden zum Zuge kommen. Eine entsprechende Steuer- und Verteilungspolitik soll die geistige und körperliche Bildung der Gesamtbevölkerung
gewährleisten, eben das, was als Aufgabe des „ideellen Gesamtkapitalisten“
genannt wurde, und darüber hinaus einen menschenwürdigen Mindestlebensstandard für alle sichern.
Diese Überzeugung, dass allgemeinnützlichen Aufgaben vom Staat
übernommen werden müssen, weil sie keinen Profit versprechen, ist jetzt in
Europa zusammengebrochen. Das hängt mit der zunehmenden, die Grenze
der organisierten Kriminalität überschreitenden Liberalisierung des Finanzmarkts zusammen, die in den siebziger Jahren begann und in den Neunzigern
3
den Durchbruch erzielte – man kann das bei Altvater nachlesen –, teilweise
militärisch unterstützt auf Betreiben von Milton Friedmans Chicago Boys, die
nationale Wirtschaften in die Katastrophe treiben, um sie übernehmen zu
können oder gleich irgendwelche Naturkatastrophen ausnützen – das lässt
sich bei Naomi Klein nachlesen (The Shock Doctrine, New York: Metropolitan
Books 2008). Doch das alles wäre nicht ohne die Globalisierung möglich gewesen. Das heißt einmal durch die Erfindung des Computers, der den alten
Traum erfüllt, alles zu quantifizieren, d. h. in Zahlen und damit in Preise umzusetzen,1 zum anderen dadurch, dass der globale Markt sich dem Einfluss
einzelner Staaten völlig entzogen hat. Das Großkapital, das überall produzieren kann, braucht sich auch nicht mehr darum zu kümmern, wie die Arbeitskräfte in diesem oder jenem Staat ausgebildet sind. Auch die allgemeine Logistik ist nicht mehr so wichtig, wenn das Großkapital seine eigene Logistik
entwickeln kann, bzw. wenn es z. B. damit rechnen kann, dass seine Post von
den privaten Gesellschaften schneller und zuverlässiger befördert wird als die
von Privatpersonen. Das heißt nicht, dass man den Staat nicht mehr brauche.
Er muss das Finanzkapital so weit wie möglich vor seinen selbsterzeugten
Krisen beschützen, indem er mit den Steuergeldern einspringt, die der Bewältigung seiner traditionellen Aufgaben entzogen werden. Die Krisen nehmen
noch deutlicher als in der Weltwirtschaftskrise der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts globale Dimensionen an und bedrohen ganze Staaten, die ohnehin schwächer geworden sind, mit dem Bankrott. Dabei geht es
nicht nur um kleine Staaten wie Griechenland, Irland, Island usw. Würde das
ganze kapitalistische Wirtschaftssystem nicht auf dem Dollar und der militärischen Macht der USA beruhen, wären auch diese selbst bedroht. Allerdings
deutet sich der Niedergang der US-Hegemonie schon an.
Die Krise hat den Glauben an die Möglichkeit, sich als Selfmademan
zu verwirklichen, auch in den USA erheblich ins Wanken gebracht. Umso heftiger hält man daran fest, betet weiter die befreiende Macht des Marktes an
und bekämpft die angeblich unterdrückende Macht des Staates. So ist die
Tea-Party-Bewegung entstanden. Dabei haben sich nicht nur die Ventile innerer Kolonisierung verschlossen; schließlich herrscht jetzt auch in Silicon
Dass der Computer in Millisekunden auf Preisveränderungen reagieren kann und
dabei den globalen Handel weitgehend ohne menschliches Zutun erledigt, ist ein schönes Beispiel für das, was man seit Georg Lukács Verdinglichung nennt, und kann ein
erschreckender Auslöser für globale Finanzkatastrophen werden.
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Valley das Großkapital. Nein, die Kolonisierung der Natur selbst ist an ihre
Grenze gekommen, auch wenn Sarah Palin das nicht wahrhaben will, die
jagdbaren Weiten Alaskas feiert und die rücksichtslose Ausbeutung letzter
Ressourcen („drill, baby, drill!“). In Wirklichkeit hat die Epoche nicht nur der
großen Finanzkrisen, sondern auch der Klima- und Ernährungskrisen schon
begonnen. Die Vergiftung der überfischten Meere, das Auftauen der Permafrostböden mit ihren enormen Mengen von Methan und CO2, die Bedrohung
wichtigster Nutzpflanzen durch das weitgehende Aussterben der Bienen, das
sind nur einige der Aspekte, die uns schon im eben angebrochenen Jahrzehnt
mehr beschäftigen werden, als uns lieb sein kann, Aspekte einer humanitären
Katastrophe bisher nicht gekannten Ausmaßes, die sich, wenn überhaupt,
nicht von einzelnen Staaten bewältigen lässt. Die Völkerwanderungen, die
sich bis jetzt erst andeuten, haben in Europa schon zu starken rechtspopulistischen Bewegungen geführt. (Diese Zeilen wurden noch vor der japanischen Atomkatastrophe geschrieben, die das wieder eindrucksvoll veranschaulicht hat, nachdem die Ölkatastrophe im Golf von Mexico gerade aus
dem kurzen Gedächtnis der Öffentlichkeit verschwunden war.)
Doch für das Finanzkapital bedeutet das Ende der Macht des „ideellen
Gesamtkapitalisten“ lediglich, dass die früher vom Staat versorgten Bereiche
nun der Profitjagd offen stehen. Daher die Tendenz zur immer weitergehenden
Privatisierung von Gesundheits- und Bildungswesen, von Post und Eisenbahn. Vor allem bei der Wasserversorgung wird öffentlicher Besitz an Private
verschleudert. Der Vorstellung, dass hier für die Nation wichtige Bereiche erhalten und vor Privatprofit geschützt werden müssen, hält man entgegen,
dass Privatisierung alles effektiver mache. Unter dieser Fahne treten sie an,
unter dieser Fahne erleiden sie ihre Niederlagen, wenn die Eisenbahnen versagen, die Busunternehmen bestreikt werden, die Kranken- und Pflegeversicherungen unbezahlbar werden, wenn die Versorgung der Kranken immer
schlechter wird und das Bildungswesen vor die Hunde geht. Vor etwa dreißig
Jahren hörte ich Milton Friedman in den USA die These von der höheren Effektivität vertreten, indem er ganz naiv auf die „helfende Hand“ des Kapitals
verwiesen, so als ob die Ideen von Adam Smith sich auf die Zeit des globalen
Finanzkapitals anwenden ließen. Dafür bekam er den Nobelpreis. Keiner seiner Schüler hat die große Finanzkrise auch nur kommen sehen. Dennoch
klingt das Versprechen der Effektivität, d.h. der Möglichkeit finanzieller Einsparungen, immer noch wie Musik in den Ohren der Politiker, die über immer
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weniger Steuergelder verfügen, während der private Reichtum nie erträumte
Höhen erreicht (und die Armut einen nie erwarteten Umfang). So versprechen
sie, die Krankheit zu heilen, die sie hervorgebracht haben. Schließlich müssen
die geringen Steuergelder auch noch dazu verwendet werden, die in der Krise
fallierten Banken zu retten, weil sie „systemrelevant“ sind.
Betrachten wir nun das Bildungswesen. Um hier einzugreifen, war eine
massive Kampagne nötig, mit der die öffentliche Meinung umgekrempelt
wurde. (In Deutschland wurde sie vor allem von der Bertelsmann Stiftung
durchgeführt.) Hier musste man zunächst mit der traditionellen Auffassung
aufräumen, Ausbildung sei ein öffentliches Gut, das seinen Wert in sich selbst
habe und möglichst vielen zugutekommen müsse. Dieses Gut beruhe auf Wissenschaftlichkeit, nämlich auf einer rationalen, allein den Kriterien eines Faches unterworfenen Diskussion und einer entsprechenden Fähigkeit zum aufgeschlossenen, logischen, auf Wissen beruhenden Argumentieren. Dagegen
setzte man die Auffassung, Ausbildung bestehe darin, ein Wissen zu erwerben, dessen Wert sich allein aus der Nachfrage am Markt ergibt. Also Wissen
als Ware. Man erwirbt dieses Wissen, indem man sich die Erlaubnis erkauft,
es zu übernehmen. Vor dem Kauf muss man sich gut überlegen, ob man es
später wird absetzen können; wer das falsche Fach studiert, ist selber schuld.
Nach dem Kauf geht es nur noch darum, sich das Wissen so weitgehend wie
möglich einzuverleiben, ohne es in Frage zu stellen, es sei denn, man wäre so
dumm, eine Ware schlecht zu machen, die man verwerten will. Damit ist die
beständige Selbstreflexion der Wissenschaften grundsätzlich ausgeschaltet,
und an die Stelle der rationalen, fachspezifischen Diskussion tritt die Reklame.
Diese Auffassung setzt voraus, dass Nutzen nur eine Ware besitzen
kann. Das ist so selbstverständlich, dass es gar nicht mehr gesagt wird. Gesagt wird, dass das von den Bildungsinstitutionen vermittelte Wissen gesellschaftlich nützlich sein muss, weil diese ja auch von der Gesellschaft finanziert werden. Wer könnte dagegen etwas einwenden? Aber gesellschaftlicher
Nutzen ist hier nur ein Deckwort für Profit, und zwar Profit der privaten Wirtschaft, der, so die naive Hoffnung, über Steuereinnahmen der Gemeinschaft
zukommen soll. Die Medizinwissenschaft hat also nicht für die Gesundheit
der Bevölkerung zu sorgen, sondern für die Einnahmen von Bayer und
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anderen.2 Im Namen des gesellschaftlichen Nutzens sucht man die Institutionen zu privatisieren, damit Private die hierfür immer noch aufgewendeten
Steuergelder so weit wie möglich als Profit einstreichen können.3 Für die Privatisierung wirbt man dann mit dem Argument, dass die allein dem Marktwert
verpflichtete und damit der Konkurrenz ausgesetzte Organisation stärker als
jede staatliche daran interessiert sein muss, einen höheren Nutzen zu erzielen
bzw. mit geringerer staatlicher Unterstützung auszukommen. (Ich erinnere
mich aus meiner Zeit in den USA, wie Friedmann, der Nobelpreisträger, aus
diesem Argument einen Werbefilm für Privatschulen formte.)
Damit wird der Bildungsbegriff vollständig umgekrempelt. Zunächst
wird die Ausbildung von jenem Mehr gereinigt, das sie zur Bildung macht, d.
h. von allem, was nicht jobrelevant ist, also den Menschen zu einem Gebildeten macht, der einen gewissen Überblick über seine Welt und seine Geschichte besitzt. Die Juristen müssen nichts über Rechtsphilosophie wissen,
und die Romanisten – so wurde an er Universität Saarbrücken vor einigen
Jahren dekretiert – brauchen nichts über die Literatur von vor 1650 zu wissen, weil die im Schulunterricht nicht vorkomme. Das wäre ein Luxus, der
sich nicht rechnet. Das heißt nicht, dass Humboldt vollständig begraben
wäre. Man braucht den Namen noch, um mit ihm für deutsche Universitäten
im Ausland zu werben: leere Reklame. So wie Ausbildung um ihren Bildungsaspekt verkürzt wird, wird Wissen in Kompetenz umdefiniert. Wissen hat immer noch einen Bezug zu Traditionen und zu einem größeren Zusammenhang, Kompetenz ist die bloße Fähigkeit, bestimmte, gerade aktuelle Aufgaben
zu lösen. Sie lässt sich leichter für den Testgebrauch quantifizieren und kann
jederzeit durch neue Inhalte ersetzt werden, wenn die gewünschten Kompetenzen sich ändern, ohne dass die so Ausgebildeten auf den Gedanken kommen, nach dem Sinn der ihnen andressierten Kompetenzen zu fragen. Kreativität und Phantasie hingegen werden abdressiert.
Wolfgang Fritz Haug schlägt als Kriterium für eine wohlverstandene Wirtschaftlichkeit, die von der Wissenschaft durchaus zu fordern ist, den Maßstab des „ganzen
Hauses“ vor (Ist Wirtschaftlichkeit ein Kriterium für Wissenschaft? Zur Frage des Kapitalismus. - In: http://www.wolfgangfritzhaug.inkrit.de/)
3 „Der Spielmacher im System der universitären Mischfinanzierung (überwiegend
staatlich, teilweise marktlich […]) ist immer der private Sponsor. Selbst wenn er nur
wenige Prozente des Haushalts finanziert, hat er die Schlüsselrolle. Denn ohne seinen
Beitrag, ist auch der öffentliche nicht sicher. Keine Hochschule wird unter diesen
Bedingungen auf die wahrhaft halsbrecherische Idee verfallen, etwas zu lehren oder
zu forschen, was einem (potentiellen oder realen) Geldgeber nicht passt. Nur wo das
private Geld fließt, fließt auch das öffentliche.“ (Knobloch, a. a. O., S. 67)
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Hat diese Auffassung sich durchgesetzt – und das hat sie in verblüffend
kurzer Zeit, weil sie für die verarmenden Staaten höchst willkommen ist –, so
müssen die Bildungsinstitutionen in ihren Fundamenten umgebaut werden.
Sie werden nicht mehr vom einem wissenschaftlichen Ethos getragen, das seinen Anhängern verspricht, das Wesen des Menschen in seiner Welt etwas
besser als vorher zu erfassen, sie werden zu Fabriken, die zufällig keine Marmelade oder Kinderspielzeug, sondern Wissen produzieren. Es gibt hierzu inzwischen eine Reihe kritischer Stimmen. Was die Universitäten betrifft, so
scheint mir Clemens Knobloch die Zusammenhänge am besten beschrieben
zu haben (Wir sind doch nicht blöd! Die unternehmerische Hochschule, Münster
2010). Ein Buch auf das man trotz seines etwas blöden Titels nicht nachdrücklich genug verweisen kann.
Die universitäre Ausbildung wird von der Nachfrage gesteuert. Das bedeutet: Fächer, deren Studentenzahlen längere Zeit nicht steigen, gelten als
unrentabel und werden geschlossen. Dabei gehen Wissen und fachspezifische
Formen des Erkenntnisgewinns verloren. Das gilt zunächst einmal für alle
exotisch wirkenden Fächer wie Archäologie oder alte Sprachen, grundsätzlich
aber für kulturelles Wissen, Selbstreflexion und kritisch-historisches, phantasievoll-kreatives Denken überhaupt, also für die grundlegenden Bereiche
der Humaniora und Sozialwissenschaften. Denn gerade sie können den Studierenden keine Aussicht auf einen späteren guten Job anbieten. Dass immer
noch Studenten solche Fächer wählen, von denen sie sich Selbsterkenntnis
und Selbstverwirklichung erhoffen, auch wenn sie in einer neoliberal eingerichteten Gesellschaft nicht mit guten Jobs rechnen können, ist ein allmählich abnehmender Funktionsfehler. Tatsächlich verschwinden auch in den
humanistischen Fächern die grundlegenden Bereiche, stattdessen lernt man
z. B. Fremdsprachen, insbesondere Geschäftssprachen und solche der Techniker und Juristen,4 aber auch kulturelles Wissen, soweit es etwa die Verhandlungsführung mit ausländischen Geschäftspartnern oder die Integration
von Einwanderern erleichtert. Es gibt „Berufsattrappen“ (Knobloch) wie den
Etwa so wie es in einer Email hieß, die mir neulich zugesendet wurde: „Heute möchten wir Ihnen unser Programm zur beruflichen Kommunikation und Fachsprache
vorstellen: Wirtschaftssprache, Projektmanagement für Techniker, juristisches
Deutsch, Deutsch für Diplomaten … Ganz unseren erlebnispädagogischen Grundsätzen verpflichtet, unterrichten wir auch diese Kurse im Rahmen von Simulationen,
realen Situationen, etc. Jeder Kurs wird individuell auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten.“
4
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Medien- oder Kulturwirt, und sogar Hochschulen, an denen Philologie und
Sprachwissenschaften den Wirtschaftswissenschaften eingegliedert sind.5
Insgesamt wird das Studium verschult, weil ein auf Kompetenzen reduziertes
Wissen vermittelt werden soll, nicht Reflexion und Phantasie. Ein Wissen, das
in kleine Module aufgeteilt ist, die den Erwerb bestimmter Mengen davon berechenbar machen, ohne dass der innere Zusammenhang des Wissens irgendeine Rolle spielte, ein Wissen, das auf seine Brauchbarkeit am Markt begrenzt
ist, doch nichtsdestoweniger ebenso umfangreich wie vergänglich sein kann,
so wie etwa die Beherrschung von Computertechniken. Am wenigsten gefördert wird, was am wenigsten von der Wirtschaft nachgefragt wird, aber zur
geistigen Gesundheit einer Gesellschaft gehört: gesellschaftliche Kritik sowie
ästhetische und existenzielle Reflexion zusammen mit Phantasie. Die Phantasie, sich eine Atomkatastrophe wie die japanische vorzustellen, war den herrschenden Konzernen, die an solcher Phantasielosigkeit verdienen, und ihren
Politikern und Wissenschaftlern nicht gegeben. Sie zu vermitteln, wäre durchaus eine gesellschaftlich nützliche Tätigkeit gewesen.
In diesem System sind die Studenten einerseits zahlende Kunden, andererseits Arbeiter in einem verschulten System, das möglichst billig arbeiten
muss. Zahlende Kunden sind sie allerdings nicht in dem Sinn, dass ihnen
deren Privilegien zukämen. Vielmehr dient das Kundeninteresse dazu, Druck
auf die Lehrenden auszuüben: Wo die Nachfrage ausbleibt und auch die eifrigste Reklame sie nicht erhöhen kann, müssen die Produkte vom Markt genommen werden. Als Arbeiter müssen die Studenten an den Voraussetzungen
dafür mitarbeiten, dass das Versprechen sich erfüllt, durch ihr Studium einmal einen guten Job zu bekommen, d.h. dass sie als Waren Absatz finden
werden. (Das Risiko, das falsche Fach gewählt zu haben, tragen sie aber
selbst.) Die Arbeit vollzieht sich an Universitäten, deren Überfüllung gewollt
ist und erzwungen wird, damit die Ausbildung billig ist und der Lockruf privater Investitionen Gehör findet. Knobloch hat das eingehend dargestellt.
Hier ist eine Bemerkung über das Verhältnis zwischen privater und öffentlicher Ausbildung am Platz. Solange private und öffentliche Schulen bzw.
Universitäten nebeneinander operieren, ist es tendenziell so: Der Staat übernimmt die noch mehr oder weniger kostenlose Grundausbildung, die Privaten
das „höhere“ Wissen, für das die Kunden bezahlen müssen. Wie die Politiker
5
Knobloch, a. a. O., S. 203
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diese Entwicklung befördern können, rät ihnen die OECD (die auch für die
Pisa-Studien verantwortlich ist) in einem mittlerweile aus dem Netz genommenen Report. Bei Knobloch sind die Vorschläge jedoch festgehalten:
Um das Haushaltsdefizit zu reduzieren, sind sehr substanzielle Einschnitte im Bereich der öffentlichen Investitionen oder die Kürzung der Mittel für laufende Kosten
ohne jedes politische Risiko. Wenn Mittel für laufende Kosten gekürzt werden,
dann sollte die Quantität der Dienstleistung nicht reduziert werden, auch wenn
die Qualität darunter leidet. Beispielsweise lassen sich Haushaltsmittel für Schulen und Universitäten kürzen, aber es wäre gefährlich, die Zahl der Studierenden
zu beschränken. Familien reagieren gewaltsam, wenn ihren Kindern der Zugang
verweigert wird, aber nicht auf eine allmähliche Absenkung der Qualität der dargebotenen Bildung, und so kann die Schule immer mehr dazu übergehen, für bestimmte Zwecke von Familien Eigenbeträge zu verlangen, oder bestimmte Tätigkeiten ganz einzustellen. Dabei sollte nur nach und nach so vorgegangen werden, z.
B. in einer Schule, aber nicht in der benachbarten Einrichtung, um jede allgemeine
Unzufriedenheit der Bevölkerung zu vermeiden. (zit nach Knobloch, a. a. O., S.
116)
So entstehen die Extreme: auf der einen Seite die Jugendlichen ganz ohne
Ausbildung, auf der anderen die Privatkunden, die auf höhere Qualifikation
hoffen dürfen.
Wie steht es mit der Forschung? Wissen als Ware muss auf andere
Weise produziert werden als Wahrheit über den Menschen und seine Welt.
Die nie beendigte Suche nach solcher Wahrheit folgt am besten einem System
von trial and error, das möglichst vielfältige Ausgangspunkte ausprobiert, Interessen, Vorlieben, Einfälle vieler einzelner, die dann wissenschaftlich erprobt werden und sich öfter als Irrwege denn als Königswege erweisen, dafür
aber auch zu unvorhergesehenen Erkenntnissen führen können. In der gesellschaftlichen Realität werden sich dabei sicher auch bestimmte gesellschaftliche Interessen durchsetzen, die freilich wieder reflektiert werden können. Es werden sich wissenschaftliche Schulen bilden, die aber nicht umhin
können, den neuen Antrieben Platz zu geben, deren Sinn und Folgen sich
vielleicht gar nicht, vielleicht sehr spät erst herausstellen. Eine Ware hingegen
wird im Hinblick auf die Nachfrage produziert. Wer verlangt welches Produkt?
Hier ist kein Platz für Unvorhergesehenes, damit auch keines für trial and
error, das würde zu hohe Unkosten verursachen. Vielmehr hat die Forschung
ganz bestimmte Aufgaben abzuarbeiten, die ihr von der Wirtschaft gestellt
werden. Das Ziel ist entweder Teilnahme am Ausbildungsmarkt oder Entwicklung von Patenten, die übrigens schon immer der marktbezogene Teil universitärer Forschung waren und das Prinzip der Forschungsöffentlichkeit in gewissem Maß aushebelten. Das geschieht in noch größerem Maß als früher,
10
wenn die Universitäten quasi im Besitz von Wirtschaftsunternehmen sind.
Denn das wird letztlich erforderlich, wenn die Forschungsergebnisse den Interessen der Unternehmen entsprechen sollen. Vorerst verwalten die Angehörigen der modernen Universität nicht mehr ihren Betrieb selbst, sondern werden einer von außen kommenden wirtschaftlichen Leitung unterworfen, welche die Universitäten mit einer Bürokratie belastet, die nach dem Prinzip handelt: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Wie kontraproduktiv dieses System ist, zeigt sich u. a. an einer Reihe von Skandalen und Betrugsfällen. In
Dänemark tat sich (neben anderen) eine Exzellenzwissenschaftlerin der Universität Kopenhagen hervor, in Deutschland der Verteidigungsminister. Bei
der pharmazeutischen Forschung hat man manchmal den Eindruck, dass sie
mehr der Herstellung reklamewirksamer Statistiken dient als der Erforschung
wirksamer Medizin. Ganz allgemein kann man sagen, dass neutrales Wissen,
frei von Reklame und auftragsbezogener Verlogenheit, künftig eine knappe
Ressource sein wird. Wenn die Fähigkeit zur Reklame („Einwerbung von Drittmitteln“) bei der Einstellung von Professoren schon als wichtiges fachübergreifendes Qualifikationskriterium gilt ….
Dort, wo ein Markt nicht oder noch nicht existiert – und das betrifft
immer noch den größten Teil der universitären Forschung –, wird er simuliert.
Analog zur Anzahl verkaufter Produkte misst man den Marktwert eines Forschers danach, wie häufig er zitiert wurde. Daher bilden sich Zitierkartelle,
aber auch Leute, die häufig kritisiert werden, haben gute Karten. In Analogie
zu den Ratingagenturen der Wirtschaft hat man Evaluierungs- und Akkreditierungsinstitute geschaffen. Doch diese sind noch unzuverlässiger als jene
schon sind, weil sie auch noch das Unmögliche tun und zunächst einmal
Qualität in Quantität umrechnen müssen. Sie pflegen dann auf langwierige
und teure Weise herauszufinden, dass die reichsten Universitäten auch die
besten sind. So schaffen und verstärken sie die Ordnung, die zu beschreiben
sie vorgeben.6 Natürlich werden die zu Evaluierenden mit der jeweils gewünschten Farbe schönzufärben versuchen. Doch um Brecht zu variieren:
Was ist der Betrug von Akkreditierungsagenturen gegen die Gründung von
Akkreditierungsagenturen?
Doch gerade diese unglückliche Marktsimulierung liefert der neoliberalen Kampagne die entscheidenden Argumente. Denn die Reduktion auf
6
Vgl. Knobloch, a. a. O., S. 173 f.
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Quantität verspricht, Qualität jetzt endlich objektiv zu messen. Gerade diejenigen, die für Qualität grundsätzlich taub und blind sind, führen diese Vokabel, häufig zusammen mit Effizienz, dauernd im Mund. In Wirklichkeit ist das
alles inhaltsloses Gerede, das nur zu einem gut ist – zur Reklame. Da mit der
Quantifizierung auch alles standardisiert wird – hierfür stehen die Verträge
von Bologna –, grundsätzlich also die Unterschiede zwischen den verschiedenen Universitätskulturen eingeebnet werden, dient die Reklame dazu, Markenwaren herzustellen, „brands“, die das Publikum verführen wie die Marken
von Unterhosen. Zur erzwungenen Reklame gehören die Absichtserklärungen
von Forschungsgruppen, Instituten und Universitäten, sogenannte Mission
Statements. Die Universität Siegen z. B. „stärkt die Inter- und Transdisziplinarität in Forschung und Lehre mit dem Ziel, fächer- und fachbereichsübergreifende Kooperationen zu fördern, wissenschaftliche Ressourcen auszuschöpfen und herausragende Profilierungspotentiale zu entwickeln.“7 Heißer
Wind, den die anderen Universitäten nach aufwendigen Evaluierungen ganz
genau so ablassen.
Die Forscher und Lehrer sind nicht mehr einem wissenschaftlichen
Ethos verpflichtet, sondern allein dem Konkurrenzkampf unterworfen. Hochschulsoziologen, die das New Management vertreten, sagen das ganz offen:
Die regulative institutionelle Vorstellung des intrinsisch motivierten faustischen
Forschers, dem es um die Entschlüsselung der Wahrheit dieser Welt geht, wird
durch die eines relativ privilegierten Arbeitnehmers , der primär durch Geld bzw.
durch berufliche Sanktionen motiviert wird, abgelöst […] Die Energien werden sich
dann voraussichtlich nach den Kennziffern richten, die den höchsten Ertrag und
die größte Arbeitsplatzsicherheit versprechen […]. Der bereits stattfindende weitreichende Generationswechsel in der Professorenschaft […] ist ein günstiger Moment für derartige Umstrukturierungen. Die nachrückenden „Neuen“ haben die
bisherigen Selbstverwaltungs- und Arbeitsstrukturen noch nicht aus der Professorenwarte kennen gelernt und werden sich daher weniger gegen die Verluste an
Einfluss und Unabhängigkeit wehren. (zit. nach Knobloch, a. a. O., S. 231)
Der festangestellte Professor ist allerdings eine aussterbende Rasse. Stattdessen wird immer mehr Arbeit von Teilzeitangestellten durchgeführt.8 Jeweils
erneute Anstellung für eine Semester und Entlassung bei Ferienbeginn ist
keine Seltenheit mehr. Kontinuierliche Forschung hoher Qualität ist dadurch
Zit. nach Knobloch, a. a. O. S. 151
Vgl. Frank Donoghue: The Last Professors. The Corporate University and the Fate of
the Humanities. Fordham University Press 2008
7
8
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nicht mehr gewährleistet; wo sie im Interesse bestimmter Konzerne erforderlich scheint, werden die Forscher von diesen bezahlt.
Die heutige Bildungssituation ist von ernstzunehmenden Gelehrten mit
der Spätantike verglichen und mit der Aufforderung verbunden worden,
Boëthius nachzufolgen und den erreichten Stand kultureller Reflexion für
künftige, bessere Zeiten zu dokumentieren bzw. eine Subkultur subversiver
Bildung außerhalb der Universitäten zu pflegen. Clemens Knobloch sagt es
so: „George Orwell war ein ziemlich phantasieloser Kinderbuchautor.“ (a. a.
O., S. 251)
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Abschied von der Universität
oder
Von der erzieherischen Kraft des Geldes
(2016)
Abschied von der Universität hat eine doppelte Bedeutung. Für einen, der vor
sieben Jahren in Pension ging, ist es nicht nur der persönliche Abschied von
der Universität, an der er zuletzt und am längsten gearbeitet hat, sondern
auch der Rückblick auf ein Leben als Wissenschaftler. Doch dieser lange Abschied bekommt für den Ruheständler eine symbolische Bedeutung, denn es
ist eingebettet in einen noch längeren, aber immer entschiedeneren Abschied
der neoliberalen Universität von der Wissenschaft, insbesondere von der humanistischen. Darum soll hier auch hauptsächlich von den Humaniora die
Rede sein, obwohl sie nicht alleine betroffen sind. Da ich mich nie einer Universität zugehörig gefühlt habe, immer nur der Wissenschaft, kann ich all dieser Verabschiedung mit einer gewissen Ruhe von der Außenlinie aus zusehen.
Heute geht es der Wirtschaft darum, ein digitales Bildungssystem
durchzusetzen, in dem Lehrer überflüssig werden. Nach dem Zeitplan der USamerikanischen Forschungsagentur Education Futures soll der letzte Gymnasiallehrer New Yorks im Jahr 2032 in den Ruhestand geschickt werden. Schon
vor diesem Zeitpunkt werden Lehrer und Dozenten auf die Rolle von Coaches
bzw. Classroom Managern reduziert sein. Ziel ist das private Lernen ohne
Schule und Uni. Den Regierungen wird die Standardisierung dadurch
schmackhaft gemacht, dass man Geld spart, den Lernenden dadurch, dass
sie ganz individuell und darum effektiv mit ihrem geduldigen, nie strafenden
persönlichen Programm arbeiten können, das heißt sie werden ganz individuell an gegebene Standards angepasst. Tatsächlich hat die Ausbildungsrevolution zwei Ziele:
1) Alle Bildungsausgaben fließen in die Taschen der Lehrmittelindustrie,
etwa Bertelsmann-Stiftung (und wer sonst noch an Lobbyisten in deutschen Kultusministerien sitzt) oder Random House.
2) Die Lernprogramme protokollieren nicht nur die Lernergebnisse, sondern auch die Reaktionen, Verhaltensweisen, Körperparameter der Lernenden und ermöglichen so absolute Kontrolle und Manipulation, die
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sich für Werbung, aber auch für jedwede totalitäre Herrschaft ausnützen lassen. Auch daran verdient die Lehrmittelindustrie.
Wichtiges zu alledem findet man in den Veröffentlichungen von Lankau
und Schulz und auf der Homepage der Gesellschaft für Bildung und Wissen
e. V. (http://bildung-wissen.eu). Dass die Ökonomisierung der Bildung die
Demokratie bedroht, ist inzwischen schon vielfach kritisiert worden, ich weise
hier nur auf den Aufsatz von Jochen Krautz hin. Er wird in brand eins, einem
Wirtschaftsmagazin der McKinsey-Gruppe (einer internationalen Managementconsultingfirma) ebenso lächerlich gemacht wie Hinrich Lühmann, Psychoanalytiker und ehemaliger Gymnasialdirektor, der aufweist, welche
schlimmen Folgen für die Persönlichkeitsbildung der Ausschluss der persönlichen Begegnung aus dem Lernprozess hat. Doch Persönlichkeitsbildung gehört für die Rationalökonomen in das Kapitel der Sentimentalität. Aber durch
die Begegnung mit ihren Lehrern können Schüler reifen, zugegeben: auch,
weil sie sich an ihnen gerieben haben. Dass sie sich dankbar an charismatische Lehrer erinnern, habe ich schon öfter gehört, noch nie, dass sie sich an
charismatische Computer erinnern. Vielleicht wird sich das ändern. Ein akademischer Flachkopf aus den USA hat das Zukunftsbild des Computers als
freundlichen Mentors in allen Lebenslagen entwickelt. Für uns andere eine
Dystopie.
Das ist der Endpunkt einer ökonomischen Revolution, die gleich nach
dem 2. Weltkrieg eingeleitet wurde, in USA von Milton Friedman und den Chicago-Boys, insbesondere Gary Stanley Becker und Theodore Schultz, in Europa von Friedrich von Hayek und der Schweizer Mount Pelerin Society. Alles
Nötige darüber kann man bei Joel Spring nachlesen. Letztlich besteht die einzige Motivation für menschliches Handeln nach der Meinung dieser Ökonomen im „rational choice“, im Griff nach den größeren Einnahmen. Falls das
nicht zutrifft, so werden ihre Maßnahmen es erzwingen. Zugleich lehren sie,
dass Deregulierung sowie Investitionen in die Zunahme von Kompetenzen, im
Bildungswesen wie in Familien, zu wachsendem Reichtum für alle führen. Die
OECD (mit ihrer Vorläuferin der OEEC) hat dieses Denken, zunächst noch
gegen europäischen Widerstand, in Tests für alle Arten von Lehrenden und
Lernenden ausgeformt. Zwei der Produkte sind die Tests von PISA und TIMSS.
Sie sollen global das Humankapital (die Menschen, verstanden als die Summe
ihrer vermarktbaren und sozial erwünschten Fähigkeiten) der Schulen messen und dieses zugleich so standardisieren, dass es den Anforderungen der
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globalen Wirtschaft genügt. Man behauptete sogar, messen zu können, um
wie viel eine gute Lehrerin das spätere Einkommen ihrer Schüler erhöht. Das
ökonomische Wachstum wird dann auch soziale Probleme automatisch lösen.
Die Weltbank und das World Economic Forum verbreiteten diese Reformen weiter. Die Weltbank, die im Sinne des Ökonomen James Heckman vor
allem die Formung des Charakters schon in der Familie betont, wirkt so seit
den siebziger Jahren unter McNamara; das World Economic Forum, das die
Vorstellungen seines Sponsors Charles G. Koch vertritt, der mit seinem Bruder zusammen das größte Vermögen in den USA hält, stellt ein Ranking der
Nationen auf, das im Human Capital Report veröffentlicht wird, und sucht in
Zusammenarbeit mit der UNESCO Schulen und Business miteinander zu verknüpfen, um schon früh die Erziehung zum Unternehmertum durchzusetzen.
Enthistorisierung und Kulturverlust
Doch nun zum Sonderfall der Humanwissenschaften. Die Humaniora, so beschreibt es Frank Donoghue in seinem Buch The Last Professors, wurden
schon von den amerikanischen Industriellen, den Carnegie, Birdseye und
Crane als wertlos angesehen, als etwas, das überflüssige Staatsausgaben verursacht. Schon damals wurden Unis mit Fabriken und Studenten mit deren
Produkten verglichen, nicht zum Vorteil ersterer. Nach einer längeren Unterbrechung in Großer Depression, Weltkrieg und Kaltem Krieg – im letzteren,
der die eben geschilderte Entwicklung insgesamt beförderte, genossen die Humaniora noch eine Gnadenfrist, weil man glaubte, sie als ideologisches
Kampfmitttel im hysterischen Antikommunismus der USA gebrauchen zu
können –, in der Reagan-Ära dann wurden die Humaniora wie die Universitäten überhaupt zunehmend als Teil gezielter Berufsausbildung verstanden, in
der die Taylorisierung der Arbeit ebenso durchzuführen war wie überall sonst
im Arbeitsleben. Und in der sich ankündigenden digitalisierten Fernuniversität wird es, jedenfalls bei den Humanisten, nur noch schlecht bezahlte Trainer
geben für die Arbeit mit den Mitteln einer dominierenden Lernindustrie, wie
Donoghue in Kapitel 4 aufzeigt. Das alles ist so, muss man hervorheben, erst
durch den Einzug des Computers ins Bildungswesen möglich geworden. Er
hat die Standardisierung ermöglicht, welche die europäische Tradition der
Humaniora, die Suche nach Lebenssinn in den historischen Wurzeln
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nationaler Kulturen, inzwischen überrollt hat. Humanistisches, überhaupt
kulturelles Wissen im weitesten Sinn ist für die Tests von Job-bezogenen Fähigkeiten gleichgültig geworden.
In der Fremdsprachengermanistik haben wir das früher bemerkt als
die Germanisten in den deutschsprachigen Ländern. Ich erinnere mich an
Konferenzen und Kongresse, bei denen man die Wirtschaft, eine immer abwesende, imaginäre Größe, von den ökonomischen Vorteilen überzeugen wollte,
welche die Kenntnis der deutschen Kultur mit sich bringt. Zum Schluss bin
ich nicht mehr hingegangen und habe so meine Kollegen verärgert.
Doch wenn man feststellt, dass das Geschäftsprinzip der neoliberalen
Universität über die kulturelle Sinndeutung gesiegt hat, so muss man gerechterweise hinzufügen, dass die kulturelle Sinndeutung schon seit Jahrzehnten
von Philosophie und Literaturwissenschaft selbst angegriffen und schließlich
zerstört wurde. Der Anarchismus der französischen Achtundsechziger, der
Verzweiflung darüber entsprungen, dass kein historischer Fortschritt zu einer
menschlicheren Gesellschaft mehr möglich schien, wurde zum Geburtshelfer
unterschiedlicher Theorien, sei es die des Poststrukturalismus, der Postmoderne, des Antihumanismus, die zweierlei taten: Sie kappten einerseits die
Verbindung zwischen dem existenziellen Engagement des forschenden Individuums und der Wissenschaft sowie die zwischen Wissenschaft und gesellschaftlicher Wirklichkeit, und sie ermöglichten damit andererseits eine
ebenso grundsätzliche wie unverbindliche Opposition zu der bestehenden,
weil zu einer jeglichen gesellschaftlichen Ordnung. Was haben Universitätsgelehrte nicht alles der Unterdrückung geziehen? Natürlich alle Versuche historischer Sinndeutung, aber auch die Schule, die Erziehung, ja die Sozialisation überhaupt und sogar die Sprache. Und natürlich dabei immer das sinndeutende Subjekt. So bestärkte das sinnzerstörende Subjekt seinen Narzissmus und bereitete zugleich das Feld, auf dem der Neoliberalismus mit Aufklärung und Humanismus aufräumen konnte.
Die Vorstellung vom Menschen, der sich bildet, indem er sich und seine
Welt erkennt und sich kritisch in sein kulturelles Erbe einarbeitet, traditionelles Ideal der Humanwissenschaften, ist der eigentliche Gegner der neoliberalen Universität, die den Regierungen von der OECD und anderen mehr oder
weniger aufgezwungen wurde. Ihr Ideal ist der Mensch, der sich als Unternehmer seiner selbst vermarktet, genauer: er vermarktet sich selbst als Humankapital, dessen Wert von Angebot und Nachfrage abhängt. Dabei lebt er in
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ständiger Konkurrenz mit anderen Menschen und mit Maschinen, immer bereit, jede ihm aufgetragene Arbeit durchzuführen, ungeachtet ihres Inhalts,
und in der fast immer vergeblichen Hoffnung auf den durchschlagenden finanziellen Erfolg. Die Universitäten ihrerseits versprechen mit den allermerkwürdigsten Ausbildungsangeboten Berufserfolg in irgendwelchen Marktnischen. Zu alledem gibt es inzwischen nicht wenige kritische Kommentare, ich
nenne nur den Aufsatz Lonely Rider von Armin Volkmar Wernsing.
Mit der Bildung des Individuums, zu der die Beschäftigung mit den
Fragen gehört: Wer bin ich und wo komme ich her? ist die ganze Idee der
Humboldtschen Universität obsolet geworden. Als vor einigen Jahren an der
Humanistischen Fakultät der Kopenhagener Universität die Studienverläufe
drastisch gekürzt wurden, antwortete die damalige Prodekanin auf die Kritik
der Studenten:
Die Vorstellung von Zeit zu persönlicher Vertiefung gehört ins Industriezeitalter. Wir müssen die Humaniora ins 21. Jahrhundert und in die Wissensgesellschaft bringen. Das Ziel ist, Humanisten zu schaffen, die eine Ware von hoher
Qualität zu einer gegebenen Deadline abliefern können.
So laut der Zeitung Politiken vom 8. Dez. 2008. (Die Dame wurde später Leiterin des Instituts, das durch die üblichen Streichungen und Zusammenlegungen die Nachfolge desjenigen übernommen hat, in dem ich einst arbeitete.
Daher empfindet sie sich heute als meine Vorgesetzte.) Sätze dieser Art stammen aus dem Wörterbuch herrschender Dummheiten. Schon zwei Jahre früher hatte Paul Liessmann in seinem Buch Theorie der Unbildung. Die Irrtümer
der Wissensgesellschaft ausführlich dargestellt, dass und warum Wissensgesellschaft, ein Schlagwort im neoliberalen Kulturkampf, eigentlich Desinformationsgesellschaft heißen müsste; sie zielt nämlich nicht auf einen Menschen, der Wissen über sich und seine Welt erwirbt, sondern auf einen, der
die Anpassung an wechselnde Anforderungen des Marktes in einer unverstandenen Welt einübt. Von der Muße, derer man für das entsprechende Nachdenken bedarf, gar nicht zu reden. Weiteres zum Unbegriff der Wissensgesellschaft erfährt man bei Michael Gemperle. Tatsächlich ist die Uni ein Geschäftsbetrieb wie ein Verlag, der angehenden Autoren erklärt, sie seien Unternehmer ihrer selbst und sollten bedenken: „Sie müssen ein Produkt oder
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einen Dienst anbieten, die für qualifizierte Kunden nützlich sind, im Austausch gegen einen Geldbetrag“.9
Die ökonomische Besessenheit lässt nur den Augenblick gelten, sie entwertet das Lebenswerk eines Gelehrten. Denn es gilt: Die Einnahmen von gestern kannst du vergessen; wenn du heute nichts mehr einnimmst, machst du
Bankrott. Das führt z. B. dazu, dass der Titel Emeritus für Dozenten im Ruhestand in einigen skandinavischen Ländern heute nur auf Zeit verliehen
wird, zusammen mit Bureau und Computer, wenn die Ruheständler sich verpflichten, weiter zu arbeiten, z. B. durch Publikationen zum Gewinn beizutragen, denn der Staat bezahlt die Uni für die Veröffentlichungen ihrer Mitarbeiter. Das Lebenswerk, wie gesagt, bedeutet nichts mehr. Daher bin ich, obwohl
weiterhin publizierend, an dem Ehrentitel nicht interessiert.
Das lässt sich verallgemeinern: Geschichte bedeutet nichts mehr. Sinndeutung, die immer auch kulturhistorisch ist und kulturkritisch sein muss,
wenn sie auf der Höhe ihrer Zeit sein will, bleibt außen vor. Nicht dass kein
Bedürfnis dafür bestünde, aber keines, für das Finanzquellen fließen. So
überlässt man dieses Gebiet den stereotypen Identitätsvorstellungen der Nationalpopulisten und Neofaschisten. Auch hier hat die Wissenschaft, vor allem
die Sprachwissenschaft, schon selbstständig vorgearbeitet, nämlich mit der
Entleerung des Kulturbegriffs, den sie zur Bezeichnung jeglicher Form organisierten und irgendwie ideologisch besetzten Handelns herabgestuft hat. Ein
Wort wie Verbrecherkultur, das ich in meinen Schriften noch provozierend
gebrauchen zu können meinte, ist eine simple Konsequenz.
Und nicht nur die Sprachwissenschaft hat vorgearbeitet. Als vor Jahren an meiner früheren Universität das Fach „Kulturbegegnungsstudien“ eingerichtet wurde, vor allem auf Betreiben von Studenten, die – durchaus verständlich – von der Uni eine Antwort erwarteten auf entstehende Probleme der
Integration von Einwanderern, stellten zwei Studentinnen ein Programm vor,
das eine Reihe methodischer Überlegungen enthielt, aber keinen Ort für Geschichte und Ästhetik. Auf meine Frage, wo denn Platz für die beiden Fächer
wäre, war die Antwort: Das brauchen wir nicht, das nehmen wir uns, wenn
wir es brauchen. Aus dem damals entstehenden Internet, dachten die beiden
wohl. Man kann das den Studenten nicht verargen, aber es gab außer mir
„Vous devez offrir un produit ou un service utiles aux clients qualifiés en échange
d'un montant d'argent.“
(http://www.editionsmelonic.com/Succes/entrepreneur.html)
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keinen Dozenten, den das skeptisch stimmte. Man kann offenbar Integrationsstudien mit bloßem guten Willen, ohne ein tiefgehendes historisches Studium betreiben. Und ohne Kenntnis der Geschichte von Kunst und Literatur,
obwohl man nirgends sonst so gut die wechselnden, eine sich wandelnde Kultur tragenden Identitätsvorstellungen beobachten kann wie eben dort.
Von der Lebensaufgabe zum Job
Mit alledem wird Wissenschaft von einer Lebensaufgabe zum Job. Fächer werden zusammengelegt, in Stockholm und Helsinki zum Beispiel mehrere
Fremdsprachenfächer zu einem einzigen Fach „Sprachen“, weil kulturhistorische Unterschiede sowieso nicht mehr gelehrt werden, und man die Fächer
vermutlich auf Anfangsgründe von Grammatik und Wortschatz reduzieren
kann. Das dürfte unter dem Titel „Effektivisierung durch Synergie“ laufen. Um
das zu unterrichten, braucht man keine festen Stellen, es geht auch mit zeitbegrenzten und miserabel bezahlten prekären Anstellungen. Ich meine beobachten zu können, dass die Vorstellung vom Job sich inzwischen auch bei
den Lehrenden durchzusetzen beginnt. Ich kenne Emeriti, die mit ihrer Pensionierung, sozusagen von einem Tag auf den anderen, mit wissenschaftlicher
Arbeit aufgehört haben, um stattdessen Weltreisen zu unternehmen. Das ist
nicht verwunderlich. So wie Donoghue es beschreibt, hat die universitäre Forschungsgemeinschaft schon seit längerem dem konkurrierenden Einzelgänger Platz gemacht, der sich mit großem Fleiß, aber mit nur geringen Erfolgsaussichten selbst vermarktet. Bei den Studenten ist es schon lange so: Eine
Vorlesung ohne ECTS-Punkte wird nicht besucht, Gastvorlesungen, die nicht
examensrelevant waren, ließen sich wohl an den meisten Unis schon vor vielen, vielen Jahren nicht mehr anbieten.
Wie unsicher die Arbeitsbedingungen geworden sind, mag ein Beispiel
aus den USA illustrieren. Ein ausführliches Zitat scheint mir hier gerechtfertigt, denn es lässt uns einen Blick auch auf die europäische Zukunft werfen.
Frank Donoghue schreibt:
The most alarming instance of a drastic change that has so far gone largely
unrectified was precipitated by Hurricane Katrina. In the wake of the extensive
damage done by the storm, several New Orleans’s universities laid off faculty
with no due process, means of appeal, or independent oversight. Dillard University laid off two-thirds of its faculty; Xavier University of Louisiana released
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73 of its 246 faculty members; Southern University of New Orleans placed 45
of its 163 full-time faculty members on furlough; and Louisiana University of
New Orleans laid off 28 professors. Most disturbingly, New Orleans’s richest
university, Tulane, laid off 230 faculty members and eliminated fourteen doctoral programs and several departments altogether. This dramatic restructuring plan reduced the university’s annual budget by $60 million, but left its
endowment of nearly $1 billion untapped. Tulane’s president, Scott Corwin,
sounded almost proud of these changes, describing the cuts as “strategically”
implemented and declaring that they constituted “the most significant reinvention of a university in the United States in over a century.” The abruptness of
the cuts combined with their characterization strongly resemble the corporate
downsizings that have become routine in the extra-academic world, with the
hurricane serving as a convenient pretext. (57).
Der Katastrophenkapitalismus, von dem Naomi Klein berichtet, ist nicht darauf beschränkt, politische Katastrophen zu provozieren, er kann auch Naturkatastrophen geschehen lassen, wie man hier sieht; im Bildungswesen bedient er sich gerne nur behaupteter Bildungskatastrophen. Aber es geht auch
ganz ohne Aufregung. In Dänemark sind Lehrende, die zu Ende eines Semesters entlassen und zu Beginn des nächsten wieder eingestellt werden, keine
Seltenheit mehr. Und das ging ganz still und leise vor sich. Zumindest bei
Gymnasiallehrern, höre ich, gibt es das auch in Deutschland. Doch der Mythos, wissenschaftliche Leistung werde letztendlich mit festen Universitätsstellungen belohnt, spukt noch immer in akademischen Köpfen.
Reklamewissenschaft
Wo es um die Vermarktung geht, stellt Reklame sich ein. Das neoliberale Subjekt und die neoliberale Universität sind ständig dabei, ihre Besonderheit herauszustreichen, obwohl sie doch ganz und gar von standardisierten Lernprinzipien bestimmt werden. Die gerade zitierte „Ware von hoher Qualität“ ist eine
der dabei entstehenden Sprechblasen. Nicht die besten akademischen Bücher
werden gelesen, sondern diejenigen mit der erfolgreichsten Reklame. Und wer
auf der Homepage einer Universität nach der Adresse eines Kollegen oder einer Kollegin sucht, braucht meist längere Zeit, um durch Reklame hindurchzunavigieren. Meine frühere Universität verkündet stolz, dass eine Forschungsgruppe anderthalb Millionen Kronen an Land gezogen hat, um zu erforschen, wie man die dänischen Küsten für deutsche Touristen noch attraktiver machen kann. Dabei liegt die Antwort doch auf der Hand: für weitere
Erwärmung sorgen, das Verbot der Küstenbebauung lockern oder ganz
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aufheben und – eben für bessere Reklame sorgen, also das tun, was die gegenwärtige dänische Regierung sowieso tut, dann wird man die spanischen
Inseln auskonkurrieren können. An eben dieser Universität ist ein neues Fach
entstanden – während alte Kulturfächer wie Französisch und Deutsch gestrichen wurden –, das ursprünglich die Aufgabe hatte, dem Roskilde Festival zu
mehr Einnahmen zu verhelfen und nun damit wirbt zu erforschen, wie man
alle Arten von Events, von Vorträgen bis zu Theatervorstellungen, einträglicher machen kann.
Ich nenne diese Beispiele, weil ich mich hier am besten auskenne; an
anderen Orten dürfte es kaum besser sein. Man muss nur daran denken, dass
man sich in Deutschland oder Österreich nicht um eine Professor bewerben
kann, ohne nachzuweisen, dass man erfolgreich Drittmittel eingeworben hat;
gewiss, ganz ohne fachspezifische Fähigkeiten geht es noch nicht. Bekanntlich verlangt der Drittmittelzirkus inzwischen schon einen solchen Aufwand,
dass viele in ihren Publikationsverzeichnissen ihre Bewerbungen auflisten.
Schon vor Jahren, als ich noch nicht pensioniert war, bestand ein nicht geringer Teil der Arbeit von Forschungsgruppen darin, Potemkinsche Dörfer zu
bauen. Dass die Vermittlung von Forschungsergebnissen bei den sogenannten Evaluierungen – darauf kommen wir gleich zu sprechen – der Erarbeitung
von Forschungsergebnissen gleichgestellt wird, wäre nicht so schlimm, wenn
damit nur gemeint wäre, dass Literatur- und Sprachwissenschaftler nicht
„Germanistisch“ schreiben sollten, sondern ordentliches Deutsch, aber es
geht eben mehr um Publikumserfolg als um Erkenntnis.
Quantifizierung: die Herstellung der Marktförmigkeit
Was am Markt gehandelt werden soll, muss in Geld, das heißt in Zahlen messbar sein, was immer es auch sonst es ist. Der Tauschwert einer Bibel und
einer Flasche Schnaps, sagte Marx provozierend in einer Zeit, in der die christlichen Enthaltsamkeitsvereine florierten, kann der gleiche sein. Darum müssen Forschung wie Unterricht quantifiziert und damit standardisiert werden.
Damit geht eben die Qualität verloren, von der die Neoliberalen in ihrer Reklame schwafeln.
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Die Quantifizierung des Unterrichts besorgt, von der Volksschule bis
zur Universität, die Kompetenzpädagogik. Das ist die Technik, mit der das
neoliberale Subjekt hervorgebracht wird. (Auch dazu der erwähnte Aufsatz
von A. V. Wernsing, sowie diejenigen von Lankau und Schulz). Sie wird, wie
ich gerade schrieb, den Regierungen aufgezwungen, und zwar dadurch, dass
OECD und andere mit großem Reklameaufwand und mit der Hilfe von Tests
wie PISA und Verträgen wie Bologna ihre standardisierten computergestützten Programme als einzige Lösung der Probleme anbieten, die im kaputtgesparten Bildungssystem nicht mehr zu lösen sind. Die Technik besteht darin,
die Lernenden von der Begegnung mit Andersartigkeit, die Nachdenken provozieren könnte, zu verschonen, stattdessen zu testen (am liebsten mit Multiple-Choice-Fragen) ob sie Fragen beantworten können, in denen die Antworten schon enthalten sind. Es geht zum Beispiel nicht darum, die Eigenart
eines Textes, seinen inneren oder historischen Zusammenhang zu erkennen,
sondern darum, simple Inhaltsfragen zu irgendwelchen Details zu beantworten. Der Getestete muss nachweisen, dass er das erfragte Wort im vorgelegten
Text bemerkt hat. Keine Angst, er wird nicht übermütig werden ob der leichten
Fragen! Denn es sind so viele, dass er kaum alle in der vorgegebenen Zeit wird
beantworten können. Der Computer aber – denn dazu ist kein Lehrer mehr
nötig – kann die Zahl der richtigen Antworten messen und die Note ausspucken. Der Lehrer ist nur mehr Coach im Umgang mit dem Computer. So
schafft man den ängstlichen und fleißigen Banausen.
Auch hier ist an-
zumerken, dass der Vorstoß der OECD und anderer atmosphärisch vorbereitet war. Ich habe schon vor vielen Jahren bei meinen dänischen Studenten
bemerkt, dass sie immer weniger neugierig auf Fremdes waren, sondern nach
der richtigen Methode auf dem Silbertablett verlangten, die es ihnen erlaubte,
mit allem Fremdartigen fertig zu werden; dafür wollten sie auch fleißig arbeiten; und so verlangten sie nach Methodenkursen, die sie auf dem direkten
Weg zum Heiligen Gral führen sollten. Aber hatten die Literaturwissenschaftler nicht schon lange vorher die Methodendiskussion über die Kenntnis der
Quellentexte gesetzt? Gab es nicht oft genug heftigen Methodenstreit am Beispiel der immer gleichen vier bis fünf Texte? Entleerung vom Inhalt zum
Zweck des Methodenlernens, nichts anderes ist Kompetenzpädagogik.
Quantifizierung der Forschung, die Marktförmigkeit simulieren soll,
bedeutet, dass man sowohl Qualität in Quantität verwandeln als auch durch
entsprechende Belohnungen möglichst hohe Quantitäten erzielen will. Man
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kennt das Prinzip aus der ehemaligen Sowjetunion: Fehlte es an Nägeln, so
belohnte man die Zahl der produzierten Nägel und erhielt viele kleine. Belohnte man daraufhin das produzierte Gewicht, so erhielt man wenige große
und schwere Nägel. In der Wissenschaft belohnte man die Anzahl der Publikationen, wodurch man viele kleine und belanglose Aufsätze erzielte, oder
man schlug im Quotation Index nach, um zu sehen, wie oft jemand zitiert
wurde; die hohe Zahl von Erwähnungen muss freilich kein Zeichen beeindruckender Qualität sein, öfter ist sie eines geschickter Reklame, manchmal auch
provozierender Dummheit. Man hat auch Zitierkartelle beobachtet: Zitierst du
mich, zitier‘ ich dich. In Dänemark gibt der Staat einer Uni auch Geld für die
Anzahl bestandener Examen, was die Qualitätsauswahl nicht gerade erhöht.
Um den Problemen einfacher Quantifizierung zu entgehen, sucht man
bei der Anzahl der Produkte durch peer reviewing sowie durch Evaluierung
und Ranking von Zeitschriften und Universitäten wieder zu differenzieren.
Das hat eine sündhaft teure Evaluierungsbürokratie und –industrie ins Leben
gerufen, die nicht nur die Gelder verbraucht, mit denen man Wissenschaftler
bezahlen könnte, ihr Funktion ist ausgesprochen widersinnig. Teilweise misst
man letzten Endes den Reichtum einer Universität; es ist nicht überraschend,
dass die reichsten Universitäten auch die besten sind, zum Teil gerade deswegen, weil sie sich Orchideenfächer, die anderswo weggespart werden,
schließlich die Humaniora überhaupt noch leisten und als Ausdruck ihres
Prestigewerts vermarkten können. Dass dabei US-amerikanischer Kulturimperialismus gewinnt, hat Christian Baldus an einem schlagenden Beispiel aus
einem anderen Bereich, den Rechtswissenschaften in Portugal, eindrücklich
aufgezeigt. Teilweise sind die Ergebnisse mehr als banal. Als ich Leiter des
Faches Deutsch an der Universität Roskilde war, mussten wir unser Fach,
dessen Studentenzahl immer stärker abnahm, mit einem großen Aufwand von
Arbeitszeit selbst evaluieren – so etwas ist inzwischen überholt –, dabei auch
ein auswärtiges Gutachten einholen, das uns belehrte, unser Problem bestünde darin, dass wir zu wenige Studenten hätten. Teils führt es dazu, dass
man nur daran arbeitet, was Geld einbringt, also zum Beispiel keine komplexe
Analyse von Texten und historischen Epochen, sondern Reklamewissenschaft. Oder, um noch einmal über die Humaniora hinauszugehen: an den
Kliniken nimmt man am liebsten die teuren Operationen vor, auch wenn sie
nicht erforderlich sind. Im besten Fall endet man durch die Evaluierung mit
viel Geld bei dem, was man früher durch wissenschaftliches Gespräch gratis
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erzielte: bei einer (notwendigerweise nicht immer objektiven) Leistungsbewertung durch Fachleute. Eine gänzlich objektive Leistungsbewertung ist nun
einmal nicht möglich. Insgesamt zerstört die marktförmige Quantifizierung
kreatives Denken, insbesondere jegliche Grundlagenforschung, und letztlich
das Bildungswesen überhaupt. Unterhaltsame Beispiele für das alles findet
man in einem Vortrag von Mathias Binswanger.
Nach der Evaluierung ist schließlich noch die Akkreditierung zu nennen. Das ist die Parallele zur Schließung von unrentablen Produktionszweigen
und Standorten in der Wirtschaft Die Politik schließt unrentable Fächer oder
Forschungsvorhaben – sie verweigert ihnen die Akkreditierung, nennt man
das – und kontrolliert somit auf dem Weg über die Ökonomie die Inhalte von
Forschung und Lehre. In Deutschland wird dagegen immerhin noch protestiert, weil dieser Eingriff rechtswidrig ist. Tatsächlich ist die Freiheit von Forschung und Lehre jedoch längst eine Sage aus vergangener Zeit. Vertrauen ist
gut, Kontrolle ist besser.
Die kontrollierenden Banausen
Wer kontrolliert Forschung und Lehre? Die Politiker und hinter bzw. über
ihnen die Lehrmittelindustrie, die Tests und Lernprogramme herstellt. Ihnen
unterstehen die ausführenden Chargen an Universitäten und Schulen: Rektoren bzw. Direktoren, Dekane und Institutsleitungen. Die ausführenden
Chargen an den Universitäten, also vom Rektorat bis hinunter zur Institutsleitung, sind in Dänemark, so weit ich das übersehen kann, aber wohl nicht
nur hier, vor allem solche, die es in der Wissenschaft nicht weit gebracht haben, dafür aber verstehen und ihre Lust daran haben, mit Macht umzugehen.
Ihnen steht ein wachsender bürokratischer Apparat zur Verfügung, der aufgrund der zunehmenden Kontrollaufgaben tatsächlich erforderlich ist. Ihnen
unterstellt ist das wissenschaftliche Personal, neuerdings in gewissem Maß
auch noch nach der Pensionierung, wie wir gesehen haben. In ihren Mitteilungen nennen sie dieses Personal, die Dozenten, zumeist Mitarbeiter, so wie
in den Firmen die Direktoren ihre Untergebenen.
Ihrem Selbstverständnis nach und aufgrund ihrer zunehmenden Befugnisse, welche die alte universitäre Selbstverwaltung ausgehöhlt haben,
sind sie, nicht Dozenten und Studenten, die eigentlich Universität. Davon
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bekam ich schon vor Jahrzehnten ein schönes Beispiel vorgeführt, als ich an
einer amerikanischen Universität arbeitete. Als dort die Dozenten streikten –
ja tatsächlich, das taten sie! – sprach die Administration zum großen Ärger
meiner Professorenkollegen von den Lohnverhandlungen zwischen der Universität und den Professoren. Doch das ist nicht so neu, wie es mir damals
schien. Als Dwight D. Eisenhower bei einer Rede in den fünfziger Jahren die
„employees of the university“ ansprach, wurde er von einem Professor korrigiert: „the faculty are the university.“ Nein, sie sind es nicht, auch die Studenten nicht, es ist die Verwaltung. Es ist durchaus systemdienlich, wenn die
leitenden Chargen wissenschaftliche Banausen sind. Es geht ja gerade darum, dass nicht wissenschaftliche Inhalte im Mittelpunkt stehen, sondern
Einsparungen, Programmkürzungen und Entlassungen einerseits, das Eintreiben privater Zuschüsse andererseits.
Die Neoliberalen sprechen vom „“window of opportunity“ für ihre sogenannten Reformen. Das Fenster öffnet sich dann, wenn einer geht und ein
anderer zu schlechteren Bedingungen angestellt werden kann. Was den Verdienst angeht, so kann man sagen: Die Dozenten verdienen immer weniger,
die sogenannten Leiter immer mehr, auch wenn man sie noch lange nicht mit
den Managern in der Privatindustrie vergleichen kann, und am meisten verdienen die Hersteller von gedruckten und vor allem digitalen Lernprogrammen. Ihr Ideal ist die digitale Fernuniversität. Die Studenten ihrerseits sind
einerseits umworbene Kunden, die möglichst viel selbst bezahlen müssen und
denen eine Ware angedreht wird, die ihr Versprechen, einen späteren Job zu
garantieren, nicht hält, andererseits sind sie Objekte der Kontrolle und Manipulation.
Es wäre verkehrt, hinter dieser Kritik an der Universität der Banausen
ein Lob der ehemaligen Professorenuniversität mit ihrem bildungsbürgerlichen Ideal zu vermuten. Ich habe den Jahrmarkt der Eitelkeiten erlebt, der
an der Professorenuniversität wahrscheinlich ganz einfach deswegen noch
lauter tobte als heute, überdeckt von Talaren und Vornehmtuerei, weil damals
noch Personen aus eigener Überzeugung herrschten, nicht untere Chargen,
die nichts sind als Charaktermasken eines abstrakten Finanzsystems. Darum
ist jetzt von Personen zu reden. An dem Deutschen Seminar, an dem ich als
Assistent arbeitete, erlebte ich, wie zwei Vertreter deutscher humanistischer
Universitätstradition, ohne Frage zwei sehr kluge und sehr belesene Männer,
Vertreter des protestantischen Pfarrhauses der eine, des George-Kreises der
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andere, die kommandierend, intrigierend und sich selbst erhöhend anderen
das Leben schwer machten, sowohl ihrem liberalen Kollegen, meinem damaligen Chef, der wohl versehentlich in die universitäre Anstalt gekommen war,
und natürlich dem gesamten sogenannten Mittelbau. Der eine, von christlicher Herkunft, nützte seine ausgebreitetes kollegiales Netzwerk, um zu verhindern, dass unbotmäßige linke Assistenten anderswo in Deutschland Stellen bekamen, was ihm in meinem Fall glückte, weil ich auch in keine linke
Seilschaft eingebunden war. (Der kurze historische Augenblick, in dem wissenschaftlich kaum ausgewiesene Bewerber durch eine solche Seilschaft an
feste Stellen kamen, ist auch schon längst vorüber.) Woran man sieht, dass
das Ausnützen persönlicher Beziehungen nicht an politische Positionen gebunden ist. Menschliche Schwäche setzt sich immer durch, unabhängig von
politischer Couleur, doch das bedeutet nicht, dass eine Universität der Banausen notwendig besser wäre als eine der Gebildeten. Es mag ein kleiner
Trost sein, dass die Computer zusammen mit dem übrigen Mittelstand auch
viele leitende Banausen arbeitslos machen werden. (Nicht alle, denn es muss
ja immer welche geben, die die Computerbefehle ausführen lassen.)
Im Rückblick auf die alte Universität bleibt problematisch, dass eine
Phalanx konservativer Professoren mit aller Macht ein Bildungsideal verteidigte, den scheinbar unpolitischen Glauben an das Wahre, Schöne und Gute,
das nicht nur durch die großen Kriege gründlich beschädigt worden war, sondern gerade die in Versuchung führte, die es zu besitzen glaubten und, frei
von jedem Selbstzweifel, den guten Zweck die politischen Mittel heiligen ließen. Dass dagegen andere nur noch eine Kunst gelten lassen wollten, die Anleitung zu politischem Handeln ist, war Ausdruck gleicher bornierter Selbstherrlichkeit. Von heute aus gesehen, hätte man dem Streit um die Ansichten
einer anderen Germanistik, der in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts tobte, etwas mehr Selbstzweifel auf allen Seiten gewünscht, und ich
muss mir da selbst an die Brust schlagen. Vielleicht hätte man früher erkannt, was heute angesichts einer wahrscheinlich untergehenden Welt hier
und dort deutlich zu werden scheint, dass große Kunst weder Richtlinien des
richtigen Handelns noch des rechten Glaubens aufstellen kann, sondern in
allem Zweifel und in aller Ambivalenz das Elend des Lebens in Schönheit verwandeln kann. Sollte man nach allen Kriegen und allem Elend nicht endlich
bemerkt haben, dass das, was Baudelaire zu Paris und seiner ganzen Zeit
über die Fleurs du mal sagt „Tu m’as donné de la boue, et j’en ai fait de l’or“,
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für alle große Kunst gilt? Dass in jener Schönheit gerade die Klage sich als
Ausdruck der menschlichen Würde erweist. Darüber nachzudenken, bringt
allerdings kein Geld ein.
Die große Krise, vielleicht der Abschluss?
Wir haben uns von einer Universität zu verabschieden, die Abschied von der
Wissenschaft genommen hat. Nicht mehr lange, und die Universität wird ihre
bisher vielleicht größte Krise erleben, sobald ihre Nutzlosigkeit deutlich wird.
Sie kann die große gesellschaftliche Krise, die uns bevorsteht, nicht verhindern, sie wird sie befördern, befördern wird sie Altersarmut und prekäre Beschäftigungen, Abbau der Mittelschichten, Orientierungslosigkeit und politischen Populismus. Sie erzieht zum reflektionslosen Menschen, der ängstlich
und isoliert, in ständiger Konkurrenz mit anderen und mit Maschinen, immer
auf eine besser bezahle Arbeit hoffend, am liebsten auf eine Stelle als Leiter,
zur Übernahme eines jeden Auftrags bereit ist, leichtes Opfer leerer politischer
Versprechungen, bis er am Ende ausgebrannt ist.
Vielleicht wird der Niedergang der Universität ja auch vom Niedergang
der gesamten menschlichen Kultur eingeholt. Ja, wenn man sich an Hegels
Eule der Minerva erinnert, die abends ihren Flug beginnt, am Ende eines historischen Abschnitts, dann wäre das absehbare Ende der menschlichen Zivilisation ein besonders günstiger Zeitpunkt für historische Reflexion. Vielleicht
wäre Kassandra mit der Eule der Minerva auf der Schulter das geeignete Bild
für den modernen Intellektuellen. Der Abschied von der Universität ist der
Abschied von einer weltgeschichtlichen Epoche, vielleicht sogar Vorspiel des
Endes einer erdgeschichtlichen Epoche, des Anthropozäns, das, so unvergleichlich kurz es gewesen sein wird, doch die ganze Erde verändert haben
wird. Dazu gibt es, damit das Ganze trotz allem optimistisch ausklingt, einen
unterhaltsamen Vortrag von Harald Lesch im Internet.
Literatur
Baldus, Christian: Narren oder Brandstifter? Über Evaluation und Kulturimperialismus.
28
(http://bildung-wissen.eu/fachbeitraege/narren-oder-brandstifter.html)
Binswanger, Mathias: Sinnlose Wettbewerbe – Warum wir immer mehr Unsinn produzieren (https://www.youtube.com/watch?v=Dd2Xkbr-u9s).
Deutscher Lehrerverband (Hrsg.): Wozu Bildungsökonomie? Fachtagung 2011.
Berlin 2012
Donoghue, Frank: The last Professors. The Corporate University and the Fate
of Humanities. Forham University Press 2008
Gemperle, Michael: Die Rede von der „Wissensgesellschaft“ als Teil eines politischen Projekts. – In: schulheft 35 (2010), S. 23-34 Innsbruck-Wien-Bozen
(http://www.schulheft.at/fileadmin/1PDF/schulheft-139.pdf)
Granger, Christophe: La Déstruction de l’Université Française. La Fabrique éditions 2015
Klein, Hans Peter / Beat Kissing: Irrwege der Unterrichtsreform. Die ernüchternde Bilanz eines utilitaristischen Imports: Entpersonalisierung und Banalisierung der Bildung. 2012 [über PISA]
(http://bildung-wissen.eu/fachbeitraege/irrwege-der-unterrichtsreform.html
Krautz, Jochen: Bildungsreform und Propaganda. Strategien der Durchsetzung
eines ökonomistischen Menschenbildes in Bildung und Bildungswesen.
(http://phvn.de/images/krautz.pdf)
Lankau, Ralf Die Demaskierung des Digitalen durch ihre Propheten. Computer und Computerstimme als Erzieher? Eine Digitaleuphorie als Dystopie, in:
Die Zeit Nr. 5 vom 28. Januar 2016
Lesch, Harald: Vortrag zum Physikalischen Kolloquium der Studierenden vom
4. Juli 2016. https://www.youtube.com/watch?v=QXsMhT7DdqM
29
Liessmann, Paul: Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft.
Wien: Paul Zsolnay 2006
Lühmann, Hinrich: Das verlorene Subjekt. – In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik. 88 Heft 3 (2012), S. 414-424.
http://hinrich-luehmann.de/bildungsbegriff-bildungspolitik-h-l/irrwegeder-unterrichtsreform
Schulz, Niels Björn: Vom Verschwinden des Lehrers. In: Scheidewege. Jahresschrift für kritisches Denken 37 (2007), S. 362-374.
Ders.: Vom Verschwinden des Lehrers. in: Frankfurter Rundschau vom 30 April
/ 1. Mai 2016, S. 21.
Spring, Joel: Economization of Education. Human Capital, Global Corporations,
Skills-Based Schooling. New York and London: Routledge 2015.
Wernsing, Armin Volkmar: Lonely Ryder. Das neoliberale Subjekt und die Bildung. – In: Beiträge zur Fremdsprachenvermittlung 57 (2016), S. 3-22
(http://www.vep-landau.de/fileadmin/user_upload/bzf/Hefte/bzf_2016_57.pdf)
30
Das Reich der Banausen
oder
Der Verfall der Zivilisation
im Spiegel der Literaturwissenschaft
(2018)
In memoriam A.V. Wernsing
Wenn ich mich an meine frühen Studienjahre zurückerinnere, so denke ich,
was mich zum Studium der Literaturwissenschaft trieb, ja wohl den ganzen
kleinen Kreis meiner damaligen Studienfreunde, allesamt Germanisten und
Romanisten, das war der Wunsch, unsere geistige Welt zu erkunden. Dieser
Behauptung zuzustimmen, wäre uns leicht gefallen, schwer zu sagen aber,
was denn unsere geistige Welt war. Vielleicht hätten wir uns auf die Definition
von Ernst Robert Curtius einigen können: das europäische, auf dem Boden
der Latinität gewachsene Denken. Dass das slawische Denken dabei fehlt,
ganz zu schweigen von dem außereuropäischen, hätte uns nicht gestört; es
war ja nicht unsere Welt. Dass Kenntnisse des Mythischen dazugehören,
hätte uns wohl eingeleuchtet. Karl Mannheims Rechtfertigung des frei schwebenden Intellektuellen in der Kontroverse mit Curtius, der nicht auf historische Verwurzelung verzichten wollte, trug dem Fehler solcher Begrenzung
Rechnung. Nun geht es aber auch gar nicht darum, alles zu erfassen, vielmehr
darum, hier eine Herausforderung zu erkennen, die unseren Erkundungsdrang am Leben erhält, mit dem wir in der geistigen Welt Europas Bürgerrecht
erwerben, um dann vielleicht noch darüber hinaus zu blicken. Es ist gut,
wenn man dabei an einem vielbezüglichen Ort beginnen kann, so wie es
Thomas Mann mit Richard Wagners Werk geschah: „Die Passion für Wagners
zaubervolles Werk begleitet mein Leben, seit ich seiner zuerst gewahr wurde
und es mir zu erobern, es mit Erkenntnis zu durchdringen begann.“
Solche geistige Welteroberung und Einbürgerung, zunächst vielleicht
nur durch die Arbeit an einem bedeutenden Werk, können sich die Jugendlichen unserer Zeit wohl kaum mehr vorstellen. Bildung als Mehr-Mensch-Sein
durch Eroberung der geistigen Welt ist ersetzt durch die Kenntnis willkürlich
31
zusammengestellter Fakten, die von Computern mit menschlichem Antlitz in
den Quiz-Sendungen abgefragt wird. Hier geht es nicht darum, mehr Mensch
zu werden, die Welt mit Erkenntnis zu durchdringen, sondern nur darum,
sich vor den Maschinen nicht allzu sehr zu blamieren. Wie selbstverständlich
ein Thomas Mann sich in der geistigen Welt Europas bewegte, ist für uns Alte
bewundernswert, für die Jungen ganz einfach fremd und unverständlich.
Früher war es allerdings nicht so ganz und gar anders. Die meisten
sind zufrieden damit, heimisch in der alltäglichen Welt zu sein, damals wie
heute. Das reicht ihnen. Sie wollen nichts als weiterleben in den gewohnten
Bahnen. Doch als ich zu studieren begann, gab es noch bildungsbürgerliche
Werte, die immerhin von jungen Studenten selbstverständlich übernommen
wurden. Das allerdings hat sich geändert, und Menschen, die den Alltag nur
auszuhalten fähig sind, wenn sie auch ein Seh- und Atemrohr in die geistige
Welt haben, sind nicht leicht mehr zu finden. Zwar entstand im 18. Jahrhundert zusammen mit der bildungsbürgerlichen Kultivierung der geistigen Welt,
welche die Vertiefung in die religiöse ersetzen sollte, auch das Bedürfnis, sie
gegen die zu verteidigen, denen sie fremd blieb. Solche nannte man Banausen.
Damals blickten die Gebildeten verächtlich auf sie herab, heute herrschen die
Banausen, und man muss sagen: Die Gebildeten selbst haben ihnen den Weg
bereitet.
Doch schauen wir zunächst auf den großen politischen Rahmen. Die
Bedeutung humanistischer Bildung begann in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts abzunehmen, auch wenn sie in Deutschland vom Ende des
Zweiten Weltkriegs bis zur Studentenbewegung von 1968 als Antwort auf den
geistig-moralischen Zusammenbruch wieder zunahm. Schon vor der Jahrhundertwende gewannen die Naturwissenschaften jedenfalls deutlich an Einfluss, und Schüler humanistischer Gymnasien suchten nach neuen Weltdeutungen; so entstand die sogenannte Reformbewegung um 1900, die später in
der Hippiebewegung weiterlebte, mit Einflüssen insbesondere von Deutschland in die USA und zurück. Mit dem Ersten Weltkrieg war es auch mit der
Selbstlegitimation der Staaten als Kulturstaaten zu Ende, obwohl gerade das
deutsche Bildungsbürgertum weiterhin einen gegen die westliche Zivilisation
gerichteten antipolitischen Kulturbegriff pflegte, der sich gegenüber dem Nationalsozialismus dann als wehrlos erwies. Diese bildungsbürgerliche Kunstreligion war blind für das Wesentliche großer Kunst: ihre Ambivalenz, ihre
Bejahung des Zweifelhaften. Daneben löste die Herrschaft der Technik in der
32
Zwischenkriegszeit Suchbewegungen aus, die teilweise gegen die entfremdende Herrschaft von Geld und Technik protestierten, bis hin zu künstlerischem Anarchismus, teilweise ihr Heil in der Vorstellung von einer technischsachlichen Regulierung der Gesellschaft wie der einzelnen Menschen suchten,
die befreit wäre von wirren Gefühlsstürmen, wie man sie im Weltkrieg erlebt
hatte.
Doch erst in den zwei Jahrzehnten um die Wende vom 20. zum 21.
Jahrhundert wurde die Vorstellung eines jeglichen Humanismus bis aufs
Fundament zerstört, und zwar von zwei getrennten, faktisch aber kollaborierenden Bewegungen, dem wissenschaftlichen Anarchismus, der dann unter
der Fahne der politischen Korrektheit zu einer Identitätspolitik führte, die den
neurechten identitären Bewegungen merkwürdig ähnelt, und dem politökonomischen Neoliberalismus.
Bevor wir dem nachgehen, müssen wir noch in der Umgebung aufräumen. Zunächst wollen wir einen Blick auf die DDR werfen. Dort, so pflegten
manche in den siebziger und achtziger Jahren zu sagen, gäbe es noch die
Bildung, die im Westen ausgestorben sei. Tatsächlich wurde das Erbe von
Aufklärung und Klassik dort mehr gepflegt als im Westen, hatten die dortigen
Literaturwissenschaftler eine tiefere Kenntnis der zentral- und osteuropäischen Literatur als die im Westen. Aber das manchmal bewundernswerte gelehrte Wissen wurde getrübt durch ein von der Doktrin des sozialistischen
Realismus gefärbtes, letztlich eben banausisches Literaturverständnis, das,
ohne Einsicht in die tiefe Ambivalenz aller großen Kunst, die hoffnungsfrohe
Zukunftsperspektive verlangte. Adorno hat das treffend als „erpresste Versöhnung“ bezeichnet. An einem ehemaligen Freund habe ich das damit verbundene Unverständnis für künstlerische Technik persönlich erfahren. Er, der
die DDR, vor allem nach ihrem Zerfall, als geglückte gesellschaftliche Alternative zu einem Kapitalismus ansah, dessen menschenfeindliche Wirkung
heute tatsächlich nur noch Ignoranten leugnen können, war ein großer Gelehrter, hielt sich leider aber auch für einen ebenso bedeutenden Literaturanalytiker und Kunstrichter. Dabei fehlte ihm jegliches hermeneutische Verständnis für die literarische Form als Zusammenhang von Detail und Gesamtstruktur. Er deutete lose Details und beurteilte sie nach grammatischer,
bildlicher, moralischer und politischer Korrektheit. Parteilichkeit hieß letztere
in der DDR, eine auf Lenin zurückgehende Verengung berechtigter Kritik am
positivistischen Objektivitätsglauben. Als ich das kritisierte, brach er den
33
Kontakt zu mir ab. Die Wahrheit aber ist nach Hegel das Ganze. Die Aversion
gegen das Ganze macht, wie wir jetzt versuchsweise sagen können, das Banausentum aus. Wir wollen das im Kopf behalten, denn jetzt machen wir erst
einmal einen großen Umweg.
Als nächstes ist nämlich die Vorgeschichte des wissenschaftlichen Niedergangs im Westen zu erhellen. Der Ausbau der Universitäten in der Mitte
der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts, angestoßen von der Klage über die
„Bildungskatastrophe“ (G. Picht) schwemmte eine große Zahl bildungsferner
Studenten in die humanistischen Fächer. Ihnen war die umfassende Kenntnis
künstlerischer Werke nicht in die familiäre Wiege gelegt; verständlich, dass
sie nach Wegweisern in der unbekannten Welt suchten. Die wurden dann
auch angeboten, ja es wuchs geradezu ein Wald von Wegweisern: Taschenbücher mit Titeln wie Methoden der Literaturwissenschaft, Methodendiskussion,
Germanistikstudium, Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft,
gaben teils hilfreiche Einführungen ins Studium, teils sollten sie durch Methodenüberblick die fehlende Vertrautheit mit den literarischen Werken ersetzen; sie sollten sozusagen den Generalschlüssel liefern, der jedes Haus in der
fremd gewordenen Welt zu öffnen half. Das war ein Beginn, heute finden sich
solche Überblicke im Internet, ergänzt durch Methoden der Literaturdidaktik,
und sind selbst kaum mehr überschaubar.
Methodenkenntnis statt Textkenntnis und Methodenstreit statt Auseinandersetzung mit den Werken ist nicht nur ein deutsches Phänomen, es fand
und findet sich auch anderswo, und auch bei gestandenen Universitätslehrern. Ich habe eine aufschlussreiche Variante erlebt, als ich zwischen 1989
und 2009 im dänischen Roskilde unterrichtete. Zusammen mit der Verwandlung der dortigen Universität von einer Art Volkshochschule in eine „richtige“
Uni verwandelten sich die Studenten von selbstsicheren jungen Leuten, die in
glücklicher Unwissenheit glaubten, zu allem etwas zu sagen zu haben, in unsichere Lehrlinge, die erwarteten, die richtigen Methoden auf einem Silbertablett serviert zu bekommen; die wollten sie dann auch fleißig lernen. Von
den notwendigerweise abstrakten Methodenpräsentationen, die sie doch verlangt hatten, waren sie dann freilich und zu Recht enttäuscht.
Die Neuankömmlinge der sechziger Jahre begegneten einer Wissenschaft, die wieder einmal dabei war, in die Krise zu geraten. In der Adenauerzeit war die Literaturwissenschaft insofern politisch, als sie weiterhin antipolitisch war und so der Restauration auf die Beine half. Die alte Hermeneutik,
34
von Karl Philipp Moritz und den Romantikern entwickelt, die den Text als organisches Individuum verstand, und die, zur Geistesgeschichte erweitert,
auch Epochen als harmonische Individuen ansah, war nach den Weltkriegen
und angesichts moderner Technik nicht mehr zeitgemäß, stattdessen wurden
Texte gerne als Zeugnisse eines unhistorisch Absoluten verstanden und existentialistisch oder phänomenologisch umraunt. Doch tatsächlich ließ sich
Martin Heideggers Synonymisieren und sein eigenwilliges Etymologisieren
deutscher Wörter, das die Philosophie zu einem so deutschen Gegenstand
machte, wie der Mond es laut Christian Morgenstern ist, für die Analyse von
Texten ebenso wenig brauchen wie Roman Ingardens Suche nach offenen
Stellen im Text, aus denen ein nicht näher bestimmbarer ästhetischer Wert
erwachsen sollte. Gegen die unpolitische und als unwissenschaftlich empfundene Literaturwissenschaft protestierten die Achtundsechziger. Manche mögen sich noch an die Alternative erinnern, eine von Studenten gemachte kritische Literaturzeitschrift. Reformbereite Germanisten, teilweise inzwischen
bekannte Namen, griffen die Anregungen auf, um 1970 erschienen Bücher
wie Ansichten einer künftigen Germanistik, gefolgt von Neuen Ansichten einer
künftigen Germanistik, oder Bestandsaufnahme Deutschunterricht. Ein Fach in
der Krise. Das Ergebnis war freilich ein wieder einmal unüberschaubarer Pluralismus miteinander konkurrierender Methoden.
Man kann aber sagen, dass die jungen wilden Akademiker in der Zeit
um 1968 zwei Favoriten hatten: Strukturalismus und Marxismus.10 (Ich beschränke mich auf diese beiden, denn es soll hier ja keine Methodengeschichte geschrieben werden.) Der Strukturalismus, der sich am russischen
Formalismus und am Strukturalismus der Linguistik orientierte, versprach,
alle Texte, auch Gebrauchstexte, aber auch andere kulturelle Phänomene, mit
wissenschaftlicher Objektivität zu analysieren, falls man den Text als unhistorisches Regelsystem auffasst, das analysiert wird, indem man rekonstruiert,
wie es funktioniert. Dabei gliedert man den Text syntagmatisch (Nacheinander
von Textabschnitten) und paradigmatisch (wiederkehrende Motive, Gestalten,
Symbole), wobei man nach Oppositionen und Analogien fragt und dann ein
möglichst mathematisches Muster entwirft. Das führte teilweise zu wilden
Das Folgende führt Gedanken weiter, die ich, teilweise ausführlicher, dargelegt
habe im Kapitel „Schattenboxen oder Der Verfall der Literaturwissenschaft“ meines
Buches Zeitgemäße Betrachtungen oder Consolatio artis. Von der Kunst, würdevoll und
heiter unterzugehen (2015)
10
35
Spekulationen; ich habe nie verstehen können, warum der Ethnologe LéviStrauss für seine Analogie zwischen dem Vokaldreieck und drei Arten der Essenszubereitung bewundert wurde. In der Praxis bestanden strukturalistische
Forschungsbeiträge oft zu 90 % aus theoretischen Vorüberlegungen und zu
10 % aus banalen Ergebnissen. Da die jeweilige Sprachrealität hier nur Sonderfall einer übergeordneten allgemeinen Sprachstruktur ist, war es konsequent, dass der sogenannte Poststrukturalismus dann die Sprache explizit zu
einer selbständigen Wirklichkeit erklärte, die materielle, geschichtliche Wirklichkeit und konsequenterweise auch den Autor zu einer Schimäre. Während
man hier Texte auf Formelemente hin abstrahierte, fragte man dort, in der
marxistischen Textanalyse, vornehmlich nach den Inhalten, nämlich nach der
Stellungnahme zur jeweiligen Klassenstruktur. In der Praxis kam man auf
dem langen Weg von der Klassenstruktur oft gar nicht bei den konkreten Texten an. Natürlich gab es Forscher und Lehrer, die sich nicht von Methodenzwängen gängeln ließen und die spezifische Ordnung eines spezifischen Textganzen aufzuzeigen in der Lage waren, dabei auch nicht blind für sinnerweiternde Mehrdeutigkeiten, Ambivalenzen, Redundanzen und Anspielungen
dichterischer Sprache, die sich quantifizierbaren Regelsystemen entzogen,
ebenso wenig wie für geistes- und sozialgeschichtliche Zusammenhänge. Solche wohltätigen Exempel konnten doch nicht verhindern, dass die Methodenjünger in einer Aporie landeten. Der jeweilige dichterischen Text gab seine
besondere Ganzheit den allgemeinen Nachschlüsseln nicht preis.
Diese Verwirrung und Unsicherheit erzeugte die erste Voraussetzung
für das, was man den low fellow turn nennen könnte, wenn man mir diese
Übersetzung des Banausischen gestattet. Gelehrte, keineswegs Banausen,
machten aus der Verwirrung eine Tugend, indem sie das widerspenstige
Ganze, das seine Regelhaftigkeit nicht so recht herausgeben wollte, zum Gegner erklärten und den wissenschaftlichen Anarchismus zum Ideal erhoben.
Hier ist zunächst die Dekonstruktion zu nennen, die vor allem mit dem Namen
Jacques Derrida verbunden ist. Sie geht ebenso wie der Strukturalismus vom
linguistic turn aus, sucht nun aber zu zeigen, wie der Text schon immer jede
Struktur widerrufen hat, denn die Sprache liefert uns gerade keine feste Bedeutung, sondern nur ein sich wandelndes Geflecht von Bedeutungen, von
denen eine immer auf die nächste verweist. Es gibt kein Signifikat mehr, und
auch keine textliche Ganzheit, in der das Bedeutungsgeflecht ruht. Ich würde
einwenden, dass nicht nur ich allein meine erste Sprache nicht abstrakt aus
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dem Wörterbuch gelernt habe, sondern konkret und spielerisch in Szenen mit
meiner Mutter und anderen; hier waren die Wörter unmittelbar mit ihrem Signifikat, mit Personen, Dingen, Gefühlen, verbunden. Sogar über Homonymie
habe ich spielerisch etwas gelernt, als ich ein Tonpferdchen auf das Trittbrett
eines Spielzeugautos setzte, damit herumfuhr und erfreut sagte „Das Pferd
fährt“, wobei ich die beiden Wörter aussprach, als klängen sie gleich. Auch
hier sind die Wörter, ja der Sprachklang, nicht von der Szene und den Signifikaten zu trennen.
Zweitens gehört dazu die anarchistische Theorie der Postmoderne, die
vor allem vor allem mit den Namen Jean-François Lyotard und Roland
Barthes verbunden ist. Sie sucht, ebenfalls vom linguistic turn ausgehend, das
Andersartige, indem sie es unfassbar macht, zu retten vor der Regelhaftigkeit,
die alles eins macht, und damit auch vor einer Wirklichkeit, die nur in Konventionen, in sprachlichen Übereinkünften, besteht. Kampf dem Ganzen („guerre au tout“), zeugen wir vom Undarstellbaren („témoignons de l’inprésentable“)! ruft Lyotard. Für Barthes ist die Sprache selbst faschistisch, weil sie
seinen Traum von der Sprachanarchie nicht zulässt.11 Das Produkt als einzigartiges, unsagbares Ereignis („événement“) geht den Regeln voraus – daher
kommt es zwar nicht zeitlich, aber logisch erst nach der Moderne, die sich
immer noch nach der verlorenen Einheit eines Ganzen sehnt. Beide Theorien,
die sich um das nicht Begreifbare drehen, sind in einer nicht leicht begreifbaren Sprache geschrieben, denn die Autoren, verhinderte Künstler, wollen die
Polyvalenz der Kunst in die wissenschaftliche Rede von der Kunst überführen.
Aber es wurde eine Folgerung gezogen, die so wohl nicht intendiert, aber letztlich doch konsequent war: Es gibt keine gültige Methode, in der bekannten
Formulierung von Paul Feyerabend: „anything goes“. Das konnte dazu führen,
dass der Kunstbegriff ins Beliebige ausgeweitet wurde. Schüler und Studenten meinten gelegentlich, ihre Behauptungen nicht mehr belegen zu müssen:
Ich fühle das halt so, und das ist mein Recht.
Dass auf dem Weg der digitalmedialen Vermittlung tatsächlich fake
news entstehen, dass Bilder und Töne unerkennbar manipuliert werden können, dass Fakten beliebig verändert oder überhaupt erst produziert werden
können, dass subjektive Meinungen der Menschen und ihrer Computer von
Jean-François Lyotard: Le postmoderne expliqué aux enfants. Correspondance 19821985 (Débats). Paris: Galilé 1986, s. 34 Zu Roland Barthes vgl. mein Buch Zeitgemäße
Betrachtungen, S. 27 f.
11
37
bestätigten Meldungen nicht mehr zu unterscheiden sind – all das trägt wesentlich zur Herrschaft der Beliebigkeit bei. Man greift sich an den Kopf, wenn
man liest, was Hans Magnus Enzensberger einst im Kursbuch 20 von 1970
schrieb. Obwohl noch ganz ohne Internet-Erfahrung, verstand er damals
schon, dass jeder Empfänger zum Sender werden kann. Daraus folgte für ihn
die Befreiung der Massen zur Kreativität. „Der Manipulation der Medien ist
aber nicht durch alte oder neue Formen der Zensur zu begegnen, sondern nur
durch direkte gesellschaftliche Kontrolle, das heißt durch die produktiv gewordenen Massen.“ Die Menschen werden: „Frei wie Tänzer, geistesgegenwärtig wie Fußballspieler, überraschend wie Guerilleros.“ Die Shitstürme hatte
der Revolutionsromantiker nicht vorausgesehen. Die vermeintlich bürgerliche
Angst vor den Massen hatte vor ihm keinen Bestand. Heute dagegen sind Le
Bons Psychologie der Massen (Psychologie des foules, 1895) und Propaganda
(1928) von Edward L. Bernays wieder so aktuell wie vor und zwischen den
Weltkriegen.
***
Die Begegnung von Unsicherheit und Beliebigkeit war eine Ermächtigung zum
Banausentum, das es sich dann auf zwei Feldern wohnlich machte, in der
Identitätspolitik und in der neoliberalen Revolution des sogenannten Bildungswesens. Zuerst zur Identitätspolitik. In der ständischen Gesellschaft ist
Identität kein Problem, weil vorgegeben. Berufswahl, Umgangsformen, Kleidung, alles ist durch den Stand vorgegeben, dem man angehört. In dem Maß,
in dem die Gesellschaft sich verändert und durchlässiger wird, wird Identität
zu einer Aufgabe. Immer mehr Menschen müssen ihre Identität immer öfter
neu bestimmen, das heißt sie müssen beständig Identitätsarbeit leisten. Dabei hilft die schöne Literatur, indem sie wechselnde Identitätsangebote macht.
Das alles ist eine komplexe und weitreichende Entwicklung, die ich anderswo
beschrieben
habe.12
Was
ich
nicht
beschrieben
habe,
ist
die
Vgl. Wolf Wucherpfennig: Das Schreckliche und die Schönheit. Studien zu Identität
und Ambivalenz in der europäischen Literatur. Würzburg: Königshausen & Neumann
2013. Ders.: Intellektuelle, Identität und Modernisierung.
(https://www.academia.edu/193634/Intellektuelle_Identität_und_Modernisierung_2008_) Henrik Kaare Nielsen, von dem ich den Begriff der Identitätsarbeit seinerzeit übernommen habe, bestimmt ihn als individuelle Suchbewegungen, die den
Verlust vorgegebener Normen auszugleichen suchen. (Vgl. Kritisk teori og samtidsanalyse. Aarhus Universitetsforlag 2001, hier Kap. 3: Identitet og politik i globaliseringens
12
38
Auseinandersetzung mit Identitäten, die in der sich wandelnden Welt unterschiedlichen Minderheiten oder unterdrückten Gruppen von einer herrschenden Gruppe zugeschrieben werden aufgrund ihrer religiösen oder nationalen
Zugehörigkeit, ihres Geschlechts, ihrer Hautfarbe. Anders also als die vorgeschriebenen Identitäten, die von allen akzeptiert werden. Die Zuschreibungen
erfolgen, weil die herrschende Gruppe ihre Position bekräftigen will, besonders, wenn sie bedroht scheint. Wenn die Verhältnisse sich ändern, wenn ein
Jude französischer Offizier werden kann oder ein Schwarzer amerikanischer
Präsident, halten Gegenbewegungen umso krampfhafter an stereotypen Zuschreibungen fest. Sie scheuen die Mühen der Identitätsarbeit, das Wagnis
der Unsicherheit und die Herausforderung zu unablässiger kritisch-selbstkritischer Kreativität. Ihre Identitätspolitik ist eindeutig rückwärtsgewandt, geschichtsverherrlichend und weithin -verfälschend. Auch die gegenwärtige Realität wird teils verfälscht – man operiert mit Gerüchten und erfundenen Zahlen –, teils subjektiviert und damit beliebig. Entsprechend redet man von „gefühlter Realität“ und „alternativen Fakten“. Was wirklich geschieht, ist nicht
so wichtig, wichtig ist, was die Menschen als Realität empfinden.
Daneben gibt es neuerdings aber auch eine eher liberale Identitätspolitik, die Unterdrückung abschaffen will, indem sie die Unterschiede, an denen
jene sich festmacht, sprachlich abzuschaffen sucht. Hier geht es nicht darum,
Geschichte zu verfälschen, sondern eher darum, Realität sprachmagisch abzuschaffen. Das geschieht in der Folge des linguistic turn und im Namen der
politischen Korrektheit. So verbietet man nicht nur und zu Recht die als
Schimpfwort gebrauchte Bezeichnung Nigger, es folgen Ersatzbezeichnungen
wie black people – black is beautiful hieß es dagegen in meinen jungen Jahren
– colored people, bis es mit Afro-American people keine Pigmentunterschiede
mehr gibt.13 Pipi Langstrumpfs Vater darf in den neueren Buchausgaben nicht
mehr „Negerkönig“ heißen, er tritt als „Südseekönig“ auf. Damit verflüchtigt
tidsalder). Ich fasse den Begriff enger und weniger neutral und spreche von Arbeit
nur, so weit Modernisierungserfahrungen auch integriert und nicht einfach abgewehrt werden.
13 Die Möglichkeit solcher Sprachmagie endet freilich spätestens dort, wo in einer Inszenierung ein Neonazi auftritt, der das Unwort Neger gebraucht. Man kann es nicht
löschen, da er ja gerade dadurch charakterisiert wird. So hat man sich damit geholfen,
ihn „N-Beep“ sagen zu lassen, ein Nichtwort, das freilich hervorhebt, was es für immer
verdecken soll, nicht zuletzt dadurch, dass ein Mensch hier die Technik nachahmt
und damit verrät, dass Mehr-Technik-Sein heute das Erziehungsziel ist. Dazu Hanno
Rauterberg: Wie frei ist die Kunst? Der neue Kulturkampf und die Krise des Liberalismus. Berlin 2018 (edition suhrkamp 2725), S. 111.
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sich ein Stück Geschichte, nämlich das Flair des Exotisch-Geheimnisvollen,
das an den früheren Namen gebunden war. Ich warte darauf, dass man auch
in Adornos Werken die Bezeichnung „Neger“ übertünchen wird. Und die
Mohrenapotheken, die sich wohl auf den Heiligen Mauritius zurückführen,
werden sich umbenennen müssen. Tatsächlich wird man im Gefolge der liberalen Sprachpolitik das Wort Neger nicht mehr ohne negativen Beiklang gebrauchen können; insofern hat sie ihre Wirkung gehabt. Und seitdem auch
die Kinder al inclusive in der Südsee herumgondeln, ist diese eh dabei, das
Exotische zu verlieren. Jedenfalls wird auch hier Identitätsarbeit verweigert,
indem man Anstößiges und damit die Auseinandersetzung mit der Geschichte
ausklammert. Ihr werdet es nicht glauben, liebe Kinder, aber früher einmal,
als es noch Wunder gab, war die Südsee exotisch, jetzt ist dort alles ebenso
gleichartig und langweilig wie hier.
Nun entspricht dem Auflösen in der absoluten Gleichartigkeit das Bestehen auf besonderer Gruppenidentität, eine Paradoxie, die im psychischen
Leben dennoch nicht selten ist: Der Widerstand gegen unangenehme Wahrheiten spaltet sich gerne in zwei polare Ansichten. Denn nicht jeder darf sich
gekränkt fühlen. Dass Menschenrechte verletzt werden, geht eigentlich alle
Menschen an. Das aber ist zu allgemein. Jetzt dürfen nur Schwarze Vergehen
gegen Schwarze anklagen. Wenn z. B. eine Weiße (Dana Schutz) das Bild eines
ermordeten schwarzen Jungen malt und ins Museum stellt, gilt das als Heuchelei, denn als Weiße kann sie das Unrecht, das Schwarzen angetan wird,
nicht wirklich empfinden, und sie verdient sogar noch Geld daran. Damit wird
ihr eine Identität aufgedrückt, von der sie sich nicht befreien kann, und sie
ist an eben das naturgegebene Kriterium gebunden, von dem die Rassisten
ausgehen. Man hat dagegen immer das Recht zu verlangen, als Mensch anerkannt zu werden, auch wenn man Schwarzer ist. „Black lives matter“, (auch
schwarze Leben zählen) drückt das aus. Doch die Forderung, Besonderheiten
einer Gruppe allen aufzuzwingen, etwa die Anerkennung von Rassenprivilegien einer herrschenden Gruppe oder das Gesetz der Scharia, dem eine benachteiligte Gruppe gehorcht, sie findet ihre Grenze an den Menschenrechten.
Oder stimmt es, wie der Guardian neulich schrieb, dass Ajatolla Chomeini mit
seiner Fatwa gegen Rushdie zwar eine Schlacht verloren, aber den Krieg gewonnen hat? Dann hätten die Gruppenidentitäten gegen die Menschenrechte
gewonnen.
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Auch hier wird Realität zur Beliebigkeit subjektiviert, auch wenn
Päpste oder Ajatollas behaupten, ihre Meinungen seien diejenigen ihres Gottes. In dem vieldiskutierten Streit um ein Gedicht von Eugen Gomringer, das
auf die Mauer eines Hochschulgebäudes gemalt war, schrieben die Studentinnen in einer Antwort auf einen fiktiven Kritiker ihrer Forderung, das Gedicht zu entfernen: „Und nein, du kennst dich nicht besser aus. Auch nicht,
wenn du was mit Kunst oder so studiert hast.“14 Es kommt eben allein auf
das jeweilige „Bauchgefühl“15 an. Der ästhetische Wert dieses Gedichtes wäre
übrigens durchaus diskussionswürdig, aber solche Diskussion ist für die Banausen zu anspruchsvoll, ja kränkend, denn sie spricht ihnen die Urteilsfähigkeit ab, die mit dem Gekränktsein natürlicherweise gegeben ist. Das Gefühl der Gekränktheit bedarf keiner reflektierenden Begründung, schließlich
ist es schon immer legitimiert durch die jeweils zugeschriebene Identität. Aus
der Entlarvung durch die Analyse des Sprachgebrauchs, die ein Karl Kraus
und ein Victor Klemperer virtuos betrieben hatten, ist analysefreies Gekränktsein geworden. So werden die Menschen, wenn man das Ganze nicht reflektieren will, unrettbar auf ihre naturgegebenen Unterschiede reduziert, damit
die absolute Gleichartigkeit bewahrt werden kann. Die Folge ist Zensur, die
genderpolitisch korrektes Neusprech verlangt, das vom weiteren Zusammenhang wie von der Struktur der Sprache absieht.
Eigentlich ist es egal, wer was produziert. In der Kunsttheorie wird der
Künstler zur Schimäre, es gilt allein das Werk. In der davon abgeleiteten Identitätspolitik wird das Kunstwerk gleichgültig; es kommt nur darauf an, mit
welchem Recht der Künstler beanspruchen darf, authentisch zu sein. Dieses
Recht wird an der ihm zugeschriebenen Identität abgelesen.
So zeigen sich merkwürdige Übereinstimmungen in der identitätspolitischen Kunstauffassung der verfeindeten Lager. Um die Homogenität einmal
der Menschheit, einmal der Nation herzustellen – eine Homogenität, die es in
keinem der beiden Fälle gibt; sie sind immer ein Ganzes aus Unterschieden –
, wird subjektive Beliebigkeit statuiert, die dadurch legitimiert wird, dass der
subjektiv Urteilende sich festlegen lässt, auf seine jeweilige, ihm von Meinungsmachern vorgegebene Gruppenidentität. Mehr-Mensch-Sein ist nicht
nötig, es reicht, wenn man Schwarzer oder Weißer oder Mann oder Frau oder
14
15
Zit. nach Rauterberg, S. 94
Zit. nach Rauterberg, S. 96
41
sonst was ist. Hier unterstellen Angehörige einer vermeintlich homogenen
Mehrheit einer vermeintlich homogenen Minderheit bestimmte negative Eigenschaften, die sich in deren Kunstprodukten niederschlagen sollen. Dort
wird den Angehörigen einer Minderheit die Möglichkeit eines Gekränktseins
offen gehalten, das sie nicht begründen und analysieren müssen. Jede Nachfrage nach einer zugrundeliegenden ästhetischen Wertung gilt als „übergriffig“16, ein wunderschönes Wort, das die gefühlte Bereitschaft zum Übergriff
als erfolgten Übergriff ausgibt. Dementsprechend heißt es als Kritik am Gomringer-Gedicht, man „fühle sich daran erinnert, dass objektivierende und potentiell übergriffige und sexualisierende Blicke überall sein können’“17. Also
die Möglichkeit der Möglichkeit.
Es wird also entweder die Unterwerfung unter ein traditionell-banales
Kunstverständnis der Mehrheit oder die eindeutige Stellungnahme für ein
Minderheitengefühl gefordert. Die künstlerische Auseinandersetzung mit dem
Material und seiner Tradition ist uninteressant. In beiden Fällen darf das
Ganze (der Nation, der Menschheit, des Kunstwerks) nicht reflektiert werden.
Die Folge ist ein kunstzensierendes Banausentum, das gerade das nicht begreifen kann und will, was große Kunst ausmacht: ihre Ambivalenz. Wie so
oft, ist all das nicht ganz neu, in der Weimarer Zeit gab es eine gewisse Parallele: hier eine Entwicklung hin zur Verurteilung der „entarteten Kunst“, dort,
bei der Avantgarde, eine Haltung, die Kunst nur gelten lässt, wenn sie sich
als Kunst aufgibt und unmittelbar gesellschaftseingreifend wird.
Beide Haltungen korrelieren mit dem Abbau demokratischer Institutionen. So wie die heute auftretenden populistischen Bewegungen die Demokratie nicht durch einen Putsch offen außer Kraft setzen, sondern ihr die
Funktionsfähigkeit nehmen, indem sie durch politische Winkelzüge die Parlamente, unabhängige Richterschaft und Gewerkschaften außer Kraft setzen
oder die Wahlkreiseinteilungen manipulieren (gerrymandering), vor allem
auch dadurch, dass sie in den digitalen Medien Affektstürme erzeugen,18
Zit. nach Rauterberg, S. 97
Rauterberg, S. 105
18 Vgl. Christopher R. Browning: The Suffocation of Democracy. – In: The New York
Review of Books. (https://www.nybooks.com/articles/2018/10/25/suffocation-ofdemocracy). Dieser internen Zersetzung entspricht zwischenstaatlich die Auflösung
der EU, die Aufkündigung von friedenssichernden Verträgen und der unerklärte Cyberkrieg, der schon längst eingesetzt hat, zusammen mit allgemeiner militärischer
Aufrüstung, und daneben die Zerstörung des Vertrauensverhältnisses zwischen USA
und seinen bisherigen Alliierten.
16
17
42
ebenso werden in der Kunstszene Ausbildung und Sachverstand von Universitäten und Museen durch digitale Affektstürme außer Kraft gesetzt. In meiner
dänischen Heimat reden manche Politiker von der „Expertenherrschaft“, die
es zu brechen gelte. Auf der einen Seite spricht man gerne von einer direkten
Demokratie, auf der anderen vom demokratischen Urteil des Publikums. Es
muss die Kunstqualität ersetzen, seitdem diese, so die Aussage des künstlerischen Leiters der Dokumenta 14, eine „leere Kategorie“ geworden ist.19
In der Politik wird der Abbau der Institutionen von charismatischen
Figuren befördert, die wiederum aus diesem Abbau ihren Vorteil ziehen. Der
Mechanismus ist altbekannt. Es ist die Erzeugung einer narzisstischen Massenhysterie. Der Führer, etwa Donald Trump, versichert seinen Fans in den
sozialen Medien und auf politischen Shows, dass sie eine homogene Gruppe
vorbildlicher, unschuldig verfolgter oder doch zutiefst bedrohter Menschen
seien. Der Böse, der sie bedroht, ist teilweise eine nicht recht greifbare unheimliche Macht (the swamp), teilweise eine leicht zu verfolgende, zu vertreibende, gegebenenfalls auszulöschende Gruppe (the refugees), ähnlich wie die
Nazis die Juden in die reichen und mächtigen Banker und die ostjüdischen
„Ratten“ (in Goebbels’ Propagandafilm) einteilten, die unser schönes Vaterland
zu überschwemmen drohten. Durch die Identifikation mit dem Führer wird
die Fangruppe aber allmächtig werden und den Bösen besiegen. „Verfolgende
Unschuld“ nannte Karl Kraus dieses Phänomen bekanntlich. Solche politischen Reden fördern gleichzeitig Angst, Aggressivität und Hoffnung auf Sicherheit und verweisen die Wirklichkeit ins Reich des Beliebigen. In der identitätspolitischen Ästhetik hingegen gelten die Minderheiten als die guten, unschuldig verfolgten Gruppen, die jedoch auf dem Gebiet der Symbole und damit schließlich auch in der Realität siegen können. In beiden Fällen sind die
angesprochenen Gruppen tatsächlich bedroht, dort durch die Folgen der kapitalistischen Globalisierung, hier durch die Unüberschaubarkeit ihrer Welt.
Dort müssen Sündenböcke büßen, hier glücklicherweise nur künstlerische
Produkte (und in gewissem Maß auch die Künstler). In der Kunstpolitik dürfte
sich eine entsprechende charismatische Führerfigur allerdings nur schwerlich
ausbilden können. Wenigstens solange der Führer nicht auch oberster Kunstrichter ist.
19
Rauterberg, S. 94
43
***
Nun zur neoliberalen Bildungsevolution. Das einzige Bollwerk gegen das Banausentum ist die Forderung der Aufklärung, selbst und damit kritisch, auch
selbstkritisch zu denken. Solches Denken fordert, Identitätszuschreibungen
im Gespräch zu reflektieren und in Interaktion gemeinsam zu bearbeiten.20
Es sichert den Weg in die geistige Welt, auf dem man mehr Mensch werden
kann. Die neoliberale Revolution des sogenannten Bildungswesens zerstört
diesen Weg. Für sie ist der Mensch ein sich selbst verwertendes Humankapital, selbst verwertend in dem Sinn, dass es darauf achten muss, immer attraktiv zu bleiben, auch wenn die Nachfrage sich ändert. So wie eine Sense
weniger attraktiv wird, wenn eine Mähmaschine auf den Markt kommt. Es
geht also nicht um Mehr-Mensch-Sein, sondern um Mehr-Marktwert-Bekommen, ganz wie bei der Maschine. An die Stelle von Menschenbildung tritt Warenproduktion, an die Stelle der geistigen Welt die Warenwelt. Bildung verlangt Selberdenken. Man erwirbt sie durch Lernen und Lesen und Lesen und
Lesen. In der Warenwelt dagegen kauft man sich eine Ausbildung. Wo der
Besuch der Schule bzw. der Universität kostenlos ist, dort ahmt man wenigstens die Marktförmigkeit durch Evaluierungen und Akkreditierungen nach.
Dort ein Selberdenken in Sorge um das Ganze, hier ein Nicht-Selberdenken
in der Hoffnung auf den eigenen Vorteil. „Lonely Rider“ hat A. V. Wernsing
den so entstehenden Menschentyp genannt (s. Anm. 11).
Das bedeutet, dass Schulen und Universitäten sich selbst als Fabriken
verstehen müssen, in denen verwertbare Produkte hergestellt werden. Dementsprechend streichen sie alte Bildungsfächer und führen neue Fächer ein,
die Erfolg beim gerade aktuellen Stand der Nachfrage versprechen. Mit den
Worten von A. V. Wernsing:
So versprechen Universitäten durch Zertifikate bestätigte, berufsnahe Kompetenzen in Studenten zu erzeugen, etwa „Produktnamenlinguistik“ (Universität Heidelberg), die dazu befähigen soll, Markenbezeichnungen zu deuten, „Abfall- und Altlasten“ (TU Dresden), „Körperpflege“ (TU Darmstadt), „Pferdewissenschaften“ (Universität Göttingen) oder „Alternde Gesellschaften“ (TU Dortmund). Es soll mehr
Das ist nicht einfach, denn es gilt u.a., sowohl eine zur Gewohnheit gewordene
abwertende Stereotypisierung zu erkennen und abzulegen, als auch eine zur Gewohnheit gewordene Projektion des Gekränktwerdens, immer im Hinblick auf ein gemeinsames Ganzes. Das geht nicht ohne eine begleitende Verbesserung der tatsächlichen
gesellschaftlichen Missverhältnisse. Vgl. auch Henrik Kaare Nielsen: Kulturpolitik og
integration. – In: Karolina Windell u. a. (Hg): Vem får vara med? Perspektiv på inkludering og integration i de nordiska länderna. Stockholm: Kulturanalyse Norden 2017
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als18.000 solcher Studienangebote geben, die in Wirklichkeit freilich keine Garantie für eine nachfolgende Beschäftigung oder dafür bieten, dass der spätere Beruf,
etwa der einer Kosmetikerin oder eines Stallburschen, besser ausgeübt wird als
ohne Studium.21
Die sogenannten Bildungsinstitute müssen für ihr Fabrikationsweise werben,
denn die Studenten sind ja nicht nur Produkte, sondern zugleich Kunden, die
für ihre Verwandlung in ein Produkt, das sich erfolgreich selbst verwerten
kann, bezahlen müssen. Man blicke nur auf die Homepages der Universitäten,
wo man vor lauter Reklame manchmal nur schwer den Weg zu Adressen findet. Aber auch ganze Fächer werden zum Zweck der Reklame entworfen. Im
oben wieder abgedruckten Aufsatz konnte ich schreiben:
Meine frühere Universität verkündet stolz, dass eine Forschungsgruppe anderthalb Millionen Kronen an Land gezogen hat, um zu erforschen, wie man die dänischen Küsten für deutsche Touristen noch attraktiver machen kann. Dabei liegt
die Antwort doch auf der Hand: für weitere Erwärmung sorgen, das Verbot der
Küstenbebauung lockern oder ganz aufheben und – eben für bessere Reklame sorgen, also das tun, was die gegenwärtige dänische Regierung sowieso tut, dann wird
man die spanischen Inseln auskonkurrieren können. An eben dieser Universität
ist ein neues Fach entstanden – während alte Kulturfächer wie Französisch und
Deutsch gestrichen wurden –, das ursprünglich die Aufgabe hatte, dem Roskilde
Festival zu mehr Einnahmen zu verhelfen und nun damit wirbt zu erforschen, wie
man alle Arten von Events, von Vorträgen bis zu Theatervorstellungen, einträglicher machen kann.
Ein anderes Beispiel entnehme ich der Zeitung Information vom 02.01.2017.
Sie berichtet, dass zwei Dozenten des Faches Philosophie meiner früheren
Universität an einem zweimonatigen Forschungsprojekt arbeiten, das von der
Pharmaindustrie bezahlt wird. Die beiden sollen herausfinden, wie man die
Zahl der geimpften Personen erhöhen kann. Es geht hier nicht um eine philosophische Reflexion medizinischer Diskussion, sondern um Reklame. Bislang
hatten nur die Politiker sogenannte Spin-Doktoren. Jetzt prostituieren sich
sogenannte Philosophen als Spin-Doktoren der Großindustrie. Wüssten die
beiden Philosophen etwas von ihrer Welt, so wäre ihnen klar, dass Socialbots
(Profile in sozialen Netzwerken, hinter denen Algorithmen stecken, nicht Menschen) sie bald arbeitslos machen werden. Natürlich müssen auch Schüler
und Studenten, wenn sie sich einmal verwerten wollen, Reklame können. Das
gilt für alle Fächer. Ein ärmliches Schülerreferat, das in Power Point gekleidet
ist, erhält, wie mir mehrfach berichtet wurde, eine bessere Note als ein
Armin Volkmar Wernsing: Lonely Rider – Das neoliberale Subjekt und die Bildung.
– In: Beiträge zur Fremdsprachenvermittlung 57 (2016), S. 6
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simpler, aber durchdachter Text. Wo in der Humboldtschen Universität Allgemeinbildung stand, die den Sinn fürs eigentliche Menschsein schärfen sollte,
eine allgemeine Grundlage, in welcher dann die einzelnen fachlichen Fähigkeiten wurzeln sollten, die natürlich auch zu erwerben waren, dort steht jetzt
als gemeinsame Grundlage: Reklame. In ihr wachsen die verschiedenen nachfragegesteuerten Kompetenzen. „All that is science, melts into PR“, um einen
Satz von Mark Fisher zu variieren, der auf den bekannten Satz aus dem Kommunistischen Manifest anspielt.
Zu den Versprechen, mit denen die Universitäten ihre potentiellen Kunden anlocken, gehört vor allem dies, dass sie zu „Leitern“ werden, ein Versprechen, das nicht zu halten ist, auch wenn die Verwaltung sich noch so sehr
aufbläht. Doch man kann nicht Leiter lernen ohne Kenntnisse des Gebietes
zu haben, auf dem die Geleiteten arbeiten. Die Spitzen der aufgeblähten akademischen Verwaltungen sind den von ihnen kontrollierten professoralen Arbeitern an fachlichen Erfahrungen heutzutage häufig unterlegen, ja sie rekrutieren sich, zumindest in meiner dänischen Heimat, gerne aus wissenschaftlich weniger qualifizierten Existenzen. Wie lernt man leadership?
Das Zentrum für Lehrerbildung der Universität Köln begriff, was angesichts der
großen Anzahl anpassungs- und unterwerfungswilliger Menschen nottut, und bestimmte als eine zentrale Aufgabe der Lehrerbildung, „neben der wissenschaftlichen Qualifizierung und der praktischen Ausbildung“, die Vermittlung von „Natural Leadership“, der Führungsfähigkeit, was aus deren Schülern notwendig Geführte macht. Die künstliche, darum ‘natürlich’ genannte Autorität soll erlernt
oder irgendwie erworben werden anhand von Übungen mit Pferden, denen der Student bestimmte Bewegungen abverlangt, eine Methode, die auch schon bei der
Ausbildung von Managern angewandt wurde. Ein 22jähriger Studierender hatte
nach dem Pferdetraining diese Erkenntnis: „Das Pferd darf keinen Zweifel an mir
bekommen; einfach fest weitergehen.“ Sicherlich die perfekte Devise für Führungspersönlichkeiten, mit denen die deutsche Geschichte, übrigens auch die Wirtschaft, gewisse Erfahrungen hat.22
Union der festen Hand heißt der hier einschlägige Roman von Erik Reger
(1932).
Die Kompetenzen, die so vermittelt werden sollen, bestehen nicht aus
Wissen, sondern aus Informationen. Wissen will ein Ganzes, Informationen
sind lose Teile. Wissen ist sowohl personenbezogen und immer unvollkommen
als auch Selbstzweck, genauer: sein Zweck ist ein Mensch, der in ständigem
Bemühen sich selbst und seine Stellung in der Welt zunehmend besser
Armin Volkmar Wernsing: Über die Mühe
(http://avwernsing.de/Didaktisches.html)
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erkennt. Informationen hingegen fließen in digitalen Strömen an uns vorbei,
damit wir sie zu diesem oder jenem Zweck, der uns immer wieder neu von
außen vorgegeben wird, herausgreifen. Wer Wissen erwirbt, ist auf dem Weg
zu sich selbst, wer Informationen benutzt, nicht um sie in einen bereits erarbeiteten Wissenszusammenhang zu integrieren, sondern um mit ihrer Hilfe
sich in einem vorgegebenen Interessenzusammenhang nützlich zu erweisen,
ist dabei, sich in ein verwertbares Werkzeug zu verwandeln. Darum kann man
auch nicht, wie manchmal behauptet, das Lernen lernen; ohne vorgängiges
Wissen, an das man anknüpfen kann, und kritisches Selberdenken, das die
Anknüpfung leistet, lernt man nichts. Lernen kann man ohne Wissen ebenso
wenig lernen wie Leiter.23
Darum kann man Wissenserwerb nicht standardisieren, auch wenn
Technokraten, für die mit der computergestützten Quantifizierbarkeit das
Zahlenparadies angebrochen ist, das nicht verstehen können.24 Die Standardisierung des Lernens aber ist das Ideal der sogenannten Kompetenzpädagogik, die den Lehrer zum „classroom-manager“ degradiert, der den Schülern
hilft, später vom Computer gute Noten zu bekommen.25 Sie verspricht Vergleichbarkeit der Leistungen und damit die Lösung eines Problems, das bei
Examina tatsächlich auftreten konnte, wenn nämlich die Examinierten, ohne
über geschickte Techniken der Selbstdarstellung zu verfügen, mehr selber gedacht hatten, als die Examinatoren erwartet hatten und verstehen konnten.
Dieses
gelegentliche
Problem
wird
aber
unter
der
Bedingung
der
Weiteres über den Gegensatz von Wissen und Information bei Konrad Paul Liessmann: Theorie der Unbildung Die Irrtümer der Wissensgesellschaft. Wien 2006, Kap.
2.
24 In seinem letzten Aufsatz Über die Mühe hat Armin Volkmar Wernsing das entsprechende banausische Verständnis kritisiert: „Das entgegengesetzte utilitaristische
Glaubensbekenntnis hat Andreas Schleicher, der Leiter der PISA-Studie, so formuliert: ‚Nicht was ich weiß, wird mir weiterhelfen, sondern das, was ich damit tun kann’.
Nicht zur Sinnfindung und Selbstbestimmung soll dieses Wissen da sein, sondern zur
Lösung jeweiliger konkreter (in der Regel wirtschaftlicher) Probleme dienen. Als guter
Technokrat kann Schleicher sich etwas, von dem man etwas wissen kann, einschließlich des Menschen, der in dieser Konstruktion zu Humankapital mutiert, nur als Mittel vorstellen: ‚Einen ‚Wert’ stellt ein Akt oder ein Produkt unter diesen Umständen
nur dann her, wenn dieser (bzw. dieses) ‚gut für etwas’, also kein Sinn ist, sondern
einen hat.’ Von dieser Zielsetzung nimmt es seine Form und Bedeutung. Schleicher
ist nicht der einzige, der glaubt, dass anwendbares (im Sinne der Wirtschaftsorganisation OECD profitables) Wissen sich von Fall zu Fall von Google und anderen Quellen
herunterladen lasse.“
(http://avwernsing.de/Didaktisches.html). Hier finden sich auch die Zitatbelege.
25 Grundsätzlich hierzu weiterhin Andreas Gruschka: Der Bildungs-Rat der Gesellschaft für Bildung und Wissen (2015) (https://bildung-wissen.eu/fachbeitraege/derbildungs-rat-der-gbw.html)
23
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Standardisierung, insbesondere der computerisierten, zu einem grundsätzlichen. Denn die Lernenden sollen gar nicht mehr selber denken.
Vergleichbarkeit wird zunächst einmal erreicht durch ein gemeinsames
Ausgangsniveau: das niedrigste. In Nordrhein-Westfalen konnten unvorbereitete Neuntklässler das Zentralabitur in Biologie bestehen, weil alle Lösungen
schon im Aufgabentext standen.26 In Dänemark wurde vor Jahren ein neues,
„objektives“ Notensystem eingeführt. Das erforderliche Wissen bei einer Prüfung sollte quantitativ definiert werden, und die Prüflinge sollten, je nach der
Fähigkeit des Wiederkäuens, dann entweder die Bestnote bekommen oder einen entsprechenden prozentualen Abzug. Für ungewöhnliches Selberdenken
ist da kein Raum, und wie man die erwartete Wissensmenge definiert, ist mir
immer schleierhaft geblieben. Ich weiß nicht, wie weit die Lehrenden dieser
Forderung nachgekommen sind, und ob man dann irgendwo auf die naheliegende Idee gekommen ist, die Prüflingen vorher lesen zu lassen, was sie alles
wissen müssten. Jedenfalls ist der Notendurchschnitt, so weit ich sehe, deutlich gestiegen. Schließlich noch ein Zitat aus dem schon erwähnten Aufsatz
von A V. Wernsing Über die Mühe:
Der Vergleich war ja der Grund der Quantifizierung von Qualität im PISA-Test gewesen: Die Auflistung der gemessenen Schülerleistungen in einer Ranking-Tabelle
sollte eine Konkurrenz unter den beteiligten Staaten etablieren und diese dadurch
leichter beeinflussbar machen. [...]. Da in Deutschland ein Länder-Schulsystem
existiert, gab es schon im Inland eine gewisse Wettbewerbssituation; so bot es sich
an, durch eine unauffällige Herabsetzung der Anforderungen in einem Lande bessere Noten zu produzieren.27 Wenn ein solches Verfahren ‒ zum Beispiel die Ersetzung eigener Überlegung durch Kopieren eines Aufgabentextes, welcher die Lösung
schon enthält ‒ Erfolg hat, weckt das sofort den Eifer des nächstgelegenen Schulministeriums, seinerseits auf Strategien zur Verbesserung des Notendurchschnitts
zu sinnen. Ein schönes Beispiel dafür bietet das Land Hessen, das verfügte, ab
2016 nur noch zwei statt wie früher vier Punkte von der Note für Deutschklausuren abzuziehen, wenn darin mehr als fünf Prozent sprachlicher Fehler enthalten
waren. Begründet wurde dieses Notenlifting mit einem Beschluss der Kultusministerkonferenz von 2012.28 Ein Wettbewerb unter den Bundesländern war eingeleitet, wer denn am wenigsten von den Schülern fordere, damit deren Noten immer
besser und der Abiturienten immer mehr würden. Es konnte nicht fehlen, dass
man kurzerhand die Zahlen selbst manipulierte, was angesichts der fantastischen
Möglichkeiten der Prozentrechnung ein Kinderspiel ist:
Damit die Berliner Schüler im Bundesvergleich nicht immer auf den hinteren
Plätzen landen, hat die Schulbehörde vor einiger Zeit das Benotungssystem
Hans Peter Klein / Jochen Krautz: Soll Qualität wirklich durch Notendumping gesichert werden? (FAZ 15. März 2012, Nr 64)
27 Über die diversen Methoden dieser Noten-Kosmetik durch Senkung der Anforderungen hat Hans Peter Klein berichtet: Vom Streifenhörnchen zum Nadelstreifen. Das
deutsche Bildungswesen im Kompetenztaumel. Springer 2016
28 Matthias Trautsch, „Rechtschreibung: Fehler in Deutsch werden kaum noch gewertet“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. 12. 2016
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reformiert und einen Nachteilsausgleich eingeführt. Mussten die Abiturienten
vorher 50 Prozent der Aufgaben lösen, um eine Vier zu bekommen, reichen jetzt,
wie in anderen Ländern, 45 Prozent. Für die Bestnote „Eins plus“ sind seither
nicht mehr 100 Prozent nötig, sondern nur noch 95 Prozent.29
Die Herrschaft der Zahl, etabliert mit viel Gefasel von Vergleichbarkeit und Notengerechtigkeit, in Wahrheit die Einführung der Noten-Willkür, hat dazu geführt,
dass die Erwartungen an die Lernleistung immer weiter heruntergeschraubt werden, was durch ein immer lauteres Getöse von „Qualitätsentwicklung“ kaschiert
werden muss. Den Schülern ist dieser Wettbewerb um den bloßen Anschein von
Erfolgen gewiss nicht verborgen geblieben. Sie haben daraus den Schluss gezogen,
dass man sich keine Mühe geben muss, denn ohne geht es ja auch.
In einem Beitrag meiner dänischen Zeitung Information vom 12. 11. 2018 über
das zunehmende Plagiieren – die dänischen Studenten haben es nicht erst
von deutschen Politikern gelernt –, gesteht ein Student freimütig, die Lektüre
eines ganzen Lesestoffes für ein Semester koste zuviel Zeit und hindere ihn
daran, nebenbei Geld zu verdienen. Daher suche er im Internet brauchbare
Stellen heraus, die er dann, leicht umformuliert, in seinen Text einsetze (copy
and past). Übrigens schreibt man hier von „Plagiatskultur“, nicht überraschend, seitdem die Sprachwissenschaftler den Kulturbegriff wertneutralisiert
haben.
Solche Mühelosigkeit setzen auch die Multiple-Choice-Tests voraus,
welche die Kompetenzen messen. Das können sie nur, wenn Eindeutigkeit
hergestellt wird. Ein Beispiel, wieder von V. A. Wernsing:
Der folgende Test des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB)
führt mit dem Text einer SMS vor, wie eine kuschelige Einfachheit zum Thema
„zwischenmenschliche Beziehungen“ in der Sekundarstufe I realisiert wird (vgl.
IQB 2013):
Sofia: Je stresse énormément avant le contrôle des maths demain. Je n’ai pas
tout compris. Et toi? Tu vas mieux? Bisous
Teilaufgabe 1:
Sofia ...
o A: raté un contrôle
o B: va écrire un contrôle
o C: se moque d’un contrôle
Teilaufgabe 2:
Sofia:
o A: a peur
o B: va bien
o C: est malade
Der Aufgabensteller hat trotz des Verbs „stresser“ offensichtlich keine Ahnung von
französischer Jugendsprache. Stattdessen stellt er etwas in Inhalt und Sprache
Eingängiges, Eindeutiges für Schülerinnen und Schüler her; und wenn das nicht
vorhanden ist, dann muss man es eben künstlich produzieren.30
Alexander Neubacher, „Das Prinzip Berlin-Zulage“, Der Spiegel, 51 (2016), S. 12
Armin Volkmar Wernsing: Notwehr Literatur. – In: Französisch heute 46 (23015),
H. 2, S.
29
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Machen wir uns nichts vor: Die Mühe des Denkens wird ersetzt durch den
Stress dauernder Teststeuerung und vieler anzukreuzender Kästchen; nicht
immer sind es so wenige wie in diesem Beispiel. Die Identitätsarbeit wird
schließlich auch überflüssig, denn jeder Studierende bekommt, wenn die
technokratische Vision sich erfüllt „ein Notebook mit eigener Identität“31, das
heißt mit der für ihn zugeschnittenen Weise, die von politökonomischen Organisationen vorgegebene Identität zu verwirklichen. Davor, von den emotionalen Stürmen in den Internetmedien hin und her geworfen zu werden, beschützt ihn das allerdings nicht.
Nun muss man zugeben, dass die Kompetenzpädagogik nicht nur bestimmten Profitinteressen dient, sondern auch auf das Problem antwortet,
dass wir heutzutage von Informationen aus den digitalen Systemen überschwemmt werden. Dass Studenten keine längeren Texte mehr lesen können,
liegt auch daran, dass sie ihr ganzes kurzes bisheriges Leben lang auf Kurzmitteilungen trainiert worden sind. Dagegen müssten die Bildungseinrichtungen, wenn sie diese Bezeichnung verdienen sollen, Widerstand einüben. Statt
mit digitaler Technik anpassungsbereite vereinzelte Konkurrenzkämpfer im
Dschungel der Wirtschaftsinteressen herzustellen, die notwendig als Banausen reden, wenn sie über Kunst urteilen, anstatt weiterhin miteinander zu
streiten, wer die meisten Tablets einsetzt, stattdessen müssten die Bildungseinrichtungen, die diese Bezeichnung verdienen sollen, zu Inseln der Muße
werden in der Art von Epikurs philosophischem Garten, zu Stätten ruhiger
Lektüre, nachdenklichen Gesprächs und spielerischen Lernens. Natürlich
kann man, so wie man früher in einem Lexikon nachschlug, dabei auch einmal in einem Smartphon nachschauen. Oder man kann, so wie mein verstorbener Freund Armin Volkmar Wernsing es zu Beginn des Computerzeitalters
zusammen mit seiner Französischklasse tat, ein Computerspiel entwerfen, in
dem ein Verbrecher mit der Pariser Métro flüchtet; bei jeder Station, die sie
berühren, müssen die Verfolger auf Französisch eine Frage zur Bedeutung
des Stationsnamens beantworten. So ist man nicht nur kreativ, man lernt
auch etwas über Computertechnik, über französische Sprache, Geschichte
und Geographie. Aber dazu ist ein Lehrer erfordert, kein classroom manager.
31
Armin Volkmar Wernsing: Über die Mühe
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Der philosophische Garten ist die heitere Option, die sich ihrer Unmöglichkeit bewusst ist. Glaubt man noch an ein Weiterleben der menschlichen
Zivilisation, so sollte man sich mit der „monastischen Option“ von Morris Berman auseinandersetzen. In seinem Buch Kultur vor dem Kollaps (2002; Amerikanisch: The Twilight of American Culture, 2000), einem erschreckenden Bericht über den Untergang der amerikanischen Intelligenz, aus dem ich hier oft
und zustimmend hätte zitieren können, schlägt er, von Ray Bradburys Fahrenheit 451 inspiriert, kleine, abgeschlossene Intellektuellengruppen vor, die
das Wissen vor der Vernichtung bewahren, so wie die Klöster es, freilich ohne
dass es den Mönchen bewusst war, über den Untergang der antiken Welt retteten. Dabei wären allerdings nicht nur große Schwierigkeiten zu überwinden
– kann man sich überhaupt dem digitalen Betrieb entziehen? – man muss
auch an eine künftige Renaissance glauben.
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