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Wolf Wucherpfennig Drei Studien zum Bildungswesen Birkerød 2021 Vorbemerkung Die drei Studien, die ich vor zwei Jahren ins Internet gestellt habe, erneut herauszugeben, rechtfertigt sich dadurch, dass sich nichts Grundsätzliches geändert hat. Im Gegenteil. Bildung und Kultur sind nur mehr verstaubte, unbrauchbare Begriffe. An die Stelle meines Ideals, mehr Mensch zu werden, ist ganz selbstverständlich das Ideal gerückt, mehr sich selbst verwertendes Humankapital zu werden. Oder, um auf das alte Motiv der Verwandlung von Mensch in Maschine aufzunehmen, den Menschen in eine Bitcoine Mining Machine zu verwandeln. Der Trend, Wissenschaft in Reklame zu verwandeln, hat sich verstärkt. In einem Land wie Dänemark zeigt sich das vielleicht am deutlichsten in der Agrarwissenschaft. In einem langdauernden Prozess kam neulich ans Tageslicht, dass die Universität Aarhus nicht nur ein fehlerhaftes Gutachten über die Umweltverträglichkeit der Produktion von Ochsenfleisch herausgebracht hatte – es war teilweise von der auftraggebenden Institution selbst geschrieben –, sondern nachher alles versuchte, um den Skandal und die Verantwortung dafür zu vertuschen. Bezeichnender noch ist vielleicht die Tatsache, dass ein Professor von Aarhus, der in einer Zeitungsdiskussion den Stickstoffausstoß der Landwirtschaft höher beziffert hatte als eine landwirtschaftliche Organisation, von dieser deswegen angezeigt wurde. Natürlich soll die Wissenschaft, wie seit langem gefordert, ihren Elfenbeinsturm verlassen, aber nur, wenn es der Reklame für die involvierten Institutionen dient. Sonst wird sie als „politisierend“ oder „aktivistisch“ kritisiert. In den humanistischen Fächern ist der Verfall weniger deutlich, vor allem deswegen, weil sie abgeschafft werden. Birkerød 2021 1 Krise der Finanzen – Krise der Bildung (2011) Die Krise des Bildungswesens läuft nicht einfach neben der Finanzkrise her. Beide hängen eng zusammen als zwei Aspekte der einen großen Krise der westlichen Zivilisation, man kann auch sagen: des Kapitalismus. In einer neueren Publikation (Der große Krach oder Die Jahrhundertkrise von Wirtschaft und Finanzen, von Politik und Natur, Münster 2010) bezieht Elmar Altvater sich auf Friedrich Engels, der den Staat als „ideellen Gesamtkapitalisten“ bezeichnet habe, „weil er alle jene Funktionen übernimmt, die für das System insgesamt zwar wichtig und notwendig sind, aber von den Privaten nicht ausgeführt werden, weil dabei kein Profit zu machen ist“ (S. 213). Ob Engels das ganz so gemeint hat, wollen wir dahingestellt sein lassen. Doch lässt sich von dem so definierten Begriff her die neoliberale Zerstörung des Bildungswesens gut und ihrem Zusammenhang mit der Finanzkrise verständlich machen Welche profitlosen Funktionen für das System nötig waren, und vor allem in welchem Ausmaß sie erforderlich waren, darüber war man sich nie ganz einig. Grundlegend gehörten Bildungswesen und Logistik (Post und Eisenbahn) dazu, sowie die Versorgung mit Wasser, Wärme und Strom. In Europa, vor allem in den skandinavischen „Wohlfahrtsstaaten“ und anders als in den USA, auch das Gesundheitswesen. Die Einwanderung bereits ausgebildeter Arbeitskräfte haben es in den USA überflüssig erscheinen lassen, die Bevölkerung so auszubilden und körperlich instand zu halten, wie man es in Europa allmählich für nötig befand. Allmählich wohlgemerkt, in Preußen gehörte sogar der Hinweis des Militärs dazu, dass man nicht mehr genügend brauchbare Rekruten bekam. In den USA herrschte von Anfang an eine Ideologie der Selbstverwirklichung durch Teilnahme an kapitalistischer Kolonisierung, Kolonisierung der westlichen USA durch den Osten mit Hilfe der Eisenbahnen (die nie staatlich waren), der südlichen USA durch den Norden mit Hilfe der Banken. Diese Eroberung vollzog sich nicht durch den Staat, sondern durch die Macht des 2 Marktes, der, wenn es um Gebiete außerhalb der USA ging, notfalls allerdings auch militärisch nachgeholfen wurde. Grundsätzlich aber, so schien es, war dies eine befreiende Macht, denn sie bot dem Tüchtigen die Möglichkeit, wo auch immer er herkam, es zum Selfmademan zu bringen. Wie viele dabei vor die Hunde gingen, übersah man angesichts des strahlenden Zieles. Der Einfluss des Staates schien diese Möglichkeiten eher einzuschränken. Anders in Europa. Hier erhob sich eine Kritik noch vom Adel geprägter Intellektueller gegen die vom Markt durchgesetzte Gleichmacherei, die Quantifizierung aller Qualitäten – Marx liebt das Beispiel von Bibel und Schnapsflasche, die auf dem Markt den gleichen Wert haben können – und man erhoffte sich die Sicherung sozialer Unterschiede durch den Staat. Darin treffen sich bei allen sonstigen wesentlichen Unterschieden die konservativen Gesellschaftsvorstellungen. (Nicht so bei Marx natürlich, der die Auflösung aller gesellschaftlichen Unterschiede bis auf den von Kapital und Arbeit als Voraussetzung für die Befreiung aller zur Selbstbestimmung ansah.) Dort also Angst vor der Gleichmacherei des Staates, hier Angst vor der Gleichmacherei des Marktes. Da das Ventil der inneren Kolonisierung – go west young man! – in Europa fehlte, das Ausweichen in die äußere Kolonisierung nur durch die begrenzt mögliche Einreihung ins Militär bzw. die Militärverwaltung möglich war, und die Auswanderung in die USA sich auf die Dauer als ein unerwünschter Aderlass erwies, konnte man vor dem Elend, das der Siegeszug des Marktes mit sich führte, nicht die Augen verschließen. Dem sollte das sozialdemokratische Modell des „Wohlfahrtsstaates“ Einhalt gebieten. Hier sorgt der „ideelle Gesamtkapitalist“ durch aktive Neutralität dafür, dass die Auseinandersetzung zwischen Kapital und Gewerkschaften in einigermaßen geregelten Bahnen verläuft, ohne dass Organisationen wie die Pinkertons und andere Schlägerbanden zum Zuge kommen. Eine entsprechende Steuer- und Verteilungspolitik soll die geistige und körperliche Bildung der Gesamtbevölkerung gewährleisten, eben das, was als Aufgabe des „ideellen Gesamtkapitalisten“ genannt wurde, und darüber hinaus einen menschenwürdigen Mindestlebensstandard für alle sichern. Diese Überzeugung, dass allgemeinnützlichen Aufgaben vom Staat übernommen werden müssen, weil sie keinen Profit versprechen, ist jetzt in Europa zusammengebrochen. Das hängt mit der zunehmenden, die Grenze der organisierten Kriminalität überschreitenden Liberalisierung des Finanzmarkts zusammen, die in den siebziger Jahren begann und in den Neunzigern 3 den Durchbruch erzielte – man kann das bei Altvater nachlesen –, teilweise militärisch unterstützt auf Betreiben von Milton Friedmans Chicago Boys, die nationale Wirtschaften in die Katastrophe treiben, um sie übernehmen zu können oder gleich irgendwelche Naturkatastrophen ausnützen – das lässt sich bei Naomi Klein nachlesen (The Shock Doctrine, New York: Metropolitan Books 2008). Doch das alles wäre nicht ohne die Globalisierung möglich gewesen. Das heißt einmal durch die Erfindung des Computers, der den alten Traum erfüllt, alles zu quantifizieren, d. h. in Zahlen und damit in Preise umzusetzen,1 zum anderen dadurch, dass der globale Markt sich dem Einfluss einzelner Staaten völlig entzogen hat. Das Großkapital, das überall produzieren kann, braucht sich auch nicht mehr darum zu kümmern, wie die Arbeitskräfte in diesem oder jenem Staat ausgebildet sind. Auch die allgemeine Logistik ist nicht mehr so wichtig, wenn das Großkapital seine eigene Logistik entwickeln kann, bzw. wenn es z. B. damit rechnen kann, dass seine Post von den privaten Gesellschaften schneller und zuverlässiger befördert wird als die von Privatpersonen. Das heißt nicht, dass man den Staat nicht mehr brauche. Er muss das Finanzkapital so weit wie möglich vor seinen selbsterzeugten Krisen beschützen, indem er mit den Steuergeldern einspringt, die der Bewältigung seiner traditionellen Aufgaben entzogen werden. Die Krisen nehmen noch deutlicher als in der Weltwirtschaftskrise der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts globale Dimensionen an und bedrohen ganze Staaten, die ohnehin schwächer geworden sind, mit dem Bankrott. Dabei geht es nicht nur um kleine Staaten wie Griechenland, Irland, Island usw. Würde das ganze kapitalistische Wirtschaftssystem nicht auf dem Dollar und der militärischen Macht der USA beruhen, wären auch diese selbst bedroht. Allerdings deutet sich der Niedergang der US-Hegemonie schon an. Die Krise hat den Glauben an die Möglichkeit, sich als Selfmademan zu verwirklichen, auch in den USA erheblich ins Wanken gebracht. Umso heftiger hält man daran fest, betet weiter die befreiende Macht des Marktes an und bekämpft die angeblich unterdrückende Macht des Staates. So ist die Tea-Party-Bewegung entstanden. Dabei haben sich nicht nur die Ventile innerer Kolonisierung verschlossen; schließlich herrscht jetzt auch in Silicon Dass der Computer in Millisekunden auf Preisveränderungen reagieren kann und dabei den globalen Handel weitgehend ohne menschliches Zutun erledigt, ist ein schönes Beispiel für das, was man seit Georg Lukács Verdinglichung nennt, und kann ein erschreckender Auslöser für globale Finanzkatastrophen werden. 1 4 Valley das Großkapital. Nein, die Kolonisierung der Natur selbst ist an ihre Grenze gekommen, auch wenn Sarah Palin das nicht wahrhaben will, die jagdbaren Weiten Alaskas feiert und die rücksichtslose Ausbeutung letzter Ressourcen („drill, baby, drill!“). In Wirklichkeit hat die Epoche nicht nur der großen Finanzkrisen, sondern auch der Klima- und Ernährungskrisen schon begonnen. Die Vergiftung der überfischten Meere, das Auftauen der Permafrostböden mit ihren enormen Mengen von Methan und CO2, die Bedrohung wichtigster Nutzpflanzen durch das weitgehende Aussterben der Bienen, das sind nur einige der Aspekte, die uns schon im eben angebrochenen Jahrzehnt mehr beschäftigen werden, als uns lieb sein kann, Aspekte einer humanitären Katastrophe bisher nicht gekannten Ausmaßes, die sich, wenn überhaupt, nicht von einzelnen Staaten bewältigen lässt. Die Völkerwanderungen, die sich bis jetzt erst andeuten, haben in Europa schon zu starken rechtspopulistischen Bewegungen geführt. (Diese Zeilen wurden noch vor der japanischen Atomkatastrophe geschrieben, die das wieder eindrucksvoll veranschaulicht hat, nachdem die Ölkatastrophe im Golf von Mexico gerade aus dem kurzen Gedächtnis der Öffentlichkeit verschwunden war.) Doch für das Finanzkapital bedeutet das Ende der Macht des „ideellen Gesamtkapitalisten“ lediglich, dass die früher vom Staat versorgten Bereiche nun der Profitjagd offen stehen. Daher die Tendenz zur immer weitergehenden Privatisierung von Gesundheits- und Bildungswesen, von Post und Eisenbahn. Vor allem bei der Wasserversorgung wird öffentlicher Besitz an Private verschleudert. Der Vorstellung, dass hier für die Nation wichtige Bereiche erhalten und vor Privatprofit geschützt werden müssen, hält man entgegen, dass Privatisierung alles effektiver mache. Unter dieser Fahne treten sie an, unter dieser Fahne erleiden sie ihre Niederlagen, wenn die Eisenbahnen versagen, die Busunternehmen bestreikt werden, die Kranken- und Pflegeversicherungen unbezahlbar werden, wenn die Versorgung der Kranken immer schlechter wird und das Bildungswesen vor die Hunde geht. Vor etwa dreißig Jahren hörte ich Milton Friedman in den USA die These von der höheren Effektivität vertreten, indem er ganz naiv auf die „helfende Hand“ des Kapitals verwiesen, so als ob die Ideen von Adam Smith sich auf die Zeit des globalen Finanzkapitals anwenden ließen. Dafür bekam er den Nobelpreis. Keiner seiner Schüler hat die große Finanzkrise auch nur kommen sehen. Dennoch klingt das Versprechen der Effektivität, d.h. der Möglichkeit finanzieller Einsparungen, immer noch wie Musik in den Ohren der Politiker, die über immer 5 weniger Steuergelder verfügen, während der private Reichtum nie erträumte Höhen erreicht (und die Armut einen nie erwarteten Umfang). So versprechen sie, die Krankheit zu heilen, die sie hervorgebracht haben. Schließlich müssen die geringen Steuergelder auch noch dazu verwendet werden, die in der Krise fallierten Banken zu retten, weil sie „systemrelevant“ sind. Betrachten wir nun das Bildungswesen. Um hier einzugreifen, war eine massive Kampagne nötig, mit der die öffentliche Meinung umgekrempelt wurde. (In Deutschland wurde sie vor allem von der Bertelsmann Stiftung durchgeführt.) Hier musste man zunächst mit der traditionellen Auffassung aufräumen, Ausbildung sei ein öffentliches Gut, das seinen Wert in sich selbst habe und möglichst vielen zugutekommen müsse. Dieses Gut beruhe auf Wissenschaftlichkeit, nämlich auf einer rationalen, allein den Kriterien eines Faches unterworfenen Diskussion und einer entsprechenden Fähigkeit zum aufgeschlossenen, logischen, auf Wissen beruhenden Argumentieren. Dagegen setzte man die Auffassung, Ausbildung bestehe darin, ein Wissen zu erwerben, dessen Wert sich allein aus der Nachfrage am Markt ergibt. Also Wissen als Ware. Man erwirbt dieses Wissen, indem man sich die Erlaubnis erkauft, es zu übernehmen. Vor dem Kauf muss man sich gut überlegen, ob man es später wird absetzen können; wer das falsche Fach studiert, ist selber schuld. Nach dem Kauf geht es nur noch darum, sich das Wissen so weitgehend wie möglich einzuverleiben, ohne es in Frage zu stellen, es sei denn, man wäre so dumm, eine Ware schlecht zu machen, die man verwerten will. Damit ist die beständige Selbstreflexion der Wissenschaften grundsätzlich ausgeschaltet, und an die Stelle der rationalen, fachspezifischen Diskussion tritt die Reklame. Diese Auffassung setzt voraus, dass Nutzen nur eine Ware besitzen kann. Das ist so selbstverständlich, dass es gar nicht mehr gesagt wird. Gesagt wird, dass das von den Bildungsinstitutionen vermittelte Wissen gesellschaftlich nützlich sein muss, weil diese ja auch von der Gesellschaft finanziert werden. Wer könnte dagegen etwas einwenden? Aber gesellschaftlicher Nutzen ist hier nur ein Deckwort für Profit, und zwar Profit der privaten Wirtschaft, der, so die naive Hoffnung, über Steuereinnahmen der Gemeinschaft zukommen soll. Die Medizinwissenschaft hat also nicht für die Gesundheit der Bevölkerung zu sorgen, sondern für die Einnahmen von Bayer und 6 anderen.2 Im Namen des gesellschaftlichen Nutzens sucht man die Institutionen zu privatisieren, damit Private die hierfür immer noch aufgewendeten Steuergelder so weit wie möglich als Profit einstreichen können.3 Für die Privatisierung wirbt man dann mit dem Argument, dass die allein dem Marktwert verpflichtete und damit der Konkurrenz ausgesetzte Organisation stärker als jede staatliche daran interessiert sein muss, einen höheren Nutzen zu erzielen bzw. mit geringerer staatlicher Unterstützung auszukommen. (Ich erinnere mich aus meiner Zeit in den USA, wie Friedmann, der Nobelpreisträger, aus diesem Argument einen Werbefilm für Privatschulen formte.) Damit wird der Bildungsbegriff vollständig umgekrempelt. Zunächst wird die Ausbildung von jenem Mehr gereinigt, das sie zur Bildung macht, d. h. von allem, was nicht jobrelevant ist, also den Menschen zu einem Gebildeten macht, der einen gewissen Überblick über seine Welt und seine Geschichte besitzt. Die Juristen müssen nichts über Rechtsphilosophie wissen, und die Romanisten – so wurde an er Universität Saarbrücken vor einigen Jahren dekretiert – brauchen nichts über die Literatur von vor 1650 zu wissen, weil die im Schulunterricht nicht vorkomme. Das wäre ein Luxus, der sich nicht rechnet. Das heißt nicht, dass Humboldt vollständig begraben wäre. Man braucht den Namen noch, um mit ihm für deutsche Universitäten im Ausland zu werben: leere Reklame. So wie Ausbildung um ihren Bildungsaspekt verkürzt wird, wird Wissen in Kompetenz umdefiniert. Wissen hat immer noch einen Bezug zu Traditionen und zu einem größeren Zusammenhang, Kompetenz ist die bloße Fähigkeit, bestimmte, gerade aktuelle Aufgaben zu lösen. Sie lässt sich leichter für den Testgebrauch quantifizieren und kann jederzeit durch neue Inhalte ersetzt werden, wenn die gewünschten Kompetenzen sich ändern, ohne dass die so Ausgebildeten auf den Gedanken kommen, nach dem Sinn der ihnen andressierten Kompetenzen zu fragen. Kreativität und Phantasie hingegen werden abdressiert. Wolfgang Fritz Haug schlägt als Kriterium für eine wohlverstandene Wirtschaftlichkeit, die von der Wissenschaft durchaus zu fordern ist, den Maßstab des „ganzen Hauses“ vor (Ist Wirtschaftlichkeit ein Kriterium für Wissenschaft? Zur Frage des Kapitalismus. - In: http://www.wolfgangfritzhaug.inkrit.de/) 3 „Der Spielmacher im System der universitären Mischfinanzierung (überwiegend staatlich, teilweise marktlich […]) ist immer der private Sponsor. Selbst wenn er nur wenige Prozente des Haushalts finanziert, hat er die Schlüsselrolle. Denn ohne seinen Beitrag, ist auch der öffentliche nicht sicher. Keine Hochschule wird unter diesen Bedingungen auf die wahrhaft halsbrecherische Idee verfallen, etwas zu lehren oder zu forschen, was einem (potentiellen oder realen) Geldgeber nicht passt. Nur wo das private Geld fließt, fließt auch das öffentliche.“ (Knobloch, a. a. O., S. 67) 2 7 Hat diese Auffassung sich durchgesetzt – und das hat sie in verblüffend kurzer Zeit, weil sie für die verarmenden Staaten höchst willkommen ist –, so müssen die Bildungsinstitutionen in ihren Fundamenten umgebaut werden. Sie werden nicht mehr vom einem wissenschaftlichen Ethos getragen, das seinen Anhängern verspricht, das Wesen des Menschen in seiner Welt etwas besser als vorher zu erfassen, sie werden zu Fabriken, die zufällig keine Marmelade oder Kinderspielzeug, sondern Wissen produzieren. Es gibt hierzu inzwischen eine Reihe kritischer Stimmen. Was die Universitäten betrifft, so scheint mir Clemens Knobloch die Zusammenhänge am besten beschrieben zu haben (Wir sind doch nicht blöd! Die unternehmerische Hochschule, Münster 2010). Ein Buch auf das man trotz seines etwas blöden Titels nicht nachdrücklich genug verweisen kann. Die universitäre Ausbildung wird von der Nachfrage gesteuert. Das bedeutet: Fächer, deren Studentenzahlen längere Zeit nicht steigen, gelten als unrentabel und werden geschlossen. Dabei gehen Wissen und fachspezifische Formen des Erkenntnisgewinns verloren. Das gilt zunächst einmal für alle exotisch wirkenden Fächer wie Archäologie oder alte Sprachen, grundsätzlich aber für kulturelles Wissen, Selbstreflexion und kritisch-historisches, phantasievoll-kreatives Denken überhaupt, also für die grundlegenden Bereiche der Humaniora und Sozialwissenschaften. Denn gerade sie können den Studierenden keine Aussicht auf einen späteren guten Job anbieten. Dass immer noch Studenten solche Fächer wählen, von denen sie sich Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung erhoffen, auch wenn sie in einer neoliberal eingerichteten Gesellschaft nicht mit guten Jobs rechnen können, ist ein allmählich abnehmender Funktionsfehler. Tatsächlich verschwinden auch in den humanistischen Fächern die grundlegenden Bereiche, stattdessen lernt man z. B. Fremdsprachen, insbesondere Geschäftssprachen und solche der Techniker und Juristen,4 aber auch kulturelles Wissen, soweit es etwa die Verhandlungsführung mit ausländischen Geschäftspartnern oder die Integration von Einwanderern erleichtert. Es gibt „Berufsattrappen“ (Knobloch) wie den Etwa so wie es in einer Email hieß, die mir neulich zugesendet wurde: „Heute möchten wir Ihnen unser Programm zur beruflichen Kommunikation und Fachsprache vorstellen: Wirtschaftssprache, Projektmanagement für Techniker, juristisches Deutsch, Deutsch für Diplomaten … Ganz unseren erlebnispädagogischen Grundsätzen verpflichtet, unterrichten wir auch diese Kurse im Rahmen von Simulationen, realen Situationen, etc. Jeder Kurs wird individuell auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten.“ 4 8 Medien- oder Kulturwirt, und sogar Hochschulen, an denen Philologie und Sprachwissenschaften den Wirtschaftswissenschaften eingegliedert sind.5 Insgesamt wird das Studium verschult, weil ein auf Kompetenzen reduziertes Wissen vermittelt werden soll, nicht Reflexion und Phantasie. Ein Wissen, das in kleine Module aufgeteilt ist, die den Erwerb bestimmter Mengen davon berechenbar machen, ohne dass der innere Zusammenhang des Wissens irgendeine Rolle spielte, ein Wissen, das auf seine Brauchbarkeit am Markt begrenzt ist, doch nichtsdestoweniger ebenso umfangreich wie vergänglich sein kann, so wie etwa die Beherrschung von Computertechniken. Am wenigsten gefördert wird, was am wenigsten von der Wirtschaft nachgefragt wird, aber zur geistigen Gesundheit einer Gesellschaft gehört: gesellschaftliche Kritik sowie ästhetische und existenzielle Reflexion zusammen mit Phantasie. Die Phantasie, sich eine Atomkatastrophe wie die japanische vorzustellen, war den herrschenden Konzernen, die an solcher Phantasielosigkeit verdienen, und ihren Politikern und Wissenschaftlern nicht gegeben. Sie zu vermitteln, wäre durchaus eine gesellschaftlich nützliche Tätigkeit gewesen. In diesem System sind die Studenten einerseits zahlende Kunden, andererseits Arbeiter in einem verschulten System, das möglichst billig arbeiten muss. Zahlende Kunden sind sie allerdings nicht in dem Sinn, dass ihnen deren Privilegien zukämen. Vielmehr dient das Kundeninteresse dazu, Druck auf die Lehrenden auszuüben: Wo die Nachfrage ausbleibt und auch die eifrigste Reklame sie nicht erhöhen kann, müssen die Produkte vom Markt genommen werden. Als Arbeiter müssen die Studenten an den Voraussetzungen dafür mitarbeiten, dass das Versprechen sich erfüllt, durch ihr Studium einmal einen guten Job zu bekommen, d.h. dass sie als Waren Absatz finden werden. (Das Risiko, das falsche Fach gewählt zu haben, tragen sie aber selbst.) Die Arbeit vollzieht sich an Universitäten, deren Überfüllung gewollt ist und erzwungen wird, damit die Ausbildung billig ist und der Lockruf privater Investitionen Gehör findet. Knobloch hat das eingehend dargestellt. Hier ist eine Bemerkung über das Verhältnis zwischen privater und öffentlicher Ausbildung am Platz. Solange private und öffentliche Schulen bzw. Universitäten nebeneinander operieren, ist es tendenziell so: Der Staat übernimmt die noch mehr oder weniger kostenlose Grundausbildung, die Privaten das „höhere“ Wissen, für das die Kunden bezahlen müssen. Wie die Politiker 5 Knobloch, a. a. O., S. 203 9 diese Entwicklung befördern können, rät ihnen die OECD (die auch für die Pisa-Studien verantwortlich ist) in einem mittlerweile aus dem Netz genommenen Report. Bei Knobloch sind die Vorschläge jedoch festgehalten: Um das Haushaltsdefizit zu reduzieren, sind sehr substanzielle Einschnitte im Bereich der öffentlichen Investitionen oder die Kürzung der Mittel für laufende Kosten ohne jedes politische Risiko. Wenn Mittel für laufende Kosten gekürzt werden, dann sollte die Quantität der Dienstleistung nicht reduziert werden, auch wenn die Qualität darunter leidet. Beispielsweise lassen sich Haushaltsmittel für Schulen und Universitäten kürzen, aber es wäre gefährlich, die Zahl der Studierenden zu beschränken. Familien reagieren gewaltsam, wenn ihren Kindern der Zugang verweigert wird, aber nicht auf eine allmähliche Absenkung der Qualität der dargebotenen Bildung, und so kann die Schule immer mehr dazu übergehen, für bestimmte Zwecke von Familien Eigenbeträge zu verlangen, oder bestimmte Tätigkeiten ganz einzustellen. Dabei sollte nur nach und nach so vorgegangen werden, z. B. in einer Schule, aber nicht in der benachbarten Einrichtung, um jede allgemeine Unzufriedenheit der Bevölkerung zu vermeiden. (zit nach Knobloch, a. a. O., S. 116) So entstehen die Extreme: auf der einen Seite die Jugendlichen ganz ohne Ausbildung, auf der anderen die Privatkunden, die auf höhere Qualifikation hoffen dürfen. Wie steht es mit der Forschung? Wissen als Ware muss auf andere Weise produziert werden als Wahrheit über den Menschen und seine Welt. Die nie beendigte Suche nach solcher Wahrheit folgt am besten einem System von trial and error, das möglichst vielfältige Ausgangspunkte ausprobiert, Interessen, Vorlieben, Einfälle vieler einzelner, die dann wissenschaftlich erprobt werden und sich öfter als Irrwege denn als Königswege erweisen, dafür aber auch zu unvorhergesehenen Erkenntnissen führen können. In der gesellschaftlichen Realität werden sich dabei sicher auch bestimmte gesellschaftliche Interessen durchsetzen, die freilich wieder reflektiert werden können. Es werden sich wissenschaftliche Schulen bilden, die aber nicht umhin können, den neuen Antrieben Platz zu geben, deren Sinn und Folgen sich vielleicht gar nicht, vielleicht sehr spät erst herausstellen. Eine Ware hingegen wird im Hinblick auf die Nachfrage produziert. Wer verlangt welches Produkt? Hier ist kein Platz für Unvorhergesehenes, damit auch keines für trial and error, das würde zu hohe Unkosten verursachen. Vielmehr hat die Forschung ganz bestimmte Aufgaben abzuarbeiten, die ihr von der Wirtschaft gestellt werden. Das Ziel ist entweder Teilnahme am Ausbildungsmarkt oder Entwicklung von Patenten, die übrigens schon immer der marktbezogene Teil universitärer Forschung waren und das Prinzip der Forschungsöffentlichkeit in gewissem Maß aushebelten. Das geschieht in noch größerem Maß als früher, 10 wenn die Universitäten quasi im Besitz von Wirtschaftsunternehmen sind. Denn das wird letztlich erforderlich, wenn die Forschungsergebnisse den Interessen der Unternehmen entsprechen sollen. Vorerst verwalten die Angehörigen der modernen Universität nicht mehr ihren Betrieb selbst, sondern werden einer von außen kommenden wirtschaftlichen Leitung unterworfen, welche die Universitäten mit einer Bürokratie belastet, die nach dem Prinzip handelt: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Wie kontraproduktiv dieses System ist, zeigt sich u. a. an einer Reihe von Skandalen und Betrugsfällen. In Dänemark tat sich (neben anderen) eine Exzellenzwissenschaftlerin der Universität Kopenhagen hervor, in Deutschland der Verteidigungsminister. Bei der pharmazeutischen Forschung hat man manchmal den Eindruck, dass sie mehr der Herstellung reklamewirksamer Statistiken dient als der Erforschung wirksamer Medizin. Ganz allgemein kann man sagen, dass neutrales Wissen, frei von Reklame und auftragsbezogener Verlogenheit, künftig eine knappe Ressource sein wird. Wenn die Fähigkeit zur Reklame („Einwerbung von Drittmitteln“) bei der Einstellung von Professoren schon als wichtiges fachübergreifendes Qualifikationskriterium gilt …. Dort, wo ein Markt nicht oder noch nicht existiert – und das betrifft immer noch den größten Teil der universitären Forschung –, wird er simuliert. Analog zur Anzahl verkaufter Produkte misst man den Marktwert eines Forschers danach, wie häufig er zitiert wurde. Daher bilden sich Zitierkartelle, aber auch Leute, die häufig kritisiert werden, haben gute Karten. In Analogie zu den Ratingagenturen der Wirtschaft hat man Evaluierungs- und Akkreditierungsinstitute geschaffen. Doch diese sind noch unzuverlässiger als jene schon sind, weil sie auch noch das Unmögliche tun und zunächst einmal Qualität in Quantität umrechnen müssen. Sie pflegen dann auf langwierige und teure Weise herauszufinden, dass die reichsten Universitäten auch die besten sind. So schaffen und verstärken sie die Ordnung, die zu beschreiben sie vorgeben.6 Natürlich werden die zu Evaluierenden mit der jeweils gewünschten Farbe schönzufärben versuchen. Doch um Brecht zu variieren: Was ist der Betrug von Akkreditierungsagenturen gegen die Gründung von Akkreditierungsagenturen? Doch gerade diese unglückliche Marktsimulierung liefert der neoliberalen Kampagne die entscheidenden Argumente. Denn die Reduktion auf 6 Vgl. Knobloch, a. a. O., S. 173 f. 11 Quantität verspricht, Qualität jetzt endlich objektiv zu messen. Gerade diejenigen, die für Qualität grundsätzlich taub und blind sind, führen diese Vokabel, häufig zusammen mit Effizienz, dauernd im Mund. In Wirklichkeit ist das alles inhaltsloses Gerede, das nur zu einem gut ist – zur Reklame. Da mit der Quantifizierung auch alles standardisiert wird – hierfür stehen die Verträge von Bologna –, grundsätzlich also die Unterschiede zwischen den verschiedenen Universitätskulturen eingeebnet werden, dient die Reklame dazu, Markenwaren herzustellen, „brands“, die das Publikum verführen wie die Marken von Unterhosen. Zur erzwungenen Reklame gehören die Absichtserklärungen von Forschungsgruppen, Instituten und Universitäten, sogenannte Mission Statements. Die Universität Siegen z. B. „stärkt die Inter- und Transdisziplinarität in Forschung und Lehre mit dem Ziel, fächer- und fachbereichsübergreifende Kooperationen zu fördern, wissenschaftliche Ressourcen auszuschöpfen und herausragende Profilierungspotentiale zu entwickeln.“7 Heißer Wind, den die anderen Universitäten nach aufwendigen Evaluierungen ganz genau so ablassen. Die Forscher und Lehrer sind nicht mehr einem wissenschaftlichen Ethos verpflichtet, sondern allein dem Konkurrenzkampf unterworfen. Hochschulsoziologen, die das New Management vertreten, sagen das ganz offen: Die regulative institutionelle Vorstellung des intrinsisch motivierten faustischen Forschers, dem es um die Entschlüsselung der Wahrheit dieser Welt geht, wird durch die eines relativ privilegierten Arbeitnehmers , der primär durch Geld bzw. durch berufliche Sanktionen motiviert wird, abgelöst […] Die Energien werden sich dann voraussichtlich nach den Kennziffern richten, die den höchsten Ertrag und die größte Arbeitsplatzsicherheit versprechen […]. Der bereits stattfindende weitreichende Generationswechsel in der Professorenschaft […] ist ein günstiger Moment für derartige Umstrukturierungen. Die nachrückenden „Neuen“ haben die bisherigen Selbstverwaltungs- und Arbeitsstrukturen noch nicht aus der Professorenwarte kennen gelernt und werden sich daher weniger gegen die Verluste an Einfluss und Unabhängigkeit wehren. (zit. nach Knobloch, a. a. O., S. 231) Der festangestellte Professor ist allerdings eine aussterbende Rasse. Stattdessen wird immer mehr Arbeit von Teilzeitangestellten durchgeführt.8 Jeweils erneute Anstellung für eine Semester und Entlassung bei Ferienbeginn ist keine Seltenheit mehr. Kontinuierliche Forschung hoher Qualität ist dadurch Zit. nach Knobloch, a. a. O. S. 151 Vgl. Frank Donoghue: The Last Professors. The Corporate University and the Fate of the Humanities. Fordham University Press 2008 7 8 12 nicht mehr gewährleistet; wo sie im Interesse bestimmter Konzerne erforderlich scheint, werden die Forscher von diesen bezahlt. Die heutige Bildungssituation ist von ernstzunehmenden Gelehrten mit der Spätantike verglichen und mit der Aufforderung verbunden worden, Boëthius nachzufolgen und den erreichten Stand kultureller Reflexion für künftige, bessere Zeiten zu dokumentieren bzw. eine Subkultur subversiver Bildung außerhalb der Universitäten zu pflegen. Clemens Knobloch sagt es so: „George Orwell war ein ziemlich phantasieloser Kinderbuchautor.“ (a. a. O., S. 251) 13 Abschied von der Universität oder Von der erzieherischen Kraft des Geldes (2016) Abschied von der Universität hat eine doppelte Bedeutung. Für einen, der vor sieben Jahren in Pension ging, ist es nicht nur der persönliche Abschied von der Universität, an der er zuletzt und am längsten gearbeitet hat, sondern auch der Rückblick auf ein Leben als Wissenschaftler. Doch dieser lange Abschied bekommt für den Ruheständler eine symbolische Bedeutung, denn es ist eingebettet in einen noch längeren, aber immer entschiedeneren Abschied der neoliberalen Universität von der Wissenschaft, insbesondere von der humanistischen. Darum soll hier auch hauptsächlich von den Humaniora die Rede sein, obwohl sie nicht alleine betroffen sind. Da ich mich nie einer Universität zugehörig gefühlt habe, immer nur der Wissenschaft, kann ich all dieser Verabschiedung mit einer gewissen Ruhe von der Außenlinie aus zusehen. Heute geht es der Wirtschaft darum, ein digitales Bildungssystem durchzusetzen, in dem Lehrer überflüssig werden. Nach dem Zeitplan der USamerikanischen Forschungsagentur Education Futures soll der letzte Gymnasiallehrer New Yorks im Jahr 2032 in den Ruhestand geschickt werden. Schon vor diesem Zeitpunkt werden Lehrer und Dozenten auf die Rolle von Coaches bzw. Classroom Managern reduziert sein. Ziel ist das private Lernen ohne Schule und Uni. Den Regierungen wird die Standardisierung dadurch schmackhaft gemacht, dass man Geld spart, den Lernenden dadurch, dass sie ganz individuell und darum effektiv mit ihrem geduldigen, nie strafenden persönlichen Programm arbeiten können, das heißt sie werden ganz individuell an gegebene Standards angepasst. Tatsächlich hat die Ausbildungsrevolution zwei Ziele: 1) Alle Bildungsausgaben fließen in die Taschen der Lehrmittelindustrie, etwa Bertelsmann-Stiftung (und wer sonst noch an Lobbyisten in deutschen Kultusministerien sitzt) oder Random House. 2) Die Lernprogramme protokollieren nicht nur die Lernergebnisse, sondern auch die Reaktionen, Verhaltensweisen, Körperparameter der Lernenden und ermöglichen so absolute Kontrolle und Manipulation, die 14 sich für Werbung, aber auch für jedwede totalitäre Herrschaft ausnützen lassen. Auch daran verdient die Lehrmittelindustrie. Wichtiges zu alledem findet man in den Veröffentlichungen von Lankau und Schulz und auf der Homepage der Gesellschaft für Bildung und Wissen e. V. (http://bildung-wissen.eu). Dass die Ökonomisierung der Bildung die Demokratie bedroht, ist inzwischen schon vielfach kritisiert worden, ich weise hier nur auf den Aufsatz von Jochen Krautz hin. Er wird in brand eins, einem Wirtschaftsmagazin der McKinsey-Gruppe (einer internationalen Managementconsultingfirma) ebenso lächerlich gemacht wie Hinrich Lühmann, Psychoanalytiker und ehemaliger Gymnasialdirektor, der aufweist, welche schlimmen Folgen für die Persönlichkeitsbildung der Ausschluss der persönlichen Begegnung aus dem Lernprozess hat. Doch Persönlichkeitsbildung gehört für die Rationalökonomen in das Kapitel der Sentimentalität. Aber durch die Begegnung mit ihren Lehrern können Schüler reifen, zugegeben: auch, weil sie sich an ihnen gerieben haben. Dass sie sich dankbar an charismatische Lehrer erinnern, habe ich schon öfter gehört, noch nie, dass sie sich an charismatische Computer erinnern. Vielleicht wird sich das ändern. Ein akademischer Flachkopf aus den USA hat das Zukunftsbild des Computers als freundlichen Mentors in allen Lebenslagen entwickelt. Für uns andere eine Dystopie. Das ist der Endpunkt einer ökonomischen Revolution, die gleich nach dem 2. Weltkrieg eingeleitet wurde, in USA von Milton Friedman und den Chicago-Boys, insbesondere Gary Stanley Becker und Theodore Schultz, in Europa von Friedrich von Hayek und der Schweizer Mount Pelerin Society. Alles Nötige darüber kann man bei Joel Spring nachlesen. Letztlich besteht die einzige Motivation für menschliches Handeln nach der Meinung dieser Ökonomen im „rational choice“, im Griff nach den größeren Einnahmen. Falls das nicht zutrifft, so werden ihre Maßnahmen es erzwingen. Zugleich lehren sie, dass Deregulierung sowie Investitionen in die Zunahme von Kompetenzen, im Bildungswesen wie in Familien, zu wachsendem Reichtum für alle führen. Die OECD (mit ihrer Vorläuferin der OEEC) hat dieses Denken, zunächst noch gegen europäischen Widerstand, in Tests für alle Arten von Lehrenden und Lernenden ausgeformt. Zwei der Produkte sind die Tests von PISA und TIMSS. Sie sollen global das Humankapital (die Menschen, verstanden als die Summe ihrer vermarktbaren und sozial erwünschten Fähigkeiten) der Schulen messen und dieses zugleich so standardisieren, dass es den Anforderungen der 15 globalen Wirtschaft genügt. Man behauptete sogar, messen zu können, um wie viel eine gute Lehrerin das spätere Einkommen ihrer Schüler erhöht. Das ökonomische Wachstum wird dann auch soziale Probleme automatisch lösen. Die Weltbank und das World Economic Forum verbreiteten diese Reformen weiter. Die Weltbank, die im Sinne des Ökonomen James Heckman vor allem die Formung des Charakters schon in der Familie betont, wirkt so seit den siebziger Jahren unter McNamara; das World Economic Forum, das die Vorstellungen seines Sponsors Charles G. Koch vertritt, der mit seinem Bruder zusammen das größte Vermögen in den USA hält, stellt ein Ranking der Nationen auf, das im Human Capital Report veröffentlicht wird, und sucht in Zusammenarbeit mit der UNESCO Schulen und Business miteinander zu verknüpfen, um schon früh die Erziehung zum Unternehmertum durchzusetzen. Enthistorisierung und Kulturverlust Doch nun zum Sonderfall der Humanwissenschaften. Die Humaniora, so beschreibt es Frank Donoghue in seinem Buch The Last Professors, wurden schon von den amerikanischen Industriellen, den Carnegie, Birdseye und Crane als wertlos angesehen, als etwas, das überflüssige Staatsausgaben verursacht. Schon damals wurden Unis mit Fabriken und Studenten mit deren Produkten verglichen, nicht zum Vorteil ersterer. Nach einer längeren Unterbrechung in Großer Depression, Weltkrieg und Kaltem Krieg – im letzteren, der die eben geschilderte Entwicklung insgesamt beförderte, genossen die Humaniora noch eine Gnadenfrist, weil man glaubte, sie als ideologisches Kampfmitttel im hysterischen Antikommunismus der USA gebrauchen zu können –, in der Reagan-Ära dann wurden die Humaniora wie die Universitäten überhaupt zunehmend als Teil gezielter Berufsausbildung verstanden, in der die Taylorisierung der Arbeit ebenso durchzuführen war wie überall sonst im Arbeitsleben. Und in der sich ankündigenden digitalisierten Fernuniversität wird es, jedenfalls bei den Humanisten, nur noch schlecht bezahlte Trainer geben für die Arbeit mit den Mitteln einer dominierenden Lernindustrie, wie Donoghue in Kapitel 4 aufzeigt. Das alles ist so, muss man hervorheben, erst durch den Einzug des Computers ins Bildungswesen möglich geworden. Er hat die Standardisierung ermöglicht, welche die europäische Tradition der Humaniora, die Suche nach Lebenssinn in den historischen Wurzeln 16 nationaler Kulturen, inzwischen überrollt hat. Humanistisches, überhaupt kulturelles Wissen im weitesten Sinn ist für die Tests von Job-bezogenen Fähigkeiten gleichgültig geworden. In der Fremdsprachengermanistik haben wir das früher bemerkt als die Germanisten in den deutschsprachigen Ländern. Ich erinnere mich an Konferenzen und Kongresse, bei denen man die Wirtschaft, eine immer abwesende, imaginäre Größe, von den ökonomischen Vorteilen überzeugen wollte, welche die Kenntnis der deutschen Kultur mit sich bringt. Zum Schluss bin ich nicht mehr hingegangen und habe so meine Kollegen verärgert. Doch wenn man feststellt, dass das Geschäftsprinzip der neoliberalen Universität über die kulturelle Sinndeutung gesiegt hat, so muss man gerechterweise hinzufügen, dass die kulturelle Sinndeutung schon seit Jahrzehnten von Philosophie und Literaturwissenschaft selbst angegriffen und schließlich zerstört wurde. Der Anarchismus der französischen Achtundsechziger, der Verzweiflung darüber entsprungen, dass kein historischer Fortschritt zu einer menschlicheren Gesellschaft mehr möglich schien, wurde zum Geburtshelfer unterschiedlicher Theorien, sei es die des Poststrukturalismus, der Postmoderne, des Antihumanismus, die zweierlei taten: Sie kappten einerseits die Verbindung zwischen dem existenziellen Engagement des forschenden Individuums und der Wissenschaft sowie die zwischen Wissenschaft und gesellschaftlicher Wirklichkeit, und sie ermöglichten damit andererseits eine ebenso grundsätzliche wie unverbindliche Opposition zu der bestehenden, weil zu einer jeglichen gesellschaftlichen Ordnung. Was haben Universitätsgelehrte nicht alles der Unterdrückung geziehen? Natürlich alle Versuche historischer Sinndeutung, aber auch die Schule, die Erziehung, ja die Sozialisation überhaupt und sogar die Sprache. Und natürlich dabei immer das sinndeutende Subjekt. So bestärkte das sinnzerstörende Subjekt seinen Narzissmus und bereitete zugleich das Feld, auf dem der Neoliberalismus mit Aufklärung und Humanismus aufräumen konnte. Die Vorstellung vom Menschen, der sich bildet, indem er sich und seine Welt erkennt und sich kritisch in sein kulturelles Erbe einarbeitet, traditionelles Ideal der Humanwissenschaften, ist der eigentliche Gegner der neoliberalen Universität, die den Regierungen von der OECD und anderen mehr oder weniger aufgezwungen wurde. Ihr Ideal ist der Mensch, der sich als Unternehmer seiner selbst vermarktet, genauer: er vermarktet sich selbst als Humankapital, dessen Wert von Angebot und Nachfrage abhängt. Dabei lebt er in 17 ständiger Konkurrenz mit anderen Menschen und mit Maschinen, immer bereit, jede ihm aufgetragene Arbeit durchzuführen, ungeachtet ihres Inhalts, und in der fast immer vergeblichen Hoffnung auf den durchschlagenden finanziellen Erfolg. Die Universitäten ihrerseits versprechen mit den allermerkwürdigsten Ausbildungsangeboten Berufserfolg in irgendwelchen Marktnischen. Zu alledem gibt es inzwischen nicht wenige kritische Kommentare, ich nenne nur den Aufsatz Lonely Rider von Armin Volkmar Wernsing. Mit der Bildung des Individuums, zu der die Beschäftigung mit den Fragen gehört: Wer bin ich und wo komme ich her? ist die ganze Idee der Humboldtschen Universität obsolet geworden. Als vor einigen Jahren an der Humanistischen Fakultät der Kopenhagener Universität die Studienverläufe drastisch gekürzt wurden, antwortete die damalige Prodekanin auf die Kritik der Studenten: Die Vorstellung von Zeit zu persönlicher Vertiefung gehört ins Industriezeitalter. Wir müssen die Humaniora ins 21. Jahrhundert und in die Wissensgesellschaft bringen. Das Ziel ist, Humanisten zu schaffen, die eine Ware von hoher Qualität zu einer gegebenen Deadline abliefern können. So laut der Zeitung Politiken vom 8. Dez. 2008. (Die Dame wurde später Leiterin des Instituts, das durch die üblichen Streichungen und Zusammenlegungen die Nachfolge desjenigen übernommen hat, in dem ich einst arbeitete. Daher empfindet sie sich heute als meine Vorgesetzte.) Sätze dieser Art stammen aus dem Wörterbuch herrschender Dummheiten. Schon zwei Jahre früher hatte Paul Liessmann in seinem Buch Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft ausführlich dargestellt, dass und warum Wissensgesellschaft, ein Schlagwort im neoliberalen Kulturkampf, eigentlich Desinformationsgesellschaft heißen müsste; sie zielt nämlich nicht auf einen Menschen, der Wissen über sich und seine Welt erwirbt, sondern auf einen, der die Anpassung an wechselnde Anforderungen des Marktes in einer unverstandenen Welt einübt. Von der Muße, derer man für das entsprechende Nachdenken bedarf, gar nicht zu reden. Weiteres zum Unbegriff der Wissensgesellschaft erfährt man bei Michael Gemperle. Tatsächlich ist die Uni ein Geschäftsbetrieb wie ein Verlag, der angehenden Autoren erklärt, sie seien Unternehmer ihrer selbst und sollten bedenken: „Sie müssen ein Produkt oder 18 einen Dienst anbieten, die für qualifizierte Kunden nützlich sind, im Austausch gegen einen Geldbetrag“.9 Die ökonomische Besessenheit lässt nur den Augenblick gelten, sie entwertet das Lebenswerk eines Gelehrten. Denn es gilt: Die Einnahmen von gestern kannst du vergessen; wenn du heute nichts mehr einnimmst, machst du Bankrott. Das führt z. B. dazu, dass der Titel Emeritus für Dozenten im Ruhestand in einigen skandinavischen Ländern heute nur auf Zeit verliehen wird, zusammen mit Bureau und Computer, wenn die Ruheständler sich verpflichten, weiter zu arbeiten, z. B. durch Publikationen zum Gewinn beizutragen, denn der Staat bezahlt die Uni für die Veröffentlichungen ihrer Mitarbeiter. Das Lebenswerk, wie gesagt, bedeutet nichts mehr. Daher bin ich, obwohl weiterhin publizierend, an dem Ehrentitel nicht interessiert. Das lässt sich verallgemeinern: Geschichte bedeutet nichts mehr. Sinndeutung, die immer auch kulturhistorisch ist und kulturkritisch sein muss, wenn sie auf der Höhe ihrer Zeit sein will, bleibt außen vor. Nicht dass kein Bedürfnis dafür bestünde, aber keines, für das Finanzquellen fließen. So überlässt man dieses Gebiet den stereotypen Identitätsvorstellungen der Nationalpopulisten und Neofaschisten. Auch hier hat die Wissenschaft, vor allem die Sprachwissenschaft, schon selbstständig vorgearbeitet, nämlich mit der Entleerung des Kulturbegriffs, den sie zur Bezeichnung jeglicher Form organisierten und irgendwie ideologisch besetzten Handelns herabgestuft hat. Ein Wort wie Verbrecherkultur, das ich in meinen Schriften noch provozierend gebrauchen zu können meinte, ist eine simple Konsequenz. Und nicht nur die Sprachwissenschaft hat vorgearbeitet. Als vor Jahren an meiner früheren Universität das Fach „Kulturbegegnungsstudien“ eingerichtet wurde, vor allem auf Betreiben von Studenten, die – durchaus verständlich – von der Uni eine Antwort erwarteten auf entstehende Probleme der Integration von Einwanderern, stellten zwei Studentinnen ein Programm vor, das eine Reihe methodischer Überlegungen enthielt, aber keinen Ort für Geschichte und Ästhetik. Auf meine Frage, wo denn Platz für die beiden Fächer wäre, war die Antwort: Das brauchen wir nicht, das nehmen wir uns, wenn wir es brauchen. Aus dem damals entstehenden Internet, dachten die beiden wohl. Man kann das den Studenten nicht verargen, aber es gab außer mir „Vous devez offrir un produit ou un service utiles aux clients qualifiés en échange d'un montant d'argent.“ (http://www.editionsmelonic.com/Succes/entrepreneur.html) 9 19 keinen Dozenten, den das skeptisch stimmte. Man kann offenbar Integrationsstudien mit bloßem guten Willen, ohne ein tiefgehendes historisches Studium betreiben. Und ohne Kenntnis der Geschichte von Kunst und Literatur, obwohl man nirgends sonst so gut die wechselnden, eine sich wandelnde Kultur tragenden Identitätsvorstellungen beobachten kann wie eben dort. Von der Lebensaufgabe zum Job Mit alledem wird Wissenschaft von einer Lebensaufgabe zum Job. Fächer werden zusammengelegt, in Stockholm und Helsinki zum Beispiel mehrere Fremdsprachenfächer zu einem einzigen Fach „Sprachen“, weil kulturhistorische Unterschiede sowieso nicht mehr gelehrt werden, und man die Fächer vermutlich auf Anfangsgründe von Grammatik und Wortschatz reduzieren kann. Das dürfte unter dem Titel „Effektivisierung durch Synergie“ laufen. Um das zu unterrichten, braucht man keine festen Stellen, es geht auch mit zeitbegrenzten und miserabel bezahlten prekären Anstellungen. Ich meine beobachten zu können, dass die Vorstellung vom Job sich inzwischen auch bei den Lehrenden durchzusetzen beginnt. Ich kenne Emeriti, die mit ihrer Pensionierung, sozusagen von einem Tag auf den anderen, mit wissenschaftlicher Arbeit aufgehört haben, um stattdessen Weltreisen zu unternehmen. Das ist nicht verwunderlich. So wie Donoghue es beschreibt, hat die universitäre Forschungsgemeinschaft schon seit längerem dem konkurrierenden Einzelgänger Platz gemacht, der sich mit großem Fleiß, aber mit nur geringen Erfolgsaussichten selbst vermarktet. Bei den Studenten ist es schon lange so: Eine Vorlesung ohne ECTS-Punkte wird nicht besucht, Gastvorlesungen, die nicht examensrelevant waren, ließen sich wohl an den meisten Unis schon vor vielen, vielen Jahren nicht mehr anbieten. Wie unsicher die Arbeitsbedingungen geworden sind, mag ein Beispiel aus den USA illustrieren. Ein ausführliches Zitat scheint mir hier gerechtfertigt, denn es lässt uns einen Blick auch auf die europäische Zukunft werfen. Frank Donoghue schreibt: The most alarming instance of a drastic change that has so far gone largely unrectified was precipitated by Hurricane Katrina. In the wake of the extensive damage done by the storm, several New Orleans’s universities laid off faculty with no due process, means of appeal, or independent oversight. Dillard University laid off two-thirds of its faculty; Xavier University of Louisiana released 20 73 of its 246 faculty members; Southern University of New Orleans placed 45 of its 163 full-time faculty members on furlough; and Louisiana University of New Orleans laid off 28 professors. Most disturbingly, New Orleans’s richest university, Tulane, laid off 230 faculty members and eliminated fourteen doctoral programs and several departments altogether. This dramatic restructuring plan reduced the university’s annual budget by $60 million, but left its endowment of nearly $1 billion untapped. Tulane’s president, Scott Corwin, sounded almost proud of these changes, describing the cuts as “strategically” implemented and declaring that they constituted “the most significant reinvention of a university in the United States in over a century.” The abruptness of the cuts combined with their characterization strongly resemble the corporate downsizings that have become routine in the extra-academic world, with the hurricane serving as a convenient pretext. (57). Der Katastrophenkapitalismus, von dem Naomi Klein berichtet, ist nicht darauf beschränkt, politische Katastrophen zu provozieren, er kann auch Naturkatastrophen geschehen lassen, wie man hier sieht; im Bildungswesen bedient er sich gerne nur behaupteter Bildungskatastrophen. Aber es geht auch ganz ohne Aufregung. In Dänemark sind Lehrende, die zu Ende eines Semesters entlassen und zu Beginn des nächsten wieder eingestellt werden, keine Seltenheit mehr. Und das ging ganz still und leise vor sich. Zumindest bei Gymnasiallehrern, höre ich, gibt es das auch in Deutschland. Doch der Mythos, wissenschaftliche Leistung werde letztendlich mit festen Universitätsstellungen belohnt, spukt noch immer in akademischen Köpfen. Reklamewissenschaft Wo es um die Vermarktung geht, stellt Reklame sich ein. Das neoliberale Subjekt und die neoliberale Universität sind ständig dabei, ihre Besonderheit herauszustreichen, obwohl sie doch ganz und gar von standardisierten Lernprinzipien bestimmt werden. Die gerade zitierte „Ware von hoher Qualität“ ist eine der dabei entstehenden Sprechblasen. Nicht die besten akademischen Bücher werden gelesen, sondern diejenigen mit der erfolgreichsten Reklame. Und wer auf der Homepage einer Universität nach der Adresse eines Kollegen oder einer Kollegin sucht, braucht meist längere Zeit, um durch Reklame hindurchzunavigieren. Meine frühere Universität verkündet stolz, dass eine Forschungsgruppe anderthalb Millionen Kronen an Land gezogen hat, um zu erforschen, wie man die dänischen Küsten für deutsche Touristen noch attraktiver machen kann. Dabei liegt die Antwort doch auf der Hand: für weitere Erwärmung sorgen, das Verbot der Küstenbebauung lockern oder ganz 21 aufheben und – eben für bessere Reklame sorgen, also das tun, was die gegenwärtige dänische Regierung sowieso tut, dann wird man die spanischen Inseln auskonkurrieren können. An eben dieser Universität ist ein neues Fach entstanden – während alte Kulturfächer wie Französisch und Deutsch gestrichen wurden –, das ursprünglich die Aufgabe hatte, dem Roskilde Festival zu mehr Einnahmen zu verhelfen und nun damit wirbt zu erforschen, wie man alle Arten von Events, von Vorträgen bis zu Theatervorstellungen, einträglicher machen kann. Ich nenne diese Beispiele, weil ich mich hier am besten auskenne; an anderen Orten dürfte es kaum besser sein. Man muss nur daran denken, dass man sich in Deutschland oder Österreich nicht um eine Professor bewerben kann, ohne nachzuweisen, dass man erfolgreich Drittmittel eingeworben hat; gewiss, ganz ohne fachspezifische Fähigkeiten geht es noch nicht. Bekanntlich verlangt der Drittmittelzirkus inzwischen schon einen solchen Aufwand, dass viele in ihren Publikationsverzeichnissen ihre Bewerbungen auflisten. Schon vor Jahren, als ich noch nicht pensioniert war, bestand ein nicht geringer Teil der Arbeit von Forschungsgruppen darin, Potemkinsche Dörfer zu bauen. Dass die Vermittlung von Forschungsergebnissen bei den sogenannten Evaluierungen – darauf kommen wir gleich zu sprechen – der Erarbeitung von Forschungsergebnissen gleichgestellt wird, wäre nicht so schlimm, wenn damit nur gemeint wäre, dass Literatur- und Sprachwissenschaftler nicht „Germanistisch“ schreiben sollten, sondern ordentliches Deutsch, aber es geht eben mehr um Publikumserfolg als um Erkenntnis. Quantifizierung: die Herstellung der Marktförmigkeit Was am Markt gehandelt werden soll, muss in Geld, das heißt in Zahlen messbar sein, was immer es auch sonst es ist. Der Tauschwert einer Bibel und einer Flasche Schnaps, sagte Marx provozierend in einer Zeit, in der die christlichen Enthaltsamkeitsvereine florierten, kann der gleiche sein. Darum müssen Forschung wie Unterricht quantifiziert und damit standardisiert werden. Damit geht eben die Qualität verloren, von der die Neoliberalen in ihrer Reklame schwafeln. 22 Die Quantifizierung des Unterrichts besorgt, von der Volksschule bis zur Universität, die Kompetenzpädagogik. Das ist die Technik, mit der das neoliberale Subjekt hervorgebracht wird. (Auch dazu der erwähnte Aufsatz von A. V. Wernsing, sowie diejenigen von Lankau und Schulz). Sie wird, wie ich gerade schrieb, den Regierungen aufgezwungen, und zwar dadurch, dass OECD und andere mit großem Reklameaufwand und mit der Hilfe von Tests wie PISA und Verträgen wie Bologna ihre standardisierten computergestützten Programme als einzige Lösung der Probleme anbieten, die im kaputtgesparten Bildungssystem nicht mehr zu lösen sind. Die Technik besteht darin, die Lernenden von der Begegnung mit Andersartigkeit, die Nachdenken provozieren könnte, zu verschonen, stattdessen zu testen (am liebsten mit Multiple-Choice-Fragen) ob sie Fragen beantworten können, in denen die Antworten schon enthalten sind. Es geht zum Beispiel nicht darum, die Eigenart eines Textes, seinen inneren oder historischen Zusammenhang zu erkennen, sondern darum, simple Inhaltsfragen zu irgendwelchen Details zu beantworten. Der Getestete muss nachweisen, dass er das erfragte Wort im vorgelegten Text bemerkt hat. Keine Angst, er wird nicht übermütig werden ob der leichten Fragen! Denn es sind so viele, dass er kaum alle in der vorgegebenen Zeit wird beantworten können. Der Computer aber – denn dazu ist kein Lehrer mehr nötig – kann die Zahl der richtigen Antworten messen und die Note ausspucken. Der Lehrer ist nur mehr Coach im Umgang mit dem Computer. So schafft man den ängstlichen und fleißigen Banausen. Auch hier ist an- zumerken, dass der Vorstoß der OECD und anderer atmosphärisch vorbereitet war. Ich habe schon vor vielen Jahren bei meinen dänischen Studenten bemerkt, dass sie immer weniger neugierig auf Fremdes waren, sondern nach der richtigen Methode auf dem Silbertablett verlangten, die es ihnen erlaubte, mit allem Fremdartigen fertig zu werden; dafür wollten sie auch fleißig arbeiten; und so verlangten sie nach Methodenkursen, die sie auf dem direkten Weg zum Heiligen Gral führen sollten. Aber hatten die Literaturwissenschaftler nicht schon lange vorher die Methodendiskussion über die Kenntnis der Quellentexte gesetzt? Gab es nicht oft genug heftigen Methodenstreit am Beispiel der immer gleichen vier bis fünf Texte? Entleerung vom Inhalt zum Zweck des Methodenlernens, nichts anderes ist Kompetenzpädagogik. Quantifizierung der Forschung, die Marktförmigkeit simulieren soll, bedeutet, dass man sowohl Qualität in Quantität verwandeln als auch durch entsprechende Belohnungen möglichst hohe Quantitäten erzielen will. Man 23 kennt das Prinzip aus der ehemaligen Sowjetunion: Fehlte es an Nägeln, so belohnte man die Zahl der produzierten Nägel und erhielt viele kleine. Belohnte man daraufhin das produzierte Gewicht, so erhielt man wenige große und schwere Nägel. In der Wissenschaft belohnte man die Anzahl der Publikationen, wodurch man viele kleine und belanglose Aufsätze erzielte, oder man schlug im Quotation Index nach, um zu sehen, wie oft jemand zitiert wurde; die hohe Zahl von Erwähnungen muss freilich kein Zeichen beeindruckender Qualität sein, öfter ist sie eines geschickter Reklame, manchmal auch provozierender Dummheit. Man hat auch Zitierkartelle beobachtet: Zitierst du mich, zitier‘ ich dich. In Dänemark gibt der Staat einer Uni auch Geld für die Anzahl bestandener Examen, was die Qualitätsauswahl nicht gerade erhöht. Um den Problemen einfacher Quantifizierung zu entgehen, sucht man bei der Anzahl der Produkte durch peer reviewing sowie durch Evaluierung und Ranking von Zeitschriften und Universitäten wieder zu differenzieren. Das hat eine sündhaft teure Evaluierungsbürokratie und –industrie ins Leben gerufen, die nicht nur die Gelder verbraucht, mit denen man Wissenschaftler bezahlen könnte, ihr Funktion ist ausgesprochen widersinnig. Teilweise misst man letzten Endes den Reichtum einer Universität; es ist nicht überraschend, dass die reichsten Universitäten auch die besten sind, zum Teil gerade deswegen, weil sie sich Orchideenfächer, die anderswo weggespart werden, schließlich die Humaniora überhaupt noch leisten und als Ausdruck ihres Prestigewerts vermarkten können. Dass dabei US-amerikanischer Kulturimperialismus gewinnt, hat Christian Baldus an einem schlagenden Beispiel aus einem anderen Bereich, den Rechtswissenschaften in Portugal, eindrücklich aufgezeigt. Teilweise sind die Ergebnisse mehr als banal. Als ich Leiter des Faches Deutsch an der Universität Roskilde war, mussten wir unser Fach, dessen Studentenzahl immer stärker abnahm, mit einem großen Aufwand von Arbeitszeit selbst evaluieren – so etwas ist inzwischen überholt –, dabei auch ein auswärtiges Gutachten einholen, das uns belehrte, unser Problem bestünde darin, dass wir zu wenige Studenten hätten. Teils führt es dazu, dass man nur daran arbeitet, was Geld einbringt, also zum Beispiel keine komplexe Analyse von Texten und historischen Epochen, sondern Reklamewissenschaft. Oder, um noch einmal über die Humaniora hinauszugehen: an den Kliniken nimmt man am liebsten die teuren Operationen vor, auch wenn sie nicht erforderlich sind. Im besten Fall endet man durch die Evaluierung mit viel Geld bei dem, was man früher durch wissenschaftliches Gespräch gratis 24 erzielte: bei einer (notwendigerweise nicht immer objektiven) Leistungsbewertung durch Fachleute. Eine gänzlich objektive Leistungsbewertung ist nun einmal nicht möglich. Insgesamt zerstört die marktförmige Quantifizierung kreatives Denken, insbesondere jegliche Grundlagenforschung, und letztlich das Bildungswesen überhaupt. Unterhaltsame Beispiele für das alles findet man in einem Vortrag von Mathias Binswanger. Nach der Evaluierung ist schließlich noch die Akkreditierung zu nennen. Das ist die Parallele zur Schließung von unrentablen Produktionszweigen und Standorten in der Wirtschaft Die Politik schließt unrentable Fächer oder Forschungsvorhaben – sie verweigert ihnen die Akkreditierung, nennt man das – und kontrolliert somit auf dem Weg über die Ökonomie die Inhalte von Forschung und Lehre. In Deutschland wird dagegen immerhin noch protestiert, weil dieser Eingriff rechtswidrig ist. Tatsächlich ist die Freiheit von Forschung und Lehre jedoch längst eine Sage aus vergangener Zeit. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Die kontrollierenden Banausen Wer kontrolliert Forschung und Lehre? Die Politiker und hinter bzw. über ihnen die Lehrmittelindustrie, die Tests und Lernprogramme herstellt. Ihnen unterstehen die ausführenden Chargen an Universitäten und Schulen: Rektoren bzw. Direktoren, Dekane und Institutsleitungen. Die ausführenden Chargen an den Universitäten, also vom Rektorat bis hinunter zur Institutsleitung, sind in Dänemark, so weit ich das übersehen kann, aber wohl nicht nur hier, vor allem solche, die es in der Wissenschaft nicht weit gebracht haben, dafür aber verstehen und ihre Lust daran haben, mit Macht umzugehen. Ihnen steht ein wachsender bürokratischer Apparat zur Verfügung, der aufgrund der zunehmenden Kontrollaufgaben tatsächlich erforderlich ist. Ihnen unterstellt ist das wissenschaftliche Personal, neuerdings in gewissem Maß auch noch nach der Pensionierung, wie wir gesehen haben. In ihren Mitteilungen nennen sie dieses Personal, die Dozenten, zumeist Mitarbeiter, so wie in den Firmen die Direktoren ihre Untergebenen. Ihrem Selbstverständnis nach und aufgrund ihrer zunehmenden Befugnisse, welche die alte universitäre Selbstverwaltung ausgehöhlt haben, sind sie, nicht Dozenten und Studenten, die eigentlich Universität. Davon 25 bekam ich schon vor Jahrzehnten ein schönes Beispiel vorgeführt, als ich an einer amerikanischen Universität arbeitete. Als dort die Dozenten streikten – ja tatsächlich, das taten sie! – sprach die Administration zum großen Ärger meiner Professorenkollegen von den Lohnverhandlungen zwischen der Universität und den Professoren. Doch das ist nicht so neu, wie es mir damals schien. Als Dwight D. Eisenhower bei einer Rede in den fünfziger Jahren die „employees of the university“ ansprach, wurde er von einem Professor korrigiert: „the faculty are the university.“ Nein, sie sind es nicht, auch die Studenten nicht, es ist die Verwaltung. Es ist durchaus systemdienlich, wenn die leitenden Chargen wissenschaftliche Banausen sind. Es geht ja gerade darum, dass nicht wissenschaftliche Inhalte im Mittelpunkt stehen, sondern Einsparungen, Programmkürzungen und Entlassungen einerseits, das Eintreiben privater Zuschüsse andererseits. Die Neoliberalen sprechen vom „“window of opportunity“ für ihre sogenannten Reformen. Das Fenster öffnet sich dann, wenn einer geht und ein anderer zu schlechteren Bedingungen angestellt werden kann. Was den Verdienst angeht, so kann man sagen: Die Dozenten verdienen immer weniger, die sogenannten Leiter immer mehr, auch wenn man sie noch lange nicht mit den Managern in der Privatindustrie vergleichen kann, und am meisten verdienen die Hersteller von gedruckten und vor allem digitalen Lernprogrammen. Ihr Ideal ist die digitale Fernuniversität. Die Studenten ihrerseits sind einerseits umworbene Kunden, die möglichst viel selbst bezahlen müssen und denen eine Ware angedreht wird, die ihr Versprechen, einen späteren Job zu garantieren, nicht hält, andererseits sind sie Objekte der Kontrolle und Manipulation. Es wäre verkehrt, hinter dieser Kritik an der Universität der Banausen ein Lob der ehemaligen Professorenuniversität mit ihrem bildungsbürgerlichen Ideal zu vermuten. Ich habe den Jahrmarkt der Eitelkeiten erlebt, der an der Professorenuniversität wahrscheinlich ganz einfach deswegen noch lauter tobte als heute, überdeckt von Talaren und Vornehmtuerei, weil damals noch Personen aus eigener Überzeugung herrschten, nicht untere Chargen, die nichts sind als Charaktermasken eines abstrakten Finanzsystems. Darum ist jetzt von Personen zu reden. An dem Deutschen Seminar, an dem ich als Assistent arbeitete, erlebte ich, wie zwei Vertreter deutscher humanistischer Universitätstradition, ohne Frage zwei sehr kluge und sehr belesene Männer, Vertreter des protestantischen Pfarrhauses der eine, des George-Kreises der 26 andere, die kommandierend, intrigierend und sich selbst erhöhend anderen das Leben schwer machten, sowohl ihrem liberalen Kollegen, meinem damaligen Chef, der wohl versehentlich in die universitäre Anstalt gekommen war, und natürlich dem gesamten sogenannten Mittelbau. Der eine, von christlicher Herkunft, nützte seine ausgebreitetes kollegiales Netzwerk, um zu verhindern, dass unbotmäßige linke Assistenten anderswo in Deutschland Stellen bekamen, was ihm in meinem Fall glückte, weil ich auch in keine linke Seilschaft eingebunden war. (Der kurze historische Augenblick, in dem wissenschaftlich kaum ausgewiesene Bewerber durch eine solche Seilschaft an feste Stellen kamen, ist auch schon längst vorüber.) Woran man sieht, dass das Ausnützen persönlicher Beziehungen nicht an politische Positionen gebunden ist. Menschliche Schwäche setzt sich immer durch, unabhängig von politischer Couleur, doch das bedeutet nicht, dass eine Universität der Banausen notwendig besser wäre als eine der Gebildeten. Es mag ein kleiner Trost sein, dass die Computer zusammen mit dem übrigen Mittelstand auch viele leitende Banausen arbeitslos machen werden. (Nicht alle, denn es muss ja immer welche geben, die die Computerbefehle ausführen lassen.) Im Rückblick auf die alte Universität bleibt problematisch, dass eine Phalanx konservativer Professoren mit aller Macht ein Bildungsideal verteidigte, den scheinbar unpolitischen Glauben an das Wahre, Schöne und Gute, das nicht nur durch die großen Kriege gründlich beschädigt worden war, sondern gerade die in Versuchung führte, die es zu besitzen glaubten und, frei von jedem Selbstzweifel, den guten Zweck die politischen Mittel heiligen ließen. Dass dagegen andere nur noch eine Kunst gelten lassen wollten, die Anleitung zu politischem Handeln ist, war Ausdruck gleicher bornierter Selbstherrlichkeit. Von heute aus gesehen, hätte man dem Streit um die Ansichten einer anderen Germanistik, der in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts tobte, etwas mehr Selbstzweifel auf allen Seiten gewünscht, und ich muss mir da selbst an die Brust schlagen. Vielleicht hätte man früher erkannt, was heute angesichts einer wahrscheinlich untergehenden Welt hier und dort deutlich zu werden scheint, dass große Kunst weder Richtlinien des richtigen Handelns noch des rechten Glaubens aufstellen kann, sondern in allem Zweifel und in aller Ambivalenz das Elend des Lebens in Schönheit verwandeln kann. Sollte man nach allen Kriegen und allem Elend nicht endlich bemerkt haben, dass das, was Baudelaire zu Paris und seiner ganzen Zeit über die Fleurs du mal sagt „Tu m’as donné de la boue, et j’en ai fait de l’or“, 27 für alle große Kunst gilt? Dass in jener Schönheit gerade die Klage sich als Ausdruck der menschlichen Würde erweist. Darüber nachzudenken, bringt allerdings kein Geld ein. Die große Krise, vielleicht der Abschluss? Wir haben uns von einer Universität zu verabschieden, die Abschied von der Wissenschaft genommen hat. Nicht mehr lange, und die Universität wird ihre bisher vielleicht größte Krise erleben, sobald ihre Nutzlosigkeit deutlich wird. Sie kann die große gesellschaftliche Krise, die uns bevorsteht, nicht verhindern, sie wird sie befördern, befördern wird sie Altersarmut und prekäre Beschäftigungen, Abbau der Mittelschichten, Orientierungslosigkeit und politischen Populismus. Sie erzieht zum reflektionslosen Menschen, der ängstlich und isoliert, in ständiger Konkurrenz mit anderen und mit Maschinen, immer auf eine besser bezahle Arbeit hoffend, am liebsten auf eine Stelle als Leiter, zur Übernahme eines jeden Auftrags bereit ist, leichtes Opfer leerer politischer Versprechungen, bis er am Ende ausgebrannt ist. Vielleicht wird der Niedergang der Universität ja auch vom Niedergang der gesamten menschlichen Kultur eingeholt. Ja, wenn man sich an Hegels Eule der Minerva erinnert, die abends ihren Flug beginnt, am Ende eines historischen Abschnitts, dann wäre das absehbare Ende der menschlichen Zivilisation ein besonders günstiger Zeitpunkt für historische Reflexion. Vielleicht wäre Kassandra mit der Eule der Minerva auf der Schulter das geeignete Bild für den modernen Intellektuellen. Der Abschied von der Universität ist der Abschied von einer weltgeschichtlichen Epoche, vielleicht sogar Vorspiel des Endes einer erdgeschichtlichen Epoche, des Anthropozäns, das, so unvergleichlich kurz es gewesen sein wird, doch die ganze Erde verändert haben wird. Dazu gibt es, damit das Ganze trotz allem optimistisch ausklingt, einen unterhaltsamen Vortrag von Harald Lesch im Internet. Literatur Baldus, Christian: Narren oder Brandstifter? Über Evaluation und Kulturimperialismus. 28 (http://bildung-wissen.eu/fachbeitraege/narren-oder-brandstifter.html) Binswanger, Mathias: Sinnlose Wettbewerbe – Warum wir immer mehr Unsinn produzieren (https://www.youtube.com/watch?v=Dd2Xkbr-u9s). Deutscher Lehrerverband (Hrsg.): Wozu Bildungsökonomie? Fachtagung 2011. Berlin 2012 Donoghue, Frank: The last Professors. The Corporate University and the Fate of Humanities. Forham University Press 2008 Gemperle, Michael: Die Rede von der „Wissensgesellschaft“ als Teil eines politischen Projekts. – In: schulheft 35 (2010), S. 23-34 Innsbruck-Wien-Bozen (http://www.schulheft.at/fileadmin/1PDF/schulheft-139.pdf) Granger, Christophe: La Déstruction de l’Université Française. La Fabrique éditions 2015 Klein, Hans Peter / Beat Kissing: Irrwege der Unterrichtsreform. Die ernüchternde Bilanz eines utilitaristischen Imports: Entpersonalisierung und Banalisierung der Bildung. 2012 [über PISA] (http://bildung-wissen.eu/fachbeitraege/irrwege-der-unterrichtsreform.html Krautz, Jochen: Bildungsreform und Propaganda. Strategien der Durchsetzung eines ökonomistischen Menschenbildes in Bildung und Bildungswesen. (http://phvn.de/images/krautz.pdf) Lankau, Ralf Die Demaskierung des Digitalen durch ihre Propheten. Computer und Computerstimme als Erzieher? Eine Digitaleuphorie als Dystopie, in: Die Zeit Nr. 5 vom 28. Januar 2016 Lesch, Harald: Vortrag zum Physikalischen Kolloquium der Studierenden vom 4. Juli 2016. https://www.youtube.com/watch?v=QXsMhT7DdqM 29 Liessmann, Paul: Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft. Wien: Paul Zsolnay 2006 Lühmann, Hinrich: Das verlorene Subjekt. – In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik. 88 Heft 3 (2012), S. 414-424. http://hinrich-luehmann.de/bildungsbegriff-bildungspolitik-h-l/irrwegeder-unterrichtsreform Schulz, Niels Björn: Vom Verschwinden des Lehrers. In: Scheidewege. Jahresschrift für kritisches Denken 37 (2007), S. 362-374. Ders.: Vom Verschwinden des Lehrers. in: Frankfurter Rundschau vom 30 April / 1. Mai 2016, S. 21. Spring, Joel: Economization of Education. Human Capital, Global Corporations, Skills-Based Schooling. New York and London: Routledge 2015. Wernsing, Armin Volkmar: Lonely Ryder. Das neoliberale Subjekt und die Bildung. – In: Beiträge zur Fremdsprachenvermittlung 57 (2016), S. 3-22 (http://www.vep-landau.de/fileadmin/user_upload/bzf/Hefte/bzf_2016_57.pdf) 30 Das Reich der Banausen oder Der Verfall der Zivilisation im Spiegel der Literaturwissenschaft (2018) In memoriam A.V. Wernsing Wenn ich mich an meine frühen Studienjahre zurückerinnere, so denke ich, was mich zum Studium der Literaturwissenschaft trieb, ja wohl den ganzen kleinen Kreis meiner damaligen Studienfreunde, allesamt Germanisten und Romanisten, das war der Wunsch, unsere geistige Welt zu erkunden. Dieser Behauptung zuzustimmen, wäre uns leicht gefallen, schwer zu sagen aber, was denn unsere geistige Welt war. Vielleicht hätten wir uns auf die Definition von Ernst Robert Curtius einigen können: das europäische, auf dem Boden der Latinität gewachsene Denken. Dass das slawische Denken dabei fehlt, ganz zu schweigen von dem außereuropäischen, hätte uns nicht gestört; es war ja nicht unsere Welt. Dass Kenntnisse des Mythischen dazugehören, hätte uns wohl eingeleuchtet. Karl Mannheims Rechtfertigung des frei schwebenden Intellektuellen in der Kontroverse mit Curtius, der nicht auf historische Verwurzelung verzichten wollte, trug dem Fehler solcher Begrenzung Rechnung. Nun geht es aber auch gar nicht darum, alles zu erfassen, vielmehr darum, hier eine Herausforderung zu erkennen, die unseren Erkundungsdrang am Leben erhält, mit dem wir in der geistigen Welt Europas Bürgerrecht erwerben, um dann vielleicht noch darüber hinaus zu blicken. Es ist gut, wenn man dabei an einem vielbezüglichen Ort beginnen kann, so wie es Thomas Mann mit Richard Wagners Werk geschah: „Die Passion für Wagners zaubervolles Werk begleitet mein Leben, seit ich seiner zuerst gewahr wurde und es mir zu erobern, es mit Erkenntnis zu durchdringen begann.“ Solche geistige Welteroberung und Einbürgerung, zunächst vielleicht nur durch die Arbeit an einem bedeutenden Werk, können sich die Jugendlichen unserer Zeit wohl kaum mehr vorstellen. Bildung als Mehr-Mensch-Sein durch Eroberung der geistigen Welt ist ersetzt durch die Kenntnis willkürlich 31 zusammengestellter Fakten, die von Computern mit menschlichem Antlitz in den Quiz-Sendungen abgefragt wird. Hier geht es nicht darum, mehr Mensch zu werden, die Welt mit Erkenntnis zu durchdringen, sondern nur darum, sich vor den Maschinen nicht allzu sehr zu blamieren. Wie selbstverständlich ein Thomas Mann sich in der geistigen Welt Europas bewegte, ist für uns Alte bewundernswert, für die Jungen ganz einfach fremd und unverständlich. Früher war es allerdings nicht so ganz und gar anders. Die meisten sind zufrieden damit, heimisch in der alltäglichen Welt zu sein, damals wie heute. Das reicht ihnen. Sie wollen nichts als weiterleben in den gewohnten Bahnen. Doch als ich zu studieren begann, gab es noch bildungsbürgerliche Werte, die immerhin von jungen Studenten selbstverständlich übernommen wurden. Das allerdings hat sich geändert, und Menschen, die den Alltag nur auszuhalten fähig sind, wenn sie auch ein Seh- und Atemrohr in die geistige Welt haben, sind nicht leicht mehr zu finden. Zwar entstand im 18. Jahrhundert zusammen mit der bildungsbürgerlichen Kultivierung der geistigen Welt, welche die Vertiefung in die religiöse ersetzen sollte, auch das Bedürfnis, sie gegen die zu verteidigen, denen sie fremd blieb. Solche nannte man Banausen. Damals blickten die Gebildeten verächtlich auf sie herab, heute herrschen die Banausen, und man muss sagen: Die Gebildeten selbst haben ihnen den Weg bereitet. Doch schauen wir zunächst auf den großen politischen Rahmen. Die Bedeutung humanistischer Bildung begann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts abzunehmen, auch wenn sie in Deutschland vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur Studentenbewegung von 1968 als Antwort auf den geistig-moralischen Zusammenbruch wieder zunahm. Schon vor der Jahrhundertwende gewannen die Naturwissenschaften jedenfalls deutlich an Einfluss, und Schüler humanistischer Gymnasien suchten nach neuen Weltdeutungen; so entstand die sogenannte Reformbewegung um 1900, die später in der Hippiebewegung weiterlebte, mit Einflüssen insbesondere von Deutschland in die USA und zurück. Mit dem Ersten Weltkrieg war es auch mit der Selbstlegitimation der Staaten als Kulturstaaten zu Ende, obwohl gerade das deutsche Bildungsbürgertum weiterhin einen gegen die westliche Zivilisation gerichteten antipolitischen Kulturbegriff pflegte, der sich gegenüber dem Nationalsozialismus dann als wehrlos erwies. Diese bildungsbürgerliche Kunstreligion war blind für das Wesentliche großer Kunst: ihre Ambivalenz, ihre Bejahung des Zweifelhaften. Daneben löste die Herrschaft der Technik in der 32 Zwischenkriegszeit Suchbewegungen aus, die teilweise gegen die entfremdende Herrschaft von Geld und Technik protestierten, bis hin zu künstlerischem Anarchismus, teilweise ihr Heil in der Vorstellung von einer technischsachlichen Regulierung der Gesellschaft wie der einzelnen Menschen suchten, die befreit wäre von wirren Gefühlsstürmen, wie man sie im Weltkrieg erlebt hatte. Doch erst in den zwei Jahrzehnten um die Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert wurde die Vorstellung eines jeglichen Humanismus bis aufs Fundament zerstört, und zwar von zwei getrennten, faktisch aber kollaborierenden Bewegungen, dem wissenschaftlichen Anarchismus, der dann unter der Fahne der politischen Korrektheit zu einer Identitätspolitik führte, die den neurechten identitären Bewegungen merkwürdig ähnelt, und dem politökonomischen Neoliberalismus. Bevor wir dem nachgehen, müssen wir noch in der Umgebung aufräumen. Zunächst wollen wir einen Blick auf die DDR werfen. Dort, so pflegten manche in den siebziger und achtziger Jahren zu sagen, gäbe es noch die Bildung, die im Westen ausgestorben sei. Tatsächlich wurde das Erbe von Aufklärung und Klassik dort mehr gepflegt als im Westen, hatten die dortigen Literaturwissenschaftler eine tiefere Kenntnis der zentral- und osteuropäischen Literatur als die im Westen. Aber das manchmal bewundernswerte gelehrte Wissen wurde getrübt durch ein von der Doktrin des sozialistischen Realismus gefärbtes, letztlich eben banausisches Literaturverständnis, das, ohne Einsicht in die tiefe Ambivalenz aller großen Kunst, die hoffnungsfrohe Zukunftsperspektive verlangte. Adorno hat das treffend als „erpresste Versöhnung“ bezeichnet. An einem ehemaligen Freund habe ich das damit verbundene Unverständnis für künstlerische Technik persönlich erfahren. Er, der die DDR, vor allem nach ihrem Zerfall, als geglückte gesellschaftliche Alternative zu einem Kapitalismus ansah, dessen menschenfeindliche Wirkung heute tatsächlich nur noch Ignoranten leugnen können, war ein großer Gelehrter, hielt sich leider aber auch für einen ebenso bedeutenden Literaturanalytiker und Kunstrichter. Dabei fehlte ihm jegliches hermeneutische Verständnis für die literarische Form als Zusammenhang von Detail und Gesamtstruktur. Er deutete lose Details und beurteilte sie nach grammatischer, bildlicher, moralischer und politischer Korrektheit. Parteilichkeit hieß letztere in der DDR, eine auf Lenin zurückgehende Verengung berechtigter Kritik am positivistischen Objektivitätsglauben. Als ich das kritisierte, brach er den 33 Kontakt zu mir ab. Die Wahrheit aber ist nach Hegel das Ganze. Die Aversion gegen das Ganze macht, wie wir jetzt versuchsweise sagen können, das Banausentum aus. Wir wollen das im Kopf behalten, denn jetzt machen wir erst einmal einen großen Umweg. Als nächstes ist nämlich die Vorgeschichte des wissenschaftlichen Niedergangs im Westen zu erhellen. Der Ausbau der Universitäten in der Mitte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts, angestoßen von der Klage über die „Bildungskatastrophe“ (G. Picht) schwemmte eine große Zahl bildungsferner Studenten in die humanistischen Fächer. Ihnen war die umfassende Kenntnis künstlerischer Werke nicht in die familiäre Wiege gelegt; verständlich, dass sie nach Wegweisern in der unbekannten Welt suchten. Die wurden dann auch angeboten, ja es wuchs geradezu ein Wald von Wegweisern: Taschenbücher mit Titeln wie Methoden der Literaturwissenschaft, Methodendiskussion, Germanistikstudium, Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft, gaben teils hilfreiche Einführungen ins Studium, teils sollten sie durch Methodenüberblick die fehlende Vertrautheit mit den literarischen Werken ersetzen; sie sollten sozusagen den Generalschlüssel liefern, der jedes Haus in der fremd gewordenen Welt zu öffnen half. Das war ein Beginn, heute finden sich solche Überblicke im Internet, ergänzt durch Methoden der Literaturdidaktik, und sind selbst kaum mehr überschaubar. Methodenkenntnis statt Textkenntnis und Methodenstreit statt Auseinandersetzung mit den Werken ist nicht nur ein deutsches Phänomen, es fand und findet sich auch anderswo, und auch bei gestandenen Universitätslehrern. Ich habe eine aufschlussreiche Variante erlebt, als ich zwischen 1989 und 2009 im dänischen Roskilde unterrichtete. Zusammen mit der Verwandlung der dortigen Universität von einer Art Volkshochschule in eine „richtige“ Uni verwandelten sich die Studenten von selbstsicheren jungen Leuten, die in glücklicher Unwissenheit glaubten, zu allem etwas zu sagen zu haben, in unsichere Lehrlinge, die erwarteten, die richtigen Methoden auf einem Silbertablett serviert zu bekommen; die wollten sie dann auch fleißig lernen. Von den notwendigerweise abstrakten Methodenpräsentationen, die sie doch verlangt hatten, waren sie dann freilich und zu Recht enttäuscht. Die Neuankömmlinge der sechziger Jahre begegneten einer Wissenschaft, die wieder einmal dabei war, in die Krise zu geraten. In der Adenauerzeit war die Literaturwissenschaft insofern politisch, als sie weiterhin antipolitisch war und so der Restauration auf die Beine half. Die alte Hermeneutik, 34 von Karl Philipp Moritz und den Romantikern entwickelt, die den Text als organisches Individuum verstand, und die, zur Geistesgeschichte erweitert, auch Epochen als harmonische Individuen ansah, war nach den Weltkriegen und angesichts moderner Technik nicht mehr zeitgemäß, stattdessen wurden Texte gerne als Zeugnisse eines unhistorisch Absoluten verstanden und existentialistisch oder phänomenologisch umraunt. Doch tatsächlich ließ sich Martin Heideggers Synonymisieren und sein eigenwilliges Etymologisieren deutscher Wörter, das die Philosophie zu einem so deutschen Gegenstand machte, wie der Mond es laut Christian Morgenstern ist, für die Analyse von Texten ebenso wenig brauchen wie Roman Ingardens Suche nach offenen Stellen im Text, aus denen ein nicht näher bestimmbarer ästhetischer Wert erwachsen sollte. Gegen die unpolitische und als unwissenschaftlich empfundene Literaturwissenschaft protestierten die Achtundsechziger. Manche mögen sich noch an die Alternative erinnern, eine von Studenten gemachte kritische Literaturzeitschrift. Reformbereite Germanisten, teilweise inzwischen bekannte Namen, griffen die Anregungen auf, um 1970 erschienen Bücher wie Ansichten einer künftigen Germanistik, gefolgt von Neuen Ansichten einer künftigen Germanistik, oder Bestandsaufnahme Deutschunterricht. Ein Fach in der Krise. Das Ergebnis war freilich ein wieder einmal unüberschaubarer Pluralismus miteinander konkurrierender Methoden. Man kann aber sagen, dass die jungen wilden Akademiker in der Zeit um 1968 zwei Favoriten hatten: Strukturalismus und Marxismus.10 (Ich beschränke mich auf diese beiden, denn es soll hier ja keine Methodengeschichte geschrieben werden.) Der Strukturalismus, der sich am russischen Formalismus und am Strukturalismus der Linguistik orientierte, versprach, alle Texte, auch Gebrauchstexte, aber auch andere kulturelle Phänomene, mit wissenschaftlicher Objektivität zu analysieren, falls man den Text als unhistorisches Regelsystem auffasst, das analysiert wird, indem man rekonstruiert, wie es funktioniert. Dabei gliedert man den Text syntagmatisch (Nacheinander von Textabschnitten) und paradigmatisch (wiederkehrende Motive, Gestalten, Symbole), wobei man nach Oppositionen und Analogien fragt und dann ein möglichst mathematisches Muster entwirft. Das führte teilweise zu wilden Das Folgende führt Gedanken weiter, die ich, teilweise ausführlicher, dargelegt habe im Kapitel „Schattenboxen oder Der Verfall der Literaturwissenschaft“ meines Buches Zeitgemäße Betrachtungen oder Consolatio artis. Von der Kunst, würdevoll und heiter unterzugehen (2015) 10 35 Spekulationen; ich habe nie verstehen können, warum der Ethnologe LéviStrauss für seine Analogie zwischen dem Vokaldreieck und drei Arten der Essenszubereitung bewundert wurde. In der Praxis bestanden strukturalistische Forschungsbeiträge oft zu 90 % aus theoretischen Vorüberlegungen und zu 10 % aus banalen Ergebnissen. Da die jeweilige Sprachrealität hier nur Sonderfall einer übergeordneten allgemeinen Sprachstruktur ist, war es konsequent, dass der sogenannte Poststrukturalismus dann die Sprache explizit zu einer selbständigen Wirklichkeit erklärte, die materielle, geschichtliche Wirklichkeit und konsequenterweise auch den Autor zu einer Schimäre. Während man hier Texte auf Formelemente hin abstrahierte, fragte man dort, in der marxistischen Textanalyse, vornehmlich nach den Inhalten, nämlich nach der Stellungnahme zur jeweiligen Klassenstruktur. In der Praxis kam man auf dem langen Weg von der Klassenstruktur oft gar nicht bei den konkreten Texten an. Natürlich gab es Forscher und Lehrer, die sich nicht von Methodenzwängen gängeln ließen und die spezifische Ordnung eines spezifischen Textganzen aufzuzeigen in der Lage waren, dabei auch nicht blind für sinnerweiternde Mehrdeutigkeiten, Ambivalenzen, Redundanzen und Anspielungen dichterischer Sprache, die sich quantifizierbaren Regelsystemen entzogen, ebenso wenig wie für geistes- und sozialgeschichtliche Zusammenhänge. Solche wohltätigen Exempel konnten doch nicht verhindern, dass die Methodenjünger in einer Aporie landeten. Der jeweilige dichterischen Text gab seine besondere Ganzheit den allgemeinen Nachschlüsseln nicht preis. Diese Verwirrung und Unsicherheit erzeugte die erste Voraussetzung für das, was man den low fellow turn nennen könnte, wenn man mir diese Übersetzung des Banausischen gestattet. Gelehrte, keineswegs Banausen, machten aus der Verwirrung eine Tugend, indem sie das widerspenstige Ganze, das seine Regelhaftigkeit nicht so recht herausgeben wollte, zum Gegner erklärten und den wissenschaftlichen Anarchismus zum Ideal erhoben. Hier ist zunächst die Dekonstruktion zu nennen, die vor allem mit dem Namen Jacques Derrida verbunden ist. Sie geht ebenso wie der Strukturalismus vom linguistic turn aus, sucht nun aber zu zeigen, wie der Text schon immer jede Struktur widerrufen hat, denn die Sprache liefert uns gerade keine feste Bedeutung, sondern nur ein sich wandelndes Geflecht von Bedeutungen, von denen eine immer auf die nächste verweist. Es gibt kein Signifikat mehr, und auch keine textliche Ganzheit, in der das Bedeutungsgeflecht ruht. Ich würde einwenden, dass nicht nur ich allein meine erste Sprache nicht abstrakt aus 36 dem Wörterbuch gelernt habe, sondern konkret und spielerisch in Szenen mit meiner Mutter und anderen; hier waren die Wörter unmittelbar mit ihrem Signifikat, mit Personen, Dingen, Gefühlen, verbunden. Sogar über Homonymie habe ich spielerisch etwas gelernt, als ich ein Tonpferdchen auf das Trittbrett eines Spielzeugautos setzte, damit herumfuhr und erfreut sagte „Das Pferd fährt“, wobei ich die beiden Wörter aussprach, als klängen sie gleich. Auch hier sind die Wörter, ja der Sprachklang, nicht von der Szene und den Signifikaten zu trennen. Zweitens gehört dazu die anarchistische Theorie der Postmoderne, die vor allem vor allem mit den Namen Jean-François Lyotard und Roland Barthes verbunden ist. Sie sucht, ebenfalls vom linguistic turn ausgehend, das Andersartige, indem sie es unfassbar macht, zu retten vor der Regelhaftigkeit, die alles eins macht, und damit auch vor einer Wirklichkeit, die nur in Konventionen, in sprachlichen Übereinkünften, besteht. Kampf dem Ganzen („guerre au tout“), zeugen wir vom Undarstellbaren („témoignons de l’inprésentable“)! ruft Lyotard. Für Barthes ist die Sprache selbst faschistisch, weil sie seinen Traum von der Sprachanarchie nicht zulässt.11 Das Produkt als einzigartiges, unsagbares Ereignis („événement“) geht den Regeln voraus – daher kommt es zwar nicht zeitlich, aber logisch erst nach der Moderne, die sich immer noch nach der verlorenen Einheit eines Ganzen sehnt. Beide Theorien, die sich um das nicht Begreifbare drehen, sind in einer nicht leicht begreifbaren Sprache geschrieben, denn die Autoren, verhinderte Künstler, wollen die Polyvalenz der Kunst in die wissenschaftliche Rede von der Kunst überführen. Aber es wurde eine Folgerung gezogen, die so wohl nicht intendiert, aber letztlich doch konsequent war: Es gibt keine gültige Methode, in der bekannten Formulierung von Paul Feyerabend: „anything goes“. Das konnte dazu führen, dass der Kunstbegriff ins Beliebige ausgeweitet wurde. Schüler und Studenten meinten gelegentlich, ihre Behauptungen nicht mehr belegen zu müssen: Ich fühle das halt so, und das ist mein Recht. Dass auf dem Weg der digitalmedialen Vermittlung tatsächlich fake news entstehen, dass Bilder und Töne unerkennbar manipuliert werden können, dass Fakten beliebig verändert oder überhaupt erst produziert werden können, dass subjektive Meinungen der Menschen und ihrer Computer von Jean-François Lyotard: Le postmoderne expliqué aux enfants. Correspondance 19821985 (Débats). Paris: Galilé 1986, s. 34 Zu Roland Barthes vgl. mein Buch Zeitgemäße Betrachtungen, S. 27 f. 11 37 bestätigten Meldungen nicht mehr zu unterscheiden sind – all das trägt wesentlich zur Herrschaft der Beliebigkeit bei. Man greift sich an den Kopf, wenn man liest, was Hans Magnus Enzensberger einst im Kursbuch 20 von 1970 schrieb. Obwohl noch ganz ohne Internet-Erfahrung, verstand er damals schon, dass jeder Empfänger zum Sender werden kann. Daraus folgte für ihn die Befreiung der Massen zur Kreativität. „Der Manipulation der Medien ist aber nicht durch alte oder neue Formen der Zensur zu begegnen, sondern nur durch direkte gesellschaftliche Kontrolle, das heißt durch die produktiv gewordenen Massen.“ Die Menschen werden: „Frei wie Tänzer, geistesgegenwärtig wie Fußballspieler, überraschend wie Guerilleros.“ Die Shitstürme hatte der Revolutionsromantiker nicht vorausgesehen. Die vermeintlich bürgerliche Angst vor den Massen hatte vor ihm keinen Bestand. Heute dagegen sind Le Bons Psychologie der Massen (Psychologie des foules, 1895) und Propaganda (1928) von Edward L. Bernays wieder so aktuell wie vor und zwischen den Weltkriegen. *** Die Begegnung von Unsicherheit und Beliebigkeit war eine Ermächtigung zum Banausentum, das es sich dann auf zwei Feldern wohnlich machte, in der Identitätspolitik und in der neoliberalen Revolution des sogenannten Bildungswesens. Zuerst zur Identitätspolitik. In der ständischen Gesellschaft ist Identität kein Problem, weil vorgegeben. Berufswahl, Umgangsformen, Kleidung, alles ist durch den Stand vorgegeben, dem man angehört. In dem Maß, in dem die Gesellschaft sich verändert und durchlässiger wird, wird Identität zu einer Aufgabe. Immer mehr Menschen müssen ihre Identität immer öfter neu bestimmen, das heißt sie müssen beständig Identitätsarbeit leisten. Dabei hilft die schöne Literatur, indem sie wechselnde Identitätsangebote macht. Das alles ist eine komplexe und weitreichende Entwicklung, die ich anderswo beschrieben habe.12 Was ich nicht beschrieben habe, ist die Vgl. Wolf Wucherpfennig: Das Schreckliche und die Schönheit. Studien zu Identität und Ambivalenz in der europäischen Literatur. Würzburg: Königshausen & Neumann 2013. Ders.: Intellektuelle, Identität und Modernisierung. (https://www.academia.edu/193634/Intellektuelle_Identität_und_Modernisierung_2008_) Henrik Kaare Nielsen, von dem ich den Begriff der Identitätsarbeit seinerzeit übernommen habe, bestimmt ihn als individuelle Suchbewegungen, die den Verlust vorgegebener Normen auszugleichen suchen. (Vgl. Kritisk teori og samtidsanalyse. Aarhus Universitetsforlag 2001, hier Kap. 3: Identitet og politik i globaliseringens 12 38 Auseinandersetzung mit Identitäten, die in der sich wandelnden Welt unterschiedlichen Minderheiten oder unterdrückten Gruppen von einer herrschenden Gruppe zugeschrieben werden aufgrund ihrer religiösen oder nationalen Zugehörigkeit, ihres Geschlechts, ihrer Hautfarbe. Anders also als die vorgeschriebenen Identitäten, die von allen akzeptiert werden. Die Zuschreibungen erfolgen, weil die herrschende Gruppe ihre Position bekräftigen will, besonders, wenn sie bedroht scheint. Wenn die Verhältnisse sich ändern, wenn ein Jude französischer Offizier werden kann oder ein Schwarzer amerikanischer Präsident, halten Gegenbewegungen umso krampfhafter an stereotypen Zuschreibungen fest. Sie scheuen die Mühen der Identitätsarbeit, das Wagnis der Unsicherheit und die Herausforderung zu unablässiger kritisch-selbstkritischer Kreativität. Ihre Identitätspolitik ist eindeutig rückwärtsgewandt, geschichtsverherrlichend und weithin -verfälschend. Auch die gegenwärtige Realität wird teils verfälscht – man operiert mit Gerüchten und erfundenen Zahlen –, teils subjektiviert und damit beliebig. Entsprechend redet man von „gefühlter Realität“ und „alternativen Fakten“. Was wirklich geschieht, ist nicht so wichtig, wichtig ist, was die Menschen als Realität empfinden. Daneben gibt es neuerdings aber auch eine eher liberale Identitätspolitik, die Unterdrückung abschaffen will, indem sie die Unterschiede, an denen jene sich festmacht, sprachlich abzuschaffen sucht. Hier geht es nicht darum, Geschichte zu verfälschen, sondern eher darum, Realität sprachmagisch abzuschaffen. Das geschieht in der Folge des linguistic turn und im Namen der politischen Korrektheit. So verbietet man nicht nur und zu Recht die als Schimpfwort gebrauchte Bezeichnung Nigger, es folgen Ersatzbezeichnungen wie black people – black is beautiful hieß es dagegen in meinen jungen Jahren – colored people, bis es mit Afro-American people keine Pigmentunterschiede mehr gibt.13 Pipi Langstrumpfs Vater darf in den neueren Buchausgaben nicht mehr „Negerkönig“ heißen, er tritt als „Südseekönig“ auf. Damit verflüchtigt tidsalder). Ich fasse den Begriff enger und weniger neutral und spreche von Arbeit nur, so weit Modernisierungserfahrungen auch integriert und nicht einfach abgewehrt werden. 13 Die Möglichkeit solcher Sprachmagie endet freilich spätestens dort, wo in einer Inszenierung ein Neonazi auftritt, der das Unwort Neger gebraucht. Man kann es nicht löschen, da er ja gerade dadurch charakterisiert wird. So hat man sich damit geholfen, ihn „N-Beep“ sagen zu lassen, ein Nichtwort, das freilich hervorhebt, was es für immer verdecken soll, nicht zuletzt dadurch, dass ein Mensch hier die Technik nachahmt und damit verrät, dass Mehr-Technik-Sein heute das Erziehungsziel ist. Dazu Hanno Rauterberg: Wie frei ist die Kunst? Der neue Kulturkampf und die Krise des Liberalismus. Berlin 2018 (edition suhrkamp 2725), S. 111. 39 sich ein Stück Geschichte, nämlich das Flair des Exotisch-Geheimnisvollen, das an den früheren Namen gebunden war. Ich warte darauf, dass man auch in Adornos Werken die Bezeichnung „Neger“ übertünchen wird. Und die Mohrenapotheken, die sich wohl auf den Heiligen Mauritius zurückführen, werden sich umbenennen müssen. Tatsächlich wird man im Gefolge der liberalen Sprachpolitik das Wort Neger nicht mehr ohne negativen Beiklang gebrauchen können; insofern hat sie ihre Wirkung gehabt. Und seitdem auch die Kinder al inclusive in der Südsee herumgondeln, ist diese eh dabei, das Exotische zu verlieren. Jedenfalls wird auch hier Identitätsarbeit verweigert, indem man Anstößiges und damit die Auseinandersetzung mit der Geschichte ausklammert. Ihr werdet es nicht glauben, liebe Kinder, aber früher einmal, als es noch Wunder gab, war die Südsee exotisch, jetzt ist dort alles ebenso gleichartig und langweilig wie hier. Nun entspricht dem Auflösen in der absoluten Gleichartigkeit das Bestehen auf besonderer Gruppenidentität, eine Paradoxie, die im psychischen Leben dennoch nicht selten ist: Der Widerstand gegen unangenehme Wahrheiten spaltet sich gerne in zwei polare Ansichten. Denn nicht jeder darf sich gekränkt fühlen. Dass Menschenrechte verletzt werden, geht eigentlich alle Menschen an. Das aber ist zu allgemein. Jetzt dürfen nur Schwarze Vergehen gegen Schwarze anklagen. Wenn z. B. eine Weiße (Dana Schutz) das Bild eines ermordeten schwarzen Jungen malt und ins Museum stellt, gilt das als Heuchelei, denn als Weiße kann sie das Unrecht, das Schwarzen angetan wird, nicht wirklich empfinden, und sie verdient sogar noch Geld daran. Damit wird ihr eine Identität aufgedrückt, von der sie sich nicht befreien kann, und sie ist an eben das naturgegebene Kriterium gebunden, von dem die Rassisten ausgehen. Man hat dagegen immer das Recht zu verlangen, als Mensch anerkannt zu werden, auch wenn man Schwarzer ist. „Black lives matter“, (auch schwarze Leben zählen) drückt das aus. Doch die Forderung, Besonderheiten einer Gruppe allen aufzuzwingen, etwa die Anerkennung von Rassenprivilegien einer herrschenden Gruppe oder das Gesetz der Scharia, dem eine benachteiligte Gruppe gehorcht, sie findet ihre Grenze an den Menschenrechten. Oder stimmt es, wie der Guardian neulich schrieb, dass Ajatolla Chomeini mit seiner Fatwa gegen Rushdie zwar eine Schlacht verloren, aber den Krieg gewonnen hat? Dann hätten die Gruppenidentitäten gegen die Menschenrechte gewonnen. 40 Auch hier wird Realität zur Beliebigkeit subjektiviert, auch wenn Päpste oder Ajatollas behaupten, ihre Meinungen seien diejenigen ihres Gottes. In dem vieldiskutierten Streit um ein Gedicht von Eugen Gomringer, das auf die Mauer eines Hochschulgebäudes gemalt war, schrieben die Studentinnen in einer Antwort auf einen fiktiven Kritiker ihrer Forderung, das Gedicht zu entfernen: „Und nein, du kennst dich nicht besser aus. Auch nicht, wenn du was mit Kunst oder so studiert hast.“14 Es kommt eben allein auf das jeweilige „Bauchgefühl“15 an. Der ästhetische Wert dieses Gedichtes wäre übrigens durchaus diskussionswürdig, aber solche Diskussion ist für die Banausen zu anspruchsvoll, ja kränkend, denn sie spricht ihnen die Urteilsfähigkeit ab, die mit dem Gekränktsein natürlicherweise gegeben ist. Das Gefühl der Gekränktheit bedarf keiner reflektierenden Begründung, schließlich ist es schon immer legitimiert durch die jeweils zugeschriebene Identität. Aus der Entlarvung durch die Analyse des Sprachgebrauchs, die ein Karl Kraus und ein Victor Klemperer virtuos betrieben hatten, ist analysefreies Gekränktsein geworden. So werden die Menschen, wenn man das Ganze nicht reflektieren will, unrettbar auf ihre naturgegebenen Unterschiede reduziert, damit die absolute Gleichartigkeit bewahrt werden kann. Die Folge ist Zensur, die genderpolitisch korrektes Neusprech verlangt, das vom weiteren Zusammenhang wie von der Struktur der Sprache absieht. Eigentlich ist es egal, wer was produziert. In der Kunsttheorie wird der Künstler zur Schimäre, es gilt allein das Werk. In der davon abgeleiteten Identitätspolitik wird das Kunstwerk gleichgültig; es kommt nur darauf an, mit welchem Recht der Künstler beanspruchen darf, authentisch zu sein. Dieses Recht wird an der ihm zugeschriebenen Identität abgelesen. So zeigen sich merkwürdige Übereinstimmungen in der identitätspolitischen Kunstauffassung der verfeindeten Lager. Um die Homogenität einmal der Menschheit, einmal der Nation herzustellen – eine Homogenität, die es in keinem der beiden Fälle gibt; sie sind immer ein Ganzes aus Unterschieden – , wird subjektive Beliebigkeit statuiert, die dadurch legitimiert wird, dass der subjektiv Urteilende sich festlegen lässt, auf seine jeweilige, ihm von Meinungsmachern vorgegebene Gruppenidentität. Mehr-Mensch-Sein ist nicht nötig, es reicht, wenn man Schwarzer oder Weißer oder Mann oder Frau oder 14 15 Zit. nach Rauterberg, S. 94 Zit. nach Rauterberg, S. 96 41 sonst was ist. Hier unterstellen Angehörige einer vermeintlich homogenen Mehrheit einer vermeintlich homogenen Minderheit bestimmte negative Eigenschaften, die sich in deren Kunstprodukten niederschlagen sollen. Dort wird den Angehörigen einer Minderheit die Möglichkeit eines Gekränktseins offen gehalten, das sie nicht begründen und analysieren müssen. Jede Nachfrage nach einer zugrundeliegenden ästhetischen Wertung gilt als „übergriffig“16, ein wunderschönes Wort, das die gefühlte Bereitschaft zum Übergriff als erfolgten Übergriff ausgibt. Dementsprechend heißt es als Kritik am Gomringer-Gedicht, man „fühle sich daran erinnert, dass objektivierende und potentiell übergriffige und sexualisierende Blicke überall sein können’“17. Also die Möglichkeit der Möglichkeit. Es wird also entweder die Unterwerfung unter ein traditionell-banales Kunstverständnis der Mehrheit oder die eindeutige Stellungnahme für ein Minderheitengefühl gefordert. Die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Material und seiner Tradition ist uninteressant. In beiden Fällen darf das Ganze (der Nation, der Menschheit, des Kunstwerks) nicht reflektiert werden. Die Folge ist ein kunstzensierendes Banausentum, das gerade das nicht begreifen kann und will, was große Kunst ausmacht: ihre Ambivalenz. Wie so oft, ist all das nicht ganz neu, in der Weimarer Zeit gab es eine gewisse Parallele: hier eine Entwicklung hin zur Verurteilung der „entarteten Kunst“, dort, bei der Avantgarde, eine Haltung, die Kunst nur gelten lässt, wenn sie sich als Kunst aufgibt und unmittelbar gesellschaftseingreifend wird. Beide Haltungen korrelieren mit dem Abbau demokratischer Institutionen. So wie die heute auftretenden populistischen Bewegungen die Demokratie nicht durch einen Putsch offen außer Kraft setzen, sondern ihr die Funktionsfähigkeit nehmen, indem sie durch politische Winkelzüge die Parlamente, unabhängige Richterschaft und Gewerkschaften außer Kraft setzen oder die Wahlkreiseinteilungen manipulieren (gerrymandering), vor allem auch dadurch, dass sie in den digitalen Medien Affektstürme erzeugen,18 Zit. nach Rauterberg, S. 97 Rauterberg, S. 105 18 Vgl. Christopher R. Browning: The Suffocation of Democracy. – In: The New York Review of Books. (https://www.nybooks.com/articles/2018/10/25/suffocation-ofdemocracy). Dieser internen Zersetzung entspricht zwischenstaatlich die Auflösung der EU, die Aufkündigung von friedenssichernden Verträgen und der unerklärte Cyberkrieg, der schon längst eingesetzt hat, zusammen mit allgemeiner militärischer Aufrüstung, und daneben die Zerstörung des Vertrauensverhältnisses zwischen USA und seinen bisherigen Alliierten. 16 17 42 ebenso werden in der Kunstszene Ausbildung und Sachverstand von Universitäten und Museen durch digitale Affektstürme außer Kraft gesetzt. In meiner dänischen Heimat reden manche Politiker von der „Expertenherrschaft“, die es zu brechen gelte. Auf der einen Seite spricht man gerne von einer direkten Demokratie, auf der anderen vom demokratischen Urteil des Publikums. Es muss die Kunstqualität ersetzen, seitdem diese, so die Aussage des künstlerischen Leiters der Dokumenta 14, eine „leere Kategorie“ geworden ist.19 In der Politik wird der Abbau der Institutionen von charismatischen Figuren befördert, die wiederum aus diesem Abbau ihren Vorteil ziehen. Der Mechanismus ist altbekannt. Es ist die Erzeugung einer narzisstischen Massenhysterie. Der Führer, etwa Donald Trump, versichert seinen Fans in den sozialen Medien und auf politischen Shows, dass sie eine homogene Gruppe vorbildlicher, unschuldig verfolgter oder doch zutiefst bedrohter Menschen seien. Der Böse, der sie bedroht, ist teilweise eine nicht recht greifbare unheimliche Macht (the swamp), teilweise eine leicht zu verfolgende, zu vertreibende, gegebenenfalls auszulöschende Gruppe (the refugees), ähnlich wie die Nazis die Juden in die reichen und mächtigen Banker und die ostjüdischen „Ratten“ (in Goebbels’ Propagandafilm) einteilten, die unser schönes Vaterland zu überschwemmen drohten. Durch die Identifikation mit dem Führer wird die Fangruppe aber allmächtig werden und den Bösen besiegen. „Verfolgende Unschuld“ nannte Karl Kraus dieses Phänomen bekanntlich. Solche politischen Reden fördern gleichzeitig Angst, Aggressivität und Hoffnung auf Sicherheit und verweisen die Wirklichkeit ins Reich des Beliebigen. In der identitätspolitischen Ästhetik hingegen gelten die Minderheiten als die guten, unschuldig verfolgten Gruppen, die jedoch auf dem Gebiet der Symbole und damit schließlich auch in der Realität siegen können. In beiden Fällen sind die angesprochenen Gruppen tatsächlich bedroht, dort durch die Folgen der kapitalistischen Globalisierung, hier durch die Unüberschaubarkeit ihrer Welt. Dort müssen Sündenböcke büßen, hier glücklicherweise nur künstlerische Produkte (und in gewissem Maß auch die Künstler). In der Kunstpolitik dürfte sich eine entsprechende charismatische Führerfigur allerdings nur schwerlich ausbilden können. Wenigstens solange der Führer nicht auch oberster Kunstrichter ist. 19 Rauterberg, S. 94 43 *** Nun zur neoliberalen Bildungsevolution. Das einzige Bollwerk gegen das Banausentum ist die Forderung der Aufklärung, selbst und damit kritisch, auch selbstkritisch zu denken. Solches Denken fordert, Identitätszuschreibungen im Gespräch zu reflektieren und in Interaktion gemeinsam zu bearbeiten.20 Es sichert den Weg in die geistige Welt, auf dem man mehr Mensch werden kann. Die neoliberale Revolution des sogenannten Bildungswesens zerstört diesen Weg. Für sie ist der Mensch ein sich selbst verwertendes Humankapital, selbst verwertend in dem Sinn, dass es darauf achten muss, immer attraktiv zu bleiben, auch wenn die Nachfrage sich ändert. So wie eine Sense weniger attraktiv wird, wenn eine Mähmaschine auf den Markt kommt. Es geht also nicht um Mehr-Mensch-Sein, sondern um Mehr-Marktwert-Bekommen, ganz wie bei der Maschine. An die Stelle von Menschenbildung tritt Warenproduktion, an die Stelle der geistigen Welt die Warenwelt. Bildung verlangt Selberdenken. Man erwirbt sie durch Lernen und Lesen und Lesen und Lesen. In der Warenwelt dagegen kauft man sich eine Ausbildung. Wo der Besuch der Schule bzw. der Universität kostenlos ist, dort ahmt man wenigstens die Marktförmigkeit durch Evaluierungen und Akkreditierungen nach. Dort ein Selberdenken in Sorge um das Ganze, hier ein Nicht-Selberdenken in der Hoffnung auf den eigenen Vorteil. „Lonely Rider“ hat A. V. Wernsing den so entstehenden Menschentyp genannt (s. Anm. 11). Das bedeutet, dass Schulen und Universitäten sich selbst als Fabriken verstehen müssen, in denen verwertbare Produkte hergestellt werden. Dementsprechend streichen sie alte Bildungsfächer und führen neue Fächer ein, die Erfolg beim gerade aktuellen Stand der Nachfrage versprechen. Mit den Worten von A. V. Wernsing: So versprechen Universitäten durch Zertifikate bestätigte, berufsnahe Kompetenzen in Studenten zu erzeugen, etwa „Produktnamenlinguistik“ (Universität Heidelberg), die dazu befähigen soll, Markenbezeichnungen zu deuten, „Abfall- und Altlasten“ (TU Dresden), „Körperpflege“ (TU Darmstadt), „Pferdewissenschaften“ (Universität Göttingen) oder „Alternde Gesellschaften“ (TU Dortmund). Es soll mehr Das ist nicht einfach, denn es gilt u.a., sowohl eine zur Gewohnheit gewordene abwertende Stereotypisierung zu erkennen und abzulegen, als auch eine zur Gewohnheit gewordene Projektion des Gekränktwerdens, immer im Hinblick auf ein gemeinsames Ganzes. Das geht nicht ohne eine begleitende Verbesserung der tatsächlichen gesellschaftlichen Missverhältnisse. Vgl. auch Henrik Kaare Nielsen: Kulturpolitik og integration. – In: Karolina Windell u. a. (Hg): Vem får vara med? Perspektiv på inkludering og integration i de nordiska länderna. Stockholm: Kulturanalyse Norden 2017 20 44 als18.000 solcher Studienangebote geben, die in Wirklichkeit freilich keine Garantie für eine nachfolgende Beschäftigung oder dafür bieten, dass der spätere Beruf, etwa der einer Kosmetikerin oder eines Stallburschen, besser ausgeübt wird als ohne Studium.21 Die sogenannten Bildungsinstitute müssen für ihr Fabrikationsweise werben, denn die Studenten sind ja nicht nur Produkte, sondern zugleich Kunden, die für ihre Verwandlung in ein Produkt, das sich erfolgreich selbst verwerten kann, bezahlen müssen. Man blicke nur auf die Homepages der Universitäten, wo man vor lauter Reklame manchmal nur schwer den Weg zu Adressen findet. Aber auch ganze Fächer werden zum Zweck der Reklame entworfen. Im oben wieder abgedruckten Aufsatz konnte ich schreiben: Meine frühere Universität verkündet stolz, dass eine Forschungsgruppe anderthalb Millionen Kronen an Land gezogen hat, um zu erforschen, wie man die dänischen Küsten für deutsche Touristen noch attraktiver machen kann. Dabei liegt die Antwort doch auf der Hand: für weitere Erwärmung sorgen, das Verbot der Küstenbebauung lockern oder ganz aufheben und – eben für bessere Reklame sorgen, also das tun, was die gegenwärtige dänische Regierung sowieso tut, dann wird man die spanischen Inseln auskonkurrieren können. An eben dieser Universität ist ein neues Fach entstanden – während alte Kulturfächer wie Französisch und Deutsch gestrichen wurden –, das ursprünglich die Aufgabe hatte, dem Roskilde Festival zu mehr Einnahmen zu verhelfen und nun damit wirbt zu erforschen, wie man alle Arten von Events, von Vorträgen bis zu Theatervorstellungen, einträglicher machen kann. Ein anderes Beispiel entnehme ich der Zeitung Information vom 02.01.2017. Sie berichtet, dass zwei Dozenten des Faches Philosophie meiner früheren Universität an einem zweimonatigen Forschungsprojekt arbeiten, das von der Pharmaindustrie bezahlt wird. Die beiden sollen herausfinden, wie man die Zahl der geimpften Personen erhöhen kann. Es geht hier nicht um eine philosophische Reflexion medizinischer Diskussion, sondern um Reklame. Bislang hatten nur die Politiker sogenannte Spin-Doktoren. Jetzt prostituieren sich sogenannte Philosophen als Spin-Doktoren der Großindustrie. Wüssten die beiden Philosophen etwas von ihrer Welt, so wäre ihnen klar, dass Socialbots (Profile in sozialen Netzwerken, hinter denen Algorithmen stecken, nicht Menschen) sie bald arbeitslos machen werden. Natürlich müssen auch Schüler und Studenten, wenn sie sich einmal verwerten wollen, Reklame können. Das gilt für alle Fächer. Ein ärmliches Schülerreferat, das in Power Point gekleidet ist, erhält, wie mir mehrfach berichtet wurde, eine bessere Note als ein Armin Volkmar Wernsing: Lonely Rider – Das neoliberale Subjekt und die Bildung. – In: Beiträge zur Fremdsprachenvermittlung 57 (2016), S. 6 21 45 simpler, aber durchdachter Text. Wo in der Humboldtschen Universität Allgemeinbildung stand, die den Sinn fürs eigentliche Menschsein schärfen sollte, eine allgemeine Grundlage, in welcher dann die einzelnen fachlichen Fähigkeiten wurzeln sollten, die natürlich auch zu erwerben waren, dort steht jetzt als gemeinsame Grundlage: Reklame. In ihr wachsen die verschiedenen nachfragegesteuerten Kompetenzen. „All that is science, melts into PR“, um einen Satz von Mark Fisher zu variieren, der auf den bekannten Satz aus dem Kommunistischen Manifest anspielt. Zu den Versprechen, mit denen die Universitäten ihre potentiellen Kunden anlocken, gehört vor allem dies, dass sie zu „Leitern“ werden, ein Versprechen, das nicht zu halten ist, auch wenn die Verwaltung sich noch so sehr aufbläht. Doch man kann nicht Leiter lernen ohne Kenntnisse des Gebietes zu haben, auf dem die Geleiteten arbeiten. Die Spitzen der aufgeblähten akademischen Verwaltungen sind den von ihnen kontrollierten professoralen Arbeitern an fachlichen Erfahrungen heutzutage häufig unterlegen, ja sie rekrutieren sich, zumindest in meiner dänischen Heimat, gerne aus wissenschaftlich weniger qualifizierten Existenzen. Wie lernt man leadership? Das Zentrum für Lehrerbildung der Universität Köln begriff, was angesichts der großen Anzahl anpassungs- und unterwerfungswilliger Menschen nottut, und bestimmte als eine zentrale Aufgabe der Lehrerbildung, „neben der wissenschaftlichen Qualifizierung und der praktischen Ausbildung“, die Vermittlung von „Natural Leadership“, der Führungsfähigkeit, was aus deren Schülern notwendig Geführte macht. Die künstliche, darum ‘natürlich’ genannte Autorität soll erlernt oder irgendwie erworben werden anhand von Übungen mit Pferden, denen der Student bestimmte Bewegungen abverlangt, eine Methode, die auch schon bei der Ausbildung von Managern angewandt wurde. Ein 22jähriger Studierender hatte nach dem Pferdetraining diese Erkenntnis: „Das Pferd darf keinen Zweifel an mir bekommen; einfach fest weitergehen.“ Sicherlich die perfekte Devise für Führungspersönlichkeiten, mit denen die deutsche Geschichte, übrigens auch die Wirtschaft, gewisse Erfahrungen hat.22 Union der festen Hand heißt der hier einschlägige Roman von Erik Reger (1932). Die Kompetenzen, die so vermittelt werden sollen, bestehen nicht aus Wissen, sondern aus Informationen. Wissen will ein Ganzes, Informationen sind lose Teile. Wissen ist sowohl personenbezogen und immer unvollkommen als auch Selbstzweck, genauer: sein Zweck ist ein Mensch, der in ständigem Bemühen sich selbst und seine Stellung in der Welt zunehmend besser Armin Volkmar Wernsing: Über die Mühe (http://avwernsing.de/Didaktisches.html) 22 46 erkennt. Informationen hingegen fließen in digitalen Strömen an uns vorbei, damit wir sie zu diesem oder jenem Zweck, der uns immer wieder neu von außen vorgegeben wird, herausgreifen. Wer Wissen erwirbt, ist auf dem Weg zu sich selbst, wer Informationen benutzt, nicht um sie in einen bereits erarbeiteten Wissenszusammenhang zu integrieren, sondern um mit ihrer Hilfe sich in einem vorgegebenen Interessenzusammenhang nützlich zu erweisen, ist dabei, sich in ein verwertbares Werkzeug zu verwandeln. Darum kann man auch nicht, wie manchmal behauptet, das Lernen lernen; ohne vorgängiges Wissen, an das man anknüpfen kann, und kritisches Selberdenken, das die Anknüpfung leistet, lernt man nichts. Lernen kann man ohne Wissen ebenso wenig lernen wie Leiter.23 Darum kann man Wissenserwerb nicht standardisieren, auch wenn Technokraten, für die mit der computergestützten Quantifizierbarkeit das Zahlenparadies angebrochen ist, das nicht verstehen können.24 Die Standardisierung des Lernens aber ist das Ideal der sogenannten Kompetenzpädagogik, die den Lehrer zum „classroom-manager“ degradiert, der den Schülern hilft, später vom Computer gute Noten zu bekommen.25 Sie verspricht Vergleichbarkeit der Leistungen und damit die Lösung eines Problems, das bei Examina tatsächlich auftreten konnte, wenn nämlich die Examinierten, ohne über geschickte Techniken der Selbstdarstellung zu verfügen, mehr selber gedacht hatten, als die Examinatoren erwartet hatten und verstehen konnten. Dieses gelegentliche Problem wird aber unter der Bedingung der Weiteres über den Gegensatz von Wissen und Information bei Konrad Paul Liessmann: Theorie der Unbildung Die Irrtümer der Wissensgesellschaft. Wien 2006, Kap. 2. 24 In seinem letzten Aufsatz Über die Mühe hat Armin Volkmar Wernsing das entsprechende banausische Verständnis kritisiert: „Das entgegengesetzte utilitaristische Glaubensbekenntnis hat Andreas Schleicher, der Leiter der PISA-Studie, so formuliert: ‚Nicht was ich weiß, wird mir weiterhelfen, sondern das, was ich damit tun kann’. Nicht zur Sinnfindung und Selbstbestimmung soll dieses Wissen da sein, sondern zur Lösung jeweiliger konkreter (in der Regel wirtschaftlicher) Probleme dienen. Als guter Technokrat kann Schleicher sich etwas, von dem man etwas wissen kann, einschließlich des Menschen, der in dieser Konstruktion zu Humankapital mutiert, nur als Mittel vorstellen: ‚Einen ‚Wert’ stellt ein Akt oder ein Produkt unter diesen Umständen nur dann her, wenn dieser (bzw. dieses) ‚gut für etwas’, also kein Sinn ist, sondern einen hat.’ Von dieser Zielsetzung nimmt es seine Form und Bedeutung. Schleicher ist nicht der einzige, der glaubt, dass anwendbares (im Sinne der Wirtschaftsorganisation OECD profitables) Wissen sich von Fall zu Fall von Google und anderen Quellen herunterladen lasse.“ (http://avwernsing.de/Didaktisches.html). Hier finden sich auch die Zitatbelege. 25 Grundsätzlich hierzu weiterhin Andreas Gruschka: Der Bildungs-Rat der Gesellschaft für Bildung und Wissen (2015) (https://bildung-wissen.eu/fachbeitraege/derbildungs-rat-der-gbw.html) 23 47 Standardisierung, insbesondere der computerisierten, zu einem grundsätzlichen. Denn die Lernenden sollen gar nicht mehr selber denken. Vergleichbarkeit wird zunächst einmal erreicht durch ein gemeinsames Ausgangsniveau: das niedrigste. In Nordrhein-Westfalen konnten unvorbereitete Neuntklässler das Zentralabitur in Biologie bestehen, weil alle Lösungen schon im Aufgabentext standen.26 In Dänemark wurde vor Jahren ein neues, „objektives“ Notensystem eingeführt. Das erforderliche Wissen bei einer Prüfung sollte quantitativ definiert werden, und die Prüflinge sollten, je nach der Fähigkeit des Wiederkäuens, dann entweder die Bestnote bekommen oder einen entsprechenden prozentualen Abzug. Für ungewöhnliches Selberdenken ist da kein Raum, und wie man die erwartete Wissensmenge definiert, ist mir immer schleierhaft geblieben. Ich weiß nicht, wie weit die Lehrenden dieser Forderung nachgekommen sind, und ob man dann irgendwo auf die naheliegende Idee gekommen ist, die Prüflingen vorher lesen zu lassen, was sie alles wissen müssten. Jedenfalls ist der Notendurchschnitt, so weit ich sehe, deutlich gestiegen. Schließlich noch ein Zitat aus dem schon erwähnten Aufsatz von A V. Wernsing Über die Mühe: Der Vergleich war ja der Grund der Quantifizierung von Qualität im PISA-Test gewesen: Die Auflistung der gemessenen Schülerleistungen in einer Ranking-Tabelle sollte eine Konkurrenz unter den beteiligten Staaten etablieren und diese dadurch leichter beeinflussbar machen. [...]. Da in Deutschland ein Länder-Schulsystem existiert, gab es schon im Inland eine gewisse Wettbewerbssituation; so bot es sich an, durch eine unauffällige Herabsetzung der Anforderungen in einem Lande bessere Noten zu produzieren.27 Wenn ein solches Verfahren ‒ zum Beispiel die Ersetzung eigener Überlegung durch Kopieren eines Aufgabentextes, welcher die Lösung schon enthält ‒ Erfolg hat, weckt das sofort den Eifer des nächstgelegenen Schulministeriums, seinerseits auf Strategien zur Verbesserung des Notendurchschnitts zu sinnen. Ein schönes Beispiel dafür bietet das Land Hessen, das verfügte, ab 2016 nur noch zwei statt wie früher vier Punkte von der Note für Deutschklausuren abzuziehen, wenn darin mehr als fünf Prozent sprachlicher Fehler enthalten waren. Begründet wurde dieses Notenlifting mit einem Beschluss der Kultusministerkonferenz von 2012.28 Ein Wettbewerb unter den Bundesländern war eingeleitet, wer denn am wenigsten von den Schülern fordere, damit deren Noten immer besser und der Abiturienten immer mehr würden. Es konnte nicht fehlen, dass man kurzerhand die Zahlen selbst manipulierte, was angesichts der fantastischen Möglichkeiten der Prozentrechnung ein Kinderspiel ist: Damit die Berliner Schüler im Bundesvergleich nicht immer auf den hinteren Plätzen landen, hat die Schulbehörde vor einiger Zeit das Benotungssystem Hans Peter Klein / Jochen Krautz: Soll Qualität wirklich durch Notendumping gesichert werden? (FAZ 15. März 2012, Nr 64) 27 Über die diversen Methoden dieser Noten-Kosmetik durch Senkung der Anforderungen hat Hans Peter Klein berichtet: Vom Streifenhörnchen zum Nadelstreifen. Das deutsche Bildungswesen im Kompetenztaumel. Springer 2016 28 Matthias Trautsch, „Rechtschreibung: Fehler in Deutsch werden kaum noch gewertet“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. 12. 2016 26 48 reformiert und einen Nachteilsausgleich eingeführt. Mussten die Abiturienten vorher 50 Prozent der Aufgaben lösen, um eine Vier zu bekommen, reichen jetzt, wie in anderen Ländern, 45 Prozent. Für die Bestnote „Eins plus“ sind seither nicht mehr 100 Prozent nötig, sondern nur noch 95 Prozent.29 Die Herrschaft der Zahl, etabliert mit viel Gefasel von Vergleichbarkeit und Notengerechtigkeit, in Wahrheit die Einführung der Noten-Willkür, hat dazu geführt, dass die Erwartungen an die Lernleistung immer weiter heruntergeschraubt werden, was durch ein immer lauteres Getöse von „Qualitätsentwicklung“ kaschiert werden muss. Den Schülern ist dieser Wettbewerb um den bloßen Anschein von Erfolgen gewiss nicht verborgen geblieben. Sie haben daraus den Schluss gezogen, dass man sich keine Mühe geben muss, denn ohne geht es ja auch. In einem Beitrag meiner dänischen Zeitung Information vom 12. 11. 2018 über das zunehmende Plagiieren – die dänischen Studenten haben es nicht erst von deutschen Politikern gelernt –, gesteht ein Student freimütig, die Lektüre eines ganzen Lesestoffes für ein Semester koste zuviel Zeit und hindere ihn daran, nebenbei Geld zu verdienen. Daher suche er im Internet brauchbare Stellen heraus, die er dann, leicht umformuliert, in seinen Text einsetze (copy and past). Übrigens schreibt man hier von „Plagiatskultur“, nicht überraschend, seitdem die Sprachwissenschaftler den Kulturbegriff wertneutralisiert haben. Solche Mühelosigkeit setzen auch die Multiple-Choice-Tests voraus, welche die Kompetenzen messen. Das können sie nur, wenn Eindeutigkeit hergestellt wird. Ein Beispiel, wieder von V. A. Wernsing: Der folgende Test des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) führt mit dem Text einer SMS vor, wie eine kuschelige Einfachheit zum Thema „zwischenmenschliche Beziehungen“ in der Sekundarstufe I realisiert wird (vgl. IQB 2013): Sofia: Je stresse énormément avant le contrôle des maths demain. Je n’ai pas tout compris. Et toi? Tu vas mieux? Bisous Teilaufgabe 1: Sofia ... o A: raté un contrôle o B: va écrire un contrôle o C: se moque d’un contrôle Teilaufgabe 2: Sofia: o A: a peur o B: va bien o C: est malade Der Aufgabensteller hat trotz des Verbs „stresser“ offensichtlich keine Ahnung von französischer Jugendsprache. Stattdessen stellt er etwas in Inhalt und Sprache Eingängiges, Eindeutiges für Schülerinnen und Schüler her; und wenn das nicht vorhanden ist, dann muss man es eben künstlich produzieren.30 Alexander Neubacher, „Das Prinzip Berlin-Zulage“, Der Spiegel, 51 (2016), S. 12 Armin Volkmar Wernsing: Notwehr Literatur. – In: Französisch heute 46 (23015), H. 2, S. 29 30 49 Machen wir uns nichts vor: Die Mühe des Denkens wird ersetzt durch den Stress dauernder Teststeuerung und vieler anzukreuzender Kästchen; nicht immer sind es so wenige wie in diesem Beispiel. Die Identitätsarbeit wird schließlich auch überflüssig, denn jeder Studierende bekommt, wenn die technokratische Vision sich erfüllt „ein Notebook mit eigener Identität“31, das heißt mit der für ihn zugeschnittenen Weise, die von politökonomischen Organisationen vorgegebene Identität zu verwirklichen. Davor, von den emotionalen Stürmen in den Internetmedien hin und her geworfen zu werden, beschützt ihn das allerdings nicht. Nun muss man zugeben, dass die Kompetenzpädagogik nicht nur bestimmten Profitinteressen dient, sondern auch auf das Problem antwortet, dass wir heutzutage von Informationen aus den digitalen Systemen überschwemmt werden. Dass Studenten keine längeren Texte mehr lesen können, liegt auch daran, dass sie ihr ganzes kurzes bisheriges Leben lang auf Kurzmitteilungen trainiert worden sind. Dagegen müssten die Bildungseinrichtungen, wenn sie diese Bezeichnung verdienen sollen, Widerstand einüben. Statt mit digitaler Technik anpassungsbereite vereinzelte Konkurrenzkämpfer im Dschungel der Wirtschaftsinteressen herzustellen, die notwendig als Banausen reden, wenn sie über Kunst urteilen, anstatt weiterhin miteinander zu streiten, wer die meisten Tablets einsetzt, stattdessen müssten die Bildungseinrichtungen, die diese Bezeichnung verdienen sollen, zu Inseln der Muße werden in der Art von Epikurs philosophischem Garten, zu Stätten ruhiger Lektüre, nachdenklichen Gesprächs und spielerischen Lernens. Natürlich kann man, so wie man früher in einem Lexikon nachschlug, dabei auch einmal in einem Smartphon nachschauen. Oder man kann, so wie mein verstorbener Freund Armin Volkmar Wernsing es zu Beginn des Computerzeitalters zusammen mit seiner Französischklasse tat, ein Computerspiel entwerfen, in dem ein Verbrecher mit der Pariser Métro flüchtet; bei jeder Station, die sie berühren, müssen die Verfolger auf Französisch eine Frage zur Bedeutung des Stationsnamens beantworten. So ist man nicht nur kreativ, man lernt auch etwas über Computertechnik, über französische Sprache, Geschichte und Geographie. Aber dazu ist ein Lehrer erfordert, kein classroom manager. 31 Armin Volkmar Wernsing: Über die Mühe 50 Der philosophische Garten ist die heitere Option, die sich ihrer Unmöglichkeit bewusst ist. Glaubt man noch an ein Weiterleben der menschlichen Zivilisation, so sollte man sich mit der „monastischen Option“ von Morris Berman auseinandersetzen. In seinem Buch Kultur vor dem Kollaps (2002; Amerikanisch: The Twilight of American Culture, 2000), einem erschreckenden Bericht über den Untergang der amerikanischen Intelligenz, aus dem ich hier oft und zustimmend hätte zitieren können, schlägt er, von Ray Bradburys Fahrenheit 451 inspiriert, kleine, abgeschlossene Intellektuellengruppen vor, die das Wissen vor der Vernichtung bewahren, so wie die Klöster es, freilich ohne dass es den Mönchen bewusst war, über den Untergang der antiken Welt retteten. Dabei wären allerdings nicht nur große Schwierigkeiten zu überwinden – kann man sich überhaupt dem digitalen Betrieb entziehen? – man muss auch an eine künftige Renaissance glauben. 51