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IFB-Rezension Reden an die deutsche Nation / Johann Gottlieb Fichte. Mit einer Einleitung hrsg. von Alexander Aichele

BA PHILOSOPHIE; WELTANSCHAUUNG Personale Informationsmittel Johann Gottlieb FICHTE Reden an die deutsche Nation EDITION 09-1/2 Reden an die deutsche Nation / Johann Gottlieb Fichte. Mit einer Einleitung hrsg. von Alexander Aichele. - Hamburg : Meiner, 2008. - LXXXIX, 254 S. ; 20 cm. - (Philosophische Bibliothek ; 588). - ISBN 978-3-7873-1856-8 : EUR 19.80 [#0368] Die Schrift des Philosophen Fichte, die hier in einer Neuausgabe vorgelegt wird (eine Bibliographie der bisherigen Einzelausgaben findet sich S. 253 254), nimmt in der Philosophiegeschichte eine besondere Stellung ein. Denn es gibt durchaus Gründe zu bezweifeln, daß sie überhaupt als eine philosophische Schrift zu betrachten und also entsprechend ernst zu nehmen ist. Die Reden an die deutsche Nation weisen bereits im Titel auf eine gewisse Provinzialität oder Beschränktheit hin, die der Philosophie an sich nicht eigen ist, da sich die Reden eben an die Deutschen im Unterschied zu allen anderen wenden und damit auch zu einem Gründungstext des modernen deutschen Nationalismus wurden. Die neue Ausgabe des Textes im Rahmen der Philosophischen Bibliothek des Meiner-Verlages stellt dem im wesentlichen historisch gewordenen Text eine sehr ausführliche Einleitung von Alexander Aichele voran, die die wesentlichen Aspekte abgewogen diskutiert und auch auf die einschlägige Literatur verweist. Dabei weist Aichele auch die in der Sekundärliteratur anzutreffende Auffassung zurück, Fichte habe mit seinem Text eine Art "Rassismus für Gebildete vermittels philosophischer Legitimation der Ausgrenzung alles Undeutschen" geboten (S. LXXIV, Fn. 99). Obwohl Fichte das Deutschtum klar bevorzuge, finde sich nirgends ein Verweis auf ethnische oder biologische Kriterien zu seiner Bestimmung. Im Sinne einer präzisen Begriffsverwendung plädiert Aichele dafür, sich nicht der Entgrenzung des Rassismus-Begriffs anzuschließen, die mit jenem Vorwurf verbunden sei. Daß sich Fichtes Konzeption nicht als rassistisch beschreiben läßt, heißt indes nicht, daß sie unproblematisch wäre - vielmehr sei sie mit Hermann Lübbe als Form des "gelehrten Chauvinismus" zu bezeichnen, was auch deutlich macht, daß damit Fichtes Position nicht "appetitlicher" noch "gerechtfertigter" erscheint (S. LXXIV). Die Aufnahme der Schrift Fichtes war, wie Aichele darlegt, in der Rezeptionsgeschichte keine philosophische, sondern eine solche im Rahmen der historisch-politischen Auseinandersetzungen zu bestimmten Zeiten. Zu- stimmung fand Fichtes Text etwa bei Wilhelm Wundt, der sie zusammen mit anderen Schriften Fichtes als "die edelsten Erzeugnisse des deutschen Idealismus neben den Werken Goethes und Schillers" bezeichnete, die "in keiner Bibliothek eines gebildeten Deutschen fehlen" sollten (S. LXXV), ohne sie indes in irgendeiner Weise philosophisch zu analysieren. Die Rezeption erfolgte in "mehreren historischen Schüben", im Kontext der Befreiungskriege, des erstarkenden Nationalismus und Sozialismus im 19. Jahrhundert, dann um den Ersten Weltkrieg herum sowie selbstverständlich im Nationalsozialismus, wobei die Indienstnahme zu ideologischen Zwecken oft sehr selektiv gewesen sei (S. LXXVI). Danach kann nicht mehr von einer nennenswerten Rezeption des Textes gesprochen werden.1 Die Rezeptionshinweise beschränken sich hier weitgehend auf die Zeit des 19. Jahrhunderts, weil die spätere Rezeption schon in einschlägigen Studien behandelt worden ist. Aichele konzentriert sich daher auf die preußischen Reformer, Heinrich von Treitschke und Ferdinand Lassalle. Die Wirkung auf die preußischen Reformer läßt sich aber nur ansatzweise aufzeigen, am ehesten noch bei Clausewitz, der sich aber auf den Machiavelli-Aufsatz Fichtes stützt. Bei Treitschke läßt sich eine Wirkung insofern zeigen, als er sich nicht nur als Historiker positiv auf Fichte bezieht, sondern nicht zuletzt in Gegenüberstellung zur angelsächsisch-westlichen Freiheitsvorstellung eines John Stuart Mill eine genuin deutsche Freiheitskonzeption theoretisch und praktisch zu fassen suchte. Lassalles schließlich gilt als die präzisere und weniger eklektische, wovon er in einer Rede anläßlich des 100. Geburtstag Fichtes am 19. Mai 1862 Zeugnis ablegt. Lassalle zielt im Geiste Fichtes auf die Errichtung eines deutschen Nationalstaates, die damals erst vor der Türe stand und die dann Anlaß gäbe für "das wahre Fest Fichtes, die Vermählung seines Geistes mit der Wirklichkeit", wie Lassalle sagt (S. LXXXVIII). Abschließend mag man fragen, wie realistisch die Erwartung Aicheles ist, daß die philosophische und politische Radikalität der Fichteschen Reden an die deutsche Nation weiterhin die wissenschaftliche Diskussion zu befeuern vermögen - "und zwar im Sinne der kritischen Aufklärung und Prüfung mittlerweile allgemein als tauglich angesehener und selbstverständlich erscheinender philosophischer und politischer Prinzipien, die in deutlichem Kontrast zu den von Fichte vertretenen Positionen an deren Stelle getreten sind" (S. LXXXIX). So oder so - die Meiner-Ausgabe stellt jedenfalls den Text zur Verfügung, mittels dessen eine solche Diskussion stattfinden könnte, auch wenn es im Moment nicht danach aussieht. Till Kinzel QUELLE Informationsmittel (IFB) : digitales Rezensionsorgan für Bibliothek und Wissenschaft http://ifb.bsz-bw.de/ 1 Als Ausnahme sei verwiesen auf Die Deutsche Nation / Bernard Willms. - KölnLövenich : Edition Maschke / Hohenheim, 1982, S. 81 - 82.