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Arbitrium 2017; 35(3): 310–315 Markus Stock (Hg.), Alexander the Great in the Middle Ages. Transcultural Perspectives. University of Toronto Press, Toronto u. a. 2016. 281 S., € 46,–. Faustina Doufikar-Aerts, Alexander Magnus Arabicus. A Survey of the Alexander Tradition through Seven Centuries: from Pseudo-Callisthenes to Ṣūrī. Peeters, Leuven u. a. 2010. 416 S., € 65,–. Besprochen von Falk Quenstedt: Freie Universität Berlin, Institut für deutsche und niederländische Philologie, SFB 980 „Episteme in Bewegung“, Schwendener Straße 8, D-14195 Berlin, E-Mail: falk.quenstedt@fu-berlin.de https://doi.org/10.1515/arbi-2017-0109 Transkulturalität bezeichnet eine Perspektive auf kulturelle Ordnungen, die diese nicht als distinkte, statische Einheiten, die nur unter besonderen Umständen in Interaktion treten, sondern als immer schon in komplexer Weise verbundene und sich ständig neu verschlingende Geflechte unterschiedlicher Traditionen begreift. Das impliziert bereits, dass Transkulturalität keine allein gegenwartsbezogene Analysekategorie ist, sondern auch auf die Vormoderne angewendet werden kann. Dies scheint auch deshalb geboten, weil identitätsstiftende Narrative nationaler, religiöser und anderer Art im Hier und Jetzt häufig die Homogenität historischer kultureller Entitäten behaupten. Eine transkulturell ausgerichtete Vormoderne-Forschung kann solchen ideologisch bedingten Erzählungen, die auch die Nationalphilologien in ihrem Ursprung prägten und unterschwellig immer noch wirksam sind, kritisch begegnen – und dabei neue Perspektiven auf bekannte Texte eröffnen. Auch weil diese oft selbst Teil transkultureller Transferprozesse sind und hybride Gefüge unterschiedlicher Traditionen bilden. In ganz besonderem Maße gilt das für den vormodernen Alexanderroman. Er geht zurück auf die griechische Version des Pseudo-Kallisthenes, die vermutlich im 3. Jahrhundert in Alexandria entstand. Der Text bildet nicht nur selbst ein F. Quenstedt: Studien über Alexander den Großen 311 Geflecht verschiedener literarischer und kultureller Einflüsse, sondern ist auch Ausgangspunkt einer umfangreichen und weitverzweigten Texttradition in Asien, Afrika und Europa. Damit ist Alexander der Große eine Kristallisationsfigur vormoderner Transkulturalität – nicht nur aus europäischer Perspektive. In der jüngeren Forschung haben sich bereits mehrere Veröffentlichungen dem Alexanderroman in transkultureller Perspektive gewidmet (wenn auch nicht explizit unter diesem Label) und dabei wichtige Grundlagenarbeit geleistet: Kombinierte Darstellungen verschiedener Traditionen schärften den Blick für Gemeinsamkeiten und Unterschiede;1 Sammelbände2 und Einzeluntersuchungen3 stellten vermeintlich selbstverständliche kulturelle Grenzen in Frage. Die dabei notwendige Verständigung verschiedener Fächer kann auf unterschiedliche Weise hergestellt werden: durch Kollaborationen, aber auch durch Überblicksdarstellungen, die literarische Traditionen jeweils Fachfremden zugänglich machen. Exemplarisch für diese beiden Herangehensweisen können die hier zu besprechenden Veröffentlichungen stehen: Der von dem germanistischen Mediävisten Markus Stock herausgegebene Sammelband geht dabei den Weg der interdisziplinären Zusammenarbeit; die von der Arabistin Faustina Doufikar-Aerts verfasste Studie erklärt es explizit zu einem ihrer Ziele, Nicht-Arabisten einen Zugang zu der verschlungenen arabischen Alexandertradition zu ermöglichen. Beide Bände sind mit großem Gewinn zu lesen. Während der Sammelband neben theoretischen Anregungen ein breites Spektrum beeindruckender Detailbeobachtungen bietet, füllt die bereits 2010 erschienene Studie von Doufikar-Aerts ganz klar ein Desiderat der arabistischen Alexanderforschung und hat sich schon aus diesem Grund bereits jetzt zu einem regelrechten Standardwerk entwickelt. 1 David Zuwiyya (Hg.), A Companion to Alexander Literature in the Middle Ages. Leiden – Boston 2011; Richard Stoneman, Alexander the Great. A Life in Legend. New Haven u. a. 2008. 2 Richard Stoneman / Kyle Erickson / Ian Richard Netton (Hgg.), The Alexander Romance in Persia and the East. Barkhuis 2012; Margaret Bridges / Catharine Gaullier-Bougassas (Hgg.), Les Voyages dʼAlexandre au paradis: Orient et Occident, regards croisés. Turnhout 2013; Catherine Gaullier-Bougassas (Hg.): La fascination pour Alexandre le Grand dans les littératures européennes (Xe-XVIe siècle): réinventions dʼun mythe. Turnhout 2014; vgl. auch den Bericht zum von Tilo Renz und mir organisierten Workshop Erzählungen von Alexander zwischen Asien und Europa am SFB 980 „Episteme in Bewegung“ der Freien Universität Berlin: http://www.sfb-episteme.de/Listen_R ead_Watch/berichte/workshop_b02_erzaehlungen-von-alexander/index.html (13.08.2017). 3 Julia Rubanovich: „A Hero Without Borders: Alexander the Great in the Medieval Persian Tradition“. In: Fictional Storytelling in the Medieval Eastern Mediterranean and Beyond. Hg. von Carolina Cupane und Bettina Krönung. Leiden – Boston 2016, S. 210–33; Daniel L. Selden: „Mapping the Alexander Romance“. In: The Alexander Romance in Persia and the East (wie Anm. 2), S. 19–59. 312 Falk Quenstedt Der von Markus Stock herausgegebene Sammelband, der aus einer Konferenz an der University of Toronto hervorgegangen ist, beansprucht in seinem Titel, transkulturelle Perspektiven auf die Alexandertradition zu bieten. Er versammelt, neben der sehr anregenden Einleitung des Herausgebers, zwölf Beiträge aus unterschiedlichen Disziplinen (Philologie/Literaturwissenschaft (8), Geschichtswissenschaft (2) und Kunstgeschichte (2)), die eine Fülle von Versionen des Alexanderromans in Mittelalter und Früher Neuzeit behandeln – Texte, die in einer Vielzahl von Gelehrten- und Volkssprachen verfasst sind (wie Anglo-Normannisch, Arabisch, Deutsch, Englisch, Französisch, Hebräisch, Latein, Malaiisch, Persisch). Gemäß der transdisziplinären Ausrichtung des Bandes sind die Beiträge in ihren unterschiedlichen Zugriffen und Materialien sehr heterogen. In der systematisierenden Einleitung („The Medieval Alexander: Transcultural Ambivalences“) hebt der Herausgeber hervor, dass bestimmte „nodes of fascination“ (S. 10), die im Roman angelegt sind, nicht nur in der europäischen Tradition immer wieder aufgegriffen werden, sondern es oft die gleichen Aspekte sind, die auch nicht-europäische Bearbeitungen des Romans umtreiben. Ein Überblick benennt verschiedene solcher Themen, die in mehreren Beiträgen des Bandes virulent sind: etwa die Ambivalenz von Hybris-Kritik und Bewunderung Alexanders, der Bezug zu imperialen Ordnungen, Fragen von legitimer Herrschaft und Machtausübung oder die Darstellung des Weltrands als Erfahrungsraum des Wunderbaren und damit zusammenhängende Verhandlungen von „alterity and identity“ (S. 5). Stock spricht auch unterschiedliche Ebenen der Transkulturalität Alexanders und der Romantradition an: die historische Figur, die Hybridität des textgeschichtlichen Materials, den Zusammenhang von Transfer und Re-Kontextualisierung oder eben die Darstellung von Alteritätserfahrung in der Diegese. Die Artikel lassen sich schwerpunktmäßig und in ihrem systematischen Zugriff solchen Ebenen oder Themen zuordnen. Es ist ein kleiner Wermutstropfen, dass sich diese systematischen und thematischen Verbindungen nicht in Anordnung und Gruppierung der Artikel abbilden. Das wäre insofern im Sinne des transkulturellen Ansatzes gewesen, als aus den Analysen gewonnene Kriterien es ermöglichen, von disziplinären, historischen oder ‚kulturtopographischen‘ Ordnungskategorien abzusehen. Der folgende Überblick orientiert sich an den letztgenannten Ebenen. Zur historischen Figur: Der Beitrag von Thomas Hahn („East and West, Cosmopolitan and Imperial in the Roman Alexander“) unternimmt eine Neuperspektivierung der Romantradition vor dem Hintergrund eines dem griechischen Roman inhärenten hellenistischen „Kosmopolitismus“ (S. 18), eines zentralen Prinzips der imperialen Machtpraxis Alexanders des Großen. Hahn kontrastiert diese Tradition mit der als ‚metropolitan‘ bezeichneten Alexanderdarstellung in der römischen Geschichtsschreibung, die den pragmatischen ‚Transkulturalismus‘ (S. 23) der Herrschaftspraxis Alexanders als Dekadenzprozess darstellt, der den Herrscher immer weiter von Studien über Alexander den Großen 313 einem ‚reinen‘ Zentrum in eine ‚unreine‘ Peripherie gelangen lässt. Daran zeigt sich deutlich eine Diversität des Umgangs mit Transkulturalität in der Vormoderne. Emily Reiner („Meanings of Nationality in the Medieval Alexander Tradition“) fragt nach den Funktionen unterschiedlicher ‚Nationalitäten‘, die Alexander in verschiedenen Texten (Chroniken, Alexandreis von Walter von Châtillon, anglonormannischer Alexanderroman des Thomas von Kent) zugeschrieben werden: ‚Makedone‘ hebt ihn als heilsgeschichtliche Figur hervor; ‚Trojaner‘ markiert ihn als Europäer; ‚Ägypter‘ akzentuiert seine Nähe zu Wissen und Magie. Komplex ist seine Bezeichnung als ‚Grieche‘, die ihn als Wissensfigur (Aristoteles) fasst oder auch als ‚besseren‘ Byzantiner. Zur Hybridität des Materials: Faustina Doufikar-Aerts („Coptic Miniature Painting in the Arabic Alexander Romance“) untersucht die Berliner Handschrift (Ms. or. fol. 2195) eines von ihr entdeckten arabischen Alexanderromans (siehe dazu unten), die in Text und Bild eine „fusion of traditions“ (S. 169) bildet. Während die Miniaturen der koptischen ikonographischen Tradition des 17. Jahrhunderts zugeordnet werden können, überliefert uns der arabische Text „an Alexander Romance that reveals a mixture of Islamic, Christian, and Jewish features“ (S. 168). Auch der Beitrag von Maud Pérez-Simon („Science and Learning in the Middle Ages: Le Roman d’Alexandre en prose – A Study of Ms Stockholm, Royal Library Vu 20“) widmet sich einem einzelnen, Mitte des 14. Jahrhunderts wahrscheinlich in Zypern entstandenen Manuskript, das ebenfalls durch eine besondere Hybridität gekennzeichnet ist. Im Fokus stehen hier Strategien der Anreicherung eines Erzähltextes mit Versatzstücken wissensvermittelnder Texte (hier mit Passagen aus dem Secretum Secretorum, dem Livre du Tresor und De septem herbis ad Alexandrum; S. 219). PérezSimon zeigt, wie in der Handschrift mithilfe von Illustrationen textuelle Nahtstellen camoufliert werden, wobei besonders anschaulich wird, wie in vormodernen Prozessen des Wissenstransfers Stabilitätsinszenierungen tatsächliche Innovationen zu verdecken suchen. Solche fluiden Grenzen zwischen Literatur und Wissen in der Vormoderne sind auch Thema des Beitrags von Shamma Boyarin („Hebrew Alexander Romance and Astrological Questions: Alexander, Aristotle, and the Medieval Jewish Audience“), der im Schreiberkolophon eines Alexanderromans Strategien ausmacht, den Text in einen zeitgenössischen jüdischen Wissenszusammenhang einzuschreiben. In Fragen des Zusammenhangs von Transfer und Re-Kontextualisierung führt auch der ausführliche Artikel von Christine Chism ein („Facing the Land of Darkness: Alexander, Islam, and the Quest for the Secrets of God“). Im Zentrum stehen die mit Alexander gleichgesetzte koranische Figur Dhūʾl-Qarnayns (Sure 18, 83–98) und ein andalusischer Erzähltext, Qissat Dhulqarnayn; letzterer stilisiere Alexander/Dhūʾl-Qarnayn zu einem „exemplar not of world conquest and mortality, but of the breadth of divine knowledge and the depth of human ignorance“ (S. 51). Die Sure berichtet, dass Dhūʾl-Qarnayn von Gott in besonderer Weise mit Macht und Wissen ausgestattet war; er besuchte die Enden der Welt in Ost und West und schloss die Völker Gog und Magog ein. Die Verbindung zu Alexander impliziert aber ein Dilemma, da es sich um eine durch Hybris gekennzeichnete Figur handelt. Alexander/Dhūʾl-Qarnayn wird laut Chism im Qissat Dhulqarnayn damit zum Repräsentanten eines „deep-running epistemological problem in Islamic culture“ (ebd.), eines Widerspruchs zwischen dem Imperativ zur Wissenssuche und der Vergeblichkeit menschlichen Wissensstrebens angesichts der unerschöpflichen Weisheit Gottes. Ruth Nisse („Diaspora as Empire in the Hebrew Deeds of Alexander [Ma’aseh Alexandros]“) beleuchtet, wie in Alexander-Berichten, vor allem dem Alexanderroman als Interpolation im Sefer Yosippon (Mitte des 11. Jahrhunderts), Alexander auf ein fernöstliches jüdisches Reich trifft, das eine historisch-utopische Alternative zum Römischen Reich darstellt. Die Bewohner dieses jüdischen Großreiches haben von der Zerstörung des zweiten Tempels 314 Falk Quenstedt noch nicht einmal gehört und besitzen einen eigenen, unversehrten Tempel (was an den Priesterkönig Johannes und die zwei Tempel des Jüngeren Titurel erinnert). Der Beitrag zeigt, wie die heilsgeschichtliche und imperiale Relevanz der Alexander-Figur sowie ihr Bezug zum Fernen Osten einem jüdischen ‚counter-narrative‘ Geltung verschaffen können. Su Fang Ng („The Alexander Romance in Southeast Asia: Wonder, Islam and Knowledge of the World“) widmet sich in einem der spannendsten Beiträge des Bandes dem frühneuzeitlichen malaiischen Hikayat Iskandar Zulkarnain und berührt dabei Alteritätsdarstellungen auf der Ebene der Diegese. Die kulturelle Aneignung des Romans dient mehreren Zwecken: Der Transfer aus dem Arabischen in die Volkssprache intensiviert nicht nur islamische Identität, sondern befördert auch eine Öffnung und Aneignung der größeren Welt (S. 119). Darstellungen von otherness ermöglichen dem ungelehrten Publikum – die Parallelen zu volkssprachlichen Literatur um 1200 sind hier schlagend – einen Zugang zum Fremden. Missionsnarrative, die auch ein islamisches Deutungswissen mitgeben, inkorporieren Fremdes (wie monströse Völker) in das Eigene, ohne deren Andersheit zu reduzieren (vgl. die Arimaspi im Herzog Ernst). Schließlich wird Alexander auch zur genealogischen Ursprungsfigur malaiischer Akteure, was die Autorin mit dem Widerstand gegen die Portugiesen in Zusammenhang bringt (S. 107). Julia Rubanovich („Re-writing the Episode of Alexander and Candace in Medieval Persian Literature: Patterns, Sources and MotifTransformations“) untersucht Veränderungen der Candace-Episode in persischen AlexanderTexten, stets auch im vergleichenden Blick auf die europäische Tradition. Wird Candace im Rahmen des höfischen Liebesdiskurses meist erotisiert und in der Folge durch Alexander dominiert, fehlt diese Dimension in den persischen Traditionen. Candace erhält andere Funktionen: In historiografischen Texten eher ausgeblendet, hat die Episode in den klassischen Narrativen von Firdausī und Niẓamī zentrale Bedeutung als ein „turning point in Alexander/ Iskandar’s education“ (S. 132), weil die kluge Candace ihn zur Selbsterkenntnis führt. Mystische Texte nehmen diese Funktionalisierung auf und etablieren eine Art Lehrerinnen-Schüler-Verhältnis (S. 141). Der positive Gesamteindruck des Bandes wird dadurch etwas beeinträchtigt, dass drei der Beiträge Fragen der Transkulturalität nur am Rande berühren: Sylvia A. Parsons („Poet, Protagonist, and the Epic Alexander in Walter of Châtillon’s Alexandreis“) Interesse gilt der poetologischen Selbstreflexivität ihres Untersuchungsgegenstandes. Der Kunsthistoriker Thomas Noll („The Visual Image of Alexander the Great: Transformations from the Middle Ages to the Early Modern Period”) verfolgt Veränderungen der Alexander-Ikonographie in der europäischen Frühen Neuzeit, wie etwa das plötzliche Abbrechen der im Mittelalter prädominierenden Greifenflugdarstellungen. Klaus Grubmüller („Instrumentum Dei, Exemplum vanitatis, Speculum principis. Interpretations of Alexander in Medieval German Literature: A Survey“) gibt einen Überblick über die deutschsprachige mittelalterliche und frühneuzeitliche Alexander-Tradition und beschreibt gemäß seinem Titel vor allem drei unterschiedliche Funktionen der Figur. Ein solcher Überblick – erstmals in englischer Sprache – ist zwar zu begrüßen, auch wegen seines Fokus auf die wenig erforschten frühneuzeitlichen Texte, leider bleiben aber gerade transkulturelle oder hybride Aspekte weitgehend unberücksichtigt. Studien über Alexander den Großen 315 Die Studie von Faustina Doufikar-Aerts – eine englische Übersetzung ihrer niederländischen Dissertation (Leiden 2003) – bietet in ihrem ersten Teil erstmalig einen Gesamtüberlick über die arabische Alexandertradition, wobei sie vielfältige Verbindungen zu anderen kulturellen Traditionen aufzeigt. Berücksichtigt sind alle Texte und Textausschnitte des gesamten arabischen Raums für eine Zeitspanne von 700 Jahren; Inklusionskriterien sind allein die Sprache ‚Arabisch‘ und die Thematisierung der Alexander-Figur. Nach einem einführenden Forschungsüberblick ordnet die Autorin ihr einschüchternd umfangreiches Material drei unterschiedlichen, von ihr vorgeschlagenen Traditionen zu: der Pseudo-Kallisthenes-Tradition (Kap. 1, S. 13–91), die sehr viel umfassender ist, als von der Forschung bislang behauptet (S. 77) und Alexander vor allem als „king of kings’“ (89) darstellt; der Weisheitsliteratur (Kap. 2, S. 93–133), die ihn als Philosophen-König zeigt (S. 113–120); und der stärker religiösen Dhūʾl-Qarnayn-Tradition (Kap. 3, S. 135–193), in der Alexander/Dhūʾl-Qarnayn als „pious ruler“ (S. 190) und als Gesandter Gottes erscheint. Der Autorin gelingt es dabei, anhand einer von ihr neu entdeckten Handschrift (Bibliothèque Nationale Paris, Ms. arab. 3687) mit einem bislang unbekannten Alexanderroman (Sīrat al-Malik Iskandar Dhū ’l-Qarnayn) der auf Pseudo-Kallisthenes beruhenden Tradition eine neue textgeschichtliche Grundlage zu schaffen. Bei dem Text aus dem 17. Jahrhundert handelt es sich – das kann Doufikar-Aerts in scharfsinnigen Analysen evident machen (S. 58–73) – um eine Version der bislang verloren geglaubten arabischen Übersetzung des syrischen Alexanderromans aus dem 7. Jahrhundert, welche die Grundlage der arabischen Romantradition bildet. Die Diskussion der sich daraus ergebenden textgeschichtlichen Neubewertungen ist in die Beschreibungen der verschiedenen Alexander-Texte eingebunden, was teilweise aufgrund von deren Kleinteiligkeit und der Vielzahl der genannten Versionen verwirren kann. Allerdings bekommen fachfremde Leser dadurch auch einen Einblick in die Lage der arabistischen Alexanderforschung, die – da viele Texte noch nicht ediert sind und manche womöglich noch ihrer Entdeckung harren – einiges an Innovationen für die transkulturelle Forschung verspricht. Der zweite Teil der Studie (S. 230–368) besteht aus der erstmaligen Beschreibung der Sīrat Al-Iskandar wa mā fīhā min al-ʿAjāʾib wa ’l-Gharāʾib („Die Biographie Alexanders und ihre wundersamen und seltsamen Begebenheiten“), wie sie in den Istanbuler Manuskripten Aya Sofya 3003–3004 erscheint. Faszinierend an diesem Text sind neben seiner großen Erzählfreude hinsichtlich des Wunderbaren auch vielfältige Parallelen zu europäischen Texten, wie etwa zwischen der Vorgeschichte zu Alexanders Eltern und der Inzesthandlung, wie sie in Hartmanns von Aue Gregorius erscheint. Beide Veröffentlichungen machen sich um eine transkulturelle Alexanderforschung in hohem Maß verdient und geben überhaupt einen plastischen Eindruck von den komplexen transkulturellen Verflechtungen zwischen europäischer und nicht-europäischer Literatur in der Vormoderne. Die transkulturelle Perspektive wirft nicht nur eine Fülle neuer systematischer wie literaturgeschichtlicher Fragen auf, sondern deutet auch auf ganze Textkomplexe hin, die bislang noch wenig untersucht, ja, teilweise nicht einmal ediert sind. Ihre Erforschung wird mit großer Wahrscheinlichkeit dazu beitragen, die unangemessene Enge nationalsprachlicher oder rein (west-)europäisch beschränkter Literaturgeschichtsschreibung zu überwinden.