Iran
späten Sowjetzeit beschäftigt. Als schwierig erweist sich
dabei, dass die Eigenangaben in den Zensuserhebungen
die Unterscheidung zwischen „Central Asian Jews“ und
„Jews“ oft nicht klar durchgehalten wurde. Dies ist ein
Motiv, das sich durchgängig durch viele Beiträge zieht: die
teils reale, teils imaginierte Trennung zwischen russischen
Aschkenasim und den tadschikischen Juden Bucharas.
Zu den gelungendsten Artikeln gehört die Aufzeichnung von Lebenswegen bucharischer Juden außerhalb der
Sowjetunion, vor allem in den 1930er und 1940er Jahren,
wie sie Sara Koplik schildert. Die dramatische Situation
von jüdischen Flüchtlingen aus Zentralasien in Afghanistan wird anhand von britischem Archivmaterial dargestellt; ihre späteren Fluchtwege über Indien nach Palästina
anhand von Unterlagen aus den Central Zionist Archives
(Jerusalem). Die Versuche bucharischer Juden mit oft gefälschten afghanischen Pässen in anderen Ländern Zuflucht zu finden, waren zum Teil erfolgreich. Eine faszinierende Detailgeschichte zeigt, wie es einer Gruppe in
Frankreich gelang, als „Jugutis“ (angeblich arische Tadschiken, die judaischen Riten folgten) der Verfolgung zu
entkommen. Der folgende, sehr knappe Beitrag von Albert
Kaganovich, vermittelt einen faktenorientierten Überblick
zu den wichtigsten Diasporagemeinden bucharischer Juden in Israel, Europa und den USA.
Vier von Umfang und Ausrichtung sehr unterschiedliche, aber höchst anregende Kapitel sind dem Bereich von
Erinnerungsliteratur und Oral History gewidmet. Sie untersuchen zurückblickend die Wahrnehmung vor allem der
Sowjetzeit und einzelne Biographien. Ingeborg Baldauf
überzeugt mit ihrer analytischen Lektüre der 1990/91 erschienenen gulag-Memoiren von Shukrulloh Aka; ergänzt
durch Interviews, die sie mit dem Verfasser führen konnte.
Zwei Beiträge von Thomas Loy schließen sich direkt an.
Der erste beschäftigt sich mit dem Autor und Dichter Mordekhay Bachayev (1911–2007) und seinen Prosamemoiren,
die unter dem Titel Dar juvoli Sangin erschienen. Eine faszinierende Lebensgeschichte, die von seiner frühen journalistischen und dichterischen Tätigkeit in den späten
20ern und frühen 30er Jahren über seine Verbannung und
Inhaftierung bis zu seinem Weg ins Exil 1973 reicht. Schon
die Frage allerdings, ob man bei der Übersiedlung nach
Israel von Exil sprechen kann, zeigt welche Widersprüche
hier entstehen. Ein ganz anderer Lebenslauf wird mit der
Narrative von Abrasha Arkadi vorgestellt, den Thomas Loy
in Samarkand interviewen konnte. Sehr anschaulich wird
die unterschiedliche Erwartungshaltung der Gesprächspartner vermittelt. Während der Interviewer dem Leben
und den Erinnerungen Arkadis als bucharischer Jude in
der Sowjetzeit nachspüren möchte, geht es letzterem um
seine Familiengeschichte, die bis zu den Zwangskonver-
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sionen in Maschhad des Jahre 1839 zurückreicht. Es ist dem
Zuhörer und Zeugen dieser Erzählung hoch anzurechnen,
dass er die Präferenzen seines Gewährsmannes akzeptiert,
der scharf zwischen den verschiedenen Sphären eines aus
seiner Sicht gewöhnlichen sowjetischen Lebens und eines
tief in der familiären Vergangenheit wurzelnden jüdischen
Lebens trennt. Mit dieser Erzählung wird darüber hinaus
dem gesamten Band eine weitere Dimension hinzugefügt:
die Geschichte der jüdischen „Eroni“ in Zentralasien. Ein
weiteres, allerdings deutlich kürzeres Interview mit einer
älteren bucharisch-jüdischen Frau aus der Nähe von Tel
Aviv stammt von Yochai Primak.
Auch die technische Qualität des Bandes ist hoch und
macht die Lektüre sehr angenehm: gutes Papier, klarer
Druck, feste Bindung, eine detailreiche Karte und viele
Abbildungen, dazu am Ende eine übersichtliche Gesamtbibliographie und ein Index. Dies hebt ihn von vielen
schnell produzierten Tagungsbänden deutlich ab. Besonders hilfreich und erwähnenswert sind die sorgsam in
Originalschrift wiedergegebenen Zitate in judeo-bucharischem Tadschikisch. Seit dem Erscheinen dieses Sammelbandes sind weitere wichtige Arbeiten veröffentlicht worden, vor allem die Monographie von Alanna E. Cooper,
Bukharan Jews and the Dynamics of Global Judaism (Bloomington 2012), die mit dem eingangs erwähnten Beitrag im
vorliegenden Band prominent vertreten ist.
Auch wenn einige Beiträge methodisch und inhaltlich
besser gelungen sind als andere, handelt es sich um einen
insgesamt ganz hervorragenden und höchst spannenden,
anregenden und empfehlenswerten Band. Mit seinen Fragestellungen weist er weit voraus – für die Untersuchung
von bucharischen Juden im 20. Jahrhundert sowie beispielhaft für viele andere Diasporagemeinschaften, die
rasantem kulturellem Wandel unterworfen sind.
Asatrian, Garnik S. / Arakelova, Victoria: “The Religion of
the Peacock Angel”. The Yezidis and their Spirit World.
Durham: Acumen Publishing Limited 2014. 157 S. Kart.
ISBN 978-1-84465-761-2.
Besprochen von Matthias Weinreich: Berlin/Deutschland,
E-Mail: mweinreich@outlook.com
DOI 10.1515/olzg-2017-0026
Das vor allem im kurdischen Siedlungsgebiet beheimatete
Jesidentum zählt fast schon traditionell zu den am meisten
missverstandenen Religionssystemen Vorderasiens. Die
einen sehen in seinen Anhängern den Teufel anbetende
Häretiker, die es physisch zu vernichten gelte, die anderen
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verklären die Jesiden zu Kryptozoroastriern, denen es auf
wundersame Weise gelungen sei, Teile ihres alten, reinen
Glaubens in neuem Gewand zu bewahren.
Auf der Suche nach der zwischen diesen beiden Extremen oft nur noch schwach durchschimmernden Realität
wenden sich die Autoren des Buches der Beschreibung und
Interpretation der jesidischen Geisterwelt zu. G. Asatrian
und V. Arakelova, ausgewiesene Experten auf diesem Gebiet, stützen sich dabei vor allem auf im Ergebnis eigener
langjähriger Feldforschung zusammengetragene orale
Texte, tradiert von in Armenien, Georgien, Russland und
der Türkei angesiedelten Jesiden. Die ausgezeichnet recherchierte und anschaulich dargelegte Studie beschäftigt
sich im Detail mit allen in der jesidischen Tradition vertretenen anbetungswürdigen Wesen, angefangen bei Gott
(xwadē), dem Einen und Einzigen (S. 1–7), über dessen
Inkarnationen Malak-Tāwūs, Sheikh ʻAdi und Sultan Yezid
(Kapitel 1–3) und untergeordnete Schutzgottheiten bzw.
Heilige (Kapitel 4) bis hin zu Naturerscheinungen und
Himmelskörpern (Kapitel 5). Jede einzelne Darstellung,
zusammengefasst in übersichtlichen Abschnitten, enthält
neben einer ausführlichen Funktionsanalyse des entsprechenden Protagonisten auch Verweise auf dessen
Stellung innerhalb der göttlichen Hierarchie sowie Querverbindungen zu anderen geistigen Wesen. Darüber hinaus erlaubt uns die Bestrebung der Autoren, die Herkunft
jeder einzelnen Figur im vorderasiatischen Kulturmilieu zu
verorten, einen umfassenden Einblick in die komplexen
Ursprünge der jesidischen religiösen Tradition. Der Herausbildung und Entwicklungsgeschichte des jesidischen
Synkretismus, welcher sich Asatrian und Arakelova zufolge vor allem auf heterodox-schiitisches und gnostisches
Gedankengut stützt, ist dann folgerichtig auch das sechste
und letzte Kapitel des Buches gewidmet. Eine ausführliche
Bibliographie und ein hilfreiches Sachregister beschließen
das hervorragend edierte Werk.
Im Hinblick auf die Vielschichtigkeit der ihnen vorliegenden, über Jahrhunderte von Mund zu Mund weitergegebenen religiösen Texte, bemühen sich die Autoren um
eine präzise Interpretation problematischer Passagen und
(oftmals entstellter) Jezidismus-spezifischer Begriffe. Dabei bedienen sie sich der altbewährten historisch-vergleichenden Methode, die angewandt auf archaische, nur
noch bei den armenischen Jesiden anzutreffende Über-
lieferungsbruchstücke zu neuen, interessanten Einsichten
verhilft. So enthält der Pīrā-Fāt gewidmete Abschnitt
(S. 72–76) eine bisher nicht beachtete Variante des jesidischen Schöpfungsmythos. Während die heute dominierende Tradition den Ursprung der Glaubensgemeinschaft auf Adam und Eva zurückführt, erzählt die alternative, vermutlich auf iranische Vorbilder aufbauende
rekonstruierte Version von der Bewahrung und späteren
Verbreitung des Samens der Jesiden durch deren Urmutter
Pīrā-Fāt. Eine weitere bemerkenswerte Entdeckung stellen
die von den Autoren in der zeitgenössischen armenischjesidischen Praxis nachgewiesenen Spuren der Verehrung
einer phallischen Gottheit dar (S. 83). Derartige Kulte sind
zwar für andere Religionen bezeugt, stehen im heutigen
neuiranischen Kulturraum jedoch vollkommen isoliert.
Hilfreich für das Verständnis der Verankerung des Jesidentums im regionalen Umfeld ist darüber hinaus auch die
Analyse religiöser Rituale. In diesem Zusammenhang sei
nur kurz auf das traditionelle Verpaaren der Schafe (S. 84–
85) hingewiesen, eine feierliche Handlung, welche von den
Autoren mit ähnlichen Traditionen im Alten Iran und im
Antiken Armenien verglichen wird.
Im Buch leider nur am Rande erwähnt wird die Welt
der bösen Geister. So taucht zum Beispiel die wohlbekannte, allgemein gefürchtete Az, Todfeindin der Gebärenden und Neugeborenen, einzig im Kontext der vor ihr
schützenden Wesen Xatūnā-farxā und Pīrā-Fāt auf. Desgleichen beschränkt sich die (zudem auch meist nur skizzenhafte) Darstellung religiöser Feste auf die Abschnitte,
die den mit diesen Feierlichkeiten in Verbindung stehenden Gottheiten gewidmet sind. Obwohl eine ausführlichere
Beschreibung und Analyse beider Themenkomplexe
durchaus wünschenswert gewesen wäre, schmälert ihre
Abwesenheit jedoch keinesfalls die Bedeutung des Werkes.
G. S. Asatrians und V. Arakelovas Buch ist ein wertvoller, zeitgerechter und liebevoll präsentierter Beitrag zur
Kenntnis des Jesidentums. Es gestattet einen detaillierten
Einblick in die geistige Welt dieser so oft verkannten
Glaubensgemeinschaft, es fördert unser Wissen um den
Ursprung und die zeitgenössischen Ausprägungen ihrer
Religion, und es vermittelt uns die Jesiden und ihren
Glauben als integralen Bestandteil der vielfarbigen, faszinierenden religiösen Landschaft Vorderasiens.