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Pleshoyano 2016 Die Liebe als einzige Lösung.pdf

Werner SchUBler, Marc Ri5bel (Hg.) - LIEBE Philosophie — — mehr ais ein Gefuhi Theologie — Einzelwissenschaften j Ferdinand SchLningh 248 JOHANNES BRANIL Liebe besitzt nicht, noch liisst sie sich besitzen; Denn die Liebe gentigt der Liebe. ALEXANDRA PLESHOYANO [J4o Die Liebe ais ,,einzige L5sung” Das spirituelle Erbe der Etty Hillesum* ,,It is in love that we are made, in love we disappear.” Leonard Cohen 1. Hinfiihrung Wie kann die Liebe die ,,einzige Lôsung” sein in einer so finsteren Zeit wie der der Shoah, in der von Adoif Hitler und seinen Schergen im Vollzug der ,,Endlôsung” Millionen Miinner und Frauen emiordet wurden, unter ihnen al lein sechs Millionen Juden? Etty Hillesum hat nicht nur behauptet, dass die Liebe die ,,einzige Lôsung” ist, um dem Hass zu widerstehen, sondern sie hat selbst noch im Durchgangslager Westerbork daran festgehalten, Gott mit der Liebe zu identifizieren. Kurz vor ihrer Deportation nach Auschwitz, wo sie am 30. November 1943 umkonimen soilte, erhalt Hillesum eine kleine Schrift mit dem Titel ,,En toch is God liefde”. Sie kann dem vi3llig zustimmen und meint, dass dieser Satz mehr denn je geite.2 Selbst unter Beriicksichtigung der Ftilie der Literatur, die inzwischen Liber Etty Hillesum erschienen ist, ist es mir immer noch nicht môglich, ein einheit liches Bild ihrer Person, ihres Glaubens und ihrer Psychologie zu zeichnen. Ailes, was ich nach mehr ais zwanzig Jahren Lekttire und Forschung Liber sie weiï3, erlaubt mir immer noch kein endgtiltiges Urteil Liber ihre Persôniich 3 Und ich kann immer noch nicht przise auf die theoiogische Frage ant keit. worten, die mir schon so oft gestelit wurde: Wie oder wer ist der Gott Etty Hiliesums? Mit Gewissheit liisst sich nur eines sagen: Ftir Hiliesum war Gott * I 2 40 Khalil Gibran, Von der Liebe, in: Ders., Der Prophet. Ubers. von Karin Graf Ostfildern 2010, 15-18, 15 u. 17. Der urspring1ich auf Franzôsisch verfasste Beitrag wurde dankenswerterweise von Kiaus Niewerth ins Deutsche tibertragen. Vgl. Frederik Willem Adrianus Korfï, En toch is God liefde [Und dennoch ist Gott die Lie be],DenHaag 1941. Vgl. De nagelaten geschriften van Etty Hitlesum 1941-1943 [1981], hg. von Klaas A. D. Smelik, Amsterdam 2008, 651. Die Schriflen von Etty Hillesum umfassen lediglich einen Zeitraum von 30 Monaten (8. MSrz 1941 bis 7. September 1943). Allerdings sind nur die Hefte erhalten, die bis zum 13. Oktober 1942 verfasst wurden; die Ubrigen sind in Auschwitz verschollen. Vgl. zum Folgenden (in Auswahl): Alexandra Pleshoyano, Etty Hillesum and Julius Spier. A ,Spirituality’ on the Fringe ofReligious Borders, in: Studies on Etty Hillesum, hg. von Klaas A. D. Smelik, Ria van den Brandt u. Meins G. S. Coetsier, LeidenlBoston 2010, 43-74; dies. (Hg.), ,,J’avais encore mille choses à te demander.” L’univers intérieur d’Etty Hillesum, MontréallParis 2009; dies., Etty Hillesum: l’amour comme ,,seule solution”. Une hermé neutique théologique au coeur du mal, Mûnster 2007. 250 ALEXANDRA PLESHOYANO DIE LIEBE ALS ,,EINZIGE LSUNG” ohne Zweifei Liebe. Aber von welcher Liebe sprechen wir hier eigentlich? Es bieibt ietztiich dem Leser tiberlassen, das anhand der Schriften dieser jungen Frau herauszufinden. Die Liebe, wie sie zu Anfang in Hiliesums Tagebuch begegnet, weicht iangsam einer neuen Interpretation, der zufolge diese nunjenseits des Geflhls anzusiedeln ist. Wie verstand Hillesum diesen Gott der Liebe, wenn die Liebe, wie sie in ibrem ersten Tagebucheintrag schreibt, nur ein erotisches Spiel ist, das zum Kern nicht durchdringt? Sie schreibt: ,,In der Liebe bin ich einflihl sam und, wenn ich so sagen darf, auch erfahren genug, um mich zu den guten Liebhaberinnen zu rechnen; die Liebe mit mir mag volikommen erscheinen, dennoch ist sie nur ein Spiel, das zum Kern nicht durchdringt, und ganz tief in mir bleibt etwas verschiossen. [...J Tief in mir ist ein verworrenes Kniue1, et was hlt mich zurûck mit eiserner Kraft.” (09.03.1941) Was ist dieses We sentiiche fur Hillesum, wenn nicht der bessere Teil ihrer selbst, den sie Gott nennen wird? Und wenn Gott die Liebe ist, weicht Gott dann Gott aus? Was ist die Liebe fur Hiliesum? Wie wir im zweiten Abschnitt dieses Beitrags sehen werden, war es Julius Spier, der die junge Frau daflir sensibilisierte, dass die Arbeit an sich selbst ei ne unabdingbare Voraussetzung fir die Zuwendung zum anderen darsteiit. Das heil3t, dass die Liebe zu den anderen nur in einer wirkiichen Liebe zu sich selbst begriindet sein kann: ,,Liebe deinen Nchsten, wie dich selbst.” Dieser schmerzhafte, aber notwendige Weg zur Selbsterkenntnis wird Hillesum dazu flihren, ihren Schatten zu bezwingen und sich mit sich seibst zu versôhnen. Unter der Anleitung von Spier lemt sie, in ihre eigene Tiefe hineinzuhorchen, um dort dem zu begegnen, den sie Gott nennt. Aber diese erste Etappe auf dem spirituelien Weg bleibt fruchtlos, wenn sie nicht zur Begegnung mit den anderen dringt, die geschaffen sind nach dem Bilde Gottes, was Gegenstand des dritten Abschnitts sein wird. Angeregt durch Spier sowie beeinflusst durch zahireiche Texte der philosophischen, theologischen und iiterarischen Traditi on, die Hillesums Reflexion immer wieder neue Nahrung geben, sucht sie Gottes Bild in jedem Menschen zu entdecken, dem sie begegnet. So kommt sie dazu, fur Gott einzustehen, ihn zu verteidigen, anstatt von ihm Rechen schafi zu fordem. In diesem Sinne macht sich Hiilesum geradezu zur Beschtit zerin Gottes inmitten einer von Hass und Gewait entstellten Welt. Dieses Ein stehen fur Gott wird zu ihrem Lebensinhait, zu der Aufgabe, zu der sie sich berufen ffihlt, um die ,,neuen Zeiten” vorzubereiten; das wird Thema des vier ten Abschnitts sein. Hiliesum hat aile Angebote abgelehnt, vor der Verfolgung durch die Nazis zu fliehen. Vieimebr will sie das Los ihres Voikes teilen, um Zeugnis zu geben von den neuen Zeiten, von den Zeiten also, in denen die Liebe siegen wird Liber Hass und Verachtung. Das Wort Liebe, wie es sich zu Beginn in den Ta- gebtichern findet, erfahrt somit wie schon angedeutet im Laufe ihres Schreibens eine radikale Transformation. Wenn auch die junge Frau die Shoah nicht tiberlebt hat, wie sie es sich wtinschte, so haben doch ihre Schriften tuber iebt. Diese sind ein lebendiges Zeichen dafir, dass die Liebe, ailem zum Trotz, wirkiich die ,,einzige Lôsung” sein kann. Aber bevor wir zum eigentii chen Thema kommen, seien an dieser Steile einige biographische Daten vo rausgeschickt. Die niederliindische Jtidin Esther (Etty) Hillesum wird am 15. Januar 1914 in Middelburg, der Hauptstadt der Provinz Zeeland, geboren. Die Mutter, Re becca (Riva) Bernstein (1881-1943), stammt aus Russiand, ihr Vater, Levie (Louis) Hiilesum (1880-1943), wird spiter Direktor des humanistischen Gym nasiums in Deventer, wo Etty 1932 das Abitur macht. Sie hat noch zwei jtin gere Brûder, Jaap (Jacob) (1916-1945), der Medizin studieren wird, und Mischa (Michaei) (1920-1944), der tiber ein auBergewôhnliches musikalisches Talent verfiigt, aber psychisch iuBerst labil ist. Uber die Kindheit von Etty weii3 man nur sehr wenig. Sie lernt zwar Hebràisch und nimmt auch eine Zeit lang an Versammiungen junger Zionisten teil, die in Deventer organisiert wer den, wichst aber in einer recht sku1aren Atmosphare auf. Nach dem Abitur nimmt sie in Amsterdam ein Jurastudium auf das sie im Juli 1939 erfolgreich abschlieBt. Allerdings scheinen ihre wahren Interessen mehr im Bereich der Philosophie und Literatur gelegen zu haben; hinzu kommt ein grol3es Talent fur Sprachen, besonders fur Niederlandisch, Deutsch, Russisch, Englisch und Franzôsisch. So ist bekannt, dass sie an der Voikshochschule (Volksuniversi teit), aber auch privat Russischkurse angeboten hat. 1m Marz 1937 zieht sie in eine Pension ein, die von dem Witwer Hendrik (Han) Wegerif gefihrt wird, der Hillesum ais Hausdame anstelit. Zwischen den beiden entwickelt sich ein LiebesverMitnis, und Hiilesum wird in Wegerifs Haus leben, bis dieser im Ju ni 1943 ins Durchgangsiager Westerbork Uberfiihrt wird. Ein Grol3teil ihrer Tagebticher geht auf diese Zeit bei Wegerif zurûck. Hillesum, eine sensible und leidenschaftliche Frau, empfindet in dieser Zeit eine tiefe Lebensunlust und sucht nach dem Sinn des Lebens. Das iindert sich, ais sie am 3. Februar 1941 dem Jung-Schtuier und Begrtinder der sog. Psy chochirologie, Julius Spier (1887-1942), begegnet, der seinerzeit schon 54 Jahre ait war. Spier war 1939 nach Amsterdam geflohen, um der katastropha len Lage der Juden in Deutschland zu entkommen. Die Begegnung mit ibm bedeutet fur Hillesum eine Zasur, wird doch dadurch der Beginn ibres spiritu ellen Weges eingeieitet. Aiierdings ist die Beziehung zwischen den beiden nicht frei von Widersprtichiichkeiten, denn obwohl Spier schon zu dieser Zeit mit Herta Levi verlobt ist, entwickeit sich zwischen den beiden eine leiden schafliche Liebesbeziehung. Gieichzeitig ist es aber Spier, der Hillesum dazu verhilft, ihre vitaien Krifte zu kanaiisieren und die Gegenwart Gottes in sich De nagelaten geschriften van Etty Hillesum (s. Anm. 2), 4. Eintrâge wird im Text in Klammern angegeben. — Das Datum der entsprechenden — 251 — Vgl. dazu ausf(ihrlich Alexandra Pleshoyano, ,,J’avais encore mille choses à te demander” (s. Anm. 3), 11-35. 252 ALEXANDRA PLESF{OYANO T selbst wahrzunehmen. Von Beginn ihrer Beziehung an sptirt Hiilesum, wie wichtig Spier fUr ihre spirituelle Entwicklung ist. In dieser Zeit verschlechtert sich die Lage der Juden in den Niederlanden in alarmierender Weise, und so bewirbt sich Hillesum auf Anraten ihres Bruders Jaap um eine Stelle beim Judenrat, was ihr einen gewissen Schutz bieten sou te. Sie tut diesen Schritt aber nur sehr widerwillig, da dies ihrer Lebensphilo sophie widerspricht. Schiimmer noch, die Arbeit dort ist ihr widerwrtig, macht sie unglticklich und erscheint ihr zutiefst unw(irdig.6 (14.07.1942) Ais Mitgiied des Judenrates geniel3t Hillesum einige Sonderrechte, darunter die Mglichkeit, das Durchgangslager Westerbork, wo sie inzwischen fUr den Ju denrat tiitig ist, hin und wieder verlassen zu kônnen, um nach Amsterdam zu reisen. So ist sie auch in der Nacht vom 15. auf den 16. September 1942 bei Spier, ais dieser einem Lungenkrebsleiden eriiegt. Am 5. Juni 1943 kehrt Hil lesum endgtiltig nach Westerbork zurtick. Am 7. September 1943 werden Etty, Mischa und ihre Eltern schliel3lich nach Auschwitz deportiert, ihrem Bruder Jaap widerfahrt ein Jahr spitter ein ithnliches Schicksal durch seine Deportati on nach Bergen-Belsen. Ihre letzte Nachricht wirft Hillesum durch die Bretter des Wagons aus dem Zug. Diese Postkarte ist spitter von Bauem in der Nithe von Glimmen gefunden worden. Nach Angaben des Roten Kreuzes ist Etty dann im Alter von 29 Jahren am 30. November desselben Jabres in Auschwitz umgekommen. DIE L1EBE ALS ,,EINZIGE LOSUNG” Vergangenheit wird. Aber die Therapie, wie sie Spier durchflihrt, erscheint ihr nicht immer ais Hilfe. So schreibt sie: ,,Mein Gott, woraufhabe ich mich ein gelassen, ich bin dort hingegangen fUr eine psychologisehe Behandiung und um etwas Licht in mein Inneres zu bringen; und nun dies, das ist schiimmer ais ailes, was ich je erlebt habe.”8 (24.03.1941) Spier flihrt sie auf einen schmerzhaften Weg, die Abkehr nitmiich vom egozentrischen Ich (ik), damit etwas Neues an seine Stelle treten kann, nitmlich das Seibst (zefl, d.h. der bes sere Teil ihrer selbst, den sie daim Gott nennt. 9 Durch dieses nach innen ge wandte, sich selbst betrachtende Schreiben lernt Hiilesum sich besser kennen. Sie gibt die Gewolmheit auf, im Àul3eriichen verzetteit zu leben, und findet Gott, indem sie sich selbst findet. Vor dem Hintergrund der immer dramatischer werdenden Umstiinde, unter denen die Juden zu dieser Zeit, in der die Festnahmen und Deportationen in die Konzentrationsiager immer mehr zunehmen, ieben mûssen, steilt sich Hii lesum ernste Fragen nach dem Sinn des Lebens. Die Menschen suchen einen Sinn in ihrem Leben und fragen sich, ob es tiberhaupt noch einen geben kann; aber Hillesum denkt, dass das eine Frage ist, auf die jeder nur aiiein im direk ten Gegentiber zu Gott antworten kann.’° (14.06.1941) Durch Spier lernt Hillesum, auf das zu htiren, was in der tiefsten Tiefe ibrer selbst geschieht, d.h. in sich hineinzuhorchen, auf das Innerste semer seibst zu iauschen.” (23.08.1941) In sich hineinhorchen das ist ein entscheidendes Wort auf Hiilesums spirituellem Weg. Es handelt sich dabei um einen Prozess, in dem das Ich (ik) sich gespannt horchend ganz dem Selbst (ze(J) zuwendet. Ailein die innere Stille erlaubt das Horchen, indem sie den simplen Akt des Hôrens in cm Hineinhorchen in die Stille verwandeit. Obwohi bekanntiich das Sich-Niederknien nicht zur jtidischen Frômmigkeitspraxis gehôrt, weiht Spier Hillesum in diese Ûbung ein, die sie sich schnell zu Eigen macht. Das Nieder knien wird ihr schlieï3iich so vertraut, dass sie nicht mehr darauf verzichten kann und es so sehr internalisiert, dass sie es an jedem Ort und zu jeder Zeit austiben kann. So nehmen das In-sich-Hineinhorchen und das Gebet schon baid einen mal3gebiichen Piatz in ihrer spiritueilen Entwicklung ein. Auf dem Weg des Gebets wird ihr auch die Bibel zu einer inspirierenden und bedeut samen Quelle. Auf diese Weise geiingt es ihr, die Dinge ganz neu zu begrei fen. Sie bekennt: ,,Es geschieht in ietzter Zeit, dass sich mir ein einzeiner bib iischer Satz ganz neu erhellt, reicher und mit Erfahrung gefihiit. Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde Liebe deinen Niichsten wie dich seibst. Etc.”1 2 (28.11.1941) — 2. Liebe deinen Niichsten wie dich selbst Am 8. Mitrz 1941 beginnt Etty Hillesum ihr Tagebuch mit der Abschrift eines Briefes an Julius Spier, in dem sie ihm von ihrem Wunsch berichtet, die Reife ihres Wesens zu erreichen. Um dahin zu gelangen, wird Hillesum durch eine enge Pforte gehen mUssen, nitmlich die der Selbsterkenntnis. Es ist wahr scheinlich Spier, der seine junge SchUlerin bewogen hat, zu therapeutischen Zwecken ein Tagebuch zu schreiben. FUr Hiilesum sind Lesen und Schreiben von fundamentaler Bedeutung fUr ihr Gleichgewicht und ilir Uberleben. Bei des gibt ihr Schwung und erlaubt ihr durch die Auslegung zahireicher Texte, die sie liest und sich aneignet, die Entwicklung ihrer Identitiit. Sie entdeckt die wohltuende Wirkung der Autobiographie, die zu einer Reflexion der eigenen — 6 ‘ Vgl. De nagelaten geschriften van Etty Hiliesum (s. Anm. 2), 519. Vgi. ebd., 873-883. Das Nainensregister fiihrt zahireiche Autoren auf, darunter: Petrus Abe lardus, Alfred Adier, Lou Andreas-Salomé, Augustinus, Johann Sebastian Bach, Charles Baudelaire, Maurice Betz, lise Blumenthal-Weiss, Fjodor Michaiiowitsch Dostojewski, Wil liam James Durant, Meister Eckhart, Franz von Assisi, Sigmund Freud, Georg Wilheim Friecirich Hegel, Cari Gustav Jung, Inintanuel Kant, Soren Kierkegaard, Frederik Wiliem Adria nus Korff Michail Jurjewitsch Lermontow, Friedrich Nietzsche, Edgar du Perron, Walther Rathenan, Rainer Maria Riike, Friedrich Ritteimeyer, Wiihelm Stekei, Stendhal, André Sua rès, Thomas von Kempen, Lew Nikolajewitsch Toistoi, Stefan Zweig u.a. 253 8 1 12 I De nagelaten geschrifien van Etty Hiilesum (s. Anm. 2), 48. Das Wort Gott erscheint mehr ais 400 Malin den Schriften von Etty Hiilesum. Vgi. De nagelaten geschriften van Etty Hiilesum (s. Anm. 2), 65. Vgl. ebd., 96. Ebd., 165. 254 ALEXANDRA PLESHOYANO Aber wie kann man diese wahre Nchsteniiebe in seine Umgebung aus strahien 1assen?’ (25.11.194 1) Die Liebe zum Anderen kann nur Wurzein schiagen in einer echten Liebe zu sich seibst. Spier lelirt die junge Frau die Wichtigkeit, sich seibst zu erkennen, bevor man den anderen helfen kann. Das heil3t, Hillesum muss zuerst einmal lernen, ihre eigenen Starken und Schwà chen zu erkennen, um so besser an ihnen arbeiten und lemen zu ki5nnen, sie zu akzeptieren. Ahniich schreibt auch Charles Taylor: ,,Die Seibsterkenntnis ist die unabdingbare Voraussetzung der Selbstakzeptanz. Dahin zu gelangen, ganz bei uns zu sein, innerhalb der Grenzen unserer Bedingtheit, setzt voraus, dass wir diese Grenzen begreifen und sozusagen lernen, ihre inneren Konturen nach zuzeichnen.” Sich seibst zu lieben, begreift Hiliesum, ist die erste Bedingung daflir, um seinen Nachsten lieben zu kônnen: ,,Mir wird immer mehr bewusst, dass man, wenn man an manchen Tagen eine Aversion gegen seinen Nachsten sptirt, die Wurzel in einem Ekel vor sich selbst suchen muss. ,Liebe deinen Nchsten wie dich selbst.” (28.11.1941) In der Tat, um sich selbst lieben zu kônnen, muss man sich vor ailem anderen mit seinem Schatten versôhnen, mit dem Feind in sich selbst. Man hôrt An1dinge an den frtiheren Lehrer von Julius Spier, Cari Gustav Jung, dessen Schriften Hiliesum intensiv geiesen hat.16 Wenn jemand seinen Schatten verdràngt, so wird sich dieser auf die eine oder andere Weise gegen ihn seibst wenden.’ 7 Das Buse ist Jung zufolge vor aliem in der Welt, weil es im Inneren des Menschen ist. Um es austiigen zu ki3nnen, braucht es den Mut, seinen eigenen Schatten zu erkennen und anzuerkennen.’ Jung versteht den Schatten ais eine dumpfe Macht, die in einer Person so sehr Ûberhand gewinnen kann, dass diese erschrocken und schockiert vor ihrem eigenen Handein steht. Hillesum notiert foigenden Text aus dem Evangelium: ,,Mt 5,23: Darum: wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst und dort kommt dir in den Sinn, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, 24 so lass dort vor dem Aitar deine Gabe und geh zuerst hin und versôhne dich mit deinem Bru der, und daim komm und opfere deine Gabe.”19 (29.09.1942) Nach Jung befin det sich dieser ,,Bruder” immer auch in uns seibst. Die Worte von Mt 5,22-25 13 ‘ 15 16 17 18 ‘ Vgl. ebd., 162. Charles Taylor, Les sources du moi: La formation de l’identité moderne, Montréal 1998, 235. De nagelaten geschriften van Etty Hiliesum (s. Anm. 2), 164. VgI. Lev 19,18. Hier finden sich Hinweise auf ihre Lekttire von Jung: De nagelaten geschriften van Etty Hil lesum (s. Anm. 2), 57 u. 59(08.05.1941), 61(08.06.1941), 62(10.06.1941), 63(11.06.1941), 71(19.06.1941), 121 (01.10.1941), 126 (04.10.1941), 156 (22.11.1941), 220 (19.12.1941), 215 (29.12.1941), 219 (31.12.1941), 322 (28.03.1942), 322 (29.03.1942), 323 (29.03.1942), 328 (01.04.1942), 335 (04.04.1942), 336 (04.04.1942), 352 (22.04.1942), 353 (22.04.1942), 354 (22.04.1942), 388 (23.05.1942), 437 (15.06.1942), 460 (21.06.1942), 508 (07.07.1942), 516 (11.07.1942), 533 (25.07.1942), 538 (28.07.1942), Briefe: 591 (25.01.1942), 598 (25.06. 1942). Vgl. Cari Gustav Jung, Psychoiogy and Religion: West and East, in: The Coiiected Works. Transi. by R. F. C. Huil, Bd. ii, London 1958, 79. Vgl. Cari Gustav Jung, Civilization in Transition, in: The Coilected Works. Transi. by R. F. C. Huil, Bd. 10, New York 1964, 230. De nagelaten geschriften van Etty Hiliesum (s. Anm. 2), 563. r DIE LIEBE ALS ,,EINZIGE LÔSUNG” 255 aufgreifend, verdeutiicht er seine Interpretation durch eine leichte Abwand lung des bibiischen Textes wie foigt: ,,Ich aber sage euch, daB wer sich selbst ztimt, der sou dem Gerichte verfallen sein [...j. Wenn du nun deine Gabe darbringst zum Altar und dich daselbst erin nerst, daB du etwas gegen dich selbst hast, so 1a13 daselbst deine Gabe vor dem Altar und gehe hin und versôhne dich zuvor mit dir selber; und alsdann komme und bringe deine Gabe dar. Sei vertriiglich mit dir selber beizeiten, solange du noch mit dir auf dem Wege bist, daB nicht etwa du dich selber dem Richter tiber iieferst.”20 Das heiBt, der schiimmste Feind verbirgt sich oft in der Tiefe unseres eigenen Selbst. 1m Veriauf des Jahres 1942 wird Hiliesum bewusst, dass auch schon der kieinste Funicen Hass die Weit ein Sttickchen unwirtiicher macht. Das Bôse, das uns beim Anderen schockiert, ist immer auch Zeichen eines Todeskeirns in uns seibst. Das erinnert an das Gleichnis vom Splitter und Baiken im Auge, das Hiliesum im Evangelium der Heiligen Zw5(/1 gelesen hat: ,,Was siehst du den Spiitter in deines Bruders Auge und wirst des Baikens in deinem Auge nicht gewahr? Oder wie darfst du zu deinem Bruder sagen: Hait, ich wili dir den Spiitter aus deinem Auge ziehen? Und siehe, ein Baiken ist in deinem Auge. Du Heuchier, zieh erst den Baiken aus deinem Auge, darnach sieh, wie 20 21 Cari Gustav Jung, Psychology and Religion (s. Anm. 17), 77f. Dt. bers. nach: Ders., Zur Psychologie westiicher und dstlicher Religion, hg. von Marianne Niehus-Jung, Lena Hurwitz Eisner u. Franz Riklin (= Ders., Gesammelte Werke, Bd. 11), Olten/Freiburg i.Br. 1971, 84. Hierbei handeit es sich um ein neuzeitlich apokryphes Evangelium, das von Gideon J. R. Ou seley (1835-1906) verfasst wurde. Wenn Etty Hillesum Passagen aus diesem Evangelium in ihr Tagebuch tibertragt, sind diese in Deutsch, aber diese deutsche Fassung ist nicht erhaiten geblieben. Es findet sich immerhin im Archiv des jtidischen Museums in Amsterdam eine Fassung in Niederlandisch auf Seidenpapier, die Dicky de Jonge, einer Freundin von Hiiie sum und Mitglied des Spier-Clubs, gehôrt hat. Hier finden sich mehrere unterstrichene und mit Randnotizen versehene Abschnitte, die zuweilen die Reflexionen Hillesums zum Aus druck bringen. Diese hatte wahrscheiniich eine identische Ausgabe mit einer in Niederln disch geschriebenen Widmung erhalten, da sie diese in ihrem Tagebuch erw5hnt. Ich benutze fur diesen Beitrag die im jiidischen Museum aufbewahrte niederlândische Version. Vgl. W. Ousiey, Het Evangelie van de Heilige Twaaiven. Uit het Arameeesch in het Engelsch vertaald en uitgegeven door Een Leerling van den Meester; in het Nederlandsch vertaald door N. M. C. Tideman, o.O. o.J. Ich weise auch jeweils hin auf den zitierten Abschnitt in der deut schen Version dieser Schrift: Vgl. G. J. Ouseiey, Das Evangeiium des volikommenen Lebens. Ein ursprôngliches und voilstï.ndiges Evangeiium, niedergeschrieben und herausgegeben von dem verstorbenen Rev. G. J. Ouseiey. Ubersetzt von W. Zimmermann. Mit einem Vor- und Nachwort und mit Kommentaren versehen von R. M lier [1902], Lauf bei Ntirnberg/Leip zig/Bern 1938. In dem Evangeiium von Ouseley findet sich kein ausdriicldicher Hinweis auf die kanonischen Evangeiien oder das Neue Testament. Daher habe ich versucht, die Be zuge zu den kanonischen Texten so gut wie môglich anzugeben. Es ist interessant zu erw5hnen, dass dieser Text ursprunglich in Engiisch verfasst wurde. Vgi. G. J. Ouseley, The Gospel of the Hoiy Tweive (known also as The Gospel of the Perfect Life), New Edition, with Intro duction and Notes by E. Francis Udny, London 1923. — — 256 [ ALEXANDRA PLESHOYANO du den Spiitter aus deines Bruders Auge ziehst.”22 Hiliesum wendet sich in dieser Frage an ihren Freund Klaas Smelik und meint, dass es zwecklos sei, seine Feinde zu hassen, da es vor allem darum gehe, seinen eigenen Schatten zu erkennen. Ihr Freund, konstemiert von dem, was sie sagt, antwortet: ,,Ja, aber das letztendlich wâre das ja Christentum! Und [Hiilesum], amtisiert tiber so vie! unerwartete Verwirrung: Ja, warum eigentiich nicht Christen tum?”23 (23.09.1942) Hiilesum sieht somit das entscheidend Christiiche in der Seibstiiebe, die ai lein zur wahren Nchsten1iebe ftihrt. Die einzig môgiiche Art und Weise, die Weit zu verbessern, beginnt vor ailem mit einer Verbesserung in sich selbst. Der erste Schritt besteht darin, in sich seibst den Keim des Hasses auszurei I3en, bevor man ihn beim Anderen auszureil3en sucht, also darin, den Baiken in sich seibst herauszuziehen, bevor man versucht, den Spiitter aus dem Auge des Nachbam zu entfernen. Jeder muss vor ailem seine Grundeinsteliung ver àndem. Das Bôse, das uns in der Aul3enweit schockiert, steckt namiich der Môg iichkeit nach in jedem von uns. Hiilesum schreibt: ,,Und die Gemeinheit der Anderen ist auch in uns [...]. Und ich sehe keine andere Lôsung, ich sehe wirklich keine andere Lôsung, ais in seine eigene Mitte zu gehen und ail diese Gemeinheit aus semer Seele zu reil3en. Ich giaube nicht mehr, dass wir irgend etwas in der Welt um uns herum verbessern kônnen, das wir nicht zuerst in uns seibst verbessert hrtten.”24 (19.02.1942) Nach Hiiiesum kann man den Niichsten somit nur lieben und verstehen, wenn man geiemt hat, sich seibst zu lieben und zu verstehen. Unter den zahireichen Schriften, die Hiilesum beeinflusst haben, ist an die ser Stelle besonders auf Augustins Confessiones zu verweisen, geht es ihm hier doch wesentlich darum, die Verbindung von Seibst- und Gotteserkenntnis aufzuzeigen.25 In Hiiiesums Ausgabe der Confessiones, die im Etty-Hiilesum Archiv im jtidischen Museum in Amsterdam aufbewahrt wird, findet sich eine Markierung des folgenden Textabschnitts: ,,Und wo war ich, da ich dich such te? Du standest vor mir. Ich aber war mir se!ber weggeiaufen und fand mich seiber nicht mehr, wie viel weniger dich!”26 Und ein wenig weiter unten: ,,[...] sondern unruhig war meine Seele und nur darauf bedacht, zu suchen und zu forschen. “27 Augustin deckt auf, dass dieses doppeite Streben, die Suche nach Gott und die Suche nach sich selbst, in Wahrheit ein unci dasselbe ist; man kann Gott nur finden, indem man sich seibst findet, denn das ,,Selbst” findet sich da, wo Gott sich findet.28 Inspiriert von einer Steile aus dem Evangelium (vgi. Mt 7,13-14) schreibt Jung, dass die Pforte, die ins Innere des Selbst flihrt, eng und versteckt ist. Der Eingang dazu sei versperrt von einer Unzahi von Vorurteilen, falschen Hypo thesen und Àngsten.29 Es war Spier, der Hiliesum in die Schriften Jungs einge fiihrt und ihr die besondere Bedeutung der Innenschau ftir das spirituelle Le ben erschlossen hat. Bekanntiich riumt Jung im Gegensatz zu Freud und Adier der Psyche und den religiôsen Bedtirfnissen des Menschen einen mal3gebiichen Platz ein.° Jung zufoige bietet die Innenschau die einzige Quelle fi.ir eine reiigiise Erkenntnis und Orientierung.’ Bei der Individuation32 handeit es sich Jung zufoige um einen Entwickiungsprozess, in dem ein Individuum das einzigartige und vorbestimmte menschlicbe Wesen wird, das es in Wirkiich keit ist. Durch diesen Prozess wird der Mensch eine Besonderheit, die von je dem Egoismus und Individualismus weit entfernt ist; ich werde im Restimee kurz darauf zurtickkommen. Folglich ist die Erkenntnis des Selbst recht be grenzt und auch abhngig von soziaien Faktoren sowie von dem, was sich in der menschiichen Psyche34 ereignet.35 Dem Vorbiid Augustins foigend entdeckt Hil!esum Gott, indem sie die Kenntnis ihrer inneren Welt vertiefi. Auf diese Weise flihrt der Weg vom ego zentrischen Ich (ik) weg und hin zur Entdeckung des Selbst (zeU) im Zentrum des Seins, wo man Gott entdeckt. Trotz der nicht zu tibersehenden Unterschie de zwischen Augustinus und Hiilesum kann man ohne Zweifel einen gewissen Einfluss Augustins feststeilen. Es finden sich aber auch wesentliche Unter schiede zwischen beiden. Whrend das Vokabuiar Augustins ganz durchdrun gen ist vom christiichen Giauben, so schôpft Hiliesum aus einer Vielzahl un terschiedlicher Quellen. Hinzu kommt, dass die Seibsterkenntnis nach Augus tin zuerst einmal nichts zu tun bat mit einer psychoiogischen Innenschau zum Zweck, eine menschliche Erfahrung bewusst zu machen. Nach Augustin hat die Selbsterkenntnis vieimehr vorreflexiven Charakter, der erst eine begriffli che Reflexion folgt, um dieses Seibstbewusstsein zu erkhiren.36 Das heitit, man — — 22 23 24 25 26 27 w• Ousley, Het Evangelie van de Heilige Twaalven (s. Anm. 21), 31 I G. J. Ouseley, Das Evangelium des volikommenen Lebens (s. Anm. 21), 71. Vgl. Mt 7, 3-5. De nagelaten geschriften van Etty Hillesum (s. Anm. 2), 560f. Ebd., 254. VgI. Charles Taylor, Les sources du moi (s. Anm. 14), 182. Vgl. Augustin, Des Heiligen Augustin Bekenntnisse. Ubertragen und eingel. von Hermann Hefele, Jena 1922, 71. Der Abschnitt ist mit einem blauen Tintenstrich am Rand des im Ar chiv verwahrten Textes markiert. Vgi.ebd.,91. 257 DIE LIEBE ALS ,,EINZIGE — — 28 29 j 30 ‘ 32 36 Vgl. Denys Tumer, The Darkness of God: Negativity in Christian Mysticism, Cambridge 1995, 55. Vgi. Cari Gustav Jung, Civiiization in Transition (s. Anm. 18), 230. Vgl. Cari Gustav Jung, Psychoiogy and Religion (s. Anm. 17), 330. Vgi. ebd., 506. Vgl. Cari Gustav Jung, Two Essays on Analyticai Psychology, in: The Coiiected Works. Transi. by R. F. C. Huli, Bd. 7, New York 21966, 173. Vgl. ebd., 174. Die Psyche verfligt Uber vier Funktionen, die sich je paarweise gegenuber stehen: das Denken und das Geffihi, die Sinneswahrnehmung und die Intuition. Vgl. Cari Gustav Jung, Diaiec tique du Moi et de i’inconscient. Traduit de l’aiiemand, préfacé et annoté par Roiand Cohen, Paris 1964. Vgi. Cari Gustav Jung, Civiiization in Transition (s. Anm. 18), 249. Vgi. Denys Turner, The Darkness of God (s. Anm. 28), 88-89. 258 ALEXANDRA PLESHOYANO DIE LIEBE ALS ,,EINZIGE LOSUNG” darf die Selbsterkenntnis bei Augustin nicht mit der Selbsterkenntnis bei Hil lesum verwechseln, ist ietztere doch deutlich beeinflusst von der Psychologie Jungs, die zuerst einmal von einer ausgesprochen theoiogischen Reflexion un terschieden werden muss. Wie dem auch sei, die Seibstiiebe (zef) bei Hiliesum ist nicht beschrànkt auf das Ich (1k), sondem sie ist eine Liebe, die das Seibst annimmt in allem, was an Erstaunlichem in ihm enthalten sein mag, so wie sie auch das Geheim nis des Anderen annimmt. Hiliesum beginnt mit dem Hren auf ihr Ich, um sich dann davon abzuwenden und mit dem H5ren auf ihr Selbst zu beginnen, wo sie einen Ruf vemimmt, cler immer lauter wird, eine innere Stimrne, die sie auf einen ganz besonderen Weg dringt, den Weg der Liebe. Indem Hillesum auf ihre innere Stimme horcht, findet sie den Weg zu Gott in der tiefsten Tiefe ibrer seibst. Sie iernt, sich zu akzeptieren und zu lieben, weii sie verstanden bat, dass die wahre Nichsten1iebe nur aus einer wahren Selbstannahme her vorgehen kann: Liebe deinen Nichsten wie dich selbst! Obwohl Hillesum auch schon zu Beginn ihres Tagebuches von einer grof3en Liebe zur Mensch heit erfilllt ist, weiB sie doch, dass sie zuerst lernen muss, sich seibst zu erken nen, sich selbst zu beherrschen und sich selbst zu lieben, bevor sie die Ande ren wahrhaftig lieben kann. Die Liebe zu Gott kann sich somit in Fiille nur verwirklichen durch die Liebe zu sicb selbst, das ist immer der erste Schritt; in einem zweiten Schritt bat dann die Liebe zum Niicbsten zu folgen, zum Nchs ten, der geschaffen ist nach dem Bilde Gottes. zen und fUr ihn eine Zuflucht zu finden, nicht nur in sich selbst, sondem im Herzen aller, die sie erreichen kann. 1m Gegensatz aiso zu dem, was man von einer jungen jtidischen Frau, Opfer des Naziregimes, brtte erwarten ki3nnen, Gott um Hilfe zu bitten nim1ich, ist sie es, die beschlieBt, Gott zu belfen. Wo her hat sie diese Idee? Es ist schwierig zu entscbeiden, ob diese Idee auf den pràgenden Einfluss Spiers zurtickgeht oder ob diese ibr selbst zuzuscbreiben ist. Wenn man den folgenden Satz Hiliesums aus einem Brief an den kranken Spier berticksicbtigt, scbeint letzteres wahrscheinlicber zu sein: ,,Du muBt fur Deine Gesundheit sorgen; wenn Du Gott helfen willst, dann ist das Deine ers te, heilige Pflicht.”° (ohne Datum, wahrscheinlich Juli 1942) An einem tristen und regnerischen Tag, ais die Massenverhaftungen immer mehr zunehmen und die Situation fur die Juden unertraglich wird, zieht sich Hillesum ganz in ihr Innerstes zurtick, um Gott zu treffen, und sie richtet an ihn die folgenden Siitze: ,,Der Jasmin hinter meinem Haus ist nun vôllig verwflstet vom Regen und Sturm der letzten Tage. Aber irgendwo in mir bluht dieser Jasmin ungestirt weiter, nicht so ûppig und anmutig, wie sonst. Und er verbreitet seinen Duft um deine Bleibe, mein Gott. Du siehst, ich sorge gut fUr dich. Ich bringe dir nicht nur mei ne Trnen und meine trtiben Vorahnungen, ich bringe dir an diesem windigen und grauen Sonntagmorgen sogar einen duftenden Jasmin. Und ich bringe dir ail die Blumen, die ich auf meinem Weg finde, und es werden eine Menge sein, glaub mir. Du sollst es so gut wie môglich bei mir haben. Um nur ein zuffihlige Beispiel zu nehmen: Eingeschlossen in eine enge Zeile sehe ich eine Wolke vor meinen Gittem vorbeiziehen. Ich m&hte dir diese Wolke bringen, mein Gott, wenn ich doch nur die Kraft dazu htte. Ich kann fUir nichts garantieren, aber die 3. Gott helfen, indem man dem Bild Gottes im Anderen hilft 1m Juli 1942 nimmt ein besonderes Verstândnis von Verantwortlicbkeit in der jungen Frau Gestalt an: Wenn der Mensch geschaffen ist nach dem Bilde Got tes, dann hilft man jedes Mai, wenn man sich seibst oder einem anderen hilft, dem Bilde Gottes. Auf diese Weise gewinnt Hillesum eine ganz neue Sicht weise der Dinge. In Angst und Verzweiflung geht es jetzt weniger darum, Gott um Hilfe anzurufen, sondem vieimebr, seine Gegenwart in uns und unter uns zu bewahren. In diesem Sinne scbreibt sie: ,,Mein Prinzip sou immer sein, Gott so viel wie môglicb zu helfen, und dann, wenn mir das gelingt, werde ich aucb fur die Anderen da sein.” 3 (11.07.1942) Das heiBt, Hiliesum flihit sich fUir Gott verantwortlich. Da Gott ihr nicht heifen kônne, schreibt sie, sei es an ihr, Gott zu heifen.38 (11.07.1942) Beberzt und mutig tritt sie ein fUir die Sache Gottes: ,,Und Gott ist uns auch keine Verantwortung schuldig fur ail die Ab surditiiten, die wir selbst anrichten; wir sind es, die Schuid und Verantwortung tragen.”39 (29.06.1942) Hiilesum tibernimmt die Verantwortung, Gott zu schtit Absichten sind die besten, wie du siehst.”’ (12.07.1942). Auch hier kiingt wieder Hillesums Grundmotiv an: ,,Es ist an uns, dir [sc. Gott] zu helfen und bis zuletzt die Bleibe in uns zu verteidigen, wo du wohnst.”42 (12.07.1942) Die junge Frau ist sich bewusst, dass man sich seibst hilft, wenn man fur Gott sorgt. Sie gibt sich aber keinen Illusionen hin und bleibt sich ihrer Zerbrechiichkeit bewusst. Gott wtirde sicber Zeiten des Man gels in ihr kennen iemen, aber sie verspricbt ihm, weiter fUr ihn zu arbeiten, ihm treu zu bieiben und ihn niemals aus semer Zuflucht zu vertreiben. 3 (12.07.1942) Schon einige Monate zuvor heiBt es: ,,Ich finde, Gott, dass ich gut mit dir zusammenarbeite, dass wir gut zusammenarbeiten.” (09.01.1942) In Friedrich Rittelmeyers Schrift tiber das Johannesevangelium batte sie gelesen, dass die christiiche Moral im Wesentiicben darin besteht, ein guter 40 41 42 ‘ 38 De nagelaten geschriften van Etty Hillesum (s. Amn. 2), 512. Vgl. ebd. Ebd.,481. 259 “ Ebd., 600. Ebd., 517f. Ebd., 517. Vgl. ebd. Ebd., 232. Friedrich Rittelmeyer, Briefe ûber das Johannesevangelium, Stuttgart 1938. Das von Rittel meyer kommentierte Johannesevangelium hatte Hillesum ihrer Freundin Maria Tuinzing ge schenkt mit Randbemerkungen, die mit einem ,,E” fur Etty und einem ,,S” fur Spier gekenn 260 ALEXANDRA PLESI-IOYANO Mitarbeiter Gottes zu werden. So kann jemand die Leute durch das Leben lei ten mit dem Ziel, dass sie immer bessere Mitarbeiter Gottes werden, um dem Plan Gottes in semer ganzen Volikommenheit zu dienen. Rittelmeyer ffihrt da zu aus: ,,Einzig und allein dies ist christiiche Moral, daB man selbst immer hôher zu kommen sucht, um dadurch immer mehr Menschen mit sich zu ziehen, um dem gôttlichen Weltziel der Menschheitsweihe zu dienen, um ein immer besserer Mitarbeiter des Weltenvaters zu werden an dem Werk, um dessen Vollendung man ihn selbst gebeten hat. Zu dieser Hôhe christiichen Heilig-Strebens schauen wir hier empor. Und hier allein ist aile Moral bis ins Alltgliche hinein sicher begrUndet und richtig orientiert. Sie wird eine Wirkung der Liebe, und zwar nicht entweder der Liebe zu Gott oder der Liebe zu den Menschen und auch nicht so wohi der Liebe zu Gott ais der Liebe zu den Menschen, sondern der Liebe zu den Menschen, die zugieich die Liebe zu Gott und die Liebe Gottes seibst ist.”46 1m Bewusstsein, dass Gott im Herzen jedes Menschen gegenwartig ist, dass jeder Mensch nach dem Bilde Gottes geschaffen ist, ist Hillesum fest davon tiberzeugt, dass alles, was man einem Menschen antut, man letztlich Gott antut (vgl. Mt 25,40). Gott ist somit das Opfer von Hass, Rassismus, Verfolgungen und Schmihungen. Er ist tatsàchlich ein verletziicher und fragiler Gott, ein Gott, versteckt im Herzen des Menschen. Es ist mÔglich, in Hillesums Darstel lung Gottes schon eine Andeutung dessen zu sehen, was andere spiter einmal den Gott nach Auschwitz nennen werden: ein Gott, dessen Aiimacht die Macht der Liebe ist. Der jtidische Philosoph Hans Jonas hat in Hillesum eine Zeugin Gottes erkannt, eine Zeugin im Sinn des jtidischen Glaubens; ich werde im vierten Abschnitt darauf zuriickkommen. Jonas zufolge ist es Aufgabe des Menschen, fur Gott einzutreten. In diesem Kontext bezieht er sich auch auf Hiliesum: ,,Auf den Gedanken, dass wir es sind, die Gott helfen knnen, anstatt dass Gott uns hiifi, bin ich seinerzeit bei einem der Opfer von Auschwitz selbst, einer jun gen hoil.ndischen Jtidin, gestoBen, die das auf eine ergreifende Weise ausge drtickt und die Gtiltigkeit dieses Gedankens dadurch bestiitigt hat, dass sie ihr Tun bis zu ihrem Tod auf diesen Gedanken grundete. [...] ,Genau genommen findet sie nicht Gott, sondern erschafft sich vielmehr einen fur sich selbst. Das Thema ibrer TagebUcher wird immer starker reIigis, und viele der Eintragungen DIE LIEBE ALS ,,EINZIGE LÔSUNG” 261 sind Gebete. Ihr Gott ist einer, dem sie Versprechen gibt, aber von dem sie nichts erwartet und den sie um nichts bittet.’ [...j”47 Gott zu helfen, indem man ihn in sich selber schUtzt, das mag angehen. Aber Hiliesum geht noch dariiber hinaus; ihr Ziel ist es, dasseibe auch fur jeden Menschen zu tun, den man trifft. So kônnten diese Menschen einen Piatz fin den, um Gott in sich selbst zu bergen, einen beseeiten (bezielde) Raum, einen Raum, erfiilit von einer Seeie, wo der Atem Gottes sich ausbreiten und sich er lauschen lassen kann (hineinhorchen). Hillesum geht es darum, den Menschen diesen Raum bewusst zu machen und die Notwendigkeit, auf ihn zu achten. Es geniigt nicht, Gott in sich selbst zu tragen, er muss auch in den Herzen der an deren zutage geflirdert werden. Hiliesum nimmt den Menschen wahr ais ein mÔgiiches Heiligtum fur Gott und fiuhlt sich bereit, sich an jeden Ort auf der Weit zu begeben, zu dem Gott sie senden môchte. Sie engagiert sich dafùr, fUr ihn eine Zuflucht zu finden in so vieien Herzen wie nur m6glich: ,,Und ich verspreche dir, ich verspreche dir, mein Gott, ich werde versuchen, dir eine Bleibe und Zuflucht zu suchen in so vieien Hiusern wie mÔgiich. Das ist eine merkwtirdige Vorsteliung. Ich werde unterwegs sein, um dir eine Zuflucht zu finden. Es gibt so viele ieere Hiuser, ich werde dich dort einflihren ais den wichtigsten Ehrengast.” (17.09.1942) Hiliesum macht sich auf den Weg, um mit Gott zu gehen (Halacha) und um fur 11m so vieie Zufluchtsorte zu finden wie môglich. Man kann hier die jtidi sche Konzeption der Schechina wiederfinden, der Konzeption von ,,Gottes Heimstâtte auf Erden”. Franz Rosenzweig erkirte die Konzeption auf diese Weise: ,,Die Schechina, die Niederlassung Gottes auf die Menschen und sein Wohnen unter ihnen, wird vorgestelit ais eine Scheidung, die in Gott selbst vorgeht. Gott seibst scheidet sich von sich, er gibt sich weg an sein Volk, er ieidet sein Leiden mit, er zieht mit ihm in das Elend der Fremde, er wandet mit seinen Wanderun Hiiiesum begibt sich fUr Gott auf den Weg, um fUr ihn eine Herberge, einen Zufluchtsort zu finden in den Herzen, die ihr begegnen, vergleichbar KÔnig David, der sich weigerte zu ruhen, bis er einen Ort gefunden hatte fur das Ai ierheiligste. Auf diese Weise nimmt Hiilesums Tagebuch aiimahlich die Form eines Weges zu und mit Gott an: ,,Wenn man einmai angefangen hat, mit Gott unterwegs zu sein, geht man den Weg ganz einfach weiter. Das ganze Leben ist nun nichts anderes mehr ais ein ianger Marsch ein ganz besonderes Ge — 46 zeichnet waren. Viele Ûberlegungen Hiliesums kntipfen an dieses Buch an. In das Buch ,,Le venskunst”, das sie mit ihrer Freundin Henny Tideman (Tide) gemeinsam nutzte, bat sie viele Zitate von Rittelmeyer kopiert: Vgl. A. J. C. van Seters, Levenskunst, Gedachten van week tot week, Amsterdam 1945. Es handelt sich hierbei um eine kieine Schrift mit Gedanken ifir jeden Tag, in dem Hillesum und Tidemann ihre Gedanken oder ein Zitat ihrer Wahl auf die linke Seite schrieben. Vgl. Friedrich Rittelmeyer, Briefe ûber das Johannesevangelium (s. Mm. 45), 343: Die zi tierte Passage ist mit einem Strich am Rand markiert. ‘ Hans Jonas, Le Concept de Dieu après Auschwitz: Une voix juive. Traduit de l’allemand par Philippe Ivervel. Suivi d’un essai de Catherine Chalier, Paris 1994, 43f. Vgl. ders., Metaphy sische und religionsphilosophische Studien, hg. von Michael Bongardt, Udo Lenzig u. Wolf gang Erich Mtiller (= Kritische Gesamtausgabe der Werke von Hans Jonas, Bd. 111/1), Frei burg i.Br./BerlinlWien 2014, 53 if; vgl. auch ebd., 279. De nagelaten geschriften van Etty Hiilesum (s. Mm. 2), 550. Franz Rosenzweig, Der Stem der Eriôsung, FrankfurtlM. 1990, 455. 262 263 ALEXANDRA PLESHOYANO DIE LIEBE ALS ,,EINZIGE LÔSUNG” tlihl.”° (14.07.1942) Unterwegs zu sein mit Gott, heii3t, bereit zu sein zum Hôren auf den Gott in sich und zum HÔren auf den Gott im Anderen. Dem Vorbiid Spiers foigend, macht Hillesum sich daran, ail denen zuzuhÔ ren, die sich ihr anvertrauen. Sie erkennt keine Grenzen mehr zwischen den Menschen, die doch aile nach dem Bilde Gottes geschaffen sind. Sie will fur und mit Gott arbeiten. Wenige Stunden nach Spiers Tod wendet sie sich in ih rem Tagebuch an den gerade Verstorbenen: ,,Du bist der Mittier gewesen zwi schen Gott und mir, und jetzt hast du, der Mittier, dich zurcickgezogen, und mein Weg fiibrt ab jetzt direkt zu Gott. Das ist gut so, ich fiihie es. Und nun werde ich seibst die Mittierin sein fur aile, die ich erreichen kann.”’ (16.09. 1942) Nach Jung hat der Mittier die Aufgabe, Gott und seine Geschôpfe zu verei 52 Hiilesum môchte ganz in diesem Sinne auch in den anderen Menschen nen. die Queilen, in denen sich Gott verbirgt, zum Sprudeln bringen und so daflir sorgen, dass ihre vertrockneten Seeien wieder bewssert werden. Weiter schreibt sie an Spier: ,,Grol3er Versteher, groBer Sucher und groBer Finder Gottes. Ûberall hast du Gott gesucht, in alien Herzen, die sich dir ôffneten und es waren sehr viele, und tiberali hast du ein Sttick gefunden von Gott. Niemals hast du aufgegeben.” (16.09.1942) Hiilesum macht sich nun ihrerseits auf die Suche nach Gott in ailen Herzen, die sie erreichen kann. Sie beschlieBt, Gott zu helfen, sein Bild wieder zu fin den, indem sie ibm den Ehrenplatz zuweist, der ihm zusteht in jedem semer Geschôpfe. In einem Brief an Tide (Henny Tidemann) Hillesum hat diesen Brief in ihr Tagebuch tibertragen dankt sie Gott fUr ailes, was Spier fur sie getan hat: Er habe Gott in ihr ausgegraben und durch genau diese Tat Gott ins Leben zur(ickgebracht. Deshalb beschlieBt sie, es fur die anderen genauso zu machen: ,,Ich liebe die Menschen aul3erordentiich, denn in jedem von ihnen findet sich ein Sttick deiner Liebe, mein Gott. Und ich suche dich Uberali in ihnen und finde oft einen Teil von dir. Und ich versuche, dich auszugraben aus den Herzen der Anderen, mein Gott.” (15.09.1942) Jung zufolge versucht eine authentische religiÔse Person aufjede nur môg liche Weise, in das Herz ihres Nichsten einzutreten. Eine soiche Person ver mag in allen die unsichtbare Priisenz des giittiichen Willens zu ersptiren. 55 An sjch selbst gerichtet schreibt Hiliesum: ,,Die Menschen sind manchmai fUr mich wie Hiuser, in deren Innerem die Ttiren weit geÔffhet sind. Ich gehe im Inneren herum und irre durch Fiure und Raume. Jedes Haus ist immer wieder ein wenig anders aufgebaut, und doch sind aile immer auch iihnlich, und man mtisste dir in jedem dieser Huser einen Raum weihen.”56 (17.09.1942) Auf den Spuren Spiers versucht Hiliesum, sich immer mehr auf die Psycho logie einzulassen, um die besser verstehen zu kônnen, die sich ihr anvertrauen, demi man muss ein sehr feinsinniger Psychologe sein, um Gott sowohi in der tiefsten Tiefe semer seibst ais auch in den tiefsten Tiefen der Anderen erlau schen zu kônnen, um Gott auf Gott lauschen zu lassen: ,,Und wenn ich sage, ich ,horch hinein’, daim ist es in Wirklicbkeit Gott in mir, der ,hineinhorcht’. Was in nur das Wesentlichste und Tiefste ist, iauscht auf das Wesentlichste und Tiefste im Anderen. Gott iauscht aufGott.”° (17.09.1942) Die Zeiten der Einkebr erlauben es Hillesum, Kurs zu halten auf das, was fir sie das Wichtigste ist: die Liebe zum Bild Gottes in sich und zum Bild Gottes im Anderen. Mit Augustinus ist Hillesum der Ûberzeugung, dass die Liebe sich einzig Gott zuwenden soute: ,,Ich werde meine Augustinlektiire wieder aufnehmen. Er ist so streng und so ieidenschaftiich. Und 50 ungestûm, und voiler Hingabe in seinen Liebesbriefen an Gott. Streng genommen sind das die einzigen Liebesbriefe, die man schreiben soute: die an Gott.”58 (09.10. 1942) Nach Augustinus ist die Liebe (agape)59 die einzige Perspektive, unter der die Bibel gelesen, interpretiert und verstanden werden soilte.60 Aber was wird hier unter Liebe verstanden? Trotz der verschiedenen theologischen In terpretationen der Liebe bezeichnet sie doch immer eine nach Vereinigung strebende Kraft. Und in diesem Sinne hat Hillesum auch die hebrische Bibel und ebenso das Neue Testament geiesen, interpretiert und verstanden. Ob im Lager Westerbork oder bettligerig in Amsterdam, Hiilesum hÔrt immer auf das Fltistern ibrer itmeren Stimme und môchte auf diese Weise zu einem groBen Gebet fur aile anderen werden.°’ (02.10.1942) Sie mÔchte die anderen geme an ailem teiihaben iassen, das sie empfiingt. Die junge Frau tritt einfach ein in ein ununterbrochenes Gebet, in dem sich auf der einen Seite die — — — 56 ‘ ° °° °° De nagelaten geschriften van Etty Hillesum (s. Anm. 2), 520. Ebd.,545f. 52 Vgl. Carl Gustav Jung, Psychology and Religion (s. Anm. 17), 432. De nagelaten geschriften van Etty Hillesum (s. Anm. 2), 547. ° Ebd., 544. n Vgl. Carl Gustav Jung, Psychology and Religion (s. Anm. 17), 339. 51 60 61 De nagelaten geschriften van Etty Hillesum (s. Anm. 2), 549. Ebd. Ebd., 579. In dem Versuch, um jeden Preis die originale Reinheit der Agape wiederzufinden, laufen wir aber Gefahr, die neue Gotteskindschaft aufler Acht zu lassen, in die wir durch Jesus eingesetzt worden sind. Ist die Inkarnation der Agape in einem Ki5rper, der ganz Eros ist, nicht ein Zei chen der neuen Gemeinschaft, in die wir aile gerufen sind? Vorzugeben, dass die gôttiiche Natur unvereinbar sei mit der menschlichen, wtirde die Bedeutung des in Jesus Christus Mensch gewordenen Gottes herabsetzen. Indem der Christus die menschliche Natur annahm, nahin er auch die Liebe ais Eros an, die der menschlichen Natur inhitrent ist, inharent dem anthropozentrischen Paradigma. Der inkarnierte Christus ist zugleich ganz Eros und ganz Agape. Es ist also Jesus, der auferstandene Christus, der die Synthese von Eros und Agape zur Vollendung gebracht hat. Vgl. dazu Aiexandra Pleshoyano, Un chemin sans chemin. Mar cher de eros à agape, in: La mystique démystifiée, hg. von Fabrice Blée, Montréal 2010, 155172, bes. 169f. Vgl. Werner G. Jeanrond, Introduction à l’herméneutique théologique: Développement et sig nification, Paris 1995, 35. Vgi. De nagelaten gescliriften van Etty Hillesum (s. Anm. 2), 574. 264 ALEXANDRA PLESHOYANO DIE LIEBE ALS ,,ENZIGE LÔSUNG” intime Beziehung zu dem ausdr(ickt, den sie Gott nennt, und auf der anderen Seite ihr nicht endendes Bedfkfiuis, den anderen zuzuhôren. Sie môchte sich einzig mit Gott unterhalten, dem in ihr und dem, der ihr in den anderen begeg net, in denen sie das Ebenbild Gottes erkennt. Obwohl Hillesums Tagebuch den Eindruck einer Frau erwecken kann, die mehr mit ihrem inneren Univer sum beschftigt ist ais mit dem, was um sie herum vorgeht, so hat sie doch der Prozess der Abkehr von sich selbst, den sie begonnen hat, zu einem Engage ment inmitten der Welt geflihrt. Hillesum horcht auf ailes, was in ihr wohnt, und auf ailes, was sie umgibt. Ein Hôren nach innen und nach auBen, in dem sich die innere Welt und die iuBere Welt gegenseitig niihren. 1m Evangelium der Heiligen Zwfkonnte sie iesen: ,,Gott ist der Geist, und weiche Gott an beten, miissen ihn im Geiste und in der Wahrheit anbeten zu allen Zeiten und an allen Orten.” 62 Gott begegnen, ganz gleich wo oder wann, heiBt, Gott unab hangig begegnen zu kônnen von dem Ort, an dem man sich befindet, und un abhàngig von den Menschen und Ereignissen in unserer Umgebung. Hiliesum ftigt hinzu: ,,Und ist es nicht so, dass man tiberail beten kann, in einer Holzba racke ebenso gut wie in einem steinernen Kioster, ja, an jedem Ort, an den Gott in diesen aufgewtihlten Zeiten sein BiId schicken môchte?”63 (Ende De zember 1942) Rittelmeyer beschreibt das so: ,,Entscheidend ist nun, daB man besonders die Liebe, die im Johannesevangelium verktindigt wird, im Licht dieser Einheit sieht. Diese Liebe ist nicht bloB ein Geflihl, sondern ein Durch brechen in eine hôhere Sphre.”M Dank des Geftihls einer Gemeinschaft zwi schen allen Menschen versucht Hillesum, die Liebe zu tiben, von der der Aposte! Paulus im 13. Kapitel des ersten Korintherbriefs schreibt. Sie erfasst die Liebe in einem neuen Sinn, eine Liebe zu jedem Geschôpf, das, wie sie sagt, geschaffen ist nach dem Bilde Gottes. 1m Lager Westerbork indert sich das Verstindnis von Liebe bei Hillesum in einer noch dramatischeren Weise. Es handelt sich nicht mehr um eine naturgegebene Liebe, sondem um einen Willen, um eine Entscheidung jenseits des Gefiihls. Hillesum lasst sich vom Geheimnis der Liebe ergreifen und spilrt doch die Unmôglichkeit, es zu ratio nalisieren oder anderen zu erkhiren. Sie lernt, die Enttauschung tiber diese Sprachlosigkeit zu akzeptieren, nimmt diese Liebe in sich auf und versucht so oft wie môglich, sie zu bezeugen, sie aufstrahlen zu lassen und sie in ihre Um gebung zu verstriimen. Sie stellt fest, dass die Liebe ibren inneren Raum un endlich weiten kann und dass diese Liebe weit hinausgeht tiber Verdienst und naffirliches Geflihi ganz so, wie man es im ersten Johannesbrief lesen kann: Gott ist Liebe (vgl. 1 Joh 4,8.1 6b). Hillesum wird immer strker erfiullt von ei ner Liebe zu Gott, zu allen Geschôpfen Gottes und zu semer Schôpfung. Ob wohl sie im Lebensmittelpunkt des Menschen wurzelt, braucht diese Liebe doch eine Abwendung vom egozentrischen Ich (ik). Das ist eine radikale Transformation, in der das Ich im Selbst neu geboren wird, in der das Ich wie der Gestalt annimmt ais Ebenbild Gottes. Die Liebe, um die es hier geht, mag von einigen ais nicht menschlich angesehen werden und von anderen ais gariz und gar menschlich. Hillesum schreibt: ,,Mir wird mehr und mehr bewusst, dass die Liebe zu jeder Person, und sei sie nur fltichtig in unserer Nahe, fUr jedes Bild Gottes die Liebe zu den ieiblichen Eitem Ubertreffen mtisste. Versteht mich hier bitte nicht verkehrt. Ich weiB, dass man sagt, das sei gegen die Natur [...]. Mir ist kiar, dass es noch zu schwer fur mich ist, das zu bescbreiben, wo es doch so einfach ist zu erleben.”65. (undatier ter Brief aber wohl nach dem 18.08.1943) Eine Woche spter, immer noch im Lager Westerbork, macht Hillesum eine Hllennacht durch: ,,In dieser Nacht war ich in der Hôlle [...] I ein Name kommt mir: Herodes.”66 (24.08.1943) Wie sou man die Liebe erkennen in diesen von Hass und Grausamkeit entstellten Gesichtern? Wahrend dieser Nacht macht Hiilesum Augenblicke des Schreckens und des Zweifelns durch vor diesem eisigen und unmenschlichen Ausdruck der Soldaten: ,,Noch niemals hat mich etwas so in Angst und Schrecken versetzt wie diese Gesichter. Ich empfand, wie schwer der Satz, der doch der Leitfaden meines Lebens ist, durchzuhalten ist: ,Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde’. Dieser Satz musste mit mir einen schwierigen Morgen tiberstehen.” 6 (24.08.1943) Hiliesum versucht verzweifeit, sich von ihren ganz nattirlichen Geflihlen zu befreien, wenn sie das mitleidlose Gesicht dieser Miinner betrachtet, aber sie erblickt eine solche Verachtung, dass sie von Entsetzen ergriffen wird: ,,Plum pe Gesichter, stumpf und voiler Verachtung, in denen man vergeblich ver suchte, einen ietzten Rest Menschlichkeit zu entdecken.”68 (24.08.1943) 1m Evangelium der Heiligen Zwôf hat Hillesum auch den Abschnitt lesen kn nen, in dem der auferstandene Christus sagt: ,,Und er sprach zu ihnen: Liebet euch untereinander und aile Geschôpfe Gottes! Doch ich sage euch, es sind nicht alle Menschen, die die Gestalt von Menschen haben. Sind diese Miinner oder Frauen, die Gewalttitigkeit Uben, Unterdrtickung und Unrecht und eher eine LUge ais die Wahrheit sprechen, nach dem Ebenbiide Gottes? Nein, ich sage euch, ehe denn sie nicht wiedergeboren werden und den Geist der Liebe und der Weisheit aufhehmen in ihre Herzen. Denn nur dann sind sie Slihne und Ti5chter Israels, und wenn sie von lsrael sind, dann sind sie Kinder — 62 63 64 w• Ousley, Het Evangelie van de Heilige Twaalven (s. Anm. 21), 54 I G. J. Ouseley, Das Evangelium des volikommenen Lebens (s. Anm. 21), 113. Vgl. Joh 4,21-24. De nagelaten geschriften van Etty Hillesum (s. Anm. 2), 624. VgI. Friedrich Rittelmeyer, Briefe liber das Johannesevangelium (s. Anm. 45), 35. Der Abschnitt ist am Rand markiert mit mehreren Strichen mit zwei ,,E” fur ,,Etty” und einem ,,S” fur ,,Spier”. 265 Gottes.”69 65 67 68 69 De nagelaten geschriften van Etty Hillesum (s. Aiim. 2), 683. Ebd.,689f. Ebd., 686. Ebd., 694. Vgl. G. J. Ouseley, Das Evangelium des volikommenen Lebens (s. Anm. 21), 205. 266 ALEXANDRA PLESHOYANO In dieser entsetzlichen Hôllennacht wird Hiliesum in der tiefsten Tiefe ihres Seins auf die Probe gestelit. Wo ist das Bild Gottes? Bine junge Frau macht sich in ibrer Umgebung zu schaffen, um den anderen zu heifen: r DIE LIEBE ALS ,,EINZIGE LÔSUNG” das die anderen in der Lage sind w erdulden.” (11.07.1942) Hiilesum macht sich Gedanken aber die kommenden Generationen, da sie gewisse Fragen vo rausahnt, die nach dem Krieg aufkommen werden: ,,Ljoebotsjka fragt mich, mit ihrem seltsamen Akzent und im Tonfail eines Km des, das um Verzeihung bittet: ,Der liebe Gott wird meine Zweifel doch wohl begreifen kônnen, in einer Welt wie dieser?’ Daim wendet sie sich von mir ab in einer Bewegung, die vor unendiicher Traurigkeit beinahe anmutig wirkt, und die ganze Nacht sehe ich ihre missgestaltete Silhouette, in grime Seide gehtiilt, die sich zwischen den Betten zu schaffen macht, um denen kieine Dienste zu erwei sen, die fortgehen.”° (24.08.1943) ,,In den kommenden Jahren werden die Kinder in der Schule die Geschichte des gelben Stems lernen, der Ghettos und des Schreckens und ihnen werden die Haa re auf den Kôpfen zu Berge stehen. Aber parallel zu der Geschichte in diesen Btichern wird eine andere kursieren. Einige komfortable Sfflhle gekauft vom Geld der Versicherung, weil deine gestohlen wurden mit ah deinen andem Hab seligkeiten, weggefegt durch einen Bombenangriff von dieser Erde eine Tasse Kaffee, ein paar gute Freunde, Stimmung und ein bisschen Philosophieren. Und das Leben doch noch schôn finden. Zumindest behaupte ich, vielleicht etwas ktmhn, dass ich das Leben trotz allem schôn und liebenswert finden wiirde.”74 — —, Legt Ljoebotsjka nicht dadurch, dass sie sich so um die andem kUmmert, Zeugnis ab von der abwesenden Gegenwart der Liebe, von der abwesenden Gegenwart Gottes im Herzen des Bôsen? Zu glauben, dass jeder Mensch das Biid Gottes in sich tragt, fiïhrt Hillesum zu einem neuen Erkennen ihres Nchsten. Dieses Erkennen, jenseits der Vemunft, gibt ihr die Hoffnung, dass sie ihr natiiriiches und menschliches Gefiihi wird tiberwinden kônnen, um den Anderen mit dem Biick Gottes zu betrachten, oder, anders ausgedr(ickt, es gibt ihr die Hoffnung, den Anderen lieben zu kônnen mit der Liebe Gottes selbst. Die Liebe zu allen wird so zur ,,einzigen L5sung” fur Hillesum. Allein die Liebe kann die Welt verindem und auf neue Zeiten hoffen lassen. Sie fiihlt sich zu einer ganz besonderen Aufgabe berufen, der nâmiich, zuk(inftigen Ge nerationen ein groi3es spirituelles Erbe zu vermittein. Sie hat die Gewissheit, dass die neuen Zeiten sich bereits am Horizont abzeichnen, und sie wûnscht inbrtinstig, an ihrem Aufkommen teilhaben zu kônnen. (30.04.1942) Kann man bei Hiliesum von einem Geschichtsbewusstsein sprechen, wo man ihr doch ieicht vorwerfen kônnte, nicht in ausreichendem MaBe aber die tragi schen Ereignisse geschrieben zu haben, die sich in ihrer Umgebung abgespielt haben? Immerhin schreibt sie: ,,Wir haben w wenig Geschichtsbewusstsein. [...] Der Sinn fur die historischen Zusammenhiinge ermôglicht, das Leid zu erduiden.” (14.07.1942) Nicht nur zu erdulden, sondern auch zu handein. Hihlesum erkennt die Herausforderung und nimmt sie an, Zeugnis abzulegen fur die lebendige Gegenwart Gottes inmitten des absolut Bôsen. Ihr eigenes Geschichtsbewusstsein geht davon aus, dass ailes, was sie innerlich erlebt, ei ne Gabe ist, aber die sie Rechenschaft abiegen muss. Sie h?irt sie horcht hin ein wie wichtig es ist, den kommenden Generationen ailes weiter zu geben, was sie in dieser entmenschlichenden Lage begreift. Da, wo Schrecken und Hôlle tiberborden, nimmt Hihlesum die Liebe und die Schônheit des Lebens in ihrer nicht fassbaren Tiefe wahr. Far manche Menschen im Durchgangslager Westerbork strahit sie Freude und Frieden aus, die beide unerklrlicherweise in ihr wohnen. Sie beginnt, auf eine Gegenwart in ihr selbst w lauschen, um daim ihre Abwesenheit festzustellen. Ob es sich nun um ihre Beziehung zu ih rer Erinnerung an Spier handelt oder um ibre inflige Beziehung zu Gott sie erfuihrt die Abwesenheit, bis sie zur Ftille der Gegenwart wird. 1m Herzen des Bôsen, in dieser wtisten Heide von Westerbork, findet Hillesum Gott trotz ai lem. Sie findet ihre Zuflucht in Gott. Das Lauschen (Hineinhorchen) auf Gott in ihr und auf Gott im Anderen weckt in ihr tatschlich ein Geschichtsbe wusstsein: ,,Bin ich in diesem kleinen Abschnitt der menschlichen Geschichte euler der zahlreichen Empfanger, der etwas weitergeben muss? Aber was, das weiB ich noch nicht.”76 (04.06.1942) Der Fortbestand und die Weiterentwick lung beschiiftigen die junge Frau ebenso sehr wie die gegenseitige Solidarittit: ,,Es muss wirklich jemand fiberleben, um spter zu bezeugen, dass Gott leben — —, 4. Eine Zeugin der ,,neuen Zeiten” Etty Hillesum trifft die Entscheidung, das Los ihres Voikes w teilen, aber sie wehrt sich gegen aile, die ihr Masochismus vorwerfen.’ (11.07.1942) Sie hat das Gefthl, dass die Gemeinschaft der geschundenen und tiber die Erde ge scheuchten Menschen weit aber die Grenzen ihres Voikes hinaus reicht, bis an die Grenzen der Erde und durch die Jahrhunderte hindurch.72 (04.07.1942) Sie schickt sich in das Unausweichliche, wohl wissend, dass niemand ibr ihre in nere Kraft rauben kann. Um sie herum sind viele, die gewunscht hàtten, dass sie ihr intellektuelles und literarisches Talent in den Dienst des Widerstandes gestellt hitte. Hiilesum ist sich ihrer Talente wohl bewusst, aber ihr Giaube an Gott und ihr Engagement fUr die Ihren bringen sie von ihren literarischen Am bitionen ab. Darum antwortet sie ihren Kritikern: ,,Wenn Gott meint, dass ich noch viel w tun habe, dann will ich es tun, nachdem ich ailes erlitten habe, 7° 72 267 — Ebcl., 515. Ebd., 375. De nagelaten geschriften van Etty Hillesum (s. Anm. 2), 691. Vgl.ebd.,515. VgI. ebd., 491. 76 I Ebd., 520. Ebd., 412. 268 ALEXANDRA PLESHOYANO dig war, sogar in dieser Epoche. Und warum soute nicht ich dieser Zeuge sein?” (27.07.1942) Wie schon erwiihnt, war der ji.idische Philosoph Hans Jonas von der Lekt(ire einiger Textabschnitte Hillesums tief bewegt. Er schreibt: ,,Die Lekttire dieser Zeilen wurde fur mich, durch ein authentisches Zeugnis, zu einer erschtittern den Bestitigung meiner viel spater und in grôBerer Geborgenheit angesteliten Gberlegungen wie auch zu einer trôstlichen Korrektur meiner zu pauschalen Behauptung, nach der wir dort keine Miirtyrer haben wtirden.” Fur Jonas ist Hillesum eine Miirtyrerin im Sinne einer Zeugin fur Gott auf der Erde. Man che Menschen seien gerufen, Zeugen Gottes auf der Erde zu werden. 1m Evangelium der Heiligen Zwôfhatte Hiilesum gelesen: ,,Und abermals lehrte Jesus sie und sprach: Gott hat Zeugen erwecket fur die Wahrheit in allen Vôl kern und alien Zeiten, dass aile den Wilien des Ewigen hôren und ihn erfiullen sollen, um dann in das Knigreich einzugehen und Herrscher und Mitarbeiter des Ewigen zu werden.” In der Tat, Hiilesum wiunscht sich zu tiberieben, um Zeugnis dafiir abzule gen, dass es môglich ist, zu lieben trotz allem: ,,Das ist auch die einzige Art, in der wir die neue Zeit vorbereiten kônnen, indem wir sie bereits in uns vorbe reiten. Irgendwo in mir bin ich so leicht, so wunderbar der Verbitterung ent hoben, und ich habe so viel Kraft und Liebe in mir.”80 (20.07.1942) So beginnt sie, die neue Zeit vorzubereiten, sie bereitet sie vor allem in sich selbst vor. Sic schreibt den folgenden Satz aus dem Matthiiusevangelium in ihr Tagebuch: ,,Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach semer Gerechtigkeit, so wird euch das ailes zufailen (vgi. Mt 6,33).”81 (24.09.1942) Dieser Abschnitt findet sich auch im Evangelium der Heiligen Zwôf 82 Hier hat Hiiiesum auch lesen kônnen, dass der Mensch aufgerufen ist, die Kleider der Liebe, des Heiis und der Gerechtigkeit anzuziehen, denn wenn er sic nicht anzieht, wird er gieich sein einem tônenden Erz und einer kiingenden Scheile. Man erkennt hier den Ankiang sowohi an die biblische Stelie in Mt 6,33 aIs auch an das 13. Kapitel des ersten Briefs von Paulus an die Korinther, das Hohelied der Lie be.83 Hiliesum ist tiberzeugt, dass die Liebe Gottes, angewendet auf die Nichs — “ 80 81 82 83 Ebd., 536. Hans Jonas, Le Concept de Dieu après Auschwitz (s. Aiim. 47), 43f. Vgl. ders., Metaphy sische und religionsphilosophische Studien (s. Aiim. 47), 532. W. Ousley, Het Evangelie van de Heilige Twaalven (s. Anm. 21), 77 / G. J. Ouseley, Das Evangelium des volikommenen Lebens (s. Anm. 21), 154. Die deutsche Version ist mit der niederlitndischen nicht ganz identisch. Der zitierte Text berticksicht die niederlitndische Ver sion. De nagelaten geschriften van Etty Hillesum (s. Aiim. 2), 526. Ebd., 562. Vgl. W. Ousley, Flet Evangelie van de Heilige Twaalven (s. Anm. 21), 31 / G. J. Ouseley, Das Evangelium des volikommenen Lebens (s. Anm. 21), 71. Vgl. W. Ousley, Het Evangelie van de Heilige Twaalven (s. Anm. 21), 114 / G. J. Ouseley, Das Evangelium des volikommenen Lebens (s. Anm. 21), 218: ,,WeiBes Linnen ist das Kleid der Rechtschaffenheit der Heiligen; doch wahrlich, die Zeit wird kommen, da Zion verlassen sein wird, und wenn die Zeit ihrer Heimsuchung voriiber sein wird, wird sie auferstehen und f 269 DIE LIEBE ALS ,,EINZIGE LOSUNG” tenliebe und dieser Nchste ist man zunachst immer selbst hoffen lsst fur die neue Zeit, in der die Liebe siegt Uber den Hass. Wieder einmai nimmt Hii lesum das Hoheiied der Liebe des Pauius ais Beispiei und schreibt in einem Brief: ,,Und ich môchte auch dies sagen, vieiieicht kindiich, aber hartnickig, dass diese Erde nur durch die Liebe wieder cm wenig bewohnbar werden kônnte tiber diese hat der Jude Pauius damais im dreizehnten Kapitei seines ersten Briefes an die Bewohner der Stadt Korinth geschrieben.”84 (Ende De zember 1942) Ohne Gott wird die Erde unbewohnbar, denn Gott ist Liebe. Ist diese Liebe nicht das einzigc Antiitz, das es uns ermôglicht, Gott inmitten der Weit zu erkennen, ja sogar inmitten einer Weit, die entsteiit ist vom Bi3sen? Hiilesum versucht, durch sich hindurch den Gianz der Liebe aufscheinen zu lassen, der Zeugnis gibt vom Biid Gottes im geschaffenen Wesen. Die Hoffnung auf eine neuc Zeit ruht bei Hiilesum in Gott, dcr die Liebe ist. Die Angst in so schreckiichen Zeiten httte sic wahrscheiniich in die Ver zweiflung gesttirzt, wenn sic nicht in der Tiefe ihrer Seeie cine Ahnung emp fangen hutte, und sei sic noch so dunkel, einer Berufung gewissermaBen, einer zu erfiulienden Aufgabe. Hiiiesum hat die Gewissheit, dass sic zu etwas bern fcn ist, das ihre Vorsteiiungskraft Ubersteigt, denn sic sptirt die Gegenwart Gottes in sich und um sich. Sic wiii Zcugnis abiegen fur Gott in eincr so tragi schen Zcit. Aber gab es tiberhaupt Wortc, mdchtig genug, ihr Zeugnis giaub haft zu machen? Karm man von einem Gott dcr Liebe sprechen, wenn Hass und Gewait entfesseit tiber Unschuidige hereinbrcchen? Aber seibst wenn sic sich manchmai erdriickt fihit unter der Last einer solch tragischen Epoche, 50 ist sic doch davon tibcrzcugt, dass diese Zeiten einmai verstanden werden wtirden ais groBe historische Momcnte. Sic hat den Eindruck, aile Ercignisse ihres vcrgangenen und zukunftigen Lcbcns bcrcits in sich aufgenommen zu habcn. Ihrc Arbeit besteht nun darin, eine Geseilschaft aufzubauen, die auf die jetzige foigen wird. Sic gebraucht das Bild der Spinne, um ihrcn Frcundcn in einem Brief den sic ihncn aus dem Lagcr Westerbork schickt, zu crkhircn, wic sic ihr Leben und ihre Hoffhung auf einc neue Weit versteht: — —, — ,,Wenn eine Spinne ihr Netz webt, wirft sic zuerst die Hauptfuiden voraus, dann kiettert sic seibst hinterher? Die HauptstraBe meines Lebens streckt sich schon weit nach vorn vor mir aus und reicht bis in cille andere Welt. Das Netz ist ailes, was hier geschieht und was noch geschehen wird, ailes irgendwo in mir ver- 84 ibre schônen Gew5nder aniegen, wie geschrieben stehet. Doch suchet den Weg der Recht schaffenheit, und ail diese Dinge werden euch hinzugegeben werden. Suchet in aiien Dingen Einfachheit, und gebet keine Gelegenheit zu eitiem Ruhme. Suchet zuerst bekieidet zu sein mit Barmherzigkeit und mit dem Kieide der Eriôsung und dem Kieide der Rechtschaffenheit. Wofiir wEre es von Nutzen, wenn ihr diese nicht habt? Wie der Kiang des Erzes und das Kiingein des Cymbals seid ihr, so ihr nicht die Liebe habt. Suchet die Rechtschaffenheit, die Liebe und den Frieden, tond aile Dinge der Schdnheit werden euch hinzugegeben werden.” Der zitierte Text ist dem hoilandischen ieicht angepasst, um den Bezug zu verdeutiichen. De nagelaten geschriflen van Etty Hillesum (s. Anm. 2), 629. 270 ALEXANDRA PLESHOYANO bucht, ich habe das ailes bearbeitet und durchlebt und arbeite schon daran, eine Gesellschaft zu bauen, die der jetzigen folgen wird.” (03.07.1943) Diese Worte Hillesums kommentierend, schreibt Ysé Tardan-Masquelier: ,,[Hil lesum] weiB aus geheimnisvoller Quelle, dass die Friichte einer spirituellen Erfahrung nicht sterben knnen, dass sie weit hinausreichen iiber die Individuen, in denen sic erbltiht sind, und so fruchtbar werden fur kiinftige Seelen. Denn derjenige, der die Spiritualitit gepflegt hat, iffnet seine Erfahrungen in ihrer Begrenztheit der Grenzenlosigkeit des Gôttlichen.”n Trotz aller Schre cken, die sich in dieser Welt ausbreiten, ht1t Hillesum trotz allem daran fest, auf eine neue Zeit zu hoffen. 5. Restimec Die Therapie, die Hillesum an der Seite von Julius Spier in Angriff genommen hat, war eine Ûbung der Schau nach innen, des In-sich-Hineinhorchens, die sic zu ciner besseren Kenntnis ihres inneren Lebens gefiihrt hat und zum Entde cken dieses besseren Teils ihrer selbst, den sic Gott nannte. Ftir manche ist dieses Unterfangen der Introspektion mitten in der Shoah cm Skandal. Hen nette Boas zufolge war Hillesum mehr mit ihren cigenen Problemen in Bezug auf die Liebe und Sexualitat beschaftigt ais mit der dramatischen Lage ihrer Epoche. Ihrer Meinung nach zeigt sich in diesem Verhalten cm Mensch, der mehr egozentrisch als altruistisch ist.87 Das widerspricht aber in ekiatanter Weise dem Selbstverstândriis von Hillesum: ,,,An sich selbst zu arbeiten’, das ist wirklich kein morbider Individualismus. Und aus einem Frieden wird spitter nur daim ein authentischer Frieden, wenn jedes Individuum in sich selbst den Frieden etabliert, den Hass auf seine Mitmen schen, welcher Rasse oder welchem Volk sic auch angehôren môgen, austilgt und tiberwindet und ihn in etwas anderes verwandelt, das nicht mehr Hass ist, vielleicht sogar auf lange Sicht in Liebe, oder heiBt das, zu viel verlangen? Den noch ist es die einzige Lôsung.”88 (20.06.1942) Ohne Zwcifcl kann sich die wahre Liebe nur cinwurzeln in eincr authentischen Selbstlicbc, dort, wo dcr Feind, d.h. unser Schatten bezwungen worden ist. Stellen die Schriften Hillcsums eincn thcologischcn Bcitrag zum Thema ,,Theologie nach Auschwitz” dar? Scit Auschwitz stcllcn Thcologcn und Phi J DIE LIEBE ALS ,,EINZIGE LÔSUNG” Iosophen, besonders im jtidischen Umfeld,89 das tiberkommenc Gottesvcrstiind nis in Frage. Wcr ist diescr Gott, der scinem Bundesvolk so vici versprochen hat, um es dann der Allmacht des Wahnsinns zu tiberlassen? Was bleibt von diesem Gott aul3en einem gnoi3cn Schweigen, was kann man noch sagen? Wenn auch Hillesum die Shoah nicht tiberlcbt hat, haben doch ihnc Schniftcn tiber lebt und zeugen laut und kraftvoll von der Tatsachc, dass die Ohnmacht Gottes kein Skandal mchr ist, sondcm cm Appcll, selbst Vcnantwortung zu Ubernch men und sich mn die Liche einzusetzcn, cm Appeli, Gott zu verteidigen und ibm zu helfen mitten in unsenen vcnletztcn Wclt. Durch die Allmacht semer Liebc gibt sich Gott in unsere Hânde. In ihrcm lctztcn Bnief an ihre Freundin Maria, fiinf Tage vor ihrer Depontation nach Auschwitz, heit3t es: ,,Wcnn wir es nur so machten, trotz allem, Maria, dass Gott bei uns in guten Hiinden wa ° (02.09.1943) 9 ne.” Hillesum hat die Ver-aniwortung tibemommen, mit Gott zusammcnzuanbci ten, das heil3t, sic hat es auf sich genommen, fUn ihr Leben und fuir Gott cinzu stehen. Das Entscheidcndc ist fUr sic nicht, einen Begriif von Gott zu definic nen, sondenn ihm gemaB zu leben und ihn zu bczeugen. In diesem Sinne meint auch Klaas A. D. Smelik, dass die Schriften Hillesums sehr wohl cinen Bei trag dazu leisten kônnen, unsene Gottcsbilder zu tibcrdenken und am Glauben an Gott festzuhalten trotz allem nicht nur am Glauben an Gott, sondern auch an unsenem Glauben an die Menschhcit, denn das eine gcht nicht ohne das an ’ An Gott zu glauben, ist nicht môglich, schncibt Edwand Schillebecckx, 9 dene. wenn wir nicht an die Menschheit glaubcn.92 Hillesum tnâgt einen tiefen Glati ben an Gott und an die Menschheit in sich. Jecle menschliche Gottcserkenntnis ist nach David Tnacy immer zuglcich eine Selbsterkenntnis und umgekehrt. Niemand kann behauptcn, an Gott zu glauben, wenn er nicht an die Mensch heit glaubt, denn wie kônnten wir an etwas glauben, das wir nicht schen, wenn wir nicht cinmal an das glauben kÔnnen, das wir sehen (vgl. 1 Joh 4,20)? 1m Evangelium der Heiligen Zwôf hat Hillesum den folgenden Satz lesen kôn nen: ,,Licbe ist die Erfiillung des Gcsetzes. Liebe ist von Gott, und Gott ist die Liebe. Wer nicht licbt, den kennt Gott nicht.” Auch nach Jung wind denen, die viel gcliebt haben, viel vengeben werden, aber denen, die wenig gclicbt haben, wird die Vengebung venweigert (vgl. Lk 7,47 u. Joh 20,23). Es ist kci ne Fnage: Wenn die Liebe die Kraft ist, die zur Veneinigung fiihrt, dann ist sic die ,,einzige LÔsung” trotz allem. — — 89 90 85 86 87 88 Vgl. ebd., 657. Frédéric Lenoir / Ysé Tardan-Masquelier (Hg.). Le livre des sagesses, l’aventure spirituelle de l’humanité, Paris 2002, 1591. Vgl. Henriette Boas, Meer egocentrisme dan heiligheid, in: Jan-G. Gaarlandt (Hg.), Men zou een pleister op vele wonden willen zijn: Reacties op de dagboeken en brieven van Etty Hil lesuni, Amsterdam 1989, 45. De nagelaten geschriften van Etty Hillesum (s. Anm. 2), 458. 271 91 92 9 Vgl. z.B. die Arbeiten und Reflexionen von David R. Blumenthal, Martin Buber, Emil Fackenheim, Hans Jonas oder Emmanuel Levinas. De nagelaten geschriften van Etty Hillesum (s. Anm. 2), 701. Klaas A. D. Smelik, Reacties op Etty Hillesum, in: Jan-G. Gaarlandt, Men zou een pleister, 210-219. Vgl. Edward Schillebeeckx, Interim Report on the books Jesus md Christ, New York 1981, 125. VgI. David Tracy, The Analogical Imagination: Christian Theology and tise Culture of Plural ism, New York 1981, 429. Vgl. G. J. Ouseley, Das Evangelium des volikommenen Lebens (s. Anm. 21), 178. Vgl. Mt 7,21f Vgl. Cari Gustav Jung, Psychology and Religion (s. Anm. 17), 347.