ISSN 1027-5657
Flucht
Sonderdruck
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ger ist auch Sender (Brecht, Radiotheorie), Reproduktion ist Aufklärung (Benjamin, Kunstwerk im Zeitalter …), das
elektronische Medium hat eine mobilisierende Kraft (Enzensberger, Baukasten
zu einer heorie der Medien). Und diese
Tradition lebt ofenbar. Eine direkte,
plurale Demokratie, die die Codes des
Nationalstaates hinter sich gelassen hat,
ist in Massengesellschaften durch das
Internet und seine User heute möglich.
Diese Vision ist zugleich eine Ideologie.
Dieser Doppelaspekt wird von Serres zu
betonen völlig vergessen.
Entweder ist man mit Husserl der
Meinung, dass die Lebenswelt in ihrer
Wesensstruktur ungeändert bleibt, was
immer wir kunstlos oder als Kunst
tun, dann ist sie vor jeder Ideologie
geschützt. Oder Raum und Zeit sind
nicht mehr wie einst auf der Lorettohöhe, dann gibt es Gründe, die Veränderungen auch als Deformation wahrzunehmen.2
Martin W. Schnell, Gelsenkirchen
Schnell@uni-wh.de
Anmerkungen
1 M. Serres: Der Parasit, Frankfurt/M.
1981, S. 88 f.; vgl. auch: Roland Barthes:
Das Neutrum, Frankfurt/M. 2005.
2 M. W. Schnell: »Ideologie und Anthropologie. Zur Wiederkehr des leiblosen
Geistes«, in: Greving, H./Gröschke, D.
(Hg.): Gesellschaftsanalytische und gesellschaftskritische Perspektiven, Bad Heilbrunn 2002.
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▶ Jörg Sternagel: Pathos des Leibes.
Phänomenologie ästhetischer Praxis. Zürich: diaphanes 2016. 200
S. ISBN 978-3-03734-557-3, EUR
18,–.
Die phänomenologische Tradition im
deutschsprachigen Raum erfuhr durch
den französischen Nachkriegsphänomenologen Maurice Merleau-Ponty eine
entscheidende Wende. Zentrale Konzepte aus dem husserlschen Œuvre aufgreifend, erwuchs aus Merleau-Pontys
Position eine eigenständige Phänomenologie, die Erfahrung/Praxis sowie
Wahrnehmung/Ästhetik
untrennbar
verband und der Leiblichkeit als die
nicht-objektivierbare Dimension unseres Zur-Welt-Seins eine zentrale Stellung
zuwies: Wahrnehmung ist nicht ohne
leibliche Verankerung zu haben, der
Leib jedoch ist gekennzeichnet durch
seine Aktivität, die anders gesagt nichts
anderes als sein Modus des Ausdrucks,
d. h. der Expressivität, ist.
Zwar liegt mit Merleau-Ponty die
systematische Entfaltung einer Phänomenologie der Wahrnehmung (1966
[franz. 1945]) bzw. der Leiblichkeit vor,
jedoch fehlt trotz seiner bis zum Ende
fortgeführten Auseinandersetzung mit
dem Ästhetischen eine derart zusammengeführte Untersuchung (vgl. etwa
Kapust/Waldenfels 2000). Das mag
ein Grund dafür sein, dass sich bislang keine ausformulierte Fortführung
einer merleau-pontyschen ÄsthetikPhänomenologie etabliert indet. Vielversprechend mutet daher auf den ersten
Blick Jörg Sternagels vorliegender und
im Untertitel so bezeichneter Versuch
einer Phänomenologie der ästhetischen
Praxis an, die sich in ihrer Ausführung
gewillt zeigt, Merleau-Pontys Erbe fortzuführen.
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Nun wird man sich jedoch irren,
falls man hierbei eine Arbeit über
Merleau-Ponty erwarten würde. Denn
tatsächlich handelt es sich in mindestens elf von vierzehn Kapiteln um Einzeluntersuchungen der konkreten Praxis
von Künstlern: Dichter, Fotografen,
Schriftstellerinnen, Filmemacher oder
Schauspielerinnen und deren Praktiken werden im Lichte interdisziplinärer
Forschung phänomenologisch untersucht. Und auch zeigt sich in den ersten beiden Kapiteln (statt einer Einleitung), dass die Entfaltung der eigenen
Zugangsweise zwar eine leibphänomenologische ist, jedoch über eine bloß
merleau-pontysche hinausgeht.
So werden im ersten Kapitel (»Sichtbarkeit, Sichtbarmachung, Unsichtbarkeit«, S. 7–22) nach einem historischen Zugrif auf das Sichtbare
zunächst merleau-pontysche Überlegungen an Phänomene wie die BildWahrnehmung, das Verhältnis von
Sichtbarem und Unsichtbarem sowie
allgemein die Medialität des Bildes
herangetragen und solcherart dessen
Gedanken zur Ästhetik entscheidend
eingebunden. Das zweite Kapitel (»Responsivität des Leibes«, S. 23–39) jedoch
weist den eigentlichen Zugrif aus. Sternagel folgt dem vielleicht wichtigsten
Fortdenker Merleau-Pontys im deutschsprachigen Raum: Bernhard Waldenfels und dessen Phänomenologie der
Responsivität. Damit ausgesprochen ist
denn auch, was sich in den darauffolgenden Kapiteln auszuweisen hat:
»Sinne und Künste beinden sich in
einem Wechselspiel, versetzt in einem
weiteren Modell des Zwischen, in dem
der Leib als Umschlagstelle fungiert«
(S. 38 f.). Diese Schwellenerfahrungen
und der Modus der Verwobenheit von
aktuellem und habituellem Leib sind
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es, welche die Untersuchungen anleiten
und die Sternagel um rezente Ansätze
erweitert, durch die nicht zuletzt auch
die interdisziplinäre Anknüpfungsfähigkeit der Phänomenologie ein weiteres
Mal vor Augen geführt wird.
Während historisch traditionsreichen Künsten wie der Dichtkunst und
Schriftstellerei jeweils nur einzelne Kapitel gewidmet sind, inden wir bei Sternagel einen besonderen Schwerpunkt
in der Untersuchung des Medialen, die
sich insbesondere am Film zeigt: Hier ist
die Frage nach der künstlerischen Praxis, sind die Bezüge zwischen Betrachterin, künstlerisch Schafendem und
Werk ungleich komplexer und werden
entsprechend um grundlegende Fragen
erweitert: Was bedeutet die Entwicklung von Bild zu Bewegungsbildern?
Was hat die Phänomenologie bisher
zum Film zu sagen? Auf welche Phänomene verweist das Filmen in seiner
ininitiven Form? Was wird durch den
Film mitgeteilt und welche agency kann
man hieran ablesen? Und schließlich:
Welche Rolle kommt hierbei der Schauspielerin zu, in der sich nach Sternagel
»Aktualität und Habitualität« (S. 187)
vereinen und die somit über den Film
von Beginn an hinausweist? So wird
etwa im Kapitel »Spuren des Realen«
(S. 183–190) die leibliche Situation
des Schauspielers als Bedeutungsträger
und -ausdruck vor Augen geführt, wenn
Sternagel die Szene, in der Anna Karina
in Godards Pierrot le Fou von 1965 ein
Spiel mit der Schere vollführt, nicht nur
zum Anlass nimmt, den Scherenschnitt
als Metapher für den Filmschnitt auszulegen. Deutlich wird an ihrer Performanz auch das, was Merleau-Ponty
im Ausgang von Husserls genetischer
Phänomenologie als den »Erwerb einer
Gewohnheit« bezeichnet: »Ihr Umgang
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mit der Schere geschieht in Eingewöhnung durch Betätigung« (S. 187), sowie
auch der Filmschnitt solcherart ein Werden hat, das sich erst im Ausdruck
verwirklicht und weit entfernt davon
ist, lediglich Vollendung einer Intention zu sein. Doch wie steht es um die
eigentliche Frage, wie ein Zugrif auf
künstlerische Praxis phänomenologisch
geschehen kann? So wird diese Frage
zunächst wie folgt beantwortet: »Das
Interesse einer Phänomenologie künstlerischer Praxis gilt [...] dem Leib, der
etwas erscheinen lässt, in der Lebenswelt, im Alltag, im Wohnbereich, im
Studio, im Atelier, dem indigen Leib,
der er-indet, herstellt, gestaltet, entwirft, sich etwas aneignet und umformt«
(S. 57). Lassen sich aber alltägliche und
künstlerische Praxis hier unterscheiden?
Sternagel selbst stellt diese Frage; und
wieder ist es der Scherenschnitt bzw. der
Schattenriss, der den Versuch einer Antwort liefert: Wie dem Scherenschnitt,
der zu Beginn einer jeden Folge von
Hitchcocks Fernsehserie Alfred Hitchcock Presents eingeblendet wird und in
den Hitchcock selbst »eintritt«, liegt
jeder künstlerischen Praxis ein Können des Leibes zugrunde: »Ausdruck,
Wirken bzw. künstlerisches Schafen
setzen sich in der leiblichen Erfahrung
vor dem Horizont der Welt ab, rücken
diesen ins Licht, deinieren Kultur«
(S. 62); qua Medium des Leibes wird
nicht nur eine stets implizite Distanz
zur Welt deutlich, die auch als »vermittelte Unmittelbarkeit« im plessnerschen
Sinne zu verstehen ist. In ihr wird zudem
deutlich, dass leibliches Zur-Welt-Sein
immer der Ausdruck dieser DistanzErfahrung ist: »Ausdruck bedeutet nicht
einfach Nachaußentreten dessen, was
ich innerlich bereits habe, sondern der
Ausdruck ist die Realisierung des Sinnes«
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(S. 189). Genau hier ist Expressivität in
einem künstlerischen Sinne zu verorten:
Ausdruck weist über den lediglichen
Umgang hinaus, importiert stets mehr
als das unmittelbar Erfahrene und vermag somit Vergangenes und Antizipiertes zu importieren, um im Ausdruck ein
Verhältnis von Selbst und Welt auszudrücken.
Die Lektüre kann so als eine inspirierende Reise erfahren werden, die noch
kaum phänomenologisch entdeckte
Verweisungszusammenhänge zwischen
Medien, Kunstschafenden und Rezipientin, interdisziplinären Diskursen
und traditionellen Denkströmungen
aufdeckt. Nichtsdestotrotz bleibt es ein
Versuch, der sich in vielen Teilen als eine
Einführung zeigt. Doch genau darin
liegt die Stärke dieses Texts: Die Einführung gilt als eine Heran-Führung –
und ist dadurch nicht zuletzt lesbar als
der Appell einer »Ethik der Ekstasis« (S.
199), die den Kern einer Phänomenologie künstlerischer Praxis in eben jenem
notwendigen Ausdruck wiedererkennt,
welcher auch der phänomenologischen
Beschreibung inhärent sein sollte.
Selin Gerlek, Hagen
selin.gerlek@fernuni-hagen.de
▶ Erik M. Vogt: Ästhetisch-politische
Lektüren zum »Fall Wagner«.
Adorno – Lacoue-Labarthe – Žižek
– Badiou. Wien: Turia + Kant 2015.
255 S., ISBN 978-3851327892,
EUR 32,–.
Für heodor W. Adorno fungierte das
umfangreiche theoretische und künstlerische Werk Richard Wagners über dreißig Jahre hinweg als Fallstudie. Adorno
präsentierte dabei Überlegungen in
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