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Jörg Sternagel: Pathos des Leibes. Phänomenologie ästhetischer Praxis, in: Journal Phänomenologie 46/2016

ISSN 1027-5657 Flucht Sonderdruck 46/2016 73 73 ger ist auch Sender (Brecht, Radiotheorie), Reproduktion ist Aufklärung (Benjamin, Kunstwerk im Zeitalter …), das elektronische Medium hat eine mobilisierende Kraft (Enzensberger, Baukasten zu einer heorie der Medien). Und diese Tradition lebt ofenbar. Eine direkte, plurale Demokratie, die die Codes des Nationalstaates hinter sich gelassen hat, ist in Massengesellschaften durch das Internet und seine User heute möglich. Diese Vision ist zugleich eine Ideologie. Dieser Doppelaspekt wird von Serres zu betonen völlig vergessen. Entweder ist man mit Husserl der Meinung, dass die Lebenswelt in ihrer Wesensstruktur ungeändert bleibt, was immer wir kunstlos oder als Kunst tun, dann ist sie vor jeder Ideologie geschützt. Oder Raum und Zeit sind nicht mehr wie einst auf der Lorettohöhe, dann gibt es Gründe, die Veränderungen auch als Deformation wahrzunehmen.2 Martin W. Schnell, Gelsenkirchen Schnell@uni-wh.de Anmerkungen 1 M. Serres: Der Parasit, Frankfurt/M. 1981, S. 88 f.; vgl. auch: Roland Barthes: Das Neutrum, Frankfurt/M. 2005. 2 M. W. Schnell: »Ideologie und Anthropologie. Zur Wiederkehr des leiblosen Geistes«, in: Greving, H./Gröschke, D. (Hg.): Gesellschaftsanalytische und gesellschaftskritische Perspektiven, Bad Heilbrunn 2002. 74 73 ▶ Jörg Sternagel: Pathos des Leibes. Phänomenologie ästhetischer Praxis. Zürich: diaphanes 2016. 200 S. ISBN 978-3-03734-557-3, EUR 18,–. Die phänomenologische Tradition im deutschsprachigen Raum erfuhr durch den französischen Nachkriegsphänomenologen Maurice Merleau-Ponty eine entscheidende Wende. Zentrale Konzepte aus dem husserlschen Œuvre aufgreifend, erwuchs aus Merleau-Pontys Position eine eigenständige Phänomenologie, die Erfahrung/Praxis sowie Wahrnehmung/Ästhetik untrennbar verband und der Leiblichkeit als die nicht-objektivierbare Dimension unseres Zur-Welt-Seins eine zentrale Stellung zuwies: Wahrnehmung ist nicht ohne leibliche Verankerung zu haben, der Leib jedoch ist gekennzeichnet durch seine Aktivität, die anders gesagt nichts anderes als sein Modus des Ausdrucks, d. h. der Expressivität, ist. Zwar liegt mit Merleau-Ponty die systematische Entfaltung einer Phänomenologie der Wahrnehmung (1966 [franz. 1945]) bzw. der Leiblichkeit vor, jedoch fehlt trotz seiner bis zum Ende fortgeführten Auseinandersetzung mit dem Ästhetischen eine derart zusammengeführte Untersuchung (vgl. etwa Kapust/Waldenfels 2000). Das mag ein Grund dafür sein, dass sich bislang keine ausformulierte Fortführung einer merleau-pontyschen ÄsthetikPhänomenologie etabliert indet. Vielversprechend mutet daher auf den ersten Blick Jörg Sternagels vorliegender und im Untertitel so bezeichneter Versuch einer Phänomenologie der ästhetischen Praxis an, die sich in ihrer Ausführung gewillt zeigt, Merleau-Pontys Erbe fortzuführen. J. Phänomenol. 46/2016 73 74 74 Nun wird man sich jedoch irren, falls man hierbei eine Arbeit über Merleau-Ponty erwarten würde. Denn tatsächlich handelt es sich in mindestens elf von vierzehn Kapiteln um Einzeluntersuchungen der konkreten Praxis von Künstlern: Dichter, Fotografen, Schriftstellerinnen, Filmemacher oder Schauspielerinnen und deren Praktiken werden im Lichte interdisziplinärer Forschung phänomenologisch untersucht. Und auch zeigt sich in den ersten beiden Kapiteln (statt einer Einleitung), dass die Entfaltung der eigenen Zugangsweise zwar eine leibphänomenologische ist, jedoch über eine bloß merleau-pontysche hinausgeht. So werden im ersten Kapitel (»Sichtbarkeit, Sichtbarmachung, Unsichtbarkeit«, S. 7–22) nach einem historischen Zugrif auf das Sichtbare zunächst merleau-pontysche Überlegungen an Phänomene wie die BildWahrnehmung, das Verhältnis von Sichtbarem und Unsichtbarem sowie allgemein die Medialität des Bildes herangetragen und solcherart dessen Gedanken zur Ästhetik entscheidend eingebunden. Das zweite Kapitel (»Responsivität des Leibes«, S. 23–39) jedoch weist den eigentlichen Zugrif aus. Sternagel folgt dem vielleicht wichtigsten Fortdenker Merleau-Pontys im deutschsprachigen Raum: Bernhard Waldenfels und dessen Phänomenologie der Responsivität. Damit ausgesprochen ist denn auch, was sich in den darauffolgenden Kapiteln auszuweisen hat: »Sinne und Künste beinden sich in einem Wechselspiel, versetzt in einem weiteren Modell des Zwischen, in dem der Leib als Umschlagstelle fungiert« (S. 38 f.). Diese Schwellenerfahrungen und der Modus der Verwobenheit von aktuellem und habituellem Leib sind J. Phänomenol. 46/2016 74 es, welche die Untersuchungen anleiten und die Sternagel um rezente Ansätze erweitert, durch die nicht zuletzt auch die interdisziplinäre Anknüpfungsfähigkeit der Phänomenologie ein weiteres Mal vor Augen geführt wird. Während historisch traditionsreichen Künsten wie der Dichtkunst und Schriftstellerei jeweils nur einzelne Kapitel gewidmet sind, inden wir bei Sternagel einen besonderen Schwerpunkt in der Untersuchung des Medialen, die sich insbesondere am Film zeigt: Hier ist die Frage nach der künstlerischen Praxis, sind die Bezüge zwischen Betrachterin, künstlerisch Schafendem und Werk ungleich komplexer und werden entsprechend um grundlegende Fragen erweitert: Was bedeutet die Entwicklung von Bild zu Bewegungsbildern? Was hat die Phänomenologie bisher zum Film zu sagen? Auf welche Phänomene verweist das Filmen in seiner ininitiven Form? Was wird durch den Film mitgeteilt und welche agency kann man hieran ablesen? Und schließlich: Welche Rolle kommt hierbei der Schauspielerin zu, in der sich nach Sternagel »Aktualität und Habitualität« (S. 187) vereinen und die somit über den Film von Beginn an hinausweist? So wird etwa im Kapitel »Spuren des Realen« (S. 183–190) die leibliche Situation des Schauspielers als Bedeutungsträger und -ausdruck vor Augen geführt, wenn Sternagel die Szene, in der Anna Karina in Godards Pierrot le Fou von 1965 ein Spiel mit der Schere vollführt, nicht nur zum Anlass nimmt, den Scherenschnitt als Metapher für den Filmschnitt auszulegen. Deutlich wird an ihrer Performanz auch das, was Merleau-Ponty im Ausgang von Husserls genetischer Phänomenologie als den »Erwerb einer Gewohnheit« bezeichnet: »Ihr Umgang 75 74 75 75 mit der Schere geschieht in Eingewöhnung durch Betätigung« (S. 187), sowie auch der Filmschnitt solcherart ein Werden hat, das sich erst im Ausdruck verwirklicht und weit entfernt davon ist, lediglich Vollendung einer Intention zu sein. Doch wie steht es um die eigentliche Frage, wie ein Zugrif auf künstlerische Praxis phänomenologisch geschehen kann? So wird diese Frage zunächst wie folgt beantwortet: »Das Interesse einer Phänomenologie künstlerischer Praxis gilt [...] dem Leib, der etwas erscheinen lässt, in der Lebenswelt, im Alltag, im Wohnbereich, im Studio, im Atelier, dem indigen Leib, der er-indet, herstellt, gestaltet, entwirft, sich etwas aneignet und umformt« (S. 57). Lassen sich aber alltägliche und künstlerische Praxis hier unterscheiden? Sternagel selbst stellt diese Frage; und wieder ist es der Scherenschnitt bzw. der Schattenriss, der den Versuch einer Antwort liefert: Wie dem Scherenschnitt, der zu Beginn einer jeden Folge von Hitchcocks Fernsehserie Alfred Hitchcock Presents eingeblendet wird und in den Hitchcock selbst »eintritt«, liegt jeder künstlerischen Praxis ein Können des Leibes zugrunde: »Ausdruck, Wirken bzw. künstlerisches Schafen setzen sich in der leiblichen Erfahrung vor dem Horizont der Welt ab, rücken diesen ins Licht, deinieren Kultur« (S. 62); qua Medium des Leibes wird nicht nur eine stets implizite Distanz zur Welt deutlich, die auch als »vermittelte Unmittelbarkeit« im plessnerschen Sinne zu verstehen ist. In ihr wird zudem deutlich, dass leibliches Zur-Welt-Sein immer der Ausdruck dieser DistanzErfahrung ist: »Ausdruck bedeutet nicht einfach Nachaußentreten dessen, was ich innerlich bereits habe, sondern der Ausdruck ist die Realisierung des Sinnes« 76 75 (S. 189). Genau hier ist Expressivität in einem künstlerischen Sinne zu verorten: Ausdruck weist über den lediglichen Umgang hinaus, importiert stets mehr als das unmittelbar Erfahrene und vermag somit Vergangenes und Antizipiertes zu importieren, um im Ausdruck ein Verhältnis von Selbst und Welt auszudrücken. Die Lektüre kann so als eine inspirierende Reise erfahren werden, die noch kaum phänomenologisch entdeckte Verweisungszusammenhänge zwischen Medien, Kunstschafenden und Rezipientin, interdisziplinären Diskursen und traditionellen Denkströmungen aufdeckt. Nichtsdestotrotz bleibt es ein Versuch, der sich in vielen Teilen als eine Einführung zeigt. Doch genau darin liegt die Stärke dieses Texts: Die Einführung gilt als eine Heran-Führung – und ist dadurch nicht zuletzt lesbar als der Appell einer »Ethik der Ekstasis« (S. 199), die den Kern einer Phänomenologie künstlerischer Praxis in eben jenem notwendigen Ausdruck wiedererkennt, welcher auch der phänomenologischen Beschreibung inhärent sein sollte. Selin Gerlek, Hagen selin.gerlek@fernuni-hagen.de ▶ Erik M. Vogt: Ästhetisch-politische Lektüren zum »Fall Wagner«. Adorno – Lacoue-Labarthe – Žižek – Badiou. Wien: Turia + Kant 2015. 255 S., ISBN 978-3851327892, EUR 32,–. Für heodor W. Adorno fungierte das umfangreiche theoretische und künstlerische Werk Richard Wagners über dreißig Jahre hinweg als Fallstudie. Adorno präsentierte dabei Überlegungen in J. Phänomenol. 46/2016 75