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" Von der Schwelle aus " - Anregungen aus Sang Hyun Lee's „From a Liminal Place. An Asian American Theology“, 2010, 200 Seiten, S. 1-87

„Von der Schwelle aus“ Anregungen aus Sang Hyun Lee's „From a Liminal Place. An Asian American Theology“, 2010, 200 Seiten, S. 1-87 A. Hintergründe 1. Der Autor Sang Hyun Lee (* 1938) stammt aus Korea. Er kam als Student in die USA und blieb dort. Bis zu seiner Emeritierung lehrte er Systematische Theologie am Princeton Theological Seminary. Ein Forschungsschwerpunkt war die Theologie des Erweckungs-Theologen Jonathan Edwards (1703 – 1758). S. H. Lee ist Mitglied einer presbyterianischen Gemeinde. 2. Das Buch In „From a Liminal Place“ reflektiert S. H. Lee die Situation aus Asien stammender Christen in den USA und entwirft eine Theologie, die in ihre Situation hinein spricht. Es ist ein Entwurf einer „interkulturellen“ Theologie, die ich im Rahmen des Seminars „Die vielen Gesichter Jesu Christi“ (bei Dr. Martin Wendte) mit Gewinn gelesen habe. Reizvoll finde ich die Verbindung eines modernen interkulturellen Ansatzes mit den eher traditionellen theologischen Gedanken J. Edwards, die Lee für die Situation der koreanischen Einwanderer fruchtbar machen kann. Die besondere Kategorie der „Liminalität“ wurde mir zum Augenöffner, um biblische Aussagen und auch die Situation von Einwanderern neu zu sehen. Weil das Buch viele interessante Einzelbeobachtungen enthält und es auf deutsch noch nicht erhältlich ist, ist meine Zusammenfassung relativ ausführlich. B. Zusammenfassende Darstellung des Inhalts (Kapitel 1-4, S. 1 – 87) Kapitel 1: Der Kontext asiatisch-amerikanischer Theologie a) Zwei Dimensionen der asiatisch-amerikanischen Erfahrung (S. 1): Rassismus und Marginalisierung bzw. Liminalität Soziologen stellen fest, dass Gruppen in einer Gesellschaft hierarchische Beziehungen zueinander haben. Es gibt Menschen mit höherem Status, die näher am Macht-Zentrum sind. Und es gibt Menschen, die von diesen an den Rand gedrängt werden und die sich dort demoralisiert und ohne gesellschaftlichen Einfluss vorfinden. Lee sieht in der amerikanischen Gesellschaft einen (oft nicht bewussten und nicht bewusst gewollten) Rassismus, der bis heute Schwarze und auch Asiaten an den Rand drängt. Diese „Marginalität“ („margin“ = Rand) hat in sich nichts Gutes. Dennoch kann die Situation, von einem Land (und damit einem Kulturraum) in ein anderes einzuwandern, positive Aspekte haben. Dafür verwendet Lee den Begriff „Liminalität“ (lateinisch „limes“ = Grenze, Schwelle, Zwischenraum). Er nimmt dabei Bezug auf den Anthropologen Victor Turner (1920 1983), der Übergangs-Riten untersucht hat. Der Übergang von einem gesellschaftlichen Raum in einen anderen geschieht nach Turner in 3 Schritten: 1. Trennung von den alten sozialen Strukturen und damit auch vom bisherigen sozialen Status und den gesellschaftlichen Rollen. 2. Liminalitität als „zwischen den Stühlen“ und „nicht mehr dort, aber auch noch nicht hier“ Sein. 3. Eingliederung in eine neue Struktur; das ist verbunden mit einer neuen Identität oder einer neuen Perspektive. „Liminalität“ ist ein Übergangs-Stadium, in dem man nicht für eine unbestimmte Zeit existieren kann. Strukturlosigkeit kann kein Dauerzustand sein. Asiatische Amerikaner finden nach Lees Wahrnehmung oft nicht die Möglichkeit, in einer neuen sozialen Struktur wirklich anzukommen. Sie bleiben damit in der Wildnis eines Zwischenzustands, also in einer Art „Limbus“. Mit weißen Amerikanern gibt es oft „sekundäre“, aber keine „primären“ Beziehungen. Asiaten haben oft wichtige Positionen inne, besuchen regelmäßig ihren Arbeitsplatz, aber ohne wirklich nahen menschlichen Kontakt. Anders als z.T. nur schlecht englisch sprechenden Einwanderer aus Europa, Zusammenfassung: Lee, From a Liminal Place 1 werden Schwarze und Asiaten von den Weißen nicht wirklich als „einer von uns“ betrachtet. b) Liminalität und seine kreativen Möglichkeiten (S. 9) Dennoch hat Liminalität grundsätzlich positive Aspekte: 1. Offenheit für das Neue. 2. Entstehen von spontanen und direkten menschlichen Beziehungen, unabhängig von Status und sozialer Rolle. Lee verwendet für diese besondere Form von Gemeinschaft nicht das englische Wort „Community“, sondern das lateinische Wort „Communitas“. 3. Kreativer Raum für prophetisches Erkennen, das zu konstruktiver Kritik und gesellschaftsveränderndem Handeln führen kann. c) Die Marginalisierung asiatischer Amerikaner (S. 11) Insbesondere nach dem „Civil Rights Act“ (1964) ist offener Rassismus (also die Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe oder Rasse) in den USA eine Sache der Vergangenheit oder jedenfalls im Schwinden. Dennoch nimmt Lee nach wie vor individuelle, institutionelle und kulturelle Formen von Rassismus wahr. Zum Beispiel: Wenn er in einem guten Gespräch mit einem weißen Amerikaner ist, kann es geschehen, dass ein weiterer Weißer hinzukommt – und dann die beiden Weißen sich miteinander unterhalten, als ob er nicht mehr da wäre. d) Die Gründe für die Unsichtbarkeit des amerikanischen Rassismus gegenüber Asiaten (S. 14) Asiaten gelten als „Modell-Minorität“. Sie sind oft gut ausgebildet und wirtschaftlich erfolgreich. Diese Sicht blendet aber die vielen aus, die im Verbund mit ihrer Großfamilie ein kleines Geschäft betreiben. Diese haben oft Arbeitstage von 14 bis 16 Stunden und ein deutlich niedrigeres Pro-Kopf-Einkommen als weiße Arbeiter. Gerade weil die Polarität zwischen den Schwarzen und den Weißen in Amerika so deutlich fokussiert wird, werden damit die anderen „Farben“ (Asiaten, amerikanische Indianer, Latinos) unsichtbar. Lee nennt Beispiele für eine solche „isolierte“ Diskrimination: - Beim Anstehen in einer Parfümerie (um meiner Frau zu Weihnachten ein Parfüm herauszusuchen) wird eine dazukommende weiße Dame zuerst bedient, obwohl mein eigenes Warten wahrgenommen worden ist. - Beim Einkaufen mit weißen Freunden stelle ich dem Verkäufer eine Frage. Er schaut zu meinem beiden weißen Freunden und gibt ihnen die Antwort; mich schaut er nicht an. - Ich gehe in einen Blumenladen. Zwei weiße Männer, die davor sitzen, grüßen mich: „Hey, Junge!“ - Auf dem Flugplatz stehe ich am Erste-Klasse-Schalter (als Vielflieger hatte ich eine Zeitlang eine „Premier Executive“-Mitgliedschaft). Eine weiße Dame tippt mir auf die Schulter und sagt: „Sind Sie sicher, dass Sie in der richtigen Reihe sind? Dies ist hier nur für „Erste Klasse“! e) Die Bedeutung der „unterschwelligen Diskriminierung“ asiatischer Amerikaner (S. 18) Derartige Vorfälle sind je für sich Kleinigkeiten und schnell vergessen. Lee reflektiert darüber, ob er sie nicht überbewertet. Aber diese kleinen Vorfälle geschehen eben mehrmals am Tag, Tag für Tag, Jahre-, ja Jahrzehnte lang. Soziologen nennen sie „Mikro-Aggressionen“. Diese erzeugen eine Atmosphäre, die wie Kohlenmonoxid „unsichtbar aber potentiell tödlich“ ist. Sie sind dem „Täter“ oft nicht bewusst, aber in der Summe verletzender als offen rassistische Akte. Themen von Mikro-Aggressionen sind: Thema 1 „Fremder im eigenen Land“: Typische Fragen oder Bemerkungen sind: „Woher kommen Sie?“, „Sie sprechen so gut Englisch“. Dabei ist der Angesprochene im Land geboren. Thema 2 „Zuschreibungen z.B. von Intelligenz“: Sätze wie „Ihr seid so gut in Mathe“, „Ihr seid immer so gut in der Schule“ sind Stereotypen, also Schubladen, die in einzelne gesteckt werden – und sich damit eben gerade nicht wahrgenommen sehen. Thema 3 „Verleugnen der rassistischen Wirklichkeit“: Aussagen wie „Asiaten sind die neuen Weißen“ verleugnen die real erfahrenen Diskriminierungen. Thema 4 „Exotisierung amerikanisch-asiatischer Frauen“: Asiatische Frauen werden manchmal gelobt für Zusammenfassung: Lee, From a Liminal Place 2 ihre schöne Haut, ihr seidenes Haar, ihre Fürsorge für ihre Männer, ihre Freundlichkeit und ihre Widerspruchslosigkeit – und eben damit als passive Erfüllerinnen der Bedürfnisse weißer Männer beschrieben. Thema 5 „Abwertung innerethnischer Unterschiede“: Asiaten werden oft gefragt: „Sind Sie Chinese?“ Ein neuer Bekannter stellt fest „Meine Ex-Freundin war Chinesin“. Ein Student bemerkt „Mein Mitbewohner am College war Japaner“. Damit werden alle Asiaten als gleich und vergleichbar bezeichnet, Unterschiede und Individualität eingeebnet. Thema 6 „Pathologisierung kulturell bedingter Werte oder Kommunikations-Stile“: Wer sich an akademischen Diskussionen rege beteiligt, wird als intelligenter angesehen. Dagegen wird Schweigen in traditionellen asiatischen Kulturen wertgeschätzt. Studenten werden damit manchmal für ihre kulturellen Werte bestraft. Thema 7 „Staatsbürgerschaft zweiter Klasse“: Asiaten bekommen im Restaurant oft die schlechteren Tische weiter hinten. Besondere Kenntnisse (z.B. über Wein) werden bei ihnen nicht vermutet, sondern weisse Begleiter werden nach der Weinauswahl gefragt. Thema 8 „Unsichtbarkeit“: Wie erwähnt geht bei der häufigen Thematisierung von „schwarz und weiß“ der Blick für den Rassismus gegenüber Asiaten und anderen Ethnien verloren. f) Die doppelte Liminaltiät und Marginalisierung asiatisch-amerikanischer Frauen (S. 22) Wie u. a. T. Cha und E. Kim untersucht haben, erleben koreanische Frauen ein spezielles „Dazwischensein“. Einerseits fühlen sich manche befreit vom patriarchalen Familien-System in der alten Heimat und können in den USA die männerdominierten Lebensweise hinter sich lassen. Sie erarbeiten sich sozusagen im kulturellen Niemandsland Bildung und ein neues Selbstbewusstsein. Der Raum der Liminalität bietet die Chance, nicht von vornherein auf eine Rolle festgelegt zu sein. Für Frauen ist diese Erfahrung oft intensiver und auch verwirrender als für Männer. Andererseits begegnen sie den orientalistischen Stereotypen von Weißen, sie seien gehorsam, passiv, hartarbeitend, exotisch. Und die patriarachalische und sexistische Kultur ihres Heimatlands behält in vielen asiatisch-amerikanischen Haushalten die Überhand. Während die koreanischen Besitzer eines kleinen familienbetriebenen Geschäfts durchschnittlich 58,1 Wochenstunden arbeiten, arbeiten ihre Frauen durchschnittlich 56,6 Wochenstunden – wozu aber dann noch die Arbeit im Haushalt (mit Einkaufen, Waschen, Spülen etc.) dazu kommt. Auch in ihren koreanisch-christlichen Kirchengemeinden liegt ein großer Teil der praktischen Aufgaben auf den Schultern von Frauen. Gerne wird ihr tätiges Engagement angenommen. Bringen sie aber Bildung mit und die Bereitschaft, Leitungspositionen in ihrer Gemeinde zu übernehmen, kommen sie damit nicht an. Deshalb übernehmen manche Frauen verantwortliche Aufgaben lieber außerhalb ihrer Kirchengemeinden oder verlassen ihre asiatische Gemeinde um eine zu finden, in der sie ihre Gaben wirklich ausüben können. g) Die fremden von einer anderen Küste (S. 28) Während für asiatische Amerikaner/innen kulturelle Assimilation weithin gelingt, ist das bei „struktureller Assimiliation“ weit weniger der Fall. Sie bekommen nicht dieselben Privilegen und Chancen, sie werden nicht wirklich „eine/r von uns“. Damit bleiben sie dem Umkeis ihrer ethnischen Enklaven verhaftet. Die Vorstellung eines amerikanischen „Schmelztiegels“ blieb eine weiße Angelegenheit. Kein Mensch kann aber gesund und „ganz“ bleiben, wenn seine kulturelle Identität nicht wirklich respektiert wird. Die dominanten weißen Gruppen gewähren Asiaten (und anderen Ethnien) diesen Respekt letztlich nicht. h) Liminalität unter der Bedingung von Marginalität (S. 31) Weil es diesen vollen Respekt auch auf einer strukturellen und kulturellen Ebene nicht gibt, kann die Liminalität der aus Korea stammenden Menschen in USA ihre Kreativität und ihre Chancen (s. Oben, 1 a.) nicht entfalten. Sie bleibt eine unterdrückte Liminalität, die nach Befreiung ruft. Zusammenfassung: Lee, From a Liminal Place 3 Kapitel 2: Gottes strategisches Bündnis mit den Liminalisierten und Marginalisierten a) Einführung (S. 35) Die gute Nachricht des christlichen Glaubens ist, dass der liminale Ort der Marginalität genau der Ort ist, an dem Gott den Menschen begegnet. Gott entschied sich, durch liminale Menschen zu wirken. Solche Menschen haben etwas mehr Offenheit für Gottes Evangelium. Es hat Gründe, dass innerhalb Israels gerade Galiläa eine besondere Rolle spielt. Mt 5,4f (Jes 9 zitierend) „... das heidnische Galiläa, das Volk, das in Finsternis saß, hat ein großes Licht gesehen“. Gottes Sohn ging eine „strategische Allianz“ mit den Galiläern ein. Sie waren die ersten Nachfolger. Er „konnte“ sein Wirken nicht mit den stolzen Menschen in den Macht-Zentren beginnen (die auf die Wahrung ihres status quo bedacht waren). Er heilte marginalisierte Menschen und befreite ihre unterdrückte liminale Kreativität im Blick auf die Werte der Herrschaft Gottes. Jeder Mensch, der um des Reiches Gottes willen „liminal“ wird, hat diese besondere Berufung. Gottes Allianz mit den Liminalen und Marginalisierten begann mit der Wahl der Nomaden-Familie Abrahams. Sie verließen ihre Heimat und begannen ein liminales Leben. Gott brachte die schon liminalisierten hebräischen Sklaven aus Ägypten und setzte sie der Wüste aus. Dort enstand neue Gemeinschaft („Communitas“) und es formte sich neue Struktur (Gebote). So kann die ganze Geschichte Israels als eine Geschichte der Erwählung liminalisierter Menschen gelesen werden. In Jesus wurde Gott selbst eine liminale Person. Gott wurde nicht allgemein Mensch – er wurde eine liminalisierte, ja marginalisierte Person. Konkret wurde er ein Galiläer aus dem Dorf Nazaret. Jesus war Teil der religiösen, kulturellen und politischen Lebensweise in Galiläa. Von diesem Ansatz her könnte die Zweiteilung einer sogenannten „Christologie von oben“ und einer „Christologie von unten“ überwunden werden: Gottes innertrinitarischem Wesen entspricht es, mit liminalen Menschen zu wirken. Er wurde Mensch innerhalb des liminalen Volks der Juden in der besonders liminalen Region Galiläa. b) Galiläa als Ort des Wirkens Jesu – und Galiläer als seine ersten Nachfolger (S. 38) Jesus wuchs in Galiläa auf. Er kam von dort, ließ sich taufen und begann dort seine Wirksamkeit. Galiläa blieb Hauptquartier und für ihn. Seine größte Akzeptanz hatte er hier (Mt 4,23; Mk 1,39). Juda und mehr noch Jerusalem waren Orte, in denen er Zurückweisung erfuhr. Galiläa blieb sein Rückzugsort (Joh 4,13), dort wurde er immer wieder willkommen geheißen (Joh 4,45). Auch in Galiläa gab es ausbleibendes Echo, auch die galiläischen Jünger waren fehlbare, sündige Menschen. Aber es es gab dort eine gewisse größere Offenheit, warme Akzeptanz, loyale Freundinnen und Freunde. Galiläer hielten auch bei seiner Hinrichtung bei ihm aus (Mt 27,55). Eine besondere Rolle unter den Galiläischen Nachfolgern spielten ihm nahe Frauen (Maria von Magdalena und die „andere“ Maria). Ihnen erschien er nach der Auferstehung und beauftragte sie, die Brüder nach Galiläa zu schicken (Mt 28,10). Nicht von Jerusalem, sondern von einem Berghügel in Galiläa aus gab er den Jüngern den Auftrag, das Evangeliums weiterzusagen (Mt 28,16-19). Galiläer waren auch die Zeugen der Himmelfahrt (Apg 1,11). Das soziale Umfeld Jesu ist die ländliche Volks-Kultur in Galiläa, in gewisser Entfernung vom Tempel und der offiziellen religiösen Tradition. c) Die Liminalität Galiläas und der Galiäer (S. 43) Verschiedene Forscher (S. Freyne, L.E. Elliott-Binns, A. Hennessy) haben herausgearbeitet, dass Galiläa mit seinem „offenen Raum“, seiner „freieren Atmosphäre und seiner Abgelegenheit eine gewissermaßen liminale Situation darstellt. Geschichtlich war es immer wieder eingeschlossen von den starken Nationen und Reichen der Assyrer, Babylonier, Perser, Mazedonier, Ägypter, Syrer. Es gab fremde Siedlungen, Migrationsbewegungen, Fremdherrschaft. Allerdings lagen die administrativen und militärischen Zentren der Fremdherrscher nie in Galiläa selbst. In Sepphoris und Tiberius waren es nicht geborene Galiläer, sondern Fremde, die Herrschaft ausübten. Galiläa hatte keine eigene Herrscherschicht und Aristokratie, Zusammenfassung: Lee, From a Liminal Place 4 sondern das einfache Volk wurde immer wieder direkt von Fremden beherrscht. Die politischen und religiösen Zentren der Israeliten lagen südlich (Silo, Gilgal, Sichem, Jerusalem), es gab in Galiläa selbst nie eine zentrale Stadt oder einen zentralen Tempel. So war Galiläa ein MachtVakuum, das kaum eine kulturelle oder religiöse Tradition oder Einheitlichkeit ausbilden konnte. Es war relativ unstrukturiertes Grenzland – und insofern „liminal“. Die Bevölkerung selbst war gemischt. 732 v. Chr. wurde es von den Assyrern durch Gefangennahme von über 13.000 Galiläern stark entvölkert und in persischen und hellenistischen Zeiten weithin mit Nichtisraeliten wiederbesiedelt. Israeliten und „Heiden“ lebten Tür an Tür, was die Bezeichnung „Galiläa der Heiden“ (Mt 5,4; Jes 9,1) verständlich macht. Auch in einem religiösen Sinn war Galiläa „liminal“. Es fühlte sich dem Jerusalemer Tempel zugehörig – und lag doch in Distanz. Acht Jahrhunderte lang waren Galiläa und Judäa unter verschiedenen Fremdherrschern und hatten ihre je eigene Entwicklung. Der Tempel und die priesterliche Elite half den Judäern, die Wirkungen der Fremdherrschaft abzumildern. Galiläa hatte kein religiöses Zentrum und keine religiöses Establishment. Als sie etwa hundert Jahre vor der Zeit Jesu unter römischer Herrschaft wieder unter den Einfluss des Jersusalemer Tempels kamen, musste ihnen das inzwischen als sehr fremde Version ihrer eigenen alten israelitischen Tradition vorkommen. Sie teilten mit Jerusalem die ExodusGeschichte, den Mosaischen Bund usw., aber dennoch gab es eigene Entwicklungen und damit nicht nur räumlichen Abstand zu Jerusalem. Galiläa hatte von seiner besonderen Schwellen- oder ZwischenraumLage aus die Fähigkeit, das Zentrum mit einem kritischen Auge zu sehen. d) Die Marginalisierung Galiläas und der Galiläer (S. 47) Marginalisiert von fremden Eroberern und auch vom religiös-politischen Zentrum des Jerusalemer Tempels war Galiläa verwundbar. Zur Zeit des Tempelbaus zahlte Salomo an den König von Tyrus 20 Städte in Galiläa (1 Kö 9,10-14), selbstverständlich samt Menschen. Galiläische Bauern waren für das Machtzentrum verzichtbar. Weil die Galiläer als kulturell und religiös rückständig galten und als nachlässig in der Kenntnis der Tora, der Befolgung der Gesetze und im Zahlen von Steuern, wurden sie oft Opfer von Spott und Häme. Sie sprachen kein richtiges Aramäisch. Weil sie Steuern an den Tempel, an Rom und an Herodes zu zahlen hatten, liefen Schuldenberge auf. Damit sank die soziale Position der Galiläer weiter. Sie waren entmutigt. Viele mussten sich und ihre Familien als Tagelöhner ernähren. Die ökonomische Armut hatte auch eine religiöse Seite: Weil sie ihre Tempelsteuern nicht bezahlen konnten, hatten sie auch keinen Zugang zum Opferkult und zu dem Ort, an dem sie um Gottes Segen, Fruchtbarkeit und Wohlstand beten konnten. Diese Marginalisierung durchs religiöse Zentrum erstickte das liminal-kreative Potential der Galiläer. Bewaffnete Banden übten unterschwelligen aber hoffnungslosen Widerstand gegen die Situation der Unterdrückung. Mehr als alle anderen Regionen Israels brauchten die Galiläer Ermutigung. Sie bekamen viel mehr: Gott kam, um unter ihnen zu wohnen. Sie bekamen ein neues Bild von Gottes „neuer Familie“. Sie waren die ersten, die auf Gottes handeln antworten konnten. Gott kommt in ähnlicher Weise in Jesus Christus zu den asiatischen Amerikanern, um zu heilen und zu ermutigen. Kapitel 3: Gott und Liminalität a) Einführung (S. 51) Im Folgenden macht Lee Aussagen dreieinigkeits-theologische Aussagen über Gott . Er betrachtet das nicht als Spekulationen oder Schlussfolgerungen aus philosophischen Begriffen. Vielmehr geht er davon aus, dass Gott sowohl in der Schöpfung als auch besonders im geschichtlichen Leben und Wirken Jesu Christi, in dessen Leben und Arbeiten, in Tod und Auferstehung nicht etwas Beliebiges und von ihm selbst Unabhängiges, sondern sein eigenes Wesen zeigt. An Gottes geschichtlichem Wirken lässt sich sein inneres Wesen ablesen. Schöpfungungslehre, Lehre von Christus und Lehre von der Dreieinigkeit werden dabei im konkreten Kontext der Lebensbedingungen asiatischer Amerikaner neu gelesen. Zusammenfassung: Lee, From a Liminal Place 5 b) Gottes Ziel mit der Schöpfung (S. 52) Lee „leiht“ sich die Trinitäts-Theologie von Jonathan Edwards (18. Jahrhundert) aus. Bei ihm findet er Gedanken, die seinen theologischen Bedürfnissen entsprechen. Edwards geht davon aus, dass die Schöpfung eine zeitliche Wiederholung oder Entfaltung der innertrinitarischen Kommunikation Gottes mit sich selbst ist. Nach Edwards ist Gott in sich selbst gegenseitige Liebe und Schönheit. Der Vater liebt den Sohn und der Sohn den Vater. Das Ereignis und die Kraft dieser Liebe ist der Heilige Geist. Die Fülle dieser Liebe hat die Tendenz, sich zu verströmen. Gottes Kommunikation mit sich selbst in der Trinität ist laut Edwards die vollständige Verwirklichung des Wesens und der Möglichkeiten Gottes. Gott tut nicht weniger als er ist. In Gott fallen Möglichkeit und Wirklichkeit zusammen. Die vollständige Verwirklichung der überströmenden Liebe Gottes ist, dass er sich nach außerhalb seiner selbst (ad extra) entfaltet. Gott schafft die Welt, um damit seine innere Fülle nach außen wirken zu lassen. Was bewirkt Gott nach außen? Das was an Möglichkeiten und Reichtum in ihm selbst da ist. Die Schöpfung ist also Gottes innere Fülle selbst, die in Raum und Zeit wiederholt und entfaltet wird. Die Welt ist eine Wiederholung des inneren Seins Gottes in Raum und Zeit. Weil Gottes Sein unendlich ist, dauert diese Wiederholung seines Seins in Raum und Zeit auch unendliche Zeit (über das Ende der sichtbaren Welt hinaus). In dieser Wiederholung und Entfaltung wird der Unterschied zwischen Gott und Welt niemals (wie in pantheistischen Vorstellungen) beseitigt. Die Welt ist endlich, Gott allein ist unendlich. Menschen sind in Zeit und Raum begrenzt und damit auch ihr Tun. Menschen haben aber Teil an dieser liebevollen Kommunikation Gottes und können an seinem Werk teilnehmen. Der primäre Auftrag in der Nachfolge Christi ist es also, liebevolle Gemeinschaft mit anderen herzustellen. c) Liminalität in Gott (S. 54) Der christliche Glaube bekennt, dass Jesus der menschgewordene Sohn Gottes ist. Was Jesus ist, ist also was Gott ist. Was Jesus tut, ist also was Gott tut. In dem Galiläer Jesus begegnen wir Gott selbst. Wenn also Jesus das liminale Galiläa als Ort seines Wirkens auswählte, war es Gott selbst, der diese Wahl traf. In Jesus lebte Gott selbst ein liminales und marginalisiertes menschliches Leben. So ist also auch in Gott selbst „Liminalität“. Während Marginalisierung ein Teil der Lebensbedingungen der „gefallenen“ Schöpfung ist (und nicht zu Gottes Wesen gehört), ist die Liminalität in Gott selbst der Grund für die Möglichkeit, dass Gott innerhalb der Zeit an den Lebensbedingungen marginalisierter Menschen teilnimmt. Man betritt den „Zwischenraum“ oder die „Schwelle“ der Liminalität, wenn man für einen Augenblick den eigenen Status und die eigene Struktur hinter sich lässt. Liminalität eröffnet Raum, den ein anderer wirklich als anderer betreten kann. Sie ist Empfänglichkeit und damit auch Verletzlichkeit. Kurz: Liminalität ist eine Weise, in der Gott seine Liebe äußert. Jonathan Edwards Verständnis des inner-dreieinigen Lebens Gottes passt zu diesem Verständnis von Liminalität. Liminalität beschreibt genauer die Unterscheidung der Personen „Vater“, „Sohn“ und „Heiliger Geist“: Gott hat Freude in und an sich selbst. Er hat eine Idee oder Vorstellung von seiner eigenen Fülle und wird damit gewissermassen auch zu seinem eigenen Objekt. Gott schaut sich in seinem „Logos“, in seinem Wort, in seinem Sohn an. Dieses vollständige Abbild seiner selbst enthält die volle Gottheit. So freut sich der Vater und liebt den Sohn als wirklich „anderen“ (gleichen Wesens). Die wirkliche Unterschiedenheit und die Distanz zwischen den Personen „Vater“ und „Sohn“ lässt sich als liminaler Raum zwischen ihnen beschreiben. Aus diesem Raum zwischen ihnen geht der Heilige Geist hervor, der Geist der liebevollen Gemeinschaft zwischen Vater und Sohn. Ähnlich entfaltet auch Hans Urs von Balthasar seine Dreieinigkeitslehre. Wie der Sohn nach Philipper 2 seine Gottheit „nicht wie einen Raub festhielt“, sondern sich aus Liebe seines göttlichen Status „entäußerte“ und sich hingab, so entäußerte sich schon der Vater in liebevoller Hingabe gegenüber dem Sohn. Der Vater als erste Person der Trinität trat in der Hervorbringung des Sohn in einen liminalen Raum, indem er seinen Status, seine Gottheit nicht festhielt, sondern sie vollständig dem Sohn übergab. So entstand ein „wirklich Anderer“. Der Sohn ist des Vaters unendlich Anderer, sein Du. - Auch diese Gedanken wollen nicht abgehobene Spekulation sein, sondern Ernstnehmen der Distanz zwischen Vater und Sohn, die in der Verlassenheit Jesu am Kreuz ihren Höhepunkt fand. Zusammenfassung: Lee, From a Liminal Place 6 Einerseits ist der Vater immer in Liebe beim Sohn, andererseits entzieht er – ebenfalls aus Liebe – seine Nähe, um dem Sohn die freie Tat seiner eigenen Hingabe zu ermöglichen. Liebe setzt Freiheit und FreiRaum für die Entfaltung des anderen voraus. Im unstrukturierten Raum kann eine besondere und direkte Form von Gemeinschaft entstehen (wir erinnern uns an Victor Turner). Diese „Communitas“ oder gegenseitige Liebe abseits von Rollen und Status verbindet H. U. v. Balthasar mit dem Heiligen Geist. Das liebevolle „Wir“ der gegenseitigen wertschätzenden Hingabe von Vater und Sohn „atmet“ den Geist als das Wesen der Liebe. Der Akt liebender Selbsthingabe bringt die Person des Heiligen Geistes hervor, die Communitas zwischen Vater und Sohn, die auch anderen an dieser Liebe Anteil geben will. Letztlich sind Gottes Erfahrungen von Liminalität in der Geschichte Ausdruck seines eigenen Seins und seines Wesens. Was er in der Geschichte tut, tut er nicht nur in der Geschichte, sondern ist die Weise wie er in Ewigkeit Gott ist. d) Menschwerdung und Liminalität (S. 59) Gott meinte die Welt als zeitliche und räumliche Wiederholung der innertrinitarischen LiebesGemeinschaft. Aber die Menschheit lebte ihre Begrenztheit und Liminalität nicht mit Vertrauen und Mut, sondern entwickelte den stolzen Gedanken, wie Gott sein zu wollen. Anstatt für neue Ideen offen zu sein, verabsolutierten sie gewisse begrenzte Prinzipien und verdammten abweichende Ideen als falsch. Statt der Liminalität entsprechende Gemeinschaft und Solidarität zu leben, klammerten sie sich an menschengemachte Grenzen und wurden einander fremd. Statt die Machtzentren der Gesellschaft immer wieder prophetischer Kritik zu unterziehen, verbündeten sich Menschen mit den Mächtigen und unterdrückten diejenigen in den Außenbereichen. So verspielten sie ihren Auftrag, die kreativen Kräfte der Liminalität auszuüben und verzerrten damit damit Gottes Projekt der Wiederholung seiner liebevollen Gemeinschaft in der menschlichen Geschichte. Um die Menschheit wieder auf den Pfad der Verwirklichung von Gottes Vorhaben zu bringen, schloss er zunächst einen Bund mit Israel. Die nomadischen Nachkommen Abrahams lebten in ausgesprochener Liminalität und waren deshalb grundsätzlich besonders offen für eine neue Form von Gemeinschaft und prophetischer Kritik am gegenwärtigen Zustand. In der Menschwerdung in Jesus wurde er selbst in der Geschichte „liminal“. In dem Galiläer Jesus erschien er erst unter den besonders liminalen Galiläern. Zwar sind aufgrund der Lebensbedingungen der gefallenen Schöpfung alle Menschen fähig, die kreativen Seiten der Liminalität zu leben. Aber seine Menschwerdung unter den Galiläern geschah in einer besonders hoffnungslos „gefallenen“ Situation. Er wurde ein letztlich marginalisierter Galiläer, denn „was er nicht annahm, das konnte er nicht heilen“ (Gregor v. Nazianz). Kapitel 4: Der Weg des liminalen Jesus als des Christus a) Weggehen von Zuhause: Jesu Aneignung von Liminalität (S. 63) Dass Jesus von Zuhause wegging und seine engste Familie verließ, wird selten diskutiert. Für asiatische Amerikaner, die Einwanderer oder Kinder von Einwanderern sind, ist es bedeutsam. Weggehen hat Konsequenzen. Die bisherige Identität existiert nicht unabhängig von der Familie, der Verwandtschaft und den Beziehungen im Dorf. Die Heimat verlassen heißt, die Strukturen des eigenen Lebens zu verlassen und in einen liminalen „Zwischenraum“ einzutreten. Jesus war als Galiläer schon in einer objetiven Weise liminal. Von Zuhause wegzugehen war ein bewusstes Übernehmen und Aneignen dieser Liminalität. Die Episode von der Zurückweisung in seinem Heimatort Nazareth (Mk 6,1-6) bestätigt seine neue Verortung im Niemandsland. Wenn er dann seine Jünger berief, dann berief er sie ebenso in diesen „Zwischenraum“, den er selbst betreten hatte. Sie waren als Galiläer schon geograpisch, politisch, kulturell und religiös liminal (s.Kap 2 d). Mit der Berufung übernahmen sie diese Liminalität in vollem Bewusstsein. Ein Faktor, dass sie so schnell und radikal seinem Ruf folgten und ihre Familien verließen, war die schon vorher vorhandene noch unklare Wahrnehmung ihrer Situation. Das machte sie offen und frei genug, schnell aufzubrechen. Zusammenfassung: Lee, From a Liminal Place 7 Frauen in Galiläa waren oft in einer akuteren Liminalität und schmerzvoller marginalisiert als Männer. Sie waren sich deshalb ihrer Situation subjektiv schon vollständig bewusst. Das kann ein Grund sein, warum Jesus keine Frauen als Jüngerinnen berief. Sie mussten ihre Familie nicht verlassen, um sich ihrer Situation klar zu werden. Von den Frauen, die Jesus am nächsten waren (Maria Magdalena, Maria und Martha) waren nur wenige aus den sozial akzeptablen Kategorien (Jungfräuliche Tochter, Ehefrau, Mutter legitimer Kinder). Sie waren Frauen ohne Kinder, manche Witwen, manchmal Prototypen der „irregulären Frauen“. b) Jesu Ausübung der kreativen Möglichkeiten seiner Liminalität (S. 68) b1) 1. Aspekt der Liminalität Jesu: Offenheit für den Willen des Vaters Die sich aus Jesu Liminalität ergebende Offenheit war eine auf Gott ausgerichtete. Er war geleitet von Gottes Herrschaft und von dem, was Gott durch diese tun wollte. Das gab seiner Liminalität konkreten Inhalt. Diese Offenheit für den Willen des Vaters führte zum qualvollsten Moment seines Lebens (Luk 22,42). Seine Liminalität befreite ihn von allen menschengemachten Strukturen und Rollen. Er übertrat die Reinheitsgebote und betrat das Haus das Steuereintreibers Zachäus (Luk 19,10). Mit ihm teilte er Gottes vergebende Liebe und grenzenlose Barmherzigkeit. Jesus ließ Maria zu seinen Füßen sitzen und theologische Diskussionen führen, was Frauen sonst verboten war (Luk 10,39). Er sprach mit der heidnischen syro-phönizischen Frau und hatte eine langes Gespräch mit der samaritanischen Frau am Brunnen (Mk 7,24ff; Joh 4,7ff). Er verärgerte die Pharisäer, indem er seinen Schülern erlaubte Weizen zu pflücken und indem er am Sabbat einen Mann mit einer vertrockneten Hand heilte. Er hatte Freiheit von allem – außer vom liebenden Gott. b2) 2. Aspekt: Jesu Liminalität und die Entstehung von Communitas (S. 70) Communitas ist unvermittelte, auf Gleichheit beruhende, nahe Gemeinschaft zwischen zwei oder mehr Menschen, die sich in ihrer Verschiedenheit vollständig resprektieren. Diese Communitas teilte Jesus mit Einzelnen wie Zachäus (der seinerseits frei genug war, auf einen Baum zu klettern). Die versöhnende, liebende und lebensverändernde Gemeinschaft in seinem Haus war ein Werk des Heiligen Geistes, der Zachäus in die Gemeinschaft zwischen Vater und Sohn hineinnahm. Jesus teilte Communitas aber auch mit seinen Nachfolgern als Gruppen (im äußeren und inneren Zirkel und mit den Zwölfen). Der in seiner Zeit unübliche selbstverständliche Umgang mit Frauen war genderintergrativ. Marginalisierte Menschen wie Kranke, „Sünder“ und Steuereintreiber gehörten zu seinem Freundeskreis. Besonders hervorzuheben ist die Communitas bei der Tischgemeinschaft. Wenn Menschen essen, öffnen sie ihren Mund, bestätigen ihre Begrenztheit und Angewiesenheit und enthüllen ihre Verletzlichkeit. Jesus aß mit sozial geächteten und marginalisierten Menschen (Mt 9,11), was ihm den Ruf eines „Fressers und Säufers und Freundes der Steuereintreiber und Sünder“ (Mt 11,19) einbrachte. Communitas ereignet sich nach V. Turner unvermittelt, spontan und deshalb auch vergänglich im „Zwischenraum“. Um wirklich leben zu können, müssen Menschen wieder in einer Struktur ankommen und heimisch werden. Wenn sie aber Communitas erfahren haben, können sie diese Erfahrungen und gemeinschaftliche Werte in die neue Struktur einbringen. Jesus bot den Jüngern, die ihre bisherige Struktur verlassen hatten, die „Neue Familie Gottes“ als unvollkommene aber denoch wirkliche vorläufige Verkörperung des Reiches Gottes an. In dieser neuen Familie wurden die Werte der Communitas praktiziert. Man wurde Familienmitglied nicht durch Geburt, sondern indem man bereit war, „den Willen des Vaters zu tun“ (Mk 3,31-35). Anders als in natürlichen Familien gab es innerhalb der Gruppe keinen Vater, will heißen: keine Spur von patriarchaler Unterordnung von Frauen. „Nennt niemanden euren Vater auf der Erde, denn ihr habt einen Vater – den im Himmel.“ (Mt 23,9). Frauen und Männer sind Geschwister mit gleicher Würde. Zum zweiten hat diese Familie keine Hierarchie. „Ihr sollt euch nicht Rabbi nennen lassen, denn ihr habt einen Lehrer, ihr alle seid Schüler ...“ (Mt 23,6-12). Auch die Bezeichnung Gottes als Vater hatte (so Halvor Moxnes) für Jesus nicht den Aspekt einer Zusammenfassung: Lee, From a Liminal Place 8 Autoritätsgestalt, sondern den der Fürsorge und des Schutzes für seine Kinder. b3) 3. Aspekt: Jesu Liminalität, sein prophetisches Wirken und die neue Gemeinschaft (S. 76) Die Galiläer erlebten Beherrschtwerden durch die Römer und durch den Jerusalemer Tempel. Jesus eröffnete das Kommen des Reiches Gottes und schuf eine neue Gemeinschaft. Seine Heilungen der Kranken und Verkrüppelten sind auch Protest gegen die Reinheitsverordnungen des Tempels, die manche Menschen als „unrein“ und unberührbar erklärt hatten. Ihre Heilung war immer auch Erneuerung ihrer sozialen Gemeinschaft. Den Blinden in Bethsaida heilte er und schickte ihn in seinen Familienverbund nach Hause (Mk 8,26). Dem Gelähmten sprach der die Vergebung seiner Sünden zu (was ihn in sozialer Hinsicht als gemeinschaftsfähig deklarierte) – und schickte ihn nach seiner körperlichen Heilung auch nach Hause (Luk 5,20.24). Frauen, die er von bösen Geistern und Gebrechen heilte (Maria Magdalena, Johanna, Susanne) schlossen sich der Gemeinschaft der engsten Nachfolger an (Luk 8,2f). Jesus lehre seine Nachfolgenden, gegen unterdrückende Mächte zu protestieren ohne im Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt verhaftet zu bleiben (Mt 5,38-41). Sein Votum gegen Gewalt lehrte dabei keine passive Haltung gegenüber Akten von Unrecht. Die „andere Wange“ hinzuhalten (nach einem Schlag mit dem Handrücken durch einen sozial Überlegenen) war eine Möglichkeit, sowohl den Kreislauf der Vergeltung zu durchbrechen als auch ein Weg, auf dem jemand seine grundlegende Menschenwürde und sozialen Wert geltend machen konnte. Das Hergeben „auch des Mantels“ (V. 40) machte nackt und enthüllte so das wahre System der Unterdrückung – und verhinderte das völlig passiv gemacht Werden. Ebenso in V. 41: Ein römischer Soldat hatte das Recht, Menschen für eine Meile als Träger zu verpflichten. Das freiwillige Mitgehen der zweiten Meile enthüllte dieses Unrecht. Wieder wird Gewalt verhindert, aber die Würdes des Opfers gewahrt. c) Der Tod Jesu Christi (S. 79) Der Tod Jesu war kein Unfall und kein isoliertes Ereignis. Wer in entschiedener Offenheit für Gottes Willen eine alternative Gemeinschaft formt und prophetisch die Unterdrückungshandlungen des Machtzentrums kritisiert, wird untragbar für die Machthaber. Jesus suchte nicht den Tod, aber er sah dessen Unausweichlichkeit (Luk 17,25). Jesus ist der Erlöser der gefallenen Schöpfung nicht nur durch seinen Tod, sondern durch die Weise wie er sein Leben lebte, das die Konsequenz dieses Todes hatte. Im Sterben verhielt er sich wie in seinem Leben – er verkörperte Gottes Liebe und Gerechtigkeit. Seine versuchte Marginalisierung durch das Macht-Zentrum erreichte in der Kreuzigung seinen Extrempunkt. Der liminale „Raum“, der sich am Kreuz eröffnete, war ein ganz besonderer: 1. Die Absicht der Mächtigen war, Jesus zu Tode zu marginalisieren und ihn zu zerstören. Jesu Absicht dagegen war, diese extreme Liminalität zur Versöhnung der Menschheit zu nutzen. Insofern übte er Widerstand und blieb siegreich gegenüber den Kräften, die ihn zerstören wollten. 2. Jesu Liminalität am Kreuz ist ein unendlicher liminaler Raum, der die Ganzheit der gefallenen Schöpfung umfasst und einlädt. 3. In diesen Raum tritt auch Gott selbst ein und hat Anteil an Jesu Leiden und seiner Liminalität. Der Sohn leidet den Schmerz des Preisgegebenseins durch den Vater – und der Vater leidet den Schmerz, am Kreuz den Sohn zu verlieren. Jürgen Moltmann hat das eingehend entfaltet. 4. Dieser liminale Raum wird von Gottes gnadenvoller Liebe gegenüber den Marginalisierten eröffnet, weil Gott hier in Jesus den entmenschlichenden Strukturen in der Welt widersteht und sie zurückweist. Gott identifiziert sich in Jesus mit Menschen, die weltliche Macht und weltliches Unrecht angreifen. Er umfasst das Leiden alles Lebens. 5. Am Kreuz öffnet sich in Jesus der unendliche Raum des liebenden Gottes. Wer diesen Raum betritt, dem begegnet nicht nur der am Kreuz getötete Jesus, sondern der Galiläer Jesus, der Maria und Martha, Petrus und Andreas liebte, der kritisiert worden war für gemeinsame Essen mit Sündern, der in Zachäus' Haus übernachtet hat. 6. Liminaler Raum erzeugt Communitas der Personen, die in diesem Raum sind. In diesem Raum Zusammenfassung: Lee, From a Liminal Place 9 entsteht Gemeinschaft mit Jesus und untereinander. Und mehr noch: mit Jesus als liebender Gemeinschaft mit Gott, mit der Gemeinschaft mit Gott selbst, der Leben verändert. 7. Der liminale Raum am Kreuz ist eine Einladung an alle Menschen, einzutreten und die erlösende und verwandelnde communitas mit Gott in Christus zu erfahren. Die ersten, die die Communitas des liminalen Raums am Kreuz erfuhren waren Maria Magdalena, Maria die Mutter des Jakobus, Salome und andere Frauen (Mk 15,40f). d) Die Auferstehung des gekreuzigten Jesus (S. 83) Jesus starb tatsächlich und wurde beigesetzt. Gott, der Schöpfer des Universums, der schmerzerfüllte Vater erweckte ihn vom Tod mit der Kraft des Heiligen Geistes. Das war der Tod des Todes, der Bedeutung nicht nur für individuelle Gläubige hat, sondern für die Erreichung des Zieles auf das hin Gott die Welt geschaffen hat. Die gewalttätigen, entwürdigenden und entmenschlichenden Mächte des marginalisierenden Zentrums dieser Welt sind abschließend gerichtet und überwunden. Die Auferstehung Jesu ist nicht nur die Überwindung der Macht des Todes, sondern auch der Beginn der eschatologischen neuen Schöpfung. Jesus ist der erste der Auferstandenen (1 Kor 15,20). Die mit ihm durch ihren Glauben verbunden sind, fangen an, eine neue Existenz zu führen. Noch begegnen wir dem Tod, aber ein immer stärker anwachsender Widerstand und Protest gegen die Mächte des Todes und der Ungerechtigkeit sind in der Welt. Die Auferstehung Jesu bekräftigt, dass die Liebe Gottes das letzte Wort in der Welt sein wird. Die letztgültige Verwirklichung seiner Liebe wird nicht innerhalb der geschichtlichen Entwicklung der Welt erscheinen. Aber die Hoffnung auf die eschatologische Verwirklichung dieser Liebe ist keine historische Spekulation, sondern eine Einladung zu konkreten Tun in der Geschichte. Die Liebe bleibt für immer (1 Kor 13,8) und damit auch das, was aus Liebe getan wird. Das die Mächte der Marginalisierung besiegt sind, bedeutet für asiatisch-amerikanische Gläubige nicht, dass ihre soziale Liminalität und Marginalität in den USA beendet ist. Ihre alltäglich erfahrbare Situation bleibt dieselbe. Und trotzdem ist alles anders: Wer sich mit dem auferstandenen Jesus verbunden weiß, muss keine Angst haben vor der verwirrenden und verstörenden Erfahrung der Liminalität. Er weiß, dass Gottes Liebe alle Mächte der Marginalisierung einschließlich des Todes überwunden hat und für immer Bestand hat. e) Die Erhöhung Jesu Christi (S. 86) Nach der Erscheinung vor seinen Schülern wurde Jesus „in den Himmel“ aufgenommen (Apg 1,11). Er sitzt „zur Rechten Gottes“ (Röm 8,34). Er hat nun die göttliche Dimension betreten. Gott beherrscht die Welt nicht anders als durch den Geist des menschgewordenen Sohnes. Jesus setzt sein irdisches Wirken nun als erhöhter Herr fort. In der Kraft des Heiligen Geistes verändert er die Welt in die Richtung, in der sie das von Gott vorgesehene Ziel der Schöpfung erreicht. Besonders wichtig ist die Erinnerung an die körperliche Natur der Auferstehung. Der „Auferstehungsleib“ Jesu ist ein anderer als sein irdischer Leib, aber die Auferstehung ist kein rein geistiges Ereignis. Dass Jesus nun in der Sphäre Gottes ist, soll nicht heißen, dass er keinen Kontakt mit der Welt hat. Die Leiblichkeit des Auferstandenen und Erhöhten bedeutet genau das, dass er weiterhin mit der Welt verbunden ist. Das drückt die Feier des Abendmahls aus, in der Christus sich selbst gibt und mit uns Gemeinschaft hat. Seine Gemeinde hat ständigen Kontakt mit ihrem erhöhten Haupt. So hat auch die scheinbar zerbrechliche Gemeinschaft der der liminalen und marginalisierten asiatischamerikanischen Nachfolger Jesu den erhöhten Herrn als ihr Haupt und ihren Leiter. So leben sie im Bewusstsein der Chancen ihres liminalen Raums und in Verbindung mit der Quelle ihres Durchhaltevermögens in ihrem mühevollen Kampf gegen Marginalisierung. … - Bis hierher habe ich S. H. Lee gelesen. Der Hauptgehalt seiner Theologie ist damit entfaltet. Es folgen die Kapitel 5 bis 10: 5. Erlösung im asiatisch-amerikanischen Kontext Zusammenfassung: Lee, From a Liminal Place 10 6. Asiatisch-amerikanische Identität und der christliche Glaube 7. Asiatisch-amerikanische Kirche 8. Die neue Liminalität und asiatisch-amerikanische Jüngerschaft 9. Liminalität und Versöhnung 10. Ein neuer Himmel und eine neue Erde Schlussfolgerung C. Schlussfolgerungen, Anregungen und Rückfragen 1. Diskriminierung und Mikroagressionen im Alltag (siehe 1 d und e). Lee gibt hier gut nachvollziehbare Einblicke aus der Sicht eines Betroffenen. Ich meine, dass sie ein Stück weit übertragbar sind auf den Umgang von Deutschen mit „Ausländern“, „Migranten“ und „Flüchtlingen“. Manchmal fühlte ich mich ertappt: Ja, das passiert mir auch. 2. Herausforderung für die Kirche und die Kirchengemeinden: Gehören wir zum Macht-Zentrum? Haben wir Menschen im Blick, die an den Rand gedrängt werden? Die württembergischen evangelischen Kirchengemeinden, die ich kenne, sind überwiegend recht gut situierte Mittelschichtsgemeinden. Ich gehöre als Pfarrer selbst zur gut situierten Mittelschicht. Wenn es Gottes Wesen entspricht, besonders marginalisierte Menschen (vgl. die „geringsten Geschwister“ in Mt 25) im Blick zu haben, ergeben sich da für uns nicht andere Aufgaben und Schwerpunktsetzungen? 3. Feier des Abendmahls: Ich traf in meiner Gemeinde eine besondere Wertschätzung des Gemeinschaftscharakters des Abendmahls an. Lee lässt mich genauer sehen, dass sich im Gottesdienst und besonders beim Abendmahl in Ansätzen so etwas ereignet wie „Communitas“, Gemeinschaft jenseits von Rollen und Status. 4. Die Kreativität des Dazwischenseins: Auch Nichtmigranten kennen „liminale“ Situationen. Umzüge, Berufsanfänge, Stellenwechsel, Begegnungen mit bisher unbekannten Menschen - all das sind Herausforderungen, die kreative, kritische und kommunikative Möglichkeiten in sich bergen. Das will ich aufmerksamer im Blick behalten. 5. Rückfrage 1: Ist Gott nur oder vor allem ein Gott für Migranten? Lee findet im Begriff der Liminalität eine Möglichkeit Gottes Wesen so zu beschreiben, dass Menschen mit Migrationshintergrund sich besonders angesprochen fühlen. Sicherlich gehört Begrenztheit, Angewiesensein, Verletzbarkeit zu allen Menschen. Aber wie sieht eine Theologie aus, die auch die besonderen Gaben der Sesshaften und Verwurzelten würdigt? 6. Rückfrage 2: „Erfahrungsbezogene Theologie“: In Lees Buch begegnet mir eine Theologie, die eine persönliche Betroffenheit und den konkreten sozialen Kontext von Menschen zum Ausgangspunkt fürs theologische Nachdenken nimmt. Damit ist sie von vornherein für einige Menschen relevant und macht erhellende Beobachtungen. Das ist der Gegenpol zu einer „Offenbarungsbezogenen Theologie“, die von der biblischen Botschaft her eine anscheinend abstrakt für alle Menschen „wahre“ Lehre entwirft. Wo die eigene Befindlichkeit und das eigene Interesse so stark im Mittelpunkt ist, können sich Verzerrungen ergeben. Aufgefallen ist mir das besonders in der Passage (bei 4 a), in der Lee darüber nachdenkt, dass Jesus keine Frauen in die Nachfolge gerufen hat. Seine Begründung, sie waren sich ihrer Liminalität schon so bewusst, dass sie keines bewusstmachenden Rufes bedurften, ist im Rahmen des Systems stimmig, wirkt auf mich aber doch sehr konstruiert. Andererseits: Menschen können nicht anders, als mit ihrem Vorverständnis und mit ihren Interessen an biblische Texte heranzugehen. Es gibt keine abstrakt wahre biblische Botschaft an sich, sie ist immer vom Lesenden und seinen Umständen gefärbt. Es wäre redlicher und nachvollziehbarer, die eigenen Voraussetzungen und Interessen von vornherein mit zu reflektieren und mit zu kommunizieren – im gemeindlichen und im wissenschaftlichen Kontext. Michael Jung, Juni 2015, michael.jung@elkw.de, veröffentlicht auf www.glauben-denken.de Zusammenfassung: Lee, From a Liminal Place 11