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Forms of Reciprocity in Psychological Contracts. An Empirical Study of Expatriates

2009

Research in relevant fields considers psychological contracts primarily from an individualisticrational point of view. However, psychological contracts are embedded in a socio-cultural context which influences the motivations for action of the parties engaged and the exchange processes between them. Therefore, in our research, we pursue two objectives: firstly, we wish to investigate the socio-cultural conditions which influence the exchange behaviour in psychological contracts; and secondly, we wish to examine the motivations behind these exchange processes. In a qualitative study we gathered data of 54 German expatriates by means of interviews and examined the data elicited with the aid of the grounded theory. With respect to the research results, we were able to show that psychological contracts are embedded in a complex socio-cultural context. When we looked closely at this socio-cultural context it became clear that, apart from individualistic calculations of action, moral and prosocial motivations were also relevant in psychological contracts. On the basis of these results, we generated two dominant types of reciprocity as the basis of the psychological contracts of the expatriates: the utilitarian exchange reciprocity and the solidary gift reciprocity

econstor www.econstor.eu Der Open-Access-Publikationsserver der ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft The Open Access Publication Server of the ZBW – Leibniz Information Centre for Economics Andresen, Maike; Göbel, Markus Article Reziprozitätsformen in psychologischen Verträgen: Eine empirische Untersuchung am Beispiel von Auslandsentsandten Zeitschrift für Personalforschung (ZfP) Provided in Cooperation with: Rainer Hampp Verlag Suggested Citation: Andresen, Maike; Göbel, Markus (2009) : Reziprozitätsformen in psychologischen Verträgen: Eine empirische Untersuchung am Beispiel von Auslandsentsandten, Zeitschrift für Personalforschung (ZfP), ISSN 1862-0000, Rainer Hampp Verlag, Mering, Vol. 23, Iss. 4, pp. 312-335, http:// dx.doi.org/10.1688/1862-0000_ZfP_2009_04_Andresen This Version is available at: http://hdl.handle.net/10419/71025 Nutzungsbedingungen: Die ZBW räumt Ihnen als Nutzerin/Nutzer das unentgeltliche, räumlich unbeschränkte und zeitlich auf die Dauer des Schutzrechts beschränkte einfache Recht ein, das ausgewählte Werk im Rahmen der unter → http://www.econstor.eu/dspace/Nutzungsbedingungen nachzulesenden vollständigen Nutzungsbedingungen zu vervielfältigen, mit denen die Nutzerin/der Nutzer sich durch die erste Nutzung einverstanden erklärt. zbw Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft Leibniz Information Centre for Economics Terms of use: The ZBW grants you, the user, the non-exclusive right to use the selected work free of charge, territorially unrestricted and within the time limit of the term of the property rights according to the terms specified at → http://www.econstor.eu/dspace/Nutzungsbedingungen By the first use of the selected work the user agrees and declares to comply with these terms of use. Maike Andresen, Markus Göbel* Reziprozitätsformen in psychologischen Verträgen. Eine empirische Untersuchung am Beispiel von Auslandsentsandten** Die einschlägige Forschung betrachtet psychologische Verträge primär aus einer individualistisch-rationalen Perspektive. Wie alle Verträge so sind auch psychologische Verträge jedoch in einen soziokulturellen Kontext eingebettet, welcher maßgeblichen Einfluss auf die Handlungsmotive und Tauschprozesse der Akteure hat. Wir verfolgen daher mit unserer Forschung zwei Ziele. Zum einen möchten wir die soziokulturellen Bedingungen erforschen, die das (Tausch-)Verhalten in psychologischen Verträgen beeinflussen, und zum anderen die Motive, die diesen Tauschprozessen zugrunde liegen. Im Rahmen einer qualitativen Studie erhoben wir mittels Interviews Daten von 54 deutschen Expatriates und analysierten diese auf Basis der Grounded Theory. Wir konnten herausarbeiten, dass psychologische Verträge in einen komplexen soziokulturellen Kontext eingebettet sind. Mit Blick auf diesen soziokulturellen Kontext wird deutlich, dass neben den individualistischen Handlungskalkülen auch moralische und prosoziale Handlungsmotive in psychologischen Verträgen relevant sind. Auf der Basis dieser Ergebnisse generierten wir zwei dominante Reziprozitätstypen, die utilitaristische Tauschreziprozität und die solidarische Gabenreziprozität, die den psychologischen Verträgen der Expatriates zugrunde liegen. Forms of Reciprocity in Psychological Contracts. An Empirical Study of Expatriates Research in relevant fields considers psychological contracts primarily from an individualisticrational point of view. However, psychological contracts are embedded in a socio-cultural context which influences the motivations for action of the parties engaged and the exchange processes between them. Therefore, in our research, we pursue two objectives: firstly, we wish to investigate the socio-cultural conditions which influence the exchange behaviour in psychological contracts; and secondly, we wish to examine the motivations behind these exchange processes. In a qualitative study we gathered data of 54 German expatriates by means of interviews and examined the data elicited with the aid of the grounded theory. With respect to the research results, we were able to show that psychological contracts are embedded in a complex socio-cultural context. When we looked closely at this socio-cultural context it became clear that, apart from individualistic calculations of action, moral and prosocial motivations were also relevant in psychological contracts. On the basis of these results, we generated two dominant types of reciprocity as the basis of the psychological contracts of the expatriates: the utilitarian exchange reciprocity and the solidary gift reciprocity. Key words: psychological contract, reciprocity, expatriation, grounded theory ___________________________________________________________________ * ** Univ.-Prof. Dr. Maike Andresen, Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insb. Personalmanagement, Kirschäckerstraße 39, D – 96045 Bamberg. E-mail: Maike.Andresen@uni-bamberg.de. Prof. Dr. habil. Markus Göbel, Hochschule Fresenius, Standort Hamburg, Alte Rabenstr. 1, D – 20148 Hamburg. E-Mail: goebel@hs-fresenius.de. Artikel eingegangen: 6.10.2008 revidierte Fassung akzeptiert nach doppelt-blindem Begutachtungsverfahren: 27.10.2009. Zeitschrift für Personalforschung, 23(4), 312-335 ISSN (print) 0179-6437, ISSN (internet) 1862-0000, DOI 10.1688/1862-0000_ZfP_2009_04_Andresen © Rainer Hampp Verlag, www.Hampp-Verlag.de Zeitschrift für Personalforschung, 23(4), 312-335 DOI 10.1688/1862-0000_ZfP_2009_04_Andresen 313 1. Einführung „Do ut des“, ich gebe, damit du gibst, oder, allgemeiner, weil ich davon einen Nutzen habe. Diese Zweck-Mittel-Beziehung ist bekanntlich eine zentrale Annahme ökonomischer Theoriebildung, die sowohl den materiellen als auch den verhaltensbezogenen Tausch zwischen Arbeitgeber und -nehmer spezifiziert. Diese Tauschbeziehung wird zum einen durch einen Arbeitsvertrag gesteuert, der die Rechte und Pflichten der Kontraktpartner juristisch spezifiziert. Jedoch ist diese fehlende soziokulturelle Einbettung in der Betrachtungsweise sozialen Austauschs (Westwood/Chan/Linstead 2004, 377) in Arbeitsbeziehungen seit den frühen Arbeiten von Barnard (1938) nicht unwidersprochen geblieben. So betont Barnard die inhärenten wechselseitigen Verpflichtungen in sozialen Austauschprozessen als grundlegend für die organisationale Mitgliedschaft. Mit Bezug auf Barnard macht die Forschung zu psychologischen Verträgen (z. B. Rousseau 1995) deutlich, dass in Arbeitsbeziehungen neben formaljuristischen Rechten und Pflichten zum anderen ein implizites Set wechselseitiger Erwartungen und Verpflichtungen zwischen Arbeitnehmer und -geber gegeben ist. Rousseau (1989, 123) definiert psychologische Verträge entsprechend als die Überzeugungen eines Individuums in Bezug auf die Bedingungen einer reziproken Austauschvereinbarung zwischen sich und einem Dritten. Westwood, Chan und Linstead (2004, 377) kritisieren die US-amerikanische Forschung zu psychologischen Verträgen (z. B. Rousseau 1989, 1995) hinsichtlich ihrer tendenziell rein individualistischen und desozialisierten Auffassung von psychologischen Verträgen. Dieser Kritik folgend bestehen aus unserer Sicht zwei Forschungslücken: Die erste Forschungslücke betrifft die Positionierung hinsichtlich der individualistisch-strukturalistischen Ansätze des Verhältnisses von Handlung und Struktur. Die oben angeführte dominante desozialisierte Lesart psychologischer Verträge betrifft ein Problem, das in der Soziologie (Coleman 1990) und Psychologie (Groeben 1999) als Mikro-Makro-Problem behandelt wird. Die dem methodologischen Individualismus verhaftete Perspektive von psychologischen Verträgen impliziert, dass vom Handeln einzelner Individuen (Mikroebene) ausgegangen wird, um soziale Vorgänge (Makroebene) zu beschreiben und zu erklären. Jedoch steht der soziokulturelle Kontext in der Forschung zu psychologischen Verträgen deutlich im Hintergrund. Mit Blick auf den Aufbau und die Funktionsweise von psychologischen Verträgen werden im Folgenden die reziproken Tauschformen in psychologischen Verträgen in ihrer soziokulturellen Einbettung expliziert. Unsere erste Forschungsfrage lautet daher: a) Inwiefern erweisen sich soziokulturellen Bedingungen/Faktoren bei psychologischen Verträgen für reziproke Tauschformen in Arbeitsbeziehungen als relevant? Der methodologische Individualismus zielt darauf ab, kollektive Phänomene durch Rekurs auf individuelles Handeln zu erklären. Die zweite Forschungslücke steht im Zusammenhang mit den Beweggründen, welche diese Handlungen auslösen. Diese Beweggründe werden in der Forschung zu psychologischen Verträgen i. d. R. nicht explizit untersucht. Implizit werden jedoch utilitaristische Handlungsmotive bei den Arbeitnehmern unterstellt (z. B. Rousseau 1995), indem in verschiedenen Arbeiten zur Erklärung dessen, wie soziokulturelle Kontextfaktoren die Handlungsmotivation der 314 Maike Andresen, Markus Göbel: Reziprozitätsformen in psychologischen Verträgen Beschäftigten beeinflussen, eine Bezugnahme auf die soziologische Forschung und hier insbesondere die individualistische und rationalistische Position von Blau (1964) erfolgt. Nicht aufgegriffen hingegen wird der in der Psychologie bereits diskutierte Aspekt der Moral, wie er von Piaget (1965) und Kohlberg (1987) ausgearbeitet wird und den Nutzen als Handlungsmotiv ergänzt. Insofern ergibt sich folgende Forschungsfrage: b) Welche Tauschmotive werden in Interaktion mit den soziokulturellen Merkmalen reziproker Tauschformen im Rahmen psychologischer Verträge aktiviert? Forschungsgegenstand unserer Studie ist die Beschaffenheit des psychologischen Vertrags von sog. Expatriates, d. h. Mitarbeitern, die beruflich von ihrem Arbeitgeber ins Ausland entsandt wurden (Harris/Brewster/Erten 2005). In den hier analysierten Fällen betrifft dies Delegationen zwischen ein und fünf Jahren (Martin 2001). Auslandseinsätzen liegen auf Seiten der entsandten Manager wie der entsendenden Unternehmen unterschiedliche Ziele zugrunde: Während die Mitarbeiter primär Karrierechancen, finanzielle Anreize oder persönliche Motive mit einer Auslandsversendung verbinden, betrachten multinationale Unternehmen diese insbesondere als Instrument der Unternehmenssteuerung und der Personalentwicklung (z. B. Stahl et al. 2000, 340, 346). Die Ergebnisse basieren auf einer empirischen Studie, die in vier großen, multinationalen Industrieunternehmen in Deutschland durchgeführt wurde. Kooperiert wurde mit der jeweiligen Personalabteilung, die für die Gesamtgruppe der von Deutschland aus entsandten Expatriates verantwortlich zeichnet. In einer qualitativen Studie wurden Expatriates interviewt und Ergebnisse auf Basis des Grounded Theory Ansatzes generiert. Unser Artikel beginnt mit Blick auf die Forschungsfragen mit einer literaturgestützten Erörterung der soziokulturellen Einbettung von Tauschprozessen in Arbeitsbeziehungen und darauf aufbauend erfolgt eine Diskussion von Handlungsmotiven bei reziproken Tauschformen in psychologischen Verträgen. Hiernach wird das Forschungsdesign der Untersuchung vorgestellt. Anschließend werden die Ergebnisse unserer empirischen Studie präsentiert. Der Artikel endet mit Schlussfolgerungen für die theoretische Auseinandersetzung hinsichtlich psychologischer Verträge und der mit ihnen verbundenen reziproken Interaktionsformen zwischen den Vertragsparteien. 2. Ausgewählte Forschungsergebnisse zu sozialem Tausch und Reziprozität Grundlegend für die bisherige Forschung zu psychologischen Verträgen (z. B. CoyleShapiro/Shore 2007; Dabos/Rousseau 2004; Guest 2004) sind die Arbeiten zu sozialem Tausch von Blau (1964). Als Vertreter des rationalen Handlungsmodells betrachtet Blau (1964) eine Tauschbeziehung als eine Serie strategischer Spiele. Ist die gegenseitige Leistungsbilanz in einer Tauschbeziehung ausgeglichen, so herrscht Reziprozität vor. Im Falle eines Ungleichgewichts der gegenseitigen Leistungsbilanz aber entsteht auf Seiten des Leistungsnehmers – hier dem Arbeitnehmer – eine einseitige Verpflichtung dem Leistungsgeber – hier dem Arbeitgeber – gegenüber, eine adäquate Gegenleistung zur Verfügung zu stellen, um so die Leistungsbilanz auszugleichen (Blau 1964). Diese einseitige Verpflichtung zum Leistungsausgleich – wie es für den Zeitschrift für Personalforschung, 23(4), 312-335 DOI 10.1688/1862-0000_ZfP_2009_04_Andresen 315 psychologischen Vertrag kennzeichnend ist – impliziert aus Sicht des Arbeitnehmers eine Abhängigkeitsbeziehung, die sich tendenziell in einer ungleichen Machtverteilung offenbart. Um dieses Machtungleichgewicht auszugleichen, sind Arbeitnehmer bestrebt, eine Gegenleistung zu erbringen, um letztlich eine ausgeglichene Leistungsbilanz mit der Organisation herzustellen (Shore/Barksdale 1998). Obwohl diese individualistische und rationalistische Tauschtheorie nach wie vor eine wichtige theoretische Grundlage für die Forschung zu psychologischen Verträgen darstellt, fokussieren in jüngerer Zeit einschlägige Forschungsarbeiten (z. B. Dabos/Rousseau 2004; Shore et al. 2006) die Vielschichtigkeit und Komplexität von Tauschbeziehungen im Rahmen psychologischer Verträge. So unterscheiden Dabos und Rousseau (2004) zwischen transaktionalen und relationalen psychologischen Verträgen. Orientiert sich der transaktionale Vertrag an dem anonymisierten Markttausch neoklassischer Prägung, so ist der relationale Vertrag durch Merkmale paternalistischer Beziehungen, wechselseitige Loyalität der Tauschparteien, langfristige Stabilität der Tauschbeziehung und eine altruistische Sorge für die andere Vertragspartei gekennzeichnet (Dabos/Rousseau 2004, 54, 67).1 Weiterhin macht insbesondere die Untersuchung von Dabos und Rousseau (2004) deutlich, dass reziproke Tauschformen in Arbeitsbeziehungen deutlich komplexer und soziokulturell voraussetzungsvoller zu sein scheinen, als dies strikt rationalistische Tauschkonzepte vermuten lassen.2 Diese soziokulturelle Kontextualisierung von Tauschhandlungen und -prozessen wird in einer zweiten Forschungsrichtung zu sozialem Tausch und Reziprozität fokussiert, die ihr Augenmerk auf die strukturellen und institutionellen Einflüsse von Kollektiven legt (Molm/Cook 1995, 212). Als relevant erweisen sich in diesem Zusammenhang die Arbeiten des Anthropologen Mauss (1968), der sich intensiv mit der Funktionsweise von Gabensystemen beschäftigt hat. In seinen Analysen betont er die Wechselwirkung von individuellen Handlungsmotiven und soziokulturellem Kontext. Das rationale Kalkül bleibt in der Tauschtheorie von Mauss (1968) „immer bezogen auf das kulturelle Symbolsystem, die moralischen Regeln und die soziale Beziehungsstruktur, in der es zur Wirkung kommt“ (Kappelhoff 1995, 6). Handlungsmotive sind in dieser Lesart keine exogenen Größen, sondern entfalten erst in der Interaktion mit dem soziokulturellen Kontext ihre handlungsinduzierende Kraft (vgl. auch Piaget 1965). Erweist sich auch die moralische und nicht-utilitaristische Grundlage als notwendig für die Leistungsannahme, so impliziert dies jedoch keinen Ausschluss utilitaristischer Erwägungen aus Mauss’ Theorie (Befu 1980, 202). Wie Mauss (1968) nämlich betont, basiert jede soziale Ordnung grundlegend auf dem Prinzip der Reziprozität, einer Urform des Vertrages, in der Moral und Ökonomie – sprich Nutzenmaximierung – zugleich wirksam sind. 1 2 Eine weitere Vertragsform stellt der balancierte Austausch dar, welcher vergleichsweise vielschichtiger ist, indem dieser Merkmale des transaktionalen und relationalen psychologischen Vertrags vereinigt (Dabos/Rousseau 2004, 67). Denn wie Westwood et al. (2004, 376) argumentieren, bewohnt selbst der Homo Oeconomicus eine bereits bestehende kulturelle und psychologische Welt und dieser soziopsychologische Rahmen umgrenzt die Werte, nach denen seine rationalen Kalküle erfolgen. 316 Maike Andresen, Markus Göbel: Reziprozitätsformen in psychologischen Verträgen Die Relevanz von unterschiedlichen Handlungsmotiven in reziproken Interaktionsbeziehungen scheint auch für psychologische Verträge zu gelten, wie Conway (1996) und Guest (1998) unter Rekurs auf anthropologische Forschungsergebnisse explizieren. Normen der Moralität und der Prosozialität beeinflussen demnach das Verhalten des Einzelnen und stellen Vertragstreue so erst sicher. Die Reziprozitätsnorm erlaubt demnach die Aufrechterhaltung von Ungleichgewichten in einer Beziehung. Eine Konsequenz der theoretischen Dominanz Blaus (1964) in der Forschung zu psychologischen Verträgen ist jedoch, dass die Beweggründe der Kontraktparteien in ihren reziproken Interakten – zumindest implizit – auf utilitaristische Handlungsmotive reduziert werden und die Bindewirkung von Kontrakten demnach primär auf rationale Entscheidungskalküle zurückgeführt wird. Durch die Erweiterung der Handlungsmotive um Moral kann, so Guest (1998), theoretisch erklärt werden, warum Verletzungen des psychologischen Vertrags toleriert oder sogar verleugnet werden können.3 Auch Conway und Briner (2005, 51) argumentieren, dass individuelle Faktoren wie beispielsweise die Persönlichkeit oder die Austauschideologie, aber auch Handlungsmotive die wahrgenommenen reziproken Versprechen von Arbeitgeber und -nehmer sowie deren Erfüllungsgrad beeinflussen können. Indem Guest (1998) sowie Conway und Briner (2005) zeigen, dass psychologische Verträge nicht zwangsläufig auf utilitaristischen Handlungsmotiven beruhen, erweitert sich der Kreis möglicher Handlungsoptionen. Die Tolerierung oder gar Leugnung von Vertragsverletzungen werden nicht mehr als wenig nachvollziehbar bewertet, sondern erweisen sich unter Rekurs auf moralische Handlungsmotive als durchaus rationale Handlungsweise. Angesichts der Vielzahl an empirisch beobachtbaren Verhaltensweisen im Kontext von psychologischen Verträgen geht eine erweiterte Motivbasis insofern mit einem erheblichen Erklärungsmehrwert einher. 3. Methodik und Daten 3.1 Begründung des Forschungsdesigns Basis der vorliegenden Studie ist die Beleuchtung psychologischer Verträge und des Einflusses der Reziprozität auf das Verhalten der Akteure aus der Perspektive der Arbeitnehmer und des Arbeitgebers (wiedergegeben über die Einschätzung der befragten Manager). Am Beispiel des Auslandseinsatzes werden die Handlungen der Expatriates sowohl hinsichtlich der ihnen zugrunde liegenden Motive, der mit den Handlungen verbundenen Konsequenzen sowie der soziokulturellen Bedingungen analysiert. Grundlage der Analyse ist eine austauschtheoretische Perspektive. 3 Diese Argumentation ist kompatibel mit Forschungsergebnissen aus der Gerechtigkeitspsychologie, die ebenfalls Eigennutz als Handlungsmotiv von Moral unterscheiden (Montada 2003). Mit Blick auf das Verhalten in Interaktionszusammenhängen betonen etwa Lengfeld und Liebig (2003) sowie Liebig (2001, 283), dass, wenn soziale Grundhaltungen auf moralischen Beweggründen basieren, diese in den Augen der Personen meist sehr viel bedeutender erscheinen. Folglich könnten moralische Beweggründe soziales Verhalten stärker beeinflussen als andere, nicht moralisch begründete Motive. Die handlungsleitenden moralischen Prinzipien basieren letztlich auf moralischen Regeln, die mitunter einen universellen jedoch immer einen gruppenbezogenen Gültigkeitsanspruch erheben (Liebig 2001). Zeitschrift für Personalforschung, 23(4), 312-335 DOI 10.1688/1862-0000_ZfP_2009_04_Andresen 317 Die komplexen Beziehungen zwischen der grundlegenden Moralordnung und dem beobachtbaren Verhalten lässt sich, Liebig (2001) folgend, nicht mit den klassischen Instrumenten der Survey-Forschung untersuchen. Benötigt wird vielmehr ein Forschungsdesign, das für dieses Forschungsprogramm aus mehreren Gründen vorteilhaft ist: So ist eine Abfrage des Bewusstseins über Normen nicht hinreichend, da dieses nicht impliziert, dass auch danach gehandelt wird (Smith 1994). Auch dasselbe (normenentsprechende) Verhalten kann entweder Ausdruck eines moralischen oder nutzenorientierten Motivs sein. Beide Motive sind in Situationen zudem häufig vermischt (Maes 2004, 133). Es bedarf daher, erstens, neben der Erfassung von Handlungen einer jeweiligen Erhebung des Kontextes, um ausreichend Anhaltspunkte für eine valide Zuordnung zu haben. Zweitens gelten Emotionen wie z. B. Scham, Schuld, Empörung als beste Indikatoren für die wirksame psychische Existenz moralischer Normen (Montada 1993, 260ff.). Diese lassen sich am umfassendsten in einer qualitativen Studie durch Beobachtung nonverbaler und paraverbaler Kommunikation wie auch Erfragen der emotionalen Regungen der Interviewten im Zusammenhang mit den von ihnen beschriebenen Situationen erfassen und verstehen (vgl. Montada/Kals 2007, 150, 166ff.). Die Stärke einer Analyse unter Einbezug von Emotionen liegt in deren Konsistenz und Zuverlässigkeit. Kognitionen werden indirekt erfasst, indem jede Emotion ein spezifisches Muster von Kognitionen impliziert (Phelps 2006). Drittens erscheint auch mit Blick auf den explorativen Charakter der Untersuchung ein qualitatives Forschungsdesign am geeignetsten (Groeben 1999). 3.2 Stichprobe Um die Komplexität des psychologischen Vertrags und des reziproken Austauschs zwischen den Managern und der jeweiligen Zentrale in Deutschland erfassen zu können, nahmen wir eine Auswahl von Expatriates in unterschiedlichen Entsendungsphasen in einer Vielzahl von Ländern mit verschiedenen beruflichen und familiären Hintergründen vor. Die im Sample repräsentierten funktionalen Bereiche umfassen Produktion, Finanzen, Marketing, IT und Personal. Die 54 Befragten entstammen vier Produktionsunternehmen. Die empirische Datenerhebung erfolgte mittels halbstrukturierter Interviews. Es wurden ausschließlich deutsche Befragte einbezogen, um Verzerrungen in den Ergebnissen zu vermeiden, die aus der nationalen Kultur resultieren. Die Interviews dauerten je 40 bis 90 Minuten und wurden je nach Anwesenheit des zu interviewenden Mitarbeiters persönlich im Stammhaus in Deutschland oder per Video-Telefon (Skype) geführt. Um den Gesprächscharakter zu bewahren, wurden alle Interviews stets von einer Person durchgeführt. Alle Gespräche wurden von demselben Interviewer geleitet. Über alle Interviews wurden Gesprächsprotokolle erstellt, auf deren Basis die systematische Analyse der Rohdaten erfolgte. Als Zeitpunkt der Datenerhebung wurde die laufende Phase des Auslandseinsatzes gewählt. So sollte sich der bisherige soziale Austausch und die antezipierten Konsequenzen auf eine fehlende reziproke Einhaltung von Erwartungen bzw. Verpflichtungen durch den Arbeitgeber am besten erfassen lassen. Zu den antezipierten Konsequenzen zählt die Intention beim Arbeitgeber zu bleiben oder das Unternehmen zu verlassen. Diese Intention ist der finale kognitive Schritt im Entscheidungsprozess eines freiwilligen Arbeitgeberwechsels (Steel/Ovalle 1984) und gilt entsprechend als 318 Maike Andresen, Markus Göbel: Reziprozitätsformen in psychologischen Verträgen der stärkste Prädiktor für einen Wechsel (Hendrix/Robbins/Summers 1998). Deshalb wird die Intention in der Forschung als Surrogat für einen tatsächlichen Arbeitgeberwechsel genutzt. Daten wurden erhoben zu x dem Zustandekommen der Entsendung und den Einflussfaktoren auf die Entstehung und Entwicklung des psychologischen Kontraktes, x dem Inhalt des psychologischen Vertrags, x der Einschätzung der gegenseitigen Verpflichtungsänderung sowie der Veränderung der Erwartungen von Arbeitnehmer und Arbeitgeber im Laufe der verschiedenen Phasen der Auslandsentsendung, x der Reaktion auf nichterfüllte Bestandteile des psychologischen Kontraktes und den Auswirkungen auf den Entsandten in jeder Phase der Auslandsentsendung, x der persönlichen Einschätzung der eigenen Karriere nach der Entsendung und die Bedeutung der Entsendung für die Karriere sowie x dem Einfluss der Entsendung auf das Vertrauensverhältnis zum Stammhaus. 3.3 Datenanalyse Die Vorgehensweise bei der Analyse folgt methodisch der Grounded Theory von Glaser und Strauss (1967) bzw. Strauss und Corbin (1990). Der Grounded TheoryAnsatz nach Strauss und Corbin (1990) ist theoriegeleitet. Entsprechend erfolgte in unserer Studie auf Basis eines fundierten Wissens zu den Forschungsbereichen psychologische Verträge, Reziprozität und Auslandsentsendung die Definition erster Forschungsfragen sowie die Entwicklung eines vorläufigen theoretischen Konzepts. Über eine gleichzeitig erfolgende Datenerhebung und Auswertung erfolgte dann eine Hypothesen- bzw. Theoriebildung über die Beziehung zwischen Auslandsentsandtem und Arbeitgeber (Strauss/Corbin 1990). Im Zuge dieses Prozesses wurden weitere bestehende Theorien herangezogen, um die eigenen Ergebnisse vor deren Hintergrund zu erklären, zu hinterfragen und ergänzende Aspekte zu diesen Theorien herauszukristallisieren. Die Stärke dieser Vorgehensweise liegt folglich in der Möglichkeit, bestehende Rahmenkonzepte zu erweitern sowie neue zu eröffnen. Die Datenauswertung der Interviews erfolgte EDV-unterstützt mittels MAXqda. Hierbei kodierten wir die Daten (d. h. die transkribierten Interviewpassagen) über eine kontinuierliche vergleichende Analyse, bei der jeder Indikator für das untersuchte Phänomen einem zunächst theoriebasierten und dann emergierenden, offenen Kodierungssystem zugeordnet wurde, bis jedes Interview vollständig einem oder mehreren Kodes zugewiesen war. Wir generierten insgesamt 23 Kodes und reduzierten diese mittels eines Axial Coding sukzessive in zunehmend abstrakte Kategorien. Diese Analysephase ergab insgesamt 11 Kategorien, die in einem Prozess selektiver Kodierung auf schließlich vier Kategorien verdichtet wurden (Strauss/Corbin 1990). So haben sich neben der Kategorie der Handlungsmotive mit Bezug auf den soziokulturellen Kontext im Verlauf der Datenauswertung folgende drei Kategorien als forschungsleitend erwiesen: Reziprozitätsformen, Transferressourcen und Transfermodi (vgl. Tab. 1). Über einen Vergleich der Daten, die zu derselben Kategorie gehören, sowohl ein- Zeitschrift für Personalforschung, 23(4), 312-335 DOI 10.1688/1862-0000_ZfP_2009_04_Andresen 319 zelner als verschiedene Interviewpartner (Synopse) wurden acht Subkategorien (Nutzen, Moral, balancierte und generalisierte Reziprozität, tätigkeits- bzw. sachbezogene und beziehungs- bzw. personenbezogene Leistungen und Güter sowie kalkulierendes und relationales Vertrauen) entwickelt und diese anhand ihrer dimensionalen Ausprägung konkretisiert (Strauss/Corbin 1990). Die nachfolgende Tabelle gibt einen Überblick über den Erklärungsbeitrag der Subkategorien für die jeweiligen Kategorien. Tab. 1: Kategorien und Subkategorien Kategorien Transfermotivation Subkategorien sozio-kultureller Kontext: TransferReziprozitäts- Transferressourcen modi formen Nutzen Moral balancierte Reziprozität generalisierte Reziprozität tätigkeits- bzw. sachbezogene Leistungen und Güter beziehungs- bzw. personenbezogene Leistungen u. Güter kalkulierendes Vertrauen relationales Vertrauen Legende: ʀ = beinflusst Kategorie stark, ʀ = beinflusst Kategorie schwach 3.4 Validierung Zwecks Validierung der Daten (Kirk/Miller 1986) prüften wir wiederholt die Grenzen der während der Datenerhebung herausgebildeten konzeptionellen Kategorien und tentativen Hypothesen sowie Theorien anhand der Aussagen zusätzlicher Auslandsentsandter. Im Zuge der Datenerhebung modifizierten wir permanent unsere konzeptionellen Kategorien oder kreierten neue. Weiterhin adaptierten wir unsere sich herausbildende Theorie, soweit dies angesichts neuer oder inkonsistenter Informationen erforderlich erschien. Eine theoretische Sättigung trat dann ein, als sich keine neuen Kategorien herausbildeten, alle Informationen in unseren Hypothesen berücksichtigt waren und die Ergebnisse hohe Konsistenz aufwiesen (Kirk/Miller 1986, 40). Beide Autoren kodierten zunächst unabhängig voneinander die Interviewdaten und verglichen die Kategorien anschließend nach Übereinstimmungen und Unstimmigkeiten bzw. Widersprüchen. Ergebnis war ein gemeinsames Set von Kategorien, mit Hilfe dessen dann abschließend sämtliche Daten rekodiert wurden. Unsere Interrater-Reliabilität (Kappa ƪ = 0,78) ist durch ein hohes Maß an Konkordanz der Einschätzungsergebnisse gekennzeichnet. 320 Maike Andresen, Markus Göbel: Reziprozitätsformen in psychologischen Verträgen 4. Forschungsergebnisse Um für ein besseres Verständnis zu sorgen, präsentieren wir zunächst ex ante das Endergebnis unserer Untersuchung, das wir sukzessive aus unseren Daten deduziert haben. Als forschungsleitend erweist sich hierbei unser theoretisches Vorverständnis, das auf der kritischen Analyse der vorangestellten Literatur basiert. Die bereits im Zuge der Literaturbearbeitung deutlich gewordene Relevanz eines wie auch immer gearteten soziokulturellen Kontextes für die Struktur und Funktionsweise von Tauschbeziehungen im Rahmen psychologischer Verträge findet in unseren Daten Bestätigung. Mit Blick auf die Interdependenz von individuellen Handlungsmotiven und soziokulturellem Kontext kristallisierten sich zwei dominante Reziprozitätstypen im Rahmen der psychologischen Verträge von Auslandsentsendungen heraus, die hier als (1) „utilitaristische Tauschreziprozität“ sowie (2) „solidarische Gabenreziprozität“ bezeichnet werden. Konstitutiv für das Verständnis der Reziprozitätstypen ist die je spezifische Interdependenz von individuellen Handlungsmotiven und soziokulturellem Kontext (Reziprozitätsformen, Transferressourcen, Transfermodi). Während bei der „utilitaristischen Tauschreziprozität“ das rationalistische Kalkül dominiert und Moralität nur eine latente Rolle spielt, ist es bei der „solidarischen Gabenreziprozität“ genau umkehrt. Moralität ist hier fokal, gleichzeitig spielen Nutzenerwägungen nur eine periphere Rolle. Obwohl es sich bei dem soziokulturellen Handlungskontext und den individuellen Handlungsmotiven um interdependente Phänomene handelt, haben wir uns aus Gründen der Übersichtlichkeit und Nachvollziehbarkeit entschlossen, diese sukzessive zu präsentieren. Im folgenden Abschnitt wird daher zunächst die Transfermotivation diskutiert. Es wird gezeigt, dass neben den – bekannten – utilitaristischen Tauschkalkülen auch moralische Handlungsmotive bei psychologischen Verträgen im Rahmen von Auslandseinsätzen eine Rolle spielen. 4.1 Transfermotivation: Nutzen vs. Moral Die individuellen Motive für eine Entsendung ins Ausland sind vielfältig. Sie reichen von dem Wunsch, in einem anderen Kulturkreis zu arbeiten, und der Vorstellung, den Kindern etwas Gutes zu tun, über die persönliche Begeisterung für eine neue Aufgabe und das Interesse am Kennenlernen von anderen Bereichen bis hin zu höheren Verdienstmöglichkeiten im Ausland und dem Wunsch nach einer positiven Karriereentwicklung. Die dominante utilitaristische Handlungsorientierung von Expatriates zeigt sich in unseren Daten deutlich in den ausgeprägten Karriereambitionen, die als eigentliches Ziel der Entsendung fokussiert werden (vgl. Kasten 1). So wird eine Auslandstätigkeit von Arbeitnehmern und in der Wahrnehmung der Expatriates auch von Arbeitgeberseite als obligatorischer Entwicklungsschritt gesehen. Verbunden damit spielen finanzielle Vorteile bereits während der Entsendung eine entscheidende Rolle. Charakteristisch ist, dass die Mitarbeiter strategisch auf ihre gesetzten Ziele hinarbeiten und fest mit der Einlösung durch die andere Partei rechnen. Das Streben nach Gerechtigkeit, beispielsweise hinsichtlich der Bezahlung, ist Instrument, um dem Erfüllen von Eigeninteressen nachzuhelfen. Über einen selbständigen Kontakt zum Stammhaus oder eine Zeitschrift für Personalforschung, 23(4), 312-335 DOI 10.1688/1862-0000_ZfP_2009_04_Andresen 321 Verschriftlichung von Vereinbarungen wird versucht, Kontrolle entweder direkt über das Ergebnis der Verhandlung oder zumindest indirekt über das Verfahren zu haben, um den eigenen Nutzen zu sichern. Deutlich wird, dass die Abwägungen von Handlungsoptionen immer vor dem Hintergrund des konkreten Tauschakts und der hiermit verbundenen Kalkulation von Kosten und Nutzen stattfindet. Der Transfer wird von den Expatriates folglich primär nach dessen Konsequenzen beurteilt. Ob die eigene Rechung aufgeht, hängt vom Ausgang der Entsendung und persönlichen Investitionen hinsichtlich Zeit und Partnerschaft ab. Kasten 1: Belege für utilitaristische Handlungsmotive „Ich wurde im August 2005 mit dem Vorschlag überfallen und zu einer Entscheidung gedrängt. Eine Ablehnung war ohne Nachteile für meine Karriere nicht möglich.“ „Ich wollte eine Auslandsentsendung machen für mein berufliches Weiterkommen.“ „Eine Auslandserfahrung ist auf jeden Fall was wert – zumindest bei anderen Unternehmen. Es wäre vielleicht interessant, die Firma generell zu wechseln, um den „drive“ der Auslandsentsendung mitnehmen zu können.“ „Es stellt sich für die berufliche Weiterentwicklung sicher positiv dar, dass man vier Jahre in China gelebt hat. Und finanziell ist das mit 36 Jahren auch attraktiv.“ In unseren Daten zeigt sich aber auch die dominante Wirkung einer Moralordnung, welche auch in dem reflexiven Umgang mit formalisierten Vereinbarungen wie beispielsweise einer Entsendungsrichtlinie deutlich wird und die das Streben nach Rentenmaximierung dominiert. Im Zuge einer situativ angemessenen Regelauslegung bzw. -modifikation treten die Tauschpartner in einseitige Vorleistungen, die weniger dem eigenen Wohlergehen, sondern primär dem Wohl des Gegenübers wie der Muttergesellschaft in Deutschland, des Arbeitgebers im Ausland oder der Kunden gezollt sind. Die Moralordnung äußert sich beispielsweise in Motiven wie soziale Verantwortung, Gemeinsinn oder einem expliziten Streben von Auslandsentsandten nach Gerechtigkeit und Fairness im wechselseitigen Umgang, welche zu den bestimmenden Steuerungsparametern werden. Das Streben nach Gerechtigkeit ist hier nicht länger ein taktisches Mittel, um den eigenen Nutzen im Ausland oder nach der Rückkehr ins Heimatland zu maximieren, sondern Selbstzweck und ein moralischer Imperativ.4 Kasten 2: Belege für moralische Handlungsmotive „Hilfe haben wir dann von HR in Hamburg bekommen, dass ein Haus in einer höheren Preisklasse auch okay wäre, da es wichtig ist, dass wir uns wohl fühlen und nicht die strikte Einhaltung der Policy entscheidend ist.“ „Oft ist es auch so, dass ich sage: ‚Ja, für die beiden [Vorgesetzten] mache ich das auch und für die möchte ich, dass das alles rund läuft und ich da gute Arbeit mache’.“ „Es gibt hier wenig Privatleben, keine Freunde oder Feiern auf die man geht. Viele Leute verbringen somit mehr Zeit im Büro als zu Hause. Da muss den Mitarbeitern das Vertrauen entgegengebracht werden, dass das nicht ausgenutzt wird.“ „Ich hab mich als den Eisbrecher gesehen, gekämpft und mit der Zeit Veränderungen gesehen als dann die Entsendungsrichtlinie herauskam. (...) Ich war dann froh, dass wenigsten die, die dann nach mir gekommen sind, davon profitieren konnten.“ 4 So betonen ihre Vertreter Lerner (1980) und Montada (2005), dass Gerechtigkeit als Teil der moralischen Interessen ebenso wie Eigeninteresse ein eigenständiges, primordiales Motiv menschlichen Handelns und Entscheidens ist. Im Unterschied hierzu argumentiert z. B. Adams (1965), dass Gerechtigkeit auf Eigeninteresse zurückzuführen und damit ein sekundäres Motiv ist. 322 Maike Andresen, Markus Göbel: Reziprozitätsformen in psychologischen Verträgen Auf der Grundlage der herausgearbeiteten individuellen Tauschmotive konnten die Auslandsentsandten zwei Gruppierungen zugeordnet werden. Hierzu wurden je Interview die getätigten Aussagen den beiden Motiven zugeordnet und im Falle sowohl nutzen- als auch moralorientierter Motive in den Äußerungen Häufigkeitsauszählungen und eine Zuordnung in eine der beiden Gruppierungen vorgenommen. Bei diesem Prozess ergab sich eine hohe Trennschärfe, indem sich jeweils mindestens 75 Prozent der Äußerungen Einzelner jeweils einem der Motive zuordnen ließen. Die Gruppe der moralorientierten Entsandten umfasste 25 Personen und die nutzenorientierte Gruppe 29 Personen. Für jede Gruppierung wurde der Einfluss des soziokulturellen Kontextes auf der Basis unserer Daten untersucht, um etwaige Unterschiede herauszukristallisieren (vgl. Tab. 1). Im Folgenden stellen wir zunächst die Reziprozitätsbeziehung und im weiteren Verlauf dann die Transfermodi dar. 4.2 Soziokultureller Kontext Der ins Ausland versendete Mitarbeiter, die entsendende Muttergesellschaft sowie die empfangende Auslandsgesellschaft stehen in einer komplexen Austauschbeziehung, die einerseits den wechselseitigen Transfer von Ressourcen bzw. Gaben beinhaltet. Die einzelne Transaktion ist anderseits in einen sozialen Zusammenhang eingebettet, der erst in seiner Gesamtschau für den Außenstehenden sinnvoll und erkennbar ist: (1) Die Form des Transfers sowie (2) die transferierten Ressourcen bzw. Gaben stehen in einem interdependenten Verhältnis zueinander. Um die einzelnen Dimensionen klarer zu beleuchten sowie die sich aus der Empirie ergebenden Unterschiede deutlicher herauszuarbeiten, werden die beiden Dimensionen trotz ihrer Interdependenz separat diskutiert. Reziprozitätsformen Mit Blick auf die Expatriates, die eine individualistische Bedürfnisbefriedigung in den Vordergrund stellen, erweisen sich die einzelnen Tauschakte als zielorientierte Handlungen. Charakteristisch für die individualistische Nutzenorientierung ist ein Kalkül in dem Sinne, dass “ein Geschenk immer nach einem Ausgleich verlangt“ (v. Hippel 1988, 77; eigene Übersetzung). Überdurchschnittliches Arbeitsengagement während der Auslandsversendung, durch das die seitens des Unternehmens mit dem Auslandseinsatz verbundenen Ziele wie etwa Wissenstransfer und Kompetenzaufbau erreicht werden können, wird daher immer nur unter Bezug auf eine entsprechende Erwiderung des Arbeitgebers erbracht, die beispielsweise in monetärer Weise oder aber in Form einer adäquaten Karriereperspektive im Anschluss an seine Auslandstätigkeit erfolgen kann (vgl. Kasten 3). Deutlich wird hier ein reziprokes System des Gebens und Nehmens, bei dem sich die wechselseitigen Leistungen in einer guten Balance halten sollen. Zentraler Bezugspunkt des reziproken Leistungstransfers sind aus Sicht der Expatriates formalisierte Vereinbarungen wie der Arbeitsvertrag oder die Unternehmens- und Auslandsentsendungsrichtlinien. Angesichts dieser Tit for Tat-Strategie, die an die balancierte Reziprozität im Sinne Sahlins (1972) erinnert, erweist sich eine Kooperation in Prozessen wechselseitigen Leistungstransfers als problematisch. Denn einerseits geht es um den gemeinsamen Nutzen, d. h. der einzelne Tauschpartner kann seinen Vorteil aus der Tauschbezie- Zeitschrift für Personalforschung, 23(4), 312-335 DOI 10.1688/1862-0000_ZfP_2009_04_Andresen 323 hung nur dann realisieren, wenn auch der andere Partner einen Vorteil erzielt. Anderseits ist der Einzelne daran interessiert – im Zweifelsfall auch gegen die Vorstellungen des Gegenübers – seinen Vorteil in der Tauschbeziehung zu suchen. Deutlich wird die einseitige Vorteilsnahme insbesondere bei der Ausgestaltung finanzieller Regelungen. Tausch und Täuschung liegen demnach eng beieinander. Als erschwerend für die Aufrechterhaltung kooperativen Verhaltens erweisen sich zusätzlich noch Spezifika von Auslandsentsendungen. Denn Formen balancierter Reziprozität sind durch einen unmittelbaren Austausch ungefähr gleichwertiger Leistungen zwischen Ressourcennehmer und -geber gekennzeichnet (Sahlins 1972). Die Besonderheiten im Auslandseinsatz liegen in einer zeitlichen Disparität zwischen Leistung und Erwiderung, gepaart mit einer komplexen Akteurskonstellation. Der Arbeitnehmer ist in der Tauschbeziehung mit einem Tauschpartner konfrontiert, der durch zwei Organisationen, einer in Deutschland und einer im Ausland, im Austausch vertreten wird. Für das Gros der Entsandten bleibt die Muttergesellschaft primärer Bezugspartner im Rahmen eines indirekt vollzogenen reziproken Leistungstransfers. Es wird die Zeit des Auslandseinsatzes als bestimmter, überschaubarer Zeitraum zwischen Geben und Nehmen akzeptiert und eine zukünftige Gegenleistung erwartet. Die Besonderheit liegt hier darin, dass die Auslandsgesellschaft unmittelbarer Ressourcenempfänger der erbrachten Leistungen ist und die Muttergesellschaft eher mittelbar im Zuge der internen Leistungsverrechnung profitiert (sofern überhaupt vorhanden), aber für die Gegenleistung verantwortlich ist. Im selteneren Fall entsteht ein direkt vollzogener reziproker Leistungstransfer, indem ein sofortiger wechselseitiger Austausch zwischen den Akteuren angestrebt wird. Infolge der Auslandsentsendung wird dieser in der Regel über die Auslandsgesellschaft als Partner zu erfüllen sein. Dies betrifft beispielsweise eine Einbeziehung in die weitere Karriereplanung und in Weiterbildungsmaßnahmen im Ausland. Im Extremfall wird die Auslandsgesellschaft einziger Austauschpartner. Kasten 3: Belege für ein individualistisches Nutzenkalkül „Ich verpflichte mich zu einer guten Performance und XY [Name der Firma] dagegen zu einem guten Rückkehrangebot.“ „Es gibt Zeitunterschiede, deshalb haben sie hier andere Arbeitszeiten. Ich fange um 9 Uhr im Büro an, mein Telefon schalte ich aber erst um 23 Uhr aus, weil ich dann nicht mehr angerufen werden will. In Deutschland geht der normale Angestellte irgendwann um 18 Uhr nach Hause und dann ist in der Regel auch Feierabend. Da haben sie im Ausland vor allem, wenn sie im Vertrieb sind, deutlich mehr. Das möchte man dann irgendwo auch anerkannt wissen und das geht eigentlich nur über das Geld.“ „Ich nehme als Expat nicht am firmeninternen Development Program teil und bin auch vom Talent Review Meeting ausgeschlossen, wo es um weitere Karriereplanung geht. Man ist sozusagen weg vom Schuss. Deshalb erwarte ich eine Einbeziehung in die weitere Karriereplanung und Weiterbildungsmaßnahmen während der Entsendung.“ Bei Expatriates der zweiten Gruppierung dominiert ein solidarisches Verhältnis zwischen Expatriate und Unternehmen. Gegebene und erhaltene Gaben werden nicht strikt gegeneinander aufgerechnet. An die Stelle von Wertäquivalenz und Rentenmaximierung treten in diesem Tauschsystem moralische Werte. Obgleich die Gegenleistung durch die Muttergesellschaft in Deutschland erbracht wird, eine unmittelbare Leistungskontrolle des Expatriates kaum möglich ist und damit Spielräume für opportunistisches Verhalten bestehen, streben die Entsandten eine Leistungserbringung in der ausländischen Organisation an, die quantitativ und qualitativ das vereinbarte Maß deutlich übersteigt. Deutlich wird hier eine Transitivität als Form generalisierter Re- 324 Maike Andresen, Markus Göbel: Reziprozitätsformen in psychologischen Verträgen ziprozität: Da die Muttergesellschaft eine starke Beziehung zur Auslandsgesellschaft unterhält und gleichzeitig eine starke Beziehung zum Mitarbeiter, entsteht auch eine Beziehung zwischen dem Mitarbeiter und der Auslandsgesellschaft. Die Möglichkeit, einseitig Gaben zu erbringen oder Verzicht zu üben, ohne dass diese als Verpflichtung zur adäquaten, wertäquivalenten Erwiderung interpretiert wird, kennzeichnet die Solidarität und Moralität in dieser Gruppe. Solidarität äußert sich in diesen Transferzusammenhängen zumeist durch den verhaltenen Anspruch, den die Expatriates an ihre Mutterunternehmen richten. Sie hegen lediglich die Erwartung, dass – soweit es der Muttergesellschaft als Ressourcennehmer möglich ist – eine Gegengabe beispielsweise in Form eines Karriereschritts erfolgt, die jedoch nicht als Automatismus und Verpflichtung angesehen wird. Während Verpflichtungen primär aus utilitaristischen Handlungsmotiven heraus einzuhalten sind, ist die Erfüllung von Erwartungen in erster Linie eine Frage der Moral. Alternativ besteht seitens der Akteure die Möglichkeit einer sogar ausbleibenden Erwartung einer Gegengabe, weil sie diese bereits als erhalten ansehen. Entsprechend wird die Möglichkeit einer Auslandstätigkeit einschließlich der damit verbundenen Herausforderungen von einigen Entsandten auch als Geschenk gesehen, welche mit Stolz angenommen und als Anerkennung der bisherigen Arbeit gewertet wird. Ein darüber hinaus ermöglichter Karriereschritt basiert folglich zentral auf wahrgenommener Prosozialität. Kasten 4: Belege für eine moralische Tauschreziprozität „Ich fühle mich gegenüber YZ [Name der Auslandsgesellschaft] zu hoher Eigenmotivation, entsprechender Mehrarbeit, viel Eigeninitiative und auch zur selbständigen Erledigung von Basisaufgaben verpflichtet, die nicht zu den eigentlichen Aufgaben zählen.“ „Ich betrachte die neuen Erfahrungen und Lehren als positiv. Schwierigkeiten sind Teil des Geschenks ins Ausland gehen zu dürfen.” „Eine Entsendung hat nichts zu tun mit dem Vertrauensverhältnis, eher mit Dankbarkeit, da es um Leistung geht.“ „Ich sehe mich zur Lieferung einer hohen Arbeitsqualität und maximalem Einsatz verpflichtet. Das ist mein eigener Anspruch und Erfahrung, sonst ist eine Entsendung nicht fair.“ Gegenstand des Ressourcen- bzw. Gabentransfers Mit Blick auf die transferierten Ressourcen unterscheiden die Auslandsentsandten bewusst zwischen tätigkeits- bzw. sachbezogenen Leistungen und Gaben und beziehungs- bzw. personenbezogenen Leistungen und Gaben. Erstere sind beispielsweise durch Werte und Einstellungen des Unternehmens oder ökonomisch bestimmt und besitzen einen stärker materiellen Wert, der den Tauschparteien eine Saldierung ihrer Ressourcenflüsse ermöglicht. Dazu im Unterschied werden zweitere durch einen personalen Kontext geprägt, welcher sich beispielsweise auf die Familie, Kollegen, weitere Auslandsentsandte oder Kontaktpersonen sowohl im Stammhaus als auch im Ausland bezieht, und haben insofern eine soziale Funktion, als dass durch ihren Transfer ein Beitrag zur emotionalen Bindung von Arbeitnehmer und -geber geleistet wird. Auf Arbeitgeberseite handelt es sich bei den tätigkeits- bzw. sachbezogenen Leistungen und Gütern aus Sicht der Expatriates insbesondere um Vergütung und arbeitsbezogene Betreuungsangebote sowie Unterstützung für die individuelle Persönlichkeits- und Karriereentwicklung. Im Gegenzug fühlen sich die Arbeitnehmer insbesondere zu hohem Arbeitseinsatz, der Erledigung von über den eigentlichen Bereich hinausrei- Zeitschrift für Personalforschung, 23(4), 312-335 DOI 10.1688/1862-0000_ZfP_2009_04_Andresen 325 chenden Aufgaben, einem eigenständigen Karrieremanagement und zu selbständiger Kontaktpflege mit dem Arbeitgeber verpflichtet. Die Inhalte des psychologischen Vertrags in unseren Daten decken sich weitgehend mit den in der Literatur zu findenden Modellen psychologischer Verträge im Kontext von Auslandseinsätzen (z. B. Lewis 1997). Von besonderer Relevanz war in unserer Studie eine an den Auslandseinsatz anschließende Karriereentwicklung.5 Tab. 2: Tätigkeits- und sachbezogene Leistungen und Güter auf Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite Leistungserwartungen des Expatriates an das Unternehmen Leistungen des Expatriates Verhaltensbezogene Vorbereitung (z. B. Kultur-, Sprachtraining für Expat) Administrative Unterstützung Hohe Arbeitsleistung, Überstundenarbeit (u. a. Sicherung der medizinischen Versorgung, Regelung steuerrechtlicher Belange, Beantragung Arbeitsvisum, Unterstützung bei Wohnungssuche und Umzug) Finanzielle Absicherung (d. h. angemessene Vergütung, Zahlung der Rentenversicherung, Dienstwagen, Kostenbeteiligung an Miete, Schulgeld, Kindergarten, etc.) Extrarollenverhalten Arbeitsbezogene Betreuung durch Personalabteilung in Deutschland (z. B. Klärung der Aufgaben im Gastland in Zielvereinbarung, Informationen über Entwicklungen des Marktes und im Stammhaus in Deutschland; Unterstützung bei Problemen) Selbstorganisation Unterstützung der Persönlichkeits- und Karriereentwicklung durch Stammhaus und Auslandsniederlassung (z. B. Weiterbildungsmaßnahmen, aktive Karriereförderung, langfristige Planung der Rückkehrposition, Nutzung der beruflichen Erfahrungen des Expatriates nach Rückkehr) Karriereselbstmanagement Gerade bei längeren Auslandseinsätzen sind jedoch die beziehungs- bzw. personenbezogenen Gaben von besonderer Relevanz. Sie bilden auf emotionaler Ebene eine wichtige Grundlage für die Leistungsbereitschaft und Arbeitsfähigkeit des Mitarbeiters. Auf Arbeitgeberseite handelt es sich hier insbesondere um Respektierung des Privatlebens (Kittler/Holtbrügge/Ungar 2006). Umgekehrt fühlen sich die Mitarbeiter dazu verpflichtet, private Belange in Eigenregie zu organisieren. Die Erwartungen und Verpflichtungen auf Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite hinsichtlich beziehungs- bzw. personenbezogener Gaben aus Sicht der Expatriates sind in Tabelle 3 zusammengefasst: Analysiert man die Daten im Hinblick auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten der auf den Motiven basierenden Gruppierungen, so werden zunächst keine Differenzen augenfällig. Die Vertreter beider Gruppierungen erwarten ebenso sachbezogene 5 Analog konnten auch Yan et al. (2002) zeigen, dass die Erwartungen des Entsandten hinsichtlich des Einflusses seiner Entsendung für seine Karriere signifikant seine Arbeitsleistung während des Auslandseinsatzes bestimmen. 326 Maike Andresen, Markus Göbel: Reziprozitätsformen in psychologischen Verträgen wie beziehungsbezogene Leistungen. Bei eingehender Analyse wird jedoch deutlich, dass Expatriates, die eine solidarische Beziehung mit ihrem Arbeitgeber pflegen, ihre Tab. 3: Beziehungs- bzw. personenbezogene Gaben auf Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite Leistungserwartungen des Expatriates an das Unternehmen Verhaltensbezogene Vorbereitung für die Familie (z. B. Previsit, Kultur-, Sprachtraining für Partner, Kinder) Leistungen des Expatriates Ergänzend selbstgesteuerte Vorbereitung (Literatur, Befragung von Leuten mit Erfahrungen im Gastland) Administrative Unterstützung der Familie (z. B. Suche von Kindergarten, Schule, Arbeitsplatz für Partner, Wohnungssuche und Umzug bei Entsendung und Heimkehr) Selbstorganisation Laufende individuelle Betreuung durch Personalabteilung in Deutschland (z. B. Klärung persönlicher Belange, Interessensbekundung, Kümmern) Verzicht / Opfer Geisteshaltung durch ein/en Verzicht/Opfer deutlich machen. Es handelt sich hierbei also nicht um eine Gabe oder Leistung im engeren Sinne, sondern um die Bereitschaft, ohne Vorbedingung und ohne begründete Aussicht auf Kompensation auf zustehende – mitunter sogar vertraglich fixierte – Leistungen zu verzichten. Diese bedeutet auf beruflicher Ebene beispielsweise die Aufgabe eines sicheren Arbeitsplatzes in Deutschland, das Eingehen eines Karriererisikos nach Rückkehr oder die Akzeptanz einer finanziellen Schlechterstellung im Vergleich zu den lokalen Mitarbeitern und auf persönlicher Ebene in Form des Verlassens von Familie und Freunden, der Aufgabe einer schönen, eigenen Wohnung sowie eines ruhigeren Lebens in Deutschland. Der Grund für den Verzicht liegt in der prosozialen Handlungsmotivation von Expatriates, die in einer moralischen Tauschreziprozität eingebunden sind. Denn ebenso wie diese in den Gabensystemen einseitig in Vorleistung treten, so sind sie auch bereit, Verzicht zu üben, wenn dies in ihren Augen dem Gesamtunternehmen dient: „Am Anfang musste ich auf vieles verzichten. Das war manchmal ganz schön hart. Aber ich kann den Auslandsaufenthalt ja nicht einfach abbrechen und morgen gehen. Kann ich, klar, kann ich schon, weil es ja nicht anders im Vertrag drin steht. Aber ich fühle mich dem ganzen Unternehmen viel verpflichteter.“ Transfermodi Das Verhalten der dominant moralisch motivierten Entsandten ist geprägt durch ein Vertrauen der Parteien in die Beziehung (Rousseau et al. 1998). Im Kontext eines langjährigen Arbeitsverhältnisses handelt es sich bei der Auslandsentsendung nur um eine Episode in einer auf Langfristigkeit ausgelegten Solidarbeziehung. Insofern dient die Entsendung eher als Beleg denn als Einflussmöglichkeit für die Beziehung. Verbunden durch ein Gefühl wechselseitiger Loyalität entsteht auf Seiten der Entsandten eine Form des Systemvertrauens, das prosoziales Verhalten unterstützt. Auch versuchen die Entsandten, das ihnen über die Auswahl für eine Auslandstätigkeit demonstrierte Vertrauen nicht zu missbrauchen, und fühlen sich zu hohen Leistungsabgaben motiviert, ohne dafür eine wertäquivalante Gegenleistung einzufor- Zeitschrift für Personalforschung, 23(4), 312-335 DOI 10.1688/1862-0000_ZfP_2009_04_Andresen 327 dern. Der einzelne Gabentransfer wird aus der konkreten Tauschepisode herausgelöst und in einen größeren Beziehungskontext gestellt. Insofern werden das Vertrauen und die Loyalität durch eine gelungene Auslandsentsendung nur geringfügig gesteigert, da bereits ein Maximum an Loyalität aufgebaut wurde. Zentral für die Zusammenarbeit ist, dass die Form des Transfers dem Vertrauen gerecht wird (vgl. Kasten 5). Kasten 5: Relationales Vertrauen und Loyalität „Eine Auslandsentsendung ist nur eine Bestätigung gegenseitigen Vertrauens.“ „Ich war dem Unternehmen vorher schon verbunden, ich weiß, was ich an meinem Arbeitsplatz habe und XY [Name der Firma] weiß es umgekehrt auch.“ „Man merkt, dass die Firma an dich glaubt, dir Vertrauen schenkt. Ich fühle mich dazu verpflichtet, hierfür etwas zu tun, zu leisten. Für mich ist so eine gewisse Art von Druck, positiv, und es motiviert mich. Ich empfinde das als eine positive Motivation.“ Kennzeichnend für die utilitaristisch motivierte Gruppierung sind primär Formen kalkulierenden Vertrauens (Rousseau et al. 1998). Der Expatriate vertraut hier weniger in die Solidarität und Prosozialität seines Arbeitgebers. Sein Vertrauen gründet vielmehr in erster Linie auf die Zweckrationalität des Gegenübers, d. h. auf den Nutzen, den die Vertragseinhaltung stiftet. Langjährige Beziehungen spielen hier insofern eine Rolle, als sie den Prognosehintergrund für das erwartbare Verhalten des Tauschpartners bilden. Maßgeblicher Bezugspunkt für die Wahl des Handlungs- und Tauschmodus sind hingegen die formalen Bedingungen, welche die einzelnen Tauschepisoden strukturieren und somit das Verhalten des Gegenübers in den Augen des Expatriates berechenbar erscheinen lässt. Mit Blick auf mögliche Interessendivergenzen ist es aus Sicht des Expatriates nur logisch darauf zu bestehen, dass die Verpflichtungsregelungen für die Entsendung klar im Entsendungsvertrag geregelt sind und verschriftlicht werden. Jenseits vertraglicher Verpflichtungen auf die Prosozialität und Vertrauenswürdigkeit des Gegenübers zu bauen, erscheint den Expatriates dagegen wenig erfolgsversprechend. Im Fokus steht das Transferergebnis. Kasten 6: Kalkulierendes Vertrauen „Ich vertraue eher auf die Einhaltung vertraglicher Bedingungen und habe die Erfahrung gemacht, dass man sich selbst um alles weitere kümmern muss.“ „Ich habe derzeit keinen Anlass, an eine Verletzung der Verpflichtung zu glauben. Die Entsendungsrichtlinien, die ich als HR Manager sehr gut kenne, enthalten ausführliche Regelungen, was in Fällen unmöglicher Rückkehr ins Heimatland für die Expatriates zu leisten ist. Ich vertrete hier eine rationale Herangehensweise“. „Ich halte selbständig Kontakt zu XY [Name der Firma]. Andernfalls habe ich kein Vertrauen in XY, dass sonst etwas für meine berufliche Zukunft passiert.“ 5. Diskussion Die Gruppe der befragten Auslandsentsandten ließ sich mit Blick auf die motivationale Heterogenität entlang eines Kontinuums in zwei dominante Reziprozitätstypen unterteilen, die den psychologischen Verträgen zugrunde liegen. Diese Typen wollen wir wie folgt bezeichnen: (1) utilitaristische Tauschreziprozität und (2) solidarische Gabenreziprozität. Die wesentlichen Charakteristika hinsichtlich der Motivation und des soziokulturellen Kontextes beider Typen fasst Tabelle 4 zusammen: 328 Maike Andresen, Markus Göbel: Reziprozitätsformen in psychologischen Verträgen Tab. 4: Zusammenfassende Übersicht der Ergebnisse utilitaristische Tauschreziprozität Motivation Beziehung (Reziprozitätsformen, Transferressourcen) Modi solidarische Gabenreziprozität ƒ Utilitaristisches Kalkül ƒ Moralität und Solidarität ƒ Orientierung am Eigennutz ƒ Orientierung an Prosozialität / Fairness ƒ Prägung der Handlungen primär durch Rationalität ƒ Prägung der Handlungen primär durch Emotionalität ƒ Sekundäres Gerechtigkeitsmotiv (Mittel zum Zweck) ƒ Gerechtigkeit ist präskriptive Norm (Zweck in sich selbst) ƒ Reziprozität beruht auf direktem Austausch äquivalenter Werte (Balance) ƒ Reziprozität als generalisierte Norm, die auf langfristiger Gegenseitigkeit und Solidarität beruht ƒ Reziprozität der Perspektive6 ƒ Austausch tätigkeits- bzw. sachbezogener sowie beziehungs- bzw. personenbezogener Leistungen und Güter ƒ Verzicht/Opfer ƒ Austausch tätigkeits- bzw. sachbezogener sowie beziehungs- bzw. personenbezogener Leistungen und Güter ƒ Kalkulierendes Vertrauen in die Einhaltung von Verpflichtungen als Basis nutzenorientierter Handlungen ƒ Relationales Vertrauen & Systemvertrauen in die Erfüllung von Erwartungen als Basis prosozialen Verhaltens ƒ Fokus: Transferergebnis ƒ Fokus: Transferform Ganz im Sinne der oben angesprochenen Interdependenz notiert Sahlins (1972) zur Gabe, dass die Art, wie die Rückgabe erwartet wird, etwas über den Geist aussagt, der den Tausch bestimmt. Die Unterscheidung der Reziprozitätstypen ist also „mehr als nur formaler Natur“ (Sahlins 1972, 30). Während bei Typ 1 die sozialen Beziehungen vom Ressourcenfluss abhängen und der utilitaristische Tausch die sozialen Beziehungen erst konstituiert, wird bei Typ 2 „die Bewegung der Güter durch die herrschenden sozialen Beziehungen getragen“ (Sahlins 1972, 32). Beim Typ 2 besteht zwischen den beiden Parteien ein gutes Vertrauensverhältnis, das im Rahmen der Auslandsentsendung bestätigt wird oder sogar nochmals wachsen kann, indem die Basis breiter wird. Die damit verbundenen komplexeren sozialen Beziehungen beeinflussen den in ihnen stattfindenden Tausch. Wie in unseren Daten deutlich wurde, hängt die Arbeitsmotivation und der Arbeitseinsatz von Auslandsentsandten des ersten Typus maßgeblich davon ab, in welcher Form und in welchem Zeitraum sich die Auslandsentsendung monetär und karrieremäßig rechnet. Das erreichte Transferergebnis ist zentral für die Beurteilung des Austausches und es wird entsprechend eine Äquivalenz der getauschten Werte eingefordert.7 Im Rahmen utilitaristischer Tauschreziprozität entsteht für den Expatriate infolge der zeitlichen Diskrepanz zwischen Geben und Nehmen potentiell ein ‚hold-up’-Problem, indem der Entsandte in Vorleistung geht und der Ar6 7 Nach Stegbauer (2002, 119) geht es bei der Reziprozität der Perspektiven darum, „dass der Einzelne sich in die Rolle des anderen hineinversetzen kann, seinen Standpunkt einnehmen kann: Der Einzelne übernimmt in Gedanken die Rolle, die Perspektive des anderen.“ Typische Handlungsempfehlung der einschlägigen Literatur für das Expatriate-Management sind daher auch, eine Äquivalenz der reziproken Güter und Leistungen herzustellen und insbesondere Karriereoptionen bereitzustellen (z. B. Mendenhall et al. 2002, 182). Zeitschrift für Personalforschung, 23(4), 312-335 DOI 10.1688/1862-0000_ZfP_2009_04_Andresen 329 beitgeber erst im Anschluss an die Auslandstätigkeit seinen Leistungen in Form beispielsweise eines Karriereschritts nachzukommen hat. Ein dem psychologischen Vertrag konformes Verhalten ist seitens des Expatriates zu erwarten, da gemäß utilitaristischer Kalküle die hiermit verbundenen Kosten, wie mögliche Karriereprobleme oder ein Verzicht auf weitere Auslandseinsätze, den Nutzen aus opportunistischem Verhalten übersteigen würden. Erscheint jedoch die Realisierung der einkalkulierten Gegenleistung in einem fixierten Zeitraum als wenig wahrscheinlich, sei es weil ein Karrieresprung angesichts unprognostizierbarer externer Einflussfaktoren für das Unternehmen nicht herstellbar ist oder aber wissentlich gegen das Versprechen verstoßen wird, so führt ein derartiger Missstand in einer solchen Tauschform zu einer starken und destruktiven Reaktion in Form sinkender Motivation, einer reduzierten Leistungsbereitschaft bis zur Entscheidung, das Unternehmen zu verlassen und die Ressourcen von anderer Seite zu beziehen (vgl. auch Rousseau 1995) (vgl. Kasten 7). Deutlich wird in der Gesamtschau der rekursive Konstitutionszusammenhang zwischen einer utilitaristischen Handlungsmotivation, einem direkten Austausch äquivalenter Tauschleistungen und dem kalkulierenden Vertrauen, die in ihrer Interdependenz die utilitaristische Tauschreziprozität generiert. Kasten 7: Reaktionen auf eine ausbleibende Befriedigung von Eigeninteressen „Die nicht erfüllten Erwartungen führen zu einer sinkenden Motivation: Man hat das Gefühl einer Abschiebung ins Ausland, da sich niemand verantwortlich fühlt.“ „Die Kürzung von finanziellen Zulagen, wie sie für Entsendungen nach Westeuropa vorgenommen wurden, haben meine Motivation negativ beeinflusst.“ „Bei einem absolut inadäquaten Jobangebot ziehe ich auch eine Kündigung in Betracht.“ Im Falle der solidarischen Gabenreziprozität haben die Entsandten zwar ebenso Karriereerwartungen, gleichwohl ist neben dem Tauschinhalt die Form des Tauschprozesses mindestens ebenso bedeutend. Im Gegenzug für eine hohe Leistungsbereitschaft erwarten sie von den Unternehmen einen fairen und vertrauensvollen Umgang mit ihnen. Indem die Expatriates sogar auf erwartete oder sogar zugesagte Leistungen verzichten, werden die Unternehmen in die moralische Pflicht genommen, sich mit den Mitarbeitern sowohl im Ausland als auch später nach ihrer Rückkehr solidarisch zu zeigen und so eine emotional angemessene Grundlage zu schaffen, selbst wenn dies dem Unternehmensnutzen zuwiderläuft. Erscheint die Beziehung als grundsätzlich prosozial und fair, gelten nicht erfüllte Erwartungen des Einzelnen in puncto Karriere, Betreuung etc. nicht zwangsläufig als Verfehlung, die das Vertrauen in die Prosozialität und Kompetenz des Unternehmens in Frage stellt. Mögliche Verstöße werden zunächst nicht dem strategischen Kalkül des Mutterunternehmens zugeschrieben und folglich häufig entweder mit Blick auf die personalpolitischen Sachzwänge einer übergeordneten Unternehmensrationalität als übertriebene Ansprüche des einzelnen Expatriates (um-)gedeutet und gerechtfertigt, oder es wird auf externe, das heißt nicht in der eigenen Person und der erbrachten Leistung begründete Faktoren referiert, die eine Erwiderung durch den Arbeitgeber verhindern. Ein Vertragsbruch führt nicht zwangsläufig zu einer Erosion der Moralität, denn zentral ist aus Sicht der Expatriates weniger das Ergebnis als die Form des Transfers. Angestrebt wird weniger die Realisierung einer ausgeglichenen Transferbilanz als vielmehr die 330 Maike Andresen, Markus Göbel: Reziprozitätsformen in psychologischen Verträgen Aufrechterhaltung einer Transferethik, die auf Ehrlichkeit und Fairness basiert. Die Äußerungen der Befragten deuten darauf hin, dass das Vertrauen in die Beziehung ebenso wie das prosoziale Verhalten trotz möglicher Brüche aufrecht bleiben würde und solche Missstände zwar als frustrierend wahrgenommen werden, zumeist aber keinen Einfluss auf die Arbeitsmotivation haben. Die antezipierten Reaktionen auf Vertragsbrüche in Form einer Nichterfüllung von Erwartungen waren gering bis fehlend und konstruktiv. Als typische Form wurden mündliche Ansprachen oder Loyalität/Schweigen angegeben (vgl. Rousseau 1995, 135). Als gravierend für die Solidarbeziehung werden solche Verfehlungen jedoch dann wahrgenommen, wenn sie die Form des Gabentransfers generell in Frage stellen. Ein Vertrauensbruch wie auch wiederholt moralisch unehrenhaftes oder als ungerecht wahrgenommenes Verhalten, sei es vom Mitarbeiter oder vom Arbeitgeber, wird nicht als – letztlich – unvermeidliches Ergebnis nutzenmaximierender Handlungsstrategien betrachtet, sondern als Verletzung einer bindenden Moralordnung. So wird durch eigene Verstöße das ethische Selbstverständnis in Frage gestellt und durch wahrgenommene Verstöße des Arbeitgebers Empörung, Schamgefühl oder ein Gefühl des unehrlichen Umgangs erzeugt. Im Extremfall, das heißt wenn wiederholt und in starker Form gegen die moralischen Normen verstoßen und so die Solidarbeziehung einseitig zur Disposition gestellt wird, evoziert dies eine persönliche Enttäuschung und Frustration, und die Verstöße können mit sinkender Motivation und einer Ablehnung des nächsten Auslandseinsatzes bis zur Suche nach einem neuen Arbeitgeber geahndet werden. Der Transfer wird vom Expatriate folglich primär nach den wahrgenommenen Motiven seitens des Arbeitgebers beurteilt. Dies deutet darauf hin, dass ein Eigeninteresse hier aus frustrierten bzw. verletzten Gerechtigkeitsbedürfnissen resultiert (vgl. auch Münster/Maes 2004, 138).8 Deutlich wird in der Gesamtschau der rekursive Konstitutionszusammenhang zwischen einer moralischen Handlungsorientierung, relationalem Vertrauen und einem einseitigen Gabentransfer bzw. -verzicht in einem auf Langfristigkeit ausgelegten Gabensystem, die in ihrer Interdependenz die solidarische Gabenreziprozität generieren. Kasten 8: Reaktionen auf nicht den moralischen Vorstellungen entsprechendes Verhalten im Rahmen solidarischer Gabenreziprozität „Bei manchen Dingen, die zu kurz gekommen sind, liegt das auch an der Unterbesetzung der Personalabteilung. (...) Mir war klar, dass es somit Dinge geben wird, die zu kurz kommen.“ „Ja, also ich war natürlich als allererstes enttäuscht, ich fühlte mich allein gelassen. Sehr viel Emotionalität, die damit behaftet ist. (...) Und das geht schon ziemlich tief psychologisch. Wirklich. Aber es hat nicht meine Motivation gebremst, denn ich habe auch Verständnis dafür, das XY nicht alles perfekt organisieren kann.“ „Beruflich habe ich das Gefühl der Pflichtverletzung durch Unterforderung in meinen Aufgaben und dem Arbeitspensum, da kommen einem Zweifel an sich selbst.“ „Nein, ungerecht behandelt fühle ich mich nicht, weil ich weiß, wenn ein System so funktioniert, dann ist das bei allen so. Wenn ich das Gefühl hätte, das würde nur bei mir so sein, dann wäre es ein anderes Thema.“ „Bei ungerechter, unfairer Behandlung würde ich das auf den Punkt bringen und wenn es dann nichts ändert, würde ich sagen, Leute dann seid ihr die falsche Firma.“ 8 Hinsichtlich der Reaktionen der Expatriates auf Brüche des psychologischen Vertrags weichen unsere Ergebnisse somit von Guest (1998) ab, der im Falle unerfüllter Erwartungen von moderaten und damit vergleichsweise stärkeren bzw. schwächeren Reaktionen ausgeht. Zeitschrift für Personalforschung, 23(4), 312-335 DOI 10.1688/1862-0000_ZfP_2009_04_Andresen 331 Der Erfüllungsgrad des Vertrags kann folglich nicht allein danach bemessen werden, ob jede der Vertragsparteien ihren materiellen und ideellen Verpflichtungen wechselweise nachgekommen ist. Gleichermaßen von Bedeutung ist, ob die Organisation den Reziprozitätsnormen und -standards nachkommt, welche die Beziehung steuern, die gemachten Versprechungen als fair wahrgenommen werden und ob das Vertrauen in die Erfüllung der Vertragsbedingungen gegeben ist (Guest 1998). Tab. 5: Zusammenfassende Ergebnisse hinsichtlich der Reaktionen auf Brüche des psychologischen Vertrags utilitaristische Tauschreziprozität ƒ Starke, destruktive Reaktion auf Brüche des psychologischen Vertrags solidarische Gabenreziprozität ƒ ƒ Geringe bis ausbleibende, konstruktive Reaktion auf Brüche des psychologischen Vertrags soweit Prosozialität und Fairness auf anderer Ebene gesichert ist Starke Reaktion auf Vertrauensbruch, moralisch unehrenhaftes oder als unfair wahrgenommenes Verhalten Für das internationale Personalmanagement bedeuteten die Ergebnisse, dass über ein moralorientiertes System eine Vertrauensbeziehung zwischen Arbeitnehmer und -geber aufgebaut werden kann, welche dem Arbeitgeber eine sowohl zeitliche als auch inhaltliche Flexibilität hinsichtlich seiner Gegenleistung einräumt. Bei der Diskussion der obigen Ergebnisse müssen auch die Grenzen der Untersuchung und daraus resultierende Forschungsperspektiven betrachtet werden. Erstens steht es außer Frage, dass die hier berichteten Ergebnisse schon wegen der mit 54 Interviewten immer noch geringen Stichprobengröße weiter untersucht und an einer größeren Stichprobe repliziert werden müssen, wozu die Ergebnisse auch ermutigen. Wie unserer Studie zweitens verdeutlicht, wird das utilitaristische oder moralische Verhalten mindestens durch die zwei Faktoren Person und Situation sowie deren Interaktion beeinflusst. Hinsichtlich der Situation erscheint es uns vielversprechend, den Einfluss folgender Faktoren auf das wechselseitige Verhältnis näher zu untersuchen: Unternehmenskultur, Branche, Landeskultur des Aufenthaltslandes des Expatriates sowie die wirtschaftliche Unternehmenssituation. Hinsichtlich der Unternehmenskultur scheint die wahrgenommene Qualität einer bestehenden Beziehung die Erwartungen daran, was eine angemessene reziproke Behandlung ist, zu prägen. Dies gilt es jedoch näher zu spezifizieren. Wie Westwood, Chan und Linstead (2004) mit Blick auf die moralische Wirtschaft chinesischer Prägung unterstreichen, gelten dort Betrug, Übervorteilung oder Arglist als unehrenhaft sowie unmoralisch und werden sozial sanktioniert. Mit Bezug auf die vorliegende Untersuchung würde sich die Frage anschließen, ob eine solche „moralische“ Organisationskultur im westlichen Kulturkreis existiert und wirksam ist. Drittens wird in der jüngeren Forschung auf die Bedeutung von Austauschideologien und sozial geteilten Wahrnehmungsmodellen (Dabos/Rousseau 2004) für die Funktionsweise psychologischer Verträge hingewiesen. Hier wäre weitere – auch qualitative – Forschung sinnvoll, um die zugrunde liegenden soziokulturellen Sinn- und Wissenszusammenhänge von psychologischen Verträgen näher zu erforschen. Viertens ist es zwecks Quantifizierung der herausgearbeiteten Reziprozitätstypen wünschenswert, mit Hilfe eines Hypothesen testenden Designs sowie standardisierter Analyseverfahren deren Verteilung zu ermitteln. Schließlich stellt sich noch die Frage nach einer Übertragbarkeit des Modells auf 332 Maike Andresen, Markus Göbel: Reziprozitätsformen in psychologischen Verträgen Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Beziehungen außerhalb des Kontextes von Auslandsentsendungen. 6. Schlussbetrachtung Der zentrale aus der empirischen Untersuchung gewonnene Beitrag liegt in einer Erweiterung des theoretischen Blickwinkels auf Reziprozität bei psychologischen Verträgen, hier am Beispiel von Auslandsentsendungen. Es konnten zwei dominante Reziprozitätstypen herauskristallisiert werden, die den psychologischen Verträgen zugrunde liegen: (1) eine utilitaristische Tauschreziprozität und (2) eine solidarische Gabenreziprozität. Zunächst leistet die vorliegende Forschung einen Beitrag zur Erweiterung des „motivationstheoretischen“ Blickwinkels der Forschung zu psychologischen Verträgen. Sie schließt damit an jüngere Entwicklungen in der einschlägigen Forschung an, die in Abhängigkeit von der Komplexität der Tauschprozesse eine Vielfältigkeit der Handlungsmotive in den Blick nehmen (z. B. Dabos/Rousseau 2004; Shore et al. 2006). Angesichts des dominanten naturwissenschaftlichen Forschungsparadigmas in der Psychologie bleibt jedoch der Mainstream einem individualistischen und rationalistischen Verhaltensmodell verhaftet. Es ist gelungen, das Konzept der Reziprozität aus dieser theoretischen Engführung herauszuholen und explizit auf die motivationale Heterogenität in Gestalt von moralischen und prosozialen neben utilitaristischen Handlungsmotiven in psychologischen Verträgen hinzuweisen. Auch weisen die Ergebnisse analog zu Forschungsergebnissen von Münster und Maes (2004) darauf hin, dass sich beide Motive einander nicht ausschließen, sondern eine Verletzung moralischer Motive eine Eigennutzorientierung auslösen kann. Für die Ausbildung obiger reziproker Tauschformen in psychologischen Verträgen konnte des Weiteren im Anschluss an die Forschung von Dabos und Rosseau (2004) gezeigt werden, dass sich der soziokulturelle Kontext in Gestalt der Reziprozitätsformen, der Transferressourcen und der Transfermodi als relevant erweist und sich je nach Handlungsmotivation gestaltet. Es wurde deutlich, dass die wahrgenommene Qualität der bestehenden Beziehung die Erwartungen darüber, was eine angemessene reziproke Behandlung wäre, prägen. In Abhängigkeit von der Beziehung werden unterschiedliche Reziprozitätsnormen als angemessen angesehen: gleichwertige Verteilungen im Falle der utilitaristischen Tauschreziprozität und gerechte Verteilungen innerhalb der engen Beziehung im Rahmen der solidarischen Gabenreziprozität. Mit Blick auf die Relevanz des soziokulturellen Kontextes zeigte sich zudem, dass zur näheren Untersuchung zum Wirkungsgefüge psychologischer Verträge eine Forschungsperspektive notwendig ist, welche die Interdependenz von individuellen Handlungsmotiven und soziokulturellem Kontext fokussiert. Beispiele für die Verbindung beider Aspekte in den Sozialwissenschaften sind für die Betriebswirtschaftslehre die strukturationstheoretische Forschung (Ortmann/Sydow/Windeler 1997), für die Psychologie das Forschungsprogramm der sozialwissenschaftlichen Psychologie (Groeben 1999), für die Soziologie die Komplexitätstheorie (Kappelhoff 2002) und für die Ökonomie die experimentelle Wirtschaftsforschung (Falk 2003). 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