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„Das Lebewesen ist die Tragödie“: Kommerells Aristoteles

2018, Lektürepraxis und Theoriebildung. Zur Aktualität Max Kommerells, ed.by  Christian Benne, Christoph König, Isolde Schiffermüller, Gabriella Pelloni, Wallstein

Giovanna Pinna »Das Lebewesen ist die Tragödie«: Kommerells Aristoteles 1. Aristoteles für die Karriere? Was den Leser von Kommerells kritischen Arbeiten vielleicht am meisten beeindruckt, ist der empathische Umgang mit dem Forschungsobjekt, der sich in einer prägnanten, anspielungsreichen, kompromisslos undidaktischen Sprachform ausdrückt. Eine Ausnahme soll, wie der Verfasser einer unlängst erschienenen Kommerell-Biographie meint, das Buch über Lessing und Aristoteles darstellen,1 das dem brillanten, aber im Ruf eines akademischen Außenseiters stehenden Privatdozenten nur dazu gedient haben soll, »seine Chancen bei der Berufung zu erhöhen«.2 Die Vermutung, dass er sich, davon abgesehen, »nicht besonders für das Thema interessiert« habe und folglich die von verschiedenen Seiten als Glanzleistung gewürdigte Studie nur das Produkt von akademischem Kalkül und Langeweile sei, steht im Widerspruch zu der von Kommerell selbst geäusserten »grillige(n) aber wilde(n) Leidenschaft« für die »undichterische« Arbeit an der Aristoteles-Rezeption.3 Zwar bildet das Buch, eine mit zahlreichen Anmerkungen versehene wissenschaftliche Abhandlung, eine Ausnahmeerscheinung in Kommerells Werk, jedoch weniger auf Grund seiner Form, als eher, weil es direkt eine ästhetische Grundfrage in Angriff nimmt (die Tragödientheorie), anstatt aus der Dichtung theoretisch-poetologische Ansätze zu gewinnen. Es wird darin die Rekonstruktion des ursprünglichen aristotelischen Kerns unternommen, ausgehend von den modernen Interpretationen zweier Autoren, Lessing 1 Max Kommerell, Lessing und Aristoteles. Untersuchungen zur Theorie der Tragödie (1940), Frankfurt a. M. 51984. 2 So Christian Weber, Max Kommerell: Eine intellektuelle Biographie, Berlin/New York 2011, S. 372 ff. Der Verfasser stützt diese Meinung auf verschiedene briefliche Mitteilungen, wie auf den Brief an Heinrich Zimmer vom 22.03.1938: »Auch ich bin an Aristoteles geraten, und zwar in einer meiner ersten durchaus philologischen Auseinandersetzung: Aristoteles und die Theorie des Tragischen in Deutschland. Ich habe einige glückliche Leitgedanken, ob ich aber mit der Exposition des Ganzen zurechtkomme, wissen die Götter, und ich würge daran herum« (S. 373). Dass man auf ein Thema »geraten« und es jedoch äußerst spannend finden kann, weiß jeder Forscher aus eigener Erfahrung. 3 Siehe den Brief vom 26.3.1938 an Rudolf Alexander Schröder, in: Max Kommerell, Briefe und Aufzeichnungen 1919-1944, aus dem Nachlass hg. von Inge Jens, Olten/Freiburg im Bresgau 1967, S. 339. 203 g iova n n a p i n n a kom m e r e l l s a r i s to t e l e s und Corneille, deren Überlegungen zur Tragödie als Gattung von dem praktischen Bedürfnis inspiriert waren, sich über die Kompositionsprinzipien des eigenen dramatischen Schaffens im Vor- (Lessing) oder Nachhinein (Corneille) klar zu werden. Die konzentrierte Komplexität des Textes, die den Leser trotz übermäßiger Gelehrsamkeit ins Labyrinth einer noch aktuellen begriffsgeschichtlichen Kontroverse lockt, führt viel eher dazu, das kritische Interesse Kommerells ernst zu nehmen, das einerseits eine geistesgeschichtliche Verortung der Gattungsproblematik, andererseits das Wiederaufnehmen der teleologischen Erklärung der dramatischen Form aus der Perspektive der eigenen Theorie über das Verhältnis des Zuschauers zum poetischen Wort anstrebt. Jedenfalls kommt Kommerell erst zur Theorie, nachdem er die Konstellation der kritischen Positionierungen zum Thema gezeichnet hat. Indem er beginnt, sich mit dem Thema der Katharsis, dem kontroversesten und folgeschwersten Punkt der aristotelischen Poetik zu widmen, stellt er fest: »Zu sehen, wie die Autorität eines großen Alten gerade da, wo seine Meinung undeutlich bleibt, den neuzeitlichen Ausleger schöpferisch macht, zum Schaffen im Auslegen anspornt, ist eines der anziehendsten Schauspiele, das sich vor uns innerhalb der großen deutsch-griechischen Auseinandersetzung begibt.«4 Man könnte sagen, dass Kommerell selbst zu dieser schöpferischen Auslegung beigetragen habe, indem er ein hermeneutisches (ganz klassisch in fünf Akte gegliedertes) Schauspiel konstruierte, in dem die Hauptpersonen Lessing und Corneille (und Kommerell selbst) von einigen Nebenfiguren (u. a. Seneca, Nietzsche, Horaz) begleitet gleichsam im Dialog mit Aristoteles auftreten. Im Hintergrund die Schar der italienischen und französischen Renaissanceinterpreten (die Anmerkungen), die Lessing und Corneille die textuellen Vorlagen für die interpretatorische Auseinandersetzung geliefert haben. Man muss festhalten, dass die Einbeziehung von Corneille (obwohl nicht im Titel erwähnt) als Gegenpol zu Lessing nicht selbstverständlich war: die Anerkennung der herausragenden Stellung des französischen Dramatikers in der europäischen Kulturgeschichte und seiner Relevanz für die Nationalliteratur selbst stieß auf die »schulgängigen Vorurteile«, wie von verschiedenen Rezensenten betont wurde.5 Jenseits der komparatistischen Ausrichtung Kommerells weist seine literarhistorische Modellbildung auf die gleich- sam kontrastive Grundeinstellung seiner Hermeneutik hin, welche die Verwandlung der poetischen Formen als ein dynamisches System von Aktion und Reaktion beschreibt, das sich für den ›Geistesforscher‹ Kommerell aus dem Gestaltungwillen von kritisch-schöpferischen Persönlichkeiten entwickelt. Einerseits elaboriert Lessing seine eigene Dramentheorie in Antwort auf den durch die jesuitische Tragödie übermittelten Stoizismus Corneilles: Aristoteles wird also als Mittel gegen einen »christlich-barocken Tragödientypus« und zu Gunsten einer psychologischhumanistischen Sicht des Dramas eingesetzt.6 Andererseits erklärt sich »Corneilles dichterische Haltung und dichterisches Verfahren als Theorie nur, wenn er in die Lage kommt, zu widersprechen«.7 Mit den ›Trois discours sur la tragédie‹ habe Corneille nicht nur eine theoretische Rechtfertigung seines theatralischen Schaffens liefern, sondern auch die Regeln der Gattung durch eine Auseinandersetzung mit Aristoteles und der aristotelischen Auslegungstradition bestimmen wollen. Die Spannung zwischen den Gegensätzen ist die zentrale Komponente dieser historischen Entwicklung, die Kommerell in einem eher naturalistisch-aristotelischen als hegelschen Sinne versteht, da der Begriff des Lebens darin wesentlich involviert ist.8 In Kommerells Rekonstruktion solcher Tradition kommt eine entscheidende Rolle der Kategorie der Handlung zu: das Objekt seiner Untersuchungen sind Persönlichkeiten, die handeln, weil sie auf einen Stand der Dinge reagieren, den sie modifizieren wollen. Corneille und Lessing stellen in geistesgeschichtlicher Hinsicht zwei Momente ein und desselben Kapitels der Tragödienauffassung dar: beide unterscheiden sich dadurch von Aristoteles, dass sie nicht auf das moderne Individualitätskonzept, das sie jeweils anders durchexerzieren, verzichten können, und zielen darauf, Gattungsregeln zu bestimmen. Beide repräsentieren ihrerseits als Aristoteliker in der Grundlage ihrer Vorstellung des tragischen Theaters die entgegengesetzte Positionierung zur metaphysischen Auffassung der Tragödie, fokussiert auf den Inhalt des tragischen Konfliktes, wie sie von den Ästhetiken des Idealismus propagiert wurde. 4 Kommerell (Anm. 1), S. 79. 5 Albin Lesky, Rez. zu Kommerell, Lessing und Aristoteles. Untersuchung über die Theorie der Tragödie, in: Gnomon 17, 1941, S. 241-248; siehe auch Victor Hell, Rezension der 2. Aufl. von Kommerell, Lessing und Aristoteles, in: Revue de littérature comparée 33, 1959, S. 289-293. Das tiefe Interesse Kommerells für die romanischen Literaturen, das ihn heute als Vorläufer der Komparatistik gelten 204 lässt, aber damals nicht zum Bild des seriösen Germanisten passte, kann als Erklärung sowohl der Präsenz als auch des Verschweigens gelten. 6 Kommerell (Anm. 1), S. 37: »Ob man nun sagt: Lessings Erläuterung der aristotelischen Poetik hat die Form einer Auseinandersetzung mit Corneille, oder: Lessings Kampf gegen Corneille bedient sich dieser Poetik, so wie Lessing sie versteht, als eines Kampfmittels – auf beide Weisen ist Corneille in den Prozess einbezogen und nicht wegzudenken.« 7 Kommerell (Anm. 1), S. 222. 8 Zum Einfluss von Diltheys spätem Lebensbegriff auf Kommerell siehe Ralf Simon, Die Reflexion der Weltliteratur in der Nationalliteratur. Überlegungen zu Max Kommerell, in: Germanistik und Komparatistik, DFG Symposion 1993, hg. von H. Birus, Stuttgart/Weimar 1995, S. 72-91. 205 g iova n n a p i n n a kom m e r e l l s a r i s to t e l e s Offensichtlich bekennt sich Kommerell selbst zu solcher antiidealistischen Linie. Dennoch scheinen für ihn keine Konzeptionen als reine, von den sie erschaffenden Persönlichkeiten abgetrennte theoretische Ansätze zu existieren. Der Disput über die Tragödie wird als Ausdruck einer persönlichen Interaktion mit der Welt behandelt, die mit einer eher handlungspraktischen als erkenntnisorientierten Motivation und mit einer entschieden emotionalen Färbung geführt wird. Von »Hass« und »Zorn« ist immer wieder die Rede in Bezug auf Lessings Auseinandersetzung mit Corneille, dessen Werk als Produkt von Leidenschaftlichkeit und Willensdauer charakterisiert ist.9 Es sind bezeichnenderweise Leben, Person, Individuum die Konzepte, deren Kommerell sich bedient, um eine Art organisierendes Zentrum der als Resultat seelischer Prozesse verstandenen Dichtung und Dichtungskritik aufzuzeigen. Der Beitrag Lessings zur deutschen Literatur sei vor allem an seine »persönliche Gabe, sein überraschendes Lebensverständnis« gebunden.10 Die Nähe zu Diltheys Lebensbegriff kommt in diesen Zügen klar, wenn auch niemals offen bekundet zum Vorschein. »Dieser begabteste aller Leser«, sagt Kommerell weiter über Lessing, der sich erlauben dürfe, »das Gelesene als erlebt zu behandeln, weil seinem leidenschaftlichen Begreifen das gelesene Leben wird«, eine Definition, die diejenige von Dilthey aufgreift, nämlich die von Lessing als der »gewaltige Leser«.11 Ebenfalls oft wiederkehrend sind historisch-kulturelle Charakterisierungen (Kommerell: »der Protestant«; Dilthey: »der norddeutsche Geist«) sowie psychologisch-moralische Beschreibungen (Kommerell: »Die Gebärde eines großen Willens«, über Corneille; Dilthey: »ein Naturell, in welchem von dem ersten Hervortreten ein heller, scharfer Wille dominiert«, über Lessing), zu denen die kontextuelle Erklärung des Werkes kommt. Obwohl er zweifelsohne Diltheys Biographismus sowie die unmittelbare Verbindung zwischen Erlebnis und literarischem Produkt ablehnt, gibt das Beharren Kommerells auf der psychologisch-moralischen Struktur seiner Konstellation von intellektuellen Persönlichkeiten eine nicht unbedeutende Beeinflussung durch die späte diltheysche Lebensphilosophie preis.12 Auch in der Konzeption der Psychologie scheint Komme- rells Sprachgebrauch trotz des gelegentlichen Auftauchens von Termini wie »Traum« oder »Unbewusstes« eher auf den Einfluss der beschreibenden Psychologie Diltheys als auf die zeitgenössische Psychoanalyse von Freud oder Jung zu verweisen. Jedenfalls ist das Kommerellsche Modell der Person gewissermaßen interaktiv und kulturell vermittelt, in dem Sinne, dass Rezeption und Produktion zu gleichem Recht Elemente der Rekonstruktion der ›Seelenverfassung‹, d. h. der intellektuellen Struktur eines Individuums sind. In dieser Hinsicht stellt die Untersuchung der modernen Interpretationen des Aristoteles, aufgrund ihrer Fokussierung auf das Spiel der Kontraste und Gemeinsamkeiten der verschiedenen Stellungnahmen, eine nicht unbedeutende Variante seines hermeneutischen Ansatzes dar. 9 Kommerell (Anm. 1), S. 37. 10 Kommerell (Anm. 1), S. 10. 11 Wilhelm Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung: Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin, in: ders., Gesammelte Schriften, Göttingen 2005, Bd. XXVI, S. 33. 12 Über die Verbindung von Kommerell zu Diltheys Erlebnisbegriff, siehe Matthias Weichelt, Gewaltsame Horizontbildungen Max Kommerells lyriktheoretischer Ansatz und die Krisen der Moderne, Heidelberg 2006, S. 159 ff.; Hans Egon Holthusen, Das Schöne und das Wahre. Neue Studien zu modernen Literatur, München 1958, S. 78; Ralf Simon (Anm. 8), S. 75 ff. 20 6 2. Tragödie als Lebensweisheit Dass der Gegenstand des Buches nicht eine reine historiographische Rekonstruktion der Interpretationen der aristotelischen Poetik ist, sondern auch dem Bedürfnis nach genealogischer Klärung der eigenen Auffassung der Dichtung entspricht, resultiert aus seiner direkten Gegenüberstellung mit dem Wortlaut der ›Poetik‹. Der Drehpunkt von Kommerells Auslegung ist die mögliche Begründung einer Rezeptionspoetik, die den »Bezug vom Gedicht zu dem, der es gehört« in Betracht zieht, wie aus folgender Stelle aus ›Gedanken über Gedichte‹ zu entnehmen ist: »So verfuhr Aristoteles hinsichtlich der Tragödie und der Verwirklichung des tragischen Zustandes im Zuschauer. Der großen und greifbaren Wirksamkeit der Dichtung, die er in der Zeremonie der aufgeführten Tragödie vor sich hatte, entspricht in unseren Tagen als wesentliche, jedoch ungreifbare Wirksamkeit der Dichtung das Hervorrufen des lyrischen Zustands in dem das Gedicht aufnehmenden Leser.«13 Die beiden Bezeichnungen, die Kommerell seiner Interpretation der ›Poetik‹ aneignet, sind »anthropologisch« und »psychologisch«. Die Tragödie sei nämlich nach Aristoteles die Vollziehung eines auf die Zustände der Existenz gerichteten Erkenntnisprozesses, woraus folgt, dass sie sowohl vom Gesichtspunkt ihrer konstruktiven Begründung her (der Mythos und die Mimesis), als auch von demjenigen des Effektes, den sie auf den Zuschauer hervorruft, betrachtet werden muss. Die beiden Aspekte stehen – so Kommerell – nicht in einem logischen Nachfolgeverhältnis, und umso weniger in einem hierarchischen Wichtigkeitsverhältnis, sondern eher in einer Wechselwirkung oder aber in einem 13 Max Kommerell, Gedanken über Gedichte (1943), Frankfurt a. M. 51985, S. 22. 207 g iova n n a p i n n a kom m e r e l l s a r i s to t e l e s Zusammenhang von dynamis (Potentialität) und energeia (Aktualität). Darin besteht das, was Kommerell den Funktionalismus der aristotelischen Theorie nennt, und er beansprucht die Originalität dieser Konzeption, welche die übliche organizistische Sicht durch einen teleologischen und prozessualen Ansatz ergänzt, für sich. Das heißt wiederum, dass zum morphologischen Verständnis des »Seins des Gedichtes« die erklärende Struktur der causa finalis gepaart werden muss. In formalen Termini sind die strukturellen Charakteristika der Tragödie (wobei der Mythos als das Zusammenspiel von Mechanismen, die die Handlung bestimmen, verstanden wird) nichts anderes als eine Anlage, die nur in dem Moment realisiert wird, als die kathartische Wirkung auf den Zuschauer eintrifft. Im Gegensatz zu den Tragödientheoretikern idealistischer Prägung verschreit Kommerell bei Aristoteles die Empirie nicht: »Die logische Grundform der ganzen ›Poetik‹ ist: Beobachtetes zu erklären«,14 was grundsätzlich im Einklang mit dem eigenen induktiven Verfahren steht. Das Beobachtete sind die tragischen Kunstwerke seiner Zeit, deren Prozessregeln aus den Strukturen des menschlichen Seelenzusammenhangs gewonnen werden. So wird »die Gesetzmäßigkeit der Gattung keineswegs aus sich, sondern aus dem anthropologisch begriffenen Dichten einerseits und der ebenfalls anthropologisch begriffenen Aufnahme des Gedichteten durch Zuschauer oder Leser (zumal bei der Tragödie) ersetzt.«15 Dies allerdings ist aufgrund einer metaphysischen Grundeinstellung der aristotelischen Seinslehre möglich, welche im Konzept der entelechia zusammengefasst werden kann, nämlich in der Erkennung der Form als Funktion der Wirkung. In Kommerells Worten, Aristoteles »macht das Ziel zum geistigen Grund eines Dinges«.16 Mit dieser Fokussierung auf das Anthropologische in der aristotelischen Theorie der Tragödie reiht sich Kommerell in die Hauptlinie der aktuellen Debatte über die Poetik, die sich zwischen einer ästhetischen und einer ethisch-kognitiven Infragestellung bewegt, ein.17 Die aristotelische Affektentheorie steht dabei im Mittelpunkt. Was seine Stellung jedoch kennzeichnet, ist die ausschließlich naturhistorische Interpretation von Aristoteles’ Seelenlehre, die, wie man an der Katharsisfrage sehen kann, jeden Bezug auf moralische oder lato sensu politische Zusammenhänge ausschließt. 14 15 16 17 Kommerell (Anm. 1), S. 54. Kommerell (Anm. 1), S. 53. Kommerell (Anm. 1), S. 59. Siehe z. B. die Einleitung in: Aristoteles, Poetik, übs. und erläutert von Arbogast Schmitt, Berlin 2008, S. 126-128 (»Ableitung der Dichtung aus einer anthropologischen Reflexion auf die Vermögen des Menschen«), oder Stephen Halliwell, Aristotle’s poetics, London 1998. Es ist aber zu bemerken, dass in der Kritik Kommerells Werk eher für die Interpretationsgeschichte der Poetik als für die eigene interpretatorische Leistung erwähnt wird. 20 8 3. Katharsis »Die Tragödie ist also Nachahmung einer bedeutenden Handlung, die vollständig ist und eine gewisse Größe hat. In kunstgemäß geformter Sprache setzt sie die einzelnen Medien in ihren Teilen je für sich ein, lässt die Handelnden selbst auftreten und stellt nicht in Form des Berichts geschehene Handlungen dar. Durch Mitleid und Furcht bewirkt sie eine Reinigung eben dieser Gefühle.«18 Um die berühmten letzten zwei Zeilen dieses Ausschnittes aus dem sechsten Kapitel der ›Poetik‹, in welchen das Wort Katharsis (Reinigung) zum einzigen Male vorkommt, hat sich bekanntlich eine außergewöhnliche Interpretationsgeschichte entwickelt, die dadurch gekennzeichnet ist, dass »die letzten immer noch mit dem ersten und mit allen weiteren Vorgängern diskutieren«.19 In dieser Geschichte wird allgemein Kommerell eine nicht sekundäre Stellung zuerkannt, nicht zuletzt wegen der erstaunlichen Souveränität, mit der er den Wert und die kritische Tragweite der Argumente bestimmt, die im Laufe von mehr als zwei Jahrhunderten in jeweils von unterschiedlichen und äußerst vielschichtigen nationalen Traditionen geprägten Umfeldern entwickelt wurden.20 Methodologisch gesehen besitzt die Katharsisfrage für Kommerell eine exemplarische Bedeutung, denn sie ist »ein vielsagendes Beispiel dafür, dass philologische Auslegungen bestimmt sind durch Grundbegriffe und deren Bedeutungswandel.«21 In theoretischer Hinsicht leitet sich die absolute Relevanz des Katharsisbegriffes hauptsächlich von der teleologischen Struktur der bereits vorhin genannten aristotelischen Definition der Tragödie ab, nach der die Wirksamkeit des Mythos sich an der Fähigkeit, einen spezifischen emotionalen Effekt hervorzurufen, messen lässt, was wiederum das ist, was die Tragödie als literarische Gattung kennzeichnet: »Die Tragödie ist […] die Anlage zum Akt der Katharsis und in 18 Aristoteles (Anm. 17), S. 9. 19 Karlheinz Gründer, Jacob Bernays und der Streit um die Katharsis (1968), in: Die Aristotelische Katharsis, hg. von Matthias Luserke, Hildesheim/Zürich/ New York 1991, S. 352-385, hier S. 353. 20 Neben dem oben erwähnten Aufsatz von K. Gründer (Anm. 19) siehe im gleichen Sammelband Christian Wagner, Katharsis in der Aristotelischen Tragödien-Definition (1984); Albin Lesky (Anm. 5), sowie Schmitt (Anm. 17), S. 506. 21 Kommerell (Anm. 1), S. 204. 20 9 g iova n n a p i n n a kom m e r e l l s a r i s to t e l e s diesem Sinn, metaphysisch, ein Vermögen, kein Wesen und keine Form – so sehr sie als tragische Form, Form ist.«22 Inwiefern dieser emotionale Effekt, der von negativen Gefühlen (pathemata) wie eleos (Mitleid) und phobos (Furcht) bestimmt wird, Genuss hervorrufen kann, stellt für Kommerell die Grundfrage dar, die die anthropologische Bedeutung des tragischen Prozesses mit der im eigentlichen Sinne ästhetischen Dimension der Tragödie verbindet, in Schillers Worten der »Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen«. In Bezug auf die Methode hält er immer die Spannung zwischen den zwei Kernpunkten der Untersuchung aufrecht, nämlich zwischen der Suche nach der authentischen und immer noch aktuellen Bedeutung der aristotelischen Lehre auf der einen, und der Gegenüberstellung der exemplarisch kontrastierenden Positionen von Lessing und Corneille auf der anderen Seite. Dem direkten und philologischen Zugang zum aristotelischen Text setzt sich also die Bestimmung durch die historisch-kulturellen Koordinaten sowie durch die individuellen Charakteristika entgegen, auf denen die aristotelische Lektüre der beiden Autoren fußt. Die Argumentation dreht sich um eine textuelle Crux, die keine endgültige Lösung finden kann: was ist gemeint mit »Reinigung eben dieser Gefühle«? Sind es die Furcht und das Mitleid, oder ähnliche Affekte, die gereinigt werden, oder wird der Zuschauer von solchen Gefühlen befreit? Und mit welchem semantischen Bereich ist der nur einmal vorkommende Begriff Katharsis verbunden? Es ist das gleichsam chemische Zusammenspiel dieser drei Elemente (eleos, phobos und katharsis), das die verschiedenen interpretatorischen Modelle und folglich die verschiedenen Auffassungen der Tragödie bestimmt, wobei Kommerells hermeneutische Untersuchung darauf abzielt, sowohl den individuellen, man könnte sagen, idiosynkratischen Ursprung, als auch die mit dem geschichtlichen Geisteszusammenhang verbundenen theoretischen Voraussetzungen ans Licht zu bringen. Die Stellungnahme Kommerells wählt die medizinische Interpretation der Katharsis zum Ausgangspunkt, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vom Philologen Jacob Bernays entwickelt wurde, der, die Bedeutung des besagten Terminus in medizinisch-biologischen Schriften heranziehend, zum Schluss kommt, dass er als Heilungs- oder Purgationsprozess von einem pathologischen Zustand verstanden werden müsse.23 Diese ›homöopathische‹ Sicht der Katharsis, die in Bezug auf die Poetik als Analogon zum medizinischen Vorgang der Wiederherstellung der Gesundheit gemeint ist, stellt immer noch eine der dominierenden Argumentationslinien der zeitgenössischen Interpretationen dar und impliziert eine Betonung des physisch-emotionalen Momentes des tragischen Effekts.24 Die von Kommerell vorgenommene Interpretation des aristotelischen Konzeptes des eleos als eine Art Irritation, die durch das Sehen eines zu Unrecht erlebten Leides hervorgerufen wird, ist für die Definition der Rolle und der Bedeutung der Katharsis entscheidend. Was nämlich ist der Gegenstand der Reinigung? Kurz ausgedrückt: erstens versteht Kommerell »die Katharsis eben dieser Gefühle« als »genitivus separativus«, in dem Sinne, dass die Katharsis den Zuschauer von den Gefühlen Furcht und Mitleid reinigt, die von der tragischen Handlung hervorgerufen werden, was, sagt er, nur denkbar ist, wenn diese zwei emotionalen Zustände als schädlich verstanden werden. Die von dem tragischen Vorgang verursachte Erschütterung, welche die Gefasstheit des Geistes gefährdet, wird durch die Katharsis (als »Reinigung vom Gleichen durch das Gleiche«) zusammen mit der Affizierbarkeit durch solche Affekte vorübergehend beseitigt.25 Zweitens: eleos ist nach Aristoteles nicht gleich Mitleid im modernen-christlichen Sinn: es hat nichts mit der Nächstenliebe zu tun und soll als »schmerzhafte Anwandlung, die man nicht sucht, sondern flieht« verstanden werden.26 Auf diesem historisch bedingten produktiven Missverständnis, meint Kommerell, gründet jedoch eine ganze Interpretationslinie der aristotelischen Katharsis, wovon Lessing als Koryphäe gilt. Bezeichnenderweise bringt Kommerell hier Nietzsche ein, der, sich ebenfalls von Bernays aus bewegend, auf Grund einer stoisch begründeten Kritik am christlichen und schopenhauerschen Mitleid gar zur Streichung des Konzeptes des Mitleides aus der tragischen Sphäre gelangt.27 22 Kommerell (Anm. 1), S. 60. 23 Jacob Bernays, Zwei Abhandlungen über die aristotelische Theorie des Drama (1880), Nachdruck, Darmstadt 1968. Dazu Gründer (Anm. 19), S. 362 ff. 210 24 Siehe z. B. Hellmut Flashar, Die medizinischen Grundlagen der Lehre von der Wirkung der Dichtung in der griechischen Poetik, in: Hermes 84, 1956, S. 12-48; Wolfgang Schadewaldt, Furcht und Mitleid?, in: Hermes 83, 1955, S. 129-171. Eine kritische Betrachtung der homöopathischen Komponente des Vorgangs findet man in Elizabeth S. Belfiore, Tragic pleasures. Aristotle on Plot and Emotion, Princeton 1992, S. 260-278. 25 Kommerell (Anm. 1), S. 101. 26 Solche Unterscheidung wurde von der Seite der Altertumswissenschaftler als besonders treffend gewürdigt. So zum Beispiel der eminente Gräzist Albin Lesky in seiner sehr lobende Rezension des Buches: »Zwei Feststellungen sind gewonnen: die Katharsis ist […] nicht auf das Ethisch-Erzieherisches gerichtet […]. Und: eleos als pathos ist vom aktiv-humanitären Mitleid christlicher Auffassung streng zu trennen«. Siehe oben (Anm. 5). 27 Kommerell (Anm. 1), S. 93. Zu Nietzsches Kritik des Mitleidbegriffs siehe Martha C. Nussbaum, Pity and Merci, Nietzsche’s Stoicism, in: Nietzsche. Ge- 211 g iova n n a p i n n a kom m e r e l l s a r i s to t e l e s Der tragische Genuss, das ist der Punkt, der Kommerell am Herzen liegt, entsteht nur durch die »Wiederherstellung unserer Natur von der Störung des Mitleids, indem dies durch die tragische Fiktion auf seinen Gipfel getrieben wird«, wo das Gleichgewicht der emotionalen Lebenskräfte in einem Wechselverhältnis mit der Mimesis steht.28 Im Gegenteil dazu fällt das Interesse an dem Konzept des tragischen Genusses, das Kommerell in Aristoteles entdeckt, bei Lessing und Corneille weg, die eher einer moralistischen und erziehenden Konzeption des Theaters verbunden sind.29 Für Corneille ist das Verhältnis zwischen eleos und phobos zu Gunsten des zweiten ungleichgewichtig, und das Mitleid stellt nur das kognitive Moment des tragischen Effektes dar, indem es gleichsam als Katalysator für das spezifische Element des Tragischen, der Furcht, dient. Anders ausgedrückt, wird die emotionale Anteilnahme am Geschehen um den tragischen Helden als eine Projizierung verstanden und ist dazu notwendig, im Zuschauer einen Zustand der Furcht hervorzurufen. Der Gegenstand der Reinigung wird also für Corneille von den auf der Bühne dargestellten Affekten konstituiert, und der Effekt der Tragödie ist gewissermaßen eine Warnung vor den negativen Leidenschaften, ein Akt der moralischen Erziehung durch Hinweis auf die zerstörenden Konsequenzen der übermäßigen Leidenschaftlichkeit. Auf diese Art und Weise passt Corneille das aristotelische Prinzip der Katharsis an die horazische Forderung nach prodesse et delectare an, und verteidigt nachträglich die eigene theatralische Produktion. Seinerseits sucht Lessing »die Wechselbeziehung von Furcht und Mitleid mit scharfer Wendung gegen Corneille zu bestimmen«, das von dem Franzosen aufgestellte Verhältnis zwischen den beiden Termini umkehrend: die Furcht ist dazu da, das Mitleid zu steigern, das für ihn den Kern des tragischen Effektes bildet und dessen Empfinden die Ähnlichkeit ist, die der Zuschauer zwischen sich und dem dargestellten Charakter fühlt.30 Dieser letzte Aspekt repräsentiert die humanistische und aufklärerische Tradition des aristotelischen Prinzips der medietas des tragischen Helden und setzt sich der Idee der Bewunderung der Größe entgegen, welches Motiv Corneille mit Seneca teilt, und das eine prinzipielle Distanz vom Zuschauer kreiert. »Sittlichkeit ersetzt er durch Großartigkeit, das heißt durch eine Attitude, die auf Verwirklichung großer Lebensgebärden als das tragische Element der Franzosen verweist.«31 Wenn also Lessing beschließt (wie Kommerell es auch tut), ad fontes zu gehen, indem er in den Buchstaben des aristotelischen Textes das Fundament, die Regeln des tragischen Genres sucht, tut er dies vornehmlich, um sich vom Erbe der senecanischen Dramaturgie zu befreien, die auf die Geistesgröße und auf die fortitudo animi fokussiert ist. Während die Darstellung der Größe der Drehpunkt ist, auf dem die Handlung des höfischen Theaters von Corneille fußt, stellt die Ähnlichkeit zwischen dem Zuschauer und den Charakteren, die das Mitleidsempfinden ermöglicht, das Fundament des bürgerlichen (nationalen) Theaters dar, dessen Grundsätze Lessing zu etablieren suchte. Aber jenseits von dieser Korrelation zwischen den Prinzipien des tragischen Genres und dem historischen Kontext, in dem diese Autoren jeweils agieren, ist es Kommerell daran gelegen, in der lessingschen Interpretation des tragischen Mitleids die psychologische Eigenschaft hervorzuheben, die es von anderen Formen der emotionalen Anteilnahme unterscheidet, denen der andere Terminus, »die Furcht für uns selbst«, fehlt. Die von Lessing mit Hilfe von Mendelssohns Theorie der gemischten Empfindungen gewonnene Einsicht, dass »das Tragische Mitleid nicht eine Empfindung, sondern ein Affekt, das heißt Intensität einer bestimmten Empfindung ist«, nennt Kommerell »einen glänzenden Einfall«.32 Und das obwohl dieser Affekt, von der Furcht gestärkt, für Lessing von der Katharsis gereinigt (genitivus objectivus) und nicht beseitigt wird. Kommerell stimmt mit Lessing dort überein, wo dieser im tragischen Effekt die Aktivierung einer »grundsätzliche[n] Mitleids- und Furchtbereitschaft« sieht. Von dieser und nicht einfach von einem Pathos befreit die Katharsis den Zuschauer. Seine Position weicht aber wesentlich von der psychologisch-moralisierenden Interpretation Lessings in zwei entscheidenden Punkten ab. Erstens, indem er den Vorrang des Emotionalen vor dem Kognitiven im Effekt der Tragödie auf den Zuschauer betont. Zwar sieht er ein, dass Furcht und Mitleid ein genaues Verständnis des tragischen Vorgangs (peripeteia, hamartia) voraussetzen, schließt aber von dem Erkenntnisakt jedes Urteil über die Ursache oder den moralischen Sinn der Handlung aus. Die anthropologische Ansicht, die Kommerell der Poetik als »Lehre von der menschlichen Seele« unterstellt, betrachtet die intersubjektive Anlage des Menschenseins als eine emotionale Dynamik zwischen willensgesteuerten Individuen, wobei der Willensbegriff keine moralische Konnotation zeigt. Das aristotelische nealogy, Morality, hg. von Richard Schacht, University of California Press 1994, S. 139-167. 28 Kommerell (Anm. 1), S. 94. 29 Im ›Discours du poème dramatique‹ beruft sich Corneille ausdrücklich auf Horaz, dessen ›Epistula ad Pisones‹, wie von Kommerell mehrmals betont, als klassizistischer Filter für die Interpretation der Poetik gewirkt hat. 30 Kommerell (Anm. 1), S. 79. 212 31 Kommerell (Anm. 1), S. 109. 32 Kommerell (Anm. 1), S. 80. 213 g iova n n a p i n n a »Gemeinwesen« des Menschen sei also »nicht im politischen […], sondern im naturhistorischen« Sinn zu verstehen.33 Die Tragödie erläutert das Leben als eine komplexe Interaktion von psychologischen Kräften und bringt die existentielle Betroffenheit des Menschenseins ans Licht durch »Erschütterung«. Zweitens: die Lust am Tragischen entsteht aus der Beseitigung des (als schädlich aufgefassten) Zusammenspiels von Furcht und Mitleid. Das Wort, das Kommerell benutzt, um die psychologische Dimension der Katharsis zu beschreiben ist »Entladung«. Nietzsche, wohl auf Bernays hinweisend, hatte sich über »jene pathologische Entladung, die Katharsis des Aristoteles, von der die Philologen nicht recht wissen, ob sie unter die medicinischen oder die moralischen Phänomene zu rechnen sei«, sehr kritisch geäußert, und eine ästhetische anstatt eine psychologische Konzeption der Tragödie vorgeschlagen.34 Kommerell seinerseits, eine Art Synthese von Kunst und Leben versuchend, lässt die Katharsis als eine (psychologische) Wirkung, welche die ästhetische Form bestimmt, mit dem »ästhetischen Zustand« Schillers und mit dem »dionysischen Zustand« Nietzsches in Verbindung treten.35 Dabei geht es aber nicht um das Psychologische an sich, sondern um den Status des Kunstwerks als ein Prozess des »Wissendwerden über sich selbst« des Lebens,36 das sich in der Rezeption vervollständigt. Aristoteles dient letztendlich als Beleg für eine Konzeption der Dichtung, die auf die Wirkung konzentriert ist, und in der das Individuelle zur gleichen Zeit das Geschichtliche ist: »Jeder Zug an einem Werk ist angewiesen an Bedingungen des Deutens, die sich in irgendeinem Leben erfüllen. […] Das Werk ist unerschöpflich. Es verwandelt sich mit den Zeiten, unabhängig von dem, was im Bewußtsein des Dichters war. Und da sein Sinn es selber ist, wird nie zu Ende begriffen sein.«37 33 Kommerell (Anm. 1), S. 56. 34 Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, in: ders. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1988, S. 142. 35 Kommerell (Anm. 1), S. 64. 36 Holthusen (Anm. 12), S. 79. 37 Max Kommerell, Geist und Buchstabe der Dichtung. Goethe, Schiller, Kleist, Hölderlin, Frankfurt a. M. 41956, S. 9. 214 Christian Benne Tradition und Revolution Zur Tragödientheorie Max Kommerells 1. »Seit Aristoteles gibt es eine Poetik der Tragödie, seit Schelling erst eine Philosophie des Tragischen.«1 So beschreibt der erste Satz in Peter Szondis berühmtem ›Versuch über das Tragische‹ die wesentliche Zäsur im Denken der Tragödie. Das Tragische war ein fester Bestandteil der folgenreichsten philosophischen Entwürfe der letzten gut zweihundert Jahre, doch kamen diese gewöhnlich ohne Aristoteles aus. Dessen ›Poetik‹ ward den Philologen und Literarhistorikern überlassen. Wenn Kommerells ›Untersuchung über die Theorie der Tragödie‹, wie der Untertitel seiner großen Studie ›Lessing und Aristoteles‹ aus dem Jahr 1940 lautet, explizit bei dem griechischen Denker anknüpfte, lag darin der Anspruch, diese unsachgemäße Arbeitsteilung zu verabschieden und die Philosophie der Tragödie aus der Mitte der Philologie selbst zu entwickeln.2 Kommerell fasst die aristotelische und womöglich jede Poetik als theoretisch außerordentlich voraussetzungsvoll auf. Kommerells Grundlagentext einer dezidiert philologischen Komparatistik hat freilich kaum in die institutionalisierte Disziplin hineingewirkt. Das lag nicht allein an den Zeitumständen oder Kommerells Biographie. Für die an positivistischer Einflussforschung ausgerichtete Komparatistik alter Schule war sie zu problemorientiert und philosophisch, für die vorrangig an wechselnden theoretischen Modellen interessierte moderne Variante aufgrund ihrer minutiösen Vorgehensweise zu gelehrt.3 Diese Vorgehensweise verdeckt, dass sich hinter der philologischen Geste eben doch eine eigenständige Theoriebildung verbirgt, die nur der Form nach als ihr Gegenteil erscheint, in Wahrheit aber den Unterschied zwischen Theorie und Philologie aufhebt. Kommerell bleibt bei aller Akribie seinem charakteristischen essayistischen Verfahren treu, das er sogar auf 1 Peter Szondi, Versuch über das Tragische, in: ders., Schriften I, Frankfurt a. M. 1978, S. 149-260, hier: S. 1. 2 Max Kommerell, Lessing und Aristoteles. Untersuchung über die Theorie der Tragödie, Frankfurt a. M. 51984. 3 Eine Ausnahme war die selbstidentifikatorische Aneignung durch Gert Mattenklott, die sich aber v. a. auf die dichterische Welterfahrung in der Kunstform des literarischen Essay bezog: Joachim W. Storck/Gert Mattenklott, Über Max Kommerell. Zwei Vorträge, Marburg 1986. 215