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"Von klassischem Geist und neuem Klang". Ein Beitrag zur Rezeption der Musik Arnold Mendelssohns.

2005, Mendelssohn-Studien, hrsg. von Hans-Günter Klein und Christoph Schulte, Bd. 14, S. 309-325

Die Rezeption der Musik Arnold Mendelssohns nach dem Zweiten Weltkrieg war geprägt von den negativen Urteilen über den Komponisten von Karl Straube und Wilhelm Furtwängler, der eine Aufführung seiner III. Sinfonie ablehnte. Der Artikel geht der Frage nach, woher diese Ablehnung kommt und warum Arnold Mendelssohn's Kompositionen praktisch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts kaum oder gar nicht aufgeführt wurde.

„Von klassischem Geist und neuem Klang...“1 Ein Beitrag zur Rezeption der Musik Arnold Mendelssohns von Jürgen Böhme „Heute haben die Sänger und Dirigenten gespürt, dass man ein Unrecht dulden würde, führte man Mendelssohns Musik nicht auf“, urteilte 1955 in einem Artikel des Darmstädter Tagblatts2 anlässlich der Wiederkehr des 100. Geburtstages fast euphorisch der Musikkritiker Wolf-Eberhard von Lewinski und fuhr bezugnehmend auf Mendelssohns MännerchorOratorium „Pandora“ fort: „In diesem Werk wird man erkennen können, dass Mendelssohn eine gerade für den Chor und die Singstimme besonders glückliche Hand hatte, und vielleicht wird man diese Aufführung3 als Anlass nehmen, sich auch außerhalb des Gedenkjahres wieder mehr an die evangelischen a-cappella-Motetten und die strengen, unserem Empfinden durchaus nicht ferngerückten Kantaten zu erinnern...“ Als bedeutsamste kompositorische Leistung verweist Lewinski auf die Kirchenmusik des Darmstädter Kirchenmusikmeisters, der vor 150 Jahren, nämlich am 26. Dezember 1855 im schlesischen Ratibor4 geboren wurde. Sein umfangreiches Motettenschaffen und die geistlichen Kantaten galten schon kurz nach ihrer Entstehung unbestritten als wertvoll, ja sogar „bahnbrechend“ in Bezug auf die Erneuerung der Kirchenmusik am Ende des romantischen Jahrhunderts. Noch einmal Lewinsky anlässlich des Gedenkjahres 1955: „Man wird sich an einen der bedeutendsten evangelischen Kirchenmusiker unseres Jahrhunderts erinnern. Ohne das eifrige, bestimmte und bewusste Wirken Arnold Mendelssohns wäre die deutsche evangelische Kirchenmusik wohl kaum so schnell auf eine beachtliche Höhe gekommen, nachdem der romantisch-stimmungsvolle Charakter der Kirchenmusik fast ein Aufhören derselben im Sinne einer echten gottesdienstlichen Funktion gebracht hätte,“ seine Kompositionen im „außerkirchlichen Raum“ zeigten ihn darüber hinaus als einen Musiker, der „ausgezeichnete, nicht nur technisch-kontrapunktisch beachtliche, sondern auch geistigseelisch fundierte Werke für Chor, Oper, Orchester- und Kammermusik zu schreiben verstand.“5 Rückblickend betrachtet scheint Lewinskis wohlmeinendes Urteil über Mendelssohns Musik aus dem Jahre 1955 eher singulär zu stehen und die Wahrnehmung, „die Sänger und Dirigenten“ dieser Jahre hätten gespürt, dass man ein Unrecht dulden würde, wenn man seine Musik nicht aufführen würde, eher ein Wunschdenken zu formulieren als von realen Erfahrungswerten getragen zu sein. Sieht man einmal von den positiven Reaktionen vor allem aus Darmstadt, wo er als Kirchenmusikmeister, Chorleiter und Gymnasiallehrer über 30 Jahre lang wirkte, im Zusammenhang der Gedenkfeierlichkeiten zum 100. Geburtstag ab, ist die Rezeption der 1 So Friedrich Noack in einer Gedenkfeier anläßlich des 100. Geburtstages Arnold Mendelsshn, mitgeteilt von Wolf-Eberhard Lewingski in: Arnold Mendelssohn als Mensch und Musiker. Darmstädter Tagblatt vom 27. November 1955. 2 Darmstädter Tagblatt vom 27. November 1955 (siehe Anm. 1) 3 Aufführung des Oratoriums „Pandora“ im Rahmen einer Gedenkfeier der Stadt Darmstadt für ihren Ehrenbürger am 27. November 1955. Aufgeführt wurden darüberhinaus Lieder sowie zwei Sätze aus dem Streichquartett B-Dur. 4 Ratibor war auch Geburtsstätte des Dichters Joseph von Eichendorff 5 Darmstädter Tagblatt vom 25.11.1955, S. 5 2 Kompositionen Arnold Mendelssohns nach dem 2. Weltkrieg bisher eher negativ verlaufen. Und vergleicht man die heutige Situation mit der im Jahre 1955, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Werke Arnold Mendelssohns zurzeit von einer Rückkehr ins zeitgenössische Musikleben entfernter sind denn je. Drei mögliche Gründe seien dafür genannt: 1. Das Rezeptionsproblem: Auch wenn heute vollständig unbekannt, war Arnold Mendelssohn zu Lebzeiten, zumindest nach der Jahrhundertwende, im In- u. Ausland eine anerkannte Komponistenpersönlichkeit, dessen Werke sogar in Übersee aufgeführt wurden.6 Nach dem 2. Weltkrieg ist er, von Ausnahmen abgesehen, nicht mehr aufgeführt worden. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit seiner Musik hat nicht mehr stattgefunden. Haften geblieben sind nach Kriegsende stattdessen vor allem die abwertenden Voten Wilhelm Furtwänglers7 und Karl Straubes.8 Aus solchen Negativaussagen, die unten ausführlich zitiert werden, bildete sich nach dem Kriege die Auffassung, Arnold Mendelssohns Beherrschung des Kompositionshandwerkes sei zwar meisterlich, doch mangele es im wesentlichen an Genialität, seine Musik sei eben nur „gediegene akademische Arbeit im guten Sinne des Wortes“, wie es Hans Engel schon 1932 in Bezug auf das Violinkonzert op. 88 z. B. formuliert hat, mit „konventionellen Gedanken“ und „formal einem regulären Verlauf.“9 2. Der Schwierigkeitsgrad: Gerade jene Kompositionen, die diese Kritik zu entkräften imstande wären, die Deutsche Messe etwa, die Sammlung der „Geistlichen Chormusik“, die Klaviersonate e-Moll oder die große Konzertkantate „Zagen und Zuversicht“, um nur einige Beispiele zu nennen, sind von einem solchen Schwierigkeitsgrad, dass selbst professionelle Chöre und Orchester bis in die jüngste Vergangenheit hinein den Aufwand des Einstudierens scheuen: Die Stücke sind zu schwierig, um sie in kurzer Zeit ins Repertoire aufnehmen zu können. Unterzieht man sich der Mühe dennoch, zeigt sich am Ende des Einstudierens jedoch nicht selten ein weiteres Problem, das mit der heterogenen und gelegentlich kritisierten Stilistik mancher Kompositionen Arnold Mendelssohns zusammenhängt: Alterierungen, Chromatik, Gleichzeitigkeit von Vorhaltsstruktur und –auflösung, bitonale Harmonieverläufe und andere Stilmerkmale, die Arnold Mendelssohn als Komponisten des ausgehenden tonalen Zeitalters ausweisen, machen die Musik nicht nur technisch schwer, sondern den musikalischen Gesamteindruck manchmal auch schwerfällig – ein Vorwurf, dem sich zeitgleich z.B. auch Max Reger ausgesetzt sah. 3. Fehlende Aufführungspraxis: Da es im wesentlichen keine aufführungspraktische Erfahrungen mit der Musik Arnold Mendelssohns gibt, fehlt auch eine Fachdiskussion darüber, wie mit seiner Musik umzugehen, wie sie einzuordnen oder zu bewerten sei, existieren keine 6 Aufführungsbelege existieren u.a. aus New York. In der Music Collection der New York Public Library befinden sich im übrigen Druckexemplare folgender Kompositionen: Streichquartett D-Dur op. 67, Sonate CDur op. 71 für Violine und Klavier, Klaviersonate e-Moll op. 66, Suite für Blas- und Schlaginstrumente op. 66. 7 Über Karl Straube hatte Furtwängler Anfang 1923 Mendelssohn um Zusendung seiner „neuen Sinfonie“ gebeten „bevor er anderweitig darüber verfügt“. Furtwängler lehnte 1925 eine Aufführung schließlich doch ab mit der Begründung, es fehle ihm in der Sinfonie eine „irgendwiegeartete [...] Beziehung zu unserer heutigen Zeit“. 8 in einem Brief an Friedrich Michael vom 26.7.1947 9 Hans Engel: Das Instrumentalkonzert. Leipzig 1932 (=Führer durch den Konzertsaal. Hrsg. von Hermann Kretzschmar, Bd. 3), S. 458. 3 Überlegungen oder gar Konzepte zu Temponahme, Dynamik oder Artikulation. Wie sind z.B. die stilistischen Adaptionen aus der Musik der Barockzeit (Fuge, Concerto) und der Wiener Klassik (Sonatenhauptsatzform) mit der für Arnold Mendelssohn typischen Vexierharmonik und den dazwischen aufbrechenden atonalen Passagen in ein und derselben Komposition künstlerisch darstellbar? Erschwert wird das Verständnis vor allem seiner späten Instrumentalwerke zusätzlich dadurch, dass er nicht nur historisch unterschiedliche Stile innerhalb eines Stückes „horizontal“, also neben- und nacheinander schreibt,10 sondern gleichzeitig auch „vertikal“ verschiedene Stilebenen aufsucht. So stehen etwa im Violinkonzert op. 88 Partien größter Einfachheit neben lyrischen Passagen, deren Schönheit und romantische Tiefe andererseits unzweifelhaft dazu berechtigen, op. 88 neben große Vorbilder wie die Violinkonzerte von Bruch oder des Großonkels Felix Mendelssohn Bartholdy zu stellen. Eine ähnliche Beobachtung ist in Arnold Mendelssohns 2. Sinfonie aus dem Jahre 1922 zu machen: Während der Eingangssatz ein überzeugendes Beispiel für einen spannungsreich angelegten, spätromantischen Sinfoniestil darstellt, der auch von Brahms oder Bruckner entwickelt sein könnte, verfällt er im Finale mit beiden Satzthemen in einen divertimentohaften, tänzerischen „Plauderton“, der sich mit seiner unverhofften Wendung ins Leichte und Unbeschwerte des 2. Themas so gar nicht zu vertragen scheint mit der grüblerisch-düsteren f-Moll-Einleitung des 4. Satzes, die er am Ende auch noch einmal aufgreift.11 Verschiedentlich ist in diesem Zusammenhang bei Arnold Mendelssohn auf seinen sprichwörtlichen Humor12 verwiesen worden, auch als Mittel zur Distanz vor der negativen Realität des eigenen Alltags13 aber auch vor der gesellschaftlichen Entwicklung und der sich anbahnenden politischen Wirren im Lande, die er mit wachem Interesse und zunehmender Besorgnis registrierte. Ironie indes scheint für ihn als künstlerisches Gestaltungsmittel nicht ernsthaft in Frage gekommen zu sein, gerade darüber führte er eine heftige, wenngleich in freundschaftlichem Ton gehaltene Kontroverse mit seinem begabtesten Kompositionsschüler am Hoch’schen Konservatorium in Frankfurt, an die sich Paul Hindemith, der mit „NuschNuschi“, „Sancta Susanna“, „Neues vom Tage“ und anderen Stücken in den Zwanziger Jahren genau diesen Weg der künstlerischen Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen der Zeit wählte, später immer gern erinnert hat. 10 Ein kompositorisches Mittel, für dessen Rechtfertigung er u.a. Mozarts Requiem heranzog: „Dem Straube imponiert mein Reichtum an verschiedenen Formen, eine gewisse Gelenkigkeit gegenüber verschiedenartigen Aufgaben. Kein Wunder! Leben wir doch in einer Zeit des Historismus: die Ausdrucksmittel früherer Epochen sind uns in einem Ausmaß bekannt, wie es in keiner früheren Zeit der Fall war. Da nun ferner unsere Zeit nicht selbst formschöpferisch ist, sondern höchstens formauflösend, so benutzt ein Künstler, der seine Situation begriffen hat, die überkommenen Formen je nach Bedarf. Und das ist ganz recht, sofern er im Stand ist, sie mit Geist und Leben zu erfüllen.“ A. Mendelssohn. Gott,Welt und Kunst. Hrsg. Wilhelm Ewald. Wiesbaden 1949. S. 41. 11 Ähnliche Widersprüche finden sich z.B. im Finale des Streichquartetts op. 18 Nr. 6 von Beethoven und werden von der Forschung auch entsprechend kontrovers diskutiert. Vgl. Arno Forchert: Die Darstellung der Melancholie in Beethovens op. 18,6. In: Ludwig van Beethoven. Hrsg. v. Ludwig Winscher. Darmstadt 1983 (=Wege der Forschung. Bd. 428). Eine der vordringlichsten Forschungsdesiderate in Bezug auf Arnold Mendelssohn ist eine nähere Untersuchung der Beethoven-Rezeption in seinem Werk. 12 offenbar suchte Arnold Mendelssohn zumindest in seinem Spätwerk (nach dem 1. Weltkrieg) zunehmend den kompositorischen Gegensatz von geistvoll-vertieft auf der einen und heiter-unbeschwert auf der anderen Seite. 13 Lange Zeit glaubte er, die Krankheit seiner Tochter Dora rühre von seiner Heirat mit Aimee Louise Cauer, eben einer Cousine. 4 Was heute bei Arnold Mendelssohn auf den ersten Blick möglicherweise als befremdend wahrgenommen wird, stilistische Brüche, vor allem auch die Flucht in musikalische Sprachen und Formen der Vergangenheit, war in Wahrheit ein wesentlicher Bestandteil der von Widersprüchen und Gegensätzlichkeiten geprägten Kunst des anbrechenden 20. Jahrhunderts.14 Zweifelsohne hat Mendelssohn Einflüsse der sogen. „Neuen Sachlichkeit“, einer Strömung, die sich schon seit der Jahrhundertwende gegen die vorherrschende Romantik in der Kunst aussprach,15 rezipiert und sich vom 1920 einsetzenden Neoklassizismus beeinflussen lassen. „Klarheit“ und „Helligkeit“ wurden hier wieder zu künstlerischen Leitideen, Distanz trat an die Stelle von Emphase und romantischem Rausch, Spiel und Witz gewannen zunehmend wieder an Bedeutung, auch wenn solche Begriffe von den Komponisten individuell sehr unterschiedlich musikalisch umgesetzt wurden. Seine Hinwendung zur Musik und Formensprache der Wiener Klassik, namentlich zu Beethoven, dürfte Arnold Mendelssohn auch durch Hugo Riemann bestätigt gesehen haben, der in seinen ab der Jahrhundertwende erscheinenden, vielbeachteten Schriften aus den Werken seines Stilideals Beethoven nicht nur seine berühmt gewordene Funktionstheorie entwickelte, sondern vor allem auch die heute noch gültige musikalische Periodenlehre der Wiener Klassik, die von einem architektonisch begründeten Balanceprinzip in der Musik ausgeht. Doch nicht allein die schon genannten Schwierigkeiten, sondern auch ganz banale Probleme wie das weitgehende Fehlen jedweden verfügbaren Aufführungsmaterials machen es schwer wenn nicht sogar unmöglich, sich mit der Musik Arnold Mendelssohns zu beschäftigen. Notenmaterial findet sich nur mehr in Bibliotheken16 oder Privatarchiven17, manche Werke wie die drei Sinfonien oder die Oper „Die Minneburg“, sind nie in den Druck gelangt. Die Verfügbarkeit etwa des Aufführungsmaterials zum oben erwähnten Violinkonzert op. 88 bildet da eher eine erfreuliche Ausnahme.18 Hans-Joachim Moser und Mendelssohn. Der Wandel in der Wertschätzung des Komponisten lässt sich am Gesinnungswandel des zu Lebzeiten hoch geschätzten deutschen Musikforschers Hans-Joachim Moser anschaulich nachvollziehen. Moser, zu dieser Zeit Leiter der Staatlichen Akademie für Kirchen- und Schulmusik in Berlin, nannte im Jahre 1928 in seiner „Geschichte der deutschen Musik“ die Motetten, namentlich die geistlichen Tonsätze op. 32 sowie vor allem die Geistliche Chormusik aus den Jahren 1924/25, die geistlichen Kantaten und die Deutsche Messe op. 89 Arnold Mendelssohns „wertvollste Bereicherung der evangelischen Kirchenmusik neben den Werken von Herzogenberg und Reger, [...] ganz grosse überzeitliche Kunst.“ Er erwähnt auch sein „umfangreiches Liedschaffen“, das einer „gemäßigten Moderne“ verpflichtet sei und „Tiefsinn und Schelmerei, Innigkeit und Grösse“ aufweise19. Drei Jahre zuvor war Moser 14 Die systematische Hinwendung zur „Alten Musik“ etwa markiert nach der Jahrhundertwende auf der einen Seite ebenso ein Extrem wie die zeitgleich entwickelte Atonalität des frühen Schönberg auf der anderen. 15 Schon 1895 hatte Otto Wagner in seinem Buch „Moderne Architektur“ die Prinzipien eines neuen funktionalen Bauens formuliert, das einfache kubische Formen bevorzugt, auf künstlichen Zierrat verzichtet und die Mittel dem Zweck unterordnet. Mendelssohn bezieht sich, auch theoretisch nachweisbar in seinen Tagebuchauchzeichnungen ab 1912, dezidiert auf eine Architektur der Musik. 16 wesentliche Teile des Nachlasses befinden in der Musikabteilung der Staatsbibliothek Berlin sowie in der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek in Darmstadt. 17 wie das Arnold-Mendelssohn-Archiv der Ev. Kreuzkirchengemeinde in Bonn (Nachlaß Heinrich Spitta) 18 Verlag Bote&Bock, Berlin 19 Hans-Joachim Moser: Geschichte der deutschen Musik. Band III. Stuttgart und Berlin ²1928. S. 364. 5 sogar noch einen Schritt weiter gegangen. In einem längeren Artikel in der „Monatsschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst“ anlässlich des 75. Geburtstages Mendelssohns beschwor er nicht nur die „überzeitliche Allgültigkeit“20 seiner Werke, sondern setzte seine Motetten auf Grund ihrer sanglichen Stimmführung sogar über jene von Richard Strauß und Arnold Schönberg.21 In einem Zeitschriftenaufsatz von 1933 lobt er wiederum seine Kirchenmusik, vor allem aber auch seine Schütz-Bearbeitungen und erinnert nun im übrigen daran, daß Mendelssohn „auch hochwertvolle weltliche Werke (Pandora, Paria, Werther-Madrigale)“ geschrieben habe und schließlich werde „seiner Kammermusikwerke und Orchesterstücke mit Achtung und Sympathie gedacht“, auch wenn „Brahms und Reger insgesamt genialere Komponisten gewesen sind als Arnold Mendelssohn“.22 Hatte Moser in seiner Geschichte der deutschen Musik Arnold Mendelssohn im Jahre 1928 noch als „entfernten, jedoch gänzlich germanisierten Verwandten“ Felix Mendelssohn Bartholdys hingestellt23, sieht er den Komponisten 30 Jahre später offenbar ganz anders: „Mendelssohn war, obwohl zu drei Vierteln jüdischen Geblüts, ein blond-blauäugiger Riese [...] Seine verhältnismäßig unpersönliche und zeitferne Schreibart24, die der Bewertung seines weltlichen Schaffensteils in jener Ära [...] verhängnisvoll geworden ist, geriet ihm auf dem kirchlichen Felde nicht im gleichen Maße zum Nachteil.“25 Im einleitenden Teil seiner Kirchenmusikgeschichte aus dem Jahre 1958 gibt Moser auch zu erkennen, dass neben den weltlichen Werken ebenso die Aufführung der „Geistlichen Chormusik“ während des NaziRegimes, von 1933 bis 1945 verboten war.26 Moser, der 1931 selbst mehrstimmige Evangelienvertonungen veröffentlichte, weist sich im selben Artikel im übrigen selbst als Schüler Mendelssohns aus, dessen kompositorische Versuche bei Arnold Mendelssohn allerdings offenbar wenig Anklang fanden: „In jenen Jahren“, schreibt Moser27, „war ich oft bei Arnold Mendelssohn im Hause, der einmal zu einem neutönerischen Motettenversuch von mir schmunzelnd urteilte: ‚In der Acappella-Wirklichkeit werden sie enttäuscht sein, wie wenig man von solchen Wagnissen hat’.“28 20 Zugleich sprach er ihm interessanterweise jedoch einen „glatten Akademismus“ ab – ein Vorwurf, der ihm vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg gemacht wurde - , denn man treffe in seinen Werken „auf Herbheiten, Schlüfte und Sprünge, die beim Lesen oder am Klavier problematisch wirken und erst im lebenden Chorklang ihre ganze Naturgewachsenheit makellos enthüllen“. H.-J. Moser, Der Kirchentonsetzer Arnold Mendelssohn. In: Monatsschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst. 30. Jg. 1925. S. 297. 21 Ebd. 22 Moser: Arnold Mendelssohn. In: Monatsschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst. 37. Jahrgang 1933. S. 81f. 23 siehe Anm. 19 24 Vgl. sein gegenteiliges Urteil von 1925. Siehe Anm. 20. 25 Hans-Joachim Moser: Die evangelische Kirchenmusik in Deutschland. Berlin-Darmstadt 1958. S. 255. 26 „Arnold Mendelssohn vereinte mit den soliden Grundlagen seiner in Berlin [...] genossenen Schulung neudeutsche Einflüsse, die ihm der Umgang mit Humperdinck, H. Wolf, Pfitzner zutrug. Von dem ‚Leiden des Herrn’ op. 13, ‚Geistlichen Tonsätzen’ op. 32 und intensiver Schützpflege [...] kam er zu stark erlebten Kirchenkantaten wie ‚Aus tiefer Not’ op. 54, ‚Auf meinen lieben Gott’ (Werk 61). ‚Zagen und Zuversicht’ (op. 84), zu einer deutschen A-cappella-Messe und vor allem den De-tempore-Motetten des Jahres 1924, deren Verbot während der zwölf Jahre einen schweren Verlust für die evangelische Kirchenmusik brachte.“ Der Verlag Ernst Eulenburg hatte in der 4. Ausgabe seines Thematischen Verzeichnisses, das im Krieg ohne Jahresangabe erschien (vermutlich 1941), die Werke von Schönberg und Arnold Mendelssohn im übrigen getilgt. - Rudolf Stephan: Zur Musik der Dreißigerjahre. In: Bericht über den internationalen musikwissenschaftlichen Kongress Bayreuth 1981. S. 145. 27 Gemeint ist der Zeitraum von 1919 bis 1927 28 wie Anm. 24, S. 304. 6 In der 1959 erschienenen Neuauflage des „Lehrbuches der Musikgeschichte“29 reiht Moser ihn schließlich in die Wagner-Nachfolge ein und bescheinigt ihm immerhin noch „Materialinstinkt für echten A-cappella-Stil“: „[Arnold Mendelssohn] mühte sich in Darmstadt zunächst gleich Humperdinck, H. Wolf, Pfitzner um die Wagnernachfolge. Was ihm hier an zeitgebundener Individualität trotz hoher Intelligenz mangelte [...] gedieh dem Hessischen Landeskirchenmusikdirektor zum Heil...“30 Hans-Joachim Moser lehrte von 1927 bis 1934 an der Universität Berlin, wo er auch die Staatliche Akademie für Kirchen- und Schulmusik leitete. 1933 in den Ruhestand versetzt, unterrichtete er nach dem Kriege seit 1947 an der Universität Jena und an der Musikhochschule Weimar. 1950 wurde er Direktor des Städtischen Konservatoriums in Berlin. Sein Wirkungsgrad als Lehrer und Autor mehrerer Standardwerke der Musikgeschichtsschreibung im 20. Jahrhundert kann nicht hoch genug eingeschätzt werden – vermittelt auch über seine Schüler, wie beispielsweise Karl Heinrich Wörner, der seit 1928 Musikwissenschaft bei Moser studierte. Dessen über 600 Seiten umfassende „Geschichte der Musik“ diente und dient bis heute zahllosen Studenten als Grundlage ihrer Musikgeschichtskenntnisse. Hier, in Wörners Lehrbuch, findet sich über Arnold Mendelssohn nur noch die lapidare Bemerkung: „Ein wichtiges Bindeglied zwischen Brahms und der neuen Kirchenmusik bildet Arnold Mendelssohn (1855-1933, Gymnasiallehrer und Kirchenmusikmeister in Darmstadt, seit 1919 Mitglied der Berliner Akademie). Seine Hauptbedeutung liegt in Choralkantaten und Motetten. Mendelssohn ist Lehrer von Paul Hindemith, Kurt Thomas und Heinrich Spitta.“31 Moser hatte in seiner Geschichte der evangelischen Kirchenmusik von 1958 immerhin noch fünfundfünfzig (!) bekanntgewordene Komponisten und Musikschriftsteller aus dem Schülerkreis Arnold Mendelssohns namentlich genannt, darunter auch sich selbst.32 Inwieweit Arnold Mendelssohn inzwischen tatsächlich in Vergessenheit geraten ist, zeigt ein Blick in die 1994 erschienene „Musikgeschichte in Daten“ von Gerhard Dietel, die nach dem Vorbild des germanistischen Standardwerkes „Daten deutscher Dichtung“ von Herbert und Elisabeth Frenzel33 auf über 1000 Seiten chronologisch geordnet mehrere tausend Kompositionen vorstellt und mit kompilierenden Einleitungsartikeln nach Epochen geordnet ergänzt.34 Die Darstellung beginnt mit dem Musiktraktat des Aristides Quintilianus aus dem 2. oder 3. Jahrhundert und endet mit dem 1993 entstandenen Requiem von Hans Werner Henze. Wie das Vorwort Auskunft gibt, versucht der Datenband auch „eine Neubewertung vernachlässigter oder gering geschätzter Werke“, deren „einstige wie spätere Wertschätzung, zum andern aber auch die Bedeutung [einzelner Werke] als musikgeschichtliches Bindeglied“ zu berücksichtigen sei.35 Arnold Mendelssohn wird mit keinem Wort erwähnt. Karl Straube und Mendelssohn. Anfangs war bereits auf die bis heute wirkenden Äußerungen Wilhelm Furtwänglers und Karl Straubes hingewiesen worden, die zweifellos das ihre dazu beigetragen haben, um Arnold Mendelssohn eher als kompositorische Übergangserscheinung „am Abend einer 29 H.-J. Moser: Lehrbuch der Musikgeschichte. Berlin 14/1959. S. 322 Ebd. 31 Wörner: Geschichte der Musik. Göttingen 1/1954, 6/1975 ergänzt von Ekkehard Kreft, S. 274. 32 Moser: Die evangelische Kirchenmusik in Deutschland. S. 264/265. 33 Herbert A. und Elisabeth Frenzel: Daten deutscher Dichtung. Chronologischer Abriß der deutschen Literaturgeschichte. Köln 1/1953 34 Gerhard Dietel: Musikgeschichte in Daten. Kassel 1994 35 Ebd. S. 8 30 7 Kunstepoche“, wie Alfred Baumgartner in seiner fünfbändigen Musikgeschichte aus dem Jahre 1983 formulierte36, erscheinen zu lassen denn als „Musiker von großer Weite des Horizontes“, als solcher er in der Universalenzyklopädie „Die Musik in Geschichte und Gegenwart“ mit Blick auf seine Lebensleistung 1961 gewürdigt wurde.37 Straubes Kritik an Arnold Mendelssohn wird erst 1947 öffentlich, als er gebeten wird, für die seit langem geplante Veröffentlichung eines Teiles der Tagebuchaufzeichnungen Arnold Mendelssohns ein Vorwort zu verfassen. Er antwortet darauf in einem Brief an Friedrich Michael, Lektor des Insel-Verlages38: „Für mich würde es eine Freude sein, wenn ich meinem umvergeßlichen und lieben Freunde Arnold Mendelssohn Worte der Erinnerung widmen und darauf hinweisen dürfte, welch eine freie und mutige Denkernatur die Deutschen in diesem Musiker besessen haben“ und fährt weiter unten fort: „Ich will mich vor der Aufgabe nicht drücken, möchte aber doch darauf hinweisen, dass ich meinem Freunde erst im Jahre 1920 nähergetreten bin und mit ihm nicht mehr als dreizehn Jahre gemeinsam verlebt habe. Mendelssohn war damals fünfundsechzig Jahr alt und hat dann durch mein Anregen und Drängen sein eigentlich größtes Werk geschrieben: Geistliche Chormusik, die zwanzig große Motetten für die Feiertage des Kirchenjahres umfaßt. Von seiner Vergangenheit als Musiker hat er mit mir gesprochen, aber von den inneren Vorgängen seines Werdens als Mensch weiß ich nur wenig. Er ist eine verschlossene Natur gewesen, die nur selten aus sich herausging, wenn er mich persönlich auch gern hatte. Diese Verschlossenheit führte leider zu der akademischen Kühle seiner instrumentalen Werke. Er scheute sich vor jedem Gefühlsausdruck. Niemand sollte wissen von den leidenschaftlichen Auseinandersetzungen seines geistigen und seelischen Lebens. Vielleicht war es auch eine Art Selbstkritik, die ihm verbot, zuviel Wesen von sich selber zu machen. Was war er neben den Großen der deutschen Musik? Die formale Gestalt seiner Sinfonien ist meisterhaft, hätte er sein inneres Erleben enthüllt, so wären uns Werke von Rang geschenkt worden.“39 Der diese Passage beinhaltende Brief aus dem Jahre 1947 wurde in einem von Wilibald Gurlitt und Hans Olaf Hudemann herausgegebenen Sammelband mit Briefen Straubes unter dem Titel „Briefe eines Thomaskantors“ 1952 veröffentlicht.40 Wie anders klingen da doch fünfundzwanzig Jahre früher die Briefe aus der Entstehungszeit der „Geistlichen Chormusik“: „Leipzig, den 9. April 1924 Lieber Arnold Mendelssohn! Samstag singen wir die Motette ‚Passionsgesang’ [...] Karsamstag dann [die] ‚Ostermotette’. Die Stücke klingen wunderbar!! [...] In herzlicher Verehrung und Treue immer Dein Karl Straube.“ 41 „Leipzig, den 21. April 1924 Lieber, verehrter Arnold Mendelssohn! 36 Alfred Baumgartner: Musik der Romantik (=Der Große Musikführer. Musikgeschichte in Werkdarstellungen). Kiesel Verlag 1983. S. 679. 37 Friedrich und Elisabeth Noack: Artikel Arnold Mendelssohn. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, hrsg. von Friedrich Blume. Band IX. Kassel 1961. Spalte 58. „Ohne ihn wären Distler, Pepping, Raphael usw. nicht denkbar“. Ebd. 38 Brief vom 26. Juli 1947. Abgedruckt in: Karl Straube. Briefe eines Thomaskantors. Hrsg. von Wilibald Gurlitt und Hans Olaf Hudemann. Stuttgart 1952. S.216f. 39 Wie Anm. 38 40 Straube, Briefe eines Thomaskantors. S. 218. 41 Ebd. S. 52 8 [...] beide Stücke42 haben einen tiefen Eindruck auf die Zuhörer gemacht [...] Dieser Gesang wird in Leipzig sehr geliebt und bekannt werden, da er natürlich alljährlich in der Fastenzeit wiederholt wird [...] Die Gestaltung der [Oster-]Motette finde ich genialisch und die Art, wie Du den Bericht des Evangeliums einführst und gestaltest, ganz außerordentlich. Klingen tut das Stück sehr schön, in dieser Beziehung ist das Verblüffendste das Duett der Bässe. Herzlichen Dank, daß Du uns diese schönen Werke geschenkt hast [...] Viele herzliche Grüße immer in Treue Dein Karl Straube“43 „Leipzig, den 16. Juli 1929 [...] Ich werde Deine Messe44 auch wieder aufführen, es ist doch ein sehr schönes Stück! [...] Tausend herzliche Grüße in alter Treue und Zuneigung Dein Karl Straube“.45 Die Aufzählung begeisterter Äußerungen Straubes aus den zwanziger Jahren über den VokalKomponisten Arnold Mendelssohn ließe sich beliebig fortsetzen.46 Sie relativieren sich ein wenig, wenn man sich vor Augen hält, dass Straube zumindest bei der grossen Motettensammlung op. 90 selbst erheblichen Einfluß bei deren Abfassung ausgeübt hat. In einer regelmäßigen wöchentlichen Korrespondenz47 berät er über zwei Jahre Arnold Mendelssohn kompositorisch, der daraufhin zahlreiche Änderungen an seinem Motettenwerk vornimmt. Wie groß der „kompositorische Anteil“ Straubes dabei tatsächlich war, ist noch unklar. Wahrscheinlich ist jedoch, dass Straube auch aus diesem Grunde sein vernichtendes Urteil, Mendelssohn habe keine Werke von Rang geschrieben, wohl kaum auf den Komponisten der Deutschen Messe op. 89 oder der Geistlichen Chormusik op. 90 – beides unbestritten Höhepunkte im A-cappella-Schaffen Mendelssohns - bezogen haben dürfte. Da er auch über die geistlichen Kantaten zwar unterschiedlich, aber doch überwiegend positiv dachte,48 liegt die Vermutung nahe, dass er tatsächlich nur den Instrumentalkomponisten gemeint hat. Und es ist nicht auszuschließen, dass sich sein Urteil überhaupt nur auf die Kenntnis eines einzigen Instrumentalwerkes Mendelssohns gründete, nämlich auf die 3. Sinfonie F-Dur op. 95, die in ihrer klassischen Faktur kaum Straubes von Wagner und Liszt geprägten romantisch-expressiven Vorstellungen49 des Orchestersatzes entsprochen haben dürfte. Wilibald Gurlitt hat in einem Artikel über Straube aus dem Jahre 1943 nachgezeichnet, wie stark dessen Klangvorstellungen im Orgelspiel von der romantischen Orchestertradition des ausgehenden 19. Jahrhunderts geprägt sind.50 Wie sehr diese noch im romantischen 42 gemeint ist der Passionsgesang op. 90/1 und die Ostermotette op. 90/2 Straube. Briefe eines Thomaskantors. S. 53. 44 Arnold Mendelssohn: Deutsche Messe für achtstimmigen Chor op. 89 45 Straube: Briefe eines Thomaskantors. S. 82. 46 Siehe z.B.auch Straubes positive Äußerung von 1921 (Anm. 10). 47 Die Staatsbibliothek in Berlin bewahrt 300 Briefe Straubes auf. 48 Vgl. Straubes Äußerung zu den Kantaten im Brief an Arnold Mendelssohn vom 8.11.1929. Abgedruckt in: Straube, Briefe eines Thomaskantors, S. 86. 49 So auch Bernhard Albert Kohl in seinem Artikel über Straube. In: Das grosse Lexikon der Musik. Hrsg. von Marc Honneger und Günther Massenkeil. Band VIII. Freiburg 1982, S. 20. 50 Mehrfach zitiert er dabei auch Straube selbst: „Sehr eindrücklich kommen die klanggebenden Ausdrucksmittel zur Sprache, meist unter Hinweisen auf die Orchesterkunst. So soll der Spieler im C-Dur-Präludium [von J.S.Bach] versuchen, ‚in der Registrierung den Glanz und die Pracht des Meistersinger-Orchesters wiederzugeben.’ Bei dem Praeludium in f-Moll ‚ist es wohl mehr als Zufall, wenn die Tonfolgen nur dann überzeugend wirken, sofern es gelingen will, den spezifischen Klang des Brahms-Orchesters zu reproduzieren [...]’.“ Wilibald Gurlitt: Karl Straube als Vorkämpfer der neueren Orgelbewegung. Karl Straube zu seinem 70. 43 9 Empfinden verwurzelt waren, zeigen z.B. Straubes poetische Beschreibungen Bachscher Orgelwerke. Das Präludium A-Dur BWV 536 etwa „flüstert von dem Zauber stiller Frühlingsnächte. Klänge, noch halb in Träumen, eröffnen den sanft dahinschwebenden Reigen; körperlos ziehen schlanke melodische Linien in ahnendem Wiegen und Neigen an uns vorüber, um in einem Hauch von klingender Schönheit sich zu verlieren“, und zur hMoll-Fuge, BWV 579: „Müde, dumpf, fast regungslos [erhebt sie] ihren schwermütigen, resignierten Gesang von Erdenleid und Heimweh“.51 Arnold Mendelssohn reagierte auf solche „Enthüllungen des inneren Erlebens“, wie sie Straube hier offenbart, stets rigoros ablehnend: „Ich bin in meiner Musik nicht romantisch; dieser Umstand macht, daß ich meinen Zeitgenossen, die Romantik mit Poesie identifizieren, trocken vorkomme. Wenn die frühere Romantik viele gesunde Elemente barg und entwickelte (Grimm), so ist ihre heutige Nachkommin einfach das Schlechte. Ich habe das früh dunkel gefühlt; daher meine Neigung zum Bürgerlichen, Soliden, zur protestantischen Kirche [...] daher meine erst zweifelhafte, später ablehnende Stellung zu [Felix] Mendelssohn, Schumann, Brahms52. Auch bei Wagner ist mir nie ganz wohl gewesen.“53 Grund für seine dezidierte Ablehnung spätromantischer Kunst- und Geisteshaltung war vor allem Abscheu vor dem blossen Zurschaustellen des eigenen Gefühls : „Gerade die Musik, die für die Darstellung des modernen Seelenlebens besonders geeignete Kunst, geeignet wegen ihrer biegsamen Vielgestaltigkeit, und weil sie sich allein an den inneren Sinn, den Sitz des Seelenlebens wendet, - gerade sie bedarf der größten formalen Strenge und Zucht, wenn sie nicht in ekelhaften Exhibitionismus entarten soll“.54 Wilhelm Furtwängler und Mendelssohn. Furtwängler, gerade mit der Leitung der Berliner Philharmoniker betraut, hatte offenbar vom Erfolg der Uraufführung der II. Sinfonie Mendelssohns gehört und wandte sich am 23. Januar 1923 an den befreundeten Leipziger Amtskollegen Karl Straube55 mit der Bitte, den Kontakt zu Arnold Mendelssohn herzustellen, damit dieser ihm dessen „neue Sinfonie“ zusenden möge, „bevor er irgendwie anderweitig darüber verfügt“. Mendelssohn kam dieser Bitte Anfang 1924 nach und schickte ihm das Manuskript seiner III. Sinfonie in F-Dur, die er am 30. November 1923 vollendet hatte. Eine Nachfrage Mendelssohns vom 1. Mai desselben Jahres blieb seitens Wilhelm Furtwänglers zunächst ohne Antwort. Wie Oswald Bill aus dem Briefverkehr Mendelssohns mit dem Bielefelder Dirigenten Wilhelm Lamping inzwischen Geburtstag. Leipzig 1943. S. 195ff. Wiederabgedruckt in: W. Gurlitt: Musikgeschichte und Gegenwart. Eine Aufsatzfolge. Hrsg. von Hans Heinrich Eggebrecht. Teil II. Wiesbaden 1966, S. 82. 51 Straube, zitiert von Gurlitt. Ebd. S. 81 52 Mendelssohns Stellung zu Brahms, dessen Musik er als „zu pessimistisch“ empfand, verdient eine eigene Untersuchung. Keineswegs war seine Einschätzung des ihm in manchen Kompositionen so nahe stehenden Johannes Brahms so negativ wie es hier den Anschein hat. 53 Arnold Mendelssohn: Gott, Welt und Kunst. Tagebuchaufzeichnungen. Hrsg. v. Wilhelm Ewald. Wiesbaden 1949. S. 29f. Die Äußerung stammt aus dem Jahre 1916. Dass bei ihm aber keinesfalls fehlende Emotionalität vorliegt, zeigt eine Außerung vom Juli 1914, in der er über Affiziertheit bei persönlichen Erlebnissen spricht: „Bei Unglück bin ich vom Weinen ganz entfernt; dagegen fällt es mich bis zur Beschämung leicht an, wenn mir das Schöne begegnet. Es ist dann, als wenn sich ein Krampf in mir löste. Manche – gar nicht etwa rührende – Gedichte von Goethe kann ich unmöglich vorlesen, weil mir dabei unfehlbar die Stimme in Tränen bricht.“ – Ebd. S. 360. 54 Ebd. S. 32 55 Straube, bereits seit 1903 in Leipzig Organist an der Thomaskirche und Leiter des Bachvereins, dirigierte nach dessen Zusammenlegung mit dem Gewandhaus-Chor (1920) auch bis 1932 die Gewandhaus-Chorkonzerte. Furtwängler leitete von 1922 bis 1928 neben seiner Tätigkeit als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker auch die Konzerte des Leipziger Gewandhausorchesters. Straube galt als begeisterter Fürsprecher des Komponisten Furtwänglers und hatte schon dessen „Te Deum“ zuvor uraufgeführt. Vgl. Sebastian Krahnerts Einleitungsartikel im Booklett zur Neueinspielung des Klavierquintetts C-Dur von Furtwängler. Tacet 2004. 10 erschließen konnte, wurden in dieser Zeit sowohl in Bielefeld Möglichkeiten für eine Aufführung sondiert als auch in Halle, wo am 8. Dezember 1924 schließlich die Uraufführung stattfand. Die Sinfonie wurde vom Hallenser Publikum offenbar wohlwollend aufgenommen. Bill erwähnt, dass Mendelssohn, der bei der Uraufführung anwesend war, Lamping im Brief vom 13.12.1924 davon berichtet, dass von der Kritik besonders der 1. und 3. Satz hervorgehoben worden sei, während sein eigener Liebling jedoch der 4. Satz sei (Brief vom 16.1.1925).56 Anschließend begannen offenbar die Vorbereitungen für die geplante Aufführung in Bielefeld. Auch hier war die Reaktion des Publikums positiv. So konnte Lamping, der die Aufführung am 20. Februar 1925 dirigierte, Arnold Mendelssohn zwei Tage nach dem Konzert berichten, „die Symphonie ging famos“.57 Ein halbes Jahr später, im August 1925 schließlich, reagierte Furtwängler und schickte Arnold Mendelssohn das ihm zugesandte Manuskript der III. Sinfonie zurück. In einem beigefügten Brief begründet er dem Komponisten, warum er von seinem ursprünglichen Vorhaben, die Sinfonie mit dem Gewandhaus-Orchester in Leipzig aufzuführen, nun abgerückt ist. Neben äußeren Hindernissen,58 zu denen sich wohl auch der negativ zu wertende Umstand gesellte, dass die offenbar für Leipzig vorgesehene Uraufführung bereits im benachbarten Halle stattgefunden hatte, machte er nun jedoch auch Bedenken anderer Art geltend: „[...] scheint mir das Werk, so sehr es an sich das Werk eines reifen Meisters und ein wahrhaft in sich geschlossenes Kunstwerk ist, doch in seiner Beziehung zu unserer heutigen Zeit nicht unproblematisch. So wenig ich das Nur-Zeitgenössische an sich schätze – im Gegenteil – so scheint mir ein irgendwiegeartetes, nicht nur rein negatives Verhältnis zu dieser Zeit doch im tieferen Sinne notwendig für die Komponisten von Heute. Selbst, wenn dadurch der Aufbau eines Werkes, wie er Ihnen vorgeschwebt hat, und sie ihn durchgeführt haben, [...] darunter leiden müsste.“ Der Inhalt bestimmt - oder sprengt gar - die Form59; mit diesem Bekenntnis stellt sich Furtwängler in die spätromantische Tradition seiner Zeit60 – auch wenn seine eigenen Kompositionen, wie das Klavierquintett C-Dur, an dem Furtwängler von 1912 bis ca. 1935 arbeitete, mit ihrer „höchst expressiven Tonsprache“61 die noch funktionale Tonalität der ausgehenden Romantik weitgehend verlassen. Gegen solche „Ausdrucksmusik“ wandte sich Arnold Mendelssohn immer wieder heftig. 1919 notierte er in sein Tagebuch: „O Ihr Komponisten! Nicht darauf kommt es heute an, eine Musik zu erfinden, in der auf neu-wunderliche Tonkombinationen rhythmischer oder harmonischer Art abgezielt wird; sondern auf eine solche, die den Hörer zu einer kräftigeren, zarteren, gesunderen Empfindung hebt, als er von selbst hat. Kurz: Musik ‚als moralische Anstalt’ ist heut an der Zeit.“ – „Nicht Expressionsmusik tut not [...], nicht Streben nach gefühlig schmelzender Auflösung, sondern nach Konstruktion, in der das Gefühl zwar 56 Oswald Bill: Arnold Mendelssohn und Wilhelm Lamping – Briefe einer musikalischen Freundschaft. In: Mitteilungen der Arbeitsgemeinschaft für mittelrheinische Musikgeschichte. Mainz 1992, S. 384ff. 57 Ebd. S. 391. 58 „[...] habe ich gerade im kommenden Winter, bei der eingeschränkten Anzahl meiner Leipziger Konzerte, besonders wenig Platz...“. Furtwängler an Arnold Mendelssohn im Brief vom 22.8.1925. Abgedruckt in: J. Böhme: Arnold Mendelssohn und seine Klavier- und Kammermusik. Frankfurt am Main 1987. S. 152 59 Mit über 80 Minuten Aufführungsdauer sprengt das Klavierquintett Furtwänglers auch die in der Kammermusik üblichen Dimensionen. 60 Reinhold Brinkmann erkennt z.B. in seinen Beethoven-Interpretationen auch „den Geist des 19. Jahrhunderts“ und die „Ästhetik des Erhabenen“. In: „Furtwängler-Sehnsucht nach Deutschland“. Film von Oliver Becker aus dem Jahre 2003. 61 So Krahnert. Wie Anm. 55 11 pulsiert, aber streng gebunden ist.“62 Wie musikalisch konkret er das meinte, zeigt u.a. eine Äußerung vom Juli 1921, in der es um die harmonische Konzeption eines Stückes geht: „Jede Verzerrung der Harmonie ist künstlerisch möglich, solange die Akkorde noch funktionell wirken. Hört dieses auf [...], wirken sie rein momentan, absolut, so ist insofern das Gebiet der Kunst verlassen worden, und das Chaos der bloßen Sinnlichkeit ist da.“63 Stattdessen forderte er eine Musik, die nicht auf die Darstellung von Gefühlen abzielt, was er als „verfluchte Wehleidigkeit“ ablehnte64, sondern den Zuhörer aus den menschlichen Niederungen herauszuheben in der Lage ist. Furtwängler, der auf die Bemerkung, es werde wohl nicht viel Menschen geben, die „dieser Katastrophenmusik“ gewachsen seien - gemeint war sein Klavierquintett C-Dur -, geantwortet hat, „ich bin nun mal ein Tragiker“65, dürfte kaum dafür Verständnis gehabt haben, dass es, wie oben dargelegt, Mendelssohn gerade darauf ankam, die persönliche Tragik aus dem Kompositionsprozess herauszuhalten oder im kompositorischen Prozess jedenfalls so einzuschmelzen, dass mittels der Form eine neue, höhere Qualität im Kunstwerk hergestellt werde; eine Auffassung, die sich an den Katharsis-Begriff des Aristoteles anlehnt, dessen grundsätzliche Unterscheidung zwischen ‚poesis’ als Schaffen einer neuen künstlerischen Utopie, und ‚mimesis’ als bloßes Abbilden einer Realität, hier, im Streit zwischen der Kunstauffassung Furtwänglers und Arnold Mendelssohns, unausgesprochen den Kern der Kontroverse zwischen beiden zu bilden scheint. Furtwängler läßt in seiner oben erwähnten Kritik an der III. Sinfonie Mendelssohns im Übrigen auch völlig offen, wen oder was er mit dem abwertenden Begriff des „NurZeitgenössischen“ im Jahre 1925 tatsächlich gemeint hat. Statt hier zu spekulieren sei daran erinnert, dass es „in den Zwanziger Jahren tatsächlich unzählige Möglichkeiten [gab]: Neoromantik exitistierte neben Neoklassizismus, freie Atonalität neben Dodekaphonie und Pluritonalität, Folkorismus neben einem eher abstrakten musikalischen Denken [...] Der Dadaismus wirkte in der Groupe des Six und in Waltons ‚Facade’ nach, hatte auch Nachzügler in Berlin und New York; Jazz und Ragtime – damals von den europäischen Komponisten nicht immer streng unterschieden – eroberten Europa.“66 Es war also weniger die von Straube konstatierte „Verschlossenheit seines Wesens“, die zu einer „gewissen akademischen Kühle“ von Mendelssohns (instrumentalen) Werken geführt hat, sondern vielmehr dessen bewusste Forderung nach kompositorischer Abkehr von einer romantischen Musikauffassung, wie sie Karl Straube selbst vertreten hat. Mit der Abwendung vom Ausdrucksprinzip erweist sich Arnold Mendelssohn ganz entgegen der negativen Einschätzung Furtwänglers im geschichtlichen Rückblick unvermutet als eher modern, hat er - beginnend mit der Klaviersonate in e-Moll - in seinen späten Instrumentalwerken ab 1914 doch damit einen Paradigmenwechsel vollzogen, der sich z.B. auch im Werk eines Komponisten wie Franz Schreker vor dem 1. Weltkrieg ankündigte, aber erst in den Zwanzigerjahren zu einer wahrnehmbaren Entwicklung ausweitete. Rudolf Stephan weist darauf hin, dass ab 1930 schließlich bei allen Komponisten eine stilistische Veränderung zu 62 A. Mendelssohn: Gott, Welt und Kunst. S. 50. Ebd. S. 41 64 „Heute sind wir so verweichlicht, dass es notwendig wird, gegen diese verfluchte Wehleidigkeit in uns und außer uns zu kämpfen.“ Tagebuchaufzeichnung vom 1. Juli 1930. Siehe: A. Mendelssohn, Gott, Welt und Kunst. S. 229. 65 mitgeteilt von Krahnert. In: Begleitheft zur CD-Einspielung des Klavierquintetts von Furtwängler bei Tacet. 2004. 66 Marius Flothuis: Elan und Ermüdung. Musik um 1930 in England, Frankreich und den Niederlanden. In: Bericht über den Internationalen musikwissenschaftlichen Kongress Bayreuth 1981. Hrsg. von Chr.-Hellmuth Mahling und S. Wiesmann. Kassel 1984. S. 154. 63 12 bemerken sei, die sich fast ausnahmslos durch eine Abwendung vom persönlichen Ausdruck dokumentiert.67 Die Rolle Furtwänglers während des Nazi-Regimes in Deutschland ist aus Anlass seines 50. Todestages vielfach neu diskutiert und beleuchtet worden und wird bis heute unterschiedlich beurteilt. Dem ist in Bezug auf Arnold Mendelssohn an dieser Stelle nur hinzuzufügen, dass es seitens des Dirigenten möglicherweise auch außermusikalische Vorbehalte gegen ihn gegeben hat, wie eine diesbezügliche Bemerkung Furtwänglers nahelegt, die im Protokoll der Schweizer Einwanderungs-Behörden aus dem Jahre 1944 zu finden ist, denen gegenüber sich Furtwängler im Rahmen seiner Einwanderungsbemühungen in die Schweiz auch unerwartet „über sein Verhältnis zum heutigen Deutschland“ äußerte. „Er sei“, so liest man dort, „von der Schweizer Presse zu Unrecht als Nazi dargestellt worden“, zugleich wies er hin auf seinen Einsatz für den im „Dritten Reich“ verbotenen Paul Hindemith, was ihm 1934 alle seine Ämter und Stellungen gekostet habe. Seine Entscheidung, dennoch in Deutschland zu bleiben und dort von 1935 an wieder zu arbeiten, begründete Furtwängler mit seiner „ganz apolitischen Haltung“ sowie der Behauptung, er habe geglaubt, „als Deutscher nicht das Recht“ zu haben, „sich außerhalb seiner Volksgemeinschaft zu stellen, auch wenn ihm persönlich das Regime nicht angenehm sei“. „Natürlich“ habe er jedoch „keinen Mendelssohn aufführen können...“68 67 „Der Abwendung vom Ausdrucksprinzip entspricht die Abwendung von der Chromatik, also die Hinwendung zur Diatonik und [...] die Ausbildung der Methode mit Tonreihen zu komponieren, die u.a. auch den Zweck hat, den Vorrat der chromatischen Skala zu strukturieren und so das Moment des Amorphen, Gleitenden zu tilgen. Chromatik, vor allem eine durch Chromatismen gewürzte tonale Harmonik, wird stets als ausdrucksvoll empfunden, selbst dann, wenn sie es (nachweisbar), wie so oft bei Reger, nicht ist. Dies hat Schreker bereits vor dem Ersten Weltkrieg bemerkt. Der Abwendung vom Ausdrucksprinzip, die grundsätzlich in den Zwanzigerjahren erfolge, entspricht ein Funktionswechsel. Viele der neuen Werke, namentlich der damals jungen Komponisten, sind nicht primär für den Konzertsaal bestimmt, sondern eher für die Kirche, für die Schule, für den Unterricht [...]“ – Rudolf Stephan: Zur Musik der Dreißigerjahre. In: Bericht über den Internationalen musikwissenschaftlichen Kongress Bayreuth 1981. Hrsg. von Chr.-Hellmuth Mahling und S. Wiesmann. Kassel 1984. S. 145f. 68 Alexis Schwarzenbach: Emigrant der allerletzten Stunde. In: Die Zeit Nr. 42 vom 7. Oktober 2004.