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Zwischen „Monarchischer Union von Ständestaaten“ und Gesamtstaat. Die Habsburgermonarchie im 18. und 19. Jahrhundert. Published by Österreichverlag

Martin P. Schennach (Hrsg) Rechtshistorische Aspekte des österreichischen Föderalismus Beiträge zur Tagung an der Universität Innsbruck am 28. und 29. November 2013 2015 Sammelband Monografie Martin P. Schennach (Hrsg) Institut für Römisches Recht und Rechtsgeschichte, Universität Innsbruck Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, arenbezeichnungen usw. in diesem Buch berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Produkthaftung: Sämtliche Angaben in diesem Fachbuch/wissenschaftlichen Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung und Kontrolle ohne Gewähr. Eine Haftung des Herausgebers oder des Verlages aus dem Inhalt dieses Werkes ist ausgeschlossen. Diese Publikation wurde mit finanzieller Unterstützung aus den Fördermitteln des Vizerektorats für Forschung der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, des Landes Tirol, Abteilung Kultur, sowie des Landes Vorarlberg, Abteilung Kultur, gedruckt. © 2015 Verlag Österreich GmbH, Wien www.verlagoesterreich.at Gedruckt in Deutschland Satz: Exakta Satzstudio GmbH, 1180 Wien, Österreich Druck: Strauss GmbH, 69509 Mörlenbach, Deutschland Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7046-6949-0 Verlag Österreich Zwischen „Monarchischer Union von Ständestaaten“ und Gesamtstaat. Die Habsburgermonarchie im 18. und 19. Jahrhundert Karin Schneider, Innsbruck Gliederung I. Die Institutionalisierung eines gemeinsamen Landesfürsten: Die Pragmatische Sanktion 1713 II. 1804 und das Kaisertum Österreich III. 1848/49 – Neoabsolutismus und die ungarische Frage IV. Resümee Im Jahr 1867 publizierte Hermann-Ignaz Bidermann den ersten Band seiner umfassenden Untersuchung zur österreichischen Gesamtstaatsidee.1 Der Zeitpunkt der Veröffentlichung mag kein Zufall sein, bedeutete das Jahr 1867 hinsichtlich der Formierung eines österreichischen Gesamtstaats doch einen Wendepunkt in der Geschichte der Habsburgermonarchie: Der Ausgleich mit Ungarn beendete jene Epoche der österreichischen Geschichte, während welcher von einem österreichischen Gesamtstaat gesprochen werden kann.2 Für den Verfechter der Gesamtstaatsidee Bidermann war das Jahr 1867 somit ein annus horribilis. Die Idee eines österreichischen Gesamtstaats, welche der Innsbrucker Staatsrechtler bis zur Schlacht von Mohács 1526 zurückverfolgte, war endgültig Makulatur. Bidermanns Text war als politisches Manifest für die historische Legitimität des Gesamtstaats ausgelegt. Erst 1865 hatte er mit den Recherchen zu dem auf drei Bände angelegten materialreichen Werk begonnen, um die Notwendigkeit einer 1 Hermann Ignaz Bidermann, Geschichte der österreichischen Gesammt-StaatsIdee 1526–1804, 2 Bde., Innsbruck 1867 und 1889. 2 Vgl. Otto Brunner, Das Haus Österreich und die Donaumonarchie, in: Hellmuth Rössler (Hg.), Festgabe dargebracht Harold Steinacker zur Vollendung des 80. Lebensjahres, München 1955, 122–144, hier 124. 31 Karin Schneider weiteren Umsetzung der gesamtstaatlichen administrativen und verfassungsrechtlichen Einrichtungen zu betonen. Wie er in der Einleitung zum ersten Band darlegte, war es das Ziel des Werkes „zu zeigen, seit w ie la nge d ie öster reich ische Gesa m mt st a at sidee schon i n der D u rch f ü h r u ng beg r i f fen , w ie a lt sie da her zu m m i ndesten ist , ferner mit welchen H i nder n issen ihre Durchführung jeweils zu kämpfen hatte, und welch ’ ei n Rück sch r it t es wäre, wenn diese Idee dermalen, wo sie trotz aller Hindernisse der Ausführung so nahe gerückt ist, aufgegeben werden wol lte oder nicht weiter mehr durchgeführt werden kön nte.“3 Die politischen Realitäten der Doppelmonarchie bremsten allerdings den Ehrgeiz Bidermanns, so dass der zweite Band, der die Jahre zwischen 1705 und 1740 umfasst, erst 1889 erschien. Ist das Vorwort des ersten Teils noch von Optimismus und einer politischen Mission erfüllt, verraten die einleitenden Worte des zweiten Bandes die pessimistische Einstellung des Autors. Nur widerwillig habe er sich der Ausarbeitung des Materials gewidmet, führt Bidermann hier aus: „Denn in einer Zeit, wo die österr. Gesammtstaatsidee ihrer Verwirklichung ferner als je steht; wo das Interesse an ihr fast nur in militärischen Kreisen noch sich rege erhält, – gehört Selbstverleugnung dazu, um nicht bei einer Arbeit zu erlahmen, die mit solch’ trüben Betrachtungen verbunden ist.“4 Nach der Publikation des zweiten Bandes brachte Bidermann keine Selbstverleugnung mehr auf – zur Drucklegung des letzten Bandes, der die Jahrzehnte zwischen 1741 und 1804 abdecken sollte, kam es nicht mehr. Bidermann, aber noch weitere deutschsprachige Staatsrechtler und Historiker des 19. Jahrhunderts, haben mit ihren Schriften die Problematiken und Vorstellungen eines österreichischen Gesamtstaates geprägt.5 Die lose, auf die Dynastie ausgerichtete Herrschaftsstruktur der Habsburgermonarchie hatte im Mittelalter und der Frühen Neuzeit zwei Mal zur Aufteilung der Erblande zwischen einzelnen Zweigen der Habsburger geführt. Erst 1665 war mit dem Tod von Sigismund Franz die Tiroler Linie des Hauses erloschen, so dass wieder alle habsburgischen Gebiete unter einem Souverän, Kaiser Leopold I., vereint waren. Doch 3 Bidermann, Gesammt-Staats-Idee, Bd. 1 (wie Anm. 1), I. Hervorhebung im Druck. 4 Ebd., Bd. 2, IV. 5 Vgl. z. B. Arnold Winkler, Studien über Gesamtstaatsidee, Pragmatische Sanktion und Nationalitätenfrage im Majorat Oesterreich (Die Grundlagen der Habsburger Monarchie), Leipzig / Wien 1915. Friedrich Tezner, Der Kaiser, Wien 1909. Ders., Wandlungen der österreichisch-ungarischen Reichsidee. Ihr Inhalt und ihre politische Notwendigkeit, Wien 1905. Josef Redlich, Das österreichische Staats- und Reichsproblem. Geschichtliche Darstellung der inneren Politik der habsburgischen Monarchie von 1848 bis zum Untergang des Reiches, 2 Bde., Leipzig 1920 und 1926. 32 Zwischen „Monarchischer Union von Ständestaaten“ und Gesamtstaat auch Leopold I. herrschte über eine – nach dem Diktum Otto Brunners – „monarchische Union von Ständestaaten“,6 die nur durch den gemeinsamen Herrscher miteinander verbunden waren. Das Verhältnis der einzelnen Länder zum Herrscher basierte auf jeweils eigenen historischen Spezifika und Verfassungen; sie verfügten über individuelle historische Rechte und Vertretungen – die Stände –, eigene Zeremonien, um diesen Rechten Geltung zu verschaffen sowie über charakteristische Herrschaftssymbole. Die Habsburger herrschten – so kann zusammenfassend festgehalten werden – in der Frühen Neuzeit über ein rechtlich und politisch überaus heterogenes Konglomerat von Territorien, in welchen bis ins 18. Jahrhundert die Begriffe „Österreich“ und „österreichisch“ vielschichtig konnotiert waren.7 Zudem war die Habsburgermonarchie eingebunden in größere Organisationsformen. Bis 1806 gehörte ein Teil der habsburgischen Territorien zum Gebiet des Heiligen römischen Reichs deutscher Nation; zwischen 1815 und 1866 war das Kaisertum Österreich Mitglied und Präsidialmacht des Deutschen Bundes. Gleichwohl gab es in der Frühen Neuzeit, aber auch im 19. Jahrhundert, immer wieder Ansätze und Initiativen zur Förderung des Zusammenhalts der habsburgischen Länder insbesondere auf administrativer,8 verfassungsrechtlicher und dynastischer Ebene. Die Anstöße zu den Verfassungsreformen waren allerdings nicht das Resultat genuiner Bestrebungen des Wiener Hofes – die Ursachen für zentrale Schritte zur Schaf- 6 Brunner, Haus Österreich (wie Anm. 2), 126. Ders., Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, Wien / Wiesbaden 51965, 447: „Die Monarchie [des Hauses Habsburg] erweist sich als eine monarchische Union ihrer Königreiche und Länder, die jede für sich Ständestaaten waren.“ 7 Grete Klingenstein, Was bedeuten „Österreich“ und „österreichisch“ im 18. Jahrhundert? Eine begriffsgeschichtliche Studie, in: Richard G. Plaschka / Gerald Stourzh / Jan Paul Niederkorn (Hg.), Was heißt Österreich? Inhalt und Umfang des Österreichbegriffs vom 10. Jahrhundert bis heute (Archiv für österreichische Geschichte 136), Wien 1995, 150–220. 8 Die verschiedenen Verwaltungsreformen in der österreichischen Monarchie bleiben in der Darstellung weitgehend ausgeklammert. Zur Relevanz der Verwaltung für die Staatsbildung vgl. z. B. Waltraud Heindl, Was ist Reform. Überlegungen zum Verhältnis von Bürokratie, Staat und Gesellschaft in Österreich, in: Helmut Rumpler (Hg.), Innere Staatsbildung und gesellschaftliche Modernisierung in Österreich und Deutschland 1867/71 bis 1914, Wien / München 1991, 166–175. Dies., Gehorsame Rebellen/Josephinische Mandarine. Bürokratie und Beamte in Österreich, Bd. 1: 1740–1848 (Studien zu Politik und Verwaltung 36), Wien / Köln / Graz 22013; Bd. 2: 1848 –1914 (Studien zu Politik und Verwaltung 107), Wien / Köln / Graz 2013; Michael Hochedlinger, Thomas Winkelbauer (Hg.), Herrschaftsverdichtung, Staatsbildung, Bürokratisierung. Verfassungsund Verwaltungsgeschichte der Frühen Neuzeit (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 57), Wien 2010. 33 Karin Schneider fung eines österreichischen Gesamtstaats sind vielmehr in äußeren Umständen und Zwangslagen wie etwa Kriegen oder dem Absterben von habsburgischen Familienzweigen zu suchen. I. Die Institutionalisierung eines gemeinsamen Landesfürsten: Die Pragmatische Sanktion 1713 Die Pragmatische Sanktion von 1713 gilt als zentrales Grundgesetz der Habsburgermonarchie.9 Sie sollte nicht nur die Erbfolge innerhalb der Dynastie regeln, sondern in weiterer Folge Erbteilungen verhindern, um die einzelnen Länder unter einem gemeinsamen Monarchen zu vereinen.10 Sie machte „die Monarchia Austriaca zu einem geschlossenen Territorialstaat in Mitteleuropa […] und [band sie] effektiver in das politische System Europas“ ein.11 Seit dem Aussterben der Tiroler Linie im Jahr 1665 regierte Leopold I. als einziger Souverän über alle habsburgischen Länder. Kurz vor seinem Tod sah er sich erneut mit dynastischen Erbfragen konfrontiert, als gegen Ende des 17. Jahrhunderts immer deutlicher wurde, dass das Erlöschen der spanischen Linie der Habsburger mit dem Tod des kinderlosen Karl II. bevorstand. Dessen Ableben im Jahr 1700 war das Signal für den Beginn des Spanischen Erbfolgekriegs, bei welchem sowohl Frankreich als auch Österreich versuchten, ihre Ansprüche auf den Thron in Madrid durchzusetzen.12 Leopold I. designierte seinen jüngeren Sohn Karl für die Würde des spanischen Souveräns; dieser sollte als Karl III. auf der Iberischen Halbinsel herrschen. Im Zusammenhang mit dieser erneuten Teilung des Hauses Habsburg in zwei Linien, und konfrontiert mit einem Erbfolgekrieg in europäischer Dimension, erließ Leopold I. 1703 ein geheimes Hausgesetz. Konkret fixierte das Pactum mutuae successionis die Erbfolge zwischen der josephinischen und carolinischen Linie der Habsburger, indem es ein wechselseitiges Erbrecht im Mannesstamm und, subsidär, auch in der weiblichen Linie einräumte. Damit schrieb das Pactum mutuae 9 Text der Pragmatischen Sanktion abgedruckt bei Gustav Turba (Hg.), Die Pragmatische Sanktion. Authentische Texte samt Erläuterungen und Übersetzungen, Wien 1913. 10 Vgl. Hans Lentze, Die Pragmatische Sanktion und das Werden des österreichischen Staates, in: Der Donauraum. Zeitschrift des Forschungsinstituts für den Donauraum 9 (1964), 3–17. 11 Karl Vocelka, Glanz und Untergang der höfischen Welt. Repräsentation, Reform und Reaktion im habsburgischen Vielvölkerstaat (Österreichische Geschichte 1699–1815), Wien 2001, 87. 12 Vgl. ebd., 144–154. 34 Zwischen „Monarchischer Union von Ständestaaten“ und Gesamtstaat successionis bereits die wesentlichen Inhalte fest, welche 10 Jahre später in der Pragmatischen Sanktion veröffentlicht werden sollten.13 Die Ursache für die Verlautbarung der Bestimmungen des Pactum mutuae successionis in der Pragmatischen Sanktion ist in der dramatisch veränderten dynastischen Situation der Habsburger im Jahr 1713 zu suchen. Leopolds Nachfolger, Joseph I., war 1711 ohne männlichen Nachkommen verstorben, und entsprechend den Bestimmungen des Pactum hatte Karl VI. seine Nachfolge angetreten. Auch er hatte bislang keinen lebenden männlichen Nachkommen, so dass eine Offenlegung des Hausgesetzes von 1703 ratsam erschien, um Wirren nach dem Tod des letzten männlichen Habsburgers vorzubeugen.14 Zudem war im Gegensatz zu den anderen habsburgischen Territorien die weibliche Thronfolge in Ungarn nicht anerkannt. Ein 1712 in Preßburg zusammengetretener Landtag verknüpfte die Akzeptanz einer Erbtochter mit Bedingungen, welche Karl VI. nicht annehmbar erschienen. So lag es nahe, die Erbfolge vorerst nur privatrechtlich und eigenmächtig zu verändern, ohne dadurch in Konflikt mit dem Ungarischen Staatsrecht zu treten.15 1720 wurden die Bestimmungen der Pragmatischen Sanktion den Landtagen16 der habsburgischen Territorien zur Bestätigung vorgelegt. Die erbrechtlichen Bestimmungen wurden sowohl durch die Länder als auch durch die europäische Staatenwelt anerkannt.17 In ihrer Konsequenz regelte die Pragmatische Sanktion nicht nur die Erbfolge innerhalb der Herrscherdynastie. Durch den Umstand, dass sie die Erbfolge für alle habsburgischen Länder auf dieselbe Art und Weise regelte, war eine Teilung in verschiedene Linien nicht mehr möglich – ein habsburgischer Landesfürst regierte entsprechend den Bestimmungen der Pragmatischen Sanktion in allen Erbländern.18 Damit befestigte die 13 Wilhelm Brauneder, Die Pragmatische Sanktion als Grundgesetz der Monarchia Austriaca von 1713 bis 1918, in: Ders., Studien I: Entwicklung des Öffentlichen Rechts, Frankfurt a. M. / Berlin / Bern u. a. 1994, 85–116, hier 90–93. Rudolf Hoke, Österreichische und Deutsche Rechtsgeschichte, Wien / Köln / Weimar 2 1992, 224–225. 14 Brauneder, Pragmatische Sanktion (wie Anm. 13), 93–95. Hoke, Rechtsgeschichte (wie Anm. 13), 226. 15 Ebd. 16 Ausgenommen die Landtage von Ungarn, Kroatien, Slawoniens und Dalmatiens. Kroatien, Slawonien und Dalmatien hatten bereits 1712 die weibliche Thronfolge anerkannt; nach Verhandlungen akzeptierte schließlich Ungarn 1722/23 die Bestimmungen der Pragmatischen Sanktion betreffend die Erbfolge in einem eigenen Gesetzesartikel; vgl. Hoke, Rechtsgeschichte (wie Anm. 13), 225–227. Brauneder, Pragmatische Sanktion (wie Anm. 13), 100–101. 17 Vocelka, Glanz und Untergang (wie Anm. 11), 87, 164. 18 Brauneder, Pragmatische Sanktion (wie Anm. 13), 107–108. Befestigt wurde die Verbindung der habsburgischen Länder zudem durch gemeinsame Angelegenheiten, v. a. die Landesverteidigung; vgl. ebd., 108. 35 Karin Schneider Pragmatische Sanktion die Verbindung zwischen den einzelnen Ländern, die seit den testamentarischen Verfügungen Ferdinands II. aus dem 17. Jahrhundert als „indivisibiliter ac inseperabiliter“ galten.19 Die Pragmatische Sanktion griff allerdings nicht in die historischen Rechte der Länder ein – sie definierte ausschließlich das Verhältnis der Länder zum Landesfürsten über die Regelung der Erbfolge, doch blieben die Verhältnisse zwischen den Ländern selbst unangetastet. Die Habsburger regierten weiterhin über eine Union von Ständestaaten.20 Dennoch galt die Pragmatische Sanktion bis zum Ende Österreich-Ungarns als Grundgesetz der Habsburgermonarchie. II. 1804 und das Kaisertum Österreich Auf Verfassungsebene fanden im 18. Jahrhundert keine weiteren Maßnahmen zur Unifizierung der habsburgischen Länder statt. Erst die Französische Revolution und in der Folge Napoleon und seine Reichspolitik gaben den Anstoß zu weiteren Schritten, um den Zusammenhalt der Länder über den dynastischen Aspekt hinaus zu stärken. Im Vordergrund der Reformen stand 1804 allerdings nicht die Schaffung eines Gesamtstaats, sondern die Sicherung des Ranges der Habsburger unter den europäischen Monarchen. Der Rangerhalt war das erste Ziel und der Zweck der Maßnahmen, welche hinter der Annahme des österreichischen Kaisertitels standen.21 Das Alte Reich stand 1804 nach den kriegsbedingten Territorialverlusten sowie den folgenden Säkularisationen und Mediatisierungen des Reichsdeputationshauptschlusses an einem Wendepunkt. Nicht nur die Rechts- und Besitzverhältnisse im Reich waren radikal neu geregelt worden – tatsächlich bedeutete der Reichsdeputationshauptschluss einen Bruch der traditionellen Reichsverfassung und leitete das Ende des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation ein.22 19 Hoke, Rechtsgeschichte (wie Anm. 13), 227. 20 Brauneder, Pragmatische Sanktion (wie Anm. 13), 109. 21 Helmut Rumpler, Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie (Österreichische Geschichte 1804– 1914), Wien 22005, 58. Gottfried Mraz, Österreich und das Reich 1804–1806. Ende und Vollstreckung, Wien 1993, 32. Vgl. auch Heinrich von Srbik, Das Österreichische Kaisertum und das Ende des Heiligen Römischen Reiches 1804– 1806 (Einzelschriften zur Politik und Geschichte), Berlin 1927. 22 Brigitte Mazohl-Wallnig, Zeitenwende 1806. Das Heilige Römische Reich und die Geburt des modernen Europa, Wien / Köln / Weimar 2005, 248. Hoke, Rechtsgeschichte (wie Anm. 13), 282–287. Barbara Stollberg-Rilinger, Das Heilige römische Reich deutscher Nation. Vom Ende des Mittelalters bis 1806, München 32007, 114. 36 Zwischen „Monarchischer Union von Ständestaaten“ und Gesamtstaat Durch den Reichsdeputationshauptschluss war auch die Zahl der Kurfürsten auf zehn angewachsen: vier katholischen standen sechs protestantische Kurfürsten gegenüber.23 Ob es unter diesen Voraussetzungen gelingen würde, der katholischen Habsburgerdynastie in Zukunft die Stimmenmehrheit und damit die Kaiserwürde zu sichern, erschien mehr als fraglich.24 Napoleon selbst zeigte um 1804 zunehmend die Neigung, in die Fußstapfen Karls des Großen zu treten. Am 18. Mai 1804 ließ er sich durch Senatsbeschluss zum Kaiser der Franzosen erklären. Am 7. September 1804 besuchte er das Grab Karls des Großen in Aachen. Am 2. Dezember 1804 krönte er sich in Notre Dame in Paris in Anwesenheit des Papstes selbst zum Kaiser. Der Gedanke einer Frankreich und Deutschland vereinigenden Universalmonarchie unter der Herrschaft Napoleons lag daher nahe.25 Angesichts dieser Entwicklungen im Reich und in Frankreich sah man sich in Wien zum Handeln genötigt. Es galt, der habsburgischen Dynastie einen Kaisertitel zu sichern und so ihren Rang unter den Monarchen Europas zu gewährleisten. Pläne, den römisch-deutschen Kaisertitel in eine erbliche Würde umzuwandeln, erwiesen sich als nicht realistisch und nicht zielführend – zu sehr hatte die Struktur des Alten Reichs unter den Geschehnissen der Revolutions- und Napoleonischen Kriege gelitten. Als Alternative ventilierte der leitende Minister Ludwig Graf Cobenzl die Schaffung eines erblichen österreichischen Kaisertitels auf der Basis der österreichischen Erbländer. Schließlich, so argumentierte man in Wien, verfügten die habsburgischen Territorien durch Privilegien – etwa das privilegium maius – über beinahe vollkommene Unabhängigkeit vom Reich.26 Als Vorbilder dienten Peter I. von Russland, der aus eigener Machtvollkommenheit den Zarentitel angenommen hatte, sowie Napoleon selbst.27 Mit Datum vom 11. August 1804 nahm Kaiser Franz II. als Franz I. den Titel eines Kaisers von Österreich an.28 Durch diesen Akt wurde die Integration der unterschiedlichen habsburgischen Herrschaftstitel unter einen kaiserlichen Monarchen, welche in der Pragmatischen Sanktion grundgelegt worden war, allerdings nur vordergründig vorangetrieben. Ein Staatsgebilde mit Namen „Kaisertum Österreich“ findet in der Pragmatikalverordnung vom 11. August 1804 23 Hoke, Rechtsgeschichte (wie Anm. 13), 286. Mazohl-Wallnig, Zeitenwende (wie Anm. 22), 250. 24 Mraz, Österreich und das Reich (wie Anm. 21), 32. 25 Mazohl-Wallnig, Zeitenwende (wie Anm. 22), 251–252. Rumpler, Chance (wie Anm. 21), 57–58. 26 Mraz, Österreich und das Reich (wie Anm. 21), 33. 27 Ebd. 28 Abgedruckt z. B. bei Otto Posse (Hg.), Die Siegel der deutschen Kaiser und Könige, Bd. 5, Dresden 1913, 249–260. 37 Karin Schneider nämlich keine Erwähnung. In Artikel drei werden hingegen die herkömmlichen Rechte, Verfassungen und Prärogativen der einzelnen Länder ausdrücklich bestätigt. Diese 1804 versäumte verfassungsrechtliche Integration leistete wenige Jahre später auf verbaler Ebene das Hofkanzlei-Dekret vom 12. März 1813: Damit wurde die Titulatur des Kaisers von Österreichs und seines Herrschaftsgebiets in der Art abgewandelt, dass der Aspekt der Erblichkeit, der im Patent von 1804 noch vorrangig gewesen war, zugunsten der Betonung des Gesamtstaats zurückgedrängt wurde. Anstelle der Worte „Erbkaiser, Erbstaaten, Erblande, erbländisch“ etc. mussten in Zukunft die Ausrücke „Kaiser von Oesterreich, Oesterreichischer Kaiserstaat“ verwendet werden.29 Nicht mehr in der Erblichkeit des Kaisertitels und damit im Kontrast zum Wahlkaisertum des Alten Reichs lag die besondere Bedeutung dieser Bezeichnung. Durch die Subsummierung der Erbländer bzw. Erbstaaten unter einen „Österreichischer Kaiserstaat“ wurde vielmehr die Vereinheitlichung des Herrschaftsgebiets auf symbolischer Ebene vorangetrieben. Die Annahme der Österreichischen Kaiserwürde, und noch mehr das Ende des Alten Reichs, gaben Anlass, über grundlegende Reformen und Zentralisierungen im österreichischen Staatswesens nachzudenken. Die Brüder des Kaisers, Erzherzog Carl, Erzherzog Rainer und Erzherzog Johann, legten mehrere Denkschriften vor, welche etwa die Sanierung des Finanz- und Kreditwesens, die Reform des Hofkriegsrats oder die Schwächen des Österreichischen Staatswesens an sich zum Thema machten.30 Auch die leitenden Minister wie Johann Philipp Graf Stadion31 oder Clemens Wenzel Fürst Metternich erarbeiteten Memoranden, welche auf eine Stärkung der Habsburgermonarchie abzielten. Die meisten dieser politischen und administrativen Reformprojekte wurden allerdings nicht oder nur unvollständig umgesetzt. So ventilierte Metternich 1817 etwa ein Projekt, das Kaisertum Österreich verwaltungsmäßig in Ländergruppen aufzuteilen und so historische Länder miteinander zu verschmelzen.32 Praktischere Relevanz besaß allerdings nur das „Königreich Illyrien“, zu welchem Kärnten, Krain, 29 Politische Gesetze und Verordnungen für die Österreichischen, Böhmischen und Galizischen Erbländern 40, 1813, Wien 1815, 40–41. 30 Vgl. Eduard Wertheimer, Geschichte Österreichs und Ungarns im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, 2 Bde., Leipzig 1884 und 1890, hier Bd. 2, 1–5, 21, 55–56. Franz Xaver von Krones, Zur Geschichte Österreichs im Zeitalter der französischen Kriege und der Restauration, 1792–1816, Gotha 1886, 69–72. 31 Vgl. Wertheimer, Geschichte Österreichs (wie Anm. 30), Bd. 2, 146. Hellmuth Rössler, Österreichs Kampf um Deutschlands Befreiung. Die deutsche Politik der nationalen Führer Österreichs 1805–1815, 2 Bde., Hamburg 1940, hier Bd. 1, 190. 32 Dietrichstein am Metternich, dat. 27. Oktober 1814, und Vortrag des Fürsten Metternich an Kaiser Franz, dat. 27. Oktober 1817. Abgedruckt in Arthur G. Haas, Metternich, Reorganization and Nationality 1813–1818. A Story of Fore- 38 Zwischen „Monarchischer Union von Ständestaaten“ und Gesamtstaat Görz und Triest zwischen 1814 und 1849 zusammengefasst wurden. Dieser Prozess wurde allerdings nicht konsequent vorangetrieben. Projekten wie dem Königreich Illyrien standen andere Maßnahmen gegenüber, welche das politische Selbstverständnis der Länder stärkten. In diesem Zusammenhang sind insbesondere die Landesverfassungen zu nennen, welche jenen Gebieten zugesichert wurden, die während der Napoleonischen Kriege vorübergehend abgetreten worden waren. Da die neuen Herrscher die traditionellen Verfassungsstrukturen aufgebrochen hatten, schien dem Wiener Hof eine Neuregelung der Verhältnisse notwendig. 1816 etwa erhielt Tirol eine eigene Landesverfassung, die vom Kaiser aus eigener Machtvollkommenheit erlassen worden war. Verfassungen für Galizien und Krain traten 1817 und 1818 in Kraft. Die Hoffnungen Vorarlbergs und Salzburgs auf ein ähnliches Dokument erfüllten sich allerdings nicht.33 Der 1804 neu angenommene Kaisertitel bedurfte einer Legitimierung, die über die formale Anerkennung durch die europäischen Staaten hinausging. Auf symbolischer Ebene geschah dies nach dem Ende des Alten Reichs 1806 durch die Verschmelzung der österreichischen mit der römisch-deutschen Kaiserwürde, wodurch das neue Kaisertum mit der Patina und den Traditionen des Alten Reichs unterlegt wurde. Diese Amalgamierung betraf die Reichskleinodien, Reservatsrechte des römischdeutschen Kaisers, dingliche Überreste des Alten Reichs oder zeremonielle Aspekte. Auch im Bereich der Heraldik kam es zur Übernahme von Gestaltungselementen: Das Kaiserwappen des Jahres 1804 zeigt den römischen Kaiseradler mit Nimbus im Hintergrund. Er umschließt den österreichischen Doppeladler mit Kronen. Dieser hält als Herzschild den Bindenschild und ist von den Wappen der habsburgischen Herrschaftsterritorien umgeben. Die Reichskrone prangt oberhalb der österreichischen Hauskrone. Als im Jahr 1806 die Niederlegung der Reichskrone erfolgte, wurden Struktur und Aufbau des vormaligen Wappens beinahe ununterscheidbar übernommen. Schließlich war, wie Außenminister Stadion in diesem Zusammenhang meinte, der zweyköpfige Adler nach den angenommenen heraldischen Begriffen immer das Symbol kaiser[licher] Würde.34 Der große Doppeladler trägt nun im Gegensatz zum Wappen von 1804 Kronen anstelle der Scheine. Reichsapfel und Reichsschwert hingegen wursight and Frustration in the Rebuilding of the Austrian Empire (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 28), Wiesbaden 1963, 176–179. 33 Hoke, Rechtsgeschichte (wie Anm. 13), 311–312. 34 HHStA, ZA-Prot 41. (1806), fol. 60v: Note von Außenminister Johann Philipp Graf Stadion an Obersthofmeister Georg Adam Fürst Starhemberg, dat. 7. August 1806. 39 Karin Schneider den ebenso wie die Collane des Ordens vom Goldenen Vlies beibehalten. Die größten Änderungen finden sich im Herzschild. Statt des zuvor dort platzierten Doppeladlers ist hier ein eigenes Wappenbild für den Gesamtkomplex des Kaisertums Österreich angebracht: Der Bindenschild in der Mitte steht für das Erb- und Stammland Österreich. Heraldisch links davon befinden sich die gestümmelten silbernen Adler auf rotem Schrägbalken für das Haus Lothringen, heraldisch rechts das alte habsburgische Wappen mit dem roten, blau gekrönten Löwen auf goldenem Grund. Überhöht wird das Wappen von der habsburgischen Hauskrone, die Franz I. zur österreichischen Kaiserkrone erklärt hatte.35 Reichsschwert und Reichsapfel wurden freilich nicht nur auf heraldischer Ebene in das Kaisertum Österreich integriert. Die Übernahme der Reichskleinodien wurde auch im materiellen Sinn durchgeführt. Aufgrund von Privilegien Kaiser Sigismunds aus dem 15. Jahrhundert waren diese traditionell in Nürnberg und Aachen verwahrt worden. Als die französischen Truppen in das Rheinland vordrangen, schienen die Symbole kaiserlicher Dignität in diesen exponierten Städten nicht mehr sicher und wurden erst nach Paderborn, dann nach Regensburg und 1800 dann auf Anweisung von Kaiser Franz nach Wien verbracht. Wenige Tage nach der Niederlegung der römisch-deutschen Kaiserkrone durch Kaiser Franz im August 1806 fragte die Stadt Nürnberg an, unter welchen Modalitäten die Reichskleinodien retourniert würden. In Wien verhielt man sich dieser Anfrage gegenüber ablehnend – die österreichischen Vertreter argumentierten, dass Nürnberg nun ja keine Reichsstadt mehr sei und der österreichische Kaiser das Privileg zur Aufbewahrung der Insignien daher als erloschen betrachte. Aus Wiener Sicht hatte der österreichische Kaiser offenbar die Möglichkeit, vom römisch-deutschen Kaiser erlassene Freiheiten und Rechte zu ändern – eine Rechtsauffassung, der sich Nürnberg und Aachen allerdings nicht anschlossen. Beide Städte versuchten in den folgenden Jahren und Jahrzehnten entweder selbständig oder mit Hilfe der bayerischen Regierung, aber letztlich erfolglos, die Reichskleinodien wieder an ihren althergebrachten Aufenthaltsort zurückzubringen.36 Ähnlich wie die Reichskleinodien aus österreichischer Perspektive zum persönlichen Eigentum des Herrschers zählten, galten auch Reichs35 Vgl. Brigitte Mazohl / Karin Schneider, „Translatio imperii“? Reichsidee und Kaisermythos in der Habsburgermonarchie, in: Matthias Asche / Thomas Nicklas / Matthias Stickler (Koord.), Was vom Alten Reiche blieb … Deutungen, Institutionen und Bilder des frühneuzeitlichen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im 19. und 20. Jahrhundert, München 2011, 101–128, hier 110– 114. Zur österreichischen Kaiserkrone vgl. Hermann Fillitz, Die österreichische Kaiserkrone und die Insignien des Kaisertums Österreichs (Die Kronen des Hauses Österreich 19, Wien / München 21959. 36 Mazohl, Schneider, Translatio imperii (wie Anm. 35), 110–114. 40 Zwischen „Monarchischer Union von Ständestaaten“ und Gesamtstaat gebäude – sofern sie auf österreichischem Gebiet lagen – als kaiserlicher Besitz. In seinem Gutachten über die Besitzverhältnisse des Reichskanzleitrakts der Hofburg kam Obersthofmeister Georg Adam Fürst Starhemberg zu dem Schluss, dass der Kaiser Eigentümer des Gebäudes sei. Schließlich sei es auf österreichischem Boden aufgeführt und könne ohnehin nur als ein geringer Ersatz für jene Mittel gelten, die das Haus Österreich zur Bestreitung der Regierungskosten im Alten Reich getragen habe. Darüber hinaus existiere nach der Auflösung des Reichs kein Rechtsnachfolger, der Ansprüche auf das Gebäude geltend machen könnte. Zudem hätte bereits Maria Theresia während der Regierungszeit von Kaiser Karl VII., der bekanntlich ein Wittelsbacher gewesen war, die Wohnung des Reichsvizekanzlers eingezogen und wäre somit als Eigentümerin aufgetreten.37 Das Phänomen der Übertragung von Versatzstücken des Alten Reichs auf das Kaisertum Österreich geht Hand in Hand mit der Verdrängung desselben aus der Geschichte der Habsburgermonarchie, welche nun verstärkt auf die Person des Herrschers und die Erblande ausgerichtet wurde. Die dynastische Geschichtsschreibung erfuhr im Vormärz eine neue Blüte. Exemplarisch sei auf den Beitrag über die Geschichte des Kaisertums Österreich in der Österreichischen National-Encyclopädie verwiesen: Der Text geht vom Erzherzogtum unter der Enns – dem späteren Niederösterreich – aus und berichtet im Wesentlichen über die Gebietserwerbungen erst der Babenberger, später der Habsburger – freilich stets unter weitgehendem Ausschluss des Alten Reichs.38 Der Österreichische Kaisertitel war, so kann mit Helmut Rumpler zusammengefasst werden, keineswegs die „symbolische Krönung des langen Weges zur Verwirklichung des Gesamtstaatsgedankens“.39 Die Verfassungsrealitäten der einzelnen Länder wurden 1804 ebenso wenig angetastet wie das Verhältnis der habsburgischen Erbländer zum Alten Reich. Österreich blieb ein Teil des Reichs, und die österreichischen Erbländer blieben weiterhin eine „monarchische Union von Ständestaaten“. 1806 war diese Konsequenz zumindest für Johann Philipp Graf Stadion noch nicht deutlich. In einem Vortrag vom September dieses Jahres führte er nämlich aus: „Es sey […] bei Einführung der österreichischen Kaiserwürde der doppelte Zweck vor Augen gewesen, für den äußeren Glanz 37 HHStA, ZA-Prot. 41 (1806), fol. 5r–65v: Vortrag (Abschrift) von Obersthofmeister Georg Adam Fürst Starhemberg betreffend das Concertationsprotokoll über die nach abgelegter römischer Kaiserwürde sich ergebenden Veränderungen, dat. Wien 27. August 1806. Mazohl / Schneider, Reichsidee und Kaisermythos (wie Anm. 35), 116–117. 38 Franz Gräffer / Johann Jakob Czikann, Österreichische National-Encyclopädie oder alphabetische Darlegung der wissenswürdigsten Eigenthümlichkeiten des österreichischen Kaiserthumes, 7 Bde., Wien 1835–1838, hier Bd. 2, 323–331. 39 Rumpler, Chance (wie Anm. 21), 59. 41 Karin Schneider dieses allerd[urchlauchtigsten] Hauses zu sorgen, nebstbei aber eine neue, allen Erbstaaten gemeinschaftliche, staatsrechtliche Beziehung, einen Vereinigungspunkt und ein Symbol der Freiheit aufzustellen, woran es bis dahin gefehlt hatte.“40 Diese „staatsrechtliche Beziehung“ beschränkte sich faktisch allerdings auf einen Herrschaftstitel, der den gesamten habsburgischen Länderkomplex inklusive Ungarn zusammenfasste. So berichtete der preußische Gesandte Knesebeck 1809 auch an Friedrich Wilhelm III.: „Die fremdartigen Theile, aus denen [die österreichische Monarchie] zusammengesetzt ist, machen immer noch kein Ganzes, das unter einer Einheit lebt und über welches der Kayser Herr wäre. [Die einzelnen Länder haben ein so] verschiedenartiges Interesse […], über welches der Kayser nur mehr oder minder Herr ist, nachdem die Constitution der einzelnen Staaten solches zuläßt. Dreist aber kann man sagen, daß er in Ungarn es noch gar nicht [ist].“41 Damit sprach der preußische Diplomat eine Frage an, welche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert virulent wurde. III. 1848/49 – Neoabsolutismus und die ungarische Frage Die Verfassungsurkunden der Jahre 1848 und 1849 zeigen die Unsicherheit der österreichischen Behörden hinsichtlich ihres Geltungsbereichs.42 So erstreckte sich die „Verfassung des österreichischen Kaiserstaates“ vom 25. April 1848, die so genannte „Pillersdorfsche Verfassung“, nicht auf die Gebiete der Stephanskrone, sondern nur auf die in § 2 taxativ aufgezählten Länder.43 Dieselbe Regelung findet sich im Verfassungsentwurf von Kremsier.44 Anders das kaiserliche Patent vom 4. März 1849, die 40 Vortrag Johann Philipp Graf Stadions vom 6. September 1806, zit. nach Wertheimer, Geschichte Österreichs (wie Anm. 30), Bd. 2, 58. 41 Bericht Karl Friedrichs von dem Knesebeck von 1809, zit. nach ebd., 102–103. 42 Vgl. Wilhelm Brauneder, Repräsentation und Gesamtstaatsidee in Österreich 1848–1849, in: Ders., Studien I: Entwicklung des Öffentlichen Rechts, Frankfurt a. M. / Berlin / Bern u. a. 1994, 117–126. 43 Auf die Königreiche Böhmen, Galizien, Lodomerien mit Auschwitz und Zator und der Bucowina, Illyrien (bestehend aus den Herzogthümern Kärnthen und Krain und dem Gubernial-Gebiete des Küstenlandes), auf das Königreich Dalmatien, auf das Erzherzogthum Oesterreich ob und unter der Enns, die Herzogthümer Salzburg, Steiermark, Ober- und Nieder-Schlesien, das Markgrafthum Mähren, die gefürstete Grafschaft Tyrol mit Vorarlberg. Vgl. Politische Gesetze und Verordnungen für sämmtliche Provinzen des Oesterreichischen Kaiserstaates, mit Ausnahme von Ungarn und Siebenbürgen 76, Wien 1851, 145–158, hier 147–148. 44 Vgl. Entwurf des österreichischen Reichstages („Kremsierer Entwurf“), online unter: http://www.verfassungen.de/at/at-18/verfassungsentwurf49-i.htm (Stand 7. August 2014). 42 Zwischen „Monarchischer Union von Ständestaaten“ und Gesamtstaat „Reichsverfassung für das Kaiserthum Oesterreich“: Diese erstreckte sich in ihrem Geltungsumfang auch auf die Länder der Stephanskrone.45 Zudem brachte diese oktroyierte Verfassung das Ende der ständischen Vertretungen in den habsburgischen Ländern, indem die herkömmlichen Landesverfassungen durch § 77 außer Kraft gesetzt wurden. Stattdessen wurden Repräsentativ-Landtage mit einem beschränkten Gesetzgebungsrecht vorgesehen, die sich auf der Basis noch zu schaffender Landesverfassungen konstituieren sollten.46 Diese wurden im Laufe der Jahre 1849 und 1850 oktroyiert, traten faktisch aber niemals in Kraft.47 Damit wurde zum einen die Zentralgewalt gestärkt, zum anderen die Bindung der Länder an die Zentralgewalt insofern verändert, als neben den Monarchen als alleinige Bezugsgröße der Reichstag als parlamentarische Versammlung trat. Freilich war diese Versammlung der monarchischen Autorität untergeordnet – der Herrscher verfügte etwa über ein Vetorecht in der Gesetzgebung sowie die exekutive Gewalt und konnte sich zudem auf einen „Notverordnungsparagraphen“ stützen. In ihrer praktischen Bedeutung blieb die Verfassung von 1849 beschränkt. Kaiser Franz Joseph setzte sie 1852 außer Kraft und versuchte, in neoabsolutistischer Manier aus dem Kaisertum Österreich einen Kaiserstaat Österreich zu formen. Die Rechte der Länder wurden außer Kraft gesetzt – sie galten fortan als Verwaltungssprengel. Die Landtage wurden nicht einberufen und die noch bestehenden Bereiche der Selbstverwaltung aufgehoben. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts offenbarte sich der Gegensatz zwischen dem Versuch der Schaffung eines zentralistischen Gesamtstaats und den autonomen Bestrebungen der inzwischen „erwachten“ Nationen der Habsburgermonarchie in aller Deutlichkeit.48 Nicht nur Böhmen, sondern insbesondere Ungarn profilierte sich in den Jahrzehnten bis zum Ausgleich 1867 (und darüber hinaus) in den Debatten um die staatsrechtliche Zugehörigkeit der Länder der Stephanskrone zur Habsburgermonarchie. Der Status der ungarischen Länder innerhalb der Habsburgermonarchie war seit 1848/49 ungeklärt: Die ungarischen Stände hatten die Be45 Allgemeines Reichs-Gesetz- und Regierungsblatt für das Kaiserthum Österreich 1849, Wien 1850, 151–165, hier 151. 46 Ebd., 160. 47 Berthold Sutter, Ernst Bruckmüller, Der Reichsrat, das Parlament der westlichen Reichshälfte Österreich-Ungarns (1861–1918), in: Ernst Bruckmüller (Hg.), Parlamentarismus in Österreich (Schriften des Institutes für Österreichkunde 64) Wien 2001, 60–109, hier 60. 48 Vgl. Robert A. Kann, Die Habsburgermonarchie und das Problem des übernationalen Staates, in: Adam Wandruszka / Peter Urbanitsch (Hg.) Verwaltung und Recht (Die Habsburgermonarchie 1848–1918 II), Wien 1975, 1–56, bes. 25–33. 43 Karin Schneider stimmungen der Pragmatischen Sanktion anerkannt und zugestimmt, dass „das Königreich Ungarn und seine angrenzenden Teile und Länder indivisibiliter ac inseparabiliter besessen werden sollten“49. Diese der ungarischen Interpretation folgende Formulierung legt die Betonung allerdings auf den „Besitz“ der Länder – „Regierung und Herrschaft“ sind nach dieser Lesart hingegen keineswegs „unteilbar und untrennbar“ mit den anderen habsburgischen Ländern verbunden. Diese Sichtweise ließen sich die ungarischen Stände auf dem Landtag von 1790/91 erneut bestätigen, indem festgestellt wurde, dass „Ungarn samt den mit demselben verbundenen Theilen ein freies Land und hinsichtlich seiner ganzen gesetzlichen Verwaltung […] unabhängig das heißt keinem anderen Reiche oder Volke unterworfen ist, sondern seinen eigenen staatlichen Bestand und seine eigene Verfassung besitzt, folglich […] nicht nach der Art der übrigen Provinzen […] zu beherrschen und zu verwalten ist.“50 Auf Basis dieser königlichen Bestätigung zielte die national-liberale Adelsvertretung Ungarns seit den 1830er Jahren auf die Schaffung eines autonomen ungarischen Staates ab, der mit den anderen Ländern der Habsburgermonarchie allein durch den Herrscher in Personalunion verbunden sein sollte.51 1835, mit der Thronbesteigung Kaiser Ferdinands I., wurde auch die Diskussion um das staatsrechtliche Verhältnis zwischen dem österreichischen Kaiser und dem König von Ungarn virulent. In diesem Zusammenhang machte Ferenc Deák erstmals deutlich, dass seines Erachtens Ungarn, anders als Böhmen oder die Lombardei, nicht Teil des österreichischen Kaiserreichs sei.52 An der ungarischen Gesetzgebung könne, so das ungarische Unterhaus weiter, nur der König von Ungarn, nicht aber der Kaiser von Österreich mitwirken, so dass der neue Herrscher auch nicht als Ferdinand I., sondern, entsprechend der herkömmlichen Zählung, als Ferdinand V. anzusprechen sei. Nach zähen Verhandlungen lenkte Wien ein – die Frage des Verhältnisses zwischen dem König von Ungarn und dem Kaiser von Österreich wurde dadurch allerdings nicht entschieden, und der erzielte Kompromiss erwies sich als brüchig. Der Konflikt flammte 1848 wieder auf, als die nach dem Ausbruch der Revolution am 17. März bestellte Regierung Batthyány die so 49 László Péter, Die Verfassungsentwicklung in Ungarn, in: Helmut Rumpler / Peter Urbanitsch (Hg.), Verfassung und Parlamentarismus, Teilband 1: Verfassungsrecht, Verfassungswirklichkeit, zentrale Repräsentativkörperschaften (Die Habsburgermonarchie 1848–1918 VII/1), Wien 2000, 239–540, hier 260. 50 Gesetzesartikel 10/1790, zit. nach Gustav Steinbach (Hg.), Die ungarischen Verfassungsgesetze, Wien 41906, 8. 51 Péter, Verfassungsentwicklung (wie Anm. 50), 262. 52 Das Dekret von 1804 bezog sich eindeutig auf sämtliche von Franz II./I. regierten „unabhängigen Königreiche und Staaten“ – somit auch auf Ungarn. Bis 1835 war das von Seiten Ungarn nicht in Frage gestellt worden. Vgl. Posse, Siegel (wie Anm. 28), 249. Péter, Verfassungsentwicklung (wie Anm. 50), 273–274. 44 Zwischen „Monarchischer Union von Ständestaaten“ und Gesamtstaat genannten „Aprilgesetze“ erließ. Das Gesetzeswerk befasste sich mit fundamentalen Fragen der ungarischen Verfassung – so etwa der Frage nach der Verbindung zwischen Ungarn und den österreichischen Ländern. Die Einheit der Kronen und die Verbindung zwischen den Ländern wurde auf Basis der Pragmatischen Sanktion grundsätzlich bejaht. Da sich diese, wie bereits erwähnt, nach ungarischer Lesart nur auf den Besitz der Länder, nicht jedoch auf die Herrschaft in denselben bezog, konnten die Aprilgesetze als Versuch zur Schaffung einer „Personalunion“ zwischen den Ländern der Stephanskrone und Österreich interpretiert werden. Nach den Siegen Feldmarschall Radetzkys in Norditalien zeigten sich die Konsequenzen der widersprüchlichen Auslegungen der Pragmatischen Sanktion: Nach der Abdankung des Palatins Erzherzog Stephan, der Auflösung der Regierung Batthyány und der Ernennung des General Jelačić zum königlichen Bevollmächtigten war eine Beilegung des Verfassungskonflikts auf friedlichem Weg nicht mehr möglich.53 Die oktroyierte Verfassung von 1849 war als „Reichsverfassung“ gedacht und bezog sich daher, wie ausgeführt, auf sämtliche Kronländer der Habsburgermonarchie, einschließlich des Königreichs Ungarn.54 § 71 hielt darüber hinaus fest, dass „die Verfassung des Königreichs Ungarn […] in so weit aufrecht erhalten [wird], daß die Bestimmungen, welche mit dieser Reichsverfassung nicht im Einklang stehen, außer Wirksamkeit treten.“55 In Ungarn tagte immer noch ein Rumpfparlament in Debreczin/ Debrecen. Dieses nahm die Promulgation der Verfassung zum Anlass, unter federführender Beteiligung von Lajos Kossuth am 19. April 1849 die Unabhängigkeit Ungarns und die Absetzung des „treulose[n] Haus[es] Habsburg-Lothringen“ zu erklären.56 Wien reagierte auf diese Erklärung mit der „Verwirkungstheorie“: Durch die Erklärung der Unabhängigkeit hätte Ungarn sämtliche Privilegien und Rechte verwirkt. Nach der Kapitulation der ungarischen Truppen bei Világos/Şiria am 13. August 1849 hob die österreichische Regierung die Komitatsverfassung auf und setzte vorläufig eine Militärverwaltung ein.57 Damit ging „der ‚König von Ungarn‘ für mehr als ein Jahrzehnt im ‚Kaiser von Österreich‘ auf“.58 Das Experiment der Gesamtmonarchie erwies sich als kurzlebig. Während der ungarische Adel wie auch die national bewusste Mittel53 54 55 56 Ebd., 274–275, 285–291. Reichs-Gesetz- und Regierungsblatt (wie Anm. 45), 151. Ebd., 159. Kossuth Lajos összes munkdi (Kossuths gesammelte Werke), XIV, 894–912, zit. nach Péter, Verfassungsgeschichte (wie Anm. 50), 292–293. 57 Rumpler, Chance (wie Anm. 21), 316–318, 329–330. 58 Péter, Verfassungsentwicklung (wie Anm. 50), 275. 45 Karin Schneider schicht vehement die Wiedereinführung der traditionellen Verfassung forderte, versuchte Wien, die administrative und rechtliche Eingliederung der Länder der Stephanskrone voranzutreiben. Nur von Seiten der nationalen Minderheiten sowie der bäuerlichen Bevölkerung konnte die österreichische Regierung auf Unterstützung ihrer Politik hoffen.59 Dennoch waren es wieder außenpolitische Ereignisse, die die Abkehr vom Neoabsolutismus und die Einleitung konstitutioneller Reformen mit sich brachten: Die Niederlagen bei Magento und Solferino 1859 brachten den Verlust der Vormachtstellung Österreichs in Italien. Weitere Staatskredite, das machten die Banken deutlich, würden nur bei Einführung des Prinzips der öffentlichen Verantwortung für die Staatsausgaben gewährt werden. Die Einbeziehung der Untertanen in den politischen Entscheidungsfindungsprozess war eine notwendige Konsequenz aus dieser Forderung. Im – verworfenen – Oktoberdiplom 1860 und im schließlich angenommenen Februarpatent 1861 erhielten die Länder wieder eine politische Vertretung und eine eingeschränkte Selbstverwaltung.60 Während das Oktoberdiplom, das unter federführender Mitwirkung des ungarischen konservativen Adels entstanden war, in den Ländern der Stephanskrone generell begrüßt wurde,61 erwies sich das Februarpatent mit seinen zentralistischen Tendenzen als Enttäuschung. Ungarn weigerte sich, den Reichsrat zu beschicken. Der folgende offene Schlagabtausch zwischen Krone und Land auf dem Landtag von 1861 entzog weiteren Gesprächen die Basis. Kaiser Franz Joseph verhängte daraufhin erneut den teilweisen Ausnahmezustand in Ungarn, hob die Komitatsautonomie auf, ließ die Pressezensur verstärken und die Versammlungsfreiheit einschränken. Erst 1864 kam es wieder zu Gesprächen zwischen einem Bevollmächtigen Kaiser Franz Josephs und Ferenc Deák, der seit 1861 die führende Position in der ungarischen Politik eingenommen hatte. Diese Annäherung mündete in den Landtag von 1866 und schließlich im Februar 1867 in den sogenannten österreichisch-ungarischen Ausgleich. Diese angesichts des langjährigen politischen Stillstandes überraschend rasche Einigung wurde maßgeblich durch den Verlust der österreichischen Vorherrschaft in Deutschland durch die Schlacht von Königgrätz 1866 vorangetrieben und brachte das Ende des kurzen und von Seiten Ungarns nicht akzeptierten Experiments eines österreichischen Gesamtstaats. 59 Ebd., 294–299. George Barany, Ungarns Verwaltung: 1848–1918, in: Wandruszka / Urbanitsch (Hg.) Verwaltung und Rechtswesen (wie Anm. 49), 306–468, hier 339–362. 60 Rumpler, Chance (wie Anm. 21), 373–379. Sutter / Bruckmüller, Reichsrat (wie Anm. 47), 62–65. 61 Péter, Verfassungsentwicklung (wie Anm. 50), 299–303. Deák selbst stand dem Oktoberdiplom allerdings kritisch gegenüber. Für ihn waren die Aprilgesetze von 1848 die Basis der ungarischen Verfassung, nicht das durch ein octroi erlassene Oktoberdiplom. 46 Zwischen „Monarchischer Union von Ständestaaten“ und Gesamtstaat Wichtige Vorarbeiten für den Ausgleich leistete der Landtag von 1866. Dieser beauftragte einen aus 15 Personen bestehenden Ausschuss, eine Verhandlungsgrundlage mit der Krone zu erarbeiten. Dieses „Elaborat in Sachen der gemeinsamen Verhältnisse“ wurde, nachdem der Landtag einige Bestimmungen der „Aprilgesetze“ von 1848 zurückgenommen hatte, mit dem Titel „Gesetzesentwurf über die zwischen den Ländern der ungarischen Krone und den unter der Herrschaft Seiner Majestät stehenden übrigen Ländern obwaltenden Verhältnisse von gemeinsamem Interesse und über den Modus ihrer Erledigung“ versehen, in Paragraphen gegliedert sowie durch ein Proömium ergänzt und von Franz Joseph und dem ungarischen Landtag als Ausgleichsgesetz angenommen.62 Gesetzesartikel 12 regelte die gemeinsamen Angelegenheiten der beiden Reichshälften, die auf die Bereiche Außenpolitik, Militär und Finanzen beschränkt waren. „Delegationen“, die vom ungarischen Parlament bzw. vom 1867 auf Basis der Dezemberverfassung eingerichteten österreichischen Reichsrat beschickt wurden, verhandelten über die gemeinsamen Angelegenheiten und bewilligten das Budget.63 Für die österreichische Reichshälfte beschloss der Reichsrat am 21. Dezember 1867 das Gesetz „betreffend die allen Ländern der österreichischen Monarchie gemeinsamen Angelegenheiten“.64 Zentraler Begriff in dieser Konstruktion war die Parität. Beide Teile des Reiches sollten gleichberechtigt behandelt werden. Gesetzesartikel 12 schrieb fest, dass „einerseits die Länder der ungarischen Krone zusammen, andererseits die übrigen Länder und Provinzen Seiner Majestät zusammen so angesehen werden sollen, wie zwei besondere und vollständig gleichberechtigte Teile“. Daraus folgte, „daß zwischen den zwei Teilen, hinsichtlich der Behandlung der gemeinsamen Angelegenheiten eine unerläßliche Voraussetzung die vollständige Parität“ sei.65 Ein Diskussionspunkt blieb allerdings die Auslegung des sich durch den Ausgleich ergebenden staatsrechtlichen Verhältnisses der beiden Reichshälften und des Verhältnisses des Kaisers von Österreichs zum König von Ungarn. Hier gingen die österreichische und die ungarische Lesarten weit auseinander und standen sich zum Teil diametral gegenüber. 62 Ebd., 317–322. Rumpler, Chance (wie Anm. 21), 411. 63 Éva Somogyi, Die Delegation als Verbindungsinstitution zwischen Cis- und Transleithanien, in: Rumpler, Urbanitsch (Hg.) Verfassung und Parlamentarismus (wie Anm. 50), 1107–1167. 64 Péter, Verfassungsentwicklung (wie Anm. 50), 322–327. Rumpler, Chance (wie Anm. 21), 411–413. Ivan Žolger, Der staatsrechtliche Ausgleich zwischen Österreich und Ungarn, Leipzig 1911, 298–306. 65 GA 12/1867, § 28, in: ebd., 172–173, 322. Gerald Stourzh, Der Dualismus 1867 bis 1818: Zur staatsrechtlichen und völkerrechtlichen Problematik der Doppelmonarchie, in: Rumpler, Urbanitsch (Hg.) Verfassung und Parlamentarismus (wie Anm. 50), 1177–1230, hier 1177–1183. 47 Karin Schneider Handelte es sich um eine Realunion, einen durch eine Personalunion verbundenen Staatenbund oder gar einen Bundesstaat?66 Existierte, so der zentrale Punkt der Auseinandersetzung, eine die beiden Reichshälften beinhaltende staatliche Einheit – oder handelte es sich bei den beiden Reichshälften um prinzipiell selbständige Staaten, die zufällig durch denselben Herrscher verbunden waren? Während die erstgenannte Interpretation insbesondere in der westlichen Reichshälfte Befürworter fand, favorisierten ungarische Rechtsgelehrte die zweite Lesart.67 Die Frage, „ob hinfort Ungarn seinen Platz in Österreich oder neben Österreich einnehmen sollte“68, wie Alfred von Arneth formulierte, blieb bis zum Ende der Habsburgermonarchie offen. IV. Resümee Überblickt man die in groben Zügen skizzierte Entwicklung seit der Pragmatischen Sanktion von 1713 fällt folgendes ins Auge: Der Anstoß zu Verfassungsreformen resultierte meist aus äußeren Umständen. Zu nennen wären etwa mangelnde männliche Nachkommen, Napoleon und seine imperialen Ambitionen, die Revolution von 1848, der Verlust der österreichischen Vorherrschaft in Italien und Deutschland oder nationale Bewegungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Während die Pragmatische Sanktion neben der Erbfolge die Untrennbarkeit und Unteilbarkeit der Monarchie festschrieb (wobei nach unterschiedlicher Auslegung damit entweder nur der Besitz der Länder oder die Herrschaftsrechte an sich gemeint sein konnten) wurde 1804 der Titel eines Österreichischen Kaisers geschaffen. Eine staatsrechtliche Vereinheitlichung der „monarchischen Union von Ständestaaten“ blieb allerdings aus. Im Gegenteil: Die kaiserliche Pragmatikalverordnung von 1804 bestätigte ausdrücklich die herkömmlichen Rechte, Verfassungen und Prärogativen der einzelnen Länder. Allerdings kam es 1813 zumindest zu einer verbalen Integration des habsburgischen Herrschaftskomplexes, der nun den Namen „Österreichischer Kaiserstaat“ tragen sollte – diese Benennung setzte sich allerdings nicht durch und wurde durch die Bezeichnung „Kaisertum Österreich“ verdrängt. Zugleich verortete sich das neu geschaffene Kaisertum in der Tradition des Heiligen Römischen 66 Louis Eisenmann, Le compromis austro-hongrois de 1867. Études sur le dualisme, Paris 1904, 614. 67 Stourzh, Dualismus (wie Anm. 66), 1223–1230. Ders., Die dualistische Reichsstruktur. Österreichbegriff und Österreichbewußtsein 1867–1918, in: Rumpler (Hg.), Innere Staatsbildung (wie Anm. 8), 53–68, hier 59. Péter, Verfassungsentwicklung (wie Anm. 50), 504–514, 529–532. 68 Alfred von Arneth, Aus meinem Leben, Bd. 2, Stuttgart 1893, 199. 48 Zwischen „Monarchischer Union von Ständestaaten“ und Gesamtstaat Reiches Deutscher Nation. Im Rahmen einer translatio imperii kam es auf symbolischer Ebene, aber auch hinsichtlich realer Prärogative, zu einer Verschmelzung des österreichischen mit dem römisch-deutschen Kaisertitel. Die Frage, welche Kronländer Teil dieses Kaisertums waren, blieb das 19. Jahrhundert über strittig, wie etwa an den verschiedenen Geltungsbereichen der Verfassungsentwürfe und Verfassungen von 1848 und 1849 deutlich wird. Von einem „Gesamtstaat“ Österreich, wie ihn sich Hermann Ignaz Bidermann vorstellte, kann nur zwischen 1849 und 1867 gesprochen werden, als Wien die ungarischen Rechte und Privilegien für verwirkt erklärte und das österreichische Verwaltungs- und Rechtssystem auf die Länder der Stephanskrone übertrug. Der Ausgleich von 1867 beendete dieses kurze Experiment und schuf die österreichischungarische Doppelmonarchie. Diese einmalige staatsrechtliche Konstruktion entzog und entzieht sich noch immer einer Einordnung; sie war, wie der französische Historiker und Slawist Louis Eisenmann formulierte, „un type unique“69. 69 Eisenmann, Compromis (wie Anm. 67), 616. 49