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Wissenschaften im Dialog Studien aus dem Bereich der Germanistik Schriftenreihe des Lehrstuhls für germanistische Sprach- und Literaturwissenschaft der Christlichen Universität Partium / Großwardein Band 4 Herausgegeben von Szabolcs János-Szatmári Band 1 II. Internationale Germanistentagung Wissenschaften im Dialog Großwardein / Oradea / Nagyvárad 20. - 22. Februar 2008 Herausgegeben von Szabolcs János-Szatmári in Zusammenarbeit mit Judit Szücs Siebenbürgischer Museum-Verein / Societatea Muzeului Ardelean st5t Partium Verlag / Editura Partium Klausenburg — Großwardein 2008 Inhaltsverzeichnis Partium Verlag Direktor: Szilárd Demeter Vorwort /9/ Siebenbürgischer Museum-Verein Direktor: Gábor Sipos Text und Kontext: Literatur und Wissenschaft i m Mittelalter und in der Frühen Neuzeit Verantwortlicher Redakteur: Szabolcs János-Szatmári j. Nemes Altgermanistik meets New Philology. Oder: Zur Verträglichkeit von mittelalterlicher Überlieferungswirklichkeit und zeitgenössischer Theoriebildung, dargelegt am Beispiel des Originals /13/ György Orosz „Eleftherios und Terasios stiegen in die Tiefen des Buches nieder" Ein alter Glaubensstreit zwischen Christen und Juden in der europäischen Apokryphenliteratur /25/ Thomas Schares Erzählte Grausamkeit - grausames Erzählen: Michel Beheims Gedicht über Vlad Tepes /43/ Lehel Sata „Die Wurtzel oder Mutter Der Philosophiae;, Astrologiae und Theologiae". Zum Stellenwert der Wissenschaften in Jacob Böhmes Werk Péter /59/ Ötvös „valedicit patriae" als literarische Gattung. Ein Überblick /75/ Gabriella Lakfalvi-Szögedi Versuch einer Selbstversicherung im Poetischen. Der Topos der Freundschaft in den Gedichten Nach seinem Traume an seinen vertrautesten Freund (1636) und Auf H Georg Glogers Med Cand Seliges Ableben (1631) von Paul Fleming im Diskurs der Beständigkeit Gábor /85/ Lovas Die Grenze der Wissenschaften oder die Wissenschaft der Grenze über Swedenborgs Denken /97/ Balázs Layout und Computersatz: István Horváth Umschlaggestaltung: Gergö Mostis Herstellung: Metropolis SRL, Oradea Gedruckt mit Unterstützung der Christlichen Universität Partium, der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Bukarest , ra.h.afflha vArnbaue Gemenw sucvrael und der Landesregierung des Komitats Bihor © 2008 Die Autoren des Bandes/Autorii volumului 5 • Balázs J. Nemes (Freiburg/Br) Altgermanistik meets New Philology. Oder: Zur Verträglichkeit von mittelalterlicher Überlieferungswirklichkeit und zeitgenössischer Theoriebildung, dargelegt am Beispiel des Originals Wer dieses Büchlein, das mit Fleiß geschrieben und gerichtet ist, abschreiben will, der soll es alles zusammen nach Wort und Sinn schreiben, wie es hier steht, und er soll nichts hinzufügen oder weglassen oder die Worte verändern und soll es dann ein- oder zweimal hiermit ganz getreu vergleichen und soll nichts gesondert daraus schreiben als die hundert Betrachtungen am Ende; diese schreibe daraus, wer nur will. Wer mit ihm irgendwie anders tut, der soll Gottes Rache fürchten, denn er beraubt Gott des würdigen Lobes und die Menschen der Besserung und den, der sich daran abgearbeitet hat, seiner Arbeit. Und darum, wer es hierbei nicht lassen will, der muss gestraft werden von der Ewigen Weisheit.1 Mit diesen Worten endet das so genannte Büchlein der ewigen Weisheit des Heinrich Seuse, eines Autors des 14. Jahrhunderts, der neben Meister Eckhart und Johannes Tauler als einer der bekanntesten Vertreter der deutschsprachigen Dominikaner-Mystik gilt. Der zitierte Passus - er richtet sich an die zukünftigen Kopisten des Büchlein und mahnt sie unter der Androhung der göttlichen Strafe, den Text getreu, und zwar wortgetreu, abzuschreiben - erinnert an jene urheberrechtliche Bestimmung, die sich in jedem modernen, mit ISBN-Nummer versehenen Buch findet und dazu dient, die Rechte des Autors an seinem Produkt sicher zu stellen: La loi du 11 mars 1957 interdit les copies ou reproductions destinées ä une utilisation collective. Toute représentation ou reproduction integrale ou partielle faite par quelque procédé que ce soit, sans le consentement de l'auteur ou sanctioée de ses ayants cause, est illicite et constitue une contrefacon par les articles 425 et suivants du Code pénal. 13 Balázs J. Nemes Es ist kein Zufall, dass ich ausgerechnet die französische Version der besagten urheberrechtlichen Klausel zitiere, denn sie taucht auch in jenem Buch auf, dem die nun folgenden Überlegungen gelten sollen. Ich meine jenen schmalen Band, den der französische Romanist Bernard Cerquiglini 1989 veröffentmit dem Titel Éloge de la variante. Histoire critique de la philologie 2, ein Buch wohlgemerkt, das zur Bibel jener Autorengruppe wurde, lichte die sich 1990 in einem Sonderheft des Speculum, der wohl angesehnsten Zeitschrift der amerikanischen Mediävistik, zu Wort meldete und eine3 Erneuerung der mediävistischen Philologie, eine New Philology, forderte. Die zitierte urheberrechtliche Klausel mutet sich etwas merkwürdig am Beginn eines Buches an, dem es um das ,Lob der Variante' geht. Denn das Urheberrecht fordert Invarianz statt Varianz; es lässt den Urheber über die Modalitäten der Reproduktion eines Werkes entscheiden und nicht die jeweiligen Literaturinteressenten bzw. -konsumenten; es droht bei der Missachtung der Rechte des Autors strafrechtliche Konsequenzen an. Cerquiglini dagegen will gerade diese der Moderne eigene Vorstellung vom ,festen Text' für das Mittelalter verabschieden, indem er sie mit der mittelalterlichen Reproduktionspraxis konfrontiert, die handschriftlich (d.h. kopial) und (vor allem im Bereich der Vernakularsprachen) unautorisiert und variant verläuft. Auf diese Weise entwirft Cerquiglini das Bild einer PräModerne, die kein Interesse am originalen Text bekundet und kein Recht des Autors auf sein Werk gekannt haben soll. Dass die These, den Autoren wäre gleichgültig gewesen, wie ihre Werke verbreitet wurden, nicht stimmt, zeigt das anfangs gebotene Seuse-Zitat: Hier dokumentiert sich ein deutliches Interesse vonseiten des Autors an der Bewahrung der ursprünglichen, von ihm gewollten Textgestalt, des Originals. Trotzdem lässt die Emphase, mit welcher sich Seuse gegen Eingriffe in seinen Text zur Wehr setzt, erahnen, dass es nicht selbstverständlich war, literarische Werke in der vom Autor geschaffenen originalen Form weiterzugeben. Diese unbestreibare Tatsache hat Cerquiglini auf die viel zitierte, griffige Formel gebracht: Die4 mittelalterliche Schriftkultur produziere keine Varianten, sie sei Varianz. Dem ist nur zuzustimmen, nicht jedoch den Folgerungen, die Cerquiglini für den mittelalterlichen Text- und Autorbegriff sowie den editorischen Umgang mit mittelalterlichen Textausprägungen zieht: Er strapaziert nämlich den text- und überlieferungsgeschichtlichen Befund, indem er ihn zeitgenössischen Theorien gefügig macht. Dies aufzuzeigen, ist der Ausgangspunkt meiner folgenden Überlegungen. 14 Altgermanistik meets New Philology Lange Zeit galt es in der Literaturwissenschaft als geradezu selbstverständlich, vom Autor als einer dem Text vorgeordneten Urheberinstanz und gleichzeitig dessen Subjekt zu sprechen. Komplementär dazu war vom ‚Werk' als unveräußerlichem Produkt der Urheberinstanz und der (end)gültigen Objektivation ihrer Intentionen die Rede. ‚Autor' und ‚Werk', beide konstitutiven Größen der Literaturwissenschaft, werden jedoch durch die Literaturtheorie, allen voran durch die Thesen von Roland Barthes und Michel Foucault, seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts zunehmend infrage gestellt.5 Eine wichtige Rolle spielt in den Überlegungen von Barthes und Foucault das Konzept des ,offenen Textes', mit dem diese Vordenker der postmodernen Literaturtheorie gegen jede Festlegung des Sinnes, vor allem durch die Autorinstanz, zu Felde ziehen. So behauptet Barthes: „Sobald ein Text einen Autor zugewiesen bekommt, wird er eingedämmt, mit einer endgültigen Bedeutung versehen, wird die Schrift [écriture] angehalten."6 Mit anderen Worten: Erst die Verabschiedung vom Autor - Barthes fordert bekanntlich seinen Tod - garantiere, dass die „écriture" weiter geht. Eine wichtige Rolle spielt dabei der Leser, denn „écriture" setze sich ja erst im Dialog mit ihm fort. Diesen Theoremen begegnet man bei Cerquiglini, einem der einflussreichsten Theoretiker der New Philology, in einer auf die mittelalterlichen Überlieferungsverhältnisse angewandten Form wieder. Cerquiglini ist der Ansicht, der vom Autor gesetzte Text zähle wenig gegenüber der ständigen Neuverschriftlichung („récriture"), die ein Text erfährt, sobald jemand Besitz von ihm ergreift (S. 57). Mit seinem Konzept von „récriture" antwortet Cerquiglini auf die Forderung von Barthes, die Schrift („écriture") nicht anzuhalten. Ist es in dem von Barthes entwickelten Modell der Leser, der das Fortbestehen von „écriture" garantiert, so wird seine Funktion bei Cerquiglini und den Neuen Philologen vom mittelalterlichen Schreiber übernommen: Seine „récriture" soll immer neue Lesarten und (immer sinnvolle) Varianten hervorgebracht haben. Cerquiglini wendet sich hier gegen eine Philologie, die auf die größtmögliche Reduktion von Varianz, auf die Rekonstruktion des Originals gedrängt hat. Im Visier steht Karl Lachmann und seine Editionsmethode, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt wurde und die Cerquiglini auch Ende des 20. Jahrhunderts allgegenwärtig sieht. Ein solcher dem Ursprung, dem einen, stabil gedachten 15 Balázs J. Nemes Autortext verpflichteter Zugang zur mittelalterlichen Überlieferung verkennt, wie Cerquiglini betont, die Wirklichkeit einer tradition vivante, die keine Varianten hervorbringt, sondern variant ist (s. Anm. 4). Demzufolge müsse, so Cerquiglini weiter, der Philologe sein Interesse der Handschrift, dem konkreten Produkt der mittelalterlichen Manuskriptkultur widmen und sie edieren. Die hier anvisierte Justierung der Philologie betrifft indes nicht nur den editorischen Umgang mit der Überlieferung, sondern auch den Textund Autorbegriff. Das Postulat, die mittelalterliche Überlieferung sei grundsätzlich variant und alle Handschriften seien in ihrer Varianz als gleichwertig anzusehen, verbietet für Cerquiglini nicht nur die Frage nach dem Original, sondern die Idee des Originals überhaupt: Es gibt für ihn nur das „ceuvre scribal" (S. 58). Wenn wir aber nur noch mit Texten, deren Kennzeichen „variance" ist, und mit Schreibern zu tun haben, denen als Produzenten von Varianz eine quasi-auktoriale Position zukommt, dann muss man sich von der Vorstellung sowohl vom Original als auch vom Autor verabschieden. Tatsächlich liest man bei Cerquiglini: Der Autor ist keine mittelalterliche Idee (S. 25). Ich will die Kritik, die gegen Cerquiglini und den ,neuphilologischen' Ansatz von germanistischer Seite erhoben wurde, nicht im Einzelnen nachzeichnen! Nur soviel sei gesagt: Nicht die Liaison, die mittelalterliche Überlieferung und Literaturtheorie eingehen, wird moniert, sondern die Art und Weise, wie postmoderne Theoreme auf die Deutung text- und überlieferungsgeschichtlicher Befunde übertragen werden: nämlich mechanisch und undifferenziert. Dessen ungeachtet wird Cerquiglini und der New Philology ein mutiger Gesamtentwurf attestiert, der mit ähnlichen Tendenzen in der Altgermanistik korreliert. Veranschaulichen will ich dies anhand des Umgangs der ‚alten' Philologie mit dem Original. Parallel, aber weitgehend unabhängig von der von Barthes und Foucault eingeläuteten Neuorientierung der (neueren) Literaturwissenschaft im Umgang mit Texten vollzog sich in der germanistischen Mediävistik, genauer im altgermanistischen Editionswesen, die Hinwendung zur Handschrift als Träger und Vertreter eines tatsächlich rezipierten und historisch wirksam gewordenen Textes. Diese Hinwendung speist sich aus der Erkenntnis, dass das hehre Ziel der klassischen Textkritik Lachmannscher Prägung, den einen, vom Autor gewollten Text aus dem 16 Altgermanistik meets New Philology Dickicht der Überlieferung ans Tageslicht der kritischen Textausgabe zu führen, in vielen Fällen de facto nicht realisierbar ist, weil die Methode mit Prämissen operiert, die auf die mittelalterliche Überlieferungswirklichkeit volkssprachlicher Literatur oft nicht übertragbar sind. Die ,neue Altgermanistik' - wir befinden uns etwa Mitte der sechziger, Anfang der siebziger Jahre - ist in ihrer editorischen Zielsetzung im Vergleich zu der alten bescheidener geworden: Man will nicht mehr den Autortext rekonstruieren, sondern lediglich dokumentieren, was als Autortext gelesen wurde. Das Interesse richtet sich auf die Handschrift als eine Größe sui generis und nicht nur Hilfsmittel auf dem Weg zurück zum Autor, auf das historische Zeugnis also, das nicht für etwas anderes (das verlorene Original oder die verschüttete Autorintention), sondern in erster Linie für sich steht und in seiner spezifischen geschichtlichen Verfasstheit sowohl vom Editor als auch vom Literaturhistoriker bzw. -theoretiker ernst zu nehmen ist. Wie steht nun die Altgermanistik zum Originalbegriff? Man würde erwarten, die Erkenntnis über die Nicht-Rekonstruierbarkeit originaler Textzustände hätte dazu geführt, dass man den Begriff Original für gänzlich unbrauchbar erklärte. Doch ist das nicht der Fall. Verabschiedet wurde lediglich die Vorstellung, es hätte ein einziges Original gegeben, das am Beginn der Text- und Überlieferungsgeschichte stand. Man rechnet mit der Existenz mehrerer Originale, und dies vor allem bei Gattungen, die im Grenzbereich von Schriftlichkeit und Mündlichkeit angesiedelt sind. Da es sich hierbei um Literatur handelt, die aus dem Vortrag lebt, könnte, so wird vermutet, jede neue Aufführung Varianten und damit ein je neues ‚Original' hervorgebracht haben. Bemerkenswert ist dabei, dass die Frage, ob das jeweils neue ‚Original' vom Autor selbst stammt, nur bei Gattungen offen gelassen wird, die sowieso anonym überliefert sind (Heldendichtung, geistliches Spiel, Mären). Wo wir dagegen einen Autornamen haben - bei den Texten der höfischen Epik und Lyrik ist das der Fall -, neigt man dazu, Autorfassungen anzusetzen. Was dabei verwundert, ist die Bereitschaft, die ,Arbeit am Text'8 zu personalisieren, und dies obwohl es keinen erkennbaren Grund dafür gibt, dass textgeschichtliche Prozesse bei signierter Überlieferung anders abgelaufen wären als bei anonymer. Es scheint, als stünde ein heimliches Anhängen an die Autorität des Autornamens hinter den Bemühungen, Varianten als Autorvarianten zu identifizieren.9 Dies ist methodisch 17 Balázs J. Nemes insofern problematisch, als man den historischen Autor und seine Intentionen in der höfischen Lyrik und Epik für eine editorisch uneinholbare Kategorie erklärt hat. Dies hängt damit zusammen, dass in diesem Bereich zwischen Entstehungs- und Überlieferungsvarianten nicht eindeutig unterschieden werden kann, denn die Voraussetzung dafür, das Vorliegen einer autographen oder zumindest autorisierten Überlieferung, ist hier oft nicht gegeben. Wohl kann die Varianz bei besonders günstiger Überlieferungslage bis zu einem gewissen Punkt rückgängig gemacht werden, doch muss man sich vor Augen halten, betont Joachim Heinzle, „daß selbst im Optimalfall die Distanz des kritischen Textes zum Autortext erheblich sein dürfte, ohne daß wir in der Lage wären, sie zu kalkulieren."10 Deshalb ist nur allzu konsequent, wenn Joachim Bumke im Hinblick auf die Teilveröffentlichungen, Mehrfachredaktionen und wechselnden Vortrags- und Aufzeichnungssituationen, die schon in der Frühphase der Überlieferung speziell der höfischen Dichtung zu eigenständigen Fassungen geführt haben können, feststellt: „Welchen Anteil die Autoren daran hatten und wie weit Varianten erst bei der Wiedergabe der Texte entstanden sind, läßt sich nicht mehr feststellen."11 Bislang unberührt geblieben ist von der aktuellen altgermanistischen Diskussion um den Umgang mit vor- und frühmoderner Textualität und den Instanzen der Textautorisation das frauenmystische Schrifttum des Spätmittelalters. Dies verwundert insofern, als dieses Schrifttum eine Reihe von Problemen bei der genauen Fixierung des jeweiligen Autor- und Werkbegriffes aufwirft, sind doch die kollektiven, jedenfalls kooperativen Entstehungsumstände geradezu ein Kennzeichen der von Bernard 12 McGinn so genannten „neuen Mystik" , so dass sich die Frage nach dem Autortext auch hier als problematisch erweist. Im Extremfall - ich denke an den Liber specialis gratiae Mechthilds von Hackeborn - kann es vorkommen, dass wir keine einzige Zeile von der Hand der Autorin haben, unter deren Namen der Text im nachhinein verbreitet wird. Der Grund ist darin zu sehen, dass das Original aus der Situation des Diktats hervorgegangen 13 ist, an dem zwei Mitschwestern Mechthilds beteiligt waren. Selbst bei eigenhändigen Niederschriften muss man damit rechnen, dass bei deren Ab- bzw. Reinschrift Original und Autograph nicht zur Deckung kommen: Die Abschrift kann auch von einer anderen Person als von der Autorin vorgenommen worden sein, wobei man sich im Einzelfall überle- 18 Altgermanistik meets New Philology gen muss, mit welcher textformenden Kompetenz beim jeweiligen Abschreiber zu rechnen ist. Zudem ist zu berücksichtigen, dass an der Textproduktion außer der (im Idealfall) schreibenden Mystikerin Beichtväter und/oder Mitschwestern beteiligt gewesen sein können, ohne dass möglich wäre, die jeweiligen Anteile fein säuberlich voneinander zu trennen. Ist es bei den Textsorten im Grenzbereich von Oralität und Skripturalität die Aufführungspraxis, die die Textgeschichte dynamisiert und die Frage nach dem einen gültigen (Autor)Text obsolet macht, so ist es bei frauenmystischen Schriften eine auf mehrere Instanzen verteilte Textproduktion, die zur Vorsicht mahnt, das Original von vornherein als das Produkt eines einzigen schöpferischen Individuums zu definieren.14 Dessen ungeachtet werden die Texte in der Überlieferung mit einem einzigen Namen verbunden. Es handelt sich dabei um den Namen derjenigen, der Mystikerin, die textintern vorgibt, das Geschriebene selbst erlebt zu haben. Sie übernimmt auf diese Weise Verantwortung für das Buch, autorisiert es und bürgt für dessen Authentizität. In der Wahrnehmung der Rezipienten wird sie zur Autorin, und dies obwohl das arbeitsteilige Schreibprinzip im Text selbst thematisiert ist und/oder mit philologischen Mitteln erschlossen werden kann. Sind es die Schreiber und Leser, die den Autor konstituieren, so wäre es auch kein Widerspruch, wenn wir bei manchen mystischen Werken auf Rezeptionszeugnisse stießen, die ein deutliches Interesse seitens der Rezipienten für das Original bekunden. So etwas dürfte es allerdings nach dem jetzigen Stand der Forschung eigentlich gar nicht geben, denn man ist der Ansicht, der Originalitätsbegriff wäre dem Mittelalter fremd gewesen15; den Tradierenden hätte „ein Bewußtsein von der Festigkeit und Geschlossenheit der Texte", welche sie weitergaben, gefehlt16; die Redaktoren wären „nicht um die getreue Bewahrung eines Autortextes" bemüht, sondern hätten den Text ihrer Vorlage „als frei für sich verfügbar" angesehen."17 Dies mag auf die Überlieferung der höfischen Epik und Lyrik sowie der Heldendichtung zutreffen, aus dem Bereich der mystischen Literatur jedoch lassen sich Beispiele nennen, die das Gegenteil erweisen. Ich verweise auf die Londoner Handschrift der Offenbarungen der Margareta Ebner (London, British Library, Add. 11430), einer süddeutschen Dominikanerin aus dem 14. Jahrhundert: Man wäre geneigt, die Handschrift anhand von sprachlichen Merkmalen sowie von Schrift und 19 Balázs J. Nemes 18 Layout ins 14. Jahrhundert zu datieren , gäbe es nicht einen 19 Schreibervermerk, der das genaue Datum der Abschrift verrät: 1698. Das heißt: Wir haben es hier mit einer quasi fotomechanischen Reproduktion zu tun, wohlgemerkt in handschriftlicher Form. Wie lässt sich das erklären? Wohl nicht allein aus Respekt vor der Dignität des Inhalts, sondern auch aus Respekt gegenüber der Vorlage, in der man offenbar Margaretas eigenhändige Aufzeichnungen, eben das Original, sah. Dass das „Bestreben nach konservierender Überlieferung"20 sich zuweilen selbst auf die Bewahrung des Schriftbildes der Vorlage erstrecken kann, lässt sich auch bei einer Abschrift der Viten der Schwestern von Töß und der Elisabeth von Ungarn, Nonne von Töß aus dem Jahre 1628 feststellen (Samen, Bibliothek des Benediktinerkollegiums, Ms. pap. 171). Ein vergleichbarer Fall lässt sich aus der mittelalterlichen Überlieferung des Fließenden Lichts Mechthilds von Magdeburg nennen: Die Mitte Biblothèque 15. Jahrhunderts entstandene Colmarer Teilüberlieferung (Colmar, des de la Ville, Ms. CPC 2137) bietet einen Text, der von seiner buchmäßigen Organisation her jener Handschrift ähnlich ist, die das Fließende Licht einzig vollständig überliefert und im dritten Viertel des 14. 21 Jahrhunderts entstanden ist: Einsiedeln, Stiftsbibliothek, Cod. 277. Allerdings kann die Einsiedler Handschrift nicht die unmittelbare Vorlage der Colmarer Abschrift gewesen sein. Es muss also ein weiteres Exemplar des Fließenden Lichts mit den genannten Buchcharakteristika gegeben haben. Die Existenz zweier Handschriften, die gleich strukturiert sind, aber nicht unmittelbar voneinander abgeschrieben sein können, lässt darauf schließen, dass die buchmäßige Strukturierung des Textmaterials auf einer früheren Textstufe erfolgt sein muss. In der Tat lassen sich die Buchcharakteristika bis in die Autornähe zurückverfolgen. Man hat offenbar die buchmäßige Organisation nicht als etwas Akzidentielles, sondern als Teil des Textes, gewissermaßen als ,original' begriffen. Allerdings sind die der gelehrt-lateinischen Tradition entstammenden buchorganisatorischen Elemente gerade die Teile des Fließenden 22 Lichts, die am wenigsten von Mechthild herrühren können. Aussagekräftiger sind folgende Beispiele: Die älteste und einzig vollständige Handschrift des bereits genannten Liber specialis gratiae Mechthilds von Hackeborn (Wolfenbüttel, Herzog-August-Bibliothek, Cod. 1003 Helmst.) enthält eine Schreibernotiz. Hier gibt der Schreiber, Priester Albrecht, dem Leser kund, dass er sich in Helfta, in Mechthilds 20 Altgermanistik meets New Philology ehemaligem Heimatkonvent, aufhielt, nachdem er die Handschrift des Liber abgeschrieben hatte Anlässlich dieses Aufenthalts soll ihm die Äbtissin das Buch Mechthilds gezeigt haben. Daraufhin habe er, schreibt Priester Albrecht, die Warheit des Buches ergründet („perscrutatus sum veram veritatem"). Ob dieser Satz dahingehend zu verstehen ist, dass Albrecht seine eigene Abschrift des Liber mit dem Exemplar aus Helfta verglich, ist zumindest aus unserer modernen Sicht unklar. Im Mittelalter galt Albrechts Abschrift auf jeden Fall als eine originalnahe Kopie. Abzulesen ist dies an einer Handschrift, die als der bislang älteste bekannte Textzeuge des Liber gilt (Eisleben, Luthergedenkstätten/Luthers Geburtshaus, Cod. H 546): Sie weist eine Reihe von Randvermerken aus dem 15. Jahrhundert auf, die darauf hindeuten, dass der Text mit einer anderen Handschrift des Liber verglichen und anhand dieser Handschrift durchkorrigiert wurde. Als Korrekturexemplar diente Albrechts Abschrift. Und ein letztes Beispiel: Die älteste Handschrift der Lux divinitatis, der lateinischen Übersetzung des bereits genannten Fließenden Lichts (Basel, Universitätsbibliothek, Cod. B IX 11), weist an den Blatträndern lateinische Glossen auf. Meist sind es einzelne Wörter oder Sätze, selten längere Passagen. Zwar stehen sie am Blattrand, doch gehören sie eigentlich in den Text: Einweisungszeichen geben an, wo sie in den Text einzufügen sind. Woher kommen diese Ergänzungen? Ein Vergleich mit dem Fließenden Licht - Lux divinitatis ist, wie gesagt, eine Übersetzung davon - zeigt, dass es der deutsche Text ist, der zur Ergänzung und Korrektur der lateinischen Übersetzung herangezogen wurde. Zwei Texte wurden also miteinander verglichen. Die Richtung des Korrekturvorgangs verrät dabei, welcher von beiden als das Original angesehen wurde: Das ist der deutsche Text. Tatsächlich finden wir Glossen zu einzelnen Stellen der lateinischen Übersetzung, die mit der formelhaften Wendung „In originali dicitur/ponitur/sic habitur" angekündigt werden. Darauf folgt eine genaue Übersetzung der entsprechenden Passage des Fließenden Lichts. Die mangelnde Worttreue der Übersetzung wurde offenbar als defizitär empfunden. Erfolgt die Annäherung der lateinischen Übersetzung an den deutschen Text in dem referierten Fall akzidentiell mittels Glossen, so wird sie in einer anderen, von mir wieder aufgefundenen Handschrift (Växjö/Schweden, Stadsbiblioteket, Ms. 4° 401) zum Gestaltungsprinzip: Diese Handschrift zeigt eine wortgetreue Über- 21 Altgermanistik meets New Philology Balázs J. Nemes setzung, entstanden durch einen Wort-für-Wort-Vergleich der Lux divini23 Offenbar galt der deuttatis mit einer Handschrift des Fließenden Lichts. sche Text auch hier als das Original. Ich komme zum Schluss. Meine Beispiele zeigen, dass es Bereiche der mittelalterlichen Literatur gibt, wo wir ein Interesse an der Bewahrung des authentischen Textes nicht nur bei den Literaturproduzenten, sondern auch bei den -rezipienten beobachten können, und dies sogar jenseits solch normativer Textbereiche wie die biblischen und liturgischen Schriften sowie die Klassiker der christlichen Antike.24 Dem Mittelalter ein Autor- und Werkbewusstsein abzusprechen, ist demnach pauschal und geht an der mittelalterlichen Überlieferungswirklichkeit vorbei. Dies darf natürlich nicht zum Kurzschluss führen: Das postmoderne Mittelalter ist tot - es lebe das moderne Mittelalter! Es ist m.E. kein Zufall, dass wir ausgerechnet bei Texten auf ein rezipientenseitiges Interesse an der Wahrung bzw. Wiederherstellung des authentischen Wortlauts stoßen, die dem Bereich der Offenbarungsliteratur, genauer der (Frauen)Mystik, angehören. Burkhard Hasebrink hat neulich anhand des Fließenden Lichts Mechthilds von Magdeburg ein für die gesamte mystische Literatur paradigmatisches Verfahren zu umreißen versucht, ein Verfahren, das Geltung durch den Verweis auf ein ,Sprechen vom Anderen her' begründet. Es geht, kurz gesagt, darum, das eigene Sprechen nicht nur als ein Sprechen von Gott von Gott her erscheioder zu Gott, sondern geradewegs als ein Sprechen 25 Es ist wohl diese Art von Reden, so scheint es mir, die nen zu lassen. den oben skizzierten Umgang mancher Rezipienten mit Texten erklärt, die der Gattung des mystischen Offenbarungsschrifttums angehören: Die Stimme des Autors, das Original, bleibt bewahrt, weil der Rezipient den Text als Zufluss der Rede vom Anderen her begreift. Das ist in der Tat der einzige adäquate Umgang mit einem Text, der, wie etwa das Fließende Licht, textintern vorgibt: „Dieses Buch26soll man bereitwillig aufnehmen, denn Gott selber spricht die Worte." Anmerkungen 1 Die Übersetzung beruht auf der Ausgabe von Bihlmeyer, Karl (Hg.): Heinrich Seuse Deutsche Schriften. Stuttgart: Kohlhammer, 1907, S. 325, Zeile 18-28. 22 2 Cerquiglini, Bernard: Eloge de la Variante. Histoire critique de la philologie. Paris: Seuil, 1989. 3 Speculum. A Journal of Medieval Studies, 65, 1990, Sonderheft. 4 Cerquiglini [Anm. 2], S. 111. Vgl. die grundlegenden Aufsätze „La mort de l'auteur" von Barthes (1968) und „Qu'est-ce qu'un auteur?" von Foucault (1969), jetzt in deutscher Übersetzung in: Jannidis, Fotis (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart: Reclam, 2000, S. 185-193 und 198-229. 6 Barthes, Der Tod des Autors. In: Jannidis [Anm 5], S. 191. 7 S. dazu zuletzt Löser, Freimut: Postmoderne Theorie und MittelalterGermanistik. Autor, Autortext und edierter Text aus überlieferungsgeschichtlicher Sicht. In: Geppert, Hans Vilmar und Zapf, Hubert (Hg.): Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven. Bd. 2. Tübingen/Basel: Francke, 2005, S. 277-294. 8 Zu diesem Phänomen s. die Beiträge in: Bumke, Joachim (Hg.): Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur. Sonderheft der Zeitschrift für deutsche Philologie, 124, 2005. 9 So Schubert, Martin J.: AM schreiber, der was &glich truncken. Zu Stand und Fortgang der Varianzforschung. Jahrbuch-der-Oswald-von Wolkenstein-Gesellschaft, 12, 2000, S. 35-47, S. 40. 10 Heinzle, Joachim: Klassiker-Edition heute. In: Bergmann, Rolf (Hg.): Methoden und Probleme der Edition mittelalterlicher deutscher Texte. Tübingen: Niemeyer, 1993, S. 50-62, S. 55. 11 Bumke, Joachim: Der unfeste Text. Überlegungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhunder. In: Müller, Jan-Dirk (Hg.): undSchriftMeglaAu:ndürzhN,eitg. 1996, S. 118-129. 12 McGinn, Bernard: Die Mystik im Abendland. Bd. 3. Freiburg/Br.: Herder, 1999, S. 24. 13 Vgl. Hubrath, Margarete: The Liber specialis gratiae as a Collective Work of Several Nuns. Jahrbuch-der-Oswald-von-Wolkenstein-Gesellscha 11, 1999, S. 233244. 14 Zu dem von der Altgermanistik , bislang wenig beachteten Phänomen der arbeitsteiligen Literaturproduktion s. Schiewer, Hans-Jochen: > Die Schwarzwälder 5 Predigten Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte der Sonntags- und Heiligenpredigten. Tübingen: Niemeyer, 1996, S. 60-63. Stein, Peter K.: Überlieferungsgeschichte als Literaturgeschichte - Textanalyse - Verständnisperspektiven. Bemerkungen zu neueren Versuchen zur mittelhoch15 23 Balázs J. Nemes deutschen Dietrichsepik. Sprachkunst, 12, 1981, S. 29-84, S. 46. Der Württemberger. Untersuchung Texte Kommentar. 16 Heinzle, Franziska: , 1974, S. 11. Göppingen: Kümmerle Zeitschrift für 17 Stackmann, Karl: Varianz der Worte, der Form und des Sinnes. deutsche Philologie, 116, 1997, Sonderheft, S. 131-149, S. 135. Margaretha Ebner und Heinrich von Nördlingen. Ein 18 Vgl. Strauch, Philipp: Freiburg/Tübingen: Mohr, 1882, S. Beitrag zur Geschichte der deutschen Mystik. XXIX und Neumann, Hans: Fragmenta Mechthildiana inedita. Annales Academiae Scientiarum Fennicae B 84, 1954, S. 161-178, S. 162-163. 19 Die von Strauch (Anm. 18), S. XVII herrührende und von der späteren Forschung perpetuierte Datierung der Handschrift auf 1598 ist falsch (freundliche Mitteilung von Nigel F. Palmer/Oxford). Töß und Elsbeth 20 5. dazu Grubmüller, Klaus: Die Viten der Schwestern von 98, 1969, S. 171-204, Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur, Stagel. S. 178. Dis buch ist iohannes schedelin. 21 Zur Colmarer Handschrift s. Nemes, Balázs J.: Die Handschriften eines Colmarer Bürgers aus der Mitte des 15. Jahrhunderts. Beiträge zur Kulturtopographie des deutschsprachigen In: Fleith, Barbara (Hg.): Südwestens im Spätmittelalter. Tübingen: Niemeyer (in Vorbereitung). Fließenden Lichts s. demnächst 22 Zur Entstehungs- und frühen Textgeschichte des meine Freiburger Dissertation. 23 5. dazu demnächst Nemes, Balázs J.: Ein wieder aufgefundenes Exzerpt aus Mechthilds von Magdeburg 'Lux divinitatis'. Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur (zur Publikation angenommen). 24 Für zahlreiche Beispiele s. Wattenbach, Wilhelm: Das Schriftwesen im Mit4 1958, S. S. 317-344. telalter. Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt, 25 5. dazu Hasebrink, Burkhard: Sprechen vom Anderen her. „Heterologie" mystischer Rede als epistemischer Fluchtpunkt mittelalterlicher Literarizität. In: Germanistik in/und/für Europa. Faszination - Wissen. Ehlich, Konrad (Hg.): Bielefeld: Aisthesis, 2006, S. 391-399. Mechthild von Magdeburg Das fließende Licht der 26 Vollmann-Profe, Gisela (Hg.): Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker-Verlag, 2003, S. 19 (Prooemium I). Gottheit. 24 György Orosi (Nyiregyhäza) „Eleftherios und Terasios stiegen in die Tiefen des Buches nieder" Ein alter Glaubensstreit zwischen Christen und Juden in der europäischen Apokryphenliteratur In den geistlichen Volksgesängen der orthodoxen Russen findet sich der Freitag in zwei Erscheinungsformen. In den Volksgesängen, die als Freitag betitelt sindl, erscheint dieser Tag in personifizierter Form als Frau Freitag (Pjatnica), deren Gestalt in gewisser Hinsicht mit der Hauptgöttin Mokoa des von Vladimir Svjatoslavie I. in Kiew errichteten heidnischen Pantheons in Verbindung gebracht werden kann.2 Der Kult der Frau Freitag, obwohl er manche Züge der vorchristlichen heidnischen Glaubenswelt der Slawen beibehalten hatte, verschmolz eigentlich mit der Tradition, die sich um die Person der griechischen Märtyrerin, der Heiligen Paraskeva (,Freitag') herausgebildet hatte.3 Die Gestalt von Frau Freitag deckt sich aber in manchen Fällen mit der der Hochheiligen Gottesgebärerin des Christentums. Ein Teil der sich auf den Freitag beziehenden Verbote (z. B. darf man an diesem Tag nicht aus Asche Lauge sieden, Wäsche waschen und spülen, das Kind baden) gelangte in die Glaubenswelt des Volkes bei den Russen, aber auch in die geistlichen Volksgesänge, sicherlich aus der Apokryphenliteratur. In den russischen geistlichen Volksgesängen und Prosatexten, die den Titel Von den zwölf Freitagen tragen, lernen wir den Freitag in einer ganz anderen Rolle kennen.4 Als Ausgangspunkt für die kultische Verehrung der zwölf Freitage diente bei den Russen die apokryphe Schrift Die Sage von den 12 Freitagen, die überlieferungsgemäß dem Heiligen Klemens, einem Römer, zugeschrieben wird.3 Unter den zahlreichen Schriften, die unter seinem Namen erhalten sind, gilt nur eine einzige als authentisch: der Brief an die Korinther.6 Die apokryphe Schrift Die Sage von den 12 Freitagen des Heiligen Klemens, deren religiös-kultureller Hintergrund der römische Katholizismus war, verbreitete sich überall in Europa.7 Die Texte der Klemens-Gruppe kommen als Varianten auch in französischer, provenzalischer, lateinischer, griechischer, deut- 25